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German Pages 338 [367] Year 2018
Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 152 herausgegeben von
Rolf Stürner
Mika Kremer
Strafprozessuale Angehörigenprivilegien im Rechtsvergleich Eine Untersuchung zu den Grundlagen eines europäischen Beweisrechts
Mohr Siebeck
Mika Kremer, geboren 1989; Studium der Rechtswissenschaft in Freiburg i. Br. und Genf; 2017 Promotion; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und juristische Zeitgeschichte der Universität Hamburg; seit 2016 Juristischer Vorbereitungsdienst am Hanseatischen Oberlandesgericht.
ISBN 978-3-16-156042-2 / eISBN 978-3-16-156043-9 DOI 10.1628/978-3-16-156043-9 ISSN 0722-7574 / eISSN 2568-7255 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.
Für Jakob
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2017/2018 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung konnten Neuerungen in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur bis Dezember 2017 berücksichtigt werden. Größten Dank schulde ich zunächst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Florian Jeßberger, an dessen Lehrstuhl ich drei wunderbare Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin verbringen durfte und der diese Promotion mit großen Interesse, gutem Rat und unermüdlicher Hilfsbereitschaft betreut und gefördert hat. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Wilhelm Degener, der das Zweitgutachten erstellte. In finanzieller Hinsicht wurde das Entstehen der Arbeit durch ein Stipendium der Albrecht Mendelssohn Bartholdy Graduate School of Law der Universität Hamburg gefördert, wofür ich sehr dankbar bin. Danken möchte ich ferner dem DAAD, der meine Forschungsaufenthalte an der Université Paris Nanterre und an der Northumbria University Newcastle ermöglichte. Auch bei Herrn Prof. Dr. Rolf Stürner möchte ich mich für die Aufnahme in die Schriftenreihe bedanken. Während meiner Promotionszeit habe ich von vielen Seiten Unterstützung und wertvolle Hinweise erhalten. Hervorzuheben sind hier zum einen die Leiterin der forensischen Genetik des Universitätsklinikums Eppendorf, Frau Dr. rer. nat. Christa Augustin, die mir bei dem Verständnis der naturwissenschaftlichen Hintergründes des Beinahetreffers sehr geholften hat, und zum anderen Herr Prof. Michael Stockdale, für seine engagierte Betreuung meines Forschungsaufenthalts in Newcastle. Zudem möchte ich meinen Lehrstuhlkollegen für die anregende gemeinsame Zeit danken. Herzlicher Dank gebührt schließlich meinen Eltern, Sabine Kremer und Michael Seibel, die mich nicht nur während der Promotion, sondern auf meinem gesamten bisherigen Lebensweg mit großer Liebe und Fürsorge unterstützt haben. Zuletzt gilt mein Dank meinem Freund Jakob Gleim, ohne den diese Arbeit nie begonnen, geschweige denn beendet worden wäre. Hamburg, im April 2018
Mika Kremer
Inhaltsübersicht Vorwort ..........................................................................................VII Abkürzungsverzeichnis ......................................................................... XXIII
A. Einleitung ............................................................................................... 1 I. Problemstellung ......................................................................................... 1 II. Begründung der Länderauswahl ............................................................... 3 III. Gang der Darstellung ................................................................................ 4
B. Deutschland – Subjektive Verweigerungsrechte ........................ 6 I. II. III. IV. V. VI.
Geltende Rechtslage .................................................................................. 6 Historische Entwicklung .......................................................................... 27 Ratio der deutschen Regelung ................................................................. 45 Reformdiskussion ..................................................................................... 80 Fallstudie Beinahetreffer ......................................................................... 92 Zusammenfassung .................................................................................. 110
C. Frankreich – Incapacité und simple renseignement ............... 112 I. II. III. IV. V. VI. VII.
Der französische Strafprozess ............................................................... 112 Geltende Rechtslage .............................................................................. 114 Historische Entwicklung ........................................................................ 150 Ratio der französischen Regelung ......................................................... 159 Reformdiskussion ................................................................................... 162 Fallstudie Beinahetreffer ....................................................................... 166 Zusammenfassung .................................................................................. 170
D. England und Wales – Non-Compellability ............................... 171
X I. II. III. IV. V. VI. VII.
Inhaltsübersicht
Der englische Strafprozess .................................................................... 171 Geltende Rechtslage .............................................................................. 175 Historische Entwicklung ........................................................................ 213 Ratio der englischen Regelung .............................................................. 224 Reformdiskussion ................................................................................... 233 Fallstudie Beinahetreffer ....................................................................... 237 Zusammenfassung .................................................................................. 243
E. Rechtsvergleich ................................................................................ 244 I. Persönlicher Schutzbereich ................................................................... 244 II. Regelungswirkung.................................................................................. 247 III. Sachlicher Schutzbereich der Privilegierung ........................................ 253 IV. Folgerichtigkeit der Regelung im nationalen System ............................ 268 V. Unkooperative angehörige Zeugen ........................................................ 271 VI. Praktische Relevanz der Zeugenprivilegierungen ................................. 274 VII. Verfassungsrechtliche Vorgaben ........................................................... 276 VIII. Vergleich der ratio ................................................................................. 278 IX. Stellenwert von Zeugeninteressen im strafrechtlichen Gesamtgefüge ... 280 X. Fallstudie Beinahetreffer ....................................................................... 283 XI. Wertender Vergleich .............................................................................. 284 XII. Zusammenfassung .................................................................................. 290
F. Ausblick: Implikationen für das europäische Beweisrecht .. 292 Möglichkeiten der Europäisierung des Strafverfahrensrechts............... 293 Gemeinsamkeiten der Regelungen als Grundlage des gegenseitigen Vertrauens ............................................................................................. 294 III. Zusammenfassung .................................................................................. 309 I. II.
G. Fazit...................................................................................................... 311 H. Thesen ................................................................................................. 313 Literaturverzeichnis........................................................................................ 315 Sachregister .................................................................................................... 337
Inhaltsverzeichnis Vorwort ...........................................................................................................VII Abkürzungsverzeichnis ......................................................................... XXIII
A. Einleitung ............................................................................................... 1 I.
Problemstellung ......................................................................................... 1
II.
Begründung der Länderauswahl ............................................................... 3
III. Gang der Darstellung ................................................................................ 4
B. Deutschland – Subjektive Verweigerungsrechte ........................ 6 I.
Geltende Rechtslage .................................................................................. 6 1. Zeugnispflicht ...................................................................................... 6 2. Zeugnisverweigerungsrecht – § 52 StPO ............................................. 7 a) Persönlicher Schutzbereich............................................................. 7 b) Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts................................... 8 c) Wirkung des Zeugnisverweigerungsrechts ..................................... 9 d) Belehrung ..................................................................................... 10 3. Auskunftsverweigerungsrecht – § 55 Abs. 1 Alt. 2 StPO .................. 11 4. Eidesverweigerungsrecht – § 61 StPO ............................................... 12 5. Beschränkung des Fragerechts – § 68a StPO ..................................... 13 6. Gutachtenverweigerungsrecht – § 76 Abs. 1 StPO ............................ 13 7. Untersuchungsverweigerungsrecht – § 81c Abs. 3 S. 1 StPO ............ 14 8. Ausnahme von der Editionspflicht – § 95 Abs. 2 S. 2 StPO .............. 15 9. Beschlagnahmeverbot – § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO ............................... 15 10. Akustische Wohnraumüberwachung – § 100c Abs. 6 S. 2 StPO ....... 17 11. Verlesungs- und Umgehungsverbot – § 252 StPO ............................. 18 a) Wirkung ........................................................................................ 19 b) Ausnahme bei ermittlungsrichterlicher Vernehmung ................... 19 c) Rechtsfolge ................................................................................... 21
XII
Inhaltsverzeichnis
12. Aussagedelikte, Aussagenotstand und Sanktionierung der unberechtigten Aussageverweigerung ................................................ 21 a) Nichterscheinen ............................................................................ 21 b) Unberechtigte Zeugnisverweigerung ............................................ 22 c) Falschaussage ............................................................................... 22 13. Exkurs: Einfluss der Familienangehörigkeit auf das weitere deutsche Strafrecht ............................................................................. 25 a) Nichtanzeige geplanter Straftaten – § 138 StGB .......................... 25 b) Strafvereitelung – § 258 StGB...................................................... 25 c) Antragsdelikte .............................................................................. 26 d) Strafschärfung bzw. -begründung................................................. 27 II.
Historische Entwicklung .......................................................................... 27 1. Römisches Recht ................................................................................ 27 2. Kanonisches Recht ............................................................................. 28 3. Jüdisches Recht .................................................................................. 30 4. Deutsches Recht vor der Rezeption.................................................... 31 5. Deutsches Recht im 16. und 17. Jahrhundert ..................................... 33 6. 18. Jahrhundert ................................................................................... 34 a) Formelle Beweisregeln ................................................................. 34 b) Hannoversche Criminalinstruktion ............................................... 35 c) Constitutio Criminalis Theresiana ................................................ 36 7. 19. Jahrhundert ................................................................................... 36 8. RStPO von 1877................................................................................. 38 9. Nationalsozialistische Reformpläne ................................................... 39 10. Recht der DDR ................................................................................... 40 11. Änderungen von 1877 bis heute ......................................................... 41 12. Entwicklung der § 52 StPO flankierenden Normen ........................... 41 a) Auskunftsverweigerungsrecht – § 55 Abs. 1 StPO....................... 41 b) Ausnahme von der Editionspflicht und Beschlagnahmeverbot – §§ 95 Abs. 2 S. 2, 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO....................................... 42 c) Untersuchungsverweigerungsrecht – § 81c Abs. 3 StPO ............. 43 d) Akustische Wohnraumüberwachung Angehöriger – § 100c Abs. 6 S. 2 StPO ............................................................... 44 e) Verlesungs- und Umgehungsverbot – § 252 StPO ....................... 44
III. Ratio der deutschen Regelung ................................................................. 45 1. Wahrheitsfindung als ursprüngliche ratio .......................................... 46 a) Argumente für die Wahrheitsfindung ........................................... 46 b) Geringe Glaubwürdigkeit Angehöriger ........................................ 47 c) Erschwerung der Wahrheitsfindung ............................................. 49 d) Flankierende Normen ................................................................... 50 e) Zwischenergebnis ......................................................................... 51 2. Nemo tenetur ...................................................................................... 51
Inhaltsverzeichnis
3.
4. 5. 6.
7.
8.
9.
XIII
a) Nemo tenetur des Beschuldigten .................................................. 51 b) Nemo tenetur des Zeugen ............................................................. 53 Zwangslage des Zeugen ..................................................................... 55 a) Konfliktsituation keine Tatbestandsvoraussetzung ...................... 57 b) Verweigerung auch bei entlastenden Aussagen............................ 58 c) Keine Konfliktlösung ................................................................... 58 d) Flankierende Normen ................................................................... 59 e) Bloße Wirkungsbeschreibung....................................................... 60 f) Zwischenergebnis ......................................................................... 60 Wertepluralismus ............................................................................... 61 Faires Verfahren ................................................................................. 61 Allgemeines Persönlichkeitsrecht ...................................................... 62 a) Entwicklung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ................... 62 b) ‚Entdeckung‘ des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts für § 52 StPO ..................................................................................... 64 c) Betroffene Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts .. 66 d) Kritik am Schutzgut Allgemeines Persönlichkeitsrecht ............... 69 e) Zwischenergebnis ......................................................................... 70 Familie ............................................................................................... 70 a) Ausprägungen des Schutzguts Familie ......................................... 70 b) Rechtsprechung ............................................................................ 72 c) Verfassungsrechtliche Verwurzelung ........................................... 72 d) Fehlen eines familiären Vertrauens .............................................. 73 e) Mangelnde Dispositionsbefugnis der Familie .............................. 74 f) Missbrauchsgefahr ........................................................................ 75 g) Gefährdung der Familie bei häuslicher Gewalt ............................ 76 h) Flankierende Normen ................................................................... 76 i) Zwischenergebnis ......................................................................... 77 Gewissensfreiheit ............................................................................... 77 a) Schutzbereich ............................................................................... 77 b) Gewissensnot bei der Aussage gegen Angehörige ....................... 78 c) Verhältnis zu Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 GG .. 79 d) Zwischenergebnis ......................................................................... 79 Zwischenergebnis ............................................................................... 80
IV. Reformdiskussion ..................................................................................... 80 1. Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts ................................... 81 a) Erweiterung des Personenkataloges ............................................. 81 aa) Pflegschafts- und Vormundschaftsverhältnis ....................... 81 bb) Eheähnliche Lebensgemeinschaft bzw. besonderes Näheund Vertrauensverhältnis ..................................................... 82 (1) Besonderes Nähe- und Vertrauensverhältnis ............... 82 (2) Eheähnliche Lebensgemeinschaft ................................ 83
XIV
Inhaltsverzeichnis
b) Ausweitung des sachlichen Schutzbereichs .................................. 85 2. Einschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts ............................... 85 a) Nacheheliches Zeugnisverweigerungsrecht .................................. 85 b) Verlöbnis ...................................................................................... 86 c) Opferschutz bei Delikten im familiären Nahbereich .................... 86 d) Weite des privilegierten Familienkreises...................................... 87 e) Sachlicher Schutzbereich.............................................................. 87 3. Einführung eines Mitspracherechts des Beschuldigten ...................... 88 4. Reform der flankierenden Normen..................................................... 88 a) Neukonzeption des § 55 StPO ...................................................... 88 b) Editionspflicht und Beschlagnahmefreiheit .................................. 89 c) Reform des Untersuchungsverweigerungsrechts .......................... 89 d) Heimliche Überwachungsmaßnahmen ......................................... 90 5. Reform des Verwertungsverbotes nach § 252 StPO .......................... 91 6. Generelle Kritik am Modell des Zeugnisverweigerungsrechts .......... 91 7. Zwischenergebnis ............................................................................... 92 V.
Fallstudie Beinahetreffer ......................................................................... 92 1. Zusammenfassung des Sachverhalts von BGHSt 58, 84 .................... 92 2. Naturwissenschaftlicher Hintergrund des Beinahetreffers ................. 93 a) Grundzüge der DNA-Analyse ...................................................... 93 b) Möglichkeit der Verwandtschaftsanalyse ..................................... 96 c) Familial searching ........................................................................ 97 3. Rechtslage .......................................................................................... 98 a) LG Osnabrück .............................................................................. 99 b) BGH ........................................................................................... 100 c) BVerfG ....................................................................................... 100 d) Literatur ...................................................................................... 101 aa) Freiwilligkeit ...................................................................... 102 bb) Passive Teilnahme am Verfahren....................................... 102 cc) Fehlender Beschuldigter zum Zeitpunkt der Probenabgabe ..................................................................... 103 4. Gesetzesreform................................................................................. 104 a) Inhalt der Reform ....................................................................... 104 b) Kritik an der Reform .................................................................. 105 5. Stellungnahme .................................................................................. 106 a) Reichweite der Ermächtigungsgrundlage ................................... 106 b) Begrenzung auf geeignete Katalogtaten ..................................... 107 c) Beweisnotstand ........................................................................... 107 d) Belehrung ................................................................................... 107 e) Weiteres Vorgehen ..................................................................... 108 f) Beweisverwertungsverbot und Fernwirkung .............................. 109 g) Zwischenergebnis ...................................................................... 110
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VI. Zusammenfassung .................................................................................. 110
C. Frankreich – Incapacité und simple renseignement ............... 112 I.
Der französische Strafprozess ............................................................... 112
II.
Geltende Rechtslage .............................................................................. 114 1. Definition des Zeugen (témoin) ....................................................... 115 a) Témoin ....................................................................................... 115 b) Simple renseignement ................................................................ 115 c) Grund für die Unterscheidung .................................................... 116 2. Zeugnis in der Phase der enquête préliminaire................................. 118 3. Zeugnis in der Phase der instruction ................................................ 120 a) Pflicht zum Erscheinen, Aussagen und zur Eidesleistung .......... 120 b) Ausnahmen von der Aussagepflicht ........................................... 123 aa) Aussagen der Kinder über Umstände der Scheidung ......... 123 bb) Secret professionnel ........................................................... 125 4. Aussage vor Gericht ......................................................................... 126 a) Incompatibilité............................................................................ 128 b) Incapacités .................................................................................. 129 aa) Minderjährige unter 16 Jahren ........................................... 129 bb) Dégradation civique, partie civile und dénonciateur .......... 129 cc) Angehörige des Angeklagten ............................................. 130 5. Zeugnis vor der Cour d’appel........................................................... 133 6. Andere Ermittlungsmaßnahmen ....................................................... 133 7. Rechte der Zeugen............................................................................ 134 8. Straftatbestände im Zusammenhang mit der Zeugenaussage ........... 135 a) Verweigerung der Beteiligung am Strafverfahren ...................... 135 b) Falschaussage ............................................................................. 137 aa) Tatbestand der Falschaussage ............................................ 138 bb) Strafbarkeit nur bei vereidigter Aussage ............................ 139 cc) Ahndung ............................................................................. 141 c) Strafbewährte Aussagepflichten ................................................. 142 aa) Nichtanzeige geplanter Straftaten ...................................... 142 bb) Nichtanzeige von Straftaten gegen unter 15-Jährige .......... 144 cc) Unterlassen einer Aussage zur Entlastung eines Unschuldigen ..................................................................... 144 dd) Verweigerung der Aussage trotz Wissensbekundung ........ 145 d) Anzeige einer ausgedachten Straftat ........................................... 146 9. Exkurs: Einfluss der Familienangehörigkeit auf das weitere französische Strafrecht ..................................................................... 146 a) Immunités ................................................................................... 147 b) Strafschärfungsgründe ................................................................ 148
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c) Selbstständige Straftatbestände .................................................. 149 d) Strafe und Familie ...................................................................... 149 III. Historische Entwicklung ........................................................................ 150 1. Vorrevolutionäres Recht .................................................................. 150 a) Karolingische Zeit ...................................................................... 150 b) Inquisitionsprozess ..................................................................... 152 c) Code des délits et des peines ...................................................... 153 2. Code d’instruction criminelle ........................................................... 154 a) Zeugenausschlüsse ..................................................................... 154 b) Ausnahme durch die pouvoir discrétionnaire des Vorsitzenden. 156 c) Ausschlüsse in der instruction .................................................... 157 3. Code de Procédure Pénale ................................................................ 158 IV. Ratio der französischen Regelung ......................................................... 159 1. Humanité und Familie ...................................................................... 159 2. Wahrheitsfindung ............................................................................. 161 3. Zwischenergebnis ............................................................................. 161 V.
Reformdiskussion ................................................................................... 162 1. Reform im Sinne eines Zeugnisverweigerungsrechts ...................... 162 2. Reformvorschlag von Rassat ............................................................ 163 3. Vereinheitlichung von témoignage und simple renseignement ........ 165
VI. Fallstudie Beinahetreffer ....................................................................... 166 1. Rechtsgrundlage für die DNA-Analyse ........................................... 166 2. Familial searching ............................................................................ 168 3. Übertragbarkeit auf das deutsche Recht ........................................... 170 VII. Zusammenfassung .................................................................................. 170
D. England und Wales – Non-Compellability ............................... 171 I.
Der englische Strafprozess .................................................................... 171 1. Verfahrensablauf des Strafprozesses ................................................ 171 2. Adversary System ............................................................................ 173
II.
Geltende Rechtslage .............................................................................. 175 1. Zeugnispflicht .................................................................................. 175 a) Rechtliche Zeugnispflicht ........................................................... 175 b) Tatsächliche Zeugnispflicht ........................................................ 176 c) Ablauf der Zeugenvernehmung .................................................. 177 2. Competence ...................................................................................... 178 3. Compellability .................................................................................. 180 a) Persönlicher Schutzbereich......................................................... 183
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aa) Ehepartner und civil partner ............................................... 183 bb) Angeklagte ......................................................................... 184 cc) Familienmitglieder und nichteheliche Lebenspartner ........ 184 (1) Keine non-compellability .......................................... 184 (2) R. v Pearce ................................................................. 186 (3) Ausschluss der Angehörigenaussage aus Fairnessgründen ......................................................... 187 b) Sachlicher Schutzbereich............................................................ 188 aa) Allgemeine Reichweite ...................................................... 188 bb) Specified offences .............................................................. 188 (1) Betroffene Tatbestände bzw. Tatkonstellationen ....... 189 (2) Rechtswirkung ........................................................... 190 (3) Praktische Relevanz ................................................... 191 c) Rechtliche Wirkung .................................................................... 192 aa) Belehrungspflicht ............................................................... 192 bb) Verwertbarkeit früherer Aussagen ..................................... 195 (1) Frühere Vernehmungen von nicht aussagenden Personen .................................................................... 195 (2) Frühere Vernehmungen von aussagenden Personen .. 198 cc) Einfluss auf sonstige Ermittlungsmethoden ....................... 201 dd) Einfluss auf die Urteilsfindung .......................................... 202 ee) Folge von Rechtsfehlern .................................................... 202 4. Privileges .......................................................................................... 203 a) Rechtswirkung ............................................................................ 203 b) Unterschied zwischen non-compellability und privilege ............ 203 c) Nicht mehr existente Eheprivilegien .......................................... 204 d) Privilege Against Spouse Incrimination ..................................... 204 5. Straftaten im Zusammenhang mit der Zeugenaussage ..................... 206 a) Perverting the course of public justice........................................ 206 b) Contempt of court ....................................................................... 207 aa) Tatbestand .......................................................................... 207 bb) Rechtsfolge ........................................................................ 208 c) Perjury ........................................................................................ 210 6. Exkurs: Einfluss der Familienangehörigkeit auf das weitere englische Strafrecht .......................................................................... 211 a) Sentencing Guidelines ................................................................ 211 b) Conspiracy .................................................................................. 211 c) Marital coercion ......................................................................... 212 d) Zusammenfassung ...................................................................... 213 III. Historische Entwicklung ........................................................................ 213 1. Zeugenausschlüsse wegen interest ................................................... 213 2. Zeugenausschluss wegen Eidesunfähigkeit...................................... 215
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3. Kein Zeugenausschluss von Blutsverwandten ................................. 215 4. Ehepartner ........................................................................................ 216 a) Competence ................................................................................ 216 aa) Rückausnahmen im Common Law .................................... 217 bb) Rückausnahmen im Statutory Law .................................... 218 cc) Neuregelung 1984 .............................................................. 220 b) Compellability ............................................................................ 220 c) Privilege ..................................................................................... 223 aa) Matrimonial communications-privilege ............................. 223 bb) Zeugenaussage über ehelichen Geschlechtsverkehr ........... 224 IV. Ratio der englischen Regelung .............................................................. 224 1. Ratio der non-compellability ............................................................ 224 a) Unity of spouses ......................................................................... 224 b) Eheliche Harmonie ..................................................................... 226 aa) Argumente für den Schutz der Ehe .................................... 227 bb) Kritik .................................................................................. 228 c) Moralische Pflicht des Staates .................................................... 229 2. Ratio der Ausnahme durch specified offences ................................. 229 a) Schutz der Ehegatten vor häuslicher Gewalt .............................. 230 b) Kinder- bzw. Jugendschutz ........................................................ 231 c) Strafverfolgungsinteresse ........................................................... 232 3. Zwischenergebnis ............................................................................. 232 V.
Reformdiskussion ................................................................................... 233 1. Ausweitung auf weitere Personengruppen ....................................... 233 2. Vermutung für eine compellability .................................................. 234 3. Ausweitung der specified offences .................................................. 234 4. Verwertbarkeit von hearsay evidence .............................................. 235 5. Abschaffung der Privilegierung ....................................................... 235 6. Kein Reformbedarf........................................................................... 237
VI. Fallstudie Beinahetreffer ....................................................................... 237 1. Entwicklung des DNA-Beweises in England ................................... 237 2. Beinahetreffer nach englischem Recht ............................................. 239 a) Rechtslage .................................................................................. 239 b) Kritik .......................................................................................... 241 c) Übertragbarkeit auf das deutsche Recht ..................................... 242 VII. Zusammenfassung .................................................................................. 243
E. Rechtsvergleich ................................................................................ 244 I.
Persönlicher Schutzbereich ................................................................... 244
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1. 2. 3. 4. 5. II.
XIX
Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich ..................... 244 Andersartige Regelung in England................................................... 245 Historische Erklärung der Unterschiede........................................... 245 Erklärungsansätze der englischen Wissenschaft .............................. 246 Zwischenergebnis ............................................................................. 247
Regelungswirkung.................................................................................. 247 1. Subjektives Recht auf Zeugnisverweigerung ................................... 248 2. ‚Recht zur Lüge‘ .............................................................................. 249 3. Historische Erklärung der Unterschiede........................................... 249 a) Französische Reaktion auf den Beweisnotstand ......................... 249 b) Deutsche Reaktion auf den Beweisnotstand ............................... 250 c) Zusammenführung ...................................................................... 251 4. Wirkungsvergleich der unterschiedlichen Modelle .......................... 251 5. Zwischenergebnis ............................................................................. 253
III. Sachlicher Schutzbereich der Privilegierung ........................................ 253 1. Einfluss des Verfahrensstadiums ..................................................... 253 a) Durchgängige Privilegierung in Deutschland ............................. 254 b) Potentiel vollumfängliche Privilegierung in England ................. 254 c) Partieller Schutz in Frankreich ................................................... 255 2. Einfluss des Beschuldigten auf die Zeugenaussage ......................... 256 a) Keine Dispositionsmöglichkeit................................................... 256 b) Aussagezwang für die Verteidigung in England ........................ 256 c) Zwischenergebnis ....................................................................... 257 3. Schutz in Strafverfahren gegen Dritte .............................................. 258 4. Erstreckung auf andere Ermittlungsmethoden ................................. 259 a) Allgemeine Erstreckung ............................................................. 259 b) Fortwirkung der Privilegierung für Kinder in Frankreich .......... 260 c) Fortwirkung der non-compellability bei fehlender Belehrung ... 260 d) Zwischenergebnis ....................................................................... 261 5. Einfluss der untersuchten Tat auf die Privilegierung ....................... 261 a) Ausnahme bei Staatsschutzdelikten............................................ 261 b) Ausnahme bei schwerster Kriminalität ....................................... 262 c) Ausnahme bei häuslicher Gewalt und Straftaten gegen Minderjährige ............................................................................. 263 aa) Gesteigertes Problembewusstsein für häusliche Gewalt .... 263 bb) Keine Privilegierung bei häuslicher Gewalt in England .... 264 cc) Anzeigepflicht bei häuslicher Gewalt in Frankreich .......... 265 dd) Verwertbarkeit früherer Aussagen zu häuslicher Gewalt in Deutschland ................................................................... 265 ee) Zusammenführung ............................................................. 266 ff) Außerstrafrechtliche Antwort auf häusliche Gewalt .......... 267 gg) Zwischenergebnis............................................................... 268
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IV. Folgerichtigkeit der Regelung im nationalen System ............................ 268 1. Verweigerungsrechte im deutschen System ..................................... 269 2. Non-compellability im englischen System....................................... 269 3. ‚Recht zur Lüge‘ im französischen System ...................................... 270 4. Zwischenergebnis ............................................................................. 270 V.
Unkooperative angehörige Zeugen ........................................................ 271 1. Sanktion für Nichterscheinen und Zeugnisverweigerung ................ 271 2. Sanktion für Falschaussage .............................................................. 272
VI. Praktische Relevanz der Zeugenprivilegierungen ................................. 274 1. Große Relevanz für das deutsche Recht ........................................... 274 2. Geringe praktische Relevanz im englischen adversary system ........ 274 3. Keine praktische Relevanz in Frankreich ......................................... 275 VII. Verfassungsrechtliche Vorgaben ........................................................... 276 VIII. Vergleich der ratio ................................................................................. 278 IX. Stellenwert von Zeugeninteressen im strafrechtlichen Gesamtgefüge ... 280 X.
Fallstudie Beinahetreffer ....................................................................... 283
XI. Wertender Vergleich .............................................................................. 284 1. Kompatibilität der Ansätze im europäischen Kontext ...................... 284 2. Verständlichkeit und Umsetzbarkeit ................................................ 285 3. Gerechtigkeit im engeren Sinne ....................................................... 287 a) Überindividuelle Zweckmäßigkeit ............................................. 287 b) Gleichbehandlung ....................................................................... 288 c) Einzelfallgerechtigkeit ................................................................ 289 XII. Zusammenfassung .................................................................................. 290
F. Ausblick: Implikationen für das europäische Beweisrecht .. 292 I.
Möglichkeiten der Europäisierung des Strafverfahrensrechts............... 293 1. Gegenseitige Anerkennung als Grundlage der Europäisierung ........ 293 2. Harmonisierung als Grundlage der Europäisierung ......................... 293
II.
Gemeinsamkeiten der Regelungen als Grundlage des gegenseitigen Vertrauens ............................................................................................. 294 1. Europäische Ermittlungsanordnung ................................................. 295 a) Funktionsweise der Europäischen Ermittlungsanordnung.......... 295 b) Höheres Privilegierungsniveau im ersuchenden Staat ................ 298 c) Höheres Privilegierungsniveau im ersuchten Staat .................... 300 2. Europäische Staatsanwaltschaft ....................................................... 301 a) Vorschlag von 2013 .................................................................... 301
Inhaltsverzeichnis
XXI
b) Vorschlag von 2015 und Verordnung von 2017 ......................... 302 c) Implikationen des ursprünglichen Vorschlags von 2013 ............ 303 d) Implikationen der Verordnung von 2017 ................................... 304 3. Prüm-Vertrag zum DNA-Datenabgleich .......................................... 304 a) Entstehung und Wirkung des Beschlusses ................................. 304 b) Prüm-Vertrag und familial searching ......................................... 306 aa) Naturwissenschaftliche Möglichkeit des familial searching ............................................................................ 306 bb) Einschränkung der Missbrauchsgefahr .............................. 307 c) Zwischenergebnis ....................................................................... 309 III. Zusammenfassung .................................................................................. 309
G. Fazit...................................................................................................... 311 H. Thesen ................................................................................................. 313 Literaturverzeichnis........................................................................................ 315 Sachregister .................................................................................................... 337
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.F. Abl. EU Abs. AC AE-ZVR AEUV AJ AJ fam. AK-StPO Alb. L. Rev. All ER Am.J.Crim.L. AO APR Art. Atk. B.C.Int’l&Comp.L.Rev. Bd. BGB BGBl. BGH BGHR StPO BKAG BMJ(V) Brit. J. Criminol. BT Drucks. Bull Ass. Plén. n° Bull. n° BVerfG C.L.J. CA CA Paris Car. & P. Cath. Law. CCC CCB CEA Ch. D.
andere Ansicht alte Fassung Amtsblatt der Europäischen Union Absatz Appeal Case Alternativentwurf Zeugnisverweigerungsrechte Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Actualité Juridique Actualité Juridique Famille Alternativkommentar StPO Albany Law Review The All England Law Reports American Journal of Criminal Law Abgabenordnung Allgemeines Persönlichkeitsrecht Artikel Atkyns’ Reports Boston College International & Comparative Law Review Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof BGH-Rechtsprechung StPO Bundeskriminalamtsgesetz Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz British Journal of Criminology Bundestagsdrucksache Numéro au bulletin de l’assemblée plénière Numéro au bulletin des arrêts Bundesverfassungsgericht Cambridge Law Journal Court of Appeals Cour d’appel Paris Carrington and Payne’s Reports Catholic Lawyer Constitutio Criminalis Carolina Constitutio Criminalis Bambergensis Criminal Evidence Act Chancery Division Law Reports
XXIV
Abkürzungsverzeichnis
CIC Civ. CJA Colum. L. Rev. Cornell J. L. & Pub. Pol’y CP CPC CPIA CPP Cr.App.R. Crim. Crim. Just. Crim.L.R. Cox CC D. D.H. DB DDR-StPO Den. Dick.L.Rev. Dig. DJT DNA Dr. fam. Dr. pén. ER EEA EinigVrt Emory Int’l L. Rev. EMRK EUStA EuCLR EWCA Crim. FamFG
Code d’Instruction Criminelle Cour de Cassation Chambre Civile Criminal Justice Act Columbia Law Review Cornell Journal of Law and Public Policy Code Pénal Code de Procédure Civile Criminal Procedure and Investigations Act Code de Procédure Pénale Criminal Appeal Reports Cour de Cassation Chambre Criminelle Journal of Criminal Justice The Criminal Law Review Cox’s Criminal Cases Recueil Dalloz Dalloz Recueil Hebdomadaire Der Betrieb Strafprozessordnung der DDR Denison & Pearce's Crown Cases Reserved Dickinson Law Review Digesten Deutscher Juristentag Desoxyribonukleinsäure Droit de la famille Revue Droit pénal English Reports Europäische Ermittlungsanordnung Einigungsvertrag Emory International Law Review Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Staatsanwaltschaft European Criminal Law Review Court of Appeal Criminal Division Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Fichier National Automatisé des Empreintes Génétiques Forensic Science International (Genetics) Familie Partnerschaft Recht Festschrift Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Georgia Law Review Gazette du Palais Pfund Sterling Genesis Georgetown Law Journal Gewaltschutzgesetz Grundgesetz Gen-ethischer Informationsdienst Grundrechtecharta der Europäischen Union
FNAEG Forensic Sci Int (Genet) FPR FS GA Ga. L. Rev. Gaz. Pal. GBP Gen. Geo.L.J. GewSchG GG GID GRC
Abkürzungsverzeichnis GS GSSt GVG h.M. H.S. Harv. J. L. & Tech. Harv. Law Rev. Hastings Const. L. Q. Hastings Women’s L.R. HC HK-StPO HL Hofstra L. Rev. Hous. L. Rev. HRRS i.E. i.e. i.V.m. ICLQ ICS IJEP Ind. L. Rev. Iowa L. Rev. IRG J Legal Hist J. Forensic Sci. JP JCP JLME JO JR JuS JW JZ K.B. KK-StPO KMR-StPO KunstUrhG LG Lib. LK-StGB LPartG LR 1 CCR LR-StPO LQR M.L.R. m. Anm. M&S
XXV
Der Gerichtssaal/Gedenkschrift Großer Senat für Strafsachen Gerichtsverfassungsgesetz herrschende Meinung Halbsatz Harvard Journal of Law & Technology Harvard Law Review Hastings Constitutional Law Quaterly Hastings Women’s Law Review House of Commons Heidelberger Kommentar zur StPO House of Lords Hofstra Law Review Houston Law Review Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht im Ergebnis id est in Verbindung mit International and Comparative Law Quarterly International Congress Series International Journal of Evidence & Proof Indiana Law Review Iowa Law Review Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen The Journal of Legal History Journal of Forensic Sciences Justice of the Peace Law Reports Semaine Juridique The Journal of Law, Medicine & Ethics Journal Officiel Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristische Woche Juristen Zeitung King’s Bench Division Karlsruher Kommentar zur StPO Kleinknecht/Müller/Reitberger Kommentar zur StPO Kunsturhebergesetz Landgericht Liber Leipziger Kommentar zum StGB Lebenspartnerschaftsgesetz Law Report Volume 1 Crown Cases Reserved Löwe/Rosenberg Kommentar zur StPO Law Quarterly Review The Modern Law Review mit Anmerkung Maule & Selwyn’s King’s Bench Reports
XXVI
Abkürzungsverzeichnis
MDR Mich. L. Rev. Minn. J. L. Sci. & Tech. MüKo-StGB MüKo-StPO mtDNA n.F. NArchCrimR NDNAD New LJ NJ NJECL NJW Notre Dame L. Rev. NStZ NStZ-RR Nw.U.L.Rev. Obs. OGH OLG OWiG öStPO PACE PACS para. PUAG
Monatsschrift Deutsches Recht Michigan Law Review Minnesota Journal of Law Science & Technology Münchener Kommentar zum StGB Münchener Kommentar zur StPO mitochondriale DNA neue Fassung Neues Archiv des Criminalrechts National DNA Database New Law Journal Neue Justiz New Journal of European Criminal Law Neue Juristische Wochenschrift Notre Dame Law Review Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungsreport Northwestern University Law Review Observations Oberster Gerichtshof für die britische Zone Oberlandesgericht Ordnungswidrigkeitengesetz österreichische Strafprozessordnung Police and Criminal Evidence Act Pacte civil de solidarité paragraph Gesetz zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages Queen’s Bench Queensland Court of Appeal Queensland University of Technology Law & Justice Journal The Crown against … Rapport Journal Officiel Revue critique de législation et de jurisprudence Referentenentwurf Revue de Criminologie et de Police Technique Revue pénitentiaire et de droit pénal Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten Deutsches Reichsgesetzblatt Reichsgericht Revue juridique personnes et famille Richtlinie Revue Lamy droit civil Revue de science criminelle et de droit pénal comparé Rechtsprechung Reichsstrafprozessordnung Revue trimestrielle de droit civil
Q.B. QCA Queensland U. Tech. L. & Just. R. v. Rapp. JO RCLJ RefE Rev Int Criminol Police Tech Rev. pénit. RiStBV RiVASt RGBl. RG RJPF RL RLDC RSC Rspr. RStPO RTD civ.
Abkürzungsverzeichnis S./s. S.Afr.J.Crim.Just. S.L.T. Sch & Lef Sch/Sch-StGB SK-StPO SLPR Somm. SSW-StGB St. Mary’s L. J. St Tr StA STR Str. StraFo StRR StGB StPO StV Tbd. Tex. Int’l L. J. Tex. Wesleyan L. Rev. TGI Tit. TKÜNReglG U. Ill. J. L. Tech. & Pol’y U.N.S.W.L.J. Vol. Vorbem. Whittier L. Rev. WLR Wm. & Mary L.Rev. YJCEA ZD ZDStV ZeuS ZIS ZJS ZPO ZRP ZStW
XXVII
Recueil Sirey/Seite/siehe/section South African Journal of Criminal Justice Scots Law Times Schoales & Lefroy’s Irish Chancery Reports Schönke/Schröder Kommentar zur StGB Systematischer Kommentar zur StPO Stanford Law & Policy Review Sommaires Satzger/Schluckebier/Widmaier Kommentar zum StGB St. Mary’s Law Journal State Trials Staatsanwaltschaft Short Tandem Repeats Streitig StrafverteidigerForum StrafRechtsReport Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Strafverteidiger Teilband Texas International Law Journal Texas Wesleyan Law Review Tribunal de Grand Instance Titel Telekommunikationsneuregelungsgesetz University of Illinois Journal of Law, Technology & Policy University of New South Wales Law Journal Volume Vorbemerkung Whittier Law Review The Weekly Law Reports William and Mary Law Review Youth Justice and Criminal Evidence Act Zeitschrift für Datenschutz Zeitschrift für deutsches Strafverfahren Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für das Juristische Studium Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
A. Einleitung Die Entscheidung des BGH1 zur Verwertbarkeit von sog. Beinahetreffern hat die strafprozessualen Aussageprivilegien naher Angehöriger erneut in grelles Licht getaucht. Warum nimmt die StPO bestimmte Angehörige des Beschuldigten von gewissen Mitwirkungspflichten aus? Welchen Stellenwert haben die Ausnahmen im rechtlichen Gesamtgefüge? Und wie vertragen sich neuartige technische Ermittlungsmethoden mit diesen Privilegien?
I. Problemstellung Die Arbeit nähert sich diesem Thema nicht nur aus der Perspektive des geltenden deutschen Rechts. Im Rahmen eines Rechtsvergleichs soll der Frage nachgegangen werden, ob die Privilegierung ein rein deutsches Phänomen ist, oder ob auch andere europäische Staaten den Angehörigen des Beschuldigten Sonderrechte zuweisen. Es wird untersucht, wie etwaige Unterschiede zu Stande kamen und ob trotz aller Unterschiede eine gemeinsame Grundentscheidung für den Schutz der Angehörigen besteht, auf die eine Europäisierung des Beweisrechts aufbauen kann. Das Strafprozessrecht ist als Schutzsystem für Grund- und Menschenrechte von elementarer Bedeutung. Vor allem im europäischen Diskurs werden in diesem Zusammenhang jedoch zumeist nur die Rechte von Beschuldigten und Opfern thematisiert. Außer in der deutschen Literatur ist die Rolle der Angehörigen des Beschuldigten bis jetzt kaum untersucht worden. Dabei stellt eine Partizipation an der Überführung und Verurteilung eines nahen Angehörigen überall eine schwere Belastung dar. Wie reagieren verschiedene Rechtsordnungen auf diese emotional bedrückende Situation? Tatsächlich werden Angehörige in allen drei Rechtsordnungen besonders behandelt. Aber geschieht dies aus denselben Gründen? Und hat diese Sonderrolle in der Praxis überall denselben Stellenwert? In dieser Arbeit wird nicht nur das law in the books, sondern auch das law in action, d.h. der Umgang der Rechtsprechung mit den Vorschriften zur Angehörigenprivilegierung, deren praktischer Stellenwert innerhalb des je1
BGHSt 58, 84 ff.
2
A. Einleitung
weiligen Rechtssystems, etwaige Reformvorschläge und relevante historischgesellschaftliche Entwicklungen miteinander verglichen.2 Dies kann zum einen die mögliche Vielfalt des Rechts verdeutlichen.3 Der Vergleich der Situation von Angehörigen des Beschuldigten kann auch als Inspiration für Reformen im nationalen Recht z.B. im Bereich des Beinahetreffers dienen.4 Durch den Rechtsvergleich soll aber ebenso das Potential eines europäisierten Beweisrechts ausgelotet werden.5 Die Europäisierung des Strafrechts beeinflusst schon jetzt den nationalen Strafprozess. Der Vergleich soll zeigen, ob die bereits bestehende und auch kommende Europäisierung des Beweisrechts eine Zukunft hat. Denn die Integrationsmechanismen im europäischen Strafrecht beruhen gem. Art. 82 Abs. 1 S. 1 AEUV auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, das sich seinerseits aus dem gegenseitigen Vertrauen in die Rechtmäßigkeit des Handelns der anderen Mitgliedstaaten speist. Dieser Vertrauensvorschuss muss jedoch auf einer ausreichenden Kongruenz der nationalen Rechtsordnungen fußen, was insbesondere voraussetzt, dass überall gewisse prozessuale Mindeststandards gelten.6 Die Arbeit geht deshalb der Frage nach, ob eine solche Kongruenz im Bereich des Schutzes von Familienangehörigen besteht. Einbußen eines prozessualen Schutzes durch die europäische Integration wären kaum konsensfähig und dürften in Deutschland geradezu reflexartig zu einer Anrufung des BVerfG führen.7 Eine solche Gefahr zeichnet sich momentan im Bereich der Beweiserhebung durch den Vorschlag einer Verordnung zur Einführung einer Europäischen Staatsanwaltschaft,8 die Umsetzung der Europäischen Ermittlungsanordnungs-Richtlinie9 und die Umsetzung des Prüm-Beschlusses ab.10 Hier wird jeweils die Auswirkung dieser Mechanismen auf die Stellung von Angehörigen untersucht, um mögliche Konflikte bereits im Vorhinein aufzuspüren. Als Fallstudie zu den aufgeworfenen Fragen dient das Beispiel des Beinahetreffers: Seit der Entdeckung des genetischen Fingerabdrucks wurden 2 Zur Methodik der funktionalen Rechtsvergleichung s. Jescheck, Entwicklung, Aufgaben und Methoden, 1955; Perron ZStW 109 (1997), 281, S. 281; Sieber, in: Sieber/ Albrecht (Hrsg.), Strafrecht und Kriminologie: Kolloquium zum 90. Geburtstag von Professor Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Heinrich Jescheck am 10. Januar 2005, 2006, S. 78. 3 Ein Grund für den Vergleich ist daher die reine „Erkenntnis“, s. Rabel, in: Leser (Hrsg.), Ernst Rabel Gesammelte Aufsätze Band 3, 1967, S. 3. 4 Voigt, in: Voigt (Hrsg.), Globalisierung, 2000, S. 17. 5 Zweigert/Kötz, Einführung, 31996, S. 27. 6 So z.B. anstatt vieler EU-Dokumente das Haager Programm, Abl. 2005 C 53/1, C 53/12; Zum gegenseitigen Vertrauen ausführlich Ronsfeld, Rechtshilfe, 2015, S. 227. 7 S. hierzu in letzter Zeit BVerfG NJW 2016, 1149. 8 Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft, COM(2013) 534 final. 9 ABl. EU Nr. L 130 v. 1.5.2014 S. 1. 10 ABl. EU Nr. 210 v. 6.8.2008 S. 1.
II. Begründung der Länderauswahl
3
immer neue, für die Strafverfolgung relevante Untersuchungen möglich. Heutzutage können mittels eines DNA-Täterprofils nicht nur der Täter selbst, sondern auch dessen nahe Angehörige ermittelt werden, was es Ermittlungsbehörden dann ermöglicht, gezielt innerhalb einer Familie zu fahnden. Der BGH hat festgestellt, dass die Situation der Abgabe einer DNA-Probe mit der einer Zeugenaussage vergleichbar ist, insofern als die Gefahr besteht, einen nahen Angehörigen – wenn auch unwillkürlich – zu belasten.11 Problematisch am sog. Beinahetreffer ist daher, dass die Angehörigenprivilegierung des deutschen Rechts mittelbar umgangen werden kann. Unter Berücksichtigung der deutschen Diskussion, die mehrheitlich den Schutzgedanken des § 52 StPO auf den Beinahetreffer überträgt,12 und der aktuellen Gesetzesänderung wird im Lichte der Rechtsvergleichung gefragt, ob ein genereller Schutzstandard zugunsten Angehöriger auch im Kontext neuer technischen Entwicklungen beibehalten wird. Hier ist zudem der grenzüberschreitende DNADatenbankabgleich aufgrund des Prüm-Umsetzungsbeschlusses von Interesse, denn die Frage nach der confiance mutuelle stellt sich durch die Möglichkeit der gezielten Suche nach Beinahetreffern (sog. familial searching) mit neuer Brisanz.
II. Begründung der Länderauswahl Als prägende europäische Rechtsordnungen habe ich für diesen Vergleich Deutschland, Frankreich, sowie England und Wales gewählt.13 In diesen drei Rechtsordnungen tun sich bei den Aussageprivilegien naher Angehöriger große Unterschiede auf. Während in Deutschland die Familienangehörigen durch § 52 StPO und weitere flankierende Normen sehr weitgehend geschützt werden, besteht in Frankreich keine Möglichkeit, die Aussage zu verweigern, da Art. 335 CPP nur die Vereidigung, nicht aber die uneidliche Aussage naher Angehöriger verbietet. Die englische Regelung in s. 80 PACE ist durch das adversary system geprägt und kennt nur ein relatives Privileg für Ehegatten, nicht jedoch für Blutsverwandte. Diese Länder bieten sich als traditionelle ‚westliche‘ Rechtsordnungen für einen Vergleich an: Sie haben eine gemeinsame Geschichte, haben sich gegenseitig beeinflusst und stehen heute vor vergleichbaren sozialen Fragen.14 Die Auswahl der Länderrechte für den Rechtsvergleich erfolgte aufgrund des 11
BGHSt 58, 84, 93 ff. BGHSt 58, 84 ff.; Swoboda StV 2013, 461, S. 461; Rogall JZ 2013, 874, S. 874. 13 Im Folgenden sollen die Begriffe ‚England‘ bzw. ‚englisch‘ der Einfachheit halber ebenso Wales erfassen. 14 Eser, in: Freund/Frisch (Hrsg.), Grundlagen und Dogmatik: FS Wolfgang Frisch, 2013, S. 1465. 12
4
A. Einleitung
Stellenwertes, den die Länder im europäischen Kontext haben. Das deutsche Strafprozessrecht entspricht in der Frage der Angehörigenprivilegierung im Wesentlichen dem österreichischen, dem italienischen, dem niederländischen und dem spanischen Recht.15 Das französische Recht ähnelt den Rechtsordnungen Belgiens und Luxembourgs.16 Kurz vor Abschluss der Arbeit hat das britische Volk im Brexit-Referendum leider seinen Willen zum Austritt aus der Europäischen Union erklärt, sodass der Vergleich mit dem englischen Recht nun nicht mehr direkt für die Gedanken zum Europäischen Strafprozessrecht fruchtbar gemacht werden kann. Allerdings bleibt das Vereinigte Königreich (wohl) weiterhin Vertragsstaat der EMRK und kann – abhängig vom Ausgang der Brexit-Verhandlung und dem Status, den das Vereinigte Königreich dann haben wird – auch vom strafrechtlichen Europäisierungsprozess betroffen sein. Die englische Angehörigenprivilegierung ähnelt aber auch den Regelungen anderer Common Law-Staaten in der EU wie Irland.17 Die Aussagen zum englischen Recht lassen sich also auf diese andere Rechtsordnungen des Common Law übertragen. England ist und bleibt darüber hinaus, unabhängig von der EU-Mitgliedschaft, jedoch natürlich für die beiden anderen Zwecke der Rechtsvergleichung ungebrochen von Interesse: Als Common Law-Land zeigt sich dort, wie anders sich Recht entwickeln und wie ähnlich die Rechtspraxis trotzdem sein kann. Die englische Regelung kann zudem ganz einfach als Quelle der Inspiration für eine Kompromisslösung zwischen dem deutschen und französischen Modell gesehen werden.
III. Gang der Darstellung Die Arbeit ist in drei Teile untergliedert: die Darstellung der nationalen Rechtsordnungen in Bezug auf Aussageprivilegierungen und die Fallstudie des Beinahetreffers, den Rechtsvergleich und schließlich die Zusammenführung der Ergebnisse auf der Metaebene des Europäischen Strafrechts. Der erste Teil zu den nationalen Rechtsordnungen beginnt mit dem deutschen Recht, woran sich die Darstellungen des französischen und englischen Rechts anschließen. Hier wird das geltende Recht der Aussageprivilegien beschrieben und dessen Ursprünge analysiert. Dienen diese Regeln eher dem Schutz der Zeugen, der Wahrheitsfindung oder der Familiensphäre? Was folgt aus einem Verstoß gegen die Regeln? Und schließlich: Was ist die Ursache für 15
§ 157 Abs. 1 Nr. 1 österreichische StPO; Art. 199 italienischer Codice di Procedura Penale; s. 217 niederländisches Wetboek van Strafvordering; Art. 416 Nr. 1 spanische Lex de Enjuiciamiento Criminal. 16 S. Art. 156 belgischer Code d’Instruction Criminelle und Art. 69 ff. luxemburgischer Code d’Instruction Criminelle. 17 Part IV des irischen Criminal Evidence Act 1992.
III. Gang der Darstellung
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die Entwicklung so unterschiedlicher Systeme? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, werde ich die historischen Ursprünge, den Zweck der Regelungen, Reformdiskussionen und schließlich das Fallbeispiel des Beinahetreffers untersuchen. An den Teil zu den nationalen Rechten schließt sich die Rechtsvergleichung als Hauptteil der Arbeit an. Hierbei werden bestimmte Facetten wie der persönliche und sachliche Schutzbereich, die praktische Relevanz und die ratio der nationalen Regelungen nebeneinander gestellt. Dies wird von einem wertenden Vergleich abgerundet. Schließlich wendet sich die Arbeit in Form eines Ausblicks der europäischen Ebene mit drei Kooperationsmechanismen des europäischen Beweisrechts zu. Auf Grundlage der Ergebnisse der Rechtsvergleichung und der Analyse der europäischen Kooperationsmechanismen wird schließlich versucht, die Forschungsfrage zu beantworten, inwiefern eine Europäisierung des strafrechtlichen Beweisrechts auf Grundlage der reconnaissance mutuelle vor dem Hintergrund des Schutzes naher Angehöriger tatsächlich möglich ist.
B. Deutschland – Subjektive Verweigerungsrechte Bevor das deutsche Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 52 StPO rechtsvergleichend betrachtet und beurteilt werden kann, müssen in einem ersten Schritt die geltende Rechtslage (I.), deren historische Entwicklung (II.), die ratio der Norm (III.), und schließlich geäußerte Kritik an der geltenden Rechtslage (IV.) dargestellt werden. Als Fallstudie wird abschließend das Problem des Beinahetreffers behandelt (V.).
I. Geltende Rechtslage Nahe Angehörige werden in Deutschland in sämtlichen Ermittlungsphasen und bei einer Fülle von Ermittlungsmethoden privilegiert. Die Grundnorm dieser Privilegierungen ist das Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 52 StPO, auf das die flankierenden Normen aufbauen. 1. Zeugnispflicht Die Tragweite des Zeugnisverweigerungsrechts kann nur richtig verstanden werden, wenn klar ist, von welchen Pflichten § 52 StPO befreit und von welchen Pflichten der Zeuge gerade nicht suspendiert wird. Es besteht eine allgemeine Pflicht gem. § 48 Abs. 1 S. 1 StPO vor Gericht, gem. § 161a Abs. 1 S. 1 StPO auch vor der Staatsanwaltschaft und seit 2017 auch vor deren Ermittlungspersonen zu erscheinen. §§ 48 Abs. 1 S. 2, 161a Abs. 1 S. 1 und 163 Abs. 3 S. 1 StPO verpflichten jeden Zeugen, wahrheitsgemäß und vollständig vor diesen Personen auszusagen.1 Die Zeugenaussage umfasst zum einen die Angaben zur Person gem. § 69 StPO und zum anderen die Angaben zur Sa1
BVerfG NJW 1979, 32; KK-StPO-Senge, § 48, Rn. 1; 2. § 48 StPO wurde im Jahr 2009 neu gefasst und enthält aufgrund des Vorbehalt des Gesetzes (zu Art. 2 Abs. 1 GG s. BVerfGE 6, 32) erst seitdem in Abs. 1 eine allgemeine kodifizierte Erscheinens- und Zeugnispflicht. S. OpferrechtsreformG vom 29.7.2009 – BGBl. I S. 2280. Aber auch schon vor dem Opferrechtsreformgesetz war es einhellige Meinung, dass eine Zeugnispflicht als allgemeine staatsbürgerliche Pflicht bestand, s. schon Hahn, Materialien Bd. III Tbd. 1, 1897, S. 99; LR-StPO-Ignor/Bertheau, Vor § 48, Rn. 16. Die Aussagepflicht bei der Polizei wurde erst durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.08.2017 eingeführt.
I. Geltende Rechtslage
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che gem. § 70 StPO. Die Angaben zur Person stellen kein ‚Zeugnis‘ im Sinne des § 52 StPO dar, sodass jeder seine Personalien zu Protokoll geben muss.2 Dies beruht nicht zuletzt auf der Erwägung, dass nur anhand der Angaben des Zeugen zu seiner Person überhaupt bestimmt werden kann, ob dem Zeugen ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht. 2. Zeugnisverweigerungsrecht – § 52 StPO Die Dogmatik des Zeugnisverweigerungsrechts ist mit der Zeit bis ins kleinste Detail von Literatur und Rechtsprechung ausgearbeitet worden. a) Persönlicher Schutzbereich § 52 StPO gewährt Angehörigen des Beschuldigten das Recht, in einer Vernehmungssituation zur Sache zu schweigen. Die Regelung ist bei Vernehmungen vor Gericht, bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft anwendbar.3 Zur Zeugnisverweigerung berechtigt § 52 Abs. 1 StPO Verlobte und nach § 1 Abs. 3 S. 2 LPartG gleichgestellte Personen bis zur Auflösung dieses Verhältnisses, wobei die Rechtswirksamkeit des Verhältnisses unter Umständen nicht relevant ist,4 Ehegatten und Lebenspartner (auch nach Scheidung der Ehe oder Lebenspartnerschaft), Verwandte in gerader Linie und in der Seitenlinie bis zum dritten Grad (§ 1589 Abs. 1 BGB), wobei auch Adoptivkinder und -eltern einbezogen sind, und schließlich Verschwägerte in gerader Linie und in Seitenlinie bis zum zweiten Grade auch nach Auflösung des verbindenden Rechtsverhältnisses.5 Weil der Gesetzgeber diejenigen, die wegen eines persönlichen Näheverhältnisses zur Zeugnisverweigerung berechtigt sein sollen, in § 52 StPO einzeln aufzählt (sog. Enumerationsprinzip), soll eine analoge Anwendung der Norm auf andere Personen ausgeschlossen sein. Es fehle bereits an einer planwidrigen Regelungslücke.6 2
MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 3. S. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163 Abs. 3 StPO; SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 13. Das Zeugnisverweigerungsrecht findet auch im Ordnungswidrigkeitsverfahren (§ 46 Abs. 1 OWiG), Steuerstrafverfahren (§ 399 AO), Verfahren vor dem BVerfG (§ 13 Nr. 1, 2, 4 und 9 BVerfGG), Verfahren des Untersuchungsausschusses (§ 22 PUAG) und in Disziplinarverfahren (§ 25 BDG) Anwendung. 4 Zum Beispiel löst auch ein zivilrechtlich unwirksames Verlöbnis, bei dem zumindest ein Teil noch minderjährig ist, ein Zeugnisverweigerungsrecht aus, s. RGSt 38, 242. Hingegen löst ein Verlöbnis, das gem. § 138 BGB nichtig ist, da bereits ein anderes rechtlich wirksames Verlöbnis oder eine Ehe besteht, diese Rechtsfolge nicht aus, s. RGSt 71, 152, 154; BGH NStZ 1983, 564 m. Anm. Pelchen. 5 S. § 1590 BGB. 6 So sind Pflegekinder und -eltern nicht erfasst, MüoK-StPO-Percic, § 52, Rn. 16; LRStPO-Ignor/Bertheau, § 52, Rn. 15; a.A. Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 2019; Zur restriktiven Auslegung: BVerfG NStZ 1999, 255 m. Anm. Wollweber NStZ 1999, 628; 3
8
B. Deutschland – Subjektive Zeugnisverweigerungsrechte
Der Verwandte des Zeugen muss Beschuldigter in einem Strafverfahren sein. Die Privilegierung besteht auch hinsichtlich Mitbeschuldigten, sofern der beschuldigte Verwandte selbst nicht bereits verstorben, rechtskräftig verurteilt, oder freigesprochen ist. Eindeutig besteht das Zeugnisverweigerungsrecht, wenn Angehöriger und Mitangeklagter wegen derselben Tat angeklagt sind.7 Umstrittener ist die Rechtslage indes, wenn das Verfahren gegen denjenigen Beschuldigten, mit dem der Zeuge in einem Verwandtschaftsverhältnis steht, eingestellt wurde. Neuerdings hat der BGH klargestellt, dass er § 52 StPO bei der Aussage gegen den weiterhin verfolgten Mitangeklagten für unanwendbar hält, wenn das Verfahren gegen den Verwandten des Zeugen nach §§ 154 Abs. 1 oder 2 StPO eingestellt wurde, weil ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gegen den Verwandten praktisch ausgeschlossen sei.8 Ob dies auch für eine Einstellung nach § 153a StPO gilt, ist umstritten.9 Tabelle 1: Verwandtschaftsgrade 1. Grades Großeltern
2. Grades
Eltern
3. Grades
Onkel/Tante
Angeklagter
Bruder/Schwester
Kind
Enkel
Nichte/Neffe
b) Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts Das Zeugnisverweigerungsrecht muss durch den Berechtigten persönlich oder durch seinen anwaltlichen Beistand ausgeübt werden.10 Das Gericht darf nicht nach Gründen der Verweigerung fragen oder Erläuterungen des Zeugen hierzu verwerten.11
HK-StPO-Gercke, § 52, Rn. 10; Pfeiffer-StPO-Pfeiffer, § 52, Rn. 1; MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 16; wobei dies in der Literatur oft kritisiert wird, s. S. 81. 7 KK-StPO-Senge, § 52, Rn. 6. 8 BGH NJW 2009, 2548. 9 Für ein Erlöschen: Radtke/Hohmann-StPO-Otte, § 52, Rn. 13; a.A. Satzger, in: Dölling (Hrsg.), FS Schöch, 2010, S. 924. 10 BGH StV 2008, 57, 58; KMR-StPO-Neubeck, § 52, Rn. 15; Meyer-Goßner/Schmitt, § 52, Rn. 14; MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 23. 11 BGHSt 6, 279 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, § 52, Rn. 26; KMR-StPO-Neubeck, § 52, Rn. 17; Peters, Strafprozess, 41985, S. 350.
I. Geltende Rechtslage
9
c) Wirkung des Zeugnisverweigerungsrechts Die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts entbindet den Zeugen grundsätzlich nicht von seiner Pflicht, vor Gericht zu erscheinen.12 Diese Pflicht entfällt nur bei vorheriger, eindeutiger Verweigerung. In diesem Fall darf der Zeuge gar nicht mehr geladen werden.13 Der Zeuge kann entweder – mit Ausnahme der Angaben zur Person gem. § 68 StPO – die gesamte Aussage verweigern, oder sich nur bezüglich bestimmter Fragen oder Themen auf sein Zeugnisverweigerungsrecht berufen. Bei einer solchen sog. Teilverweigerung muss jedoch der Bereich, für den sich der Zeuge auf § 52 StPO beruft, explizit kenntlich gemacht werden. Beim bloßen Verschweigen bestimmter Tatsachen ohne diesen expliziten Verweis auf die Zeugnisverweigerung droht eine Strafbarkeit gem. §§ 153 ff. StGB.14 Die Zeugnisverweigerung entzieht den Zeugen der Beweiswürdigung. Er darf nicht mehr befragt werden, es sei denn, sein Wille doch aussagen zu wollen, hat sich erkennbar manifestiert.15 Zum Schutz der Entschließungsfreiheit des Zeugen dürfen aus der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts keine negativen Schlüsse für den Beschuldigten gezogen werden.16 Dies wurde allerdings bis 1968 von der obersten Rechtsprechung noch anders beurteilt.17 Positive Schlüsse sind jedoch erlaubt.18 Die Dogmatik zur Verwertbarkeit von Teilaussagen bzw. Teilverweigerungen ist kleinteilig und unübersichtlich.19 12
Gem. § 48 Abs. 1 S. 1 StPO; SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 14. RGSt 38, 256, 257; BGH NStZ 2001, 48; MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 3. 14 BGHSt 7, 127; LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 52, Rn. 22. 15 LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 52, Rn. 38; KK-StPO-Senge, § 52, Rn. 43. Str. ist, ob nach Ausübung von § 52 StPO noch der obj. Personenbeweis möglich ist, für den die Person nur als Augenscheinsobjekt herangezogen wird. Die h.M. bejaht dies für Vernehmungsgegenüberstellung, Identifizierungsfeststellung und Augenscheineinnahme, wenn nur die Person und nicht deren Verhalten, das auf Wissens- oder Willensbekundungen Aufschluss geben kann, in die Beweiswürdigung einbezogen werde, vgl. OLG München StRR 2009, 388; Alsberg/Dallmeyer/Nüse, Beweisantrag, 62013, Rn. 848; KMR-StPONeubeck, § 52, Rn. 38; krit. SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 58. 16 BGHSt 32, 140, 141 f.; LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 52, Rn. 40. 17 Frühere Rspr.: BGHSt 2, 351; 6, 279, 280; Änderung mit BGHSt 22, 113. 18 BGHR StPO § 52 Abs. 1 Nr. 2 – Verweigerung 1. 19 Anfängliches Schweigen, bei dem zu einem späteren Zeitpunkt im Prozess auf § 52 StPO verzichtet wird, oder nachträgliches Schweigen, bei dem der Verzicht auf das Verweigerungsrecht zu einem späteren Zeitpunkt widerrufen wird (§ 52 Abs. 3 S. 2 StPO), sind möglich und dürfen dem Beschuldigten nicht zu Lasten gelegt werden. Zum anfänglichen Schweigen: BGH NJW 1980, 794; BGH StV 1987, 188; BGH StV 1993, 61; BGH NStZ 2003, 443, 444; BGH NStZ 2010, 101, 102; LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 52, Rn. 41; KK-StPO-Senge, § 52, Rn. 45; Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 1228; Zum nachträglichen Schweigen: BGH StV 1991, 450 f.; BGH NStZ 2, 546; LR-StPO-Ignor/ Bertheau, § 52, Rn. 41; Friedrichs, Verwertungsverbote, 1995, S. 104; anders BGH NStZ 1992, 347, allerdings in Bezug auf positive Schlüsse für den Angeklagten. 13
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d) Belehrung Gem. § 52 Abs. 3 S. 1 StPO ist die zeugnisverweigerungsberechtigte Person durch die Strafverfolgungsorgane vor ihrer förmlichen Vernehmung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht zu belehren.20 Diese Belehrung muss dem Zeugen klarmachen, dass es ihm freisteht, das Zeugnis zu verweigern,21 selbst wenn der Zeuge die eindeutige Bereitschaft zeigt, an der Strafverfolgung mitwirken zu wollen.22 § 52 Abs. 3 S. 1 StPO ordnet explizit an, dass vor jeder Vernehmung, d.h. auch bei wiederholter Vernehmung, eine Belehrung erfolgen muss. Dies dient der Versicherung des Zeugen, dass er an seine frühere Entscheidung nicht gebunden ist.23 Falls sich das Bestehen des Ange-
Die Berufung auf § 52 StPO ist jedoch nur bis zum Ende der Vernehmung möglich, s. SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 62. Der Inhalt der Aussage bis zum Zeitpunkt des Widerrufs des Verzichts auf § 52 StPO kann nach h.M. jedoch verwertet werden, da anders als in den Fällen des § 252 StPO sich innerhalb einer Vernehmung die äußeren Umstände nicht so ändern, dass dem Zeugen die Tragweite seiner Aussage zuvor noch nicht hinreichend klar gewesen wäre. S. BGHSt 49, 72, 81 f.; ebd., Rn. 64; Meyer-Goßner/Schmitt, § 52, Rn. 22; KK-StPO-Senge, § 52, Rn. 42; Radtke/Hohmann-StPO-Otte, § 52, Rn. 22; KMR-StPONeubeck, § 52, Rn. 29; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 282014, S. 204; a.A. LRStPO-Ignor/Bertheau, § 52, Rn. 35. Die h.M. behandelt auch den Fall, dass die Aussage komplett verweigert, eine körperliche Untersuchung aber zugelassen wird, als Teilschweigen. Hier sind Rückschlüsse auf die Schuld des Beschuldigten wiederum wohl zulässig, s. BGHSt 32, 140, 142 f.; Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 1229; BGH JR 1981, 432 ff. m. Anm. Hanack; Friedrichs, Verwertungsverbote, 1995, S. 134; kritisch dazu LR-StPOIgnor/Bertheau, § 52, Rn. 42; SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 59; Ebenso wurde in der umgekehrten Situation der Untersuchungsverweigerung bei Aussagebereitschaft entschieden, s. BGHSt 32, 140 = NStZ 1984, 377 m. Anm. Volk. Diese Rspr. fügt sich jedoch nicht in die sonstige Linie des BGH ein, nach der frühere Entscheidungen für oder wider einer Kooperation im Verfahren gegen einen Angehörigen gerade keine Bindungswirkung haben dürfen, wenn sich seitdem die prozessuale Situation für den Zeugen stark verändert hat. S. hierzu z.B. Degener StV 2006, 509, S. 511. Ein Teilschweigen in diesem Sinne liegt nach der Rspr. jedoch nicht vor, wenn der Zeuge sich nur zu nicht tatrelevanten Fragen äußert, zur Tatbestandsverwirklichung aber keine Angaben macht, da es sich hier um einen reinen Teilverzicht handle. S. BGH JR 1981, 432 m. Anm. Hanack; KK-StPO-Senge, § 52, Rn. 45; SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 61. 20 SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 67. 21 Der Zeuge muss also so über sein Zeugnisverweigerungsrecht aufgeklärt werden, dass er versteht, dass ihm dieses Recht zusteht, s. BGHSt 9, 195, 197; 32, 25, 32; LRStPO-Ignor/Bertheau, § 52, Rn. 48; KK-StPO-Senge, § 52, Rn. 33; Meyer-Goßner/Schmitt, § 52, Rn. 26; Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 1230; Fezer/Wohlers, Strafprozessrecht, 2 1995, Rn. 15; a.A. SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 66, der allein die Information, nicht auch das Verständnis des Zeugen als Zweck ansieht. 22 SK-StPO-Rogall, § 55, Rn. 69. 23 MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 40; SK-StPO-Rogall, § 55, Rn. 69. Sie ist ins Ermessen der Vernehmungsperson gestellt, sofern der Belehrungszweck erreicht wird, RGSt 25, 262 ff.; LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 52, Rn. 52; a.A. Meyer-Goßner/Schmitt, § 52, Rn. 31,
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hörigenverhältnisses erst während der Vernehmung herausstellt, muss die Belehrung umgehend als qualifizierte Belehrung nachgeholt werden, die klarstellt, dass der Zeuge ohne Folgen seine vorherige Aussage ändern oder zurücknehmen kann.24 Die Form der Belehrung ist gesetzlich nicht vorgeschrieben.25 Eine Beeinflussung des Zeugen für oder wider die Ausübung des Rechts muss unterbleiben.26 Die Belehrung und die entsprechende Erklärung des Zeugen müssen als wesentliche Förmlichkeiten protokolliert werden.27 Wird ein Zeuge nicht über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt oder vernommen, obwohl er sich auf sein Verweigerungsrecht berufen hatte, und beruht das Urteil auf dieser Aussage, so stellt dies einen Revisionsgrund dar.28 § 52 StPO bewirkt auch ein Umgehungsverbot, sodass eine Aussage, die ohne Belehrung über das Verweigerungsrecht zustande gekommen ist, nicht durch Urkundenbeweis oder Vernehmung einer Verhörsperson eingeführt werden darf.29 3. Auskunftsverweigerungsrecht – § 55 Abs. 1 Alt. 2 StPO Das Auskunftsverweigerungsrecht gibt dem Zeugen das Recht, Fragen nicht zu beantworten, die ihn oder seine Angehörigen in die Gefahr bringen, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit in Deutschland verfolgt zu werden. § 55 StPO gibt jedoch nicht das Recht, das gesamte Zeugnis zu verweigern.30 Wie § 52 StPO erlaubt auch § 55 StPO nicht, ein Beweisthema einfach zu verschweigen. Die Auskunftsverweigerung muss explizit erklärt werden.31 Der Unterschied zu § 52 StPO besteht darin, dass der Zeuge nicht innerhalb eines Verfahrens gegen seinen Angehörigen aussagen soll, sondern in einem Verfahren gegen eine andere Person. Somit ist irrelevant, ob der Beschuldigte des Verfahrens durch die gem. § 55 StPO verweigerte Auskunft be- oder entlastet würde.32 der nicht nur zur qualifizierten Belehrung rät, sondern eine Erklärung des Zeugen, er hätte die Aussage sonst auch gemacht, als Voraussetzung ansieht. 24 MüKo-StPO-Ellbogen, § 252, Rn. 5. 25 Die Belehrung erfolgt gewöhnlich mündlich. Str. ob eine rein schriftliche Belehrung ausreicht, s. MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 42; SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 71. 26 MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 43; SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 72. 27 Gem. §§ 273 Abs. 1 S. 1, 168a Abs. 1 S. 1 StPO, s. SK-StPO-Rogall, § 55, Rn. 73. 28 BGHSt 27, 139; LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 52, Rn. 59. 29 RGSt 20, 187; BGHSt 7, 195 f.; BGHSt 10, 77 f.; BGHSt 48, 297; BGHR StPO § 252 Verwertungsverbot 9; Schmidt, Lehrkommentar, 1957, 52; SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 86; LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 52, Rn. 54. 30 Es sei denn, jede wahrheitsgemäße Antwort birgt die Gefahr der Selbstbelastung. 31 BGHSt 7, 127; BVerfGE 38, 105, 113; SK-StPO-Rogall, § 55, Rn. 52. 32 RGSt 36, 114, 117; Geerds, in: Spendel (Hrsg.), Studien zur Strafrechtswissenschaft: FS für Ulrich Stock, 1966, S. 179; LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 55, Rn. 7; a.A. RGSt 40, 46, 48.
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Das Verweigerungsrecht besteht nur, wenn eine Verfolgung möglich ist. Dies ist anzunehmen, wenn durch die Aussage ein Anfangsverdacht gegen den Zeugen oder seine Angehörigen wegen einer verfolgbaren Staftat oder Ordnungswidrigkeit entstehen würde.33 Die Schwelle ist demnach recht niedrig angesetzt und überschritten, wenn nur eine von mehreren denkbaren Antworten belastend wirken würde.34 Die Glaubhaftmachung des Verweigerungsgrundes gem. § 56 StPO verlangt nur die eidliche Versicherung des Zeugen, dass seine Aussage ihn oder seinen Angehörigen der Gefahr einer Verfolgung aussetzen würde.35 Erkennt der Richter von sich aus eine Verfolgungsgefahr, so darf er die Vernehmung nicht ohne Belehrung über das Auskunftsverweigerungsrecht fortsetzen.36 Allerdings besteht, anders als bei § 52 StPO, keine generelle, sondern eine in das Ermessen des Vorsitzenden gestellte Belehrungspflicht. Ob die Belehrung vor der Aussage oder erst bei einem Verdacht erfolgt, ist offen.37 Das Auskunftsverweigerungsrecht kann bis zum Ende der Vernehmung ausgeübt werden, wobei das bis dahin Gesagte verwertbar bleibt. Auch eine frühere schriftliche Aussage bleibt verwertbar. Im Rahmen von § 251 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StPO ist die Verlesung von Vernehmungsniederschriften zulässig, es sei denn, es handelt sich um polizeiliche Protokolle und das Verweigerungsrecht wird in der Hauptverhandlung geltend gemacht.38 Eine Revision kann nicht auf die unterbliebene Belehrung über das Auskunftsverweigerungsrecht gestützt werden, da § 55 StPO den Angeklagten nach Ansicht des BGH nicht schützt.39 4. Eidesverweigerungsrecht – § 61 StPO § 61 StPO räumt den privilegierten Angehörigen das Recht ein, die Vereidigung zu verweigern, sofern sie nicht sowieso von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO Gebrauch gemacht haben. Über dieses Recht muss der Zeuge, steht eine Vereidigung im Raum, gesondert belehrt werden.40 Im Gegensatz zur Inanspruchnahme des Zeugnisverweigerungsrechts gestattet die Inanspruchnahme des Eidesverweigerungsrechts nach Ansicht des 2. 33
Meyer-Goßner/Schmitt, § 55, Rn. 7 und § 152, Rn. 4; BGH NJW 1999, 1413. MüKo-StPO-Maier, § 55, Rn. 16; KK-StPO-Senge, § 55, Rn. 4. 35 KK-StPO-Senge, § 56, Rn. 4. Kann eine künftige Strafverfolgung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, greift § 55 StPO, s. BGHSt 9, 34, 35. 36 BGH, Urteil vom 22.11.1956, 4 StR 424/56 (Jurion). 37 BGH JR 1968, 30 m. Anm. Koffka; HK-StPO-Gercke, § 55, Rn. 14. 38 BGHR StPO § 55 Abs. 1 Auskunftsverweigerung 8. 39 BGHSt 1, 39; 11, 213 – GSSt. 40 BGHSt 4, 217, 218; BGH NStZ 2008, 171. Das muss als wesentliche Förmlichkeit gem. §§ 273 Abs. 1, 168a Abs. 1 StPO protokolliert werden, s. MüKo-StPO-Maier, § 61, Rn. 10. 34
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Senats des BGH auch Schlüsse zu Ungunsten des Angeklagten.41 Eine unterlassene Belehrung kann gem. § 337 StPO von allen Prozessbeteiligten gerügt werden und ist Revisionsgrund, es sei denn, die Aussage wurde nur als uneidliche Aussage gewertet, der Zeuge hätte die Aussage auch bei richtiger Belehrung beeidigt, oder aus der Aussage wurden sicher keine negativen Schlüsse für den Angeklagten gezogen.42 5. Beschränkung des Fragerechts – § 68a StPO § 68a Abs. 1 StPO beschränkt die Möglichkeit in einer Zeugenvernehmung, Fragen zu stellen, falls deren Beantwortung dem Zeugen oder dessen Angehörigen zur Unehre gereichen könnten oder deren persönlichen Lebensbereich betreffen. In diesen Fällen sollen Fragen nur gestellt werden, wenn dies unerlässlich ist, d.h. wenn es für die Wahrheitserforschung unbedingt notwendig ist.43 Dies wird objektiv unter Berücksichtigung der Empfindungen der betroffenen Person ausgelegt.44 Der Zeuge kann einen Beschluss des Gerichts darüber erwirken, ob § 68a StPO eine bestimmte Frage verbietet.45 Abs. 2 legt es dem Richter wiederum auf, sich nach der Beziehung des Zeugen zum Beschuldigten, d.h. auch nach einer Verwandtschaft zu erkundigen, falls dies für die Glaubwürdigkeit des Zeugen relevant wäre. Eine Revision kann nicht auf die Verletzung der Soll-Vorschrift des § 68a StPO gestützt werden.46 Insgesamt ist die Bedeutung der Vorschrift auch deswegen gering, da schon das Fairnessgebot dem Richter einen möglichst schonenden Umgang mit dem Zeugen gebietet.47 Außerdem wird es gerade bei Sexualdelikten auf das Privat- und Intimleben des Zeugen ankommen. 6. Gutachtenverweigerungsrecht – § 76 Abs. 1 StPO Sachverständige, die gem. § 75 StPO eine Begutachtungspflicht trifft, können die Erstellung eines Gutachtens ablehnen, wenn ihnen ein Zeugnisverwei41
BGHR StPO § 63 Verletzung 2; KK-StPO-Senge, § 61, Rn. 4; a.A. MeyerGoßner/Schmitt, § 61, Rn. 1; KMR-StPO-Neubeck, § 61, Rn. 1; LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 61, Rn. 3. 42 BGH StV 2002, 465 m. Anm. Ahlbrecht; BGH NStZ 2008, 171. 43 BGHSt 21, 334, 360; KK-StPO-Senge, § 68a, Rn. 2. Tatsachen, die einer Person zur Unehre gereichen können, sind solche Umstände, die ihren guten Ruf gefährden können, s. BGHSt 13, 252, 254. Der persönliche Lebensbereich ist bei Fragen des Privat- oder Intimlebens betroffen, s. LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 68a, Rn. 5, sie nennen zum Beispiel „Familienleben, persönliche Eigenheiten und Neigungen ohne Außenwirkung, [den] Gesundheitszustand, die Intim- und Sexualsphäre sowie politische und religiöse Einstellungen“. 44 Meyer-Goßner/Schmitt, § 68a, Rn. 1; KK-StPO-Senge, § 68a, Rn. 1. 45 LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 68a, Rn. 11. 46 KK-StPO-Senge, § 68a, Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt, § 68a, Rn. 9. 47 LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 68a, Rn. 3.
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gerungsrecht zustünde.48 Der Gutachter muss gem. § 52 Abs. 3 S. 1 StPO über dieses Recht belehrt werden. 7. Untersuchungsverweigerungsrecht – § 81c Abs. 3 S. 1 StPO § 81c Abs. 1 StPO gestattet die körperliche Untersuchung Unverdächtiger. Dies erfasst die äußerliche Untersuchung des Körpers des Betroffenen und seiner Körperöffnungen49 nach Spuren der Tat bzw. Tatfolgen.50 Nach Abs. 2 sind auch Untersuchungen zur Feststellung der Abstammung und die Entnahme von Blutproben zulässig.51 Das Verweigerungsrecht des Abs. 3 S. 1 nimmt die von § 52 StPO Begünstigten von dieser Duldungspflicht aus. In seiner Wirkung läuft das Untersuchungsverweigerungsrecht parallel zum Zeugnisverweigerungsrecht, sodass dessen Ausübung ebenso wenig negative Rückschlüsse zulässt.52 Es besteht eine Belehrungspflicht des anordnenden Organs gegenüber den Angehörigen des Beschuldigten gem. §§ 81c Abs. 3 S. 2 H.S. 2, 52 Abs. 3 StPO,53 auch wenn bereits gem. § 52 Abs. 3 StPO belehrt oder sogar schon ausgesagt wurde.54 Eine fehlende oder mangelhafte Belehrung wird geheilt, wenn nach der nachgeholten Belehrung ausdrücklich die Zustimmung zur Untersuchung erteilt wird oder das Ergebnis nicht im Prozess verwendet wird.55 Eine erst nach der Untersuchung entstehende Verwandtschaft räumt nicht nachträglich noch das Recht zur Verweigerung ein.56 Der Verweigerungsberechtigte kann sowohl seine Untersuchungsverweigerung als auch seinen Verzicht auf die Untersuchungsverweigerung jederzeit widerrufen. Die bis dahin gesammelten Erkenntnisse bleiben aber verwertbar.57 Bei einer fehlerhaften oder unterbliebenen Belehrung kann der Angeklagte seine Revision auf diesen Verfahrensfehler stützen.58 48
KK-StPO-Senge, § 76, Rn. 1; LR-StPO-Krause, § 76, Rn. 1. KK-StPO-Senge, § 81c, Rn. 4. Alle zumutbaren Maßnahmen sind von der betroffenen Person gem. § 81c Abs. 4 StPO zu dulden, s. ebd., Rn. 6. 50 Sog. Spurengrundsatz, s. KK-StPO-Senge, § 81c, Rn. 2. 51 Sog. Aufklärungsgrundsatz, s. LR-StPO-Krause, § 81c, Rn. 24; Meyer-Goßner/ Schmitt, § 81c, Rn. 18; KK-StPO-Senge, § 81c, Rn. 5; Für Ordnungswidrigkeiten gilt die Einschränkung des § 46 Abs. 4 OwiG. 52 BGHR StPO § 244 Abs. 3 S. 1 Unzulässigkeit 5, 6. 53 BGHSt 20, 234 = NJW 1965, 1870. 54 BGH NStZ 96, 275 mit Anm. Dölling NStZ 97, 77; Fezer JuS 1978, 765, S. 766. 55 RGSt 29, 351, 353; BGHSt 13, 394, 399. 56 LR-StPO-Krause, § 81c, Rn. 36; KK-StPO-Senge, § 81c, Rn. 13; a.A. Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 1673. 57 BGHSt 12, 235, 242 – GSSt; Meyer-Goßner/Schmitt, § 81c, Rn. 25; a.A. Schmidt JR 1959, 369, S. 372; KK-StPO-Senge, § 81c, Rn. 8. 58 BGHSt 12, 235, 243; BGH StV 1996, 195; SK-StPO-Rogall, § 81c, Rn. 102; KKStPO-Senge, § 81c, Rn. 25; Meyer-Goßner/Schmitt, § 81c, Rn. 32. 49
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8. Ausnahme von der Editionspflicht – § 95 Abs. 2 S. 2 StPO § 95 Abs. 1 StPO ordnet eine Herausgabepflicht (sog. Editionspflicht) bezüglich genau zu bezeichnender beweglicher Sachen an, sofern diese als Beweismittel für eine Untersuchung von Bedeutung sein könnten und der Gewahrsamsinhaber explizit dazu aufgefordert wurde, die Sache auszuhändigen.59 Einer vorhergehenden fehlgeschlagenen Beschlagnahme bedarf es nicht.60 Es muss allerdings feststehen, dass sich der gesuchte Gegenstand im Gewahrsam der verpflichteten Person befindet.61 Aus Abs. 2 S. 2 ergibt sich, dass zeugnisverweigerungsberechtigte Personen zwar ebenfalls zur aktiven Mitwirkung an der Strafverfolgung verpflichtet sind, allerdings dürfen gegen sie keine Zwangsmittel gem. § 70 StPO zur Durchsetzung der Pflicht angewandt werden.62 Daher ist die Aufforderung, einen Gegenstand auszuhändigen, zulässig, sofern kein Beschlagnahmeverbot gem. § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO vorliegt.63 Leistet der Angehörige dem nicht Folge, so darf dies weder Ordnungsgeld noch -haft nach sich ziehen. Diese faktische Ausnahme von der Editionspflicht greift auch bei Gegenständen, die nicht dem Beschlagnahmeverbot des § 97 Abs. 1 S. 1 StPO unterfallen, und hat daher einen weitergehenden Schutzbereich.64 Eine Belehrung über die Unzulässigkeit von Zwangsmitteln im Falle der Weigerung, das Beweismittel herauszugeben, muss nach wohl h.M. entsprechend § 52 Abs. 3 StPO zusammen mit dem Herausgabeverlangen erfolgen.65 Eine Durchsetzung der Herausgabepflicht entgegen § 95 Abs. 2 S. 2 StPO führt zur Unverwertbarkeit des erlangten Beweismittels. Wird es trotzdem verwertet, kann dies die Revision begründen.66 9. Beschlagnahmeverbot – § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO Die Beschlagnahme von körperlichen Gegenständen gegen den Willen des Gewahrsamsinhabers, die als Beweismittel für die Untersuchung in Betracht kommen, wird durch § 94 Abs. 2 StPO geregelt.67 Für zeugnisverweigerungsberechtigte Personen ordnet § 97 Abs. 1 StPO allerdings unter gewissen Voraussetzungen ein Beschlagnahmeverbot an. Bei Angehörigen, denen das
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Meyer-Goßner/Schmitt, § 95, Rn. 1. HK-StPO-Gercke, § 95, Rn. 1. 61 Graf-StPO-Ritzert, § 95, Rn. Überblick. 62 LR-StPO-Menges, § 95, Rn. 15; Graf-StPO-Ritzert, § 95, Rn. 5. 63 OLG Celle NJW 63, 406; LR-StPO-Menges, § 95, Rn. 15. 64 KK-StPO-Greven, § 94, Rn. 5. 65 LR-StPO-Menges, § 95, Rn. 15; HK-StPO-Gercke, § 95, Rn. 6; AnwK-StPOLöffelmann, § 95, Rn. 2. 66 HK-StPO-Gercke, § 95, Rn. 11; LR-StPO-Menges, § 95, Rn. 33. 67 KK-StPO-Greven, § 94, Rn. 16. 60
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Recht aus § 52 StPO im Zeitpunkt der Beschlagnahme oder danach zusteht,68 darf gem. § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO deren schriftliche Korrespondenz mit ihnen und dem angehörigen Beschuldigten nicht beschlagnahmt werden. Hierdurch ergeben sich zweierlei Einschränkungen des Beschlagnahmeverbotes: Einerseits sind nur schriftliche Mitteilungen zwischen den beiden Parteien geschützt, d.h. Originale oder Kopien von Gedankenäußerungen, die Beschuldigter oder Berechtigter als Absender dem jeweils anderem zukommen ließen oder auch nur lassen wollten.69 Zeichnungen, Ton- und Bildträger stehen der schriftlichen Mitteilung analog § 11 Abs. 3 StGB gleich.70 Alle anderen Gegenstände, die den Beschuldigten ebenso belasten könnten, dürfen gegen den Willen des Angehörigen beschlagnahmt werden. Zudem gilt das Beschlagnahmeverbot gem. § 97 Abs. 2 S. 1 StPO nur dann, wenn die Mitteilung sich im Gewahrsam des Zeugnisverweigerungsberechtigten befindet. Das Beschlagnahmeverbot soll die Umgehung des Zeugnisverweigerungsrechts durch die Ermittlungsbehörden verhindern,71 „denn was der Mund nicht zu offenbaren braucht, darf auch der Hand nicht entrissen werden.“72 Dieser begrenzte Anwendungsbereich des Beschlagnahmeverbotes wird kritisiert, da Aufzeichnungen des Angehörigen für sich selbst oder Dritte durch § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO nicht geschützt sind.73 Ebenfalls ausgenommen ist Korrespondenz, die sich im Gewahrsam des Beschuldigten befindet, obwohl allein vom Zufall abhängen kann, wer im Zeitpunkt der Beschlagnahme gerade Gewahrsam an einem Schriftwechsel hat.74 Das Beschlagnahmeverbot gilt gem. § 97 Abs. 2 S. 3 StPO nicht, wenn gegen den Zeugnisverweigerungsberechtigten selbst ein Anfangsverdacht wegen einer Teilnahme oder einer Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei an der untersuchten Tat im prozessualen Sinne vorliegt.75 Dies soll den Missbrauch der Beschlagnahmeverbote durch Beschuldigte unterbinden.76 Auf das Beschlagnahmeverbot kann auch verzichtet werden, sodass eine einverständliche Sicherstellung gem. § 94 Abs. 1 StPO durch die Ermitt68
KK-StPO-Greven, § 97, Rn. 43. LR-StPO-Menges, § 97, Rn. 66. 70 KK-StPO-Greven, § 97, Rn. 11; Vgl. BVerfG NJW 2002, 1410. 71 LR-StPO-Menges, § 95, Rn. 2; HK-StPO-Gercke, § 97, Rn. 1; KK-StPO-Greven, § 97, Rn. 1; Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 2342; Graf-StPO-Ritzert, § 95, Rn. 2; Welp, in: Schulz/Vormbaum (Hrsg.), FS Bemmann: zum 70. Geburtstag am 15. Dezember 1997, 1997, S. 644. 72 Dünnebier, in: Caemmerer (Hrsg.), Caemmerer 1966: Verhandlungen der Fachgruppe Strafrechtsvergleichung anläßlich der Tagung für Rechtsvergleichung in Kiel vom 8. bis 11. September 1965, 1966, S. 44 in Bezug auf das Zeugnisverweigerungsrecht der Presse. 73 Z.B. Tagebucheinträge, s. HK-StPO-Gercke, § 97, Rn. 4. 74 LR-StPO-Menges, § 97, Rn. 3; Zur Kritik in der Literatur ausführlich S. 96. 75 Graf-StPO-Ritzert, § 95, Rn. 20; HK-StPO-Gercke, § 97, Rn. 10. 76 LR-StPO-Menges, § 97, Rn. 36; Fezer/Wohlers, Strafprozessrecht, 21995, Rn. 7. 69
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lungsbehörden unabhängig von der Zeugnisbereitschaft möglich ist.77 Der Verzicht auf die Beschlagnahmefreiheit setzt voraus, dass die berechtigte Person tatsächlich von ihrem Recht weiß. Daher wird von der h.M. in diesem Fall eine Belehrungspflicht gem. § 52 Abs. 3 StPO analog angenommen.78 Beim Unterlassen der Belehrung wird das Beweismittel unverwertbar, was durch eine nachträgliche Zustimmung geheilt werden kann.79 Der Verzicht kann wie der Verzicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht jeder Zeit widerrufen werden.80 Ist die schriftliche Korrespondenz zu diesem Zeitpunkt schon in die Hauptverhandlung eingeführt worden, so bleibt sie verwertbar. In allen anderen Fällen ist sie dem Zeugnisverweigerungsberechtigten sofort auszuhändigen.81 § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO statuiert zugleich ein Beweisverwertungsverbot.82 Wird demnach eine Sache rechtswidrig beschlagahmt, kann sie in das spätere Verfahren nicht als Beweis eingebracht werden. Die Verletzung des § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO begründet die Revision, wenn das Urteil auf dem Fehler beruht.83 10. Akustische Wohnraumüberwachung – § 100c Abs. 6 S. 2 StPO § 100c StPO regelt die akustische Wohnraumüberwachung (sog. ‚großer Lauschangriff‘84). Eine Einschränkung der akustischen Wohnraumüberwachung stellt neben der Kernbereichsausnahme in Abs. 4 und 5 das Beweisverwertungsverbot nach Abs. 6 dar. Hiernach dürfen Gespräche des Beschuldigten mit zeugnisverweigerungsberechtigten Personen im Sinne von § 52 StPO zwar überwacht werden; die spätere Verwertung steht jedoch unter dem Vorbehalt einer Einzelfallabwägung. Erkenntnisse dürfen nur verwertet werden, wenn die Bedeutung der gewonnen Erkenntnis für das Ermittlungsziel nicht außer Verhältnis zum zugrunde liegenden Vertrauensverhältnis steht.85 Satz 3 macht hiervon jedoch wie § 97 Abs. 2 S. 3 StPO eine Rückausnahme 77
BGHSt 18, 227, 230; KK-StPO-Greven, § 97, Rn. 3. BGHSt 18, 230 f.; OLG Celle, Beschuss vom 14.3.1989 – 1 Ss 41/89 mit Anm. Wohlers NStZ 1990 245, 246; Meyer-Goßner/Schmitt, § 97, Rn. 6; Herdegen GA 1963, 141, S. 144; HK-StPO-Gercke, § 97, Rn. 70. 79 HK-StPO-Gercke, § 97, Rn. 70; SK-StPO-Wohlers, § 97, S. 34. 80 KK-StPO-Greven, § 97, Rn. 3. 81 LR-StPO-Menges, § 97, Rn. 64; Zum verspäteten Widerruf: Pfeiffer/Miebach NStZ 1985, 13, S. 13. 82 LR-StPO-Menges, § 97, Rn. 4. 83 LR-StPO-Menges, § 97, Rn. 151. 84 Ursprüngliche Wortschöpfung in Barks/Fuchs, in: Barks/Fuchs (Hrsg.), Donald Duck 9, 2014, S. 100. 85 § 100c Abs. 6 S. 2 StPO. Bei der Telefonüberwachung nach §§ 100a, 100b StPO fehlt es an einer Parallelvorschrift zu § 100c Abs. 6 S. 2 StPO. Telefongespräche zwischen Angehörigen, die nach § 100a StPO abgehört werden, sind daher ohne weitere Einschränkung verwertbar. 78
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bei einem Verdacht gegen den Verwandten.86 Da der Lauschangriff keinem absoluten Verbot bei Angehörigenbeteiligung, sondern einer Abwägung unterliegt, ist der Angehörigenschutz hier deutlich schwächer ausgestaltet als bei § 52 StPO. Was als Maßstab für die Verhältnismäßigkeit herangezogen werden kann, ist nicht endgültig geklärt.87 Das BVerfG88 scheint eine Auslegung zu präferieren, die sich an den Grundsätzen von BGHSt 42, 139 orientiert, wonach ein Gesprächsinhalt verwertet werden darf, wenn es „um die Aufklärung einer Straftat von erheblicher Bedeutung geht und die Erforschung des Sachverhalts unter Einsatz anderer Ermittlungsmethoden erheblich weniger erfolgsversprechend oder wesentlich erschwert gewesen wäre“.89 Das Modell eines relativen Schutzes wird vielfach kritisiert, weil es den Angehörigenschutz aushöhle. Denn das einmal Gehörte könne nicht einfach wieder vergessen werden, und so bestehe die Gefahr, dass solche Informationen trotz eines Verwertungsverbotes den Gang des Prozesses beeinflussen.90 Das Bundesjustizministerium verteidigte die Regelung jedoch damit, dass Grund der Privilegierung die „mögliche Zwangslage des Zeugen“ sei, die, anders als beim absolut geschützten Vertrauensverhältnis der beruflichen Zeugnisverweigerungsrechte gem. § 53 StPO, je nach Situation variieren könne. So sei eine Angemessenheitsprüfung ein sinnvolles Instrument, um sowohl das private Interesse des Zeugen als auch das Allgemeininteresse an einer funktionierenden Strafverfolgung zu berücksichtigen.91 Diese Argumentation des Bundesjustizministeriums ließe sich allerdings auf alle anderen Fälle der Angehörigenprivilegierung übertragen. Ein wichtiger Unterschied besteht aber darin, da es sich beim ‚Lauschangriff‘ um eine heimliche Ermittlungsmaßnahme handelt, von der der Angehörige zum Zeitpunkt der Durchführung nichts weiß und darum auch nicht in einen Gewissenskonflikt kommen kann. 11. Verlesungs- und Umgehungsverbot – § 252 StPO § 252 StPO stellt die Weiterführung der Angehörigenprivilegierung in der Hauptverhandlung dar. 86
TKÜNReglG vom 21.12.2007, BGBl. I, S. 3198. So gibt es auch keine weitere Erläuterung bspw. bei Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 2537. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der „Zwangslage“ vom Ministerium eher unglücklich gewählt, wenn er sich auf die Situation des Gesprächs, das abgehört wird, bezieht. Zu diesem Zeitpunkt besteht noch keine Zwangslage, da sich die betroffenen Personen schließlich in Unkenntnis, abgehört zu werden, frei unterhalten. Eine solche kann erst im Nachhinein, bei Kenntnisnahme der Überwachung entstehen. 88 BVerfGE 109, 279, 317 ff. 89 KK-StPO-Bruns, § 100c, Rn. 35. 90 Abweichende Meinung der Richter Jaeger und Hohmann in BVerfGE 109, 279, 386. 91 Stellungnahme des Bundeministeriums für Justiz in BVerfGE 109, 279, 299. 87
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a) Wirkung § 252 StPO untersagt die Verlesung des Protokolls einer früheren Vernehmung, wenn der Zeuge erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat. Dies gilt auch, wenn das Zeugnisverweigerungsrecht erst nach der vorherigen Vernehmung zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung entstanden ist.92 Dies soll dem verweigerungsberechtigten Zeugen die Entscheidung, ob er aussagen will, bis zur Hauptverhandlung offenhalten. Denn häufig wird ihm erst in der Hauptverhandlung durch die Konfrontation mit dem Angeklagten, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht die Tragweite seiner Aussage klar.93 Gäbe es § 252 StPO nicht, so wäre der Zeuge bei einem ursprünglichen Verzicht auf das Verweigerungsrecht faktisch daran gebunden, sodass ein späteres Schweigen sinnlos wäre.94 Deswegen begründet § 252 StPO nicht nur ein Verlesungs-, sondern über den Wortlaut hinaus auch ein Verwertungsverbot, das die Vernehmung nichtrichterlicher Verhörspersonen über die vorherige Aussage95 und die Verwertung aller Schrift- oder Beweisstücke, die im Zuge der Aussage entstanden sind,96 ausschließt. Aus dem Schutzzweck des § 252 StPO lässt sich jedoch auch herleiten, dass ein Einverständnis des Zeugen mit der Verwertung seiner früheren Aussagen unter Berücksichtigung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes möglich ist.97 Somit kann ein Zeuge die Aussage in der Hauptverhandlung gem. § 52 StPO verweigern, eine Verwertung seiner früheren nichtrichterlichen Aussage aber gestatten.98 b) Ausnahme bei ermittlungsrichterlicher Vernehmung Die richterliche Vernehmung vor der Hauptverhandlung ist nach ständiger Rechtsprechung vom Verwertungsverbot des § 252 StPO ausgenommen, wenn der Vernehmung eine korrekte Belehrung über das Zeugnisver-
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BGHSt 22, 219; 27, 231. Degener StV 2006, 509, S. 511; Schmidt, Lehrkommentar Bd. I, 21964, 455; Habscheid, in: Conrad (Hrsg.), GS Peters, 1967, S. 869. 94 BGHSt 10, 77; Habscheid, in: Conrad (Hrsg.), GS Peters, 1967, S. 869. 95 BGHSt 2, 99; 11, 338, 339; 13, 394, 395; 20, 384; KK-StPO-Diemer, § 252, Rn. 1 Der BGH hat daher im Sinne der ratio des § 252 auch schon den Verteidiger als Verhörsperson angesehen, s. BGH NJW 2000, 1277. Nicht erfasst sind daher z.B. Sachverständige bei Befundtatsachen (BGHSt 18, 107, 108) und Äußerungen, die spontan und freiwillig außerhalb einer Vernehmung gemacht wurden (BGHSt 1, 373, 374), außer wenn die Vernehmungssituation gezielt umgangen wird (BVerfG NJW 2010, 287). 96 BGH StV 1996, 196; BGH StV 1998, 470; NStZ-RR 1998, 367. 97 BGHSt 45, 203; BGH NJW 2008, 1010; Wollweber NJW 2000, 1702, S. 1702 f.; KKStPO-Diemer, § 252, Rn. 2. 98 BGH StV 2007, 22. 93
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weigerungsrecht gem. § 52 Abs. 3 StPO vorausgegangen ist.99 Dem Unmittelbarkeitsprinzip entsprechend wird die frühere Aussage durch eine Vernehmung des Ermittlungsrichters eingebracht, dem auch das ursprüngliche Protokoll vorgehalten werden kann.100 Diese Ausnahme wird mit einer generellen Verhältnismäßigkeitsabwägung von Zeugeninteressen und dem Allgemeininteresse an einer funktionierenden Strafrechtspflege begründet.101 Das Zeugeninteresse solle bei der richterlichen Vernehmung weniger als bei der polizeilichen oder richterlichen Vernehmung beeinträchtigt sein, da Richter in ihrer neutralen Rolle die Beachtung der Rechte des Zeugen mit höherer Wahrscheinlichkeit sicherstellten102 und das Gesetz generell richterlichen Vernehmungen ein höheres Vertrauen entgegenbringe.103 Diese Ausnahme von § 252 StPO wird jedoch auch stark kritisiert.104 Richter seien nicht allein wegen ihrer unabhängigen Stellung zu einer qualitativ hochwertigeren Vernehmung im Stande. Zwar wird Zeugen wohlmöglich die Relevanz ihrer Aussage deutlicher vor Augen geführt, wenn ein Richter und nicht ‚nur‘ ein Polizist die Vernehmung durchführt.105 Das Problem der Vorwegnahme der Entscheidung über das Zeugnisverweigerungsrecht bleibt jedoch bestehen. Da die Haupt99
BGHSt 2, 99; 11, 338; 13, 394; 17, 324; 21, 218; 26, 281; 27, 231; Diese Rspr. schließt sich nahtlos an die Rspr. des OGH für die britische Zone (OGHSt 1, 299) an, s. Degener StV 2006, 509, S. 510; krit. Schmidt, Lehrkommentar Bd. I, 21964, 455; Schmidt, Lehrkommentar, 1970, 252; Schmidt, Lehrkommentar, 1957, 52; Schmidt JR 1959, 369, S. 373; BGH. JZ 1957, 98 m. Anm. Schmidt; Grünwald JZ 1966, 489, S. 497; Hanack, in: Hamm (Hrsg.), FS Schmidt-Leichner, 1977, S. 91; Peters JR 1968, 429, S. 429; vgl. auch Eser NJW 1963, 234, S. 234. 100 BGHSt 11, 338; BGH StV 2001, 386. 101 BGHSt 2, 99, 106. 102 So Eisenbergs Erklärungsversuch, wenngleich er dieser Position selbst deutlich widerspricht, s. Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 1288. Die Kritik wurde vom 2. Senat des BGH aufgenommen, der sich mit Beschluss vom 04.06.2014 für eine Rechtsprechungsänderung aussprach. Richter müssten vor der Vernehmung den zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen darüber qualifiziert belehren, dass ihre Aussage später verwertet werden könnte. Die anderen Senate sahen dies anders, sodass der 2. Senat mit Beschluss vom 18.03.2015 die Frage gem. § 132 Abs. 3 S. 1 GVG an den großen Senat des BGH weiterleitete, s. BGH NStZ 2015, 710. 103 Dieses größere Vertrauen sieht der BGH außerdem in § 251 Abs. 1 und Abs. 2 StPO zum Ausdruck gebracht. S. BGHSt 21, 218, 219; 36, 385, 386. Die richterliche Vernehmung habe eine „besondere Qualität“, s. BGHSt 2, 99; 21, 218; Die besondere Qualität ergab sich früher daraus, dass allein der Ermittlungsrichter dazu verpflichtet war, über das Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts vor der Vernehmung zu belehren, s. hierzu auch OGHSt 1, 299, 302. Polizei und Staatsanwaltschaft wurden erst durch die Einführung von § 163a Abs. 5 StPO ebenfalls zur Belehrung verpflichtet. S. BGHSt 2, 99, 106; BGH, NStZ 2014, 596; kritisch hier Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 282014, Rn. 29. 104 Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 1287; Fezer/Wohlers, Strafprozessrecht, 21995, Rn. 15; Peters, Strafprozess, 41985, S. 321; Radtke/Hohmann-StPO-Paulus, § 252, Rn. 33. 105 So teils die Argumentation: BGHSt 49, 72, 77; KK-StPO-Diemer, § 252, Rn. 26.
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verhandlung für den Zeugen eine deutlich veränderte Situation gegenüber der richterlichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren darstellt, kann der Zeuge auch dann ein schutzwürdiges Interesse daran haben, noch in der Hauptverhandlung von seinem Recht aus § 52 StPO Gebrauch zu machen, wenn er zuvor richterlich vernommen wurde. Durch die Ausnahme richterlicher Vernehmungen von § 252 StPO wird ihm diese Möglichkeit allerdings genommen. Daher ist Eisenberg zuzustimmen, der in dieser Ausnahme eine „kriminalpolitische Zweckmäßigkeitsentscheidung“ erkennt.106 Der ratio des Zeugnisverweigerungsrechts wird diese Lösung nicht gerecht.107 c) Rechtsfolge Die Verletzung des § 252 StPO eröffnet die Möglichkeit einer Revision.108 12. Aussagedelikte, Aussagenotstand und Sanktionierung der unberechtigten Aussageverweigerung Um sich den Wert und die Bedeutung der hier geschilderten Privilegierungen richtig vor Auge zu führen, wird nun kurz auf die Sanktionen eingegangen, die bei unberechtigter Nichtmitwirkung an der Strafverfolgung oder gar bei Falschaussage drohen. a) Nichterscheinen Erscheint ein ordnungsgemäß geladener Zeuge nicht zur richterlichen, polizeilichen oder staatsanwaltlichen Vernehmung, so werden ihm gem. § 51 Abs. 1 StPO hierdurch verursachte Kosten, Ordnungsgeld bis zu 1.000 € und – falls dies nicht beigetrieben werden kann – Ordnungshaft von einem Tag bis zu 6 Wochen109 auferlegt, sofern das Ausbleiben nicht ausreichend entschuldigt ist. Der Zeuge kann auch zwangsweise vorgeführt werden. Ein Zeugnisverweigerungsrecht gilt nicht als Entschuldigung für das Fernbleiben, da hierdurch nur vom Zeugnis, nicht vom Erscheinen entbunden wird.110 Allerdings kann der Richter bei einer früheren Zeugnisverweigerung, die aufrechterhalten werden soll, auch von der Ladung absehen.111
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Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 1288. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 282014, Rn. 29. Zur ratio s. S. 45 ff. 108 KK-StPO-Diemer, § 252, Rn. 32. 109 Zum möglichen Rahmen der Ordnungsstrafen s. Art. 6 EGStGB. Über die Strafe entscheidet der Richter nach ordnungsgemäßem Ermessen, s. KK-StPO-Senge, § 51, Rn. 7. 110 KK-StPO-Senge, § 51, Rn. 12. 111 BGHSt 21, 12, 13. 107
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b) Unberechtigte Zeugnisverweigerung Eine unberechtigte Zeugnisverweigerung wird gem. § 70 Abs. 1 StPO kumulativ zu § 51 StPO mit der Auferlegung der Kosten, die durch die Weigerung entstanden sind, und mit der Verhängung von Ordnungsgeld bzw. Ordnungshaft bestraft.112 Diese Ordnungsmittel dienen der Sanktionierung. Abs. 2 sieht die Möglichkeit einer Beugehaft vor, die zur Erzwingung des Zeugnisses dienen soll. Die Beugehaft steht – anders als die Ordnungsmittel – im Ermessen des Gerichts.113 Sie darf nicht über den Zeitpunkt der Beendigung des Verfahrens hinaus aufrechterhalten werden; muss jedoch nicht von Beginn an für eine bestimmte Zeitspanne ausgesprochen werden, solange eine Höchstdauer festgelegt und sie beendet wird, wenn der Zeuge zur Aussage bereit ist.114 Eine Zeugniserzwingung ist beim Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts ausgeschlossen.115 Wird das Verweigerungsrecht vom Gericht nicht anerkannt, so kann der Zeuge hiergegen gem. § 304 StPO Beschwerde einlegen.116 c) Falschaussage Zwar werden Angehörige in Deutschland nie zur Aussage gezwungen, sodass sie eigentlich nicht als letzten Ausweg zu einer Falschaussage greifen müssen. Trotzdem kann die Situation entstehen, dass ein Angehöriger sowohl über ent- als auch belastende Tatsachen etwas weiß und zur Entlastung aussagen will. Da das Zeugnisverweigerungsrecht nur das Recht zur kompletten Verweigerung gibt und eine Auskunftsverweigerung gem. § 55 StPO auch zu Lasten des Beschuldigten gewertet werden darf,117 kann sich der Angehörige in dieser Situation doch zu einer Falschaussage hingerissen fühlen.118 Eine weitere Motivation für eine Falschaussage von Angehörigen kann auch dem Dilemma entspringen, das daraus resultiert, dass der Zeuge nicht weiß, dass sein vollständiges Schweigen bei Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts nicht zu Lasten des Angehörigen verwertet werden kann. Hierüber wird im Rahmen der Belehrung nach § 52 Abs. 3 StPO nicht aufgeklärt. Dass ein Schweigen negativ aufgefasst werden könnte, ist eine Vermutung, die für juristische Laien naheliegt (und bis in die sechziger Jahre auch vom BGH noch so vertreten wurde119). Subjektiv steht der Angehörige dann vor dem 112
KK-StPO-Senge, § 70, Rn. 1. RGSt 25, 134, 135 f.; KK-StPO-Senge, § 70, Rn. 5. 114 KK-StPO-Senge, § 70, Rn. 7. 115 KK-StPO-Senge, § 70, Rn. 2. 116 Meyer-Goßner/Schmitt, § 70, Rn. 20; KK-StPO-Senge, § 70, Rn. 2. 117 BGH StV 1984, 233; KK-StPO-Senge, § 55, Rn. 16; LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 55, Rn. 27. 118 Schneider, Grund und Grenzen, 1991, S. 231. 119 BGHSt 2, 351; 6, 279, 280. 113
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Konflikt, entweder den Angehörigen durch sein Schweigen vermeintlich zu belasten oder ihn durch eine Falschaussage zu entlasten.120 § 153 StGB stellt eine Falschaussage vor Gericht unter Strafe. Da Staatsanwaltschaft und Polizei nicht für eidliche Vernehmungen zuständig sind, ist eine falsche Aussage im Ermittlungsverfahren – sofern keine richterliche Vernehmung erfolgt – nicht strafbar.121 Wann eine Aussage falsch ist, ist umstritten, wobei sich der Streit hauptsächlich um das Bewusstsein der Falschheit der Aussage rankt.122 Da in den oben beschriebenen Situationen von einer bewussten und vorsätzlichen falschen Aussage auszugehen ist, ist dieser Streit für die Angehörigensituation nicht relevant. § 153 StGB sieht eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren vor. Die Strafzumessung hängt dabei entscheidend von der Relevanz der Falschaussage für die restliche Verhandlung ab.123 Gem. § 154 Abs. 1 StGB ist die falsche eidliche Aussage unter die erhöhte Strafandrohung als Verbrechen von mindestens einem Jahr gestellt. Im minder schweren Fall gem. Abs. 2 drohen immerhin noch sechs Monate bis fünf Jahre.124 Da in Deutschland die praktische Relevanz der Vereidigung aber nur noch sehr gering ist, hat auch diese Strafvorschrift an Bedeutung verloren.125. Für Angehörige spielt § 157 StGB eine wichtige Rolle, der eine Ausprägung des Angehörigenprivilegs ist.126 Diese Norm ermöglicht eine Strafmilderung oder ein Absehen von Strafe, wenn die Falschaussage oder der Meineid begangen wurde, um einen Angehörigen vor Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme zu schützen. Ob diese Gefahr tatsächlich bestand oder die Strafe auch nur gemildert werden soll, ist nebensächlich. Der Zeuge muss diese Gefahr gesehen und deren Abwendung in seinen Vorsatz aufgenommen haben.127 Der Schutz für Angehörige ist im Laufe der Zeit erhöht worden, da § 157 StGB früher bei einer Angehörigenbelastung nur gewährt wurde, wenn über die Zeugnisverweigerungsrechte nicht belehrt wurde.128 120
LK-StGB-Ruß, § 157, Rn. 10; Bergmann, Milderung der Strafe, 1988, S. 90; sehr ausführlich und überzeugend auch Schneider, Grund und Grenzen, 1991, S. 231, der den Gerichten unterstellt, dass diese dieses Unwissen wissentlich ausnutzen würden, um weniger Verweigerungen zu riskieren, da auch eine Falschaussage für die Wahrheitsfindung wichtig sein kann. Dies sei kein Verstoß gegen § 52 Abs. 3 StPO, da eine solche Belehrung nicht vorgesehen sei. 121 MüKo-StGB-Müller, § 153, Rn. 64. 122 MüKo-StGB-Müller, § 153, S. 41 mit ausführlicher Streitübersicht. 123 Sch/Sch-StGB-Leckner/Bosch, § 153, Rn. 11. 124 Die Teilnahme an den Aussagedelikten ist durch §§ 158 f. StGB unter Strafe gestellt, s. Sch/Sch-StGB-Leckner/Bosch, § 159, Rn. 1; MüKo-StGB-Müller, § 160, Rn. 2 § 161 StGB stellt zudem die fahrlässige Falschaussage unter Strafe. 125 MüKo-StGB-Müller, § 154, Rn. 6. 126 OLG Düsseldorf JR 1991, 520 m. Anm. Heusel. 127 Sch/Sch-StGB-Leckner/Bosch, § 157, Rn. 9; MüKo-StGB-Müller, § 157, Rn. 17. 128 RGBl. I, S. 339; Sch/Sch-StGB-Leckner/Bosch, § 157, Rn. 6.
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Heute wird in diesem Fall die Strafe obligatorisch gemildert.129 Aber auch Falschaussagen trotz Belehrung werden nun von § 157 StGB erfasst.130 Berücksichtigt wird die besondere schuldmindernde notstandsähnliche Zwangslage, in der sich der Angehörige bei einer Aussage befinden kann.131 Kritisiert wird § 157 StGB dafür, dass schon das Zeugnisverweigerungsrecht dem persönlichen Konflikt des Zeugen Rechnung trägt und dieser nicht doppelt privilegiert werden dürfe.132 Dass eine solche doppelte Berücksichtigung richtig ist, leitet jedoch Schneider überzeugend her: Da Gerichte zwar über das Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts, nicht aber darüber, dass die Verweigerung nicht negativ gewertet werden darf, belehren, kann beim angehörigen Zeugen das Gefühl entstehen, dass er nur durch eine Falschaussage keine negativen Konsequenzen für den angeklagten Angehörigen auslöst. Grund für die Berücksichtigung des Angehörigenverhältnisses sei somit die „defizitäre gerichtliche Belehrungspraxis“, die den Konflikt gerade nicht völlig aufhebe.133 In der Rechtspraxis ist § 157 StGB sehr relevant, da er von Amts wegen zu prüfen und dessen Nichtanwendung zu begründen ist.134 Die Milderung bzw. das Absehen von Strafe erfolgt nach dem Ermessen des Gerichts, das alle relevanten Faktoren des Falles einbeziehen kann. So ist eine Strafmilderung nach § 157 StGB nicht einmal dann a priori ausgeschlossen, wenn die Konfliktsituation selbst schuldhaft herbeigeführt wurde, wenn sich der Zeuge also z.B. freiwillig gemeldet hat oder trotz des Wissens über ein Verweigerungsrecht aussagt.135
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Sch/Sch-StGB-Leckner/Bosch, § 157, Rn. 30. BayObLG NStZ-RR 1999, 174. 131 Bergmann, Milderung der Strafe, 1988, S. 81; MüKo-StGB-Müller, § 157, Rn. 4. Diese Lage sieht eine Mindermeinung auch bei nichtehelichen Lebenspartnern, wodurch keine komplette Kongruenz des Privilegiertenkreises von § 52 StPO und § 157 StGB bestünde, s. Kretschmer JR 2008, 51, S. 54; MüKo-StGB-Müller, § 157, Rn. 20; dagegen die h.M.: BayObLG NJW 1986, 203; OLG Braunschweig NStZ 1994, 344; LK-StGB-Ruß, § 157, Rn. 14; Sch/Sch-StGB-Leckner/Bosch, § 157, Rn. 6; Das BVerfG sah eine Aufnahme zumindest nicht als verfassungsrechtlich geboten, s. BVerfGE v. 26. 2. 1999 – 2 BvR 321/94 (juris). 132 Sch/Sch-StGB-Leckner/Bosch, § 157, Rn. 1. 133 Schneider, Grund und Grenzen, 1991, S. 231; zur defizitären Praxis auch Bergmann, Milderung der Strafe, 1988, S. 96. 134 BGH GA 1968, 304; OLG Düsseldorf JR 91, 520 m. Anm. Heusel; MüKo-StGBMüller, § 157, Rn. 5; Sch/Sch-StGB-Leckner/Bosch, § 157, Rn. 1. 135 Lackner/Kühl-StGB-Heger, § 157, Rn. 1; kritisch zur Anwendbarkeit bei Verschulden: Sch/Sch-StGB-Leckner/Bosch, § 157, Rn. 11; Bergmann, Milderung der Strafe, 1988, S. 91 möchte § 157 StGB nicht anwenden, wenn der Zeuge im Vorhinein belehrt wurde, dass sein Schweigen nicht zu Lasten des Angehörigen gewertet werden darf, da dann kein subjektiver Zwang zur Belastung des Angehörigen empfunden werden könne; s.a. Schneider, Grund und Grenzen, 1991, S. 234. 130
I. Geltende Rechtslage
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13. Exkurs: Einfluss der Familienangehörigkeit auf das weitere deutsche Strafrecht Das materielle Strafrecht sieht für drei Fälle eine Privilegierung von Angehörigen vor, die hier kurz geschildert werden, um ein vollständiges Bild der Stellung von Angehörigen im deutschen Strafrecht zu zeichnen. a) Nichtanzeige geplanter Straftaten – § 138 StGB Zunächst kann sich ein Angehöriger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten strafbar machen, wenn er sich im Sinne des § 139 Abs. 3 StGB ernsthaft bemüht, seinen Verwandten von der Tat abzubringen. Eine Rückausnahme gilt jedoch, falls es sich bei der geplanten Straftat um einzeln genannte, besonders schwere Straftaten handelt. Zweck der Regelung des § 139 StGB ist die Auflösung des Interessenkonflikts der Angehörigen.136 Die Privilegierung gilt wie § 52 StPO auch gegenüber nicht verwandten Mittätern und nach einer Scheidung.137 Im Übrigen sieht das deutsche Strafrecht gem. § 138 StGB sowieso nur für einen begrenzten Katalog schwerer Straftaten eine Anzeigepflicht vor, sodass die Rückausnahme einen großen Teil der Privilegierung relativiert.138 b) Strafvereitelung – § 258 StGB Die Strafvereitelung gem. § 258 StGB stellt die vorsätzliche Vereitelung der Strafverfolgung oder der Vollstreckung zu Gunsten eines anderen unter Strafe (sog. persönliche Begünstigung).139 Es muss also ein Vereitelungserfolg eingetreten sein, der aber nicht nur durch Freispruch oder dem Unterbleiben der Strafvollstreckung, sondern auch schon bei einer zu milden Strafzumessung oder einer längeren Verzögerung der Strafverfolgung erfüllt ist.140 Beispiele für eine Strafvereitelung sind jede Art der Fluchthilfe, also auch Irreführung der Polizei, Spurenverwischung und sogar die Beseitigung der Tatwaffe.141 Auch bei § 258 StGB gibt es eine Angehörigenprivilegierung, denn gem. Abs. 6 ist nicht strafbar, wer eine Strafvereitelung zugunsten eines Angehöri-
136 Die Rechtsnatur dieser Regel ist umstritten. So wird sie teils als Entschuldigungsgrund im Sinne der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens verstanden, s. SSW-StGB-Jeßberger, § 139, Rn. 5; MüKo-StGB-Hohmann, § 139, Rn. 10; LK-StGB-Hanack, § 139, Rn. 23; z.T. auch als persönlicher Strafaufhebungsgrund gesehen, s. Fischer-StGB, § 139. 137 Sie entfällt, wenn der beteiligte nicht mehr belangt werden kann. S. MüKo-StGBHohmann, § 139, Rn. 12. 138 Sch/Sch-StGB-Sternberg-Lieben, § 138, Rn. 7. 139 Sch/Sch-StGB-Stree/Hecker, § 258, Rn. 1. 140 BGH 45, 100; Sch/Sch-StGB-Stree/Hecker, § 258, Rn. 14. 141 Sch/Sch-StGB-Stree/Hecker, § 258, Rn. 15.
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B. Deutschland – Subjektive Zeugnisverweigerungsrechte
gen begeht.142 Diese Regelung stellt nach h.M. einen persönlichen Strafausschließungsgrund dar.143 Wie bei § 52 StGB wird die notstandsähnliche Lage berücksichtigt, die ebensowenig tatsächlich vorliegen muss.144 Zum Verhältnis von § 257 StGB (der sog. Sachbegünstigung) zu § 258 StGB wird von einigen Stimmen vertreten, dass die Privilegierung der Strafvereitelung zumindest eingreifen muss, wenn die Strafvereitelung notwendigerweise eine Begünstigung beinhaltet, auf die es dem angehörigen Täter jedoch nicht ankommt.145 Die wohl h.M. lässt eine Strafbarkeit nach § 257 StGB in diesen Fällen jedoch stets zu.146 Der Unterschied zwischen den beiden Normen liegt in der Motivation des Begünstigungstäters, da bei der Strafvereitelung tatsächlich der Angehörige ‚nur‘ geschützt, bei der Begünstigung aber auch noch der Profit aus der Vortat gewahrt werden soll.147 Kommt es dem Begünstigungstäter auf die Gewinnsicherung an, so befindet er sich gerade nicht in einer Konfliktsituation, wie sie auch in § 52 StPO Berücksichtigung findet, da er nicht vor die Wahl gestellt wird, dem Angehörigen zu helfen oder ihn der Strafverfolgung auszuliefern. So stellt sich die unterschiedliche Behandlung von Angehörigen bei § 257 StGB und bei § 258 StGB als konsequente Umsetzung des allgemeinen Angehörigenprivilegierungsgedankens dar. c) Antragsdelikte Auch die absoluten Antragsdelikte können eine privilegierende Wirkung für die Familie haben. Zu diesen Delikten gehören beispielsweised der Haus- und Familiendiebstahl (§ 247 StGB),148 der unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs (§ 248b StGB), die Entziehung elektrischer Energie (§ 248c StGB) und die Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs (§§ 201 ff. StGB). Diese Taten werden ausschließlich auf Antrag des Opfers verfolgt. Dies liegt an der speziellen Situation, in der diese zumeist begangen werden, da das 142
NK-StGB-Altenhain, § 258, Rn. 74; Sch/Sch-StGB-Stree/Hecker, § 258, S. 41. Lackner/Kühl-StGB, § 258, Rn. 17; NK-StGB-Altenhain, § 258, Rn. 73; MüKoStGB-Cramer/Pascal, § 258, Rn. 55. 144 BGHSt 11, 343, 345; weiterführend Amelung JR 1978, 227, S. 228 Der Täter muss sich des Angehörigenverhältnisses nicht einmal bewusst sein, s. MüKo-StGB-Cramer/ Pascal, § 258, Rn. 55. 145 Lackner/Kühl-StGB, § 258, Rn. 17; Mitsch, Vermögensdelikte, 32015, S. 770; Rengier, Strafrecht, 182016, 21. 146 BGHSt 11, 343; Sch/Sch-StGB-Stree/Hecker, § 258, Rn. 41; Cramer NStZ 2000, 246, S. 246, 255; Fischer-StGB, § 139, Rn. 258; LK-StGB-Walter, § 258, Rn. 133. 147 Daher variiert auch das geschützte Rechtsgut: § 258 StGB schützt den Strafanspruch des Staates. § 257 StGB soll vor der Verfestigung der Rechtsbeeinträchtigung durch die Vortat schützen, s. Cramer NStZ 2000, 246, S. 247. 148 Wobei nicht nur alle Formen des Diebstahls gem. §§ 242, 243, 244 und 244a StGB, sondern auch andere Vermögensdelikte wie Unterschlagung und Betrug, s. Sch/Sch-StGBEser/Bosch, § 247, Rn. 2. 143
II. Historische Entwicklung
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Zusammenleben innerhalb der Familie zum Teil erst ein bestimmtes Fehlverhalten ermöglicht bzw. fördert. Dies wird aber vom Gesetzgeber nicht als so schwerwiegend eingestuft, dass es zwangsläufig staatlich verfolgt werden muss. Vielmehr lässt er den Opfern die Wahl, den Konflikt auch außerstrafrechtlich zu lösen.149 Dass der Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) und die Beleidigungsdelikte (§ 185 ff. StGB) nur auf Antrag verfolgt werden, kann in vielen Fällen auch dem Familienfrieden entgegenkommen. Die relativen Antragsdelikte können bei öffentlichem Interesse auch ohne einen Strafantrag des Opfers verfolgt werden. Sie haben daher eine weitaus geringere Privilegierungswirkung für die Familie, da das Legalitätsprinzip nur eingeschränkt, nicht aufgehoben wird. d) Strafschärfung bzw. -begründung Strafschärfend bzw. -begründend wirkt die Familienzugehörigkeit indes in § 174 StGB (Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen), § 225 StGB (Misshandlung von Schutzbefohlenen) und § 173 StGB (Beischlaf zwischen Verwandten).
II. Historische Entwicklung Das Zeugnisverweigerungsrecht für Familienangehörige des Beschuldigten ist ein verhältnismäßig neues Institut im Strafprozessrecht. Zwar war bereits im römischen Recht eine Zeugenprivilegierung aufgrund persönlicher Nähebeziehungen bekannt; ein subjektives Recht des Zeugen, das seine Aussage von seinem Willen abhängig macht, entwickelte sich allerdings erst im 19. Jahrhundert. Das römische, kanonische und jüdische Recht beeinflusste nicht nur das deutsche, sondern ebenso das französische und englische Recht. 1. Römisches Recht Im römischen Recht wurde dem Richter der Ausschluss bestimmter Zeugen in Form von Hinweisen nahegelegt,150 indem sie in drei Zeugengruppen unterteilt wurden: Unverdächtige, verdächtige und privilegierte Zeugen.151 Die verdächtigen Zeugen durften nicht aussagen, auch wenn sie dies wünschten; 149 Allerdings wird bei solchen Taten, selbst wenn ein Strafantrag gestellt wird, zumeist das Verfahren sofort eingestellt bzw. wird auf den Privatklageweg verwiesen. 150 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 11. 151 Dig 22, 5 de testibus und Cod. 4, 20 de testibus. Diese Regeln galten sowohl für das Zivil- als auch für das Strafrecht (Dig. 22, 5, 3, 1), das bis auf Staatsdelikte sowieso als Privatklageprozess ausgestaltet war (Cod. 9, 1). Allerdings gab es auch einige Spezialvorschriften für das jeweilige Rechtsgebiet.
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B. Deutschland – Subjektive Zeugnisverweigerungsrechte
hierzu zählten Eltern gegen ihre Kinder, Kinder gegen ihre Eltern, Minderjährige und Verurteilte.152 Den Grund für diesen Ausschluss sah Paulus in der Unglaubwürdigkeit dieser Personen.153 Zu den privilegierten Zeugen gehörten bis zum 6. Grad Verwandte des Angeklagten, seine Schwiegereltern und Schwiegersöhne, selbst wenn noch keine Ehe, sondern nur ein Verlöbnis bestand, sowie Freigelasse des Angeklagten und dessen Verwandte.154 Dem Richter wurde geraten, diese Personen nicht zwangsweise zu vernehmen.155 Ihre erzwungene Aussage hätte gegen das Anstandsgefühl der römischen Gesellschaft verstoßen.156 Ob diese Regeln jedoch streng eingehalten wurden oder ob sie eher als Ratschläge verstanden wurden, ist nicht klar überliefert.157 Insbesondere bei Staatsschutzdelikten liegt eine ‚flexible‘ Handhabung nahe.158 Die Praxisferne gesetzlicher Zeugenausschlüsse ist ein Phänomen, das auch in der späteren Rechtsentwicklung auftaucht.159 Im Vergleich zu späteren Jahrhunderten zeigt das römische Recht jedoch eine große Sensibilität für den Schutz bürgerlicher Freiheiten und der familiären Ordnung, auch wenn durch die Ausschlüsse und Privilegierungen zugleich die Wahrheitsfindung geschützt werden sollte.160 2. Kanonisches Recht Der alte kanonische Inquisitionsprozess war dem römischen Prozess sehr ähnlich.161 Zweck des Prozesses war die Wahrheitsermittlung durch auf Tatsachen gerichtete Beweismittel.162 Im kanonischen Strafprozess herrschte grundsätzlich eine Pflicht, unparteiisch über seine Beobachtungen auszu-
152
Dig. 22, 5, 9; Dig. 22, 5, 3, 5. Paulus, Sententiarum receptarum ad filium libri quinque, 1594, 5; krit. jedoch Beling, Beweisverbote, 1903, S. 15. 154 Zu den privilegierten Personen s. ausführlich Roßhirt ZDStV 1 (1846), 94, S. 111. 155 Dig. 22, 5, 4; Dig. 22, 5, 5; Ein allgemeiner Zeugniszwang bestand im alten römischen Recht nicht. Im neueren römischen Strafprozess konnten Richter aber Zeugen verpflichtend laden, s. Roßhirt ZDStV 1 (1846), 94, S. 97. 156 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 11; Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 27. 157 Dig. 22, 5, 3, 1; Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 27; Glaser, Beiträge, 1883, S. 199. 158 S. das Beispiel in Tacitus, Tacitus 2010, 2010, 4–30; Karitzky, Geschichte, 1959, S. 11; Geib, Geschichte, 1842, S. 623. 159 Für Deutschland s. S. 36, für Frankreich S. 156 und für England S. 216. 160 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 12; Meuthien, Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 1955, S. 12; Mausen, Ueritatis adiutor, 2002, S. 200. 161 Meuthien, Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 1955, S. 12. 162 Lévy, in: Société Jean Bodin (Hrsg.), Société Jean Bodin 1989: Tome XVII: La preuve, 1989, S. 147. 153
II. Historische Entwicklung
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sagen.163 So konnte derselbe Zeuge für beide Parteien aussagen, was im germanischen System der Eideshelfer undenkbar war.164 Für das Urteil war nicht die Zahl der Zeugen entscheidend, sondern Qualität und Inhalt des Zeugnisses.165 Die Zeugenausschlüsse betrafen wie im römischen Recht besonders diejenigen Personen, die von einer der Prozessparteien abhängig waren und dadurch im Verdacht standen, diese bevorteilen zu wollen.166 Der kanonische Inquisitionsprozess schloss Verwandte und Verschwägerte bis zum vierten Grade vom Zeugnis aus.167 „Das Zeugnis der Eltern und Kinder gegen einander ist unnatürlich und widerstreitet so sehr der Pietät, daß dessen Zulassung, auch wenn sie wollten, eine Betheiligung an dem Widerstreite so zarter Gefühle des menschlichen Gemüthes wäre, die der öffentlichen Sittlichkeit nachtheilig werden müßte.“168 Seitenverwandte und Verschwägerte waren nicht per se ausgeschlossen, jedoch war es dem Richter überlassen, zu überprüfen, ob sie in der Sache als verdächtige Zeugen behandelt werden müssten.169 Genauso verdächtig waren Eheleute. Hier war Grund zum Zweifel an einer belastbaren Aussage nicht nur die emotionale Verbundenheit, sondern auch, dass die Ehefrau „unter der Herrschaft des Mannes“ stand.170 Angehörige Zeugen durften nicht zum Zeugnis gezwungen werden, da dies als Angriff auf die natürliche Verwandtenliebe gegolten hätte.171 Die Zeugenausschlüsse entfalteten jedoch nur für die Beweisführung zur Urteilsfindung ihre Wirkung. Im Ermittlungsstadium konnte jede Person unabhängig von ihrer Beziehung zum Beschuldigten informatorisch befragt werden.172 Allerdings gab es auch für die Urteilsfindung Ausnahmeregeln, nach denen bei bestimmten Delikten wie Majestätsverbrechen, Ehebruch oder Misshandlung der Ehefrau auch zeugnisunfähige Zeugen vernommen werden konnten. Sofern die Wahrheit nicht durch andere Beweismittel aufgedeckt werden konnte (sog. Beweisnotstand), wurden ohnehin alle Ausschlüsse missachtet.173
163
München, Gerichtsverfahren und Strafrecht Bd. 1, 1865, S. 137; Lévy, in: Société Jean Bodin (Hrsg.), Société Jean Bodin 1989: Tome XVII: La preuve, 1989, S. 147. 164 Lévy, ebd. 165 Lévy, ebd. 166 Lévy, ebd. 167 Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 14. Sowohl Kinder im Verfahren gegen ihre Eltern und umgekehrt als auch Aszendenten und Deszendenten, aber ebenso uneheliche Kinder und Adoptivkinder waren vollkommen vom Zeugnis ausgeschlossen. 168 München, Gerichtsverfahren und Strafrecht Bd. 1, 1865, S. 127. 169 Da diese Regeln für den inquisitorischen – im Gegensatz zum auch möglichen akkusatorischen – Zivilprozess aufgestellt wurden, galten sie auch für das stets inquisitorische Strafverfahren, s. München, Gerichtsverfahren und Strafrecht Bd. 1, 1865, S. 496. 170 München, Gerichtsverfahren und Strafrecht Bd. 1, 1865, S. 128. 171 München, Gerichtsverfahren und Strafrecht Bd. 1, 1865, S. 140. 172 München, Gerichtsverfahren und Strafrecht Bd. 1, 1865, S. 136. 173 München, Gerichtsverfahren und Strafrecht Bd. 1, 1865, S. 136.
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3. Jüdisches Recht Auch das jüdische Recht hatte neben dem römischen und dem kanonischen Recht einen gewissen Einfluss auf die Entwicklung des europäischen Rechts.174 Die Thora äußert sich nicht zu einem Verbot des Zeugnisses verwandter Zeugen.175 Nach dem sog. talmudischem Recht,176 das auf den Schriften jüdischer Gelehrter beruht, besteht jedoch ein solches Zeugnisverbot. Es scheint sich um eine sehr alte Regelung zu handeln, die wohl ungefähr dem 1. Jahrhundert v. Chr. zuzuordnen ist.177 Abgeleitet wird das Verbot aus Deut. 24, 16, wo es heißt: „Nicht sollen Väter sterben um Söhne, nicht sollen Söhne sterben um Väter, jedermann sterbe für seine eigene Sünde.“178 Im jüdischen Recht dürfen Verwandte des ersten und zweiten Grades gegeneinander weder zu ihrem Vor- noch zu ihrem Nachteil aussagen.179 Ehegatten gelten als miteinander und mit den Verwandten des anderen Gatten verwandt.180 Auch Verlobte können nicht gegeneinander, wohl aber jedoch gegen die Familie des anderen aussagen.181 Entsteht die Verwandtschaft erst zu einem späteren Zeitpunkt, erstreckt sich das Zeugnisverbot auf die gesamte Aussage des Zeugen, unabhängig davon, ob es um Tatsachen vor oder nach der Verwandtschaftsbegründung geht.182 Verstirbt einer der Ehegatten, werden die Familienangehörigen für den anderen Ehegatten jedoch wieder zu fähigen Zeugen.183 Kinder sind bezüglich ihrer Familie immer ausgeschlossen, unabhängig davon, ob sie ehelich geboren wurden oder nicht.184 Diese absoluten Zeugenausschlüsse waren von besonderer Tragweite, weil im jüdischen Strafverfahren allein der Zeugenbeweis als Beweismittel zugelassen ist.185 174
Rached, Intime conviction, 1942, S. 85. Frankel, Beweis nach mosaisch-talmudischem Recht, 1846, S. 281. 176 Frankel, Beweis nach mosaisch-talmudischem Recht, 1846, S. 97. 177 Frankel, Beweis nach mosaisch-talmudischem Recht, 1846, S. 251. 178 Deut. 24, 26 (Übersetzung von Buber/Rosenzweig). Dieser Grundsatz stützt sich zudem auf die jüdischen Rechtsquelle Sanhedrin 27b und Yad Edut 13:1, s. Watts Wm. & Mary L. Rev. 28 (1986), 583, S. 592. 179 Die genaueren Regeln finden sich in Synhedrin l. l. Baba Batra 128. Maimon l. l. c. 13. Choschen Mischpat Kapitel 33.; Sanhedrin 3:4; Yad Edut 13:3; Sh. Ar., ḤM 33:2, s. Smith-Klocek Cath. Law. 39 (1999), 105, S. 109; Cohn/Sinai, in: Skolnik/Berenbaum (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica, 22007, S. 116; Frankel, Beweis nach mosaisch-talmudischem Recht, 1846, S. 188. 180 Yad, Edut 13:6 und Sh. Ar., ḤM 33:3. 181 Frankel, Beweis nach mosaisch-talmudischem Recht, 1846, S. 122. 182 Frankel, Beweis nach mosaisch-talmudischem Recht, 1846, S. 122. 183 Frankel, Beweis nach mosaisch-talmudischem Recht, 1846, S. 284. 184 Frankel, Beweis nach mosaisch-talmudischem Recht, 1846, S. 285. 185 Frankel, Beweis nach mosaisch-talmudischem Recht, 1846, S. 119; Wobei die Zahl fähiger Zeugen noch dadurch weiter eingeschränkt wird, dass Frauen per se vom Zeugen175
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Den Grund für diesen strikten Ausschluss bildet der Gedanke, dass das Zeugnis nur dann zum Beweis nutzbar ist, wenn der Zeuge aussagen kann und will. Ob Zeugen wahrheitsgetreu aussagen wollen, kann ein Richter aber nur mutmaßen. Die Erfahrung zeige aber, dass „das Interesse [am] Sieg der Wahrheit entweder unwahrscheinlich oder wenigstens sehr zweifelhaft“ ist, „weil [die Verwandten] ein natürliches Interesse an der ihrer verwandten Partei schädlichen wahrhaften Aussage“ hindere.186 Dies rechtfertige einen pauschalen Ausschluss. Neben dem Schutz der familiären Verhältnisse187 dient der Ausschluss wohl auch dem Respekt vor dem Willen Gottes, nicht in die Einheit Familie einzudringen.188 4. Deutsches Recht vor der Rezeption Ein gesetzlich geregelter Strafprozess existierte in der Zeit vor der Rezeption in dem Gebiet des heutigen Deutschlands nicht.189 Trotzdem wiesen die heute bekannten Verfahren dieser Zeit gewisse Gemeinsamkeiten auf. Der Strafprozess gestaltete sich als Relikt der alten Privatjustiz im Sinne eines Kampfes.190 Da der Prozess auf alten Beweisformen aufbaute, die den Prozessausgang nicht von der materiellen Wahrheit, sondern von der Ehrbarkeit der Parteien abhängig machte, war der Zeugenbeweis zur Tatsachenermittlung unbekannt und unnötig. Beweismittel zu dieser Zeit waren der Reinigungseid, das Geständnis, das Ordal, der Gerichtskampf und die Zeugenaussage.191 Letztere kam zum Tragen, falls ein Beschuldigter die Tat leugnete.192 Wenn durch den Zeugenbeweis die Wahrheit nicht eindeutig ermittelt werden konnte, so konnte der Angeklagte die Vorwürfe allein durch seinen Eid entkräften.193 Tatzeugen wurden im germanischen Prozess jedoch nur im in flagranti-Fall gehört.194 Ansonsten traten Zeugen zumeist nur als Eideshelfer auf, die den guten Leumund des Angeklagten bestätigten und häufig noch nicht
beweis ausgeschlossen sind, s. Cohn/Sinai, in: Skolnik/Berenbaum (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica, 22007, S. 120. 186 Frankel, Beweis nach mosaisch-talmudischem Recht, 1846, S. 147. 187 Smith-Klocek Cath. Law. 39 (1999), 105, S. 110. 188 Frankel, Beweis nach mosaisch-talmudischem Recht, 1846, S. 285 unter Berufung auf Baba Batra 159a. 189 Schmidt, Einführung, 1983, S. 27. 190 Lévy, in: Société Jean Bodin (Hrsg.), Société Jean Bodin 1989: Tome XVII: La preuve, 1989, S. 146. 191 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 54. 192 Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 4; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 24 2014, S. 54. 193 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 54. 194 Caenegem, in: Société Jean Bodin (Hrsg.), Société Jean Bodin 1965: Tome II: La preuve, 1965, 742 f.
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B. Deutschland – Subjektive Zeugnisverweigerungsrechte
einmal über die vorgeworfene Tat informiert waren.195 Der Reinigungseid wurde zusammen mit Freunden und Angehörigen als Eideshelfern geschworen.196 Teilweise mussten die Eideshelfer sogar aus der Familie des Angeklagten stammen.197 Mit Blick auf die Zeugenausschlüsse der späteren Zeit, die den verwandten Zeugen wegen seiner Unglaubwürdigkeit im Prozess als Beweismittel nicht zuließen, ist dies ein beachtlicher Umstand. Auch wenn die Funktion des Zeugen sich mit der Zeit änderte, wird doch deutlich, dass im germanischen Rechtsgang dem Angehörigen mit weniger Argwohn als zu späterer Zeit entgegengetreten wurde. Denn auch wenn keine Tatsachen bewiesen werden sollten, wurde doch Aufrichtigkeit bzw. Ehrhaftigkeit vom verwandten Zeugen erwartet. Der Zeugenbeweis war lange Zeit jedoch sehr unbeliebt.198 Der Grund dafür liegt wohl zum Teil im semi-anarchischen Charakter der damaligen Gesellschaft, die nicht in der Lage war, dem Zeugen einen wirksamen Schutz zukommen zu lassen. Außerdem beruhte die vor-feudale Gesellschaft stark auf solidarischen Strukturen, die eine Aussage gegen ein Mitglied der eigenen Gruppe untersagten und so Falschaussagen förderten.199 Später setzte sich der auf Tatsachenermittlung gerichtete Zeugenbeweis durch. Die bis dato verwendeten Beweismittel, die allein auf Schuld oder Unschuld bezogen waren und nicht das Geschehene rekonstruieren sollten, erwiesen sich in einem immer deutlicher durch die Offizialmaxime dominierten Strafprozess als unzeitgemäß. Diese Entwicklungen konnten schon im 13. Jahrhundert beobachtet werden. Im 14. Jahrhundert etablierte sich der Inquisitionsprozess dann vollends; bestand aber zunächst noch teilweise parallel neben dem germanischen Rechtsgang.200 Die neu gewonnene Möglichkeit, Zeugen zur Ermittlung eines historischen Lebenssachverhalts zu hören, wurde dennoch lange Zeit nicht voll ausgeschöpft. Denn mit dem erfolterten Geständnis des Beschuldigten stand ein ‚Beweis‘ zur Verfügung, der die
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Laingui/Lebigre, Histoire du droit pénal II, 1979, S. 24; Lévy, in: Société Jean Bodin (Hrsg.), Société Jean Bodin 1989: Tome XVII: La preuve, 1989, S. 137. 196 Lévy, in: Société Jean Bodin (Hrsg.), Société Jean Bodin 1989: Tome XVII: La preuve, 1989, S. 146. Um den Verdacht der Unredlichkeit der Eideshelfer zu zerstreuen, durfte der Angeklagte nur einen Teil von ihnen selbst aussuchen. Eine mindestens genauso große Anzahl benannten Ankläger und Richter. Die sog. electi oder advocati im Gegensatz zu nominati. S. Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 4. 197 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 13; Schmidt, Einführung, 1983, S. 29; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 362. 198 Laingui/Lebigre, Histoire du droit pénal II, 1979, S. 24. 199 Laingui/Lebigre, Histoire du droit pénal II, 1979, S. 24; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 25; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 362. 200 Schmidt, Einführung, 1983, 70; Schmidt, Maximilianischen Halsgerichtsordnung, 1949, S. 48.
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Anhörung von Zeugen oftmals unnötig machte. So blieb der Zeugenbeweis in Deutschland noch bis ins 15. Jahrhundert vergleichsweise irrelevant.201 5. Deutsches Recht im 16. und 17. Jahrhundert Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstanden die ersten deutschen Rezeptionsgesetze. Die Wormser Reformation von 1498 schloss als nicht ‚genugsame Zeugen‘ Ehrlose, Ehebrecher, Dirnen, Eltern und Kinder des Beschuldigten, Frauen und Personen unter 20 Jahren generell von der Aussage vor Gericht aus.202 Allerdings konnten Kinder und Eltern, falls der verwandte Angeklagte dies wünschte oder falls ein Beweisnotstand eintrat, trotzdem zwangsweise vernommen werden.203 Die beiden Schwarzenberg'schen Gesetze, die Constitutio Criminalis Bambergensis von 1507 (CCB) und die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 (CCC), enthielten im Gegensatz zur Wormser Reformation zwar genauere Regelungen zum Zeugenbeweis: Für den Überführungsbeweis bedurfte es zweier ‚genugsamer Zeugen‘.204 Einen Zeugenausschluss aufgrund eines Verwandtschaftsverhältnisses kannten CCB und CCC jedoch nicht.205 Der Richter wurde stattdessen generell zu Vorsicht ermahnt, nur Zeugen zu vernehmen, die sich zur Wahrheitsfindung eigneten. Zeugen von Hörensagen waren beispielsweise ausgeschlossen.206 In der Erwähnung der Eignung zum Zeugnis kann ein Hinweis auf das sonstige deutsche Recht und die Rezeptionstexte gesehen werden, sodass die Zeugenausschlüsse der Wormser Reformation durch die CCC nicht außer Kraft gesetzt wurden.207 Der Sinn dieser Beweisregeln kann wohl darin gesehen werden, dass in einer Zeit, in der Richter noch wenig juristisch geschult waren oder allein Laienrichter entschieden, strenge Beweisregeln die Einhaltung prozessualer Mindeststandards gewährleisteten, die für ein (halbwegs) faires Verfahren nötig waren.208 Die strengen Voraussetzungen, die an den Beweis gestellt wurden, können daher durchaus als fortschrittlich angesehen werden. Neue, nicht bloß die CCC wiederholende Kodifikationen, gab es im 16. und 17. Jahrhundert für den Strafprozesses nicht. Es galten weiterhin die Zeugenausschlüsse der Wormser Reformation, die dem Zeugen indes kein
201
Karitzky, Geschichte, 1959, S. 14; Caenegem, in: Société Jean Bodin (Hrsg.), Société Jean Bodin 1965: Tome II: La preuve, 1965, 742 f. 202 Titel 11 Buch 1 Wormser Reformation von 1498; Karitzky, Geschichte, 1959, S. 19. 203 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 20. 204 CCC Art. 66 und CCB Art. 78; Schmidt, Einführung, 1983, 109. 205 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 20. 206 CCB Art. 7, CCC Art. 65 S. 2; Schmidt, Einführung, 1983, 111. 207 CCC Art. 66; Karitzky, Geschichte, 1959, S. 21. 208 Schmidt, Einführung, 1983, 111.
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subjektives Recht auf Verweigerung der Aussage zugestanden.209 Auch für die sich immer weiter ausbreitenden Folter210 mangelte es an gesetzlichen Regeln. Ob diese auch auf unwillige Zeugen anwendbar sein sollte, blieb ungewiss.211 Die wissenschaftliche Diskussion zum Zeugenausschluss war allerdings lebhaft. Carpzov sprach sich für einen Zeugenausschluss von Verwandten aus, da diese nur eingeschränkt der Wahrheitsfindung dienlich seien.212 Die ausgeschlossenen Zeugen sollten allerdings „si veritas aliter habere non potest“, d.h. im Falle des Beweisnotstandes, und zur Verteidigung des Beschuldigten doch verhört und im Zweifelsfall auch gefoltert werden.213 Auch Brunnemann als zweiter großer Strafrechtler dieser Zeit forderte einen Ausschluss der ‚nicht genugsamen Zeugen‘ mit einer Ausnahme für den Beweisnotstand und für schwere Delikte mit der Möglichkeit der Folter, wobei die Beurteilung der Glaubwürdigkeit dieser Zeugen dem Richter anheimgestellt werden sollte.214 6. 18. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert änderte sich die Stellung der Angehörigen als Zeugen. a) Formelle Beweisregeln Die Regel, dass es zur Verurteilung eines Beschuldigten des vollkommenen Zeugenbeweises durch zwei klassische Zeugen oder des Geständnisses des Angeklagten bedurfte, wurde mehr und mehr zum Problem.215 Durch den aufkommenden Humanismus wurde die Folter immer stärker kritisiert und so standen immer weniger unter Folter abgepresste Geständnisse für eine Verurteilung zur Verfügung. Darum rückte nun der Zeugenbeweis in den Fokus der Aufmerksamkeit.216 Dies befürwortete auch Friedrich II., der 1740 gleich zu Beginn seiner Regierung die Folter in Preußen ausnahmslos abschaffte und so den Zeugenbeweis stärkte. Diese Stärkung führte im Lauf der Zeit dann ihrerseits zur Abschaffung der strengen gesetzlichen Beweisregeln, weil diese 209
Karitzky, Geschichte, 1959, S. 27. Schmidt, Einführung, 1983, 74. 211 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 28. 212 Carpzov, Practica, 1652, 114. 213 Übersetzung der Verfasserin: „Wenn die Wahrheit nicht auf andere Weise herausgefunden werden konnte“, s. Karitzky, Geschichte, 1959, S. 26; Gärditz/ Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 100; Carpzov, Practica, 1652, 114; Roßhirt ZDStV 1 (1846), 94, S. 124; ebenso Brauer GS 8 (1856), 3, S. 3. 214 Brunnemann, Anleitung, 1697, S. 257. 215 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 30. 216 Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 177; Karitzky, Geschichte, 1959, S. 36; Schmidt, Einführung, 1983, 252. 210
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starren Regeln eine sachgerechte Handhabung des Zeugenbeweises als nunmehr wichtigstes Beweismittel unmöglich machten.217 Die formellen Beweisregeln sahen unterschiedliche Zeugengruppen vor: Testes inhabiles, also unfähige Zeugen, die nicht als Zeugen vernommen werden durften, waren Eltern und ihre Kinder. Die testes habiles, d.h. Zeugen, die vernommen werden konnten, waren die uneingeschränkt beweisfähigen klassischen Zeugen (testes classici), derer für den Überführungsbeweis zwei nötig waren,218 und die verdächtigen Zeugen (testes suspecti).219 Zu den verdächtigen Zeugen gehörte die weitere Verwandtschaft. Für einen Überführungsbeweis waren nicht zwei, sondern vier verdächtige Zeugen nötig.220 Da im Staatsverständnis des 18. Jahrhunderts ein absoluter Strafanspruch herrschte, war aber auch die Vernehmung „ad informandam curiam“ und die Vereidigung der testes inhabiles möglich, wobei in der Praxis bei der Ehefrau davon wohl Abstand genommen wurde.221 Langsam entwickelte sich ein Bewusstsein für die schwere Lage der verwandten Angehörigen.222 Hierbei wurde weniger der persönliche innere Konflikt des Zeugen in den Blick genommen als vielmehr die staatliche Pflicht, die ‚natürliche‘ familiäre Bindung zu respektieren und zu wahren. Eine Einmischung in diese familiäre Sphäre durch den Staat wurde als unmoralisch empfunden.223 Der Strafverfolgung wurde im Fall eines Beweisnotstandes bei Straftaten gegen den Staat aber trotzdem der Vorrang eingeräumt.224 b) Hannoversche Criminalinstruktion Die erste Kodifikation, die die Verwandten über den Kreis der untauglichen Zeugen hinaus eine besonders privilegierte Rolle zuwies, war die Hannoversche Criminalinstruktion von 1736. Die verwandten Zeugen sollten im Gegensatz zu den anderen untauglichen Zeugen nur mit Genehmigung der Justizkanzlei wider ihren Willen zur Aussage gezwungen werden.225 Auch die Folter verwandter Zeugen wurde verboten. Daraus ist zu schließen, dass nicht mehr nur die Wahrheitsfindung geschützt werden sollte, sondern auch die 217
Schmidt, Einführung, 1983, 253. So schon in Faust I: „Ja, gute Frau, durch zweier Zeugen Mund wird allerwegs die Wahrheit kund.“ s. Goethe, Faust, 131986, 13. 219 Meuthien, Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 1955, S. 13. 220 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 32; z.B. Art. X, Neue Peinliche Hals-GerichtsOrdnung Josephs I. von 1707. 221 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 31. 222 Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 101; Karitzky, Geschichte, 1959, S. 32; Beling, Beweisverbote, 1903, S. 14. 223 Mittermaier, Theorie, 1809, S. 283; Stübel, Criminalverfahren, 1811, S. 353; Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 101. 224 Lauterbach, Lauterbach 1717, 22. 225 Gem. Cap. VIII, § X. 218
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besondere Lage, in der die Zeugen sich befanden, berücksichtigt wurde. Diese Konfliktsituation stellt nämlich den einzigen Unterschied zwischen den verwandten Zeugen und allen anderen testes suspecti dar.226 Falls diese Regeln nicht eingehalten wurden, was in der Praxis wohl der Fall gewesen sein dürfte,227 gab es im absolutistischen Staat, dem individuelle Freiheitsrechte fremd waren, allerdings keinen Rechtsschutz.228 c) Constitutio Criminalis Theresiana Das erste subjektive Recht zur Zeugnisverweigerung wurde 1769 in Art. 33 § 4 der habsburgischen Constitutio Criminalis Theresiana festgeschrieben. Hier galt jedoch weiterhin die Ausnahme für den Beweisnotstand. Eine Weiterentwicklung stellte daher die Kriminalordnung Josephs II. von 1788 dar, die in § 123 ein Zeugnisverweigerungsrecht gewährte, das allein unter die Ausnahme gegenläufiger Staatsinteressen gestellt war. 1803 statuierte § 377 des Gesetzbuchs über Verbrechen von Franz II. sogar eine Belehrungspflicht und ließ als einzige Ausnahme das Verbrechen des Hochverrats zu. 7. 19. Jahrhundert In Deutschland wurden noch in der Preußischen Kriminalordnung von 1805 Verwandte als verdächtige Zeugen ohne eine besondere Privilegierung geführt.229 Die erste Kodifikation im Gebiet des heutigen Deutschlands, die den verwandten Zeugen ein subjektives Recht zur Zeugnisverweigerung zugestand, war das Bairische Strafgesetzbuch von 1813. Nach Teil II, Art. 280 waren Verwandte zwar verdächtige Zeugen, durch Art. 204 wurden sie aber aus dem Kreis der sonstigen verdächtigen Zeugen herausgehoben, indem die Verwandten des Beschuldigten von „der Verbindlichkeit zum Zeugnis in peinlichen Sachen“ verschont blieben. Dies galt anders als noch in den österreichischen Kodifikationen ohne jede Ausnahme. Langsam setzte sich nämlich die Erkenntnis durch, dass die Ausnahmen vom Verweigerungsrecht sinnwidrig waren, da der Konflikt, der zur Falschaussage verleitete, unabhängig vom Tatvorwurf besteht.230 Das Bairische Strafgesetzbuch sah außerdem eine Pflicht zur Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht vor, deren Einhaltung im Protokoll vermerkt werden musste.231 Die gesetzgeberisch revolutionäre Idee, dem Individuum ein subjektives Recht zur Zeugnisver226
Karitzky, Geschichte, 1959, S. 39. Karitzky, Geschichte, 1959, S. 34. 228 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 34. 229 §§ 356, 357 Preußische Kriminalordnung von 1805; Karitzky, Geschichte, 1959, S. 47. 230 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 51. 231 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 48. 227
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weigerung zu geben, stand ganz im Sinne des Zeitgeistes, durch den insgesamt das Individuum stärker in den Vordergrund trat.232 Zweck dieser Regelung war die Vermeidung einer Aussage, die die Familientreue und damit gleichzeitig die öffentliche (sittliche) Ordnung verletzt hätte.233 Einen herben Rückschlag für diese Strömung stellte jedoch eine Gesetzesänderung bereits ein Jahr später dar, nach der Verwandte wieder zumindest informatorisch aussagen mussten.234 Dieser rückschrittlichen Tendenz folgte auch der (nie umgesetzte) Entwurf für eine neue StPO für Bayern von 1831, der wieder mit generellen Zeugenausschlüssen arbeitete.235 In den anderen deutschen Staaten wurde ein subjektives Recht auf Zeugnisverweigerung nur vereinzelt vor Einführung der RStPO verabschiedet.236 In der Literatur lehnte Mittermaier zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Einmischung des Staats in die Familie als unzulässigen Eingriff in die sittliche Ordnung strikt ab.237 Für die Situation der Angehörigen wurden in der juristischen Literatur des 19. Jarhhunderts zwei Lösungsvorschläge diskutiert: ein kompletter Zeugenausschluss oder eine freiwillige Zeugnisverweigerung.238 Vertreter der zweiten Meinung wollten, dass die Verweigerung des Zeugnisses ebenso wie die Aussage zurückhaltend in die Beweiswürdigung einbezogen werden könnte.239
232 Schmidt JZ 1958, 596, S. 599; speziell für das Zeugnisverweigerungsrecht: Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 35; s.a. Beling, Beweisverbote, 1903, S. 11 zurückhaltend auch Meuthien, Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 1955, S. 15. 233 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 48. 234 Reform des Art. 204 Abs. 1 des Bairischen Strafgesetzbuches von 1813 erwähnt bei Roßhirt ZDStV 1 (1846), 94, S. 126. 235 Hahn, Materialien Bd. III Tbd. 1, 1897, S. 145; Walther, Lehrbuch, 1859, S. 209; Karitzky, Geschichte, 1959, S. 55. 236 In Preußen wurde trotz Abschaffung der gesetzlichen Beweisregeln 1849 erst 1867 mit der neuen StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht mit Vereidigungsverbot eingeführt, s. Karitzky, Geschichte, 1959, S. 55. Württemberg führte 1843 eine neue Strafprozessordnung ein, die in Art. 195 ein Zeugnisverweigerungsrecht mit Belehrungspflicht anerkannte. Ähnliche Regeln erließen Baden und Sachsen, s. § 107 Badische Strafprozessordnung vom 1864 und Art. 213 der sächsischen Strafprozessordnung von 1855. Allerdings galten in beiden Ländern noch die gesetzlichen Beweisregeln, nach denen Verwandte sowieso nur als testes suspectii behandelt wurden, s. Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 35. In Hamburg wurde ein Zeugnisverweigerungsrecht bereits 1843 in einem Gesetzesentwurf vorgesehen, der aber erst 1869 als § 170 Hamburgische StPO verabschiedet wurde, s. Bottenberg, Hamburgische Strafprozeßordnung, 1998, S. 147. 237 Mittermaier, Theorie, 1809, S. 283; Stübel, Criminalverfahren, 1811, S. 353. 238 Mittermaier, Lehre vom Beweis, 1834, S. 310; Abegg, Lehrbuch, 1833, S. 211. 239 Mittermaier, Lehre vom Beweis, 1834, S. 332.
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8. RStPO von 1877 § 51 der RStPO von 1877 lautete wie folgt: „Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt: 1. der Verlobte des Beschuldigten; 2. der Ehegatte des Beschuldigten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht; 3. diejenigen, welche mit dem Beschuldigten in gerader Linie verwandt, verschwägert oder durch Adoption verbunden, oder in der Seitenlinie bis zum dritten Grade verwandt oder bis zum zweiten Grade verschwägert sind, auch wenn die Ehe, durch welche die Schwägerschaft begründet ist, nicht mehr besteht. Die bezeichneten Personen sind vor jeder Vernehmung über ihr Recht zur Verweigerung des Zeugnisses zu belehren. Sie können den Verzicht auf dieses Recht auch während der Vernehmung widerrufen.“240
Eine relevante Neuerung im Verhältnis zu allen vorherigen Kodifikationen, war die Stellung dieser Vorschriften im Allgemeinen Teil: Hierdurch wird deutlich, dass es sich nicht ‚nur‘ um eine Regelung für den Richter, sondern um Regeln von allgemeiner Gültigkeit für alle Verfahrensstadien handelte.241 Abgelehnt wurde ein Auskunftsverweigerungsrecht, das nicht nur bei drohender strafrechtlicher Verfolgung des Zeugen oder seiner Angehörigen eingreift, sondern auch, falls die Aussage dem Zeugen oder seinem Verwandten allein zur Unehre gereichen könnte.242 Solche Vorschriften fanden sich in vielen Partikular-Prozessordnungen der deutschen Staaten.243 Deren Ablehnung kann als klare Entscheidung für ein Zeugnisverweigerungsrecht verstanden werden, dass das Wahrheitsermittlungsinteresse bei einem starken Eingriff wie durch eine drohende strafrechtliche Konsequenz hinter dem Persönlichkeitsschutz zurücktreten lässt. Vor dem reinen Ehrschutz genießt weiterhin die Wahrheitsermittlung den Vorrang. Anders fällt die Abwägung zwischen Individualinteressen und dem staatlichen Interesse im Zivilprozess aus, wo sich mit § 384 ZPO eine deutlich weitere Regelung findet.244 Hiernach darf das Zeugnis verweigert werden, falls die Aussage einen unmittelbaren vermögensrechtlichen Schaden verursachen würde, die Antwort dem Zeugen oder seinen Angehörigen zur Unehre gereichen könnte, oder ein ge-
240 So auch schon in § 42 des Entwurfs einer StPO für das Deutsche Reich aus dem Jahre 1874, dem nur § 51 Abs. 2 S. 2 RStPO hinzugefügt wurde. 241 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 67. 242 Hahn, Materialien Bd. III Tbd. 1, 1897, S. 99. 243 Z.B. § 107 der Badischen StPO von 1864; § 172 der Hamburgischen StPO von 1869 und § 87 der Lübeckischen StPO von 1862. 244 „Die Zeugnispflicht erleidet nach allen positiven Gesetzgebungen mannigfache Ausnahmen, und zwar überall da, wo diese Pflicht mit anderen Pflichten, die der Staat gleichfalls zu achten hat, in Widerstreit treten würde.“ S. Hahn, Materialien Bd. III Tbd. 1, 1897, S. 99.
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schütztes Geheimnis dadurch aufgedeckt werden müsste. Das staatliche Schlichtungsinteresse des Zivilprozesses, wiegt insofern weniger schwer als das staatliche Interesse an der strafrechtlichen Wahrheitsermittlung. 9. Nationalsozialistische Reformpläne Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde eine umfangreiche Reform des Strafprozessrechts diskutiert. Kelz kritisierte im Jahr 1934 § 52 StPO als „Ausdruck einer falschen, liberalistisch individualistischen Rechtsauffassung“, die das gesellschaftlich-kollektive Ziel einer funktionierenden Rechtspflege nicht korrumpieren dürfe.245 Diese Ansicht erscheint durch ihren freiheitsverneinenden Charakter und die Konzentration auf das Volkswohl typisch nationalsozialistisch. Die amtliche Strafprozesskommission, die 1938 ihren Bericht über „das kommende deutsche Strafverfahren“ vorlegte, vertrat allerdings einen ganz anderen Standpunkt: Sie sprach sich gegen allgemeine Zeugenausschlüsse aus246 und betonte den hohen Stellenwert des Zeugnisverweigerungsrechts zum Zwecke der Vermeidung von Meineiden und Aussagen mit geringem Beweiswert.247 Aus diesem Grund wollte sie den privilegierten Personenkreis sogar noch ausdehnen.248 In einem faschistisch diktatorischen Staat wäre zu erwarten gewesen, dass zumindest Ausnahmen vom Zeugnisverweigerungsrecht bei Staatsschutzdelikten vorgesehen gewesen wären.249 Hierauf enthält der Bericht der Kommission jedoch keinen Hinweis. Einschränkungen wurden allein für die Beschlagnahmefreiheit vorgesehen, die nur bei „nächsten Angehörigen“ weiterhin gelten und bei „schwersten Verbrechen gegen Volk und Staat, bei Hochverrat und Landesverrat“ komplett abgeschafft werden sollte.250 Da zu diesem Zeitpunkt die körperliche Unter245
Kelz JW 63 (1934), 129, S. 130. Löwe, in: Gürtner (Hrsg.), Strafverfahren: Bericht der amtlichen Strafprozesskommission, 1938, S. 206. 247 Löwe, in: Gürtner (Hrsg.), Strafverfahren: Bericht der amtlichen Strafprozesskommission, 1938, S. 221. 248 Hiervon sollten auch uneheliche Kinder und das Pflegekindschaftsverhältnis erfasst sein, Löwe, in: Gürtner (Hrsg.), Strafverfahren: Bericht der amtlichen Strafprozesskommission, 1938, S. 222. 249 S. in diese Richtung zwar grundsätzlich Hanns Kerrl, Nationalsozialistisches Strafrecht, 1933 (1933), S. 6. Allerdings sollte das nationalsozialistische auf das Volk gerichtete Strafrecht auch besonders die Familie, nicht um das Individuum willen, sondern zu Gunsten der Gemeinschaft schützen: „Daß eine Zeit der inneren Auflösung – denn das ist immer eine materialistisch-individualistische Zeit – die Zelle, auf der das Leben des Volksorganismus sich aufbaut, die Familie, nicht als schutzwürdige Einheit in ihrem Strafrecht kennt, ist selbstverständlich.“, s. ebd., S. 7. 250 Schafheutle, in: Gürtner (Hrsg.), Strafverfahren: Bericht der amtlichen Strafprozesskommission, 1938, S. 288: „Das Interesse der Volksgemeinschaft an der rücksichtslosen Bekämpfung des Staatsfeindes muß hier den Vorrang vor dem Interesse an der Wahrung 246
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suchung Unverdächtiger uneingeschränkt möglich war, überrascht es nicht, dass die Nationalsozialisten in erhöhtem Maße auf dieses Untersuchungsmittel zugreifen wollten, um „erbbiologische Forschung auch im Strafrecht und Strafverfahren“ zu ermöglichen.251 Sie gingen davon aus, dass Kriminalität zum Teil vererbbar war, sodass es nahelag, Verwandte besonders zu untersuchen.252 Der Entwurf der Kommission wurde jedoch nie umgesetzt. 10. Recht der DDR Die DDR übernahm zuerst die RStPO. Im Oktober 1952 wurde eine eigene Strafprozessordnung erlassen, die im Januar 1968 grundlegend – allerdings nicht in Bezug auf die Zeugnisverweigerung – reformiert wurde. Nach beiden Gesetzen bestand eine allgemeine Zeugnispflicht.253 Durch Zwangsmittel und Ordnungshaft konnte jedoch nur das Erscheinen des Zeugen vor Gericht durchgesetzt werden.254 Zudem gab es mit § 26 DDR-StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht mit Belehrungspflicht, das Ehegatten, Geschwistern und Verwandten in gerader Linie zu Gute kam.255 Dies liegt auf der Linie der Volkskammer, die sich explizit für einen Schutz von Ehe und Familie im Strafrecht aussprach.256 Nach § 26 Abs. 2 DDR-StPO war das Zeugnisverweigerungsrecht aber bei Straftaten ausgeschlossen, bei denen für jedermann gem. § 225 DDR StGB eine Anzeigepflicht bestand.257 Diese Pflicht bestand bei Straftaten zulasten des Staates, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Tötungsdelikten, gemeingefährlichen Straftaten, Straftaten im Bereich des Waffenrechts und bei Fahnenflucht.258 § 27 Abs. 4 DDR StPO sah außerdem ein dem § 55 StPO gleichendes Auskunftsverweigerungsrecht auch zu Gunsten der Angehörigen für nicht anzeigepflichtige Straftaten vor.259 Der Zeuge musste vor jeder Vernehmung belehrt werden.260 Zeugnisverweigerungsberechtigte Personen durften in jeder Phase des Prozesses die des Berufsgeheimnisses und ähnlicher Geheimnisse haben. Wegen Hoch- und Landesverrat soll daher eine Beschlagnahme bei Aussageverweigerungsberechtigten auch ohne deren Zustimmung zulässig sein, wenn es zur Wahrheitserforschung unerläßlich ist.“ 251 Schafheutle, in: Gürtner (Hrsg.), Strafverfahren: Bericht der amtlichen Strafprozesskommission, 1938, S. 296. 252 Schafheutle, in: Gürtner (Hrsg.), Strafverfahren: Bericht der amtlichen Strafprozesskommission, 1938, S. 296. 253 § 45 DDR StPO von 1953 und § 25 DDR StPO von 1968. 254 Ministerium der Justiz, Strafprozeßrecht der DDR, 31989, 25; Jansen, Zeugnisverweigerungsrecht, 2004, S. 253. 255 Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 109. 256 Kanzlei des Staatsrates, Das neue Strafrecht, 1968, S. 83. 257 Ministerium der Justiz, Strafprozeßrecht der DDR, 1968, 26. 258 Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 108. 259 Ministerium der Justiz, Strafprozeßrecht der DDR, 1968, 26. 260 Ministerium der Justiz, Strafprozeßrecht der DDR, 31989, 26.
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Aussage ohne Begründung verweigern, woraufhin das Gericht von jedem Versuch, auf den Zeugen einzuwirken und ihn zur Aussage zu bewegen, Abstand nehmen musste.261 Die Ausübung dieses Rechts hatte die Unverwertbarkeit früherer Aussagen aus Vernehmungen zur Folge.262 11. Änderungen von 1877 bis heute Bis heute hat sich das Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichen Gründen nur wenig verändert.263 Seit 1974 muss neben dem Zeugen, der geistig nicht in der Lage ist, die Bedeutung seines Zeugnisverweigerungsrechts zu verstehen, auch sein gesetzlicher Vertreter der Aussage zustimmen.264 Zwei Jahre später wurde § 52 Abs. 1 StPO an das neue Adoptionsgesetz angeglichen.265 1990 trat die StPO dann im Rahmen des Einigungsvertrages auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in Kraft.266 Eine rein terminologische Änderung erfolgte 1990 mit dem neuen Betreuungsgesetz.267 2001 wurden dann nach längerer Diskussion gleichgeschlechtliche Lebenspartner in den Schutzbereich aufgenommen.268 Diese Maßnahme der Gleichberechtigung wurde 2004 durch die Einführung eines dem Verlöbnis gleichstehenden Instituts für gleichgeschlechtliche Partnerschaften komplettiert.269 Seitdem wurde § 52 StPO nicht mehr geändert. 12. Entwicklung der § 52 StPO flankierenden Normen Die § 52 StPO flankierenden Normen unterlagen im Laufe der Zeit indes größerem Wandel. a) Auskunftsverweigerungsrecht – § 55 Abs. 1 StPO Das Auskunftsverweigerungsrecht lässt sich in das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, und in das Recht, Angehörige nicht belasten zu müssen, unterteilen. Erstere Regelung entwickelte sich parallel zum nemo teneturPrinzip, was hier nicht weiter erörtert werden soll.270 Das Auskunftsverweigerungsrecht zu Gunsten Verwandter war bereits in der RStPO und in einigen 261
Ministerium der Justiz, Strafprozeßrecht der DDR, 31989, 26. Ministerium der Justiz, Strafprozeßrecht der DDR, 31989, 26. 263 Mit der Neubekanntmachung der RStPO am 22. März 1924 änderte sich nur die Zählung (§ 52, anstatt § 51 RStPO), s. RGBl. I (1924), S. 299, 327. 264 BGBl. I 1974, S. 3393 (Nr. 132). 265 BGBl. I 1976, S. 1749 (Nr. 78), 1757. 266 Art. 8 EinigVtr. 267 BGBl. I 1990, S. 2002, 2020. 268 § 52 Abs. 1 Nr. 2a StPO eingefügt durch BGBl. I 2001 Nr. 9, S. 266, 275. 269 S. § 52 Abs. 1 Nr. 1 StPO; BGBl. I 2004, Nr. 69, S. 3396, 3405. 270 Vertiefend s. SK-StPO-Rogall, § 55, Rn. 6. 262
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Partikularrechtsordnungen der deutschen Länder enthalten.271 Es beruhte auf dem Gedanken der Folgerichtigkeit des Gesetzes: Wenn das Gesetz ein Zeugnisverweigerungsrecht im Prozess gegen den Verwandten vorsieht, müssen kohärenterweise auch belastende Aussagen außerhalb des eigentlichen Prozesses gegen den Verwandten vom Zeugniszwang ausgenommen werden. Andernfalls würde ein etwaiger Schutz durch das Zeugnisverweigerungsrecht zumindest partiell leerlaufen,272 da die widersinnige Situation entstünde, dass ein Zeuge in einem Verfahren, das nicht gegen seinen Angehörigen gerichtet ist, diesen belasten müsste, während er in einem Verfahren gegen den Angehörigen schweigen dürfte. 1950 wurde die Pflicht zur Belehrung über das Auskunftsverweigerungsrecht eingeführt.273 1968 wurde, nachdem dies aus der Fassung des § 54 RStPO von 1877 noch explizit gestrichen wurde, das Auskunftsverweigerungsrecht auch auf die mögliche Belastung hinsichtlich einer Ordnungswidrigkeit ausgeweitet.274 Seitdem ist § 55 StPO unverändert. b) Ausnahme von der Editionspflicht und Beschlagnahmeverbot – §§ 95 Abs. 2 S. 2, 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO Schon 1821 sprach sich Mittermaier für ein Beschlagnahmeverbot aus. Dass dabei die heute Zeugnisverweigerungsberechtigten eine Sonderstellung innehaben sollten, wurde von ihm jedoch nicht vorgeschlagen, vielmehr machte er sich für ein generelles Beschlagnahmeverbot für Schriftstücke stark.275 Einen Schritt hin zur heutigen Rechtslage ging Abegg 1842, indem er ein Beschlagnahmeverbot von Korrespondenz zwischen Familienangehörigen forderte.276 Mit der Begründung der Nähe von Zeugnis- und Editionspflicht wurden in § 105 der Hannoverschen StPO von 1850 und in Art. 200 das Sächsischen StPO von 1855 ein Ausschluss von der Editionspflicht Angehöriger erlassen.277 Art. 201 der Sächsischen StPO sah eine generelle Editionspflicht für alle relevanten Gegenstände vor, nicht nur für Urkunden, wobei Angehörige des Beschuldigten auch von dieser weiten Editionsflicht ausgenommen wa-
271 § 54 RStPO; Hahn, Materialien Bd. III Tbd. 1, 1897, S. 108; § 107 der Badischen StPO von 1864; Art. 107 § 2 der Oldenburgischen StPO von 1857; § 172 der Hamburgischen StPO von 1869. § 54 RStPO wurde mit der Neubekanntmachung des GVG und der StPO am 22.03.1924 ohne inhaltliche Änderungen zu § 55 StPO, s. RGBl. I S. 299, 327. 272 Hahn, Materialien Bd. III Tbd. 1, 1897, S. 108. 273 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Konstenrechts, BGBl. I S. 455, 481. 274 Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, BGBl. I S. 481, 491. 275 Mittermaier NAchrCrimR 1821, 306, S. 316. 276 Abegg NAchrCrimR 1842, 553, S. 588. 277 Planck, Systematische Darstellung, 1857, S. 237; Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 27.
II. Historische Entwicklung
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ren.278 Allerdings garantierten Art. 200 und Art. 201 eben nur eine Ausnahme von der Editionspflicht. Sofern der Verdacht bestand, dass für den Prozess wichtige Gegenstände beim Verweigerungsberechtigen zu finden waren, durften diese beschlagnahmt werden.279 § 105 der Hannoverschen StPO von 1850 und Art. 134 Abs. 2 der Württembergischen StPO von 1843 sahen indes eine Beschlagnahmefreiheit von Korrespondenz zwischen Verwandten vor. Anders als in der heutige § 97 StPO galt die Beschlagnahmefreiheit unabhängig davon, in wessen Besitz sich die Korrespondenz befand.280 1877 wurde schließlich in § 95 RStPO ein Ausschluss der Angehörigen von der Editionspflicht und in § 97 RStPO ein Beschlagnahmeverbot für schriftliche Korrespondenzen zwischen Verwandten eingeführt. Begründet wurde dies mit der Parallelität zwischen Zeugnis und Beschlagnahme.281 c) Untersuchungsverweigerungsrecht – § 81c Abs. 3 StPO Die körperliche Untersuchung Dritter wurde vor Einführung der RStPO ohne Rechtsgrundlage durchgeführt.282 Es wurde keine Notwendigkeit für eine Regelung gesehen, da es um bloße Duldungshandlungen ging, die keine aktive Mitwirkung der betroffenen Personen erforderten.283 Daher beinhaltete auch die RStPO zunächst keine explizite Regelung, was schon 1877 kritisiert wurde.284 Dies führte dazu, dass Verwandte genau wie jeder andere als Beweismittel herangezogen werden konnten. 1889 lehnte das Reichsgericht explizit eine Vergleichbarkeit von Untersuchungspflicht und Zeugnispflicht und damit ein Verweigerungsrecht ab.285 Erst 1933 wurde mit dem Ausführungsgesetz zum Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung mit § 81a RStPO eine Rechtsgrundlage für die körperliche Untersuchung geschaffen.286 Ein Verweigerungsrecht wurde erst 1950 im Rahmen des Vereinheitlichungsgesetzes mit § 81c StPO als Rechtsgrundlage für die Untersuchung Unverdächtiger eingeführt. Diese Lösung war Ausdruck eines Kompromisses, denn die SPD forderte die kom278
Planck, Systematische Darstellung, 1857, S. 238; Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 28. 279 Schwarze, Commentar, 1856, S. 284. 280 Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 28. 281 Hahn, Materialien Bd. III Tbd. 1, 1897, S. 124. 282 Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 38. 283 Planck, Systematische Darstellung, 1857, S. 223. 284 Ehrenfreund GA 1906, 19, S. 25. 285 RGSt 19, 364, 366; SK-StPO-Rogall, § 81c, Rn. 4. Auch in einem Gesetzesvorschlag von 1910 wurde dies weiterhin abgelehnt, s. Bundesministerium der Justiz, Materialien Bd. 13, 1960, S. 3206; Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 40. 286 RGBl.I, 995, 1000; LR-StPO-Krause, § 81c, Rn. Entstehungsgeschichte; Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 40.
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B. Deutschland – Subjektive Zeugnisverweigerungsrechte
plette Abschaffung der körperlichen Untersuchung Unverdächtiger, da sie darin einen Verstoß gegen die Menschenwürde erblickte.287 Die Gesetzesbegründung brach mit der jahrzehntealten Auffassung, dass Untersuchung und Zeugnis nicht vergleichbar seien.288 Die Passivität der Untersuchung im Kontrast zur aktiven Teilnahme bei der Aussage fand keine weitere Erwähnung.289 Die letzte relevante Änderung war 1974 die Ausübung des Verweigerungsrechts bei Verstandesunfähigkeit parallel zu § 52 StPO.290 d) Akustische Wohnraumüberwachung Angehöriger – § 100c Abs. 6 S. 2 StPO Schon 1968 wurde die heimliche Telefonüberwachung für Nachrichtendienste ermöglicht, ohne auf Zeugnisverweigerungsrechte aus persönlichen oder beruflichen Gründen Rücksicht zu nehmen.291 Zwar ist die Telefonüberwachung mittlerweile in § 100a StPO geregelt – eine Berücksichtigung des Angehörigenverhältnisses gibt es aber immer noch nicht. Anders entwickelte sich die akustische Wohnraumüberwachung: Im Rahmen des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität vom 04.05.1998292 wurde zur Regelung des ‚großen Lauschangriffs‘ in § 100d StPO der Abs. 3 a.F. eingefügt. Mit dem 37. StrÄndG vom 24.06.2005 wurde die spezielle Behandlung zeugnisverweigerungsberechtigter Verwandter beim Einsatz technischer Mittel zur Wohnraumüberwachung in § 100c StPO transferiert.293 e) Verlesungs- und Umgehungsverbot – § 252 StPO Bereits die Badische oder auch die Hamburgische StPO kannten Verwertungsverbote im Sinne des § 252 StPO.294 1877 wurde mit § 251 RStPO eine Parallelvorschrift zum heutigen § 252 StPO erlassen. Der ursprüngliche Entwurf sah dieses Verbot jedoch nicht vor. Erst in der ersten Lesung des Gesetzesvorschlags wurde der Antrag auf Aufnahme einer solchen Regelung als § 213a gestellt, was zum Teil mit dem Argument auf Ablehnung stieß, dies sei eine Selbstverständlichkeit, die nicht explizit ins Gesetz aufgenommen werden müsse. Auch in der zweiten Lesung führte § 213a zu heftigen Diskus287
Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 41. Zu dieser Auffassung s. BGHSt 12, 235, 237 – GSSt. 289 Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 41. 290 S. § 81c Abs. 3 S. 2 ff.; vgl. dazu BT-Drucks. 7/551, S. 63; Rieß NJW 1975, 81, S. 83; SK-StPO-Rogall, § 81c, Rn. 8. 291 Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz (G10) vom 13.8.1968 (BGBl. I S. 969); Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 43. 292 BGBl. I S. 845. 293 BGBl. I S. 239. 294 § 240 Abs. 2 Badische StPO von 1864 und § 171 Hamburgische StPO von 1869. 288
III. Ratio der deutschen Regelung
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sionen, einerseits, weil die Beweisführung dadurch deutlich erschwert werde, und auch, weil die Befürchtung bestand, dem Beschuldigten könne so ein Entlastungsbeweis abgeschnitten werden. Denn in der Situation, in der eine verweigerungsberechtigte Person bereits im Ermittlungsverfahren zu Gunsten des Angehörigen ausgesagt hatte und dann in der Verhandlung schweigt, werde der Angeklagte unbilligerweise benachteiligt. Letztendlich wurde sich jedoch geeinigt, § 251 RStPO zu verabschieden, da der Zeuge jede veränderte Situation als schwerwiegendere Belastung empfinden könne, sodass ihm erneut die Möglichkeit gegeben werden müsse, über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts zu entscheiden.295
III. Ratio der deutschen Regelung Der Schutzzweck des § 52 StPO ist bereits seit mehr als einem Jahrhundert lebhaft umstritten. Schwierigkeiten ergeben sich zum einen daraus, dass Unklarheit darüber besteht, auf welche Weise und wem gegenüber die Vorschrift überhaupt Schutz vermittelt, und zum anderen daraus, dass eine große Fülle an unterschiedlichen rationes diskutiert wird.296 So hat Paeffgen Recht, wenn er schreibt: „Die Frage nach der Ratio der Zeugnisverweigerungsrechte ist vielfältig erörtert, gleichwohl aber von einer auch nur einigermaßen konsentierten Lösung weit entfernt.“297 Möglich ist es, § 52 StPO auf einen einzigen Schutzzweck zu reduzieren, wobei dann andere Auswirkungen des Zeugnisverweigerungsrechts naturgemäß vernachlässigt werden müssen. Umgekehrt können auch unterschiedliche Schutzzwecke miteinander kombiniert werden. Auch wie eine Regel faktisch wirkt, kann Hinweise auf den Schutzzweck geben.298 Zudem muss der heutige Schutzzweck nicht zwingend demjenigen entsprechen, den der historische Gesetzgeber im Auge hatte. Das Zeugnisverweigerungsrecht stellt zunächst eine Einschränkung des staatlichen Strafanspruchs dar, indem auf ein ansonsten verfügbares Beweismittel verzichtet wird. Diese Selbstbeschränkung des Staates beruht auf dem Grundgedanken, dass das legitime Ziel der staatlichen Strafverfolgung nicht um jeden Preis vorangetrieben werden darf.299 Aus der Kollision staatlicher und privater Interessen folgt in einem liberalen Rechtsstaat die Einschränkung des Strafanspruchs. Es stellt sich daher die Frage, welche privaten Inte295
SK-StPO-Velten, § 252, Rn. 1. Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 112. 297 Paeffgen, in: Rieß/Hanack (Hrsg.), FS Rieß, 2002, S. 415. 298 Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 99. 299 Karitzky, Geschichte, 1959, S. 7. 296
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B. Deutschland – Subjektive Zeugnisverweigerungsrechte
ressen es genau sind, die dem Gesetzgeber wichtig genug erscheinen, um die Sachaufklärung und den Strafanspruch zurücktreten zu lassen. 1. Wahrheitsfindung als ursprüngliche ratio Als mögliche ratio wird zunächst der Schutz der Wahrheitsfindung diskutiert. In der Tat ging die ständige Rechtsprechung bis in die 1950er Jahre davon aus, dass § 52 StPO und seine flankierenden Normen (unter anderem) der Wahrheitsfindung dienen. 1958 wandte sich der Große Strafsenat des BGH jedoch explizit von dieser Auffassung ab.300 Die Literatur – allen voran Eberhart Schmidt – sprach sich sogar noch bis in die 1960er Jahre mehrheitlich für diesen Schutzzweck aus.301 Nach der Rechtsprechungsänderung verlor diese Meinung jedoch immer weiter an Unterstützung und wird heute nur noch höchst selten als primärer Zweck des § 52 StPO genannt.302 a) Argumente für die Wahrheitsfindung Für die Wahrheitsfindung als Schutzzweck spricht die geschichtliche Entwicklung der Zeugenausschlüsse. Sie dienten über Jahrhunderte ganz vorwiegend der Sicherung des Strafprozesses, indem sie unzuverlässige und unglaubwürdige Zeugen ausschalten sollten.303 So sah schon Paulus durch die Regelung, die später auch Eingang in die Pandekten fand, explizit die Wahrheitsfindung geschützt.304 Teilweise wurde den Beweisregeln des römischen Rechts aber auch eine subjektive Schutzrichtung zu Gunsten des Zeugen
300
So noch BGHSt 10, 393; Änderung dann mit BGHSt 11, 213, 217 – GSSt; danach ständige Rspr.: BGHSt 45, 203, 207; BGH NJW 1961, 1484. 301 Schmidt JZ 1958, 596, S. 597; RG JW 1925, 370 mit Anm. Wegner; aber auch: Löwe, in: Gürtner (Hrsg.), Strafverfahren: Bericht der amtlichen Strafprozesskommission, 1938, S. 221 aus nationalsozialistischer Sichtweise; Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 61; Gossrau MDR 1958, 468, S. 468; Gössel NJW 1981, 649, S. 649; Michaelis NJW 1969, 730, S. 730 f.; Kelz JW 63 (1934), 129, S. 131; Busch JZ 1953, 702, S. 703; Niese JZ 1953, 219, S. 223; Schmidt JZ 1958, 596, S. 600; Grünwald, Beweisrecht, 1993, S. 21; Fezer/Wohlers, Strafprozessrecht, 21995, Rn. 15; Kett-Straub ZRP 2005, 46, S. 47; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 282014, S. 203; Schwarze GS 21 (1869), 60, S. 69; Klöhn, Schutz der Intimsphäre, 1984, S. 153; Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 389, der zumindest eine flankierende Wirkung für die Wahrheitsfindung durch die Belehrung erkennt; Busch JZ 1953, 702, S. 703; Niese JZ 1953, 219, S. 223; kritisch zur Argumentation Schmidts: Degener StV 2006, 509, S. 511. 302 Fezer/Wohlers, Strafprozessrecht, 21995, Rn. 15; Kett-Straub ZRP 2005, 46, S. 47. 303 Schmidt JZ 1958, 596, S. 597; Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 57, der die geschichtliche Entwicklung allein jedoch nicht als eindeutig bewertet; i.E. kritisch: Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 51. 304 Paulus, Sententiarum receptarum ad filium libri quinque, 1594, 5.
III. Ratio der deutschen Regelung
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unterstellt.305 Jedenfalls für das Mittelalter scheint es hingegen nicht belegbar, dass die Zeugenausschlüsse einem anderen Grund geschuldet waren als dem Zweifel an der Glaubwürdigkeit verwandter Zeugen. Denn nicht nur Familienangehörige, sondern auch Kinder, Geisteskranke und Frauen durften vor Gericht zeitweise überhaupt nicht aussagen. Nun könnte man zwar argumentieren, dass Familienangehörige aus anderen Gründen von der Aussage ausgeschlossen waren als der Rest der verdächtigen Zeugen. Es scheint jedoch nicht naheliegend, dass der mittelalterlichen Gesetzgeber eine derartige Sensibilität für die Befindlichkeiten von angehörigen Zeugen aufwies. Dies änderte sich erst, als sich Humanismus und Liberalismus im Gebiet des heutigen Deutschlands verbreiteten und zu einer ‚Entdeckung‘ des Individuums führten.306 Doch für die Zeit davor kann mit gutem Grund der Schutz der Wahrheitsfindung als historische Wurzel der Zeugenausschlüsse angesehen werden.307 b) Geringe Glaubwürdigkeit Angehöriger Für den Schutz der Wahrheitsfindung als ratio spricht neben der historischen Entwicklung der generell geringere Wert der Aussagen von Personen, die in einer emotionalen Beziehung zum Beschuldigten stehen.308 Deshalb meinte auch der Gesetzgeber der RStPO, dass durch das Zeugnisverweigerungsrecht Falschaussagen vermieden werden.309 Denn die Aussage eines Zeugen im Prozess gegen seinen Angehörigen kann für diesen belastend sein, sodass er mehr als ein emotional unbeteiligter Dritter dazu neigen dürfte, zu Gunsten seines Verwandten die Unwahrheit zu sagen. Deshalb wäre eine erzwungene Aussage vielfach wenig glaubhaft.310 Indem nur derjenige Zeuge gehört wird, der sich (aus rechtlicher Perspektive) aus freien Stücken und nachdem er über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt wurde, zur Aussage entschieden hat, dürfte der Wahrheitsgehalt der Aussage in der Regel höher sein. Praktisch ist jedoch zu bedenken, dass sich ein Angehöriger trotz seines Zeugnisverweigerungsrechts de facto aus emotionaler Verbundenheit genötigt fühlen kann, 305
Vgl. Beling, Beweisverbote, 1903, S. 15; SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 2. In diese Richtung auch Beling, Beweisverbote, 1903, S. 15: „Vollends im gemeinen deutschen Strafprozess klärte sich die theoretische Auffassung mehr und mehr in dem Sinne, dass die Angehörigen nicht um eines ihnen entgegengebrachten Misstrauens willen, sondern um ihrer selbst willen einer Sonderbehandlung zu unterwerfen seien.“ 307 So auch Karitzky, Geschichte, 1959, S. 68, die zwar als Grund für das Zeugnisverweigerungsrecht von 1877 auch den Persönlichkeitsschutz anerkennt, die Wurzeln des damaligen § 51 RStPO aber noch klar im Zwecke der Wahrheitsfindung sieht. 308 In diese Richtung weisen Peters, Fehlerquellen Bd. 2, 1972, S. 53 und Büttikofer, Die falsche Zeugenaussage, 1975, S. 101. 309 Hahn, Materialien Bd. III Tbd. 1, 1897, S. 106. 310 Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 114. 306
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zu Gunsten des Beschuldigten auszusagen, auch wenn das Schweigen de jure nicht zu Ungunsten des Beschuldigten gewertet werden darf.311 Rengier sieht die Wahrheitsfindung dadurch gestärkt, dass § 52 StPO dem Richter, wenn sich der Angehörige zur Aussage entschließt, die eingeschränkte Glaubwürdigkeit des Zeugen vor Augen führe, weil der Richter den Zeugen jedenfalls über § 52 StPO belehren muss.312 Die Gegenposition führt hingegen an, dass mit der Einführung der RStPO alle Beweisregeln, die generelle Glaubwürdigkeitsurteile beinhalteten, abgeschafft worden seien.313 An ihre Stelle sei das Prinzip der freien Beweiswürdigung getreten, das keinen Beweis mehr pauschal wegen eines vermeintlich geringen Beweiswerts ausschließe.314 Auch die Belehrungspflicht als solche könne keinen Zweck erklären oder beinhalten, sondern diene allein zur Umsetzung eines Zwecks, der außerhalb der Belehrungspflicht zu finden sei.315 Dagegen setzt jedoch Eb. Schmidt, dass die freie Beweiswürdigung dem Gesetzgeber nicht verbiete, durch Normen der StPO den Richter zur Wachsamkeit zu ermahnen.316 Dass die Schärfung des Problembewusstseins des Richters auch in einer StPO der freien Beweiswürdigung möglich ist, vertritt auch Schöneborn. Zwar diene nicht § 52 StPO, wohl aber § 68a Abs. 2 S. 1 StPO der Wahrheitsfindung insofern, als dass dadurch der Richter verpflichtet werde, nach einer verwandtschaftlichen Verbindung des Zeugen mit dem Angeklagten zu fragen.317 So werde seine Aufmerksamkeit auf emotionale Bindungen, die zu einer Falschaussage führen könnten, gelenkt.318 Dem ist zuzustimmen. Allerdings geht Eb. Schmidts Position zu § 52 StPO über diesen bloßen Hinweis an den Richter hinaus, da dem Richter ein Beweismittel von vornherein entzogen wird, wenn sich der Zeuge auf § 52 StPO beruft. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung erlaubt aber gerade keinen pauschalen Beweismittelaus-
311
LK-StGB-Ruß, § 157, Rn. 10; Bergmann, Milderung der Strafe, 1988, S. 90; Schneider, Grund und Grenzen, 1991, S. 231. 312 Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 63. 313 S. Beling, Beweisverbote, 1903, S. 13; Meuthien, Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 1955, S. 18; Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100; SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 12; Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 1211; Hölscher, Auskunftsverweigerungsrecht, 1972, S. 185. 314 Zwar kennt die StPO noch immer Beweisausschlüsse, diese dienen indes nicht der Wahrheitsfindung, sondern schützen Individualinteressen. 315 Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 74. 316 Schmidt JZ 1958, 596, S. 600. 317 Schöneborn MDR 1974, 457, S. 458; so auch Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 48; Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 22. Wobei sie sich noch auf die alte Rechtslage, bei der die Verpflichtung zur Erforschung eines Verwandtschaftsverhältnisses noch in § 68 Abs. 4 StPO geregelt war, berufen. 318 Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 58.
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schluss, der allein auf der (vermeintlich) geringeren Qualität des Beweises beruht.319 c) Erschwerung der Wahrheitsfindung Gegen den Schutz der Wahrheitsfindung als ratio des § 52 StPO wird argumentiert, dass die Norm die Wahrheitsfindung gar nicht schützen, sondern allenfalls erschweren könne. Stünde tatsächlich die Wahrheitsfindung im Vordergrund, so hätte sich der Gesetzgeber für einen gänzlichen Zeugenausschluss entscheiden müssen, wenn er denn die Gefahr einer Falschaussage als so eklatant hoch einschätzt.320 § 52 StPO gefährde die Wahrheitsfindung zum einen, weil Zeugen schweigen dürfen, die andernfalls die Wahrheit ausgesagt hätten. Zum anderen sei das Verweigerungsrecht für die Wahrheitsfindung kontraproduktiv, weil auch eine Falschaussage wichtige Informationen liefern könne, sofern das Gericht merkt, dass der Zeuge nicht die Wahrheit sagt.321 Im Sinne des Wahrheitsschutzes müsse daher der verwandte Zeuge komplett ausgeschlossen werden, oder es müsse eine absolute Aussagepflicht gelten. Die vermittelnde Lösung gefährde bloß die Wahrheitsfindung.322 Gegen diesen Standpunkt ist allerdings einzuwenden, dass eine gesetzliche Regelung einen bestimmten Zweck verfolgen kann, ohne diesen perfekt erreichen zu müssen. Eine Gesetzgebung, die sich am Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu orientieren hat, muss vielmehr andauernd Kompromisse finden. So würde ein absoluter Zeugenausschluss die Wahrheitsfindung mindestens ebenso beeinträchtigen, da auch aussagewillige Angehörige als Zeugen ausfielen. Eine absolute Pflicht hingegen würde die Individualinteressen aussageunwilliger Zeugen übermäßig beschneiden. Dass bereits der Gesetzgeber der RStPO die Individualinteressen solcher Zeugen im Blick hatte, zeigen die Motive, wo es heißt, „dass es vorzuziehen sei, lieber auf ein Beweismittel zu verzichten, als einen nahen Angehörigen des Beschuldigten der Versuchung auszusetzen, zu Gunsten des letzteren einen Meineid zu leisten“.323 Die 319
KK-StPO-Ott, § 261, Rn. 28. Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 53; Degener StV 2006, 509, S. 511; Schütz, Verletzung, 1960, S. 68; krit. Schöneborn GA 1976, 93, S. 94. 321 Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 115, die § 52 StPO für eine anachronistische Regelung halten; Für den Wert einer Falschaussage: Schneider, Grund und Grenzen, 1991, S. 232. 322 Paeffgen, in: Rieß/Hanack (Hrsg.), FS Rieß, 2002, S. 416. 323 Hahn, Materialien Bd. III Tbd. 1, 1897, S. 106; s. dazu auch Schöneborn MDR 1974, 457, S. 457. Diese Passage ist allerdings nicht eindeutig und steht unterschiedlichen Wertungen offen, je nachdem ob man den Schwerpunkt eher darin sieht, den Angehörigen vor der Versuchung eines Meineides zu bewahren oder einen Meineid als solchen zu verhindern. S. Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 113. 320
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B. Deutschland – Subjektive Zeugnisverweigerungsrechte
Schaffung eines fakultativen Zeugnisverweigerungsrechts muss mithin als Kompromisslösung des Gesetzgebers zwischen beiden Extremen aufgefasst werden. Aus diesem womöglich unbefriedigenden Kompromiss folgt aber noch nicht, dass der Schutz der Wahrheitsfindung zwingend als ratio ausscheidet. d) Flankierende Normen Überzeugend ist aber das Argument, dass die den § 52 StPO flankierenden Normen – allen voran § 81c Abs. 3 StPO – dem Schutz der Wahrheitsfindung nicht dienen können.324 Denn eine körperliche Untersuchung wird durch die verwandtschaftliche Beziehung nicht fehleranfälliger. Dasselbe gilt für alle anderen Ermittlungsmaßnahmen, an denen der Angehörige entweder nur passiv teilnimmt oder die heimlich durchgeführt werden. Bevor man allerdings solche Schlussfolgerungen zieht, muss geklärt werden, ob den §§ 52 und 81c Abs. 3 StPO ohne weiteres ein einheitlicher Schutzzweck unterstellt werden kann. In § 81c Abs. 3 StPO heißt es, die Maßnahme könne „aus den gleichen Gründen wie das Zeugnis verweigert werden“.325 Zwei Möglichkeiten kommen für die Auslegung dieses Satzes in Frage: Einerseits könnte mit den gleichen Gründen allein das formale Kriterium der Verwandtschaft gemeint sein. Andererseits könnten die gleichen Gründe aber auch dieselbe ratio meinen.326 Da § 81c Abs. 3 StPO nicht dem Zweck der Wahrheitsfindung dienen kann, würde die zweite Auslegungsalternative auch für § 52 StPO die Wahrheitsfindung als ratio ausschließen.327 In diese Richtung weist das Urteil des BGH vom 20. Dezember 2012 zum sog. Beinahetreffer. Der 3. Senat kommt hier aufgrund eines Vergleiches der Situation für die Verwandten des Beschuldigten im Prozess – und nicht allein aufgrund ihrer formellen Stellung als Verwandte – zu dem Ergebnis, dass auch bei der DNA-Reihenuntersuchung gem. § 81h StPO die emotional schwierige Lage der Verwandten berücksichtigt werden müsse.328 Somit sieht auch der BGH die Situation des Zeugen und nicht allein die formelle Stellung als Angehöriger als ausschlaggebend an. Dieser Ansatz ist überzeugend und lebensnah. Verlangt man also eine gemeinsame ratio für alle Privilegierungen
324
Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 426. [Hervorhebung der Verfasserin.] Der Wortlaut der anderen flankierenden Normen ist ähnlich. 326 Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 122. 327 Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 76; Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 54; Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 115. 328 BGHSt 58, 84; s.a. BGHSt 12, 235, 238 f. 325
III. Ratio der deutschen Regelung
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der Angehörigen im Strafverfahren, scheitert aus den oben genannten Gründen die Wahrheitsfindung schon an § 81c Abs. 3 StPO.329 e) Zwischenergebnis Auch wenn die alten Zeugenausschlüsse wohl dem Schutz der Wahrheitsfindung dienten, so hat sich spätestens mit Einführung dieser flankierenden Vorschriften der Schutzzweck verschoben. Indem der Gesetzgeber in den flankierenden Normen auf § 52 SPO Bezug genommen hat, hat er deutlich gemacht, dass es ihm zumindest nun nicht mehr um die Sicherung der Wahrheitsfindung geht. Stattdessen erachtet er Aspekte des Individualschutzes für wichtiger. Darum wird die Wahrheitsfindung heute überwiegend höchstens als mittelbarer bzw. sekundärer Zweck oder Rechtsreflex des Zeugnisverweigerungsrechts angesehen.330 2. Nemo tenetur Als weitere ratio kommt die Sicherung des nemo-tenetur-Prinzips in Frage.331 Der nemo-tenetur-Ansatz kann in zwei unterschiedliche Richtungen entwickelt werden: Zum einen könnte nemo tenetur zugunsten des Beschuldigten, zum anderen zugunsten des Zeugen wirken. a) Nemo tenetur des Beschuldigten Nach Ansicht einiger stellt § 52 StPO ein passives Verteidigungsrecht des Beschuldigten dar, das den Austausch innerhalb der Familie sichert.332 Es sei vollkommen natürlich, dass sich der Beschuldigte mit seiner Familie austausche. Wenn die Familie aber über den Inhalt dieser vertraulichen Gespräche befragt werden könnte, so könne wiederum beim Beschuldigten ein gesteigerter Druck entstehen, sich auch selbst zu den Vorwürfen zu äußern. Um dies 329 Kritik hieran äußert z.B. Eckstein, der bestreitet, dass § 52 und § 81c Abs. 3 StPO demselben Zweck dienen, s. Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 427. 330 Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 115; Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 68; AK-StPO-Kühne, § 52, Rn. 1; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 76; Paeffgen, in: Rieß/Hanack (Hrsg.), FS Rieß, 2002, S. 416; Habscheid, in: Conrad (Hrsg.), GS Peters, 1967, S. 868; Rogall, Beschuldigte als Beweismittel, 1977, S. 152; Beling, Beweisverbote, 1903, S. 13. 331 Diese ratio wird überwiegend – häufig auch ohne Begründung – abgelehnt, s. Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 73; Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 50; Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 57; LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 52, Rn. 1; KKStPO-Senge, § 52, Rn. 1; KMR-StPO-Neubeck, § 52, Rn. 1. 332 Petry, Beweisverbote, 1971, S. 45 ff.; Freund NJW 1975, 2057, S. 2058; eventuell auch LG Darmstadt, StV 1990, 104.
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B. Deutschland – Subjektive Zeugnisverweigerungsrechte
zu vermeiden, werde den Angehörigen ein Zeugnisverweigerungsrecht eingeräumt.333 Gegen diese Argumentation spricht jedoch, dass die Ausübung des § 52 StPO gerade nicht zur Disposition des Beschuldigten steht.334 Der Selbstbelastungsfreiheit würde so außerhalb des ursprünglich anvisierten Staat-Bürger-Verhältnisses Geltung verschafft werden. Der Beschuldigte ist gegenüber dem Staat im Sinne von nemo tenetur aber nur dann schutzbedürftig, wenn der Staat überhaupt beteiligt ist. Denn nur in einer durch den Staat initiierten Vernehmungssituation, bei der der Staat die strukturell stärkere Position einnimmt, herrscht ein solch psychischer Zwang, dass sich die vernommene Person dazu genötigt fühlen kann, ihr Wissen preiszugeben. Ganz anders ist es, wenn das Wissen der Zeugen aus einem gleichberechtigten Gespräch mit dem Beschuldigten stammt. Von einem solchen Gespräch geht für den Beschuldigten kein gesteigerter Druck aus, sich selbst zu belasten. Folglich ist der Beschuldigte in dieser Situation nicht schutzbedürftig.335 Die Ansicht, nach der § 52 StPO die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten bezwecken soll, versucht letztlich, die Selbstbelastungsfreiheit zu einer Freiheit von belastenden Beweisen umzugestalten. Ein solch weites Verständnis von nemo tenetur birgt das Potential, die gesamte Strafverfolgung ‚lahm zu legen‘.336 Eindeutig gegen einen primären Schutz des Beschuldigten spricht zudem, dass sowohl be- als auch entlastende Tatsachen verschwiegen werden dürfen,337 und dass der Zeuge frei über seine Aussage disponieren kann.338 Da der Beschuldigte keinen Einfluss darauf hat, kann er nicht als Begünstigter des § 52 StPO angesehen werden.339 Zwar kann ein Zeugnisverweigerungsrecht reflexartig auch die Verteidigungssituation des Beschuldigten verbes-
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Petry, Beweisverbote, 1971, S. 47; Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 60. 334 Schmidt JZ 1958, 596, S. 597; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 73; Petry, Beweisverbote, 1971, S. 37; s.a. Paeffgen, in: Rieß/Hanack (Hrsg.), FS Rieß, 2002, S. 419; Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 375. 335 Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 11; Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 50; im Ergebnis so auch Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 34. 336 Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 34; MüKoStPO-Percic, § 52, Rn. 2. 337 Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 115. 338 Schmidt JZ 1958, 596, S. 597; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 73; Petry, Beweisverbote, 1971, S. 37; s.a. Paeffgen, in: Rieß/Hanack (Hrsg.), FS Rieß, 2002, S. 419; Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 375; Petry, Beweisverbote, 1971, S. 48 räumt dies selbst ein. 339 So auch OLG Koblenz, Beschluss vom 29.01.2014 – 1 Ss 125/13 (Jurion).
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sern.340 Allerdings kann es sich auch gerade umgekehrt auswirken, wenn der Verwandte trotz einer möglichen Entlastung eine Aussage verweigert.341 b) Nemo tenetur des Zeugen Die zweite Auffassung, die sich auf das nemo tenetur-Prinzip bezieht, sieht nicht den Beschuldigten, sondern den Zeugen geschützt, da die Situation für den Zeugen bei einer erzwungenen Aussage gegen seinen Angehörigen ebenso belastend sei wie für den Beschuldigten bei einer erzwungenen Selbstbelastung.342 Die Befürworter dieser Auffassung sehen zwischen dem Zeugnisverweigerungsrecht und dem nemo tenetur-Prinzip sowohl in Bezug auf die emotionale Situation als auch in den historischen Ursprüngen Parallelen.343 Allen voran Rogall argumentiert, dass die Gesetzgebungsmaterialien den Schutz des Zeugen als Zweck des § 51 RStPO ausweisen. Die Schutzwürdigkeit des Zeugen folge nach heutiger Ansicht aus dessen Allgemeinen Persönlichkeitsrecht, dessen spezielle auf den Strafprozess gemünzte Ausformung das nemo tenetur-Prinzip darstelle.344 Auch § 55 StPO sei nach ganz h.M. Ausdruck dieses Prinzips und § 52 StPO schütze vor derselben Gefahr, nämlich einen Angehörigen belasten zu müssen, nur dass diese Gefahr nun schon sehr viel konkreter ist, da es bereits zu einem Prozess oder zumindest zu Ermittlungen gegen den Angehörigen gekommen ist.345 Das BVerfG und der 2. Senat des BGH haben diesen Ansatz von Rogall aufgenommen und im Zwang zur Belastung eines Angehörigen eine Parallele zum Zwang zur Selbstbelastung erkannt.346 Gegen diese ‚gefühlte Selbstbelastung‘ wird jedoch eingewandt, dass eine solch extreme Belastung des Zeugen durch die Aussage gegen den Angehörigen einen absoluten Ausnahmefall darstelle und daher nicht als allgemeingültige Begründung für § 52 StPO
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Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 106; Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 37. 341 Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 106. 342 So Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 45, die den Zweck des § 52 StPO trotzdem nicht in der Sicherung des nemo-tenetur-Prinzips erkennt; ähnlich auch Rogall, Beschuldigte als Beweismittel, 1977, S. 64; unterstützend auch Degener StV 2006, 509, S. 511. 343 Rogall, Beschuldigte als Beweismittel, 1977, S. 64; Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, 1990, S. 35, der eine Verwandtschaft des Informationsbeherrschungsrechts aus der Selbstbezichtigungsfreiheit mit dem Informationsbeherrschungsrecht des Zeugnisverweigerungsrechts feststellt. Nemo tenetur werde „im Hinblick auf Art. 6 GG […] auf den Schutz von Familienmitgliedern erweitert“. 344 So auch Paeffgen, in: Rieß/Hanack (Hrsg.), FS Rieß, 2002, S. 417. 345 SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 8. 346 BVerfG NStZ-RR 2004, 18, 19; BGH NStZ 2014, 596.
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herhalten könne.347 Außerdem greife § 52 StPO auch in Fällen, in denen eine solch schwere Belastung gar nicht besteht.348 Gegen einen Schutz des Zeugen durch nemo tenetur spricht auch die Inkongruenz der Wirkung von Selbstbelastungsfreiheit einerseits und § 52 StPO andererseits.349 Denn Beschuldigte und Zeugen werden bei denselben Ermittlungsmaßnahmen sehr unterschiedlich behandelt. Wenn die akustische Wohnraumüberwachung gegenüber dem Beschuldigten möglich ist, warum sollte sie beim Zeugen gem. § 100c Abs. 6 S. 2 StPO nur eingeschränkt möglich sein, wenn doch für beide Personengruppen derselbe Maßstab gelten soll? Zwar darf bei Ausübung sowohl von nemo tenetur als auch von § 52 StPO das Schweigen nicht in die Beweiswürdigung einfließen.350 Der Beschuldigte darf allerdings nicht nur schweigen, sondern auch die Unwahrheit sagen; der Zeuge darf nur schweigen, nicht aber lügen.351 Bei der körperlichen Untersuchung ist der Zeuge wiederum im Vorteil, denn nur er darf nach § 81c Abs. 3 StPO eine Untersuchung verweigern. Wenn § 52 StPO und seine flankierenden Normen allein auf dem nemo tenetur-Grundsatz beruhen würden, so wäre dieser überschießende Schutz nicht zu erklären.352 Das Argument, dass § 55 StPO nemo tenetur schütze und dass dies daher für § 52 StPO ebenso gelten müsse, ist zudem ein fehlerhafter Erst-rechtSchluss. Die h.M. bezieht sich wohl hauptsächlich auf § 55 Abs. 1 Alt. 1 StPO, der es dem Zeugen erlaubt zu schweigen, falls er sich selbst belasten müsste.353 Die zweite Alternative des § 55 StPO, die Gefahr der Belastung eines Verwandten, bleibt bei der Diskussion um den Zweck des § 55 StPO zumeist unberücksichtigt. Kritisiert wird dieser Ansatz auch, weil er nemo tenetur zu einer Drittbelastungsfreiheit ausdehnt. Das Prinzip verliere so seine klar umrissenen Konturen und werde – notwendigerweise – der Abwägung eröffnet, was sich wiederum negativ auf den Kernbereich der Selbstbezichtigungsfreiheit auswirken könnte.354 Ein letztlich vollends überzeugendes Gegenargument ist, dass die komplizierte Konstruktion des ‚umgekehrten‘ nemo tenetur einen Schutz bieten soll, 347
Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 57. Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 57. 349 Vgl. bereits Ullmann, Lehrbuch, 1893, S. 361. 350 Dies gilt weder bei § 55 noch bei § 52 StPO für Teilschweigen, s. Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 77. 351 Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 87. 352 Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 87. 353 In diese Richtung: BVerfGE 38, 115, 113; KK-StPO-Senge, § 55, Rn. 1; auch Geerds, in: Spendel (Hrsg.), Studien zur Strafrechtswissenschaft: FS Ulrich Stock, 1966, S. 185 stellt fest, dass es sich um zwei sehr unterschiedliche Fallgruppen handelt. 354 Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 67; Kritik in diese Richtung äußern auch Bosch Jura 2012, 33 Fn. 4; MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 2. 348
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der bereits durch andere Facetten des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts gewährleistet ist.355 Zwar entspringt die Selbstbelastungsfreiheit nach überwiegender Meinung dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht.356 Nemo tenetur se ipsum accusare gewährt aber bereits nach seinem Wortlaut nur Schutz vor Selbstbelastung. Warum sollte der Grundsatz über den Wortlaut ausgedehnt werden, wenn keinerlei Schutzlücke besteht?357 3. Zwangslage des Zeugen Von der h.M. wird vertreten, dass Ziel des Zeugnisverweigerungsrechts die Vermeidung einer „seelischen Zwangslage“ und eines „inneren Konflikts“ sei.358 Dieser Ansicht war auch das RG und ist in ständiger Rechtsprechung der BGH. Und auch die Gesetzgebungsmaterialien zum damaligen § 51 RStPO, wonach „es vorzuziehen sei, lieber auf ein Beweismittel zu verzichten, als einen nahen Angehörigen des Beschuldigten der Versuchung auszusetzen, zu Gunsten des letzteren einen Meineid zu leisten“,359 scheinen in diese Richtung zu weisen. Hierfür spricht, dass sich der verwandte Zeuge in der Vernehmungssituation ohne § 52 StPO in einem Konflikt zwischen Wahrheitspflicht und familiärer Verbundenheit befände (sofern freilich seine 355 S. hierzu 66 ff.; Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 106. 356 BVerfGE 38, 105, 114 f.; 56, 37, 50 ff.; Maunz/Dürig-Di Fabio, Art. 2, Rn. 187; Petry, Beweisverbote, 1971, S. 36; Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 59; Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, 1990, S. 35; SachsMurswiek, Art. 2, Rn. 71. 357 S.a. Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 50. 358 Roßhirt ZDStV 1 (1846), 94, S. 114; Ullmann, Lehrbuch, 1893, S. 361; Beling, Beweisverbote, 1903, S. 15; Niese JZ 1953, 219, S. 223; Schmidt JZ 1958, 596, S. 600; Grünwald, Beweisrecht, 1993, S. 21; Henkel, Strafverfahrensrecht, 21968, S. 207; Michaelis NJW 1969, 730, S. 730; Petry, Beweisverbote, 1971, S. 48; Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 8; Pelchen, in: Pfeiffer/Gamm/Raisch/Tiedemann (Hrsg.), FS Pfeiffer, 1988, S. 295; Fezer/Wohlers, Strafprozessrecht, 21995, Rn. 15; Baier, Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 54; Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100; Schlüchter, Schlüchter 1999, 31999, Rn. 484; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 83; Leipold NJW-Spezial 2005, 231, S. 231; Ranft, Strafprozessrecht, 32005, Rn. 526; Kett-Straub ZRP 2005, 46, S. 47; Jäger GA 2008, 473, S. 486; Kretschmer JR 2008, 51, S. 55; Graf-StPO-Huber, § 52, Rn. 1; Bosch Jura 2012, 33, S. 33; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 282014, S. 203; Soiné-StPO-Soiné, § 52, Rn. 4; KK-StPO-Senge, § 52, Rn. 1; Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 40; Zöller StraFo 2008, 15, S. 22; Welp, in: Schulz/Vormbaum (Hrsg.), FS Bemmann: zum 70. Geburtstag am 15. Dezember 1997, 1997, S. 628; ähnlich Meuthien, Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 1955, S. 20; Habscheid, in: Conrad (Hrsg.), GS Peters, 1967, S. 868; MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 1, der auch ein Interesse der Allgemeinheit für einen solchen Schutz erkennt. 359 Hahn, Materialien Bd. III Tbd. 1, 1897, S. 107.
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wahrheitsgemäßen Angaben den Beschuldigten belasten würden). Er hätte also nur die Wahl, entweder falsch auszusagen oder das Vertrauensverhältnis zu verraten. Das Gefühl, den Verwandten ‚ans Messer geliefert‘ zu haben, sei nicht nur während der Aussage, sondern auch lange danach eine starke innerliche Belastung für den Zeugen.360 Ein solches Dilemma dürfe der Staat nicht auslösen.361 So forderte Schwarze bereits 1856 eine Ausnahme von der Zeugnispflicht für Angehörige aus „Rücksicht auf die hier einschlagenden Pietätsund Familienverhältnisse“.362 Schon im ersten Jahr seines Bestehens hatte sich das Reichsgericht zur ratio des damaligen § 51 RStPO zu äußern. Das Reichsgericht stellte sich auf den Standpunkt, dass das Zeugnisverweigerungsrecht für verwandte Zeugen der „widernatürlichen Zwangslage“ Rechnung trage, die eine Aussage gegen den Beschuldigten emotional herbeiführe.363 Der BGH führte diese Linie kontinuierlich fort: „[Die] mögliche innere Belastung […] war dem Gesetzgeber wichtig genug, vor ihr das grundsätzliche Gebot der Aufklärung und Verfolgung von Verbrechen zurücktreten zu lassen.“364 Immer wieder bemüht der BGH die Rücksicht auf diesen Gewissenszwiespalt und -konflikt bzw. das schutzwürdige Interesse an der Befreiung von seelischer Belastung.365 Es liege dabei im Interesse der Allgemeinheit, solchen Konfliktsituationen vorzubeugen,366 sofern die Wahrheitsermittlung hierdurch nicht unverhältnismäßig belastet werde.367 Teils war der Verweis auf die Zwangslage in der Rechtsprechung des BGH jedoch mehr Zustands- als Zweckbeschreibung, was zu der Frage führt, ob die ratio tatsächlich im Vermeiden einer bestimmten Situation, oder nicht vielmehr im Schutz vor einer durch diese Situation hervorgerufenen möglichen Rechtsverletzung liegt.368
360 Grünwald, Beweisrecht, 1993, S. 21; Skwirblies, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1990, S. 186 361 Zachariä, Handbuch, 1868, S. 187; Schöneborn MDR 1974, 457, S. 457; KK-StPOSenge, § 52, Rn. 1. 362 Schwarze, Commentar, 1856, S. 295. 363 RGSt 1, 207, 208; RGSt 55, 20: „aus Rücksicht auf den Gewissenszwiespalt“ s.a. RGSt 62, 144. 364 BGHSt 2, 99, 104. 365 BGHSt 2, 351, 354; BGHSt 10, 393: Eine „Verurteilung [kann] auch für die Angehörigen schwere wirtschaftliche und moralische Nachteile“ mit sich bringen, wenn sie auf Aussage des Verwandten beruht; BGHSt 11, 213, 217 – GSSt; BGHSt 12, 235, 239; 17, 324, 327; 22, 36; 40, 211, 214; 45, 203, 207; 58, 84. 94. 366 BGHSt 12, 235, 239. 367 BGHSt 2, 351. 368 Mit dieser Frage wird sich ab S. 61 ff. weiter beschäftigt.
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a) Konfliktsituation keine Tatbestandsvoraussetzung Gegen die ratio der Konfliktvermeidung wurde eingewandt, dass § 52 StPO keine tatsächlich empfundene Konfliktsituation369 voraussetze, sondern die bloße Verwandtschaft genügen lässt. Das Ziel der Regelung könne nicht die Konfliktvermeidung sein, wenn der Konflikt noch nicht einmal glaubhaft gemacht werden muss. Tatsächlich werde Personen, die überhaupt kein enges Verhältnis, keine „gelebte enge Bindung“370 zu ihren Angehörigen haben und deswegen auch keinem Gewissenskonflikt ausgesetzt sind, die Möglichkeit geboten, sich der Zeugnispflicht grundlos zu entziehen.371 Gegen diese ratio spreche außerdem, dass enge Freunde, zu denen heutzutage oft eine deutlich engere Verbindung als zur Familie besteht, nicht geschützt werden und ohne Ausnahme der Zeugnispflicht unterliegen.372 Der Grund für die Differenzierung zwischen Familien und Freunden liegt darin, dass § 52 StPO dem ausgehenden 19. Jahrhundert entstammt, als der Familienverbund zumeist noch sehr viel enger war; der Konflikt also vor allem dort auftrat und daher gesetzlich vertypt wurde. Insbesondere ist zu bedenken, dass damals die Belastung der Familie durch eine Verurteilung eines Angehörigen nicht nur emotional, sondern auch gesellschaftlich und wirtschaftlich deutlich höher gewesen sein dürfte als heutzutage. Gerade die wirtschaftliche Abhängigkeit kann den Konflikt des Zeugen erheblich verstärken, während eine solche materielle Abhängigkeit auch bei guten Freunden weitaus seltener besteht. Für die Begrenzung auf Angehörige sprach zudem bereits bei Schaffung der RStPO und spricht noch heute, dass ein Angehörigenverhältnis leicht zu ermitteln bzw. nachzuweisen ist. Eine Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts auf sonstige Vertrauenspersonen würde die Ermittlungsorgane vor erhebliche Schwierigkeiten stellen. Dasselbe gilt, wenn das Gesetz tatsächlich empfundene Gewissensnot voraussetzen würde. Hinzu kommt, dass Fehler hierbei leicht eine Revision begründen könnten, und zwar sowohl, wenn ein Zeugnisverweigerungsrecht zu Unrecht zugesprochen, als auch, wenn es zu Unrecht verwehrt wurde. Gegen die Vermeidung einer inneren Zwangslage als ratio spricht allerdings die Regelung des § 52 Abs. 2 StPO. Diese Vorschrift behandelt die Aussage von verwandten Zeugen, die selbst nicht in der Lage sind, ihr Recht eigenständig auszuüben. Hier geht es also gerade darum, dass der Zeuge wegen mangelnder Verstandesreife seine Situation nicht richtig einschätzen kann und daher auch keine Gewissensnot verspürt. In diesem Fall dürfte ein Verweigerungsrecht, das den Zeugen lediglich vor genau diesem Konflikt 369
BGHSt 14, 159; BGH NJW 1981, 2825; MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 2. Müssig GA 1999, 119, S. 129. 371 Müssig GA 1999, 119, S. 129. 372 Skwirblies, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1990, S. 194. 370
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schützen soll, eigentlich nicht eingreifen.373 Dies gilt jedenfalls dann, wenn der geistig eingeschränkte Zeuge nicht nur keine genügende, sondern gar keine Vorstellung von seiner Lage hat. Der Vorwurf der Kritiker betrifft also im Kern die uneinheitliche Umsetzung des Schutzes vor einem emotionalen Konflikt. Einerseits gehe der Schutz für Familienangehörige, die wegen emotionaler Distanz gar keine Gewissensnot verspüren, zu weit, andererseits bestehe für andere Personen, die sich wegen emotionaler Nähe in einem wahren Konflikt befinden, kein Schutz.374 b) Verweigerung auch bei entlastenden Aussagen Gegen die Vermeidung eines Konflikts als ratio des Zeugnisverweigerungsrechts wird ferner ins Feld geführt, dass das Verweigerungsrecht auch bei entlastenden Aussagen in Anspruch genommen werden kann. In diesem Fall bestehe aber gar kein Konflikt.375 Dieses Argument geht jedoch fehl, da eine Aussagepflicht bei entlastenden Angaben indirekt wieder zu einer ausnahmslosen Zeugnispflicht führen würde, und sei es allein, weil die Angehörigen nicht glauben würden, dass ihr Schweigen nicht negativ verwertet wird. Außerdem ist es für einen Zeugen fast unmöglich, richtig vorauszusehen, welche seiner Angaben sich letztlich be- und welche sich entlastend auswirken werden. c) Keine Konfliktlösung Kritisiert wird auch, dass § 52 StPO den Konflikt des Zeugen nicht aufhebe, sondern ihn nur auf die Entscheidung, ob er aussagt oder nicht, verlagere. Die Belastung durch eine im Raum stehende Aussage bleibe jedoch bestehen. Konflikte würden daher besser durch einen generellen Zeugenausschluss oder eine ausnahmslose Zeugnispflicht vermieden.376 Hiergegen ist jedoch zu sagen, dass der Konflikt, ob an der Überführung des Verwandten mitgewirkt werden soll oder nicht, deutlich weniger belastend ist, als der Konflikt, entweder wahrheitsgemäß auszusagen oder sich gem. §§ 153, 154 StGB strafbar zu machen. Zwar ist richtig, dass § 52 StPO nicht vor jeglicher Belastung schützt. Im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes muss der gesetzliche Schutz aber nicht perfekt sein.
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Weber MDR 1962, 169, S. 169; Petry, Beweisverbote, 1971, S. 46. Müssig GA 1999, 119, S. 129. 375 Baier, Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 54; Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 53. 376 Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 113; Görtz-Leible, Beschlagnahmeverbote, 2000, S. 162. 374
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Ein ähnliches Argument äußert Grünwald: die Existenz von § 157 StGB beweise, dass § 52 StPO den Gewissenskonflikt gar nicht beseitige. Der Gesetzgeber habe selbst erkannt, dass ein Zeugnisverweigerungsrecht das Dilemma des Zeugen nicht aufhebe, und habe deswegen eine Strafmilderung für Angehörige, die falsch aussagen, geschaffen. Dies zeige auch die Rechtsprechung, die eine Strafmilderung für möglich hält, selbst wenn der Zeuge über das Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden ist.377 Auch sei es für den Zeugen nicht risikolos, sein Zeugnisverweigerungsrecht auszuüben, denn es bestehe stets die Gefahr, dass der Richter die Verweigerung des Zeugnisses in die Beweiswürdigung einfließen lasse, ohne dies in der Urteilsbegründung zu nennen.378 Die Existenz des § 157 StPO lässt sich indes auch auf zwei andere Weisen herleiten, die nicht gegen die Konfliktvermeidung als ratio des § 52 StPO sprechen. Zum einen ist nämlich zu bedenken, dass Zeugen oftmals nicht wissen, dass eine Zeugnisverweigerung nicht zu Lasten ihres Angehörigen gewertet werden darf, denn dies ist nicht Teil der nach § 52 Abs. 3 StPO vorgesehenen Belehrung.379 Zum anderen kann ein Zeuge sowohl be- als auch entlastende Umstände kennen und wird dann versucht sein, zumindest die (vermeintlich) entlastenden Umstände zu schildern.380 Beides kann einen Angehörigen zu einer Falschaussage motivieren. Grünwalds Einwand vermag daher die h.M. im Ergebnis nicht zu entkräften. d) Flankierende Normen Auch die flankierenden Normen lassen sich mit dem Schutz vor einem inneren Konflikt des Zeugen gut begründen, der durch die aktive oder passive Teilnahme an der Überführung des Verwandten während der Ermittlungsmaßnahme – aber auch lange Zeit danach – besteht.381 Denn auch Zwangsmaßnahmen, an denen der Betroffene nicht aktiv mitwirkt, können dem Zeugen wie ein Verrat an seinem Angehörigen scheinen.382 Schmitt gibt zu bedenken, dass der emotionale Konflikt des Zeugen bei verdeckten Ermittlungsmaßnahmen nach § 100c Abs. 6 S. 2 StPO nicht als Erklärung dienen könne. Eine Konfliktsituation lebt aber bei der Verwendung des erlangten Wissens im Prozess wieder auf und erklärt so die Existenz des § 100c Abs. 6 377
Grünwald, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), Verhandlungen, 1967, Teil F, S. 151. Grünwald, Beweisrecht, 1993, S. 25. 379 Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 49. 380 Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 46; Bergmann, Milderung der Strafe, 1988, S. 91. 381 Ebenso Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 123. 382 Anders aber Schafheutle, in: Gürtner (Hrsg.), Strafverfahren: Bericht der amtlichen Strafprozesskommission, 1938, S. 288. 378
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S. 2 StPO.383 Andere Stimmen meinen indes, dass bei allen anderen Ermittlungsmethoden außer der Zeugenaussage die Konfliktvermeidung nicht Regelungszweck sein könne. Eine rein passive Mitwirkung stelle keine vergleichbare Belastung dar.384 Daher sei z.B. das Untersuchungsverweigerungsrecht ein „verfassungsrechtlich nicht gebotenes, aber rechtsstaatlich nobles Instrument strafprozessualer Selbstbeschränkung“.385 e) Bloße Wirkungsbeschreibung Ein überzeugendes Argument gegen die Konfliktvermeidung als finaler Zweck des § 52 StPO, ist letzlich, dass es sich dabei um eine bloße Wirkungsbeschreibung handelt, die nicht mit rechtlichen Termini arbeitet und keinen juristisch-begrifflichen Mehrwert bietet.386 Die ratio allein in der Vermeidung eines Konflikts zu sehen, ist zu kurz gedacht. Das ist, als sähe man die ratio des Übermüdungsverbotes nach § 136a Abs. 1 S. 1 Var. 1 StPO im Schutz von Wachheit und nicht in der allein bei wacher Befragung gewährleistbaren Willensentschließungsfreiheit. Daher ist die Konfliktvermeidung Bestandteil der ratio, die jedoch noch darüber hinaus weist. Denn Zweck des Rechts ist in aller Regel nicht Konflikte zu vermeiden, sondern sie zu lösen. Auch § 52 StPO ‚vermeidet‘ in diesem Sinne keinen Konflikt, sondern löst einen bestehenden Konflikt zu Gunsten des Zeugen auf. Der Zweck des § 52 StPO ist daher rechtlich-terminologisch korrekt ausgedrückt der Schutz desjenigen Gutes, das durch diesen Konflikt betroffen ist. So stellt sich die Frage, welche Interessen konfligieren. In der Literatur und der Rechtsprechung wird das dem öffentlichen Strafverfolgungsinteresse entgegengesetzte private Interesse häufig im Vertrauensverhältnis zwischen Beschuldigtem und Verwandten gesehen. f) Zwischenergebnis Die Konfliktvermeidung dient dem Schutz der Individualinteressen des Zeugen und dem Schutz seiner persönlichen Kontakte. Diese Rechtsposition des
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Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 46. Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 425. 385 SK-StPO-Rogall, § 81c, Rn. 40; s.a. Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 427, der es als „luxuriöse Wohltat des Gesetzgebers bezeichnet“; zustimmend Beck, DNA-Analyse, 2015, S. 329. 386 In diese Richtung ebenfalls Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 122, wenn auch mit einem anderen Schluss, da der rechtliche Beweggrund letztendlich in den Institutionen Ehe und Familie erkannt wird. Auch Weber MDR 1962, 169, S. 169 kritisierte schon die Unbestimmtheit der ratio-Diskussion zu § 52 StPO. 384
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Zeugen ist – wie noch zu zeigen sein wird - unter den weiten Begriff des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu fassen.387 4. Wertepluralismus Görtz-Leible erkennt in § 52 StPO den Zweck des „Erhalt[s] des Wertepluralismus“. Denn in einem liberalen Rechtsstaat müssten unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander abgestimmt werden, ohne dass einem Interesse allein der Vorrang eingeräumt wird. Konkret werde verhindert, dass einseitig die Strafverfolgung vorangetrieben wird.388 Dies ist jedoch nur ein Analyseansatz zur Wirkungsweise des Zeugnisverweigerungsrechts, der den eigentlichen Zweck der Vorschrift nicht erhellt.389 Der „Erhalt des Wertepluralismus“ ist zwar das Ziel des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Verhältnismäßigkeit ist jedoch kein Selbstzweck, sondern dient dem Schutz und der Austarierung gegenläufiger Interessen. Ratio ist der Schutz bestimmter Interessen, nicht die Art und Weise, wie dieser Schutz gewährleistet wird. So ist die These GörtzLeibles zwar ein Versuch der Verrechtlichung der Diskussion, jedoch keine Lösung.390 5. Faires Verfahren Aus dem Dilemma der unjuristischen Argumentation der ‚Konflikttheorie‘, versucht sich Bialek mit dem Schutzzweck des fairen Verfahrens zu befreien. Der fair-trial-Grundsatz gem. Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 3 EMRK sei ein Prozessgrundrecht, das den Einzelnen davor bewahre, zum bloßen Objekt des Verfahrens degradiert zu weden.391 Genau dieser Grundsatz werde durch § 52 StPO geschützt und konkretisiert. 387 So SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 9; Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 33. 388 Görtz-Leible, Beschlagnahmeverbote, 2000, S. 160; s. auch eine eingehende Analyse dieser Theorie bei Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 108. 389 Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 55. 390 Gärditz/Stuckenberg verstehen sie sogar so, dass sie durch § 52 StPO allein Rechtsinstitute von öffentlichem Interesse und gerade keine Individualinteresse geschützt sehen will, s. Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 112 zu Görtz-Leible, Beschlagnahmeverbote, 2000, S. 161 Dass der Gesetzgeber aber gerade auf die Auflösung individueller Konflikte bedacht war, scheint in Anbetracht der Motive (Hahn, Materialien Bd. III Tbd. 1, 1897, S. 107) und auch der rechtswissenschaftlichen Diskussion deutlich überzeugender. Eine derartige Auslegung der These Görtz-Leibles drängt sich aber ohnehin nicht auf. Jedenfalls beantwortet der Ansatz von Görtz-Leible nicht, welches spezielle Interesse durch § 52 StPO mit dem Strafverfolgungsinteresse des Staates ins Verhältnis gesetzt werden soll, weshalb die Theorie für die Annäherung an den Gesetzeszweck nicht weiterführt. 391 Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 93.
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Dagegen wendet Neumann jedoch zutreffend ein, dass der fair-trialGrundsatz den Schutzzweck des § 52 StPO zwar von der rein psychologisierenden Betrachtung der Konfliktvermeidung wegführt und auf einen rechtlichen Begriff fokussiert. Eine Leerformel werde jedoch nur gegen eine juristischere Leerformel ausgetauscht.392 Dem ist zuzustimmen, da der Grundsatz des fairen Verfahrens allen Prozessnormen zugrunde liegt.393 Allein das faire Verfahren gibt den § 52 StPO in seiner konkreten Form nicht vor. Dies wird insbesondere bei dem Vergleich mit dem englischen Recht augenfällig, da dort die Privilegierung von Verwandten im Strafprozess fundamental anders geregelt ist,394 der Grundsatz des fair trial aber seinen Ursprung genau im anglo-amerikanischen Rechtsraum hat und das englische Strafverfahren aber nicht grundsätzliche unfair ist. § 52 StPO muss daher einem spezielleren Ziel dienen. 6. Allgemeines Persönlichkeitsrecht Die Entwicklung des § 51 RStPO und die Diskussion um das Zeugnisverweigerungsrecht zeigen, dass von Beginn an der Zeuge geschützt werden sollte. Wenn die Auflösung eines Konflikts jedoch nur die Wirkweise, nicht aber den dahinter liegenden Zweck des Zeugnisverweigerungsrechts beschreibt, so fragt sich, welches Rechtsgut des Zeugen geschützt werden soll. Im Ergebnis wird sich zeigen, das sich das private Interesse des Zeugen am besten unter dem Begriff des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts fassen und verrechtlichen lässt. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG im Zusammenspiel mit Art. 2 Abs. 1 GG. Daraus folgt, dass der Zeuge nicht auf seine Aussagerolle reduziert oder sogar zum Objekt des Verfahrens gemacht werden darf. Vielmehr muss sein persönlicher Bezug zum Prozessgegenstand hinreichend bedacht werden. So entspricht § 52 StPO dem Gedanken der Persönlichkeitsentfaltung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG, indem er dem Zeugen die Wahl belässt, ob er aussagen will oder nicht. a) Entwicklung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde zuerst für das Zivilrecht395 entwickelt, das ursprünglich nur das Namensrecht und das Recht am eigenen 392
Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 35. Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 35; Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 99. 394 S. Rechtslage in England S. 175 ff. 395 Aber auch für das Strafverfahrensrecht wurden Fragen des Persönlichkeitsrechts schon zu Beginn des 20. Jhd. diskutiert s. Beling, Beweisverbote, 1903, S. 5 Hierbei han393
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Bild als ‚besondere‘ Persönlichkeitsrechte kannte. Das RG äußerte sich zu einem allgemeinen Persönlichkeitsschutz noch uneinheitlich.396 Im Leserbriefurteil befand der BGH dann 1954, dass das Abdrucken eines Briefes nicht ohne die Zustimmung des Verfassers erlaubt sei. Dies gebiete der Schutz der Persönlichkeit, der durch Art. 1 und Art. 2 GG vorgegeben werde.397 Das Grundgesetz rücke nämlich die Würde des Menschen und die Entfaltung seiner Persönlichkeit in den Mittelpunkt,398 sodass die neue grundrechtliche Werteordnung einen Persönlichkeitsschutz erfordere.399 Dies erschien gerade vor dem Hintergrund der eben überwundenen nationalsozialistischen Staatsidee notwendig, wo Individualinteressen gegenüber Gesellschaft und Staat als nachrangig betrachtet wurden.400 Zu dieser Übermacht des Staates sollte das Grundgesetz einen Gegenentwurf schaffen.401 Auch in Strafsachen sprach sich der BGH für die „Menschenwürde als Leitgedanke eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens“ aus, weswegen „ein justizförmiges Verfahren […] das grundgesetzlich anerkannte Persönlichkeitsrecht zu respektieren [habe].“402 1973 nahm auch das BVerfG das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in seine Rechtsprechung auf.403 Die Aufgabe des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts besteht dem BVerfG zufolge darin, „die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen“.404 Im Laufe der Zeit wurde das Allgemeine Persönlichkeitsrecht weiter konkretisiert und es bildeten sich Fallgruppen heraus, um das Allgemeine Persönlichkeitsrecht delte es sich jedoch nicht um das APR, sondern allein um einen subjektiven Persönlichkeitsschutz. Für § 55 Abs. 1 Alt. 1 StPO als Ausformung des nemo tenetur-Prinzips wurde schon sehr früh der Schutz der Persönlichkeit des Zeugen als Schutzzweck anerkannt, s. ebd., S. 13. Jedoch findet Alt. 2, nach der auch die mögliche Belastung von Verwandten ein Aussageverweigerungsrecht auslösen kann, zu wenig Beachtung. Dass diese Alternative ebenso auf dem Persönlichkeitsrecht des Zeugen basieren könnte, blieb lange – wohl auch, weil die Dogmatik des APR erst im Laufe des 20. Jhd. entwickelt wurde – unbeachtet. So führte der BGH nur die Selbstbelastungsfreiheit auf das Persönlichkeitsrecht zurück, s. BGHSt 1, 39; Busch JZ 1953, 702, S. 703. 396 Befürwortend: RGZ 41, 43 zu Briefen Richard Wagners; ablehnend jedoch: RGZ 69, 401 zu von Briefen Friedrich Nietzsches. 397 BGHZ 13, 334. 398 BVerfGE 6, 32, 40 f.; 7, 198, 205; 49, 56, 142; BGHSt 31, 296, 299; Baumann/ Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 63. 399 Hubmann JZ 1957, 521, S. 521. 400 S. hierzu auch Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof/Bethge (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 22001, Rn. 7; Habscheid, in: Conrad (Hrsg.), GS Peters, 1967, S. 852. 401 BVerfGE 124, 300. 402 BGHSt 14, 359 ff.; s.a. BGH NJW 1964, 1139, 1143. 403 BVerfGE 34, 269 ff. - Soraya; bestätigt im Lebach-Urteil BVerfGE 35, 202 ff. 404 BVerfGE 54, 148, 153.
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handhabbarer zu machen.405 Neben dem Recht auf Selbstdarstellung,406 dem Recht auf Kenntnis der genetischen Herkunft,407 der informationellen Selbstbestimmung408 und der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme,409 spielt der Schutz der Privatsphäre410 eine entscheidende Rolle. b) ‚Entdeckung‘ des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts für § 52 StPO Diese geschichtliche Entwicklung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zeigt, dass es ein langer Prozess war, bis die Rechtsprechung und die Dogmatik dem Phänomen angemessen begegnen konnten und sich das Allgemeine Persönlichkeitsrecht als Schutzgut auch begrifflich durchsetzte. So liegt es wohl an dieser späten ‚Entdeckung‘ des Rechts, dass es als Schutzgut hinter der ‚Konfliktsituation für den Zeugen‘ so lange nicht erkannt wurde. Die Rechtsprechung des BGH, der noch in den 1950er Jahren vertrat, dass die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts in die Beweiswürdigung einbezogen werden könne,411 fußte wohl auf einem fehlenden Bewusstsein für die Bedeutung des Persönlichkeitsrechts des Zeugen. Da das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ein sehr vielschichtiges Grundrecht ist, das erst im Laufe der Zeit strukturiert wurde, konnte besonders vom RG, aber auch vom BGH nicht erwartet werden, das Schutzgut des § 52 StPO von vornherein treffend zu benennen. Auch wenn die Dogmatik des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts heute weiter fortgeschritten ist, so nennt auch die aktuelle Rechtsprechung das Persönlichkeitsrecht nur vereinzelt als Schutzgut des § 52 StPO. Dennoch tritt dieser Aspekt immer mehr in den Fokus der Rechtsprechung. Schon 1958 gab der Große Senat implizit zu verstehen, dass auch mit § 52 StPO das Persönlichkeitsrecht des Zeugen geschützt sei.412 Explizit bezog sich dann das BVerfG auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht: „Dieses Rechtsinstitut hat die Aufgabe, im Sinne des obersten Konstitutionsprinzips der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten […]. § 52 StPO trägt der besonderen Lage eines Zeugen Rechnung, der als Angehöriger des Beschuldigten der Zwangslage ausgesetzt sein kann, seinen Angehörigen zu belasten oder die Unwahrheit sagen zu müssen. Niemand soll gezwungen sein, aktiv zur Überführung eines Angehörigen beizutragen, 405
BVerfGE 54, 148, 154 f.; 54, 208, 217; 65, 1, 42; BVerfG NJW 1987, 3245. BVerfGE 35, 202, 220 ff.; 80, 367, 373; Maunz/Dürig-Di Fabio, Art. 2, Rn. 166. 407 BVerfGE 79, 256 ff.; 90, 263 ff.; Maunz/Dürig-Di Fabio, Art. 2, Rn. 212. 408 Lebach-Urteil BVerfG NJW 73, 1226; Eppler-Beschluss BVerfG NJW 80, 2070. 409 BVerfGE 120, 274. 410 BVerfGE 96, 171, 181; 101, 361, 380; Maunz/Dürig-Di Fabio, Art. 2, Rn. 149. 411 BGHSt 2, 351; 6, 279, 280; Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 62. 412 BGHSt 11, 213, 217 – GSSt. 406
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weil der Zwang zur Belastung von Angehörigen mit dem Persönlichkeitsrecht des Zeugen ebenso unvereinbar wäre wie ein gegen den Zeugen geübter Zwang zur Selbstbelastung.“413
Aufgrund einer gefestigten Rechtsprechungspraxis hält der BGH den ‚Konflikt‘-topos dennoch weiter am Leben.414 Der 2. Senat des BGH erkannte jedoch jüngst in einem Beschluss vom 04. Juli 2014415 das Allgemeine Persönlichkeitsrecht als Wurzel der Konflikt-Theorie an. In der Literatur kommen zur Frage der ratio von § 52 StPO teils Argumentationsstrukturen vor, die an das Allgemeine Persönlichkeitsrecht erinnern, dies aber nicht explizit aussprechen.416 Manche Autoren sehen in § 52 StPO 413
BVerfG NStZ-RR 2004, 18, 19; Auch auf internationaler Ebene ist das Persönlichkeitsrecht mittlerweile geschützt: 1948 wurde in Art. 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Schutz gegen Eingriffe oder Anschläge auf das Privatleben festgeschrieben. S.a. mittlerweile Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 und 8 GRC. 414 Zuletzt in BGH NJW-Spezial 2015, 153. 415 BGH NStZ 2014, 596, 597 f.: „Die Wahrheitserforschung im Strafprozess hat jedoch Grenzen, zur Wahrung des Schutzes eines Beschuldigten oder auch anderer Verfahrensbeteiligter, die nicht zum Objekt des Verfahrens gemacht werden dürfen und in der Strafprozessordnung wie auch in der Verfassung deshalb mit eigenen prozessualen Rechten ausgestattet sind, die der Wahrheitserforschung im Wege stehen können. Das Recht eines als Zeugen vernommene Angehörigen des Beschuldigten im Sinne von § 52 Abs. 1 StPO, das Zeugnis – ohne Angabe von Gründen – zu verweigern, ist ein solches Recht […]. Es gründet sich auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des verwandten Zeugen aus Art. 2 Abs. 1 GG, das die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen (BVerfGE 54, 148, 153; 72, 155, 170). Es umfasst sowohl die in § 52 StPO geregelte Freiheit, ein Zeugnis betreffend eines nahen Angehörigen verweigern zu können, wie auch die Option, früher getätigte Aussagen der Verwertung im Strafverfahren wieder zu entziehen. § 52 StPO trägt der besonderen Lage eines Zeugen Rechnung, der als Angehöriger des Beschuldigten der Zwangslage ausgesetzt sein kann, seinen Angehörigen zu belasten oder die Unwahrheit sagen zu müssen. Niemand soll gezwungen sein, aktiv zur Überführung eines Angehörigen beizutragen, weil der Zwang zur Belastung von Angehörigen mit dem Persönlichkeitsrecht hat des Zeugen unvereinbar wäre wie ein gegen den Zeugen geübter Zwang zur Selbstbelastung (BVerfG, NStZ-RR 2004, 18, 19).“ 416 So wird auf den Schutz „gewichtiger Rechtspositionen des Zeugen“ und dessen Intim- oder Persönlichkeitssphäre abgestellt, s. Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 44; Klöhn, Schutz der Intimsphäre, 1984, S. 150; Karitzky, Geschichte, 1959, S. 68; Hahn, Materialien Bd. III Tbd. 1, 1897, S. 44; Schöneborn MDR 1974, 457, S. 457; Görtz-Leible, Beschlagnahmeverbote, 2000, S. 161; Meuthien sah den Zweck des Zeugnisverweigerungsrechts im „Schutz des Individuums und dessen Gefühlen“, s. Meuthien, Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 1955, S. 20. Habscheid erkennt in Bezug auf § 52 StPO eine starke Prägung des Persönlichkeitsrechts durch die familiäre Bindung, s. Habscheid, in: Conrad (Hrsg.), GS Peters, 1967, S. 868; Kühne sieht die Wurzel des § 52 StPO hingegen in der Menschenwürde, s. Kühne, Strafprozessuale
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hingegen explizit den Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts verwirklicht.417 Einer der ersten Vertreter dieser Ansicht war Rengier, der die ratio (auch) in der Wahrung des familiären Vertrauensverhältnisses erkennt, das er wiederum als Ausfluss des Persönlichkeitsrechts ansieht. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht sei in seiner Ausformung als Recht auf private Lebensgestaltung betroffen und zwar sowohl dasjenige des Zeugen als dasjenige des Beschuldigten.418 Ebenso argumentiert der Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte: „Die grundgesetzliche und menschenrechtliche Anerkennung eines unantastbaren Bereichs privater Lebensgestaltung gebietet es, die Kommunikation im Rahmen von familiären oder durch vergleichbar enge Bindungen gekennzeichneten Beziehungen gegenüber dem Zugriff durch die Gerichte zu schützen.“419
Auch Neumann erkennt als Zweck des § 52 StPO den Persönlichkeitsschutz des Zeugen an.420 Nur sehr wenige Autoren identifizieren aber das Allgemeine Persönlichkeitsrecht als eigentliches Schutzgut hinter der Konfliktvermeidungs-Theorie.421 c) Betroffene Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts Zu der Frage, welche Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts genau durch § 52 StPO geschützt wird, schweigt sich die Literatur zum größten Teil aus.422 Ragnarsson sieht die informationelle Selbstbestimmung geschützt.423 Die informationelle Selbstbestimmung erlaubt es dem einzelnen, Beweisverbote, 1970, S. 64; so auch Busch, in: Bockelmann/Gallas (Hrsg.), FS Eb. Schmidt, 1971, S. 571. 417 Paeffgen, in: Rieß/Hanack (Hrsg.), FS Rieß, 2002, S. 421; Müssig GA 1999, 119, S. 130 und Petry, Beweisverbote, 1971, S. 47, die dies jedoch nur für den Bereich der Institution Familie bzw. der innerfamiliären Kommunikation annehmen; Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 10; Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 62; LR-StPO-Ignor/Bertheau, § 52, Rn. 1; SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 8; Habscheid, in: Conrad (Hrsg.), GS Peters, 1967, S. 868; MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 1. 418 Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 10. 419 Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 37. 420 Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 62. 421 Richtig daher SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 8; Rogall, Beschuldigte als Beweismittel, 1977, S. 152; s.a. Beck, DNA-Analyse, 2015, S. 327 und ausführlich Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 62. 422 Swoboda etwa sieht in Bezug auf den Beinahetreffer das APR sowohl in seiner Ausformung als informationelle Selbstbestimmung als auch in seiner Ausformung des Rechts auf familiäre Privatsphäre betroffen. Es wird jedoch nicht ganz klar, ob sie dies auf den Datenerhebungsvorgang oder nur auf die familiäre Konfliktsituation bezieht, s. Swoboda StV 2013, 461, S. 466. 423 Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 101.
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sein Bild nach außen selbstständig zu gestalten und selbst zu kontrollieren, welche Informationen über die Person an die Öffentlichkeit kommen. Durch die generelle strafprozessuale Aussagepflicht ist die informationelle Selbstbestimmung sicherlich betroffen. Entscheidend für den Schutz von Angehörigen ist jedoch nicht der Zwang, persönliche Informationen preiszugeben, sondern die Auswirkungen einer solchen Preisgabe. Der Schutz ist daher nicht auf die äußere Dimension des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts – die informationelle Selbstbestimmung –, sondern auf dessen innere Dimension als Recht auf Privatsphäre gerichtet. Beides geht zwar Hand in Hand. Da jedoch nicht die zwangsweise Offenbarung von Information per se das Problem darstellt, sondern die Gefährdung essentieller sozialer Kontakte, ist Ragnarssons Bewertung nicht ganz zutreffend. § 52 StPO schützt vielmehr das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausformung als Recht auf Privatsphäre, d.h. auf private und intime Lebensgestaltung.424 Die Privatsphäre garantiert das Recht, sich zurückzuziehen425 und ungestört zu sein.426 Eine überzeugende Systematisierung der unterschiedlichen Facetten der Privatsphäre nimmt Schmitt Glaeser vor: Zum einen sei die private Lebenssphäre als Rückzugsbereich geschützt, zum anderen das Recht auf Selbstdarstellung im Sinne einer Selbstgestaltung des sozialen Geltungsanspruchs.427 Für § 52 StPO ist die erste Fallgruppe von Bedeutung, da es um die Möglichkeit von „Vertraulichkeit der Interaktion mit […] der Familie, mit Freunden und engeren Bekannten“ geht,428 wobei das Persönlichkeitsrecht nur die „engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen“ gewährleistet.429
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Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 380; Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 37. 425 Ursprünglich wurde dieser Begriff durch Warren/Brandeis in einem Aufsatz von 1890 als right to be let alone geprägt, s. Warren/Brandeis Harv. Law Rev. 4 (1890), 193. 426 Die Herleitung des Schutzes der Privatsphäre durch Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG wird unterschiedlich begründet. Für einen Überblick s. Schmitt Glaeser, in: Isensee/ Kirchhof/Bethge (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 22001, Rn. 14. Auch die Terminologie „Recht auf Privatsphäre“ wird nicht einheitlich verwendet. Für andere Termini s. Hubmann JZ 1957, 521, S. 524; Nipperdey, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 42. DJT Verhandlungen, 1958, D3–D23; Weitnauer DB 1959, 45, S. 45; Arndt NJW 1967, 1845, S. 1846. 427 Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof/Bethge (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2 2001, Rn. 30; ähnlich Dreier-GG-Dreier, Art. 2 Abs. 1, 72; s.a. Stern, Staatsrecht, 2006, 99. 428 Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof/Bethge (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2 2001, Rn. 30. 429 BVerfGE 54, 148, 153.
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Das familiäre Verhältnis ist demnach typische Ausprägung der Privat- und Intimsphäre.430 Widerstreiten private und öffentliche Interessen im Rahmen eines Strafprozesses, so muss nicht einseitig das Individuum geschützt werden.431 Eingriffe in die Privatsphäre sind jedoch einer besonders strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen.432 Zur Orientierung, was dies genau bedeuten kann, kann man sich an der Entscheidung des BVerfG zum Briefkontakt zwischen einem Gefangenen und dessen Ehefrau orientieren: Es müsse einen „Raum [geben], in dem [man] unbeobachtet sich selbst überlassen ist oder mit Personen seines besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen verkehren kann“433. Die Selbstentfaltung durch den Austausch mit Vertrauenspersonen umfasst dabei nicht nur die einseitige Kundgabe von Empfindungen, sondern auch den Dialog.434 Ein solcher Geheimnisschutz ist gerade in Bezug auf begangene Straftaten sinnvoll.435 Denn Kriminalität entsteht häufig durch die schwierige Lebenssituation des Delinquenten. Ermöglicht das Recht den Austausch des Täters über eine ihn belastende Tat mit seinen Vertrauenspersonen, so kann dies eine stabilisierende und präventive Wirkung in Bezug auf neue Straftaten haben.436 Die Entscheidung, nur Zeugen aus der Familie zu privilegieren, zeigt, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass nur bei diesen Zeugen die private Lebenssphäre durch eine Aussagepflicht typischerweise so stark betroffen wird, dass sie geschützt werden müsse. Die allermeisten Menschen können ihre Persönlichkeit nicht vollends entfalten, wenn sie allein sind, sondern sie sind – als soziale Wesen – auf einen engen und vertrauten Kontakt mit anderen angewiesen. Menschen, denen wir vertrauen und mit denen wir weitergehend unbefangen kommunizieren können, sind oftmals unsere Angehörigen. Dies galt vielleicht in noch größerem Maße 1879 bei Inkrafttreten der RStPO, aber 430
In diese Richtung BVerfGE 35, 35, 40: „Auf Grund der Bedeutung einer Rückzugsmöglichkeit für die Persönlichkeitsentfaltung vermittelt das allgemeine Persönlichkeitsrecht dem vertraulichen Kontakt einen besonderen grundrechtlichen Schutz.“ S.a. BVerfGE 42, 234, 236 f.; 57, 170, 178; Maunz/Dürig-Di Fabio, Art. 2, S. 156. 431 Das BVerfG stellt fest, dass der Bürger „staatliche Maßnahmen hinnehmen [müsse], die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots getroffen werden, soweit sie nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigen.“ S. BVerfGE 35, 35, 39. 432 BVerfGE 35, 202, 220 f.; Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof/Bethge (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 22001, Rn. 39; ähnlich auch Dreier-GG-Dreier, Art. 2 Abs. 1, 60 oder Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof/Bethge (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2 2001, Rn. 34. 433 BVerfGE NJW 1995, 1477 [Hervorhebungen der Verfasserin]. 434 Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 93. 435 Geheimnisschutz als Ausprägung des APR: BVerfGE 57, 170, 178; 90, 255, 260 f. 436 Glueck/Glueck, Family Environment and Delinquency, 1962, S. 126; Diese Austauschmöglichkeit ist mit der Möglichkeit zur Beichte eng verwandt.
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es gilt auch heute noch. Auch im 21. Jahrhundert teilt die Mehrzahl der Menschen mit den in § 52 StPO genannten Personen ihr Intim- und Privatleben. Dies sah auch der BGH so: „Die Möglichkeit, Empfindungen, Gefühle, Ansichten oder Eindrücke von Erlebnissen zum Ausdruck zu bringen, ohne der Angst ausgesetzt zu sein, daß staatliche Behörden die Unterhaltung überwachen, wäre [erg. durch die Verwertung eines unbeabsichtigt abgehörten Gesprächs] unerträglich behindert. Auch für den sonstigen vertrauensvollen Gedankenaustausch zwischen den Ehepartnern würde dies zutreffen. Dies würde eine schwere Beeinträchtigung der menschlichen Würde bedeuten. Ferner würde den Betroffenen durch eine solche Maßnahme auch weitgehend der Innenraum verweigert, der ihnen um der freien und der selbstverantwortlichen Entfaltung ihrer Persönlichkeit willen verbleiben sollte.“437
Zwar ist richtig, dass durch § 52 StPO jede Art von Wissen des Zeugen privilegiert wird und nicht nur solches, das aus besonders ‚vertrauensvollen‘ Interaktionen mit seinem Angehörigen stammt. Aber auch wenn das Wissen des Zeugen nicht aus einer solchen besonders persönlichkeitsrelevanten Situation herrührt, wäre eine Aussage gegen den eigenen Angehörigen in den allermeisten Fällen geeignet, das verwandtschaftliche Vertrauensverhältnis zu gefährden und diesen ‚Vertrauensraum‘ für die Zukunft zu zerstören. d) Kritik am Schutzgut Allgemeines Persönlichkeitsrecht Die meiste Kritik, die am Allgemeinen Persönlichkeitsrecht als Schutzgut geäußert werden kann, wurde bereits oben unter ‚Zwangslage des Zeugen‘ diskutiert. Da es sich um eine terminologische Konkretisierung desselben Phänomens handelt, kann daher auf diese Ausführungen verwiesen werden.438 Zum Teil wird vorgeschlagen, nicht das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Zeugen, sondern das des Beschuldigten zur ratio des § 52 StPO zu erklären. Hierzu ist im Wesentlichen dasselbe zu sagen, das gegen eine Verwirklichung des nemo tenetur-Prinzips des Beschuldigten in § 52 StPO spricht. Auch insofern kann daher nach oben verwiesen werden.439 Gegen den Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Zweck des Zeugnisverweigerungsrechts kann allerdings die Rechtsprechung des BGH eingewandt werden, die dem Zeugen § 52 StPO versagt, wenn der verwandte Beschuldigte zwischenzeitlich verstorben ist oder rechtskräftig abgeurteilt wurde.440 Denn obwohl in dieser Situation aus der Zeugenaussage keine nach437
BGHSt 31, 296, 300. S. S. 55 ff. 439 Eine solchen Beschuldigtenschutz sieht Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 60. Für die Argumentation gegen den Schutz der Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten s. S. 56 ff.; kritisch auch Baier, Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 54. 440 BGH NJW 1992, 1118; MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 20. 438
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teiligen rechtlichen Folgen mehr erwachsen können, ist das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Zeugen doch betroffen, weil dieser ein nachvollziehbares und schutzwürdiges Interesse haben kann, auch den verstorbenen oder verurteilten Angehörigen nicht (weiter) zu belasten.441 Auf diesen Einwand lassen sich indes zwei Antworten finden: Einerseits kann man die besagte Rechtsprechung des BGH als solche mit guten Gründen ablehnen.442 Andererseits ist die Situationen einer Aussage gegen den Beschuldigten, die zu dessen Verfolgung verwendet werden kann, und einer Aussage, die gerade keine strafrechtlichen Konsequenzen mehr mit sich bringen kann, nicht vergleichbar. Zwar muss in beiden Fällen gegebenenfalls das Vertrauen des Verwandten enttäuscht werden. Da § 52 StPO aber auch Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist,443 muss dem BGH insofern Recht gegeben werden, dass die Belastung für den Zeugen geringer ist, wenn klar ist, dass dem Verwandten von staatlicher Seite keine Verfolgung mehr droht. Die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts betrifft dann nur noch eine moralisch-ethische Ebene. So wird bei einer geringeren Belastung dem Strafverfolgungsinteresse der Vorzug gegeben. Der Verweis auf diese Rechtsprechung des BGH ist daher letztlich nicht geeignet, das Allgemeine Persönlichkeitsrecht als Schutzgut des § 52 StPO zu widerlegen. e) Zwischenergebnis § 52 StPO soll also das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des angehörigen Zeugen schützen. 7. Familie Als weitere ratio kommt der Schutz der Familie und der Ehe in Frage.444 a) Ausprägungen des Schutzguts Familie Auch diesen Zweck haben Rechtsprechung und Literatur zum größten Teil anerkannt.445 Erste Äußerungen hierzu finden sich schon 1846: Die Privile441
Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 73. Eine kurze Übersicht hierüber liefet Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 46. 443 S.a. Klöhn, Schutz der Intimsphäre, 1984, S. 153. 444 Explizit auf die Ehe beziehen sich Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 9; Beck, DNA-Analyse, 2015, S. 327 und Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 44, wobei auch die anderen Befürworter dieses Schutzzwecks die Ehe wohl in einen Familienbegriff einbeziehen wollen. 445 BGHSt 11, 213, 217 – GSSt; BGHSt 12, 235, 239; 22, 36; 38, 99; 58, 84, 94; Beling, Beweisverbote, 1903, S. 15; LR-StPO-Dahs, § 52, Rn. 1; Busch JZ 1953, 702, S. 703; Spelthahn, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, 1997, S. 44; Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 67 (zumindest sekundärer 442
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gierung von Verwandten beruhe auf der Vorstellung, dass eine Aussage dieser Personen gegeneinander sittlich und moralisch nicht vertretbar sei.446 Heutzutage wird eher dahingehend argumentiert, dass die Familie eine Autonomiesphäre sei, in der fernab vom Staat Sozialisation und Kommunikation sichergestellt werden. Deswegen bestehe ein öffentliches Interesse an einer intakten Familie.447 Teilweise werden auch nur bestimmte Aspekte des Familienlebens zum Schutzgut erklärt. Allerdings gehen die vorgeschlagenen Schutzgüter oft Hand in Hand: Der Familienfriede448 gewährleistet gerade den „Bestand des Vertrauensverhältnisses in der Familie“,449 der wiederum die „Unbefangenheit innerfamiliärer Kommunikation“450 und dadurch eine Sozialisation451 ermöglicht.452 Besser wird man der gesellschaftlichen Funktion der Familie indes gerecht, wenn man auf eine solche Fragmentierung verzichtet und die Familie als solche in den Blick nimmt.453 Interessant ist der Vorstoß von Eckstein, der die familiäre – und zumindest Teils außerrechtliche – Solidaritätspflicht als geschützt ansieht.454 Die Formulierung einer Pflicht kann jedoch irreführen, ist doch nicht die Pflicht, sonSchutz); Kett-Straub ZRP 2005, 46, S. 47; Soiné-StPO-Soiné, § 52, Rn. 4; Grünwald, Beweisrecht, 1993, S. 21; Pelchen, in: Pfeiffer/Gamm/Raisch/Tiedemann (Hrsg.), FS Pfeiffer, 1988, S. 295; Bosch Jura 2012, 33, S. 33; KMR-StPO-Neubeck, § 52, Rn. 1; Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 1211; Müssig GA 1999, 119, S. 129; Baier, Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 54; krit. dagegen z.B. Jäger GA 2008, 473, S. 486; Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 11; AK-StPO-Kühne, § 52, Rn. 1; Meuthien, Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 1955, S. 21. 446 Roßhirt ZDStV 1 (1846), 94, S. 114; s.a. Schmidt, Lehrkommentar, 1970, 52–56. 447 BGHSt 12, 235, 239; 22, 36; Müssig GA 1999, 119, S. 129; Görtz-Leible, Beschlagnahmeverbote, 2000, S. 161. 448 LR-StPO-Dahs, § 52, Rn. 1; Soiné-StPO-Soiné, § 52, Rn. 4. Der Familienfriede wird jedoch wiederum nur als Friede vor dem Staat und nicht als Friede um jeden Preis geschützt, da heutzutage niemand zu einem Verhältnis mit seiner Familie gezwungen wird. 449 Grünwald, Beweisrecht, 1993, S. 21; ähnlich auch Eisenberg, Beweisrecht, 92015, Rn. 1211; Bosch Jura 2012, 33, S. 33; Dünnebier MDR 1964, 965, S. 965; KMR-StPONeubeck, § 52, Rn. 1; MüKo-StPO-Percic, § 52, Rn. 1. 450 Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 9; Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 64; Petry, Beweisverbote, 1971, S. 45; Skwirblies, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1990, S. 187; Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 380 allerdings nur für subsidiären Schutz. 451 Müssig GA 1999, 119, S. 129. 452 Das einzige im Zusammenhang mit der Familie diskutierte Schutzgut, das § 52 StPO wohl nicht schützt, ist die Familienehre, wie sie Peters als Schutzgut vorschlägt, s. Anm. von Peters JR 1968, 429, S. 429 zu BGH JR 1968, 429. Krit. hierzu auch Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 44; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 72. 453 Ganz anders sieht dies Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 65: Der Schutz der Institution Familie sei nicht mehr zeitgemäß. 454 Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 387.
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dern der freiwillige Wunsch, der Familie keinen Schaden zuzufügen, das schutzwürdige Element. Treffender wäre daher, von einem Pflichtempfinden zu sprechen. b) Rechtsprechung Für den Zweck des Familienschutzes sprach sich zuerst der Große Senat des BGH aus.455 Grund für § 52 StPO sei unter anderem die „schonende Rücksicht auf die Familienbande, die den Angekl[agten] mit dem Zeugen verknüpft“. Weiter ging der BGH schon ein Jahr später, indem er in der Vermutung einer Zwangslage für den Angehörigen einen überindividuellen Schutz der Familie erkannte. Die Rücksicht auf die Familienbande wird so als allgemeines Interesse verstanden, dessen Wahrung dem Staat auferlegt ist.456 Aber obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Rechtsprechung den Familienschutz so weit fasst, besteht sie auch darauf, dass dieser Schutz nicht absolut gewährleistet wird.457 c) Verfassungsrechtliche Verwurzelung Die Institution Familie zu bewahren liegt im öffentlichen Interesse.458 Denn wie Wach bereits 1905 feststellte, ist die Familie die „Keimzelle jeder Gesellschaft“.459 Wird das Vertrauen innerhalb der Familie beschädigt, so gefährdet dies unmittelbar das Erziehungsverhältnis zwischen Eltern und Kindern.460 So liegt es auch nicht fern, in § 52 StPO eine einfachgesetzliche Ausprägung von Art. 6 GG zu erkennen.461 Hiergegen wird jedoch eingewandt, dass der grundrechtliche Familienschutz deutlich geringer ausgeprägt ist, als der Schutz, den § 52 StPO gewährt,462 da gem. Art. 6 GG nach ganz überwiegender Auffassung nur die Kernfamilie von Eltern und Kindern erfasst und die Ehe neben
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BGHSt 11, 213, 217 – GSSt; s. a. BGHSt 58, 84, 94. BGHSt 12, 235, 239; so dann auch BGHSt 22, 36 und BGHSt 38, 99. 457 BGHSt 38, 99. 458 Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 67; Baier, Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 54; Kett-Straub ZRP 2005, 46, S. 47. 459 Wach GS 66 (1905), 1, S. 6. 460 Ross SLPR 14 (2003), 85, S. 105. 461 Pelchen, in: Pfeiffer/Gamm/Raisch/Tiedemann (Hrsg.), FS Pfeiffer: FS für Gerd Pfeiffer zum Abschied aus dem Amt als Präsident des Bundesgerichtshofes, 1988, S. 295; Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, 1990, S. 35; Baier, Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 54; Meuthien, Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 1955, S. 21; Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 9; Fuchs NJW 1959, 14, S. 18; Herrmann, in: Vogler (Hrsg.), FS Jescheck, 1985, S. 1294; Klöhn, Schutz der Intimsphäre, 1984, S. 151; Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, 1990, S. 35. 462 Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 37. 456
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der Familie gewährleistet wird.463 Aber auch wenn entfernterer Verwandtschaft kein verfassungsrechtlicher Schutz zur Seite steht, so kann doch deren Schutz Ausdruck des generellen Gedankens des Art. 6 GG sein, nachdem die Familie schutzwürdig ist. Zudem kann einfachgesetzlicher Schutz auch über das verfassungsrechtlich Gebotene hinausgehen. Gegen die verfassungsrechtliche Begründung des Familienschutzes wird von Kritikern zudem geäußert, dass § 52 StPO selbst dem geschiedenen Ehepartner ein Zeugnisverweigerungsrecht hinsichtlich solchen Wissens zugesteht, das erst nach der Scheidung erlangt wurde. Spätestens hier würde keinerlei familiäre Bindung mehr zwischen den Parteien bestehen, sodass dieses Verhältnis nicht schützenswert sei.464 Nicht berücksichtigt wird aber, dass geschiedene Ehepartner mit Rücksicht auf möglicherweise vorhandene gemeinsame Kinder aufgenommen worden sein können. Müssten Eltern gegeneinander aussagen, würde dies wenigstens das Verhältnis zum gemeinsamen Kind stark belasten. Aus dem überschießenden Schutz lässt sich daher kein Argument gegen den Familienschutz konstruieren. Der Schutz der Familie ist die kollektive Kehrseite des Persönlichkeitsschutzes. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet den Austausch mit besonders nahen Vertrauenspersonen, die häufig innerhalb der Familie zu finden sind. Der Schutz individueller familiärer Vertrauensverhältnisse stärkt gleichzeitig die Institution Familie.465 Aus dem personellen Schutzbereich des § 52 StPO kann geschlossen werden, dass es dem Gesetzgeber eben gerade um dieses familiäre Vertrauen ging.466 d) Fehlen eines familiären Vertrauens Einige lehnen den Schutz der Familie als ratio des Zeugnisverweigerungsrechts ab, indem sie auf die gewandelten Familienverhältnisse verweisen. Heutzutage fehle es an einem ausgeprägten Familienbewusstsein und damit häufig auch an einem besonderen Vertrauensverhältnis innerhalb der Familie.467 Hierzu ist allerdings zu sagen, dass § 52 StPO – wie bereits diskutiert468
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Maunz/Dürig-Badura, Art. 6, Rn. 60. Jäger, Beweisverwertung, 2003, S. 144. 465 Pelchen, in: Pfeiffer/Gamm/Raisch/Tiedemann (Hrsg.), FS Pfeiffer, 1988, S. 295; Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 378. 466 Für das Schutzgut der Familie spricht auch, dass dem Beschuldigten hierdurch ein sekundärer Schutz zu Gute kommt, sodass auch die Rechtskreistheorie des BGH für § 52 StPO beibehalten werden kann. Ragnarsson sieht dies jedoch sehr kritisch und meint, mit der Rechtskreistheorie den Grund dafür gefunden zu haben, warum die Rspr. weiterhin am Schutzgut Familie festhalte, ohne dies tatsächlich zu glauben, s. Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 108. 467 SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 11; Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 70; Schmitt, Berücksichtigung 464
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– auch gar kein tatsächlich bestehendes Vertrauensverhältnis voraussetzt, sondern nur an die formale Angehörigeneigenschaft anknüpft.469 e) Mangelnde Dispositionsbefugnis der Familie Ein weiteres Argument gegen das Schutzgut Familie ist, dass ein rein fakultatives Recht, das allein zur Disposition des Zeugen steht, keinen ausreichenden Schutz für die Familie garantiere. So bestünde immer die Möglichkeit, dass der Familienfriede durch eine Aussage beeinträchtigt werde. Nötig sei ein kompletter Zeugenausschluss470 oder eine strafbewährte Schweigepflicht.471 Ohne die Gewissheit, dass nicht ausgesagt wird, könne innerfamiliäre Kommunikation nicht geschützt werden. Eine Sicherheit für die Familie, dass die innerfamiliäre Vertraulichkeit gewahrt bleibt, gibt es tatsächlich nicht. Allerdings ist der Staat nicht zum perfekten Schutz eines Rechtsguts verpflichtet.472 Es ist im Gegenteil gerade Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die betroffenen Interessen in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.473 Kann der Angehörige eine Aussage mit seinem Gewissen vereinbaren, so ist es nicht der Staat, sondern der Zeuge, der den Familienfrieden stört. Dies ist ein minus zum generellen Zwang und kann durch den Zweck, ein reibungsloses Strafverfahren und eine korrekte Tatsachenermittlung sicherzustellen, gerechtfertigt werden. Zudem wird das familiäre Vertrauensverhältnis, wenn die Aussage freiwillig erfolgt, entweder nicht belastet sein, oder es ist bereits gestört.474 Sofern der Zeuge selbst Opfer der Straftat ist oder aus anderen Gründen ein besonderes Interesse an der Strafverfolgung des Angehörigen hat, kann es das Allgemeine Per-
der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 62; Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 40. 468 S. zu dieser Kritik S. 62 f. 469 Sehr deutlich BVerfGE 109, 279, 322: „So ist § 52 StPO nicht zum Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen den dort genannten Angehörigen und Beschuldigten geschaffen worden. Vorrangig soll vielmehr auf die Zwangslage des Zeugen Rücksicht genommen werden, der einer Wahrheitspflicht unterliegt und befürchten muss, einem Angehörigen zu schaden. Das Zeugnisverweigerungsrecht knüpft zudem an das formale Kriterium des Verwandtschaftsverhältnisses und nicht an ein besonderes Vertrauensverhältnis an, wie es insbesondere auch zu engen persönlichen Freunden bestehen kann.“ 470 Schmidt JZ 1958, 596, S. 597; Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100; Paeffgen, in: Rieß/Hanack (Hrsg.), FS Rieß, 2002, S. 420; SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 10; Görtz-Leible, Beschlagnahmeverbote, 2000, S. 164. Daher sieht Rogall die Familie höchstens reflexartig mitgeschützt, s. SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 11. 471 Baier, Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 54. 472 Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 383. 473 In diese Richtung auch Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 56. 474 Klöhn, Schutz der Intimsphäre, 1984, S. 154.
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sönlichkeitsrecht des Zeugen sogar geradezu gebieten, dass dieser an der Strafverfolgung mitwirken darf. Dass im Übrigen auch die Diskussion innerhalb der Familie, ob das Verweigerungsrecht ausgeübt werden soll, den Familienfrieden weiter beeinträchtigen kann,475 ist im selben Licht zu sehen. f) Missbrauchsgefahr § 52 StPO ermöglicht aber auch, den unschuldigen Beschuldigten absichtlich nicht zu entlasten, was für die Familie noch deutlich schlimmer sein kann, als wenn ein Familienmitglied zu Recht belastet werden muss.476 Allerdings wird eine solche Konstellation wohl ein Ausnahmefall bleiben.477 Im Übrigen ist auch hier daran zu erinnern, dass der Gesetzgeber sowohl für be- als auch für entlastende Tatsachen ein Zeugnisverweigerungsrecht schaffen musste, weil sonst klar wäre, dass der Zeuge durch sein Schweigen seinen Angehörigen nicht belasten will. Selbst wenn juristisch die Verwertung eines solchen logischen Schlusses verboten wäre, bestünde doch die Gefahr, dass Angehörige aus Angst, dass sich Richter durch die Zeugnisverweigerung beeinflussen lassen, nicht schweigen, sondern eine Falschaussage begehen.478 Die geltende Regelung bewirkt daher insgesamt überwiegend mehr den Schutz der Familie als dass sie den Familienfrieden gefährdet.479 475
Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 379. Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 113; Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 101. 477 Einen solchen Ausnahmefall hatte jüngst allerdings das OLG Koblenz zu entscheiden: Angeklagt war die Frau, gegen deren Ehmann wegen des angeklagten Delikts ebenfalls ermittelt wurde. Der Ehemann hatte als Beschuldigter ausgesagt und seine Ehefrau entlastet. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt. Zum Zeitpunkt der Verhandlung gegen die Frau war der Mann flüchtig und konnte seine Aussage so nicht mehr vor Gericht wiederholen. Da er aber vor seiner polizeilichen Vernehmung nicht über sein Verweigerungsrecht zugunsten seiner Freu belehrt wurde, konnte auch seine frühere Aussage wegen § 252 StPO nicht verlesen werden. Hier gefährdet § 52 StPO – ausnahmsweise – eindeutig die eheliche Harmonie, da es dem Ehemann anzulasten war, dass die Frau eventuell nicht freigesprochen wurde. S. OLG Koblenz StraFo 2014, 117. 478 Zur psychologischen Konfliktsituation selbst nach einer Aufklärung über die Unverwertbarkeit des Schweigens s. Schneider, Grund und Grenzen, 1991, S. 232. 479 Weigend fügt hinzu, dass § 52 StPO nur in der Situation greife, in der der Verwandte Beschuldigter ist. Der Familienfrieden könne aber auch gefährdet werden, wenn eine Aussage vom Zeugen über das mit ihm verwandte Opfer oder einen mit der Tat vollkommen unbeteiligten Verwandten gemacht werden müsse, s. Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100. Insofern als auch nicht strafrechtlich belastende Aussagen den Familienfrieden belasten können, ist ihm zuzustimmen. Für alle strafrechtlich relevanten Konstellationen greift jedoch § 55 StPO als logische Fortsetzung des § 52 StPO. Dass peinliche und persönliche Details preisgegeben werden müssen, war jedoch die explizite Entscheidung des Gesetzgebers bei Schaffung der RStPO. Der Gesetzgeber hat im Übrigen mit der Schaffung von § 68a Abs. 1 StPO zum Ausdruck gebracht, dass solche Belastungen zwar 476
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g) Gefährdung der Familie bei häuslicher Gewalt480 Erwägenswert ist der Einwand, dass bei häuslicher Gewalt insbesondere in Missbrauchsfällen der Familienfriede langfristig durch das Schweigen im Prozess eher gefährdet wird481 und auch die Verhältnismäßigkeit für eine Zeugnispflicht spräche, wenn – wie häufig – der Prozess ohne die Aussage der Angehörigen nicht zu einer Verurteilung führen kann. Bei Fällen häuslicher Gewalt wird tatsächlich ein Nachteil im System der freiwilligen Zeugnisverweigerung offenbar: Leiden etwa Mutter und Kind unter der fortgesetzten Gewalt des Vaters, so ist ein Schweigen der Opfer langfristig für ihre Familie kontraproduktiv. Andererseits mag es Fälle geben, in denen auch häusliche Gewalt auf anderen nicht strafrechtlichen Wegen aufgearbeitet und verhindert werden kann, die weniger schwerwiegende Folgen für die gesamte Familie haben können. Das deutsche Recht hat sich für eine Lösung des Problems durch das Gewaltschutzgesetz entschieden.482 Außerdem stellen diese Fälle einen Spezialfall von Straftaten dar, sodass hieraus nicht darauf geschlossen werden kann, dass der Schutz der Familie generell nicht ratio des Zeugnisverweigerungsrechts sein kann. Der Einwand, dass § 52 StPO der Familie nicht durchweg nütze, ist allerdings vor allem in Anbetracht der Schwere mancher Fälle der Gewalt im häuslichen Umfeld nicht von der Hand zu weisen. h) Flankierende Normen Wie gegen die Wahrheitsfindung als Schutzgut werden die flankierenden Normen auch gegen den Schutz der Familie geltend gemacht. Denn bei einer angemessen berücksichtigt werden müssen, sie aber nicht so schwerwiegend sind, dass sie ein Aussage- oder Zeugnisverweigerungsrecht rechtfertigen. Mit § 68a StPO argumentiert Rogall in genau die andere Richtung, in dem er den generellen Unwillen des Gesetzgebers erkennt, die Familie als Einheit und Institution zu schützen, s. SK-StPO-Rogall, § 52, Rn. 11. Dieser Erstrechtsschluss geht jedoch fehl, da ein Verzicht auf den Schutz vor bloßen Unannehmlichkeiten noch nicht sagt, ob eine deutlich intensivere Beeinträchtigung der Familie ebenfalls nicht vom Gesetzgeber vermieden werden soll. Der Gesetzgeber hat das Zeugnisverweigerungsrecht eben erst ab einer gewissen Intensität des staatlichen Eingriffs gewähren wollen. Dass ein Strafverfahren insgesamt belastend für Ehe und Familie sein können, ist sicherlich richtig. Allerdings ist der Grad der Belastung bei einem Strafverfahren, gegen den Angehörigen, dem die Familie passiv beiwohnt, und einem Verfahren, an dem der Angehörige aktiv mitwirken soll, verschieden. Hier schützt der Gesetzgeber eben nur vor zu starker Belastung. 480 Unter den Begriff der häuslichen Gewalt sind alle gewalttätigen Übergriffe von Mitgliedern eines Hauhalts zu verstehen. Erfasst sind zudem alle sexuellen Übergriffe. 481 Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 117; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 66; Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100; Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 427. 482 S. zur praktischen Umsetzung Hecht FPR 2005, 13.
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erzwungenen, passiven Teilnahme an der Strafverfolgung, so wird argumentiert, könne das familiäre Vertrauen nicht beeinträchtigt werden.483 Der Verwandte helfe schließlich nicht aktiv bei der Überführung mit. Wenn jedoch als Schutzgut nicht allein das familiäre Vertrauen, sondern der soziale Stellenwert und Zusammenhalt einer Familie angesehen wird, verliert dieses Argument an Überzeugungskraft. Wenn nämlich der Beschuldigte aufgrund seines Verwandten überführt wird, kann dies zu einer Belastung des familiären Zusammenhalts führen. i) Zwischenergebnis Zumindest sekundäre dient §§ 52 StPO also auch dem Schutz der Familie. 8. Gewissensfreiheit Es erscheint aus deutscher Sicht nahezu undenkbar, einen Zeugen, der in funktionierenden familiären Verhältnissen lebt, dazu zu zwingen, gegen einen nahen Angehörigen auszusagen und so möglicherweise den entscheidenden Überführungsbeweis zu liefern, der schlussendlich eine lange Gefängnisstrafe auslöst. Wegen der verfassungsrechtlichen Durchdringung der gesamten Rechtsordnung und insbesondere des Strafprozessrechts betrifft diese Situation, wie gezeigt, die Grundrechte des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG und den Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG. Könnte nicht aber auch Art. 4 Abs. 1 Var. 2 GG, also die Gewissensfreiheit, berührt sein? a) Schutzbereich Die Gewissensfreiheit umfasst die Freiheit, seinem eigenen Gewissen nach zu handeln. Das Gewissen ist keine religiös bedingte weltanschauliche Überzeugung. Es gilt anhand ethisch-moralischer Wertungen als „‚innere‘ Instanz, die […] [dem Einzelnen] sagt, wie er sich in einer bestimmten Situation ‚richtig‘ zu verhalten habe“.484 Eine Gewissensentscheidung ist dem BVerfG zu Folge 483
Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 70; Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 425 Einen weiteren Kritikpunkt in Bezug auf die gesetzliche Folgerichtigkeit erkennt Schmitt bei § 97 Abs. 2 S. 1 StPO: Der Familienschutz könne das Gewahrsamserfordernis bei der Beschlagnahmefreiheit nicht erklären, s. Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 56. Dem ist zuzustimmen. Allerdings lässt das nicht am Schutzzweck per se zweifeln, sondern stellt eher die Konsistenz des § 97 Abs. 2 S. 1 StPO in Frage. So wird in der Literatur generell davon ausgegangen, dass § 97 Abs. 2 S. 1 StPO nicht durch Schutzzweckerwägung motiviert wurde, sondern allein der Befürchtung geschuldet ist, durch einen zu weiten Beschlagnahmeschutz die funktionierende Strafrechtspflege zu behindern. 484 Maunz/Dürig-Herzog, Art. 4, Rn. 125.
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„jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“.485 Der sachliche Schutzbereich der Gewissensfreiheit erfasst zum einen das forum internum, d.h. die Gewissensbildung und -entscheidung.486 Ob auch das forum externum erfasst wird, ist umstritten.487 Weithin anerkannt ist aber jedenfalls, dass dem Bürger gegenüber dem Staat ein Recht auf Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen zustehen kann.488 b) Gewissensnot bei der Aussage gegen Angehörige Wenn jemand bei wahrheitsgemäßer Aussage zum Beispiel das eigene Kind belasten muss, kann das – wie es die Rechtsprechung nun seit langem anerkannt hat – einen tiefen Konflikt beim Zeugen auslösen. Dass dieser Konflikt so schwer wiegt, folgt aus der zumeist bestehenden tief empfundenen Verbundenheit von Eltern mit ihren Kindern. Eine emotionale Bindung zwischen Eltern und Kindern ist im Normalfall allen Menschen und in Gestalt eines natürlichen Beschützerinstinkts selbst vielen Tieren eigen. Dem eigenen Kind keinen Schaden zuzufügen werden die meisten Menschen als unbedingt bindende Regel verinnerlicht haben. Verpflichtet der Staat den Einzelnen trotzdem zu solch einer Handlung, bringt dies die meisten in eine starke Not. So ist die Zwangssituation einer Aussage naher Angehöriger gegeneinander, die bereits vom RG beschrieben wird,489 ein Fall der Gewissensnot par excellence. Schon im Alten Testament zeigt die Geschichte des Abraham, der Isaak opfern sollte, den Gewissenszwiespalt, dem ein Elternteil ausgesetzt ist, wenn es seinem Kind schaden soll.490 Und obwohl Abraham sich Gottes Willen unterordnet, so nimmt Gott doch schließlich selbst Abstand von seiner unmenschlichen Forderung. So ist es für die Frage nach der ratio des § 52
485
BVerfGE 12, 45, 55. Maunz/Dürig-Herzog, Art. 4, Rn. 130. 487 Es wird allerdings vertreten, dass die Freiheit nach seinem Gewissen zu handeln ebenso wie für Art. 4 Abs. 1 Var. 1 GG gewährt werden müsse und Art. 4 Abs. 1 Var. 2 GG eine Spezialform der Handlungsfreiheit darstelle. Dies hat das BVerfG zumindest in einem obiter dictum so vertreten, s. BVerfGE 48, 127, 163; Maunz/Dürig-Herzog, Art. 4, Rn. 132; Böckenförde, in: Bäumlin/Böckenförde (Hrsg.), Grundrecht: Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Bern am 2. und 3. Oktober 1969, 1970, S. 50. 488 Maunz/Dürig-Herzog, Art. 4, Rn. 138. 489 RGSt 1, 207, 208; 55, 20; 62, 144. 490 Gen 22, 1–19. 486
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StPO erstaunlich, warum hier die Gewissensfreiheit nicht schon früher diskutiert wurde.491 c) Verhältnis zu Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 GG Das Gewissen besteht nicht für sich selbst, sondern ist die Summe aller für das Individuum grundlegenden Normen. Es bildet sich aus Werten, die der Einzelne nicht nur für schützenswert, sondern für schlichtweg unverzichtbar hält. Im Grunde kommen alle möglichen Werte als Bausteine des Gewissens in Betracht, sofern sie nur fest genug verankert sind. Bei einer den Angehörigen belastenden Aussage ist in einem besonders starken Maße der Grundwert ‚Familie‘ betroffen, dem bereits durch Art. 6 Abs. 1 GG Verfassungsrang und damit auch abstrakt ein hoher Stellenwert zukommt. Die Gewissensfreiheit kann daher als Schutzbereichsverstärkung des Art. 6 Abs. 1 GG verstanden werden, die – anders als Art. 6 Abs. 1 GG alleine – die Familie auch in Denken und Handeln des Individuums schützt. Indem die Gewissensfreiheit vor starken – zumeist staatlich induzierten – inneren Konflikten schützt,492 liegt eine Parallele zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht nahe. Auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt den Zeugen davor, gegen seinen Angehörigen aussagen zu müssen. Während aber beim Allgemeinen Persönlichkeitsrecht der innere Grund dieses Schutzes darin liegt, dass eine Aussagepflicht das verwandtschaftliche Verhältnis als Ausdruck der Persönlichkeit des Zeugen stören könnte, gründet die Gewissensfreiheit in der inneren Zerrissenheit des Zeugen. Gemeinsam ist aber beiden Grundrechten in dieser Konstellation, dass sie erfordern, den Zeugen aus diesem Konflikt zu befreien, indem sie ihm die Möglichkeit eröffnen, das Zeugnis zu verweigern und auf diese Weise sowohl der als imperativ empfundenen Loyalität zu folgen als auch die Möglichkeit höchstpersönlicher Lebensgestaltung zu erhalten. Hier überschneiden sich also die Schutzbereiche dieser Grundrechte. Und ebenso wie bei einer etwaigen Überschneidung von Meinungs- und Kunstfreiheit, führt dies zu einer wechselseitigen Schutzbereichsverstärkung.493 d) Zwischenergebnis Somit ist also auch die Gewissensfreiheit durch § 52 StPO geschützt.
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Rogall und Ragnarsson in Bezug auf § 52 StPO sprechen z.B. explizit von der „Gewissensfrage des Zeugen“, gehen aber auf die Gewissensfreiheit mit keinem Wort ein, s. Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 56; Rogall, Beschuldigte als Beweismittel, 1977, S. 64. 492 Ein klassisches Beispiel ist der Konflikt des Wehrdienstverweigerers. 493 Vgl. zur Schutzbereichsverstärkung BVerfGE 104, 337, 356; 101, 341.
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9. Zwischenergebnis Der Schutzbereicht des § 52 StPO besteht primär im Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Der sowohl individuelle als auch kollektive Schutz der Familie ist jedoch immer in den Fällen subsidiär tragend, in denen dem Zeugen entweder nicht bewusst ist, dass die Mitwirkung an der Überführung eine für ihn belastende Situation darstellen würde (§ 52 Abs. 2 StPO) oder wenn keine aktive Mitwirkung gefordert wird (z.B. § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO). Denn hier wird der Familienfrieden insgesamt geschützt, der auch erst im Nachhinein durch die Erkenntnis, an der Überführung beteiligt gewesen zu sein, gefährdet werden kann.494 Neben dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht und Art. 6 GG kommt auch die Gewissensfreiheit zum Tragen. Daraus, dass drei grundrechtlich abgesicherte Positionen durch eine Aussagepflicht naher Angehöriger betroffen wären, ist zu schließen, dass die Privilegierung dieser Angehörigen wohl nach deutschem Verfassungsrecht vorgezeichnet ist. Das Grundgesetz gibt die Wertung der betroffenen Interessen grob vor. Dies muss jedoch nicht heißen, dass ein Zeugnisverweigerungsrecht, wie wir es im geltenden Recht finden, verfassungsrechtlich genau so vorgegeben ist. Ein solcher ‚Versteinerungseffekt‘ ist auch nicht wünschenswert.495 Vielmehr könnte von einer verfassungsrechtlichen Verwurzelung der Angehörigenprivilegierung gesprochen werden.496
IV. Reformdiskussion In der deutschen Literatur wird sehr ausgiebig über eine mögliche Reform der strafprozessualen Angehörigenprivilegierungen diskutiert. Hierbei werden erweiternde und einschränkende Tendenzen vertreten.497 All diese Reform494
So auch Grünwald, Beweisrecht, 1993, S. 22. So auch Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 130: „Eine weitere Frage ist, ob grundrechtliche Schutzpflichten die Existenz von Zeugnisverweigerungsrechten gebieten oder, dogmatisch genauer: ob eine uneingeschränkte Zeugnispflicht als Verletzung von Art. 1 I, 2I; 6 I; 12 I GG anzusehen wäre. Hierüber herrscht bislang wie gezeigt wenig Klarheit. Außerdem ließe sich der Schutz der grundrechtlichen Positionen wohl in verschiedener Intensität verwirklichen, wobei dem Gesetzgeber außerhalb eines Kernbereichs ein Abwägungsspielraum mit dem kollidierenden Strafverfolgungsinteresse eröffnet sein mag, sodass der exakte Umfang der Zeugnisverweigerungsrechte zum Gegenstand rechtspolitischer Entscheidung wird.“ 496 Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 62 hält ein Zeugnisverweigerungsrecht auch nur für bestimmte Delikte für verfassungskonform. 497 Unter den vielen Reformvorschlägen sind insbesondere das Gutachten Weigends für den 62. Deutschen Juristentag (Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100), der Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte (Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverwei495
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vorschläge sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Autoren die existierende Regelung für ausgewogen halten.498 1. Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts Viele Stimmen in der Literatur sprechen sich für eine Erweiterung des Verweigerungsrechts aus. a) Erweiterung des Personenkataloges Zum einen wird vorgeschlagen, den Katalog der privilegierten Personen in § 52 Abs. 1 StPO auf bestimmte Personengruppen zu erweitern, mit denen der Beschuldigte ebenfalls ein inniges Vertrauensverhältnis haben könnte. aa) Pflegschafts- und Vormundschaftsverhältnis So wird vorgeschlagen, auch Zeugen zu privilegieren, die durch ein Pflegschafts- (§§ 1909 ff. BGB) oder Vormundschaftsverhältnis (§§ 1773 ff. BGB) mit dem Beschuldigten verbunden sind.499 Diese beiden familienrechtlichen Sonderbeziehungen seien rechtlich klar bestimmbar und sollten daher in den Katalog aufgenommen werden.
gerungsrechte, 1996, S. 1) und der Reformvorschlag im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz durch den Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht (Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 1) hervorzuheben. Zudem haben auch einige Autoren in Monografien zum Zeugnisverweigerungsrecht Reformvorschläge ausgearbeitet. Hier sind vor allem Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 85, Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 105, Jansen, Zeugnisverweigerungsrecht, 2004, S. 208, Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 99 und Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 237 zu nennen. 498 Viele Autoren, die sich mit dem Zeugnisverweigerungsrecht beschäftigen, sagen nichts zu dessen Reformbedarf, so dass davon auszugehen ist, dass sie der bestehenden Rechtslage zustimmen. Zu den expliziten Befürwortern der lex lata zählt u.a. Görtz-Leible, Beschlagnahmeverbote, 2000, S. 335. 499 Zum Pflegschaftsverhältnis: Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 117; Jansen, Zeugnisverweigerungsrecht, 2004, S. 254; Kett-Straub ZRP 2005, 46, S. 49; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 127; Welp, in: Schulz/ Vormbaum (Hrsg.), FS Bemmann: zum 70. Geburtstag am 15. Dezember 1997, 1997, S. 633; Zum Vormundschaftsverhältnis: Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 126; krit. Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 122.
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bb) Eheähnliche Lebensgemeinschaft bzw. besonderes Nähe- und Vertrauensverhältnis Außerdem wird vorgeschlagen, auch andere Näheverhältnisse zu privilegieren.500 (1) Besonderes Nähe- und Vertrauensverhältnis Zum Teil wird gefordert, allgemein ein ‚besonderes Nähe- und Vertrauensverhältnis‘ in den Katalog des § 52 StPO aufzunehmen, wodurch nicht nur Ehepartner und Familienmitglieder, sondern alle Personen, die einem vergleichbaren Gewissenskonflikt unterliegen, erfasst wären.501 Diese Bestrebungen gehen zum Teil noch einen Schritt weiter und fordern eine komplette Abwendung von der Enumerationslösung hin zu einer Generalklausel. Um das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Zeugen bestmöglich zu schützen, sollte § 52 StPO immer am Vorliegen eines „besonderen persönlichen Näheund Vertrauensverhältnisses“ festgemacht werden.502 Hiervon würden nicht nur, aber vor allem nichteheliche Lebensgemeinschaften profitieren. Als Konsequenz der Ausrichtung des Zeugnisverweigerungsrechts an der ratio dürften Ehen, bei denen kein Näheverhältnis bestünde, nicht mehr zur Zeugnisverweigerung berechtigen.503 Als Kriterium für sein solches Vertrauensverhältnis könnten „Kontinuität, Intensität, gegenseitige Unterstützungsbereitschaft und [das] Einstehen füreinander“ herangezogen werden.504 Dass diese Lösung dem Zweck des § 52 StPO wohl am besten gerecht wird, wird auch von kritischen Stimmen anerkannt.505 Gegen diese Vorschläge werden jedoch Praktikabilitätsbedenken geäußert, da die Merkmale des Gewissenskonflikts oder des engen Verhältnisses im Einzelfall nicht hinrei-
500
Eine solche Forderung wurde zuletzt im Rahmen der 88. Justizministerkonferenz diskutiert. In diesem Zusammenhang wurde die Prüfung der Notwendigkeit einer Reform durch den Strafrechtsausschuss beschlossen, s. 88. Konferenz der Justizministerinnen & Justizminister 2017, Beschluss Top I.13, https://jm.rlp.de/fileadmin/mjv/Jumiko/Fruehjahrs konferenz_neu/I.13__Zeugnisverweigerungsrecht_fuer_schutzbeduerftige_persoenliche_ Naehebeziehungen.pdf, 12.12.2017. 501 Jansen, Zeugnisverweigerungsrecht, 2004, S. 254, wobei sie andere enge persönliche Beziehungen nicht aufgenommen haben möchte. 502 Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 242, der auch eine Mischform aus beidem, in Form eines enumerativen Privilegierungskatalogs mit Öffnungsklausel wie im isländischen Recht, für möglich hält. S.a. Nelles, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50. 503 Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG für die Ehe würde dadurch nicht tangiert, da Ehen ohne Vertrauensverhältnis durch eine Aussagepflicht auch nicht beeinflusst werden könnten, s. Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 239. 504 Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 241. 505 Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 102.
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chend sicher feststellbar seien.506 Diese Rechtsunsicherheit würde die Effizienz des Strafprozesses gefährden.507 Gerade die unterschiedlichen und meist recht kasuistischen Definitionsversuche des „besonderen Nähe- und Vertrauensverhältnisses“508 zeigen, wie schwierig es wäre, zu einer einheitlichen Auslegung zu kommen. (2) Eheähnliche Lebensgemeinschaft Als konkreteres Merkmal wird stattdessen lebhaft über die Aufnahme von Partnern einer ‚eheähnlichen Lebensgemeinschaft‘ und von Kindern aus sog. Patchworkfamilien diskutiert.509 Aus grundrechtlicher Sicht seien diese Änderungen dringend geboten. Der Gleichheitssatz gebiete eine solche Ausweitung.510 Auch die Einheit der Rechtsordnung gebiete eine Aufnahme, da die eheähnliche Lebensgemeinschaft in anderen Rechtsgebieten teils bereits der Ehe gleichgestellt werde.511 Schon 1877 sei auch das Verlöbnis als ebenso wenig klar beweisbares Verhältnis eingeschlossen worden.512 Eine Aufnahme 506
Baier, Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 167; Grünwald, Beweisrecht, 1993, S. 27; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 166; Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 102 Dass die Feststellung persönlicher Beziehungen besonders schwierig und nur beschränkt kontrollierbar ist, zeige auch § 1566 Abs. 1 BGB für das familiengerichtliche Verfahren, der eine unwiderlegliche Vermutung des Scheiterns der Ehe nach einjähriger Trennung aufstellt, s. Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 99. 507 Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 99; Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 102; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 166. 508 Die komplizierten Konkretisierungs- und Auslegungsversuche treibt Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 246, auf die Spitze. 509 Für nichteheliche Lebensgemeinschaft: Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100; Widmaier, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Referate, 1998, S. 50; Skwirblies, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1990, S. 189; für Kinder aus ‚Patchworkfamilien‘: Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 139; Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 36; Kett-Straub ZRP 2005, 46, S. 48; Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Beschlüsse, 1998, S. 50; Oberlies, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50. 510 Jansen, Zeugnisverweigerungsrecht, 2004, S. 260; Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/ Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 121; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 137. 511 Rautenberg, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Referate, 1998, S. 50; Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 37; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 171. Eine solche Gleichstellung der nichtehelichen Partner existiert bereits im Sozialrecht bei der Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 SGB III. Aber auch das Urteil BGHZ 177, 193 glich die Behandlung der Trennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften dem Vermögensausgleich nach der Scheidung an. 512 Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100.
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stelle auch die ehrlichere Lösung dar, da heute häufig unwahrerweise ein Verlöbnis behauptet werde.513 Die meiste Kritik erfährt dieser Vorschlag ebenfalls wegen seiner fehlenden Praktikabilität. Bei der ‚eheähnlichen Lebensgemeinschaft‘ träfe man in der Rechtspraxis auf Auslegungsschwierigkeiten, da der Begriff konturlos sei.514 Eine solche Regelung sei für die Praxis nicht geeignet, da keine korrekte Belehrung des Zeugen sichergestellt werden könne.515 Dies wird jedoch von Befürwortern unter Verweis auf Österreich bestritten.516 In Deutschland könne bzw. müsse von der Rechtsprechung schließlich auch ermittelt werden, ob ein Verlöbnis besteht.517 Für eine rechtliche Abgrenzung des privilegierten Personenkreises könnte sich an der beleidigungsfreien Sphäre und den ‚nahestehenden Personen‘ des § 35 Abs. 1 S. 1 StGB orientiert werden.518 Möglich wäre auch, die Vergleichbarkeit der Beziehung mit kodifizierten familienrechtlichen Instituten zur Voraussetzung zu machen,519 oder auf die durch die familienrechtliche Praxis herausgearbeiteten Voraussetzungen für eine eheähnliche Lebensgemeinschaft zurückzugreifen.520 Diese Definitionsansätze scheinen zwar vielversprechend. Allerdings bestünde weiterhin die Unsicherheit, wer wann belehrt werden müsste und dass eine fehlende oder fehlerhafte Belehrung eine ständig über dem Strafverfahren schwebende Revisionsgefahr bedeuten würde.521 513
S. 36.
§ 52 AE-ZVR, s. Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996,
514 Taeglichsbeck, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50; Bertsch, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50; Welp, in: Schulz/Vormbaum (Hrsg.), FS Bemmann: zum 70. Geburtstag am 15. Dezember 1997, 1997, S. 630. 515 Welp, in: Schulz/Vormbaum (Hrsg.), FS Bemmann: zum 70. Geburtstag am 15. Dezember 1997, 1997, S. 633. 516 Das österreichische Recht gewährt ohne praktische Probleme auch nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit § 156 Abs. 1 Nr. 1 öStPO i.V.m. § 72 Abs. 2 öStGB ein Zeugnisverweigerungsrecht. S. Pleischl, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50; zur einfachen Identifizierbarkeit s.a. Kett-Straub ZRP 2005, 46, S. 49. 517 Jansen, Zeugnisverweigerungsrecht, 2004, S. 255; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 142. 518 Jansen, Zeugnisverweigerungsrecht, 2004, S. 256. 519 Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 239. Er kritisiert die anhaltende Orientierung am Institut der Ehe. Auch Ehen könnten ohne ein schützenswertes Vertrauensverhältnis bestehen und dürften dann nicht mehr von § 52 StPO profitieren. 520 Ragnarsson, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen, 2008, S. 250. 521 Dem wiederspricht Jansen, Zeugnisverweigerungsrecht, 2004, S. 258 Die Belehrung würde nicht erschwert, da sie nur durchzuführen wäre, wenn Anzeichen für ein Näheverhältnis bestehen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die staatliche Ausforschung der privaten Lebensverhältnisse nicht auch schon einen Eingriff in das APR darstellt, der gerade von Gesetzes wegen nicht gewollt ist, vgl. § 1566 BGB.
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b) Ausweitung des sachlichen Schutzbereichs Daneben wurde aber auch eine Erweiterung des sachlichen Schutzbereichs diskutiert. Nach dem Reformvorschlag des Arbeitskreises Strafprozessrecht und Polizeirecht, der vom BMJ in Auftrag gegeben wurde, sollten zudem Informationen aus verdeckten Befragungen von Angehörigen nicht zu Lasten des Beschuldigten verwertet werden dürfen.522 Besonders die heimliche Befragung im Rahmen eines ‚Verhörs‘ durch V-Leute solle verhindert werden.523 Momentan bestehe eine Gesetzeslücke in Bezug auf den Schutz der Zeugnisverweigerungsrechte bei verdeckten Ermittlungsmaßnahmen.524 Diese könne durch eine Parallelregelung zu § 160a StPO für Angehörige geschlossen werden. 2. Einschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts Viele fordern hingegen die Einschränkung der Angehörigenprivilegierung. a) Nacheheliches Zeugnisverweigerungsrecht Das nacheheliche Zeugnisverweigerungsrecht von Ehegatten wird kritisiert, weil nach der Scheidung generell kein schützenswertes Vertrauensverhältnis mehr bestehe, sodass mit der Scheidung das Zeugnisverweigerungsrecht komplett wegfallen müsse. Ab der Scheidung bestünde eine erhöhte Gefahr, dass das Verweigerungsrecht missbräuchlich genutzt wird, um den ExEhepartner absichtlich nicht zu entlasten.525 Zumindest, so meinen andere, müsse das Zeugnisverweigerungsrecht in Bezug auf Wissen sachlich eingeschränkt werden, das erst nach der Scheidung erlangt wurde.526 Denn nach der Scheidung bestehe im Normalfall kein Vertrauensverhältnis mehr.527
522
Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 3. Nack, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 29. 524 Wolter, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 34. 525 Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 39. 526 Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100; Widmaier, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Referate, 1998, S. 50; der im Laufe der Diskussion jedoch seinen Standpunkt revidierte, s. ebd., S. 50; Dem Vorschlag von Weigend schloss sich der DJT nicht an, s. Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Beschlüsse, 1998, S. 50. 527 Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 104; Weigend, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50. Krä äußerte sich aber dezidiert gegen eine solche „halbherzige Zwischenlösung“ da nach der Scheidung entweder insgesamt ein schutzwürdiges Vertrauen bestehe, oder es bestehe nicht. Einen Mittelweg könne es logischerweise nicht geben, s. Krä, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50. 523
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Diese Gefahr der missbräuchlichen Nicht-Entlastung eines Unschuldigen besteht indes unabhängig von einer Scheidung.528 Durch eine Aussagepflicht könnten zudem gemeinsame Kinder und die „fortwirkende personale Verantwortung“529 der Geschiedenen belastet werden,530 unabhängig davon, ob das zu offenbarende Wissen vor oder nach der Scheidung erlangt wurde. b) Verlöbnis Zum Teil wird die Abschaffung des Verlöbnisses als privilegierender Faktor wegen der hohen Missbrauchsgefahr erwogen.531 Weigend fordert, dass das Verlöbnis nur, wenn es zivilrechtlich wirksam geschlossen wurde, anerkannt werden dürfe. Grundsätzlich solle das Verlöbnis aber weiterhin geschützt werden, da eine starke emotionale Bindung vor allem am Anfang einer Beziehung bestünde. Um Missbrauch vorzubeugen, sollten aber an die Glaubhaftmachung höhere Anforderungen gestellt werden.532 Der Bundesrat legte 2005 dem Bundestag einen Gesetzesentwurf zur Abschaffung der Privilegierung des Verlöbnisses durch das Zeugnisverweigerungsrecht vor.533 Er wurde damit begründet, dass der Stellenwert des Verlöbnisses abgenommen habe und dass das Verlöbnis daher immer häufiger missbräuchlich zur Vermeidung einer belastenden Aussage eingegangen werde.534 Zudem gebiete die „zunehmende Bedrohung der inneren Sicherheit durch schwerwiegende Straftaten und Terrorismus“ eine Abschaffung.535 Die Bundesregierung zweifelte in ihrer Stellungnahme am Anstieg der Missbrauchsfälle in den vergangenen Jahrzehnten.536 Der Entwurf wurde schließlich vom Bundestag abgelehnt. c) Opferschutz bei Delikten im familiären Nahbereich Weigend stellt fest, dass das Zeugnisverweigerungsrecht ein großes praktisches Hindernis für die Strafverfolgung vor allem bei Straftaten im familiären
528
Welp, in: Schulz/Vormbaum (Hrsg.), FS Bemmann: zum 70. Geburtstag am 15. Dezember 1997, 1997, S. 628; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 122; Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 106. 529 BVerfG NJW 1981, 1771, 1772. 530 Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 123; Bertsch, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50; Hammerstein, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50. 531 Skwirblies, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1990, S. 195. 532 Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100. 533 BT Drucks. 15/5659. 534 BT Drucks. 15/5659, S. 7. 535 BT Drucks. 15/5659, S. 6. 536 BT Drucks. 15/5659, S. 8.
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Bereich darstelle, das in anderen Ländern nicht bestehe.537 Um innerfamiliäre Straftaten aufklärbar zu machen, sollte Opfern als Zeugen kein Zeugnisverweigerungsrecht zustehen. In Härtefällen könne es für Opferzeugen aber ein verfassungsimmanentes Verweigerungsrecht unmittelbar aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht geben.538 Auf diese Problematik wird im Rahmen des Rechtsvergleichs zurückzukommen sein.539 d) Weite des privilegierten Familienkreises Die gesellschaftlichen Veränderungen seit 1877 könnten für eine Verkleinerung des privilegierten Verwandtenkreises sprechen.540 Der Schutz der Großfamilie sei, so meinen viele, nicht mehr zeitgemäß.541 Angedacht wird zum Teil, zumindest das Verweigerungsrecht bei Verschwägerung einzuschränken.542 Andere Stimmen wollen indes, mit unterschiedlichen Argumenten, gerade am großzügig gefassten Personenkreis des § 52 StPO festhalten.543 e) Sachlicher Schutzbereich In Deutschland wird eine Einschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts in Bezug auf das untersuchte Delikt gemeinhin nicht diskutiert. So scheint es als bloß prophylaktische Ablehnung eines etwaigen Vorschlags, der sich z.B. am englischen Recht orientieren könnte, zu verstehen zu sein, wenn Rieß sich gegen ein Zeugnisverweigerungsrecht wendet, das von der Schwere der zu
537
Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100. Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 110. 539 Zu Schutzbereichsausnahmen s. im Rechtsvergleich S. 263 ff. 540 Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 124; Kintzi, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50; Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 103. 541 Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 104, obwohl er hier ein weites gesetzgeberisches Ermessen sieht und das Verfassungsrecht keine bestimmte Regelung gebiete oder ausschließe; Auch Weigend erkennt einen Rückzug des „großfamiliären Zusammenhalts“ in den letzten Jahrzehnten und plädiert für eine Einschränkung des berechtigten Personenkreises auf den nächsten Verwandtenkreis, s. Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100. 542 Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 40. 543 Welp, in: Schulz/Vormbaum (Hrsg.), FS Bemmann: zum 70. Geburtstag am 15. Dezember 1997, 1997, S. 627; so auch Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 124; Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 114; Baumann/Höpfel/ Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 40; zustimmend auch Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 123; Bertsch merkt an, durch die verstärkte Migration kämen wieder mehr Familien mit starker familiärer Bindung nach Deutschland, s. Bertsch, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50. 538
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verfolgenden Tat abhängt. Eine solche Ausdifferenzierung sei für die Praxis und den Rechtsschutz nicht sinnvoll.544 3. Einführung eines Mitspracherechts des Beschuldigten Schütz diskutiert die Möglichkeit, die Aussage des Angehörigen generell unter die Voraussetzung der Genehmigung durch den Beschuldigten zu stellen, da hierdurch das Familienverhältnis abgesichert werde.545 Rengier setzt dagegen, dass dann Straftaten, die sich innerhalb der Familie abspielen, d.h. vor allem häusliche Gewalt und Sexualdelikte, praktisch unaufklärbar würden.546 Grünwald schlägt eine Regelung vor, nach der der angehörige Zeuge nur dann vernommen werden darf, wenn entweder der Beschuldigte dies beantragt oder der Zeuge sich explizit dazu bereiterklärt.547 Dieser Vorschlag lässt sich jedoch nicht mit dem Zeugenschutzgedanken des § 52 StPO vereinbaren. Zudem erinnert eine solche Regelung eher an den Parteienprozess, in dem ein Zeuge eindeutig dem einen oder anderen Lager zugerechnet werden kann.548 In den deutschen inquisitorischen Prozess würde eine solche Regelung jedoch nicht passen. 4. Reform der flankierenden Normen Auch Reformen der flankierenden Normen wurden vorgeschlagen. a) Neukonzeption des § 55 StPO Der Alternativentwurf-Zeugnisverweigerungsrechte (AE-ZVR) sieht eine Neufassung des § 55 StPO vor, die das Auskunftsverweigerungsrecht durch absolute und relative Zeugnisverweigerungsrechte ersetzten soll.549 Diese 544
Rieß, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50. Schütz, Verletzung, 1960, S. 71. 546 Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, 1979, S. 254. 547 Grünwald, Beweisrecht, 1993, S. 25. In seinem Gutachten zum 62. DJT diskutiert Weigend ebenfalls ein Mitbestimmungsrecht für den Beschuldigten nach dem Vorbild des § 53 Abs. 2 StPO in Bezug auf die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts, das jedoch auf belastende Informationen beschränkt werden müsse, s. Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100. 548 Welp, in: Schulz/Vormbaum (Hrsg.), FS Bemmann: zum 70. Geburtstag am 15. Dezember 1997, 1997, S. 628; Bialek, Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht, 2000, S. 122; Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 106. 549 Ein absolutes Zeugnisverweigerungsrecht solle bei einer Gefahr für Leben, der Offenbarungen von Informationen aus dem Kernbereich der Persönlichkeitssphäre, der Selbstbezichtigungsfreiheit oder der Bezichtigung eines Angehörigen greifen. Ein relatives Zeugnisverweigerungsrecht, d.h. ein Recht, das in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, bestünde bei „dringender Gefahr für körperliche Unversehrtheit, Freiheit oder wirtschaftli545
IV. Reformdiskussion
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Abkehr vom Aussage- hin zum allgemeinen Zeugnisverweigerungsrecht kritisiert Welp zu Recht stark, da für eine volle Verweigerung jedweder Aussage kein Grund besteht.550 Eine solche Erweiterung würde das staatliche Strafverfolgungsinteresse unverhältnismäßig einschränken.551 b) Editionspflicht und Beschlagnahmefreiheit Eine Ausnahme von der Editionspflicht soll nach dem AE-ZVR nicht nur für den Schriftverkehr zwischen dem Beschuldigten und dem Angehörigen, sondern auch zwischen zeugnisverweigerungsberechtigten Personen untereinander gelten.552 Der Aufforderung zur freiwilligen Herausgabe müsse außerdem eine Belehrung vorausgehen.553 Die Möglichkeit des Widerrufs der freiwilligen Herausgabe solle jedoch abgeschafft werden.554 Die Beschlagnahmefreiheit solle nicht mehr vom Gewahrsam abhängen.555 c) Reform des Untersuchungsverweigerungsrechts Auch das Untersuchungsverweigerungsrecht war bereits Gegenstand von Reformdiskussionen. So forderte Schmitt, § 81c Abs. 3 StPO zu streichen, da kein Schutzgut des § 52 StPO betroffen sei.556 Im Gegensatz dazu sehen
che Lebensgrundlage“ für den Zeugen oder einen nahen Angehörigen, s. Baumann/Höpfel/ Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 58 Die Zeugnispflicht soll sogar eingeschränkt werden, falls „bloßstellende Information, die [dem Zeugen selbst] zur Unehre gereichen“ könnten, preisgegeben werden müssten, was durch gerichtliche Anordnung aber aufgehoben werden können solle. Eine Privilegierung für den Fall, dass die Angaben Verwandten des Zeugen zur Unehre gereichen könnten, ist indes nicht vorgesehen. 550 Welp, in: Schulz/Vormbaum (Hrsg.), FS Bemmann: zum 70. Geburtstag am 15. Dezember 1997, 1997, S. 640. 551 Welp, in: Schulz/Vormbaum (Hrsg.), FS Bemmann: zum 70. Geburtstag am 15. Dezember 1997, 1997, S. 643; s.a. Görtz-Leible, Beschlagnahmeverbote, 2000, S. 336. 552 Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 78; unterstützend: LG Saarbrücken, NStZ 1988, 424; Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 87. 553 Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 79; s.a. Welp, in: Schulz/Vormbaum (Hrsg.), FS Bemmann: zum 70. Geburtstag am 15. Dezember 1997, 1997, S. 649. 554 Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 79. 555 Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 12; zustimmend Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 360; Schmitt fordert, das Gewahrsamserfordernis zumindest auf den Beschuldigten und die Post auszuweiten, s. Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 87 In diese Richtung auch LG Saarbrücken StV 1988, 480 f.; Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 429. 556 Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 88; Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 427.
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Rössner und der 62. Deutsche Juristentag in einem Beschluss den § 81c Abs. 3 StPO als unverzichtbar an.557 d) Heimliche Überwachungsmaßnahmen De lege lata werden persönliche Vertrauensverhältnisse – anders als berufliche Vertrauensverhältnisse – bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen höchst uneinheitlich geschützt.558 Die heimlichen Ermittlungsmethoden, über die in diesem Zusammenhang diskutiert wird, sind einerseits die akustische Wohnraumüberwachung gem. § 100c StPO und andererseits die Telekomunikationsüberwachung gem. § 100a StPO.559 Der Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht entwarf einen einheitlichen Regelungsvorschlag der Angehörigenprivilegierung bei verdeckten Ermittlungsmaßnahmen.560 Um Zeugnisverweigerungsberechtigte umfassend zu schützen, sollen Erkenntnisse, die durch eine Maßnahme gem. §§ 99, 100a, 100c, 100g, 111, 163b, 163d bis f StPO von einer solchen Person gewonnen wurden, zu Lasten des Beschuldigten nur unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit verwertet werden können.561 Der Entwurf sieht außerdem eine entsprechende Fernwirkung dieses Beweisverwertungsverbots vor.562
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Widmaier, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Referate, 1998, S. 50; Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Beschlüsse, 1998, S. 50. 558 LR-StPO-Hauck, § 100a, Rn. 93. 559 Schmitt, Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte, 1993, S. 55. Bei letzterer besteht bis dato keinerlei besonderer Schutz für Verwandte, s. LR-StPO-Hauck, § 100a, Rn. 92. 560 Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 14. Dies wurde auch schon von anderer Seite gefordert, s. Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 357; Der Gesetzgeber habe sich durch §§ 52 ff. StPO für den Schutz der zeugnisverweigerungsberechtigten Personen entschieden. Diesen bei heimlichen Ermittlungsmethoden nicht zu gewähren, sei nicht konsequent, s. Glaser/ Gedeon GA 2007, 415, S. 429; Welp, in: Schulz/Vormbaum (Hrsg.), FS Bemmann: zum 70. Geburtstag am 15. Dezember 1997, 1997, S. 650; diese Forderung erhebt auch Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 444 Weitere Reformvorschläge auch bei Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 360; Zöller StraFo 2008, 15, S. 22. 561 Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 5. Hiergegen wendet jedoch Neumann ein, dass eine automatische Verwertbarkeit der durch heimliche Ermittlung gewonnen Informationen zu Gunsten des Beschuldigten ein Widerspruch zu § 52 StPO darstelle und daher den Angehörigen zur Disposition gestellt werden müsse, s. Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 361. 562 § 53b Abs. 4 des Entwurfs; Wolter, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte, 2002, S. 37.
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5. Reform des Verwertungsverbotes nach § 252 StPO Nach dem AE-ZVR solle die aktuelle Praxis, nach der ermittlungsrichterliche Vernehmungen trotz § 252 StPO verwertbar bleiben, gesetzlich festgeschrieben werden, wobei aber über die spätere Verwertbarkeit belehrt werden müsse.563 Für eine solche qualifizierte Belehrung argumentiert auch der 2. Strafsenat des BGH. Denn dass die Verwertung einer früheren ermittlungsrichterlichen Aussage im Gegensatz zur polizeilichen oder staatsanwaltlichen Befragung in der Hauptverhandlung möglich ist, sei für den durchschnittlichen Zeugen nicht erkennbar. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Zeugen gebiete jedoch einen umfassenden Schutz, der nur durch eine Aufklärung über alle möglichen Folgen der Aussage gewährleistet werde. Die Effektivität des Strafverfahrens werde hierdurch nicht über Gebühr beeinträchtigt.564 Der 62. DJT sprach sich für eine solche Regelung auch für nichtrichterliche Befragungen aus.565 Weigend fordert indes in seinem Gutachten für den DJT, § 252 StPO solle wortlautgetreu, also nicht mehr als Verwertungs-, sondern allein als Verlesungsverbot verstanden werden. Allein der Zeugenschutz rechtfertige die aktuelle Einschränkung der Rechtspflege nicht.566 Frühere Zeugenaussagen wären dann für den Zeugen nicht länger disponibel.567 Dagegen wird jedoch eingewandt, dass die geltende Rechtslage einen sinnvollen Kompromiss für die Praxis darstelle568 und die Vernehmung von Verhörspersonen sowieso nur einen geringen Beweiswert habe, weswegen für die Rechtspflege durch eine Änderung ohnehin kein großer Vorteil entstünde.569 6. Generelle Kritik am Modell des Zeugnisverweigerungsrechts Jansen schlägt mit Verweis auf das französische Modell vor, dass alle Zeugen der Zeugnispflicht unterliegen sollten. Diese Pflicht solle wie früher in der DDR jedoch nicht mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden können. Denn es sei empirisch erwiesen, dass eine erzwungene Aussage sowieso nicht valide 563 § 252 StPO müsse entsprechend geändert werden, wobei sonstige Fälle der richterlichen Vernehmung keine Ausnahme zu § 252 StPO darstellen sollen. All dies gelte aber nicht, wenn das Zeugnisverweigerungsrecht erst nach der Vernehmung entstanden ist, da dann die Aufrechterhaltung der Beziehung im Vordergrund stehe, s. Baumann/Höpfel/ Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 107. 564 BGH, NStZ 2014, 596, 597 f.; HK-StPO-Julius, § 252, Rn. 10; KK-StPO-Diemer, § 252, Rn. 28. 565 Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Beschlüsse, 1998, S. 50. 566 Weigend, 62. DJT Gutachten C, 1998, S. 100; so auch Kintzi, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50. 567 Weigend, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50. 568 Widmaier, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Referate, 1998, S. 50. 569 Michalke, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50.
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ist. Vom Zeugnisverweigerungsrecht würde zumeist nur aus zweckfremden Gründen Gebrauch gemacht.570 Das Zeugnisverweigerungsrecht sei daher trotz der grundsätzlichen Schutzwürdigkeit individueller Freiheitsrechte kein guter Ansatz.571 Helgerth vertritt die Auffassung, dass Zeugnisverweigerungsrechte durch keinen legitimen Grund gerechtfertigt werden könnten und allein Kriminelle davon profitieren würden. Dies entspräche dem heutzutage überall lauter werdenden Ruf nach größerer innerer Sicherheit.572 7. Zwischenergebnis Insgesamt ist eine sehr rege Reformdiskussion in Deutschland zu beobachten, was aber für die deutsche Dogmatik insgesamt bezeichnend ist. Eine Gesetzesänderung ist in fast allen Bereichen – vielleicht bis auf die Streichung des Verlöbnisses – höchst unwahrscheinlich. Am häufigsten wird die Ausweitung des § 52 StPO auf andere Personengruppen, die eine vergleichbare Nähebeziehung aufweisen, insbesondere auf die eheähnliche Lebensgemeinschaft, gefordert. Da dies jedoch eine weitere Einschränkung der Beweismöglichkeiten im Strafverfahren bedeuten könnte, ist eine solche Reform kaum denkbar. Dem anderen Extrem – der Abschaffung der Privilegierung – steht deren verfassungsrechtliche Verwurzelung entgegen, auch wenn durch die Verfassung wohl nicht en détail vorgegeben ist, welcher Personenkreis wie privilegiert werden muss.
V. Fallstudie Beinahetreffer Als aktuelles Beispiel der Angehörigenprivilegierung wird im folgenden Teil das Problem des Beinahetreffers in Bezug auf die Problematik des § 52 StPO und dessen flankierende Normen dargestellt und analysiert. 1. Zusammenfassung des Sachverhalts von BGHSt 58, 84 Im Jahr 2010 wurde eine junge Frau in einem niedersächsischen Dorf auf brutale Art und Weise vergewaltigt.573 Das Opfer schätzte den Täter auf 25
570
Jansen, Zeugnisverweigerungsrecht, 2004, S. 253. Jansen, Zeugnisverweigerungsrecht, 2004, S. 254. 572 Helgerth, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50. Beling sieht das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen als einen zu starken Eingriff in die Wahrheitsfindungsmöglichkeiten, wobei er jedoch die historische Verwurzelung des § 52 StPO anerkennt, sodass daran nichts geändert werden könne, s. Beling, Beweisverbote, 1903, S. 38. 573 Der Täter wurde gem. §§ 177 Abs. 1 und 2 S. 2 Nr. 1 und Abs. 4 Nr. 2a StGB verurteilt, s. BGHSt 58, 84. 571
V. Fallstudie Beinahetreffer
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Jahre. Am Opfer und am Tatort wurden DNA-Spuren gefunden, die vermutlich vom Täter stammten. Sie konnten jedoch keiner erfassten Person aus der DNA-Analyse-Datei gem. § 81g Abs. 5 StPO zugeordnet werden. Im Ermittlungsverfahren wurde ein freiwilliger Reihengentest gem. § 81h StPO für alle 18- bis 40-jährigen Bewohner der Tatortgemeinde durchgeführt, an dem rund 2.400 Männer teilnahmen.574 Unter den Teilnehmern befanden sich auch der Vater und zwei Onkel des schlussendlich verurteilten 16-jährigen Täters. Der Täter selbst gab keine DNA-Probe ab, auch weil er schon nicht zum untersuchten Personenkreis gehörte. Im Labor fielen beim Vater und einem der beiden Onkel eine erhöhte genetische Übereinstimmung zwischen DNA-Spur und Probe auf. Diese Übereinstimmungen waren nicht hoch genug dafür, als dass die beiden Personen als Täter in Frage kämen. Allerdings sprach die Übereinstimmung dafür, dass die Probanden mit dem tatsächlichen Täter verwandt sind. Das Labor teilte diese Ähnlichkeit der Polizei mit, um die restlichen 800 noch offenen Proben auf weitere Verwandten des Vaters und des Onkels hin zu durchsuchen und so den Abgleich zu beschleunigen.575 Da dies keinen Erfolg brachte, ermittelte die Polizei nach einem Melderegisterabgleich im familiären Umfeld der beiden identifizierten Personen, wodurch sie auf den erst 16-jährigen Sohn des einen Probanden stießen. Nach einer gem. § 81a StPO erzwungenen DNA-Probe wurde eine Übereinstimmung zwischen der Tatortspur und der DNA des Sohnes festgestellt. Der Sohn wurde am 02. November 2011 erstinstanzlich durch das LG Osnabrück zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren verurteilt. Das Urteil wurde am 20. Dezember 2012 vom BGH bestätigt.576 Die Individualverfassungsbeschwerde des Angeklagten zum BVerfG wurde nicht zur Entscheidung angenommen.577 2. Naturwissenschaftlicher Hintergrund des Beinahetreffers Zum Verständnis des Beinahetreffers müssen die naturwissenschaftlichen Grundzüge der DNA-Analyse dargestellt werden. a) Grundzüge der DNA-Analyse In der Desoxyribonukleinsäure (DNA) sind alle Erbinformationen eines Lebewesens gespeichert. Die DNA jedes Menschen ist – mit Ausnahme von eineiigen Zwillingen – einzigartig.578 Die nukleäre DNA setzt sich aus einem codiertem und einem nicht codiertem Teil zusammen. Der codierte Teil der 574
Busch NJW 2013, 1771, S. 1772. Rogall JZ 2013, 874, S. 875; Löffelmann JR 2013, 270, S. 271. 576 BGHSt 58, 84. 577 BVerfG ZD 2015, 423, 425. 578 Madea, Madea 2015, 3. Aufl., S. 793; SK-StPO-Rogall, § 81a, Rn. 105. 575
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DNA beinhaltet die Erbanlagen. Hieraus lässt sich z.B. die Haarfarbe oder die Disposition für bestimmte Krankheiten ablesen.579 Zu 90–95% besteht die DNA aus nicht codierten Sequenzen, die keine Informationen über die betroffene Person enthält. Trotzdem sind die darin erhaltenen Muster einzigartig, sodass hierüber ein Abgleich mit DNA-Spuren möglich ist, ohne auf die Erbinformationen dieser Person Rückschlüsse zu erhalten.580 Daher wird bei einer DNA-Analyse für Ermittlungszwecke nur der nicht codierte Teil verwendet.581 Beim Reihengentest werden DNA-Spuren vom Tatort mit freiwillig abgegebenen DNA-Proben potentieller Spurenleger abgeglichen. Menschen hinterlassen permanent DNA-Spuren, wobei aber nicht jede Spur eine ausreichende Menge an Informationen aufweist. Für eine ergiebige Spur muss daher genug DNA-Material z.B. aus Blut, Sperma, Haaren oder Hautresten vorgefunden werden.582 Die DNA sind auf 23 Chromosomenpaare verteilt, die in Form einer Doppelhelix spiralförmig in jeder menschlichen Zelle vorkommt.583 Für die Identitätsfeststellung werden Abschnitte eines Chromosoms verwendet, die die Merkmalsausprägung eines bestimmten Gens darstellen, sog. Loci. Die verwendeten Loci bestehen aus einer sich häufig wiederholenden kurzen Basensequenz des nicht codierten Teils der DNA, sog. Short Tandem Repeats (STR).584 Die individuelle genetische Ausprägung in einem Locus wird Allel genannt und gibt Aufschluss auf den Probengeber.585 Pro untersuchtem DNAAbschnitt kann ein Mensch zwei unterschiedliche Allele aufweisen: das der Mutter und das des Vaters, sofern diese sich unterscheiden.586 Verglichen werden daher beim familial searching Allele in ausgesuchten Systemen.587 Es
579
Ademi, Massengentest, 2011, S. 8; SK-StPO-Rogall, § 81a, Rn. 103. Mit den heutzutage gängigen ‚Multiplex-Kits‘ wird jedoch neben dem DNA-Identifizierungsmuster immer schon automatisch das Geschlecht mit ermittelt. S. Neuser, Rechtsfragen, 2006, S. 37; SK-StPO-Rogall, § 81a, Rn. 103. 581 Madea, Madea 2015, 3. Aufl., S. 793. 582 Neuser, Rechtsfragen, 2006, S. 41. 583 Lee, Gesetzliche Vorschriften, 2013, S. 8. 584 Madea, Madea 2015, 3. Aufl., S. 791. 585 Bei jedem STR gibt es einen Rahmen, in dem sich die Wiederholungszahl der Basensequenzen bewegt. Der jeweiligen Wiederholung kann dann aufgrund statistischer Daten eine Häufigkeit in Bezug auf die ethnisch vergleichbare Population zugeordnet werden. Dasselbe wird mit den anderen STR gemacht, sodass am Ende eine Wahrscheinlichkeit errechnet werden kann, wie sicher die Person, die mit der zu vergleichenden Spur übereinstimmt, tatsächlich der Probengeber ist, d.h. wie wahrscheinlich eine zweite Person dasselbe DNA-Identifizierungsmuster aufweist. S. Neuser, Rechtsfragen, 2006, S. 38. 586 Wirth/Schmeling, Rechtsmedizin, 32012, S. 323; Neuser, Rechtsfragen, 2006, S. 34; SK-StPO-Rogall, § 81a, Rn. 103. 587 Madea, Madea 2015, 3. Aufl., S. 792. 580
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gibt in jedem Locus häufigere und weniger häufigere Allele.588 Heutzutage werden dabei in Deutschland acht Loci analysiert,589 deren Übereinstimmung mit der Tatortspur abgeglichen und dann auf eine Wahrscheinlichkeit der Übereinstimmung von Probengeber und Täter untersucht.590 In diese Wahrscheinlichkeitsberechnung wird die Häufigkeit der einzelnen übereinstimmenden Allele in einer vergleichbaren Population der Herkunftsregion des Betroffenen errechnet.591 Diese Wahrscheinlichkeiten werden dann zusammengerechnet, sodass im Ergebnis eine Wahrscheinlichkeit in Form von 1:X ermittelt werden kann, nach der der Probengeber mit dem Spurenleger identisch ist. Gibt es eine komplette Übereinstimmung, so ist immer noch die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, mit der eine andere Person über identische Allele verfügen könnte.592 Neben der nukleären DNA gibt es noch die mitochondriale DNA (mtDNA) außerhalb des Zellkerns. Diese erlaubt einen Identitätsabgleich auch wenn die Vergleichsprobe nur wenig DNA zum Vergleich hergibt.593 Gleichzeitig wird aber der Beweiswert einer Übereinstimmung gemindert.594 Die mtDNA wird nur mütterlicherseits vererbt, sodass nur Frauen durch mtDNA weiblicher Vor- bzw. Nachfahren identifiziert werden können.595 Als Gegenstück dazu können y-chromosomale Marker nur bei männlichen Tätern nachgewiesen werden, die mit männlichen Verwandten abgeglichen werden können.596 Die-
588
Bestimmte Allele sind – obwohl sie zum nicht codierten Teil der DNA gehören – durch Vererbung bei bestimmten Ethnien oder auch nur in bestimmten Regionen besonders verbreitet, s. Brodersen/Anslinger/Rolf, DNA-Analyse, 2003, Rn. 243; Cowen/Thomson Forensic Sci Int Genet Supp 2008, 643. 589 Lee, Gesetzliche Vorschriften, 2013, S. 25; Durch eine Einigung auf europäischer Ebene wurde dieser Katalog nun aber auf dreizehn Systeme ausgeweitet. S. Madea, Madea 2015, 3. Aufl., S. 793; International werden bis zu 16 Systeme miteinander verglichen, s. SK-StPO-Rogall, § 81a, Rn. 103. 590 Die einzelnen technischen Schritte der DNA-Sequenzierung zur Gewinnung der Allele bedürfen hier keiner weiteren Erklärung. Heutzutage werden DNA-Identifizierungsmuster durch die Polymerase-Kettenreaktion gewonnen. Für eine Identitätsfeststellung werden die Loci durch das STR-Verfahren sichtbar gemacht, s. vertiefend s. Madea, Madea 2015, 3. Aufl., S. 792. 591 Brodersen/Anslinger/Rolf, DNA-Analyse, 2003, Rn. 246; Greely/Riordan/Garrison/ Mountain JLME 34 (2006), 248, S. 252. 592 Zudem besteht die seltene Möglichkeit einer Allelmutation, s. Madea, Madea 2015, 3. Aufl., S. 812; Curran/Buckleton Science & Justice 2008, 164, S. 165. 593 SK-StPO-Rogall, § 81a, Rn. 104. 594 Lee, Gesetzliche Vorschriften, 2013, S. 28. 595 Wirth/Schmeling, Rechtsmedizin, 32012, S. 328; Neuser, Rechtsfragen, 2006, S. 39; Brodersen/Anslinger/Rolf, DNA-Analyse, 2003, Rn. 264. 596 Brodersen/Anslinger/Rolf, DNA-Analyse, 2003, Rn. 258.
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se Untersuchung wird bei Reihengentests nicht angewandt, sondern dient zumeist der Überführung einer bereits verdächtigen Person.597 b) Möglichkeit der Verwandtschaftsanalyse Beim Reihengentest werden nun grundsätzlich die Allele nach Übereinstimmungen verglichen. Eine Identität aller Allele lässt grundsätzlich auf eine Übereinstimmung des Spurenlegers mit dem Täter schließen. Es ist möglich, dass eine Person zwar eine erhöhte Anzahl identischer Allele aufweist, die Wahrscheinlichkeitsberechnung aber dennoch dagegen spricht, dass die getestete Person der Spurenleger ist. Dies kann ein Indiz für eine Verwandtschaft des Probengebers mit dem Spurenleger sein. Bei Vaterschaftsanalysen ist eine Verwandtschaft erst bei vier oder mehr Unterschieden auszuschließen. Es besteht also eine relativ breite Variationsmöglichkeit der Allele zwischen Vater und Kind.598 Unter Geschwistern kann hierzu allgemeingültig nichts gesagt werden.599 Da bestimmte Allele in gewissen Loci häufiger vorkommen als andere, kann man nicht pauschal sagen, wie viele Allele übereinstimmen müssen, um von einer Verwandtschaft ausgehen zu können. Eine verallgemeinerte Wahrscheinlichkeit, dass ein naher Verwandter, d.h. Mütter, Väter, Kinder und Geschwister des Täters in einer DNA-Datenbank ermittelt werden können liegt bei ca. 75%.600 Trotzdem wird abhängig von der angewandten Analysemethode und der Qualität der verglichenen Proben häufig nicht nur die Person als match angezeigt, die tatsächlich mit dem Spurenleger verwandt ist, sondern auch etliche weitere Personen. Eine Übereinstimmung darf daher nicht als Beweis für eine Verwandtschaft missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich um einen Ermittlungsansatz, der auch ins Leere
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So dienten die y-chromosomalen Marker auch im Beinahetreffer-Fall als Beweis, dass der Beschuldigte auch Spuren im Intimbereich des Opfers hinterlassen hatte, die durch nukleäre DNA nicht hätte nachgewiesen werden konnten, s. LG Osnabrück, Urteil vom 2. November 2011, Az. 3 KLs 10/11, Rn. 69 (juris). 598 Madea, Madea 2015, 3. Aufl., S. 829. Ca. 50% der DNA von Eltern und Kinder sind identisch, s. Greely/Riordan/Garrison/Mountain JLME 34 (2006), 248, S. 251. 599 Gabel Hastings Women’s L.R. 21 (2010), 3, S. 20. 600 Curran/Buckleton Science & Justice 2008, 164, S. 166; diese Zahl wird jedoch von Gershaw et al. angezweifelt, s. Gershaw/Schweighardt/Rourke/Wallace Forensic Sci Int Genet 5 (2011), 16, S. 17; zu den Übereinstimmungen abhängig vom Verwandtschaftsgrad, s. Maguire/McCallum/Storey/Whitaker Forensic Sci Int Genet 8 (2014), 1, S. 3; Wah Whittier L. Rev. 29 (2007), 909, S. 921; bei Geschwistern s. Hicks/Taroni/Curran/ Buckleton/Castella/Ribaux Forensic Sci Int Genet 2010, 316; Wahrscheinlichkeitsberechnungen nach unterschiedlichen Analysesystemen im Vergleich, s. Bieber/Brenner/ Lazer Science 2006, 1315, S. 1315; Reid/Baird/Reid/Lee/Lee Forensic Sci Int Genet 2 (2008), 304, die eine kritische Position in Bezug auf die bisherige Zuverlässigkeit des familial searchings einnehmen, da standartmäßig noch nicht genug Informationen aufgenommen werden.
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führen kann.601 Eine Identifizierung ist insbesondere für erstgradige Verwandtschaft, mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit auch für entferntere Verwandte möglich.602 Entfernte Verwandte sind deutlich weniger wahrscheinlich zu finden, da sie höchstens zu einem Viertel über dieselbe DNA verfügen.603 Im Beinahetreffer-Fall kam neben der allgemeinen hohen Übereinstimmung der Allele noch hinzu, dass in einem Locus ein besonders seltenes Allel bei zwei Probengebern vorlag, das auch die Tatortspur aufwies. Dieses Allel war in keiner der anderen über 1.800 Proben enthalten, sodass mit einer großen Sicherheit auf eine Verwandtschaft geschlossen werden konnte.604 c) Familial searching Die Suche nach genetischen Ähnlichkeiten ist im Ausland zum Teil bereits als gezielte Ermittlungsmaßnahme etabliert.605 Zufällig bekannt gewordene Übereinstimmungen wie im Fall des Beinahetreffers werden partial matches genannt.606 Das Vereinigte Königreich und einige Staaten der USA wenden jedoch auch familial searching bzw. familial profiling an, bei dem genetisches Material nicht nur auf der Suche nach vollkommenen Übereinstimmungen (match/no match), sondern auch gezielt nach einem near match im Rahmen einer low stringency search verwendet wird.607 Hierfür werden unter601
Greely/Riordan/Garrison/Mountain JLME 34 (2006), 248, S. 253. Pham-Hoai/Crispino/Hampikian J. Forensic Sci. 59 (2014), 816, S. 817. 603 Greely/Riordan/Garrison/Mountain JLME 34 (2006), 248, S. 252; Curran/Buckleton Science & Justice 2008, 164, S. 165. 604 LG Osnabrück, Urteil vom 2. November 2011, Az. 3 KLs 10/11, Rn. 64 (juris). 605 S. hierzu S. 190 ff.; Swoboda StV 2013, 461, S. 461; Kanz ZJS 2013, 518, S. 518 weist darauf hin, dass diese Methode bereits in England, den USA und den Niederlanden gängige Praxis ist. 606 Federal Bureau of Investigation, Familial Searching, https://www.fbi.gov/aboutus/lab/biometric-analysis/codis/familial-searching, 30.03.2016. 607 Zu England s. S. 257 ff. Zu USA: National Institute of Justice, Familial DNA Searching, 2015, S. 23; Federal Bureau of Investigation, Familial Searching, https:// www.fbi.gov/about-us/lab/biometric-analysis/codis/familial-searching, 30.03.2016, wonach familial searching zwar nicht auf nationaler Ebene, aber in Kalifornien, Colorado, Florida, Michigan, Texas, Utah, Virginia, Wisconsin und Wyoming durchgeführt wird. Zur Umsetzung der Erlaubnis s. Gabel Hastings Women’s L.R. 21 (2010), 3, S. 37 Gleichzeitig ist es in Maryland explizit verboten, s. Gershaw/Schweighardt/Rourke/Wallace Forensic Sci Int Genet 5 (2011), 16, S. 19. Zu Stimmen in den USA, die zum einen die Effektivität der Methode herausstellen, s. die Website des Denver District Attorney, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das familial searching in den USA zu etablieren, abrufbar unter http://www.denverda.org/dna/familial_dna_database_searches.htm; Epstein U. Ill. J.L. Tech. & Pol’y 2009, 141; Chamberlain Crim. Just. 27 (2012–2013), 18; Gabel Hastings Women’s L.R. 21 (2010), 3, S. 21; Pattock Minn. J.L. Sci. & Tech. 12 (2011), 851 und andererseits Bedenken in Bezug auf Privatsphäre und Gleichberechtigung durch ethnische 602
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B. Deutschland – Subjektive Zeugnisverweigerungsrechte
schiedliche Untersuchungsmethoden angewandt und zum Teil kombiniert.608 Zum einen werden die Proben auf die Gesamtanzahl übereinstimmender Allele getestet, aber auch die Übereinstimmung seltener Allele in bestimmten Loci oder der y-chromosomalen bzw. mitochondrialen DNA wird geprüft.609 Dies zeigt, dass die gezielte Suche nach Verwandten des Spurenlegers technisch unproblematisch möglich ist. In Deutschland wird jedoch im Strafverfahren bis jetzt nicht offiziell gezielt nach Verwandten gesucht. Trotzdem scheint es familial searchings schon gegeben zu haben: Bereits im Jahr 1999 wurde ein FallFall eines getöteten Säuglings bekannt, in dem gezielt nach Verwandten des Opfers gesucht wurde.610 Ebenso scheint es in SchleswigHolstein bereits zu einem Fall mit Beinahetreffer gekommen zu sein.611 Beck bemerkt richtigerweise, dass es möglicherweise auch schon früher häufiger zu Beinahetreffern gekommen ist, dies jedoch nicht auf Widerspruch stieß und so in der juristischen und naturwissenschaftlichen Literatur nicht rezipiert werden konnte.612 3. Rechtslage Der für diese Arbeit entscheidende Punkt des Beinahetreffer-Urteils betrifft das Angehörigenverhältnis zwischen Probengeber und Täter. Das Urteil berührt daneben eine Vielzahl von Themen und wirft etliche schwierige und neue Rechtsfragen auf, von denen die Angehörigenprivilegierung nur eine ist.613 Eben wegen dieser Vielzahl von Problemen wird auf die VerwandtDiskriminierung haben, s. z.B. Grimm Colum. L. Rev. 107 (2007), 1164; Gabel Hastings Women’s L.R. 21 (2010), 3; Choi Hastings Const. L. Q. 39 (2011–2012), 713, S. 725; Suter Harv. J. L. & Tech. 23 (2009), 309, S. 368 Differenziert: Kaye Cornell J. L. & Pub. Pol’y 19 (2009), 145. 608 Zu den unterschiedlichen Untersuchungsmethoden s. Ge/Chakraborty/Eisenberg/ Budowle J. Forensic Sci. 2011, 1446; Myers/Timken/Piucci/Sims/Greenwald/Weigand/ Konzak/Bouncristiani, Forensic Sci Int Genet 5 (2011), 493; Murphy Mich. L. Rev. 109 (2010), 291, S. 343. 609 Curran/Buckleton Science & Justice 2008, 164, S. 165; Wah Whittier L. Rev. 29 (2007), 909, S. 947. 610 Dieser Fall spielte daher noch vor dem ersten offiziellen familial searching in England, s. S. 257 f. Zu diesem Fall s. LG Dortmund, NStZ 2008, 175 ff. hierzu auch Ademi, Massengentest, 2011, S. 47; Beck, DNA-Analyse, 2015, S. 333; von einem weiteren Fall berichtete auch Volk NStZ 2002, 561, S. 565. 611 Breuer, Justizministerin Spoorendonk setzt sich für eine Regelung zur Verwertung sogenannter DNA-Beinahetreffer ein, 11.06.2013. 612 Beck, DNA-Analyse, 2015, S. 333. 613 Der größte Streit dreht sich darum, ob der Beinahetreffer nicht bereits durch § 81h StPO erlaubt ist und inwiefern diese Regelung eine Zweckbindung für die Verwendung der DNA-Proben enthält. Viele Autoren sprechen von einer eindeutigen Zweckbindung, sodass überhaupt keine unklare Rechtslage bestanden hätte. S. Jahn JuS 2013, 470, S. 472; Swoboda StV 2013, 461, S. 465; Kanz ZJS 2013, 518, S. 521; Müller, BGH zur DNA-
V. Fallstudie Beinahetreffer
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schaftsproblematik in vielen Urteilsbesprechungen nur oberflächlich eingegangen. Das Problem für den Verwandtenschutz liegt – knapp gesagt – darin, dass durch die Verwertung des Beinahetreffers die Verwandten unwissentlich und daher auch unwillentlich ihren eigenen Angehörigen überführen, indem sie die Polizei auf ihn aufmerksam machen. a) LG Osnabrück Das LG Osnabrück sah in der Verwertung des Beinahetreffers keinen Konflikt mit dem strafprozessualen Angehörigenschutz. Eine Belehrung über die potentielle Belastung von Verwandten vor Abgabe einer (überdies freiwilligen) DNA-Probe sei gesetzlich nicht vorgesehen und auch aus sonstigen Gründen nicht nötig. Die Einwilligung in die Verwendung der Daten sei auch nicht fehlerhaft gewesen, da die Ermittlungsbeamten zum Zeitpunkt der Belehrung nach § 81c Abs. 4 StPO über den Verwendungszweck keinerlei Anhaltspunkte für eine mögliche Belastung eines Verwandten hatten. Eine Belehrung hierüber kam nicht in Betracht, da nicht hätte konkretisiert werden können, wer möglicherweise belastet werden könnte.614 Zudem seien Beweisverwertungsverbote nur im äußersten Ausnahmefall anzunehmen, da sie die Effektivität der Strafrechtspflege stark beeinträchtigten. Der strafprozessuale Angehörigenschutz sei nicht absolut garantiert, sodass Schutzlücken nicht
Verwertung zu Lasten Verwandter – nur eine kleine Gesetzeslücke?, http://blog.beck.de/ 2012/12/21/bgh-zur-dna-verwertung-zu-lasten-verwandter-nur-eine-kleine-gesetzesl-cke, 15.07.2016. Dies sei bereits in § 81h Abs. 1 StPO („[…] soweit dies zur Feststellung erforderlich ist, ob das Spurenmaterial von diesen Personen stammt, […]“) vorgeschrieben, s. Hunsmann StRR 2013, 142, S. 142; Swoboda StV 2013, 461, S. 463. Busch erkennt ebenfalls eine Zweckbindung im Zusammenspiel von § 81h Abs. 1 StPO und dem Verweis des § 81h Abs. 3 S. 1 StPO auf § 81g Abs. 2 S. 2 StPO. Dieser Bewertung der Rechtslage wiedersprechen Brocke, Rogall, Löffelmann, Magnus und Beck, die keinen Zweckbindungsvorbehalt aus dem Gesetz lesen und daher eine spätere Verwendung von DNAProben für den Beinahetreffer bereits vom geltenden Recht als gedeckt ansehen, s. Brocke StraFo 2011, 298, S. 300; Rogall JZ 2013, 874, S. 876; Löffelmann JR 2013, 270, S. 277; Magnus ZRP 2015, 13; Beck, DNA-Analyse, 2015, S. 321. Die Entscheidung des BGH wurde auch in Bezug auf den durch das Gericht eingeräumten „Freiversuch“ (s. Hüttenrauch NJ 2013, 218, S. 219) der Ermittlungsbehörden kritisiert, die bei unklarer Rechtslage einmal gegen das Gesetz verstoßen dürften, ohne dass die Unverwertbarkeit des Beweismittels eintritt, s. Jahn JuS 2013, 470, S. 472; Kanz ZJS 2013, 518, S. 521; Hüttenrauch NJ 2013, 218, S. 219; Hunsmann StRR 2013, 142, S. 142; a.A. Busch NJW 2013, 1771, S. 1773. Tatsächlich ist die Konstruktion des BGH eines prozessualen ‚unvermeidbaren Verbotsirrtums‘ ist im Sinne des Vorbehalts des Gesetzes schwer nachvollziehbar und wohl allein durch die Schwere der verhandelten Tat eine pragmatische durch die Umstände bedingte Entscheidung. Ein rechtliches Fundament lässt diese Ausnahmeregelung allerdings vermissen. 614 LG Osnabrück, Urteil vom 2. November 2011, Az. 3 KLs 10/11 (juris), Rn. 76.
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B. Deutschland – Subjektive Zeugnisverweigerungsrechte
direkt gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstießen.615 Zudem fehle es beim Beinahetreffer an einer familiär belastendenden Konfliktsituation für den Probegeber, da er freiwillig ohne staatlichen Zwang teilnehme.616 b) BGH Der BGH sah dagegen in der Verwertung der DNA-Proben von Vater und Onkel zulasten des Täters eine mit den in §§ 81c Abs. 3 S. 1 und 2 2. H.S., 52 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 S. 1 StPO beschriebenen Fällen vergleichbare Situation.617 Die Verwendung der DNA-Identifizierungsmuster von Vater und Onkel seien ursprünglich in einer Ermittlung gegen Unbekannt aufgenommen worden. Nachträglich sei jedoch mit der Verwertung gegen den Angehörigen eine Situation geschaffen worden, in der Verweigerungsrechte bestehen und vor der die §§ 52 und 81c Abs. 3 StPO schützen sollen. Eine Verwertung der Proben der Verwandten sei nur nach nachgeholter Belehrung618 und Einwilligung in diese Nutzung der persönlichen Daten gem. § 4 BDSG zulässig gewesen. Dies hätte aber nicht stattgefunden, sodass nach den Grundsätzen zur Rügefähigkeit von Verletzungen der Verweigerungsrechte der Angeklagte auch eine Verletzung seiner Interessen im Rahmen der Revision geltend machen konnte.619 Dies verhalf dem Angeklagten jedoch im Endeffekt trotzdem nicht zu einer erfolgreichen Revision, da der BGH ausnahmsweise – durch die Annahme einer Art prozessualen unvermeidbaren Verbotsirrtums – kein Beweisverwertungsverbot sah.620 c) BVerfG Der Täter, sein Vater und sein Onkel mahnten in ihrer Verfassungsbeschwerde einen Verstoß gegen das Recht auf faires Verfahren, das Recht auf
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LG Osnabrück, Urteil vom 2. November 2011, Az. 3 KLs 10/11 (juris), Rn. 77 f. mit Bezug auf §§ 252 und 100a StPO, die den Angehörigenschutz nicht absolut vorschreiben. 616 LG Osnabrück, Urteil vom 2. November 2011, Az. 3 KLs 10/11 (juris), Rn. 79. 617 BGH NStZ 2013, 242, 244 f. 618 Zur nachgeholten Belehrung verweist der BGH auf BGHSt 12, 235, 242: „Da die sachgemäße Belehrung über das Weigerungsrecht von nicht geringerer Bedeutung ist, meint der Große Senat, daß nur der Richter sie vorzunehmen hat. Ist die richterliche Belehrung unterblieben, so darf ein Untersuchungsergebnis nicht verwertet werden, selbst wenn der gesetzliche Vertreter dem zustimmt; denn nur die richterliche Belehrung gewährleistet es, daß der gesetzliche Vertreter das Für und Wider seiner Entscheidung richtig beurteilen kann. Hingegen ist es zulässig, ein zunächst ohne wirksame Zustimmung des gesetzlichen Vertreters gewonnenes Untersuchungsergebnis als Beweismittel zu benutzen, wenn dieser nach richterlicher Belehrung darin einwilligt. Da das unmündige Kind über sein Weigerungsrecht nicht entscheiden kann, braucht es naturgemäß auch nicht belehrt zu werden.“ 619 Meyer-Goßner/Schmitt, § 52, Rn. 32. 620 BGH NStZ 2013, 242, 245.
V. Fallstudie Beinahetreffer
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informationelle Selbstbestimmung und von Art. 6 Abs. 1 GG an. Aus dem vom BGH festgestellten Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbots habe auch in diesem Fall ein Beweisverwertungsverbot folgen müssen.621 Die Beschwerde wurde jedoch nicht zur Entscheidung angenommen.622 Das BVerfG äußerte sich in seinem Beschluss nur zu der Konstruktion eines unvermeidbaren prozessualen Verbotsirrtums und ließ daher die diesem Irrtum zu Grunde liegende Verletzung der Angehörigenrechte unberücksichtigt. Dies mag allerdings auch daran liegen, dass die Beschwerdeschrift wohl insgesamt nicht hinreichend begründet war.623 d) Literatur Die Kritik der Literatur am BGH-Urteil setzt zum einen bei der Frage an, ob die geltende Rechtslage überhaupt eine Berücksichtigung des Verwandtschaftsverhältnisses gebietet; zum anderen, wie das geltende Recht diesem angemessen Rechnung tragen kann. Aufgrund der nun in Kraft getretenen Reform kann die zweite Frage nunmehr ausgeklammert werden kann. Insofern verbleibt die Frage, ob die Interessenlage bei der Durchführung eines Beinahetreffers mit der bei einer erzwungenen Aussage vergleichbar ist. Löffelmann zweifelt daran, dass bei der Verwertung eines Beinahetreffers eine mit § 81c Abs. 3 StPO vergleichbare Interessenlage bestehe, da die Angehörigeninteresse nicht in einem relevanten Ausmaß durch den Beinahetreffer beeinträchtigt würden.624 Auch Rogall sieht den Angehörigenschutz überhaupt nicht tangiert, da Verwandte durch die angewandte Methode nicht gezielt gesucht würden.625 Gegen die Vergleichbarkeit der Interessenlage werden im Wesentlichen zwei Punkte eingewandt:
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BVerfG ZD 2015, 423, 425. BVerfG ZD 2015, 423, 425. 623 Hierauf lässt der Beschlusses teils schließen, s. BVerfG, 2 BvR 616/13 vom 13.05.2015, Rn. 50 f. 624 Löffelmann JR 2013, 270, S. 279. Außerdem kritisiert er, dass der BGH durch sein Urteil Rechtspolitik betrieben und dadurch seine Kompetenzen überschritten habe. Es seien auch das Strafverfolgungsinteresse in die Abwägung mit den Individualinteressen nicht eingestellt worden. Auch Brocke zweifelt an der Vergleichbarkeit. Eine Analogie sei verfassungsrechtlich nicht nötig, weil das Recht auf faires Verfahren nicht verletzt sei und beim Reihengentest auch kein staatlicher Zwang angewandt werde. Außerdem seien Beweisverwertungsverbote restriktiv zu handhaben, s. Brocke StraFo 2011, 298, S. 301. 625 Rogall JZ 2013, 874, S. 879. 622
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aa) Freiwilligkeit Die Teilnahme am Reihengentest erfolgt, anders als die Duldung der körperlichen Untersuchung nach § 81c StPO, freiwillig.626 Problematisch ist jedoch, dass die Testpersonen zwar über die Möglichkeit der Belastung ihrer Verwandten aufgeklärt werden müssen, die Relevanz einer solchen Aufklärung jedoch gar nicht wirklich verstehen. Sofern ein Proband die Möglichkeit eines Beinahetreffers nicht kennt, ist die Maßnahme rechtlich gesehen nicht freiwillig, da dann die Voraussetzungen für eine wirksame Einwilligung nicht vorliegen. Sofern ein Wissensdefizit vorliegt, kann der Proband nicht wirksam einwilligen.627 Allerdings ist fraglich, ob bei einer Massenuntersuchung je über die Tragweite der Möglichkeit eines Beinahetreffers im Rahmen der Belehrung adäquat aufgeklärt werden kann. Soweit die Gefahr der Überführung eines Angehörigen somit nicht eindeutig kenntlich gemacht wird, ist die Maßnahme mit einer Zwangsmaßnahme vergleichbar. bb) Passive Teilnahme am Verfahren Ein weiterer Einwand gegen die vergleichbare Interessenlage liegt darin, dass die Reihenuntersuchung eine rein passive Partizipation am Strafverfahren darstellt.628 Allerdings ist auch eine passive Kooperation wie bei der körperlichen Untersuchung gem. § 81c Abs. 3 StPO von den Angehörigenprivilegierungen erfasst. Denn die Angehörigenprivilegierung soll nicht nur die emotionale Situation des ‚Belastungszeugen‘ während der Durchführung der Ermittlungsmaßnahme erleichtern, sondern auch vor der Belastung im Laufe des Verfahrens und danach schützen. Der Teilnehmer am Reihengentest, bei dem es zu einem Beinahetreffer kommt, wird sich im Laufe des Prozesses darüber bewusst werden, dass seine DNA-Probe kausal für die Verurteilung seines nahen Angehörigen ist. So kann das Gefühl entstehen, den Verwandten ‚ans Messer geliefert zu haben‘.629 Auch der Täter kann das Gefühl entwickeln, von seinen Verwandten ‚verraten‘ worden zu sein. Zudem kann durch eine partielle Übereinstimmung die gesamte nähere Verwandtschaft des Probanden in den Fokus der Ermittlungsbehörden geraten. So wird also – ausgelöst durch die Kooperation eines Angehörigen – im Endeffekt nicht nur gegen den tatsächlichen Täter, sondern auch gegen etliche unbeteiligte Dritte ermittelt. Diese Ermittlungsmaßnahmen können sehr eingriffsintensiv sein, stark verunsichernd wirken und so ein tiefes und anhaltendes Misstrauen im Fami626
Brocke StraFo 2011, 298, S. 302; Rogall JZ 2013, 874, S. 880; Hunsmann StRR 2013, 142, S. 142. 627 Vgl. die Rechtsprechung zu ärztlichen Heileingriffen: BGH NStZ 2011, 343; NKStGB-Paeffgen, § 228, Rn. 73. 628 Löffelmann JR 2013, 270, S. 278. 629 Swoboda StV 2013, 461, S. 467.
V. Fallstudie Beinahetreffer
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lienkreis entstehen lassen.630 Dass angesichts all dieser Auswirkungen allein der eher passive Charakter einer Probenabgabe den Angehörigenschutz ausschließen soll, erscheint zweifelhaft.631 Daher ist beim Beinahetreffer eine mit § 52 StPO vergleichbar Interessenlage gegeben, sodass die Voraussetzungen einer Analogie erfüllt wären. cc) Fehlender Beschuldigter zum Zeitpunkt der Probenabgabe Dass der verwandte Täter, nach dem gesucht wird, noch nicht identifiziert ist und damit auch noch nicht Beschuldigter ist, ändert hieran nichts. Denn der Angehörigenschutz der StPO setzt – wie § 55 StPO zeigt – nicht erst ein, wenn gegen den Angehörigen bereits ein Verfahren läuft.632 Im Übrigen lässt sich auch eine Parallele zur ‚gewöhnlichen‘ Zeugenaussage ziehen: Es ist völlig anerkannt, dass ein Zeuge auch dann noch in den Genuss der §§ 52, 252 StPO kommt, wenn er zunächst seinen Angehörigen belastet hat, ohne zu wissen, dass es sich um seinen Angehörigen handelt. Wenn z.B. ein Tatzeuge das Aussehen des Täters beschreibt und sich später herausstellt, dass die beschriebene Person der Bruder des Zeugen ist, würde niemand daran zweifeln, dass die ursprüngliche Aussage nach § 252 StPO unverwertbar ist, obwohl – oder gerade weil – sich der Zeuge bei seiner früheren Aussage deren Tragweite nicht bewusst war.633 630
Bedenkt man dann noch die unwahrscheinliche aber dennoch im Rahmen des Möglichen liegende Chance, dass die Übereinstimmung rein zufällig bestand und der Täter sich nicht unter den nahen Verwandten des Probanden befindet, so kann die potentielle Auswirkung des Beinahetreffers auf die Familie und denjenigen, der am Reihengentest teilgenommen hat, als sehr hoch und in diesem Fall unverhältnismäßig eingestuft werden. 631 Aber auch Beck als Verfechterin der strikten Dichotomie zwischen aktiver privilegierungswürdiger und passiver nicht privilegierungswürdiger Teilnahme am Verfahren wertet die Teilnahme am Beinahetreffer, aufgrund der Gefahr hierdurch ganz neue Ermittlungsansätze zu geben, als aktive Teilnahme, s. Beck, DNA-Analyse, 2015, S. 331. 632 SK-StPO-Rogall, § 81c, Rn. 44; Beck, DNA-Analyse, 2015, S. 328, die diesen umfassenden Schutz nur für das tatsächliche Zeugnis, nicht für § 81c StPO anerkennt. Der Beinahetreffer sei systematisch aber eher als aktives Zeugnis und nicht als bloß passive Untersuchung zu werten. 633 Hieran knüpft die Diskussion, ob in dieser Konstellation eine Belehrung nötig und möglich ist: So wird vertreten, dass eine Belehrung in Bezug auf Verwandte zwar auch bei freiwilligen Maßnahmen nötig, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich gewesen sei, weil noch kein Beschuldigter bekannt war, mit dem die Probanden verwandt sein könnten, s. Busch NJW 2013, 1771, S. 1772; Swoboda StV 2013, 461, S. 468. Hiergegen wird eingewandt, dass das Untersuchungsverweigerungsrecht parallel zum Auskunftsverweigerungsrecht gem. § 55 StPO konstruiert werden könne, s. SK-StPO-Rogall, § 81c, Rn. 44; Radtke/Hohmann-StPO-Beukelmann, § 81c, Rn. 12; krit. HK-StPO-Lemke, § 81c, Rn. 19. Dagegen spräche aber, dass § 81c StPO explizit nur § 52 StPO betreffe und auch die Reichweite von Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrecht unterschiedlich sei, s. Busch NJW 2013, 1771, S. 1772.
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4. Gesetzesreform Nach dem Urteil des BGH ist der Gesetzgeber, was die Große Koalition bereits 2013 in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hatte,634 im Rahmen des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens635 vom 17. August 2017 tatig geworden. Hierdurch wurden §§ 81e und 81h StPO reformiert, sodass mit Wirkung zum 24. August 2017 das familial searching im Rahmen eines Reihengentests nun auch in Deutschland zulässig ist.636 a) Inhalt der Reform § 81h Abs. 1 StPO ermöglicht nun nicht nur die Verwertung des Beinahetreffers, sondern auch des gezielten familial searching bei Reihengentests, indem explizit die Zweckbestimmung hierfür erweitert wird.637 Für den Abgleich mit der DNA-Analysedatei des BKA ist ein familial searching jedoch nicht vorgesehen. Die Proben des Reihengentests sollen weiterhin, nachdem die Ermittlungen im jeweiligen Fall abgeschlossen sind, umgehend vernichtet werden. Zudem wurde die der Einwilligung zum Reihengentest zu Grunde liegende Belehrung nach § 81h Abs. 4 S. 2 StPO geändert. Nötig ist die schriftliche Belehrung über die Möglichkeit der Suche nach Verwandtschaft und über den genauen Verwandtenkreis, in dem ermittelt werden darf, damit der Proband die ‚Gefahr‘ für seine Familie abschätzen kann.638 Dies soll den Probengeber in eine Situation versetzten, in der er „darüber disponieren [kann], ob er durch sein Verhalten dazu beitragen möchte, dass ein naher Verwandter der Strafverfolgung ausgesetzt wird.“639 Eine solche Lösung 634
CDU, CSU und SPD, Deutschlands Zukunft gestalten, 2013, S. 145. Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens in der Fassung vom 17. August 2017, BGBl I S. 3202, das auf den Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 27.05.2016, S. 5 f. beruht. 636 Eine solche Änderung wurde explizit von Hunsmann StRR 2013, 142, S. 142 und Löffelmann JR 2013, 270, S. 280 befürwortet. Auch Busch NJW 2013, 1771, S. 1774 und Rogall JZ 2013, 874, S. 879 sprachen sich für eine Ermöglichung der Verwertbarkeit von Beinahetreffern aus. 637 Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 27.05.2016, S. 5, 27, 29. 638 Zum Umfang der schriftlichen Belehrung s. Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 27.05.2016, S. 30. 639 Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 27.05.2016, S. 27 f. 635
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berühre die Rechte möglicherweise betroffener Angehörigen nicht.640 Die Gesetzesbegründung ist an diesem Punkt indes recht oberflächlich gehalten.641 b) Kritik an der Reform Starke Kritik an der Zulässigkeit des Beinahetreffers äußerte Swoboda. Diese Kritik ist auch nach Inkrafttreten der Gesetzesreform weiterhin von Bedeutung: Das familial searching beeinträchtige das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in Form der informationellen Selbstbestimmung und das Recht auf eine familiäre Privatsphäre.642 So könnten intime Familiendetails wie uneheliche Kinder oder Kinder aus inzestuösen Beziehungen durch staatliche Einwirkung aufgedeckt werden, wodurch ein unüberschaubarer Personenkreis durch die Ermittlungen betroffen werde.643 Nicht jeder Beinahetreffer lasse immer zweifelsfrei auf einen Verwandten schließen, da eine genetische Übereinstimmung auch zufällig bestehen kann.644 Außerdem hat die Tatortspur nur eine begrenzte Aussagekraft über die Täterschaft einer Person. So kommt Swoboda zu dem Schluss, dass es rechtlich nicht vertretbar sei, den Beinahe-
640 „Auch Artikel 6 Absatz 1 GG ist nicht berührt. Das Familiengrundrecht schützt vor staatlichen Maßnahmen, die die Familie schädigen, stören oder sonst beeinträchtigen […]. Es vermittelt aber keinen Schutz gegen Familienangehörige, die freiwillig zur Strafverfolgung eines Verwandten beitragen. Die erweiterten Untersuchungsmöglichkeiten stellen auch keinen Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze des ‚fair trial‘ dar. Derjenige, der infolge eines Beinahetreffers und weiterer Ermittlungen in Verdacht geraten ist, steht nicht anders, als hätte ihn ein Verwandter gegenüber der Polizei der Tat bezichtigt. Gegen die Ergebnisse eines DNA-Tests, der gegen ihn selbst nach § 81f StPO angeordnet wurde (3. Stufe), kann er sich uneingeschränkt verteidigen […].“ s. Referentenentwurf des BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 27.05.2016, S. 28. 641 Dies dürfte der Tatsache geschuldet sein, dass der RefE eigentlich nur Vorschläge der StPO-Expertenkommission umsetzen sollte, der den Beinahetreffer nicht behandelt, s. BMJV, Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, Oktober 2015. 642 Swoboda StV 2013, 461, S. 466 Die Analyse des nicht-codierten Bereichs der DNA betreffe zwar nicht den Kernbereich privater Lebensgestaltung, komme aber durch die darauf enthaltenen Daten wie Rasse und Abstammung dem sehr nahe. 643 Swoboda StV 2013, 461, S. 467. Dies stelle insbesondere dann eine nicht hinnehmbare Belastung dar, wenn die Gefahr besteht, dass der Beinahetreffer überhaupt nicht auf eine Verwandtschaft hinweist, sondern allein zufällig durch ethnische Übereinstimmungen erzeugt wurde, s. ebd., S. 467. 644 Swoboda StV 2013, 461, S. 462; ähnlich Schadwinkel, Koalition will mit MassenGentests nach Verwandten fahnden, http://www.zeit.de/wissen/2013-11/gentest-beinahe treffer-verbrechen, 04.10.2016.
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treffer im Rahmen eines familial searching verwertbar zu machen.645 Hiergegen wird eingewandt, dass es bei der DNA-Analyse überhaupt nicht möglich sei, Beinahetreffer nicht zu registrieren, sodass diese auch nicht verboten werden könnten.646 Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen der Kenntnisnahme des wissenschaftlichen Personals, das mit der Untersuchung betraut ist und der Weitergabe an die Ermittlungsbehörden. Genau diese könnte nämlich unterbunden werden.647 Angeregt wurde auch, eine Fernwirkung gesetzlich festzuschreiben, da es für die Ermittlungsbehörden lohnend sein könnte, den Beinahetreffer auf prozessrechtswidrigem und daher unverwertbaren Wege herbeizuführen, damit der hierdurch entstandene Verdacht gegen ein Familienmitglied als Spurenansatz trotzdem weiter verfolgt werden könnte.648 5. Stellungnahme Es ist wohl nicht zu leugnen, dass die Verwertbarkeit von Beinahetreffern und auch die Zulässigkeit des familial searching vor allem von Seiten der Strafverfolgung für notwendig erachtet wird. Da bis jetzt aber noch kein Land der Welt seine forensischen Ermittlungsmöglichkeiten von selbst wieder eingeschränkt hat, wenn sie einmal im System etabliert waren,649 müssen vorsichtig Kosten und Nutzen des familial searching abgewogen werden. a) Reichweite der Ermächtigungsgrundlage Zu aller erst muss die Reichweite der neuen Ermächtigungsgrundlage festgestellt werden. § 81h n.F. StPO berechtigt auch zur gezielten Fahndung nach Beinahetreffern im Sinne eines familial searching. Das geringste Eingriffsniveau stellt eine Legalisierung der Verwendung von zufälligen Beinahetreffern dar. Den Ermittlungsbehörden dürfte allerdings daran gelegen sein, auch das gezielte familial searching zu ermöglichen, um dessen volles Potential ausschöpfen zu dürfen.650 Die zweite Stufe der Eingriffsintensität ist der gezielte Einsatz des familial searching bei Reihengentests. Die Polizei kann so Personen in der Hoffnung, dass nicht sie, sondern ein Angehöriger dadurch überführt wird, zur Abgabe einer DNA-Probe auffordert. Noch weiter würde es gehen, wenn der Abgleich von DNA-Profilen in der Analysedatei immer auch 645
Swoboda StV 2013, 461, S. 469. Brocke StraFo 2011, 298, S. 299; Rogall JZ 2013, 874, S. 879. 647 S. Beck, DNA-Analyse, 2015, S. 324; So nun auch in Massachusetts, s. Gershaw/ Schweighardt/Rourke/Wallace Forensic Sci Int Genet 5 (2011), 16, S. 18. 648 Swoboda StV 2013, 461, S. 469. 649 Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 619. 650 Insbesondere bei einer Kombination von hoher Übereinstimmung möglichst vieler Allele, dem likelyhood ratio approach und einem Abgleich der chromosomalen DNA kann mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine Verwandtschaft ermittelt werden, s. Murphy Mich. L. Rev. 109 (2010), 291, S. 344. 646
V. Fallstudie Beinahetreffer
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automatisch auf eine Verwandtschaft erfolgen würde, selbst wenn die in der Datenbank enthaltenen Profile nicht unter Einverständnis mit dieser Ermittlungsmethode abgegeben wurden. Das Urteil des BGH betraf nur die Verwertung eines ‚Zufallsfundes‘. Die Gesetzesreform sieht allerdings die zweite Lösung eines gezielten familial searching bei Reihengentests vor.651 b) Begrenzung auf geeignete Katalogtaten Das familial searching ist nur für bestimmte schwere Katalogtaten als ultima ratio zulässig, da es nur im Rahmen des unter Richtervorbehalt stehenden Reihengentests möglich ist.652 Wenn es wirklich nur bei den schwersten Straftaten zugelassen wird, so ist die Wahrscheinlichkeit wohl auch größer, dass die Probengeber kein Problem damit haben, an der Überführung ihres Verwandten mitzuwirken. Bei der Entscheidung, ob eine solche Suche durchgeführt wird, sollte allerdings standartmäßig geprüft werden, ob gesichert ist, dass die Tatortspur tatsächlich vom Täter stammt.653 c) Beweisnotstand Eine weitere Voraussetzung für den Einsatz des familial searching könnte ein drohender Beweisnotstand sein.654 Dies sieht der Entwurf nicht vor. In der Praxis werden Reihengentests aus finanziellen Gründen sowieso nur in den Fällen durchgeführt, in denen keine andere Aufklärungsmöglichkeit besteht. Wenn die Kosten sinken, könnte sich dies jedoch schnell ändern. d) Belehrung Um dem Prinzip der Angehörigenprivilegierung gerecht zu werden, darf das familial searching nur durchgeführt werden, wenn der Proband umfänglich über die hiermit für die Familie verbundenen Risiken aufgeklärt wurde und er sein Einverständnis damit erklärt hat. Die Freiwilligkeit der Teilnahme ändert hieran nichts.655 Eine komplette Freiwilligkeit kann nur gewahrt werden, wenn dem Betroffenen alle möglichen Auswirkungen der Teilnahme vor 651
Referentenentwurf des BMJVz, Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 27.05.2016, S. 5, 27, 29. 652 Auch in Kalifornien ist die Verwertung eines near match nur möglich, wenn die Ermittlungsbehörde, das Labor und die StA sich auf eine Verwendung einigen, s. McCarthy Notre Dame L. Rev. 86 (2011), 381, S. 404. Eine Begrenzung auf Katalogtaten schlagen auch Choi Hastings Const. L. Q. 39 (2011–2012), 713, S. 733, Barca Hastings L. J. (Hastings Law Journal) 64 (2012-2013), 499, Murphy Mich. L. Rev. 109 (2010), 291, S. 342 und Suter Harv. J. L. & Tech. 23 (2009), 309, S. 388 für die USA vor. 653 McCartney, Brit. J. Criminol. 46 (2006), 175, 185 f. 654 So in manchen Staaten der USA, s. Murphy Mich. L. Rev. 109 (2010), 291, S. 342. 655 Selbst bei der freiwilligen Herausgabe beschlagnahmefreier Gegenstände wird dies gefordert, s. Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 79.
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B. Deutschland – Subjektive Zeugnisverweigerungsrechte
Augen geführt wurden. Denn allein die freiwillige Kooperation sagt noch nicht, dass der Betroffene weiß, wozu er in diesem Moment beiträgt.656 Diesem Erfordernis wird § 81h StPO n.F. auch gerecht. Gleichzeitig schließt es eine zukünftige Ausweitung des familial searching auf den ‚normalen‘ Abgleich mit der DNA-Analysedatei aus, da hier zwangsweise erhobene Profile verglichen werden. Problematisch scheint jedoch an dem Entwurf, dass die einwilligende Person nur ein sehr unklares Bild davon bekommen kann, wen genau sie weiteren Ermittlungen aussetzen könnte, weil es (noch) an einem Beschuldigten fehlt. Zwar wird abstrakt ein Kreis ‚bedrohter‘ Verwandter genannt. Weiß man aber sowohl von der Tat als auch von der konkreten beschuldigten Person, so ist die Abwägung, die der Angehörige innerlich tätigen wird, deutlich konkreter möglich. Klar ist, dass eine Einwilligung nie für unbestimmte Fälle in der Zukunft erteilt werden kann, sodass auch dies gegen eine Ausweitung auf den Analysedateiabgleich spricht.657 Wird das familial searching aber nur in dem überschaubareren Zeitraum und Kontext des Reihengentests angewandt, dessen Ergebnisse nach Durchführung sofort gelöscht werden, wiegen die Bedenken gegen diese Ermittlungsmaßnahme wohl nicht mehr so schwer. Die Voraussetzung ist jedoch, dass der Probengeber tatsächlich versteht, welche Auswirkungen seine Teilnahme für seine Verwandten haben könnte; der Hinweis auf die Verwandtenbelastung also nicht ‚im Kleingedruckten‘ stattfindet. e) Weiteres Vorgehen Der Schutz der Familie und der betroffenen Person sollte außerdem nicht nur durch einen klar vorgegebenen Ablauf der Probenentnahme, sondern auch im weiteren Verlauf der Ermittlungen sichergestellt werden. So besteht bei der Recherche nach Angehörigen die Gefahr, dass herauskommt, dass eine genetische Verwandtschaft unerwartet – sei es wegen Adoption oder aus anderen Gründen – nicht besteht oder dass eine Verwandtschaft aufgedeckt wird, die vorher nicht bekannt war. Gerade das aufgedrängte Wissen über die eigene 656
Diese Befürchtung äußern auch Curran/Buckleton Science & Justice 2008, 164, S. 164 für Neuseeland; Wah sieht eine Lösung in der formularmäßigen Aufklärung der Probanden über die Verwendung der Probe, s. Wah Whittier L. Rev. 29 (2007), 909, S. 956. 657 Falls auch langfristig gespeicherte Profile aus der Analysedatei für ein familial searching verwendet werden sollten, müsste die Abwägung für die Zukunft getätigt werden. Es ist aber nicht absehbar, welches Familienmitglied in Zukunft in Konflikt mit dem Gesetz kommen könnte. Zu bedenken ist, dass Kinder oder Enkel durch eine Probe, die weit vor deren Geburt abgegeben wurde, belastet werden können. Dies lässt an der Möglichkeit einer wirksamen Einwilligung für das familial searching bei langfristig gespeicherten Proben zweifeln. Sowohl das APR als auch Art. 6 GG scheinen hier nur unzureichend geschützt.
V. Fallstudie Beinahetreffer
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Abstammung ist aber höchst grundrechtsrelevant. Denn wenn es ein Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung gibt,658 müsste es dann nicht auch dessen negative Kehrseite geben, nämlich das Recht, nicht vom Staat mit einem solchen Wissen belastet zu werden?659 Das bedeutet nicht, dass dieses Problem dem familial searching entgegensteht. Allerdings muss diese Problematik beim Vorgehen der Ermittlungsbehörden bedacht werden. Hier müsste sichergestellt werden, dass solcherlei Informationen nur im Ausnahmefall, wenn es unvermeidbar ist, der betroffenen Familie mitgeteilt werden. f) Beweisverwertungsverbot und Fernwirkung Für den Fall eines rechtswidrigen familial searching müsste im Sinne des BGH-Urteils ein Beweisverwertungsverbot und auch ausnahmsweise eine Fernwirkung aus Disziplinierungsgründen gelten, da sonst der Angehörigenschutz nicht hinreichend garantiert werden kann.660 Denn das entscheidende Beweismittel in späteren Verfahren gegen den Verwandten ist nicht die DNA-Probe der Angehörigen, die den Beinahetreffer ergeben, sondern ein später durchgeführter Abgleich der DNA des Beschuldigten mit den Tatortspuren. Dieser Abgleich wird aufgrund der Spur, die der Beinahetreffer liefert, gem. §§ 81a Abs. 1, 81e Abs. 1 StPO zwangsweise durchgeführt und wäre durch ein Verwertungsverbot des Beinahetreffers nicht ‚infiziert‘.661 Gerade weil die Fälle, in denen Reihengentests durchgeführt werden, schwerwiegende Straftaten betreffen, ist es gut vorstellbar, dass die Polizei – eine zwar verbotene aber erfolgsversprechende Ermittlungsmethode vor Augen – doch auf den Beinahetreffer zurückgreifen wird, wenn sie den Spurenansatz schließlich verwenden darf. Nach dem Urteil des BGH besteht Unsicherheit, ob sich der BGH allein für ein Beweisverwertungsverbot für den rechtswidrig erlangten Beinahetreffer oder auch – entgegen seiner bisherigen Rechtsprechung662 – für eine Fernwirkung des Beweiserhebungsverbotes ausgesprochen hat.663 Die Gesetzesreform hat in dieser Hinsicht leider keine Klarheit gebracht. Der Ball liegt insofern erneut im Feld der Rechtsprechung.
658
Maunz/Dürig-Di Fabio, Art. 2, Rn. 212. Ein solches Nichtwissen kann vor allem beim Umgang mit gefährlichen Erbkrankheiten relevant werden, s. McCarthy Notre Dame L. Rev. 86 (2011), 381, S. 400; Suter Harv. J. L. & Tech. 23 (2009), 309, S. 347. 660 BVerfGE 113, 29, 61; 130, 1, 28. 661 Kanz ZJS 2013, 518, S. 521; Swoboda StV 2013, 461, S. 465; Löffelmann JR 2013, 270, S. 279. 662 Der BGH hat sich wegen der Gefahr von Beweisverlusten bei schwerer Kriminalität eher skeptisch zu einer Fernwirkung geäußert, die das gesamte Strafverfahren lahm legen könnte, s. BGH NStZ 1984, 275 m. Anm. Wolter; BGHR StPO § 110a Fernwirkung 1. 663 Nur ausnahmsweise nimmt der BGH eine Fernwirkung an, s. BGHSt 29, 244, 251. 659
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B. Deutschland – Subjektive Zeugnisverweigerungsrechte
g) Zwischenergebnis Es kann festgestellt werden, dass § 81h StPO n.F. einen guten Ansatz zur Regelung des Beinahetreffers bietet. Grundsätzlich wird der Verwandtenschutz genügend umgesetzt. Allerdings fehlen Regeln zum Umgang mit Verwandtschaftsbefunden, die ausschließen, dass ungewollt Betroffene mit einer bis dahin unbekannten Blutsverwandtschaft oder dem Fehlen einer solchen konfrontiert werden. Zudem werden die Folgen eines rechtswidrig durchgeführten familial searching nicht ausreichend geregelt, weil keine Fernwirkung eines Verstoßes vorgeschrieben wird. Dies wäre aber nötig, um den Ermittlungsorganen klar aufzuzeigen, dass ein familial searching, das unter Verstoß gegen § 81h Abs. 1 StPO n.F. oder ganz ohne Ermächtigungsgrundlage in der DNA-Analysedatei durchgeführt wird, aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht toleriert werden kann.
VI. Zusammenfassung Die Angehörigenprivilegierung wird im deutschen Recht vielfältig und weitestgehend folgerichtig umgesetzt. In Deutschland ist das Prozessrecht häufig „angewandte[s] Verfassungsrecht“664 und hat damit eine grundrechtswahrende Funktion.665 Zum Stellenwert des Angehörigenschutzes hat das BVerfG festgestellt: „Die darin [i.e. in einem Verstoß gegen das Zeugnisverweigerungsrecht] liegende Missachtung des Vertrauensverhältnisses zwischen einem Beschuldigten und seinen Angehörigen im Sinne des § 52 StPO enthält einen Verstoß gegen das Prinzip eines fairen Verfahrens, da der in verschiedenen Vorschriften des Strafverfahrensrechts garantierte Schutz eines Angehörigenverhältnisses […] in seinem Kernbestand zu den rechtsstaatlich unverzichtbaren Erfordernissen eines fairen Verfahrens zählt.“666
Symptomatisch für den hohen Stellenwert der Privilegierung ist, dass Swoboda in der Diskussion über den Beinahetreffer auch im rechtsvergleichenden Exkurs wie selbstverständlich davon ausgeht, dass es auch in England ein Zeugnisverweigerungsrecht gebe.667 Ein deutscher Jurist kommt gar nicht auf die Idee, dass die Familie in anderen Prozessordnungen keine so hervorgehobene Rolle spielen könnte und stellt die Berechtigung und den Stellenwert der Angehörigenprivilegien nicht in Frage.668 Das Zeugnisverweigerungsrecht 664
2
Sax, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte Bd. 3 Hbd. 2, 1972, S. 967. 665 BVerfGE 57, 274 f.; 70, 307 f.; 74, 371. 666 BVerfG NStZ 2000, 489, 450; s.a. BVerfG NJW 2010, 287. 667 Swoboda StV 2013, 461, S. 468. 668 Rössner, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Referate, 1998, S. 50.
VI. Zusammenfassung
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stellt in Deutschland eine wichtige Schranke staatlicher Ermittlungsbefugnisse dar,669 obwohl hierdurch sowohl das staatliche Strafverfolgungsinteresse als auch zum Teil Beschuldigteninteressen beeinträchtigt werden.670
669 670
Rautenberg, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), 62. DJT Diskussionen, 1998, S. 50. Baumann/Höpfel/Huber, AE-Zeugnisverweigerungsrechte, 1996, S. 24.
C. Frankreich – Incapacité und simple renseignement Angehörige des Beschuldigten müssen in Frankreich in der Hauptverhandlung nur unvereidigt aussagen. In allen anderen Verfahrensabschnitten werden sie wie jeder andere Zeuge behandelt. Da jedoch der französische Strafprozess abhängig von der jeweiligen Prozessphase sehr unterschiedlichen Regeln unterliegt, wird zunächst in das französische Strafprozessrecht eingeführt (I.). Im zweiten Teil wird dann die aktuelle Rechtslage in Bezug auf die Aussage von Angehörigen erläutert (II.). Im dritten Teil wird ein Überblick über die historische Entwicklung des französischen Strafprozesses gegeben. Daran knüpfen eine Analyse der verfolgten ratio der Sonderreglung für Angehörige (III.) und die Reformdiskussion zur Regelung der Zeugenaussage von Angehörigen (IV.) an. Im fünften Teil wird der Umgang des französischen Rechts mit dem Beinahetreffer untersucht (V.).
I. Der französische Strafprozess Der Aufbau des französischen Strafverfahrens ist sowohl für ein grundlegendes Verständnis der französischen Rechtslage als auch für das Verständnis einzelner Regelungen essentiell. Das französische Strafprozessrecht kennt keinen allgemeinen Teil, der für jede Prozessphase gilt, sondern sieht für jede Phase unterschiedliche Regeln vor. Insbesondere für die Cour d’assises gilt ein verstärktes Unmittelbarkeitsprinzip, das sich auch auf die Zeugenvernehmung auswirkt.1 Das französische Verfahren ist in drei Abschnitte gegliedert. In der enquête policier ermittelt allein die police judiciaire (Kriminalpolizei). In der Phase der polizeilichen Ermittlung wird wiederum zwischen der ‚normalen‘ enquête préliminaire und der enquête en cas d’infraction flagrante unterschieden. Bei einer infraction flagrante sind die Kompetenzen der police judiciaire deutlich erweitert, um Verzögerungen bei der Ermittlung bei der 1 Das Verfahren vor der Cour d’assises ist der Prototyp des französischen Strafverfahrens, von dem sich jedoch das Verfahren vor dem Tribunal correctionnel entfernt hat, das in der Praxis für den Großteil der Strafverfahren zuständig ist, s. Leblois-Happe, in: Leblois-Happe/Stuckenberg (Hrsg.), Hauptverhandlung: 4. Deutsch-französische Strafrechtstagung, 2014.
I. Der französische Strafprozess
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‚frischen Tat‘ zu vermeiden.2 Die zweite Phase ist die instruction. Der dabei ermittelnde juge d’instruction verfügt über deutlich weitere Ermittlungskompetenzen als die Polizei.3 Beide Ermittlungsabschnitte vollziehen sich nichtöffentlich, nicht-akkusatorisch und schriftlich.4 Die instruction wird in der Praxis allerdings häufig nur noch durchgeführt, wenn dies obligatorisch ist, was nur bei crimes (Art. 79 CPP), d.h. bei Straftaten mit einer Strafe von min. zehn Jahren (Art. 131–1 CP), der Fall ist. Der letzte Verfahrensschritt ist das gerichtliche Hauptverfahren, die sog. Phase des jugement mit der audition als Hauptverhandlung, die mit einer Entscheidung über die Schuld und Strafe des Angeklagten abschließt. Hier ist der Prozess abermals je nach zuständigem Gericht unterschiedlich ausgestaltet. Für Verbrechen (crimes)5 ist die Cour d’assises zuständig, die durch eine Jury über die Schuldfrage entscheidet, woraufhin ein Richtergremium die Strafzumessung vornimmt. Über Vergehen (délits)6 entscheidet das Tribunal correctionnel und Übertretungen (contraventions)7 werden vom Tribunal de police abgeurteilt. Wie in Deutschland gilt vor allen Strafgerichten die Inquisitionsmaxime, wonach es dem Richter auferlegt ist, bestmöglich die Wahrheit zu ermitteln.8 Ebenso gilt ein modifiziertes Unmittelbarkeitsprinzip, das den Vorrang des mündlichen vor dem schriftlichen Beweis anordnet.9 Wie stark dieses Unmittelbarkeitsprinzip10 tatsächlich gilt, hängt jedoch wiederum vom zuständigen Gericht ab. Vor der Cour d’assises werden grundsätzlich unmittelbare Zeugen vorrangig vor rein mittelbaren Beweisen gehört. Möglich ist ein mittelbarer Beweis jedoch, wenn der Zeuge nicht erscheinen kann. Allerdings darf auch der Richter an der Cour d’assises den Inhalt der Ermittlungsakten zumindest ergänzend verlesen, worauf häufig sogar bereits zu Beginn der audience zu-
2 Guinchard/Buisson, Procédure Pénale, 92013, S. 648. So können im enquête de flagrance Beweismittel gegen den Willen des jeweiligen Betroffenen erhoben werden, was im enquête préliminaire nicht möglich ist. 3 Anstatt des juge d’instruction kann auch eine von ihm eingesetzte commission rogatoire tätig werden. Diese Kommission besteht gem. Art. 151 CPP aus ersuchten Ermittlungsbeamten. S. Desportes/Lazerges-Cousquer, Traité de procédure pénale, 32013, S. 1604. 4 Corler, Évolutions contemporaines, 2006, S. 16. 5 Vgl. Art. 131–1 CP. 6 Vgl. Art. 131–3 CP. 7 Vgl. Art. 131–13 CP. 8 Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 246. 9 Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 497. 10 Das unter diesem Terminus in Frankreich nicht bekannt ist, s. Leblois-Happe, in: Leblois-Happe/Stuckenberg (Hrsg.), Hauptverhandlung: 4. Deutsch-französische Strafrechtstagung, 2014.
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C. Frankreich – Incapacité und simple renseignement
rückgegriffen wird.11 Da es aber kein Verbot eines Zeugnisses von Hörensagen gibt,12 kann – falls sich ein Zeuge z.B. widerrechtlich weigert, vor Gericht auszusagen – auch die Verhörsperson der früheren Aussage vernommen werden.13 Vor dem Tribunal Correctionnel gilt der Vorrang des unmittelbaren Beweises nur abgeschwächt und es herrscht auch nur ein eingeschränktes Mündlichkeitsprinzip, weswegen sehr wenig Zeugen vernommen werden.14 Vor allen Strafgerichten gilt, dass das Vernehmungsprotokoll eines geladenen und nicht erschienen Zeugen verlesen werden darf und dass nach einer Zeugenvernehmung Teile des Protokolls den Zeugen in Bezug auf Unstimmigkeiten vorgehalten werden können.15 Dies kann insbesondere für Angehörigen von großer Bedeutung sein, wenn sie in einer früheren Prozessphase den Beschuldigten belastet haben.
II. Geltende Rechtslage Die Zeugenaussage von Verwandten des Beschuldigten folgt in Frankreich teils einem besonderen Regime. Um die von der jeweiligen Prozessphase abhängige Regelung besser zu verstehen, wird zunächst die allgemeine Definition des Zeugen ‚vor die Klammer gezogen‘ (1.). Sodann werden die Besonderheiten der Aussage in der enquête préliminaire (2.), der instruction (3.), der audition (4.) und in höheren Instanzen (5.) besprochen. Nach einem Blick auf die Auswirkung der Verwandtschaft auf andere Ermittlungsmethoden (6.) werden die Rechte des Zeugen erläutert (7.). Als Gegenstück zur Zeugnispflicht werden sodann mögliche Straftatbestände untersucht, die aufgrund eines Verstoßes gegen diese Pflicht verwirklicht werden können (8.). Im Exkurs werden weitere strafrechtliche Normen mit Familienbezug untersucht (9.). Eine graphische Übersicht über die Pflichten und Strafnormen in Bezug auf das Zeugnis der Angehörigen in Frankreich soll diesen Teil abschließen. 11 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit, 1979, S. 63; Leblois-Happe, in: LebloisHappe/Stuckenberg (Hrsg.), Hauptverhandlung: 4. Deutsch-französische Strafrechtstagung, 2014, S. 92. 12 Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 334; Pradel, Procédure pénale, 172013, S. 402. 13 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit, 1979, S. 62. 14 Der Grund dafür liegt womöglich in der Laienjury des Cour d’assises, s. Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 122. Anders als bei Verfahren vor der Cour d’assises, wo nur der vorsitzende Richter die Akten kennt, sind sie beim Tribunal correctionnel allen drei Berufsrichtern bekannt und es werden die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens zumeist nur kurz paraphrasiert, s. Leblois-Happe, in: Leblois-Happe/Stuckenberg (Hrsg.), Hauptverhandlung: 4. Deutsch-französische Strafrechtstagung, 2014, S. 92. 15 Crim. 14 juin 1989, D. 1990, Somm, p. 221, Obs. Pradel; Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 505; Boussinot, Témoin, 2012, S. 81.
II. Geltende Rechtslage
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1. Definition des Zeugen (témoin) Für das französische Recht muss zuerst festgestellt werden, wer Zeuge ist. a) Témoin Unter einem témoin wird umgangssprachlich jede Person verstanden, die sich mündlich über einen bestimmten historischen Sachverhalt äußert.16 Da auch in Frankreich der Zeugenbeweis in der Rechtspraxis eine wichtige Rolle spielt, hat der französische Gesetzgeber gezielt den Personenkreis, der vor Gericht aussagen kann, möglichst weit gehalten.17 Den Zeugen trifft, sobald er von einem Richter als Zeuge geladen wurde, auch eine Aussagepflicht.18 Eine strafbewährte proaktive Zeugnispflicht im Sinne einer Anzeigepflicht gibt es im französischen Strafrecht nicht.19 Das französische Recht lässt nicht nur den Beweis über die Tat- und Schuldfrage, sondern auch über die Persönlichkeit des Angeklagten zu (Art. 444 CPP). Entsprechend erstreckt sich die Aussagepflicht des Zeugen auch auf die Schilderung von Umständen, die Rückschlüsse auf die Täterpersönlichkeit zulassen. Hierzu werden auch Personen vernommen, die nichts von der Tat wissen und allein von der Persönlichkeit und der Vorgeschichte des Angeklagten berichten können. Das Gericht versucht daher die Persönlichkeit des Angeklagten zu verstehen, um besser beurteilen zu könne, wie wahrscheinlich der Angeklagte die Tat begangen hat und um eine schuld- und persönlichkeitsangemessen Strafe verhängen zu können.20 Gerade die Schilderung des Charakters wird häufig von Angehörigen erwartet,21 wobei sie zumeist von der Verteidigung zur Entlastung des Angeklagten geladen werden. b) Simple renseignement Témoin im juristischen Wortsinn ist allerdings nur der vereidigte Zeuge. Alle uneidlichen Aussagen – die häufig vorkommen – sind keine témoignages, sondern simples renseignements, d.h. einfache Auskünfte.22 Inhaltlich unter16
Boussinot, Témoin, 2012, S. 25. Boussinot, Témoin, 2012, S. 23. Zwar ist der Zeugenbeweis quantitativ extrem bedeutend (s. Corler, Évolutions contemporaines, 2006, S. 6), die Belastbarkeit von Zeugenaussagen wird wegen der Gefahr falscher Wahrnehmung und Erinnerung aber kritisch gesehen, s. Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 215; Pradel, Procédure pénale, 172013, S. 402; Herzog-Evans/Roussel, Procédure Pénale, 52014, Rn. 446. 18 Art. 331 Abs. 5; 444 Abs. 1, 536 CPP. 19 S. Aberkane RSC 1959, 1, S. 4; Bozzoni, Responsabilité, 1999, S. 5; Boussinot, Témoin, 2012, S. 39. 20 Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 317. 21 Boussinot, Témoin, 2012, S. 51. 22 David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 8; Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 501. 17
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C. Frankreich – Incapacité und simple renseignement
scheiden sich die beiden Aussagekategorien jedoch nicht.23 Uneidlich wird grundsätzlich gegenüber der Polizei in der enquête vernommen.24 Dies gründet sich auf den Willen, die Ermittlungen zu Anfang besonders wenig formell zu gestalten, um eine größtmögliche Flexibilität zu ermöglichen.25 Ebenso zur Beschleunigung des Verfahrens hat der Vorsitzende der Cour d’assises, der président, im Rahmen seines richterlichen Ermessens bei der Verhandlungsleitung (pouvoir discrétionnaire) die Möglichkeit, Zeugen spontan unvereidigt zu vernehmen (Art. 310 CPP).26 Ein weiterer Grund dafür, dass ein Zeuge nur uneidlich aussagt, kann darin liegen, dass bestimmte persönliche Faktoren die Glaubwürdigkeit des Zeugen einschränken.27 Dies gilt zum Beispiel für Verwandte des Beschuldigten, die nach Art. 335 CPP vom témoignage ausgeschlossen sind. c) Grund für die Unterscheidung In Literatur und Rechtsprechung wird zum Teil untechnisch auch bei uneidlichen Aussagenden von témoins gesprochen, da témoignage und simple renseignement derselbe Beweiswert zukomme und so die Unterscheidung praktisch von keiner großen Bedeutung mehr sei.28 Dies liegt daran, dass in Frankreich seit der französischen Revolution das Prinzip der freien Beweiswürdigung, d.h. der liberté de la preuve gilt. Entsprechend entscheidet der Richter aufgrund seiner intime conviction unabhängig von der Beeidigung der Aussage über die Schuld des Angeklagten.29 So kann der Richter simples renseignements vom Beweiswert auch über die echten témoignages stellen.30 Grund für die Aufrechterhaltung dieser Unterscheidung ist das Nachwirken der alten strengen Beweisregeln in das ‚neue‘ Recht.31 Aube vermutet, dass ein simple renseignement ursprünglich durch weitere Beweismittel bekräftigt 23
Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 507. Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 215; Uneidlich wird ebenfalls vor dem juge d’enfant in der enquête officieuse ausgesagt, s. Art. 8 Abs. 2 Ordonnance n. 45–174 vom 2. Februar 1945. 25 Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 346. 26 S. Desquiron, Traité de la preuve par témoins, 1811, S. 109. 27 Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 216. 28 Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 216; Nierengarten, Notion de témoin, 2005, S. 91; so schon zu Zeiten der CIC, S. Vitu, Procédure pénale, 1957, S. 194. 29 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 219. 30 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 132; Rached, Intime conviction, 1942, S. 196; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 365, der anmerkt, dass jedoch nie wirklich festzustellen sei, welchen Wert ein Gericht einem simple renseignement zukommen lässt, da Urteile in Frankreich so gut wie gar nicht begründet werden. 31 Obwohl bereits die zweite Prozessordnungskodifizierung nach Einführung der freien Beweiswürdigung in Kraft ist. Vgl. Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 332; Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 216. 24
II. Geltende Rechtslage
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werden musste.32 Rached zufolge dient der Ausschluss von Verwandten von der témoignage der Verbesserung der Effektivität des Strafprozesses. Art. 335 CPP stelle allerdings keinen absoluten Ausschluss von Zeugen dar, sondern die geglückte Kombination des Schutzes eines funktionierenden Strafverfahrens und der freien richterlichen Beweiswürdigung.33 Folglich sei der Verzicht auf den Eide als Rat oder Warnung an den Richter zu verstehen, misstrauisch gegenüber bestimmten Personen zu sein.34 Hätte Rached Recht, so wären die renseignements den Aussagen gem. Art. 337 CPP von Personen, die Hinweise zur Aufklärung des Falles gegeben haben, gleichzustellen. Auch hier soll die Jury vor deren möglicher Parteilichkeit gewarnt werden. Dagegen spricht jedoch, dass die dénonciateurs gerade in einer gesonderten Regelung bedacht wurden. Nach der inzwischen h.M. hat die Unterscheidung heutzutage keinerlei praktischen Wert mehr.35 Früher waren Urteile, sofern ein Zeuge ohne Grund unvereidigt vernommen wurde, immer aufhebbar. Mittlerweile hat sich dies jedoch geändert.36 Kritisiert wird, dass die Unterscheidung zwischen témoin und simple renseignement die Fähigkeit des Richters in Frage stelle, selbstständig zu einem ‚richtigen‘ Urteil kommen zu können.37 Den Zeugen, die nur als simples renseignements aussagen, seien nach dem Willen des Gesetzgebers weniger Wichtigkeit beizumessen. Nun wäre aber gerade die formale Gleichheit aller Zeugen die natürliche Konsequenz der freien Beweiswürdigung.38 Zwar sei der Beweiswert der Aussage von Personen, die à titre de simple renseignement vernommen werden, nicht über jeden Zweifel erhaben. Die Beurteilung des Beweiswerts müsse aber dem Richter überlassen werden.39 Eine unvereidigte Vernehmung dieser Personen verstärke nur deren Unglaubwürdigkeit, da der Zeuge seine eigene Rolle ohne den formellen Akt der Vereidigung weniger ernst nehme.40 Zudem könne die Unterscheidung
32
Corrobation par d’autres indices, s. Aube, Déclarations de la personne, 1993, S. 220. Rached, Intime conviction, 1942, S. 183. 34 Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 12; Rached, Intime conviction, 1942, S. 196. 35 Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 216; Paillard, Le témoignage en justice, 1962, S. 141; Rached, Intime conviction, 1942, S. 196; s.a. Jolly Rev. pénit. 1901, 976, S. 978; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 84; Angevin/Le Gall, Pratique de la cour d’assises, 52012, Rn. 635. 36 Crim. 22 mars 1983, Bull. n° 87; Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 340. 37 Paillard, Le témoignage en justice, 1962, S. 94; Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 344. 38 Rached, Intime conviction, 1942, S. 196. 39 Paillard, Le témoignage en justice, 1962, S. 141; Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 118; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 13. 40 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 219. 33
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Richter unterbewusst beeinflussen, was die freie Beweiswürdigung tatsächlich beeinträchtigt.41 Dieser Kritik ist zuzustimmen. Sowohl die praktische Irrelevanz als auch die Systemwidrigkeit der Unterscheidung geben Anlass dazu, den Grund für die Unterscheidung zwischen témoignage und renseignement allein in der historischen Entwicklung zu sehen. Eine wichtige praktische Konsequenz der Differenzierung bleibt aber auch heute noch bestehen: Personen, die als simple renseignement aussagen, können sich nicht wegen Falschaussage strafbar machen. Die Frage ist jedoch, ob der Grund für die Einführung bzw. Aufrechterhaltung dieser zwei unterschiedlichen Zeugenkategorien tatsächlich die Ermöglichung der straflosen Lüge von Angehörigen vor Gericht ist. Einfacher wäre es gewesen, einen entsprechenden Strafausschließungsgrund für Angehörige im Code Pénal (CP) vorzusehen, anstatt dieses unübersichtliche und unsystematische Konstrukt zweier unterschiedlicher Arten von Zeugen zu schaffen. Aus der historischen Entwicklung (s. S. 148 ff.) ist zu schließen, dass die Aussage von Angehörigen ursprünglich überhaupt nur ausnahmsweise zulässig war. Die Unterscheidung sollte also nicht die Konsequenz einer Aussage von Angehörigen regeln, sondern diese Aussage erst ermöglichen. Allerdings stellte der historische Gesetzgeber die Angehörigen den sonstigen Zeugen nicht völlig gleich, sondern wollte deren (vermeintlich) geringen Beweiswert berücksichtigen. Dies wirkt noch heute fort: In Ermangelung der Strafbarkeit der Falschaussage bei simples renseignements lässt die Rechtsprechung zu, dass allein das Vernehmungsprotokoll des simple renseignement verlesen wird.42 Dass dies bei einer témoignage vor der Cour d’assises nicht ohne weiteres möglich ist, spricht für einen geringeren Stellenwert des simple renseignement aus Sicht der Rechtsprechung. 2. Zeugnis in der Phase der enquête préliminaire Im Fall der enquête préliminaire43 kann jeder in Form des ‚Freibeweises‘ von der Polizei – allerdings immer unvereidigt – vernommen werden. Die unvereidigte Vernehmung wird zum einen damit begründet, dass noch nicht zwi-
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Rached, Intime conviction, 1942, S. 195; Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 344. Crim. 26 nov. 1980, Bull. n° 318; Boussinot, Témoin, 2012, S. 102. 43 Terminologisch wäre es richtiger, in der enquête und auch in der instruction, nicht von preuve, sondern nur von indice zu sprechen. Ebenso handelt es sich bei Aussagen in der enquête nicht um dépositions, sondern um déclarations. Die aussagenden Personen sind nicht témoins, sondern „personnes susceptibles de fournir des renseignements sur les faits ou sur les objets et documents saisis“ (Übersetzung der Verfasserin: „Personen, die im Stande sind, Hinweise über Tatsachen oder über beschlagnahmte Objekte oder Dokument zu liefern“), s. Corler, Évolutions contemporaines, 2006, S. 8. 42
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schen normalen Zeugen und Beschuldigten unterschieden werden könne,44 zum anderen damit, dass zu diesem Zeitpunkt zugunsten der Effektivität auf jede Form verzichtet wird.45 Da die Falschaussage in Frankreich nur vereidigt als Meineid strafbar ist, kann sich in der enquête niemand wegen eines Aussagedelikts strafbar machen.46 Daher wird bei unvereidigten Aussagen zum Teil von einem ‚Recht zur Lüge‘ (droit de mentir) gesprochen.47 In dieser Phase kann jede Person vernommen werden, unabhängig von ihrer Beziehung zum Beschuldigten bzw. zum Täter.48 Es gibt also weder incompatibilités, noch incapacités. Die Vernehmung in der enquête erfolgt allerdings freiwillig.49 Um trotzdem eine Aussage zu erzwingen, gab es früher die Möglichkeit einer 24-stündigen Haft (garde à vue).50 Um Missbräuchen vorzubeugen, wurde diese Regelung jedoch 1993 abgeschafft und durch Art. 61 und 78 CPP ersetzt, der eine Erscheinenspflicht festschreibt. Seitdem kann auf Anordnung der Staatsanwaltschaft von der police judiciaire durchgesetzt werden, dass der Zeuge allein für die Dauer der Befragung festgehalten wird.51 So besteht bei einer Ladung zwar die Pflicht zu erscheinen, nicht jedoch auszusagen. Generell wird von einer Geldbuße wegen Nichterscheinens aber häufig abgesehen, wenn der Zeuge doch noch zur Aussage erscheint und eine excuse valable nennt.52 Die Suche nach Zeugen wird beim flagrant délit dadurch vereinfacht, dass allen Personen verboten werden darf, sich vom Tatort zu entfernen.53 Auch hier kann die police judiciaire wegen der Formlosigkeit der enquête, jeden Zeugen unvereidigt vernehmen (Art. 61 44
Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 343; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 2014, S. 415. 45 Crim. 10 janv. 1995, Bull. n° 13; 24 mars 1999, Bull n° 56; Stefani/Levasseur/ Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 435; Aghaee Fishani, Preuve, 1996, S. 248. 46 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 3; Gayraud, Dénonciation, 1984, S. 232; Guechi, Liens de famille, 1998, S. 307. 47 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 102; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 360; Guechi, Liens de famille, 1998, S. 312. Nach deutscher Dogmatik würde man wegen einer Straflosigkeit jedoch nie von einem Recht sprechen, da dies als subjektives Recht, das ggf. geltend gemacht werden könnte, verstanden werden kann. 48 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 45. 49 Reims 18 mai 1984, JCP 1985. II. 20422, note Chambon; Larguier/Conte, Procédure pénale, 232014, S. 342; Guechi, Liens de famille, 1998, S. 308. Im Gesetzgebungsverfahren wurde allerdings über eine Aussagepflicht diskutiert, s. Rapp. JO Sénat CR 19 nov. 1992, p. 323; Leroy, Procédure pénal, 32013, S. 192; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 43. 50 Art. 77 CPP a.F., s. Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 59; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 347. 51 S. Art. 61 Abs. 3 S. 2 und 78 Abs. 1 S. 2 und Art. 62 Abs. 2 CPP; Pradel, Procédure pénale, 172013, S. 403; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 436; Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 386. 52 Bozzoni, Responsabilité, 1999, S. 7. 53 Art. 61 Abs. 1 CPP, s.a. Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 414. 24
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Abs. 2, 5 CPP).54 Die enquête endet mit der Übergabe der Ermittlungsmaterialien, insbesondere der Vernehmungsprotokolle, an die Staatsanwaltschaft, die über das weitere Verfahren entscheidet.55 3. Zeugnis in der Phase der instruction In der instruction vernimmt der Untersuchungsrichter die Zeugen. Die Vernehmung gliedert sich in der Praxis in ein formloses kurzes Vorge-
spräch, in dem der Untersuchungsrichter sich einen Eindruck vom Zeugen macht und ihm die Wichtigkeit seiner Aussage vor Augen führt und einen freien Bericht des Zeugen zur untersuchten Tat, worauf ergänzende oder klarstellende Fragen des Untersuchungsrichters folgen.56 a) Pflicht zum Erscheinen, Aussagen und zur Eidesleistung
Den Zeugen trifft gegenüber dem Ermittlungsrichter gem. Art. 109 Abs. 1 CPP die Pflicht zum Erscheinen, wenn er ordnungsgemäß geladen wurde.57 Bei Nichterscheinen droht eine Geldstrafe i.H.v. 3.750 € gem. Art. 434–15–1 CP.58 Außerdem kann der Richter den Zeugen vorführen lassen, worüber der Zeuge im Vorhinein aufgeklärt werden muss.59 Ebenso trifft ihn die Pflicht zur Eidesablegung.60 Die Nichtbeachtung dieser Pflicht kann ebenfalls gem. Art. 434–15–1 CP bestraft werden. Die Vereidigung findet vor der Aussage statt. Sie muss jedoch bei einer unterbrochenen Aussage nicht wiederholt werden.61 Sinn und Zweck des Eides liegen einerseits darin, beim Zeugen ein Bewusstsein für die Relevanz seiner Aussage vor Gericht zu schaffen und ihm klar zu machen, dass er nicht lügen darf.62 In Frankreich wird davon ausgegangen, dass der Eid (und nicht allein die Sanktionierung des Meineids) diese Wirkung auch in einer laizistischen Gesell-
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Aghaee Fishani, Preuve, 1996, S. 243. Desportes/Lazerges-Cousquer, Traité de procédure pénale, 32013, S. 1055. 56 Pradel, Instruction préparatoire, 1990, S. 452. 57 Aube, Déclarations de la personne, 1993, S. 49. 58 Handelt eine commission rogatoire, so ist das Fernbleiben gem. Art. 153 Abs. 1 CPP strafbar. Nach Abs. 153 Abs. 2 CPP kann der Zeuge wiederum vorgeführt werden. 59 Gem. Art. 109 Abs. 3, 101 Abs. 3 CPP; s. Guinchard/Buisson, Procédure Pénale, 9 2013, S. 1208. 60 Gem. Art. 109 Abs. 1, 103 CPP, s. Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 103; Crim. 18 nov. 1847, Bull. n° 278; Crim. 5 janv. 1984, D. 1984.I.R.145 obs. J.-M.R.; Crim. 6 mai 1987, D. 1987.somm.406, obs. Pradel; Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 343. 61 Crim. 17 mars 1999, D. 1999.somm.322. 62 Pradel, Procédure pénale, 172013, S. 407; Boussinot, Témoin, 2012, S. 97. 55
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schaft entfalten kann, indem auf moralische Vorbehalte dagegen, vor Gericht zu lügen, vertraut wird.63 Die Hauptpflicht des Zeugen ist es also, die Wahrheit auszusagen. Der Ermittlungsrichter darf jeden Zeugen gem. Art. 101, 102 CPP laden, von dem zu erwarten ist, dass er für die Aufklärung des Falles nützlich sein kann.64 Hierbei gilt das Opportunitätsprinzip, sodass der juge d’instruction Ermittlungsaufforderungen des Beschuldigten oder der Staatsanwaltschaft nicht verfolgen muss.65 Die Aussage wird – wie schon in der polizeilichen enquête – in einem Vernehmungsprotokoll genau festgehalten, in dem auch alle Fragen detailliert notiert werden.66 Lügt der vereidigte Zeuge, so tritt eine Strafbarkeit wegen Meineids gem. Art. 434–13 CP ein. Auch die Verweigerung der Aussage ist unter Strafe gestellt.67 Eine Einschränkung der Zeugnisfähigkeit in Bezug auf Alter oder Verwandtschaft gibt es im Sinne möglichst flexibler Ermittlungsmöglichkeiten in der instruction nicht.68 Das Gesetz verbietet in der instruction préparatoire gem. Art. 108 CPP allein die Vereidigung Minderjähriger unter 16 Jahren.69 Zudem kann die Fähigkeit, unter Eid auszusagen, als privilège civique für einen begrenzten Zeitraum als Nebenstrafe aberkannt werden.70 Folge dieser Aberkennung ist, dass die betroffene Person nur noch als simple renseignement aussagen kann.71 Auch (Mit-)Beschuldigte können nicht vereidigt aussagen. Falls schwerwiegende Indizien für eine Teilnahme an der untersuchten 63
Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 343; Aghaee Fishani, Preuve, 1996, S. 255; Bozzoni, Responsabilité, 1999, S. 8; Guechi, Liens de famille, 1998, S. 304; krit. Bouloc/ Matsopoulou, Droit pénal général et procédure pénale, 182011, S. 261; David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 17; Bohoun, Administration de la preuve, 1980, S. 199, der aber die Wirksamkeit der Strafandrohung gelten lässt; s. a. Aberkane RSC 1959, 1, S. 22; Paulus, Témoignage suspect, 1912, S. 4. 64 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 646; Guéry/Chambon, Droit et pratique, 82012, S. 253; Ausgenommen ist allein der Staatspräsident, s. Ass. Plén. 10 oct. 2001, Bull. Ass. Plén. N° 11, C. 2001.3365 note Favoreu. 65 Die Ablehnung muss jedoch begründet werden gem. Art. 82–1 CPP; Guéry/ Chambon, Droit et pratique, 82012, S. 253; Boussinot, Témoin, 2012, S. 66. 66 Art. 429 Abs. 2 CPP. 67 S. Art. 434–15–1 CP und S. 149 ff. 68 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 646; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 108. 69 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 649. 70 Art. 131–10, 131–2, 131–26 N° 4 CP als dégradation civique, s. Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 232. 71 S. Art. 131–26 N° 4 CP; Diese Strafe existierte bereits zu Zeiten der Einführung des CIC, s. Desquiron, Traité de la preuve par témoins, 1811, S. 109 Gestützt wird der Ausschluss auf die Sittenlosigkeit der betroffenen Personen, s. Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 218; Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 338; Debove/Falletti/ Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 52013, S. 716; Guéry/Chambon, Droit et pratique, 8 2012, S. 260.
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Tat vorliegen, werden sie stattdessen als personne mise en examen unvereidigt vernommen und haben das Recht, zu schweigen.72 Auch der témoin assisté ist gem. Art. 113–7 CPP von der Pflicht zum Eid ausgenommen und kann sich von einem Anwalt beraten lassen. Hierbei handelt es sich nicht um einen ‚normalen‘ Zeugen, der als Außenstehender seine Eindrücke wiedergeben soll, sondern um jemanden, gegen den zumindest ein Anfangsverdacht wegen der untersuchten Tat besteht.73 Das Recht zu schweigen hat er jedoch erst, wenn er sich durch den Richter zur personne mise en examen erklären lässt.74 Daraus, dass nur die oben genannten Personen explizit vom Eid ausgenommen sind, muss geschlossen werden, dass der Ermittlungsrichter alle anderen Personen vereidigt vernehmen kann.75 Daher werden die Zeugenausschlüsse der Art. 335, 448 CPP, die für Angehörige in der Hauptverhandlung gelten (s. S. 130 ff.), weder von der Literatur noch der Rechtsprechung auf die instruction angewandt. So müssen auch Angehörige des Beschuldigten vor dem Ermittlungsrichter vereidigt aussagen.76 Dies wird zum Teil als konsequentes Resultat einer Interessenabwägung zwischen Individual- und Kollektivinteressen verstanden: „Pour une partie de la doctrine, l’obligation de parler imposée par l’État est parfaitement légitime. Selon les auteurs qui défendent cette thèse, l’intérêt personnel du témoin, de quelque nature qu’il soit, s’efface inévitablement devant l’intérêt social qui exige son témoignage.“77
Allerdings besteht auch Verständnis dafür, dass eine Aussagepflicht den Angehörigen vor einen Konflikt stellt.78 Durch die Eidespflicht machen sich in 72
Gem. Art. 105, 114 ff. CPP; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 646 73 S. Guinchard/Buisson, Procédure Pénale, 92013, Rn. 1889; Bouloc Rev. pénit. 2003, 649, S. 649 ff. 74 Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 334. 75 Dies schließt auch psychisch beeinträchtigte Personen mit ein, s. Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 335; Guechi, Liens de famille, 1998, S. 309. 76 So schon Art. 156 und 322 CIC. Guéry/Chambon, Droit et pratique, 82012, S. 261; Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 336. 77 Übersetzung der Verfasserin: „Für einen Teil der Literatur ist die Aussagepflicht, die durch den Staat auferlegt wird, vollkommen legitim. Nach den Autoren, die diese These vertreten, tritt das persönliche Interesse des Zeugen, egal welcher Natur auch immer dieses sein mag, unausweichlich hinter das öffentliche Interesse, das das Zeugnis verlangt, zurück.“ s. Courcenet, Atteintes, 2006, S. 283; Garraud, Précis de droit criminel, 111912, S. 697. 78 Courcenet, Atteintes, 2006, S. 284 sieht ein Schweigen jedoch als legitime Reaktion an, wenn der Zeugen sonst zum Verrat eines geschätzten Menschen beitragen würde. S.a. Gorphe, Critique du témoignage, 1924, S. 204 wegen der Solidarität innerhalb einer Familie oder Ehe. Er nennt als Argument für eine Sonderregelung einen Fall von 1840, in dem
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der instruction nämlich auch Angehörige bei einer Lüge wegen Falschaussage strafbar. Die Eidespflicht für Angehörige wird von manchen Autoren in Zusammenschau mit der Regel für die audition daher als inkohärent angesehen.79 Falls Angehörige in der instruction allerdings doch unvereidigt aussagen, stellt dies keinen Grund mehr für eine Unverwertbarkeit der Aussage dar.80 Zudem vertreten Guéry/Chambon die Ansicht, der Ermittlungsrichter könne von der Bestrafung wegen der Verweigerung des Zeugnisses absehen, wenn sich der Zeuge zum Schweigen durch eine legitime moralische Pflicht gebunden fühlt.81 Dies ist möglich, da die Bestrafung nach Art. 434–15–1 CP ins Ermessen des Gerichts gestellt ist.82 Zumindest scheint in der Praxis die Verweigerung des Eides ohne Zeugnisverweigerung nur selten bestraft zu werden.83 b) Ausnahmen von der Aussagepflicht Eine Ausnahme von der Aussagepflicht in der instruction und in der audition wird nur in zwei Fällen diskutiert: beim Zeugnis von Kindern über die Umstände der Scheidung ihrer Eltern im Rahmen eines Strafverfahrens (1) und beim Zeugnis von Berufsgeheimnisträgern (2). aa) Aussagen der Kinder über Umstände der Scheidung Der einzige Fall, in dem tatsächlich nicht nur die vereidigte Aussage, sondern jegliche Vernehmung verboten war, bildete die Vernehmung von Kindern über die Umstände der Scheidung oder der Trennung von Tisch und Bett ihrer Eltern in einem Strafverfahren wegen Falschaussage.84 Art. 205 des Code de Procédure Civile85 untersagt eine solche Vernehmung im Zivilprozess geneeine Zeugin ihren ehemaligen Geliebten aus Rache fälschlich belastet hat. Die emotionale Verbindung habe sie hier zu einer belastendenden Falschaussage gegen den Angeklagten getrieben. 79 Theault, Liens de famille, 2013, S. 103. 80 Crim. 22 mars 1983, n° 83–90.217, Bull. n° 87. 81 Guéry/Chambon, Droit et pratique, 82012, S. 261; s.a. Guechi, Liens de famille, 1998, S. 309, die für die alte Rspr. mit Referenz auf Crim., 31 mars 1981, Bull. n° 110 feststellt, dass dies häufig praktiziert wurde; in diese Richtung auch Hélie, Traité de l’instruction criminelle tome IV, 1866–1867, Rn. 1843. 82 JurisClasseur Procédure Pénale-Pelletier, Art. 427 à 457: Tribunal Correctionnel – Administration de la preuve – Preuve testimoniale, Rn. 146. 83 Debove/Falletti/Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 52013, S. 1605. 84 Crim. 5 févr. 1980, Bull. n° 47; 4 janv. 1985, Bull. n° 11; 4 févr. 1991, Bull n° 57, obs. Braunschweig, RSC 1992 p. 115 n° 2; Guéry/Chambon, Droit et pratique, 82012, S. 253. 85 Art. 205 CPC Chacun peut être entendu comme témoin, à l’exception des personnes qui sont frappées d’une incapacité de témoigner en justice.
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rell. Dieses Verbot stellt eine incompatibilité dar.86 Es wurde wegen der intimen Themen, die in einem Scheidungsprozess zur Sprache kommen müssen, erlassen.87 Erfasst von dieser incompatibilité sind nicht nur gemeinsame Kinder der Ehegatten, sondern auch Kinder aus früheren bzw. anderen Beziehungen, sowie die Ehepartner und Lebensgefährten dieser Kinder, selbst nach der Scheidung.88 Mittlerweile werden im Scheidungsprozess sogar Aussagen der Kinder über ihre Eltern in Briefen als auch Briefe der Eltern an ihre Kinder, nicht mehr als Beweis zugelassen. Gleiches gilt für Zeugen vom Hörensagen über Aussagen der Kinder.89 Hier wird das Interesse des Kindes und der Familie an einer friedlichen Scheidung über das Interesse an einer lückenlosen Tatsachenermittlung gestellt. Diese zivilprozessualen Regeln wurden ursprünglich auf ein Strafverfahren wegen Falschaussage im Scheidungsverfahren übertragen. Inwieweit genau Art. 205 CPC analog auf das Strafverfahren anwendbar ist, blieb jedoch unklar. Jedenfalls seit 1972 wurde auch im Strafverfahren der Grundgedanke des Art. 205 CPC angewandt.90 „Cette prohibition, inspirée par un souci de décence et de protection des intérêts moraux de la famille, n’est que l’expression, reprise de textes législatifs antérieurs, d’une règle fondamentale
Les personnes qui ne peuvent témoigner peuvent cependant être entendues dans les mêmes conditions, mais sans prestation de serment. Toutefois, les descendants ne peuvent jamais être entendus sur les griefs invoqués par les époux à l’appui d’une demande en divorce ou en séparation de corps. [Übersetzung der Verfasserin:] Art. 205 CPC Jeder, mit Ausnahme derer, die von einer Zeugnisunfähigkeit betroffen sind, kann als Zeuge gehört werden. Personen, die nicht als Zeugen aussagen können, können jedoch unter denselben Umständen, jedoch ohne vereidigt zu werden, gehört werden. Gleichwohl können Deszendenten niemals über Umstände, die von den Eheleuten zur Unterstützung des Antrags auf Scheidung oder auf Trennung von Tisch und Bett angeführt werden, vernommen werden. 86 S. zu den incapabilités ausführlich S. 141. 87 Claux/David, Droit et pratique du divorce, 22013, Rn. 122.204. 88 Diese Ausnahme unterliegt ständiger Ausdehnung. Zum Personenkreis: Civ. 2e, 25 mai 1960, Bull. civ. 1960.II, no 341; Civ. 24 févr. 1983, Gaz. Pal. 1983. 2. Pan. 185, note Grimaldi; Civ. 2e, 5 févr. 1986, no 84–15.578, Bull. civ. II, no 9; Dr. fam. 2002, no 21, note Griffon; Civ. 1re, 14 févr. 2006, no 05–14.686, Bull. civ. I, no 71; AJ fam. 2006. 377, obs. David; Dr. fam. 2006, no 90, note Larribau-Terneyre. 89 Civ. 2e, 23 mars 1977, no 76–11.975, Bull. civ. II, no 97; D. 1978. 5, note Meerpoel; Civ. 1re, 4 mai 2011, no 10–30.706, Bull. civ. I, no 79; Dr. fam. 2011, no 149, note Larribau-Terneyre; Civ. 1re, 1er févr. 2012, no 10–27.460, Bull. civ. I, no 16; AJ fam. 2012. 147, obs. David; Dr. fam. 2012, no 62, note Larribau-Terneyre; Civ 1re, 3 nov. 2004, n° 03– 19.079, Bull. civ. I, n° 239; D. 2004. 3194. 90 Crim. 20 mars 1972, Bull. n° 88; Pradel, Procédure pénale, 172013, S. 403; Boussinot, Témoin, 2012, S. 203; Courcenet, Atteintes, 2006, S. 236.
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qui ne saurait être tournée par le recours à une poursuite pénale.“91 Die Rechtsprechung stellte aber 2006 fest, dass diese Ausweitung einer Regelung des Zivilrechts auf das Strafrecht nicht für jedes Strafverfahren gelte, in dem Themen behandelt werden, die später dann auch Inhalt des Scheidungsverfahrens sind.92 Damals wurde die Aussage des Kindes gegen seinen Vater wegen einer Körperverletzung der Mutter zugelassen. Allein ein zufällig gleichzeitig schwebendes Scheidungsverfahren könne diese Aussage nicht dem Strafprozess entziehen. Es müsse eine direkte Verbindung zwischen beiden Verfahren in dem Sinne bestehen, dass es im Strafverfahren um Aussagedelikte aus dem Scheidungsverfahren gehen muss.93 Im Jahr 2015 vollzog die Cour de cassation sodann eine komplette Kehrtwende in Bezug auf die partielle incompatibilité von Kindern. Die liberté de la preuve kenne schlichtweg keine Einschränkung der zulässigen Beweismittel. Art. 205 CPC könne daher im Strafprozess nicht angewandt werden.94 Dass das Urteil in diesem Fall einer Körperverletzung des einen durch den anderen Ehegatten so ausfallen würde, war nach der Rechtsprechung von 2006 absehbar.95 Allerdings wird dieses Urteil durch seine generelle Formulierung, dass die liberté de la preuve eine analoge Anwendung zivilrechtlicher Beweisverbote nicht zulasse, als generelle Rechtsprechungsänderung verstanden.96 Die incompatibilité von Kindern in Meineidsverfahren während der Scheidung ihrer Eltern ist damit wohl Rechtsgeschichte. bb) Secret professionnel So gibt es im französischen Recht nur für das secret professionnel ein Zeugnisverweigerungsrecht.97 Das Berufsgeheimnis wird in ein absolutes und ein relatives Geheimnis aufgegliedert. Das absolute Berufsgeheimnis betrifft diejenigen, die ihren Beruf nur dann ausüben können, wenn ihnen ihr Gegenüber vertraut und private Details offenlegt (sog. confidents nécessaires).98 91 Übersetzung der Verfasserin: „Dieses Verbot, das durch ein Gefühl des Anstands und des Schutzes der moralischen Interessen der Familie begründet ist, ist nichts anderes als der Ausdruck einer grundsätzlichen Regel, die nicht durch ein Strafverfahren gebrochen werden darf und die Wiederaufnahme früherer Rechtsregeln darstellt.“ s. Crim., 5 fév. 1980, Bull. n° 47, Gaz. Pal., 1980.I.286, note Malaval; s.a. Crim. 4 janvier 1985, J.C.P., 1985.II.20521, note Lindon et A. Bénabent; 4 février 1991, Bull. n° 57, J.C.P., 1992.II.21915, note Chambon. 92 Crim., 21 février 2006, Bull., n° 49. 93 Fucini AJ 22 juin 2015, S. 1; Pradel, Procédure pénale, 172013, S. 403. 94 Crim. 2 juin 2015, Bull. n° 14–85.130. 95 Fucini AJ 22 juin 2015, S. 1. 96 Thouret AJ Famille 2015, 403, S. 403; Fucini AJ 22 juin 2015, S. 1. 97 Bozzoni, Responsabilité, 1999, S. 23; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 241; Crim. 6 juil. 1977, Bull. n° 258. 98 Crim. 8 mai 1947, D.1948.J.109 note Gulphe; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 242.
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Das Recht zu Schweigen wird daher regelmäßig nur Anwälten, Ärzten, Notaren und Priestern zugestanden.99 Gem. Art. 109 Abs. 2 CPP ist das Recht zu Schweigen mittlerweile auch für Journalisten positivrechtlich geregelt.100 Inwiefern auch noch andere Berufsgruppen von einem absoluten Berufsgeheimnis profitieren, ist umstritten.101 Das secret professionnel wurde für diejenigen geschaffen, die sich im Vertrauen offenbaren; nicht für diejenigen, denen das Vertrauen entgegengebracht wird. Schutzgut ist daher das Privatund ggf. Intimleben der um Rat suchenden Person.102 Die Verletzung der Geheimhaltungspflicht ist daher sogar strafbar.103 Das Schweigerecht berechtigt allein zur Verweigerung bezüglich der Themen, die das Berufsgeheimnis betreffen. Zu allen anderen Themen müssen natürlich auch die Berufsgeheimnisträger aussagen,104 weswegen sie auch erscheinen und den Eid ablegen müssen.105 Andere Berufsgruppen, die berufsbedingt Geheimnisse wahren, müssen im Strafverfahren aussagen.106 Das relative Berufsgeheimnis verbietet den Geheimnisträgern durch die Strafvorschriften der Art. 226–13, 226–14 CP zwar, im Berufs- oder Alltagsleben die Geheimnisse zu verraten. Für alle anderen gerichtlichen und behördlichen Verfahren gilt das Berufsgeheimnis allerdings weiterhin, da dort das Interesse der Allgemeinheit nicht das Interesse an der Geheimhaltung überwiegt.107 4. Aussage vor Gericht Grundsätzlich besteht auch vor Gericht in der Hauptverhandlung die Pflicht, zu erscheinen (Art. 434–15–1 CP), den Eid zu leisten (Art. 331 Abs. 3 CPP) 99
Rassat, Procédure pénale, 2001, S. 411. Debove/Falletti/Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 52013, S. 666. 101 Crim. 6 juil. 1894, D., 1899.I.171; 4 avril 1924, D., 1925.I.10 für Polizisten bzgl. Informanten; Für Ausweitbarkeit: Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 345; Crim. 11 juin 1926, D.H. 1926. 378; dagegen: Guinchard/Buisson, Procédure Pénale, 92013, S. 1210. 102 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 243. 103 Art. 226–13 CP mit den Ausnahmen des Art. 226–14 CP. Über Themen, die dem Berufsgeheimnis unterfallen, dürfen Ärzte und Sozialarbeiter in Bezug auf ihr berufliches Verhältnis zu Kindern unter 15 Jahren aussagen. In diesen Fällen überlässt der Gesetzgeber die Entscheidung allein ihrem Gewissen, s. Pradel, Procédure pénale, 172013, S. 409; Pradel, Instruction préparatoire, 1990, S. 461. 104 Crim. 11 juin 1926, D.H. 1926. 378; Guéry/Chambon, Droit et pratique, 82012, S. 262. 105 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 266. 106 Z.B. Banker, s. TGI Lure, 4 novembre 1970, D. 1971.276, note Gavalda; Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 222; JurisClasseur Pénal Code-Peltier, Art. 226–13 et 226–14: Révélation d’une information à caractère secret – Justification de la révélation, Rn. 5. 107 Pradel, Procédure pénale, 172013, S. 408; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 251. 100
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und auszusagen (Art. 326, 438 CPP).108 Ein Zuwiderhandeln ist unter Strafe gestellt.109 Im Falle des Fernbleibens kann das Gericht die Vorführung des geladenen Zeugen anordnen.110 Zeugen werden normalerweise von den Parteien benannt und dann vom Gericht förmlich geladen. Das Gericht kann auch von sich aus Zeugen laden, wenn dies den Parteien im Vorhinein bekanntgegeben wurde.111 Vor Gericht wird der Zeuge vor seiner Aussage vereidigt. Zuvor muss er jedoch Angaben zur Person machen und seine Beziehung zum Angeklagten nennen, damit die Glaubhaftigkeit der Aussage richtig bewertet werden kann.112 Eine rechtswidrig uneidliche Aussage wurde bis 1975 als unverwertbar angesehen.113 Heutzutage wird dies jedoch nicht mehr so streng beurteilt: Eine Aussage kann nur dann nicht verwertet werden, wenn deren Verwertung von Staatsanwaltschaft, Angeklagten oder partie civile (Nebenklage) widersprochen wurde oder die Verwertung den Verteidigungsrechten des Angeklagten widerspräche.114 Der Richter hört zumeist die Belastungszeugen zuerst.115 In der Vernehmung soll er den Zeugen zuerst frei erzählend berichten lassen, ohne ihn zu unterbrechen.116 Erst danach werden einzelne objektive, d.h. von Parteiinteressen unbeeinflusste, Fragen gestellt.117 Seit 2000 dürfen auch die Staatsanwaltschaft und die Vertreter der Parteien mit Erlaubnis des Richters Fragen an den Zeugen stellen.118 In der Praxis wird diese Möglichkeit jedoch nur sehr selten wahrgenommen, sodass die Zeugenvernehmung immer noch stark durch den vorsitzenden Richter bestimmt wird.119 Im Verfahren vor der Cour d’assises, in dem die Jury über die Schuld des Angeklagten entscheidet, darf 108
Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 152. Gem. Art. 326 Abs. 2, 438, 536 CPP. 110 Gem. Art. 326 Abs. 1, 439, 536 CPP, s. JurisClasseur Procédure Pénale-Angevin, Art. 323 à 346: Cour d’assises – Débats – Production et discussion des preuve – Audition des témoins, Rn. 31. 111 Guinchard/Buisson, Procédure Pénale, 92013, S. 1212; Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 55; Rassat, Procédure pénale, 2001, S. 405. 112 Art. 103, 331, 445, 536 CPP; Pradel, Instruction préparatoire, 1990, S. 448; Courcenet, Atteintes, 2006, S. 265; Desportes/Lazerges-Cousquer, Traité de procédure pénale, 32013, S. 1998. 113 Crim. 20 déc. 1967, Bull. n° 336; Pradel, Procédure pénale, 172013, S. 407. 114 Art. 336 CPP. 115 Rassat, Procédure pénale, 2001, S. 415. 116 Dies wird von der Rspr. sehr ernst genommen: Crim. 12 fév. 2003, Bull. n° 35, JCP 2003. I. 162, n° 16, obs. Maron; Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 68. 117 Art. 331 Abs. 4; 332; 454 Abs. 1, 536 CPP; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 873; Pradel, Procédure pénale, 172013, S. 411. 118 S. Guinchard/Buisson, Procédure Pénale, 92013, S. 1439, sog. ‚cross-examination à la française’. 119 So äußerten sich Anwälte im Interview mit der Verfasserin. 109
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diese ebenfalls direkt Fragen an den Zeugen stellen, sofern es der Vorsitzende erlaubt hat (Art. 311 Abs. 1 CPP). Der Zeuge sagt mündlich aus.120 Anders als vor der Cour d’assises werden vor dem Tribunal de police und dem Tribunal correctionnel jedoch nicht alle relevanten Zeugen vernommen.121 Zumeist werden die Vernehmungsprotokolle aus der instruction oder der enquête durch den Vorsitzenden verlesen. Vor der Cour d’assises darf das Vernehmungsprotokoll über eine frühere Aussage jedoch nicht anstatt der Zeugenvernehmung verlesen werden. Der Richter kann es aber im Anschluss an die Aussage für Vorhalte verwenden.122 a) Incompatibilité „[D]es incompatibilités […] rendent impossible l’audition de certaines personnes […]“123
Das französische Recht kennt absolute Zeugenausschlüsse. Diese treffen heute aber nur noch die (staatlichen) Prozessbeteiligten. So können Mitglieder der Jury im Prozess vor der Cour d’assises, Übersetzer, Richter, greffiers oder Staatsanwälte des zuständigen Gerichtsbezirks nicht einmal als Zeugen à titre de simple renseignement aussagen.124 Dies gilt jedoch immer nur für die Phase des Prozesses, in der sie tätig geworden sind.125 Wenn sie im Verlauf des Prozesses doch als Zeugen aussagen, geht dies mit dem Verlust ihrer Prozessposition einher.126 Ebenso wenig darf der (Mit-)Angeklagte als Zeuge vernommen werden (Art. 335 N° 8 CPP). Seine Aussage wird als uneidliche Angeklagtenvernehmung durchgeführt.127
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Ihm kann ausnahmsweise die Verwendung von Schriftstücken zur Gedächtnisstütze durch den Vorsitzenden gestattet werden (Art. 452 CPP). 121 Desportes/Lazerges-Cousquer, Traité de procédure pénale, 32013, S. 1995; Merle/ Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 700. 122 Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 348; Leblois-Happe, in: Leblois-Happe/Stuckenberg (Hrsg.), Hauptverhandlung: 4. Deutsch-französische Strafrechtstagung, 2014, S. 92; Crim. 22 août 1878, S. 1878.1.392; Crim. 30 oct. 1947, Rec. Dt. Pén. 1947. 237; So auch schon zu Zeiten des CIC, s. Vitu, Procédure pénale, 1957, S. 205; David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 122. 123 Übersetzung der Verfasserin: „[D]ie incompatibilité […] machen die Vernehmung bestimmter Personen unmöglich […]“ s. Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 5 2001, S. 216. 124 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 235; Rassat, Procédure pénale, 2001, S. 400; Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 480; Boussinot, Témoin, 2012, S. 210. 125 Crim., 6 août 1887, S., 1888.143; 4 avril 1979, Bull. n° 139; 25 sept. 1902, S. 1906.I.535; 2 déc. 1987, Bull. n° 443; Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 336. 126 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 236. 127 Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 217; Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 337; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 235.
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b) Incapacités „[D]es incapacités […] ne permettent d’entendre l’intéressé qu’à titre de renseignement.“128
Neben den Ausschlüssen gibt es noch die Gruppe der incapacités, die nicht unter Eid aussagen dürfen, wohl aber à titre de simple renseignement gehört werden können.129 aa) Minderjährige unter 16 Jahren Kinder unter 16 Jahren sind wegen ihrer beschränkten Beobachtungsgabe, ihrer gesteigerten Fantasie und vor allem ihrer besonders leichten Beeinflussbarkeit vom Eid ausgeschlossen.130 Die förmliche Vereidigung könnte Minderjährige verängstigen, oder keinerlei Wirkung haben, da sie sich der Tragweite des Eides gar nicht bewusst seien.131 Die Altersgrenze gilt für den Zeitpunkt der Aussage, nicht für den der Beobachtung.132 Weitere Einschränkungen der Eidespflicht aufgrund alters- oder krankheitsbedingter geistigen Schwächen gibt nicht.133 bb) Dégradation civique, partie civile und dénonciateur In der audition sind auch Aussagen von Personen, die zu einer dégradation civique verurteilt wurden, nur als simples renseignements zulässig.134 Gleiches gilt für den (Mit-)Angeklagten und dessen Mittäter gem. Art. 335 N° 8 CPP. Das Opfer als partie civile ist gem. Art. 335 N° 6 CCP ebenfalls vom Eid ausgeschlossen, da auch hier die Vermutung gilt, dass es als Partei im 128
Übersetzung der Verfasserin: „[D]ie incapacité […] erlauben es nicht, den Betroffenen außer als renseignement zu vernehmen.“, s. Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 216. 129 Vouin/Léauté, Droit pénal et procédure pénale, 1969, S. 243. 130 Gem. Art. 335 N° 7, 447, 536 CPP; Da der Ausschluss unabhängig von der Person des Angeklagten gilt, handelt es sich um eine incapacité absolue, s. Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 217; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 218; Art. 79 CIC setze die Grenze noch bei 15 Jahren, s. Hélie, Pratique criminelle des cours et tribunaux, 1877, S. 161. 131 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 221. 132 Crim. 29 nov. 1989, Bull. n° 456; krit. Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 337, da es bei der Altersgrenze um die Beobachtungsgabe ginge, die vom Zeitpunkt des zu beobachtenden Geschehens abhinge und nicht von Zeitpunkt der Vernehmung. 133 Crim., 30 déc. 1915, Bull. n° 250; Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 5 2001, S. 218; Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 342. Es liegt beim Richter, die Glaubwürdigkeit dieser Zeugen zu beurteilen, s. Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 224. 134 Art. 131–26 N° 4 CP. Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 218; Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 338; Debove/Falletti/Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 52013, S. 716.
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Prozess nicht unbefangen ist.135 Die Familie des Opfers – selbst wenn dieses partie civile ist – ist hingegen nicht vom Eid ausgeschlossen.136 Genauso wenig sind Angestellte des Angeklagten ausgenommen.137 Der dénonciateur pécuniairement récompensé darf bei Einspruch einer Partei nicht vereidigt aussagen.138 Zudem erlaubt der CPP dem Strafrichter, Zeugen im Rahmen des pouvoir discrétionnaire spontan unvereidigt zu vernehmen.139 cc) Angehörige des Angeklagten Angehörige eines der Angeklagten im Verfahren sind wegen der Vermutung der partialité nicht als vereidigte Zeugen, sondern nur à titre de simple renseignement zu vernehmen (Art. 335, 448, 536 CCP140).141 Dies sind die 135
Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 219. Crim. 29 nov. 1907, D., 1910.I.437; 26 jull. 1966, Bull. n° 212; 4 janv. 1990, Bull. n° 44; 20 avril 1983, Bull. n° 112; 22 fév. 1917, Bull. n° 50; 25 mai 1960, Bull. n° 288; 21 mars 1973, Bull. n° 141; 3 oct. 1985, Bull. n° 297, RSC 1986.407, obs. Braunschweig n° 5; wobei Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 339 zu erkennen meint, dass die Familie der partie civil häufig irrigerweise der Gruppe der incapacité zugerechnet werde. 137 Crim. 19 oct. 1977, Bull. n° 311. 138 Art. 337 Abs. 2, 451 Abs. 2 CPP; Hierbei handelt es sich um Personen, die Hinweise zur Aufklärung des Falles gegeben haben und dafür finanziell belohnt werden. 139 Paillard, Le témoignage en justice, 1962, S. 141. 140 Art. 335 CPP Ne peuvent être reçues sous la foi du serment les dépositions: 1° Du père, de la mère ou de tout autre ascendant de l’accusé, ou de l’un des accusés présents et soumis au même débat; 2° Du fils, de la fille, ou de tout autre descendant; 3° Des frères et sœurs; 4° Des alliés aux mêmes degrés; 5° Du mari ou de la femme; cette prohibition subsiste même après le divorce; 6° De la partie civile; 7° Des enfants au-dessous de l’âge de seize ans; 8° De toute personne qui a été accusée, prévenue ou condamnée soit pour le crime dont est saisie la cour d’assises en qualité de coauteur ou de complice, soit pour un crime ou un délit connexe ou formant un ensemble indivisible avec le crime dont est saisie la cour d’assises. Art. 336 CPP Néanmoins, l’audition sous serment des personnes désignées par l’article précédent n’entraîne pas nullité lorsque le ministère public ni aucune des parties ne s’est opposé à la prestation de serment. En cas d’opposition du ministère public ou d’une ou plusieurs des parties, le témoin peut être entendu à titre de renseignements, en vertu du pouvoir discrétionnaire du président. [Übersetzung der Verfasserin]: Art. 335 CPP Unter Eid können nicht vernommen werden: 136
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sog. témoins reprochables.142 Eine Aussagepflicht trifft diese Personen anders als im Zivilverfahren freilich trotzdem.143 Dort gewährt Art. 206 CPC den Angehörigen und Personen, die ein intimes Verhältnis zu einer der Parteien unterhalten, ein fakultatives Zeugnisverweigerungsrecht aufgrund der emotional schwierigen Lage, in der sich angehörige Zeugen befinden.144 Courcenet meint, dass diese zivilprozessuale Regelung vor allem auf familienrechtliche Streitigkeiten zugeschnitten sei, da Familienmitgliedern so erspart werde, Position in einer an sich bereits komplizierten Situation zu beziehen.145 Im Bereich des Strafrechts wird eine solche Lösung jedoch nicht einmal diskutiert. Stattdessen privilegiert der Gesetzgeber die Angehörigen nur nach der Aussage, denn die unvereidigte Falschaussage ist nicht strafbar.146 Von der Sonderregel des Art. 335 CPP betroffen sind die Eltern und alle weiteren Verwandten in aufsteigender Linie des Angeklagten, all seine Abkömmlinge147 und (Halb-)Geschwister.148 Das Eidesverbot erfasst hingegen
1° Der Vater, die Mutter und jeder andere Aszendent des Angeklagten, oder eines der Mitangeklagten; 2° Der Sohn, die Tochter oder jeder andere Deszendent; 3° Der Bruder oder die Schwester; 4° Verschwägerte Personen im selben Grade; 5° Der Ehepartner, auch nach der Scheidung; 6° Der Privatkläger; 7° Kinder unter sechzehn Jahren; 8° Jede Person, die wegen eines crime als Mittäter oder Teilnehmer für die Tat, die die Cour d’assises verhandelt, oder wegen eines Verbrechens oder Vergehens, das mit der verhandelten Tat in einem unteilbaren Zusammenhang stand, für das die Cour d’assises nun zuständig ist, angeklagt, beschuldigt oder verurteilt wurde. Art. 336 CPP Trotzdem bewirkt die vereidigte Vernehmung der im vorstehenden Artikel benannten Personen keine Nichtigkeit, wenn weder die Staatsanwaltschaft, noch eine der Parteien der Vereidigung widersprochen haben. Falls Widerspruch von der Staatsanwaltschaft oder einer oder beiden Parteien erhoben wurde, kann der Zeuge als bloßer Hinweis durch die Verhandlungsleitung des Vorsitzenden vernommen werden. 141 Crim., 7 déc. 1954, Bull. n° 372; 4 août 1984, Bull. n° 267, B. 1985.I.R.89 obs. Pradel; 5 déc. 1990, Bull. n° 418; 18 oct. 1995, Bull. n° 313; 30 juin 1993, Bull. n° 232; Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 218; Herzog-Evans/Roussel, Procédure Pénale, 52014, Rn. 448. 142 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 226; Aghaee Fishani, Preuve, 1996, S. 282. 143 Nierengarten, Notion de témoin, 2005, S. 319; Jescheck, 46. DJT Gutachten Bd. I Teil 3B, 1966, S. 21. 144 Courcenet, Atteintes, 2006, S. 526. 145 Courcenet, Atteintes, 2006, S. 532. 146 S. zur Strafbarkeit S. 148 ff. 147 Crim. 15 déc. 1954, Bull. n° 399. 148 Crim., 5 avril 1949, Bull. n° 141; 9 mars 1994, Bull. n° 92.
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nicht Onkel, Tanten, Neffen, Nichten, Cousins oder Cousinen.149 Genauso wenig werden die Pflegeeltern des Angeklagten oder eine rechtlich nicht anerkannte natürliche Vaterschaft bevorrechtigt. Art. 335 CPP privilegiert nur anerkannte natürliche oder adoptierte Kinder.150 Kinder des Ehepartners des Angeklagten aus einer früheren Verbindung werden als Kind des Angeklagten behandelt und können daher nicht vereidigt werden.151 Ehepartner können selbst nach der Scheidung nicht vereidigt werden.152 Nicht erfasst sind aber der Ehepartner aus einer annullierten Ehe,153 oder der nichteheliche Lebenspartner.154 Personen, die allein durch einen PACS (pacte civil de solidarité) verbunden sind, profitieren auch nicht von Art. 335 CPP.155 Verschwägerte Personen sind allerdings vom Eid ausgenommen.156 Die Schwägerschaft überdauert den Tod des verbindenden Ehepartners, nicht jedoch die Scheidung der verbindenden Ehe.157 Wenn mehrere Personen angeklagt sind, dürfen die Personen, die mit einem der Angeklagten verwandt sind, auch nicht für die Aussage gegen einen anderen Mitangeklagten vereidigt werden.158 Andererseits ist die Aufzählung in Art. 335 CPP abschließend.159 Der Richter kann trotz Anzeichen einer Befangenheit andere Personen nicht als reprochables behandeln.160 Wenn kein Widerspruch durch die Staatsanwaltschaft, die partie civile oder die Verteidigung gegen die Vereidigung erhoben wird, ist gem. Art. 336 149
Crim., 19 mai 1949, Bull. n° 175; 30 juin 1993, Bull. n° 232; 9 janv. 1980, Bull. n° 16; 1er déc. 1999, Bull. n° 286; Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 219. Halbgeschwistern s. Crim. 30 mars 1977, Bull. n° 118; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 228. 150 Crim. 3 oct. 1985, Bull. n° 297; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 227. 151 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 228. 152 Crim., 25 juin 1980, Bull. n° 207; 27 nov. 1985, Bull. n° 382; allerdings ist hierfür eine wirksame Zivilehe nötig, s. Crim. 12 janv. 1983, Bull. n° 16. 153 Crim. 3 oct. 1985, Bull. n° 296, obs. Braunschweig, RSC 1986.407 n° 5. 154 Crim. 21 mars 1973, Bull. n° 141 JCP 1973.IV.179; 15 oct. 1986, Bull. n° 289; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 228. 155 S. Crim. 25 mai 2011, D. 2011.2241; Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 98; Der pacte civil de solidarité ist eine zivilrechtliche Gemeinschaft, die unabhängig vom Geschlecht der Partner güterrechtliche, steuerrechtliche und erbrechtliche Wirkungen herbeiführt. 156 Dr. Pén. 1994, comm. 122, note Véron. 157 Dies betrifft Schwiegereltern, Schwiegersöhne und -töchter, Schwäger und Schwägerinnen, s. Crim. 10 sept. 1840, Bull. n° 132; 4 août 1984, Bull. n° 267; 30 juin 1993, Bull. n° 232; Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 219; kritisiert wird die Aufhebung der Privilegierung bei Scheidung jedoch von Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 339. 158 Angevin/Le Gall, Pratique de la cour d’assises, 52012, Rn. 596. 159 Crim. 14 mars 1935, D.H. 1935. 255; 25 fév. 1958, D., 1958.516; 4 mai 1994, Dr. Pén. 1994, comm. 170, note Véron; Merle/Vitu, Traité de droit criminel Tome II, 52001, S. 219. 160 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 226.
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CPP allerdings auch eine vereidigte Aussage eines Angehörigen möglich und verwertbar.161 In diesem Fall ist die Falschaussage des Angehörigen strafbar.162 Da Art. 336 CPP den Zeugen selbst nicht als weigerungsberechtigte Person nennt, stellt sich die Frage, ob sich auch der Zeuge selbst gegen seine Vereidigung wehren darf. Weil den Zeugen nach Art. 335 CPP im Grunde keine Pflicht zur Eidesablegung trifft, muss dies wohl bejaht werden.163 Art. 336 CPP ist daher nur als Ausnahmeregel für den Umgang mit einem Verfahrensfehler von Seiten des Richters zu verstehen.164 Umgekehrt ist es wohl auch möglich, dass der angehörige Zeuge auf eigenen Wunsch vereidigt wird, um seiner Aussage ein größeres Gewicht zu verschaffen.165 Ein generelles Problem liegt darin, dass der Richter nicht dazu verpflichtet ist, den Zeugen darüber zu belehren, dass er nicht vereidigt werden darf. So wissen dies die meisten Zeugen nicht und könnten sich nicht selbst einer Strafbarkeit wegen Falschaussage entziehen, wenn sie doch vereidigt werden sollen. Problematisch ist zudem, dass es nicht verboten ist, aus der Weigerung der Vereidigung negative Schlüsse für den Angeklagten zu ziehen.166 5. Zeugnis vor der Cour d’appel Grundsätzlich gelten für das Zeugnis in der Rechtsmittelinstanz die zur audition bereits erörterten Regeln.167 Normalerweise wird aufgrund der Aktenlage entschieden.168 Zeugen werden nur gehört, soweit dies in der vorherigen Instanz noch nicht geschehen ist bzw. der Angeklagte noch nicht die Möglichkeit der Befragung hatte.169 6. Andere Ermittlungsmaßnahmen Andere Ermittlungsmaßnahmen werden durch die Angehörigeneigenschaft nicht beeinflusst. Es ist anerkannt, dass zum Teil das Recht auf Privatsphäre gem. Art. 8 EMRK von bestimmten Maßnahmen betroffen sein kann, was jedoch generell für Ermittlungsmethoden nicht als Einschränkung verstanden wird, da in Art. 8 Abs. 2 EMRK explizit die Strafverfolgung als Schranke 161
Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 17. JurisClasseur Pénal Code-Mayaud, Art. 434–13 et 434–14: Faux Témoignage – Éléments constitutifs, Rn. 61. 163 Crim. 15 fév. 1966, Bull. n° 45; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 359; in diese Richtung auch: Guechi, Liens de famille, 1998, S. 310. 164 Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 360. 165 Guechi, Liens de famille, 1998, S. 310; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 360. 166 Bozzoni, Responsabilité, 1999, S. 32. 167 Art. 513 Abs. 2 CPP, s.a. Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 190. 168 Aghaee Fishani, Preuve, 1996, S. 273. 169 Desportes/Lazerges-Cousquer, Traité de procédure pénale, 32013, S. 1996. 162
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genannt wird. Im französischen Recht setzen allein Gesetzmäßigkeit, Notwendigkeit und Erforderlichkeit den Ermittlungsmaßnahmen Schranken.170 Die Durchsuchung des Körpers und der Körperöffnungen sind ungeachtet der Beziehung des Beschuldigten zur durchsuchten Person unter bestimmten Umständen zulässig. Die Eingriffsschwelle ist jedoch umso höher, je größer der Eingriff in die Privatsphäre des Untersuchten ist.171 Ebenso sind Hausdurchsuchungen ohne Rücksicht auf familiäre Verbindungen zulässig.172 Allein für Berufsgeheimnisträger gibt es verschärfte Voraussetzungen.173 Beschlagnahmen sind ebenso ungeachtet der familiären Beziehung möglich. Nur Unterlagen, die zur Verteidigung dienen, Akten des Verteidigers und Dokumente, die über die Quelle eines Journalisten Aufschluss geben, sind von der Beschlagnahme ausgeschlossen.174 Das Abhören von Telefonaten175 und von Privaträumen176 sind ebenfalls ohne Rücksicht auf die Angehörigeneigenschaft möglich. Ein Verbot des Abhörens und Filmens gilt allein bei Verlagshäusern, Arztpraxen, Notarbüros, Kanzleien und in allen Räumlichkeiten von Gerichtsvollziehern, Abgeordneten und Senatoren.177 Allerdings werden bei den Protokollen der Ton- und Bildaufnahmen alle die Tat nicht betreffenden Sequenzen des Privatlebens ausgelassen.178 7. Rechte der Zeugen Ein Recht zur Zeugnisverweigerung gibt es nicht. Dem Zeugen steht nur das Recht auf Erstattung der Kosten, die durch die Zeugenaussage entstehen und das Recht auf Schutz vor Konsequenzen der Aussage zu.179 Der Schutz der Zeugen wird als Kehrseite der Aussagpflicht verstanden.180 Sagt der Zeuge ehrlichen aus, kann er sich nicht wegen Ehrdelikten strafbar machen, und 170 Sog. légalité de la preuve und nécessité et proportionnalité, s. Debove/Falletti/ Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 52013, S. 422. 171 Art. 60bis Code des douanes; Art. D. 275 und D. 284 CPP; Art. 63–5 CPP; Debove/Falletti/Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 52013, S. 704. 172 Art. 56–1 ff., 76, 92, 94 ff., 283, 463, 512, 538 CPP. Hausdurchsuchungen zwischen 21 und 6 Uhr sind jedoch gem. Art. 59 und 76 Abs. 3 CPP mit Rücksicht auf die Intimität des Privatlebens und die Unverletzlichkeit der Wohnung absolute Ausnahmefälle. 173 Debove/Falletti/Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 52013, S. 707; Guinchard/ Buisson, Procédure Pénale, 92013, S. 615. 174 S. Art. 56–1 f. CPP; Jescheck, 46. DJT Gutachten Bd. I Teil 3B, 1966, S. 47; Debove/Falletti/Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 52013, S. 711. 175 Gem. Art. 706–95 CPP; s. Debove/Falletti/Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 5 2013, S. 719; Guinchard/Buisson, Procédure Pénale, 92013, S. 616. 176 Gem. Art. 706–73 CPP. 177 Debove/Falletti/Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 52013, S. 723. 178 Cons. Const., déc. n° 2004–492 DC du 2 mars 2004, JO du 10 mars 2004, p. 4637. 179 Pradel, Procédure pénale, 172013, S. 412; Rassat, Procédure pénale, 2001, S. 413. 180 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 270.
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muss auch keinen Schadensersatz leisten.181 So soll der Zeuge frei aussagen können, ohne Angst vor den Folgen seiner Aussage haben zu müssen. Außerdem wird zum Schutz des Zeugen bei bestimmten Delikten, die gegen diesen wegen seines Zeugnisses begangen werden, der Strafrahmen erhöht.182 8. Straftatbestände im Zusammenhang mit der Zeugenaussage Der Zeuge kann sich auf unterschiedliche Art und Weise strafbar machen, wenn er seiner Aussagepflicht nicht nachkommt. So kann sich der angehörige Zeuge ganz der Mitarbeit im Strafverfahren verweigern (a). Er kann lügen, wodurch er sich unter bestimmten Voraussetzungen wegen einer Falschaussage strafbar macht (b). In manchen Fällen besteht auch eine strafbewährte proaktive Aussagepflicht, selbst wenn der Angehörige gar nicht als Zeuge geladen wurde (c). Zuletzt können durch eine unvereidigte Falschaussage im Rahmen des ‚Rechts zur Lüge‘ des Angehörigen unnötige Ermittlungen hervorgerufen werden (d). a) Verweigerung der Beteiligung am Strafverfahren Das Nichterscheinen, die Verweigerung des Eides und der Aussage sind – abhängig von der jeweiligen Prozessphase – in unterschiedlichen Artikeln und Gesetzen unter Strafe gestellt. Diese Strafnormen sollen die Behinderung der Justiz durch Personen, die nicht an der Strafverfolgung mitwirken wollen, vermeiden.183 Für die instruction findet sich die Strafnorm im Code Pénal,184 für die Phase des jugements im Prozessrecht.185 181
Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 269. Bsp. bei Mord gem. Art. 221–4 N° 5 CP, Körperverletzung gem. Art. 222–8 N° 5 CP oder Sachbeschädigung gem. Art. 322–3 N° 4 CP, s. Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 346; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 275. 183 JurisClasseur Pénal Code-Ribeyre, Art. 434–15–1: Refus de comparaître, de prêter serment ou de déposer devant le juge d’instruction, Rn. 1. 184 Art. 434–15–1 CP Le fait de ne pas comparaître, de ne pas prêter serment ou de ne pas déposer, sans excuse ni justification, devant le juge d’instruction ou devant un officier de police judiciaire agissant sur commission rogatoire par une personne qui a été citée par lui pour y être entendue comme témoin est puni de 3.750 euros d’amende. [Übersetzung der Verfasserin:] Art. 434–15–1 CP Vor dem Untersuchungsrichter oder einem Beamten der Kriminalpolizei, der im Rahmen der Rechtshilfe handelt, ohne eine Entschuldigung oder Rechtfertigung nicht zu erscheinen, nicht den Eid zu leisten oder nicht auszusagen, wenn die Person von diesem als Zeuge geladen wurde, wird mit einer Geldstrafe in Höhe von 3.750 Euro bestraft. 185 Für die Cour d’assises gilt Art. 326 Abs. 2 CPP für das Tribunal correctionnel Art. 438, 439 CCP und für Tribunal de police und die Juridiction de proximité die Verweisung in Art. 536 CPP. 182
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Die Pflicht zu erscheinen trifft jedermann, der ordnungsgemäß geladen wurde,186 auch diejenigen Personen, die nicht zum Eid oder zur Aussage verpflichtet sind, sodass auch die Angehörigeneigenschaft oder das secret professionnel hiervon nicht entbinden.187 Von der Aussagepflicht sind nur Berufsgeheimnisträger, sofern ihr Berufsgeheimnis betroffen ist, und Journalisten in Bezug auf ihre Quellen ausgenommen.188 Aussagen muss auch der Zeuge, der im Falle einer Aussage mit schwerwiegenden Folgen zu rechnen hat, z.B. wenn er erpresst wird und daher eine Notstandssituation geltend macht.189 Ebenso wenig sind Personen von der Aussagepflicht ausgenommen, die sich durch ihre Aussage selbst S. exemplarisch: Art. 326 Art. 2 CPP Lorsqu’un témoin cité ne comparaît pas, la cour peut, sur réquisitions du ministère public ou même d’office, ordonner que ce témoin soit immédiatement amené par la force publique devant la cour pour y être entendu, ou renvoyer l’affaire à la prochaine session. Dans tous les cas, le témoin qui ne comparaît pas ou qui refuse soit de prêter serment, soit de faire sa déposition peut, sur réquisitions du ministère public, être condamné par la cour à une amende de 3.750 euros. L’obligation de déposer s’applique sous réserve des dispositions des articles 226–13 et 226–14 du code pénal et de la faculté, pour tout journaliste entendu comme témoin sur des informations recueillies dans l’exercice de son activité, de ne pas en révéler l’origine. [Übersetzung der Verfasserin:] Art. 326 Abs. 2 CPP Erscheint ein geladener Zeuge nicht, kann das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder von Amts wegen anordnen, dass dieser Zeuge sofort durch die Polizei dem Gericht vorgeführt wird, um ihn zu vernehmen, oder dass die Sache auf die nächste Sitzung verwiesen wird. In jedem Fall kann der Zeuge, der nicht erscheint, oder sich weigert den Eid abzulegen oder auszusagen, auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Gericht zu einer Geldstrafe in Höhe von 3.750 Euro verurteilt werden. Die Aussagepflicht findet seine Grenzen durch die Ausnahme der Artikel 226–13 und 226–14 des Code pénal und der Möglichkeit für Journalisten die Aussage über Quellen, von denen er in Ausübung seines Berufes Informationen erlangt hat, zu verweigern. 186 Crim. 4. nov. 1971, Bull. n° 301, J.C.P. 1972. II. 17256; JurisClasseur Pénal CodeRibeyre, Art. 434–15–1: Refus de comparaître, de prêter serment ou de déposer devant le juge d’instruction, Rn. 5; JurisClasseur Procédure Pénale-Angevin, Art. 323 à 346: Cour d’assises – Débats – Production et discussion des preuve – Audition des témoins, Rn. 30. Wurde der Zeuge nicht rechtmäßig geladen, sondern wird er nur aufgrund der pouvoir discrétionnaire des Vorsitzenden vernommen, so ist die Aussageverweigerung wohl nicht strafbar, s. Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 361. 187 JurisClasseur Pénal Code-Ribeyre, Art. 434–15–1: Refus de comparaître, de prêter serment ou de déposer devant le juge d’instruction, Rn. 14; Aberkane RSC 1959, 1, S. 10. 188 JurisClasseur Pénal Code-Ribeyre, Art. 434–15–1: Refus de comparaître, de prêter serment ou de déposer devant le juge d’instruction, Rn. 18. 189 Crim., 4. nov. 1971, Bull. n° 301, J.C.P. 1972. II. 17256; JurisClasseur Pénal CodeRibeyre, Art. 434–15–1: Refus de comparaître, de prêter serment ou de déposer devant le juge d’instruction, Rn. 20.
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belasten müssten – es sei denn, sie werden als mise en examen oder témoin assisté vernommen, worauf sie aber bestehen können.190 Strafbar is die vorsätzliche Aussageverweigerung gegenüber einem (Untersuchungs-)Richter,191 wobei auch eine unvollständige Aussage eine Aussageverweigerung darstellen kann.192 Bei Tatbegehung in der Prozessphase verhängt das Gericht, das in der Ursprungssache verhandelt, die Strafe. Hierzu ist es jedoch nicht verpflichtet, da die Verfolgung ins Ermessen des Gerichts gestellt ist.193 Die Tat kann sowohl gem. Art. 434–15–1 CP als auch gem. Art. 326 Abs. 2 CP mit einer Geldstrafe i.H.v. 3.750 € sanktioniert werden. Als rein prozessuale Konsequenz des Fernbleibens kann auch die Vernehmung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Das Institut der Beugehaft existiert in Frankreich nicht. Im ersten Entwurf des CPP von 1957 war keinerlei Strafandrohung für die Verweigerung der Aussage vor dem Untersuchungsrichter enthalten. Dies wurde zum einen damit begründet, dass ein widerwilliger Zeuge durch ungenaue Aussagen die Wahrheit immer verdunkeln könne und vor allem, dass ein Zeuge, der anerkennenswerterweise Skrupel habe, gegen eine ihm nahestehende Person auszusagen, dazu auch nicht gezwungen werden solle, wenn er seine Kooperationsbereitschaft bereits durch sein Erscheinen bewiesen habe. Diese Straflosigkeit wurde scharf kritisiert, da die Justiz lahmgelegt werde. Zudem hätten Richter einen weiten Beurteilungsspielraum für die Verurteilung wegen Aussageverweigerung, sodass nicht jeder Fall tatsächlich zu einer Verurteilung führen müsse.194 Daher entschied sich der Gesetzgeber schließlich für die Sanktionierung.195 b) Falschaussage Die Angehörigenprivilegierung des französischen Rechts entfaltet ihre Wirkung in erster Linie, indem sich Angehörige teilweise nicht wegen einer Falschaussage strafbar machen können.
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Nierengarten, Notion de témoin, 2005, S. 319. JurisClasseur Pénal Code-Ribeyre, Art. 434–15–1: Refus de comparaître, de prêter serment ou de déposer devant le juge d’instruction, Rn. 8. 192 JurisClasseur Pénal Code-Ribeyre, Art. 434–15–1: Refus de comparaître, de prêter serment ou de déposer devant le juge d’instruction, Rn. 7. 193 JurisClasseur Procédure Pénale-Pelletier, Art. 427 à 457: Tribunal Correctionnel – Administration de la preuve – Preuve testimoniale, Rn. 146. 194 Aberkane RSC 1959, 1, S. 12. Darüber, wie häufig tatsächlich in der instruction wegen Aussageverweigerung verurteilt wird, liegen keine genauen Zahlen vor. In offiziellen Statistiken werden leider nur alle Delikte gegen den Staat insgesamt angegeben. 195 Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 304; Aberkane RSC 1959, 1, S. 11; Bouloc, Acte d’instruction, 1965, S. 598. 191
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Tabelle 2: Graphische Übersicht zum Zeugnis von Angehörigen Erscheinen
Eid
Aussagen
Enquête préliminaire Instruction préparatoire en cas d’infraction flagrante Instruction
Pflicht gem. Art. 78 CPP Pflicht gem. Art. 61 Abs. 1 CPP; Verbleibenspflicht am Tatort gem. Art. 61 Abs. 1 CPP Pflicht gem. Art. 109 CPP
Keine Pflicht
Keine Pflicht
Pflicht gem. Art. 108 CPP e contrario allgemeine Eidespflicht; Ausnahme für Kinder unter 16 gem. Art. 108 CPP; Keine Ausnahme für Verwandte
Pflicht gem. Art. 101 CPP für jedermann; Einzig das Berufsgeheimnis gibt gem. Art. 109 CPP ein Recht zu Schweigen
Jugement (Audience)
Pflicht gem. Art. 434-151 CP
Keine Pflicht gem. Art. 335, Art. 331 Abs. 3 CPP für Angehörige und Kinder unter 16; trotzdem Möglichkeit der Vereidigung gem. Art. 336 CPP
Pflicht gem. Art. 335, 336 Abs. 2 CPP
Zwangsmittel bzw. Strafbarkeit Vorführung gem. Art. 78 CPP; keine Strafbarkeit Festhalten am Tatort gem. Art. 61 Abs. 1 CPP und Vorführung gem. Art. 61 Abs. 3 CPP; keine Strafbarkeit
Nichterscheinen und Verweigerung des Eides oder der Aussage gem. Art. 434-15-1 CP strafbar; Strafbarkeit wegen Falschaussage gem. Art. 434-13, 434-14 CP; ggf. Strafbarkeit gem. Art. 434-11, 434-12 CP Nichterscheinen, und Verweigerung der Aussage gem. Art. 326 Abs. 2 CPP strafbar; Keine Strafbarkeit wegen Falschaussage (außer Vereidigung gem. Art. 336 CPP); ggf. Strafbarkeit gem. Art. 434-11 und 434-12 CP
aa) Tatbestand der Falschaussage Die strafbare Falschaussage ist zusammen mit den anderen Delikten gegen die Rechtspflege in Art 434–13 und 434–14 CP196 geregelt. Strafbar ist da-
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Art. 434–13 CP – Faux témognage
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nach, wer als Zeuge vereidigt, d.h. im Rahmen einer témoignage, falsch über eine prozessentscheidende Tatsache vor einem Richter aussagt.197 Im Ausnahmefall kann auch die Verweigerung einer Auskunft als Falschaussage strafbar sein. Dafür muss der Zeuge jedoch ausgesagt haben und bezüglich einer prozessentscheidenden Tatsache schweigen.198 bb) Strafbarkeit nur bei vereidigter Aussage Strafbar macht sich nicht, wer nur à titre de simple renseignement ohne vorhergehende Vereidigung vernommen wird, da hierbei nicht von einer Zeugenaussage im eigentlichen Sinne zu sprechen ist.199 Sagen Personen, die eigentlich hätten unvereidigt aussagen müssen, jedoch unter Eid nach Art. 336 CCP die Unwahrheit, so machen auch sie sich wegen Falschaussage strafbar, auch wenn dies zum Selbst- oder Angehörigenschutz geschieht.200 Eine Strafbarkeitsausnahme für Angehörige als solche gibt es insofern nicht.201 Es hängt immer davon ab, ob der Angehörige, und sei es auch zu Le témoignage mensonger fait sous serment devant toute juridiction ou devant un officier de police judiciaire agissant en exécution d’une commission rogatoire est puni de cinq ans d’emprisonnement et de 75.000 euros d’amende. Toutefois, le faux témoin est exempt de peine s’il a rétracté spontanément son témoignage avant la décision mettant fin à la procédure rendue par la juridiction d’instruction ou par la juridiction de jugement. [Übersetzung der Verfasserin:] Art. 434–14 CP – Falschaussage Die Falschaussage unter Eid gegenüber einer Gerichtsbarkeit oder gegenüber einen Beamten der Kriminalpolizei, der im Rahmen der Rechtshilfe handelt, ist mit fünf Jahren Haft und einer Geldstrafe von 75.000 Euro bestraft. Gleichwohl wird der Täter von der Strafe befreit, wenn er unaufgefordert seine Aussage vor der Entscheidung über die Beendigung der instruction oder über den Schluss der Hauptverhandlung widerrufen hat. 197 Bozzoni, Responsabilité, 1999, S. 33; JurisClasseur Pénal Code-Mayaud, Art. 434– 13 et 434–14: Faux Témoignage – Éléments constitutifs, Rn. 64; Aussagen ggü. Polizisten innerhalb einer commission rogatoire fallen ebenso in den Anwendungsbereich des Art. 434–13 CPP. Der Tatbestand schützt allgemein die Rechtspflege und kann durch das aktive Personalitätsprinzip auch auf Auslandstaten angewandt werden. ebd., Rn. 28. 198 Sog. omission coupable, s. Crim 29 nov. 1951, Bull. n° 329; So wurde jemand für eine Falschaussage verurteilt, der bei einer Befragung über den Charakter des Angeklagten sagte, er könne von nichts, was mit der Anklage in Zusammenhang stehe, berichten, obwohl er wusste, dass der Angeklagte bereits wegen einer ähnlichen Tat verurteilt wurde. S. Bozzoni, Responsabilité, 1999, S. 34. 199 Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 340; Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 337. 200 Crim. 11 avril 1964, Bull. n° 112, JCP 1964. II. 13770, note Larguier; Gayraud, Dénonciation, 1984, S. 244. 201 Crim., 29 juin 1843, S. 1844, I, p. 58; 10 mai 1861, S. 1862, I, p. 330; JurisClasseur Pénal Code-Mayaud, Art. 434–13 et 434–14: Faux Témoignage – Éléments constitutifs, Rn. 61; Guechi, Liens de famille, 1998, S. 310; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal,
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Unrecht, vereidigt wurde. Eine Falschaussage kann innerhalb einer Gerichtsverhandlung oder auch in der instruction begangen werden. Dies ist eine Neuerung: Der CIC von 1811 bestrafte zwar die Falschaussage härter als der neue CPP. Jedoch war der Anwendungsbereich des Tatbestands beschränkter, weil nur die Falschaussage vor einer juridiction de jugement, d.h. vor einem erkennenden Gericht, strafbar war.202 Seit der Reform 1994 ist die Situation von angehörigen Zeugen inkohärent geregelt, da nun auch in der instruction Zeugen und damit auch Angehörige generell vereidigt werden.203 So müssen Angehörige in der instruction den Eid ablegen und die Wahrheit sagen, weil sie sich sonst gem. Art. 434–15–1 CP strafbar machen. In der audition können sie dagegen ungestraft lügen, sofern sie unvereidigt vernommen werden, wie es das Gesetz vorsieht. Die Komplettimmunität der Angehörigen wurde also 1994 aufgehoben.204 Hinzu tritt, dass die Aussage vor dem Untersuchungsrichter nicht nur der vorläufigen Ermittlung des Sachverhaltes dient. Angaben der Zeugen gegenüber dem Untersuchungsrichter können insbesondere auch in der Hauptverhandlung vor dem Tribunal correctionnel und beim Tribunal de police verwertet werden, weil dort kein Unmittelbarkeitsprinzip und nur ein eingeschränktes Mündlichkeitsprinzip gilt.205 Dadurch können in diesen Verfahren die Vernehmungsprotokolle der instruction verlesen, oder – weil häufig überhaupt keine mündliche Verhandlung mehr stattfindet – direkt in die Urteilsfindung einbezogen werden.206 Im Verfahren vor der Cour d’assises gilt zwar ein Mündlichkeitsprinzip. Allerdings hat der Vorsitzende Richter Zugriff auf die Ermittlungsakte und kann bei Divergenzen zwischen der Aussage in der audition mit der in der instruction das vorherige Vernehmungsprotokoll dem Zeugen vorhalten oder zur Ergänzung verlesen.207 So 1968, S. 360; Aberkane RSC 1959, 1, S. 22; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 76. 202 Wobei über die Begründung der Straflosigkeit kein Konsens bestand. Die a.F. stellte die Falschaussage nur unter Strafe, wenn sie sich für oder gegen den Angeklagten im Prozess auswirkte. S. Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 345. 203 Guechi, Liens de famille, 1998, S. 311; Boussinot, Témoin, 2012, S. 209. 204 Guechi, Liens de famille, 1998, S. 313. 205 Leblois-Happe ZStW 2014, 185, S. 186. 206 „Zeugen werden nur vernommen, wenn die Sache kompliziert ist oder wenn der Angeklagte seine Schuld heftig bestreitet und die Beweislage damit unklar ist. Die Zahl der zu erledigenden Strafsachen […] ist im Verhältnis zur Richterzahl […] so hoch, dass, je nach Verfahren, in den großen Gerichten fünf bis 25 Sachen pro Tag abgeurteilt werden. Der Zeitdruck ist enorm und trägt zur Zurückdrängung der Mündlichkeit bei.“ s. Leblois-Happe ZStW 2014, 185, S. 192, außerdem wurden 2012 ca. 51 % der Verfahren für Vergehen ohne Hauptverhandlung beendet, d.h. durch Strafbefehl oder vereinfachtes Verfahren. 207 S. Art. 333 CPP; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 366; Leblois-Happe, in: Leblois-Happe/Stuckenberg (Hrsg.), Hauptverhandlung: 4. Deutsch-französische Strafrechtstagung, 2014, S. 92; Der Richter kann auch, falls ein Zeuge nicht erscheint, dessen Vernehmungsprotokoll verlesen, s. Crim. 8 nov. 1934 DH 1935, 7.
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kann eine Aussage in der instruction ohne weiteres zur Verurteilung des Angehörigen beitragen.208 Das sog. ‚Recht zur Lüge‘ in der audition läuft daher durch die instruction leer, soweit diese noch durchgeführt wird. Von Guechi und Leturmy wird die Frage gestellt, ob diese Inkohärenz vom Gesetzgeber so gewollt war, oder ob sie nicht tatsächlich eher aus Versehen entstanden ist.209 Jobron-Minier sieht aufgrund dieses Widerspruchs ein ungeschriebenes Recht des Zeugen, in der instruction trotzdem zu schweigen.210 Ein möglicher Grund für die Unterschiede zwischen instruction und audition könnte in der Geschichte zu finden sein: Im Inquisitionsprozess diente die instruction der Sammlung von Beweisen, die später aber, falls es sich um Aussagen eines témoin reprochable handelte, nicht für die Verurteilung genutzt werden durften. Der moralische Konflikt des Angehörigen schien in diesem ersten und geheimen Verfahrensschritt weniger gravierend als im Gerichtsverfahren.211 Da mittlerweile jedoch diese strenge Trennung nicht mehr existiert, kann dies die Entwicklung zwar erklären. Kohärenter wird das geltende Recht hierdurch nicht.212 In der Tat ist das geltende Recht weder in sich stringent, noch nach übergeordneten Gerechtigkeitsaspekten sinnvoll. cc) Ahndung Die Falschaussage kann erst mit Abschluss der jeweiligen Ermittlungsphase bestraft werden.213 Ein unaufgeforderter Widerruf der Aussage vor dem Abschluss der mündlichen Verhandlung oder vor Beendigung der instruction préparatoire verhindert gem. Art. 434–13 Abs. 2 CP eine Verurteilung wegen Falschaussage.214 Die Möglichkeit eines Widerrufs wird damit begründet, dass dadurch die Gefahr eines Fehlurteils beseitigt werde und kein Strafbedürfnis mehr bestehe.215 Die Erklärung des Widerrufs muss nicht gegenüber dem Gericht, sondern kann auch gegenüber anderen ermittelnden Stellen
208 Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 366; David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 122. 209 Guechi, Liens de famille, 1998, S. 314; Leturmy, Recherche, 1995, S. 227. 210 Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 339. 211 Hélie, Traité de l’instruction criminelle tome IV, 1866–1867, Rn. 1843. 212 Guechi, Liens de famille, 1998, S. 313. 213 Die rechtliche Natur dieser sog. excuse absolutoire ist nach deutscher Terminologie schwer zu fassen: Die Falschaussage ist bereits vor Beendigung der mündlichen Verhandlung vollendet. Allein eine Verurteilung ist vor der Beendigung der débats nicht möglich. S. JurisClasseur Pénal Code-Mayaud, Art. 434–13 et 434–14: Faux témoignage – Répression, Rn. 34; Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 345. 214 Von einer solchen Spontanität ist jedoch nicht mehr zu sprechen, wenn die Rücknahme wegen einer expliziten Frage des vernehmenden Richters geschieht, s. CA Paris, 10. déc. 2003, JurisData n° 2003–232583. 215 Vouin/Léauté, Droit pénal et procédure pénale, 1969, S. 243.
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erklärt werden.216 Für Angehörige ist dieser Widerruf der Falschaussage, der eine Überführung des Beschuldigten mit sich bringen würde, freilich kein Ausweg aus ihrem emotionalen Konflikt. Die Falschaussage ist mit fünf Jahren Haft und einer Geldstrafe i.H.v. 75.000 € bedroht.217 Die Strafe liegt sogar bei sieben Jahren Haft und einer Geldstrafe i.H.v. 100.000 €, wenn der Zeuge für die Falschaussage bezahlt wurde, oder wenn die Falschaussage in einem Verfahren gemacht wurde, in dem eine peine criminelle in Aussicht steht (Art. 434–14 CP).218 Der Versuch der Falschaussage ist nicht strafbar.219 Ferner ist die Anstiftung zur Falschaussage gem. Art. 434–15 CP mit drei Jahren Haft und 45.000 € Geldstrafe bedroht. Hierbei gibt es keine Akzessorietät zwischen Haupttat und Anstiftung. Daher kann auch strafbar zur Falschaussage anstiften, wenn diese wie bei Angehörigen nicht strafbar ist.220 c) Strafbewährte Aussagepflichten In manchen Fällen müssen Zeugen auch proaktiv eine Aussage tätigen und jemanden belasten. Dies kann für Angehörige besonders schwer sein. aa) Nichtanzeige geplanter Straftaten Die Nichtanzeige geplanter Straftaten ist in Frankreich in Art. 434–1 und 434–2 CP geregelt. Eine Strafbarkeit für das Unterlassen einer Anzeige gab es in Frankreich lange nur für spezielle staatsgefährdende Taten und wurde in allgemeinerer Form erst 1941 eingeführt.221 Art. 434–1 CP wurde 1994 auf eine Anzeigepflicht für Verbrechen, die noch verhindert oder deren Auswirkungen noch eingedämmt werden können, oder deren Täter möglicherweise weitere verhinderbare Taten begehen könnte, beschränkt.222 Es handelt sich
216
JurisClasseur Pénal Code-Mayaud, Art. 434–13 et 434–14: Faux témoignage – Répression, Rn. 59. 217 Die Falschaussage wurde in Frankreich schon immer hart bestraft, s. Art. 361 Abs. 1 CP aF. Allerdings variierte die Schwere der angedrohten Strafe abhängig von dem Gericht, vor dem die Aussage abgegeben wurde, s. JurisClasseur Pénal Code-Mayaud, Art. 434–13 et 434–14: Faux témoignage – Répression, Rn. 4. 218 Außerdem ist in beiden Fällen ein Entzug der droits civils, civiques et de famille gem. Art. 131–26 CP möglich, s. Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 345. 219 JurisClasseur Pénal Code-Mayaud, Art. 434–13 et 434–14: Faux témoignage – Répression, Rn. 92. 220 JurisClasseur Pénal Code-Mayaud, Art. 434–13 et 434–14: Faux témoignage – Répression, Rn. 94. 221 Gayraud, Dénonciation, 1984, S. 206; JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–1 et 434–2: Non-dénonciation de crime, Rn. 2. 222 Diese Einschränkung wird aber stark kritisiert, da es für den Bürger teilweise unmöglich sei, einzuschätzen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind und er sich durch eine
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um ein vorsätzliches Unterlassungsdelikt, dessen Versuch nicht strafbar ist.223 Strafbar macht sich also, wer nicht unverzüglich eine solche bisher den Behörden unbekannte Tat – nicht die Identität des Täters224 – anzeigt.225 Grundsätzlich ist jedermann zur Anzeige verpflichtet. Von dieser Pflicht sind jedoch Täter und Mittäter,226 Berufsgeheimnisträger227 und auch gewisse Angehörige im Rahmen einer familiären Immunität gem. Art. 434–1 Abs. 2 CP228 befreit. Diese Ausnahme erstreckt sich auf alle Aszendenten und Deszendenten in direkter Linie und deren Ehepartner, auf Brüder und Schwestern und deren Ehegatten. Die alte Fassung der Sonderregel galt auch für entferntere Verwandte, sodass die aktuelle Fassung diesbezüglich restriktiver ist.229 Da mittlerweile aber auch nicht-eheliche Lebensgemeinschaften und PACS einbezogen sind, wurde der Katalog praktisch eher erweitert.230 Grund für diese Strafbarkeitsausnahme ist, dass die Solidarität innerhalb der Institution Familie durch eine Anzeigepflicht übermäßig beschädigt würde.231 Allerdings muss beachtet werden, dass es sich bei dieser Ausnahme eben nur um eine Ausnahme von der Pflicht, unaufgefordert auszusagen, handelt. Außerdem besteht seit 1954 eine Rückausnahme von der Privilegierung im Fall von Taten gegen unter 15-Jährige, die mit der Schwere dieser Delikte und der schwachen Stellung jugendlicher Opfer begründet wird.232
Nichtanzeige strafbar machen würde. Zur Kritik s. Bouloc/Matsopoulou, Droit pénal général et procédure pénale, 182011, S. 259. 223 JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–1 et 434–2: Non-dénonciation de crime, Rn. 29. 224 Bei einer Vernehmung kann er sich, falls er zur Täteridentität schweigt, aber gem. Art. 434–12, 434–13 CP strafbar machen. S. JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–1 et 434–2: Non-dénonciation de crime, Rn. 26. 225 Crim. 13 oct. 1992, Juris-Data n° 1992–003307, Bull. n° 320; 17 nov. 1993, JurisData n° 1993–002551, Bull. n° 347; Levasseur RSC 1994, 332 f. 226 JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–1 et 434–2: Non-dénonciation de crime, Rn. 15. 227 JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–1 et 434–2: Non-dénonciation de crime, Rn. 12. 228 JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–1 et 434–2: Non-dénonciation de crime, Rn. 11; Mousseron RSC 1998, 291, S. 291. 229 Erfasst waren Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins ersten Grades, s. Gayraud, Dénonciation, 1984, S. 217. 230 JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–1 et 434–2: Non-dénonciation de crime, Rn. 9. 231 Gayraud, Dénonciation, 1984, S. 210; Guechi, Liens de famille, 1998, S. 304. 232 JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–1 et 434–2: Non-dénonciation de crime, Rn. 10; Gayraud, Dénonciation, 1984, S. 211.
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bb) Nichtanzeige von Straftaten gegen unter 15-Jährige Außerdem besteht eine gesonderte Anzeigepflicht bei Straftaten gegen Minderjährige unter 15 Jahren gem. Art. 434–3 CP. Ein spezieller Straftatbestand wurde nötig, da die generelle Norm nur die Nichtanzeige von crimes erfasst. Im Laufe seines Bestehens wurde der Anwendungsbereich des Art. 434–3 CP auch auf andere Personen ausgeweitet, die wegen ihres Alters, einer Erkrankung oder eines Gebrechens, eines körperlichen oder psychischen Defizits, oder durch Schwangerschaft vergleichbar schutzbedürftig sind.233 Freiheitsentziehungen, Misshandlungen und sexueller Missbrauch gegen diese Personen müssen den Behörden von jeder Person, die Wissen darüber hat, unverzüglich angezeigt werden.234 Die Anlasstatbestände sind sehr unbestimmt und erfassen eine Vielzahl von Handlungen.235 Der Schutzzweck ist zum einen auf das Funktionieren der Justiz, zum anderen aber auch auf die Opfer dieser Taten gerichtet.236 Im Gegensatz zu Art. 434–1 CP bestehen keine Immunitäten für die Familie.237 Denn Misshandlungen dieser Personengruppen finden häufig innerhalb der Familie statt, sodass eine Ausnahme die praktische Relevanz der Anzeigepflicht erheblich schmälern würde.238 Da für Straftaten gegen unter 15-Jährige bereits eine Ausnahme von der Immunität in Art. 434– 1 CP vorgesehen ist, wird Art. 434–3 CP hauptsächlich für die restlichen hilfsbedürftigen Personen relevant. Allein den Täter selbst und Berufsgeheimnisträger trifft keine Anzeigepflicht.239 Die Strafe kann bis zu drei Jahren Haft und 45.000 € Geldstrafe betragen. cc) Unterlassen einer Aussage zur Entlastung eines Unschuldigen Art. 434–11 CP existiert seit 1945 und sieht vor, dass sich strafbar macht, wer einen Unschuldigen, der sich in Untersuchungshaft befindet, oder bereits
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JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–3: Non-dénonciation de mauvais traitements à un mineur de quinze ans ou à une personne vulnérable, Rn. 4. 234 Dr. pén. 1994, comm. 58, note Véron. 235 JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–3: Non-dénonciation de mauvais traitements à un mineur de quinze ans ou à une personne vulnérable, Rn. 18. 236 JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–3: Non-dénonciation de mauvais traitements à un mineur de quinze ans ou à une personne vulnérable, Rn. 6. 237 JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–3: Non-dénonciation de mauvais traitements à un mineur de quinze ans ou à une personne vulnérable, Rn. 22. 238 JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–3: Non-dénonciation de mauvais traitements à un mineur de quinze ans ou à une personne vulnérable, Rn. 17. Neben der Kriminalisierung häuslicher Gewalt gibt es in Frankreich auch andere Stellen, an die sich Betroffene wenden können, s. Courcenet, Atteintes, 2006, S. 512. 239 Aber straffreie Anzeigemöglichkeit für Berufsgeheimnisträger, s. JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–3: Non-dénonciation de mauvais traitements à un mineur de quinze ans ou à une personne vulnérable, Rn. 9.
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wegen eines crime oder délit verurteilt wurde, nicht vor der zuständigen Stelle entlastet, obwohl derjenige einen Beweis für dessen Unschuld kennt. Einer Sonderstellung z.B. als geladener Zeuge im Verfahren bedarf es nicht.240 Grund für die Strafbarkeit ist die Vermeidung von Fehlurteilen.241 Es handelt sich um ein vorsätzliches Jedermannsdelikt, das sowohl Kenntnis über die entlastenden Tatsachen als auch über die Situation des Unschuldigen erfordert.242 Die Strafbarkeit des Unterlassens tritt ab dem Moment ein, in dem die Tatbestandsmerkmale erfüllt sind und der Täter die Möglichkeit hatte, eine Aussage zu machen.243 Sie entfällt jedoch, wenn die Aussage zu einem späteren Zeitpunkt unaufgefordert abgegeben wird.244 Die Strafe beträgt drei Jahre Haft und 45.000 € Geldstrafe. Ausgeschlossen von dieser Aussagepflicht sind allerdings dieselben Angehörigen, die gem. Art. 434–11 CP privilegiert werden, weil es häufig nicht möglich ist, eine Person zu entlasten, ohne eine andere Person zu belasten.245 Da hier nicht nur die Aufklärung einer Straftat, sondern sogar die mögliche fälschliche Verurteilung eines Unschuldigen auf dem Spiel steht, hat die Ausnahme für Angehörige deutlich mehr Gewicht, als diejenige des Art. 434–11 CP. Denn das Interesse am Schutz der Familie wird hier sogar einem anderen Individualinteresse und nicht allein einem staatlichen Interesse übergeordnet. Allerdings handelt es sich erneut nur um die Ausnahme von der unaufgeforderten Aussagepflicht.246 dd) Verweigerung der Aussage trotz Wissensbekundung Derjenige, der öffentlich erklärt, den Täter eines crime oder délit zu kennen, und dann bei einer richterlichen Vernehmung nichts über dessen Identität aussagt, macht sich gem. Art. 434–12 CP strafbar. Der Unterschied zum Tatbestand der bloßen Verweigerung der Aussage liegt darin, dass die Verweigerung trotz der Ankündigung des Wissens über den Täter einen besonders schweren Fall der Aussageverweigerung darstellt.247 Die Verweigerung der 240 JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–11: Omission de témoigner en faveur d’un innocent, Rn. 10. 241 Boussinot, Témoin, 2012, S. 261. 242 JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–11: Omission de témoigner en faveur d’un innocent, Rn. 14; Boussinot, Témoin, 2012, S. 261. 243 Bozzoni, Responsabilité, 1999, S. 12. 244 Str. ob die Strafbarkeit nur entfällt, oder gar nicht entsteht. Für die Praxis ist jedoch klar, dass auch eine verspätete Reaktion einer Bestrafung im Wege steht, s. JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–11: Omission de témoigner en faveur d’un innocent, Rn. 17. 245 Guechi, Liens de famille, 1998, S. 303 Außerdem müssen Berufsgeheimnisträger, (Mit-)Täter oder Teilnehmer der untersuchten Tat nicht aussagen, s. JurisClasseur Pénal Code-Bonfils, Art. 434–11: Omission de témoigner en faveur d’un innocent, Rn. 6. 246 Guechi, Liens de famille, 1998, S. 302. 247 Dies erklärt auch den erhöhten Strafrahmen, s. Gayraud, Dénonciation, 1984, S. 234; JurisClasseur Pénal Code-Ribeyre, Art. 434–12: Refus de déposer, Rn. 3.
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Aussage muss allein die Identität des Täters betreffen. Wird über die Umstände der Tat geschwiegen, so erfüllt dies nicht den Tatbestand.248 Ob die Tat tatsächlich begangen wurde, ist irrelevant.249 Angehörige des Täters müssen ebenso wie alle anderen Personen aussagen.250 Ausgenommen von dieser Strafbarkeit sind nur Berufsgeheimnisträger und Journalisten.251 Die Tat wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr und einer Geldstrafe von 15.000 € sanktioniert, was in der Praxis jedoch höchst selten vorkommt.252 d) Anzeige einer ausgedachten Straftat Der Straftatbestand des Art. 434–26 CP stellt die Anzeige eines crime oder délits, das tatsächlich nicht stattgefunden hat, gegenüber einer Behörde unter Strafe, wenn dadurch die Gefahr unnötiger Ermittlungen entstanden ist.253 Nicht strafbar ist derjenige, der sich als Reaktion auf eine Befragung innerhalb der enquête, der instruction oder der audition eine Straftat ausdenkt, da die Aussage unaufgefordert getätigt werden muss.254 Für Angehörige, die sich innerhalb einer erzwungenen Befragung eine andere Straftat ausdenken, besteht daher insofern keine Strafbarkeit. 9. Exkurs: Einfluss der Familienangehörigkeit auf das weitere französische Strafrecht Nachdem Angehörige nicht von der Zeugnispflicht, sondern nur von der möglichen Strafbarkeit wegen Falschaussage in der audition befreit sind (sofern sie sich nicht freiwillig vereidigen lassen oder nicht gesetzwidrig vereidigt werden), liegt der Gedanke nahe, dass der französische Gesetzgeber insgesamt der Familie einen geringeren Stellenwert zuweist, als dies der deutsche Gesetzgeber tut. Wie im vorherigen Abschnitt bereits angeklungen ist, nimmt das französische Strafrecht aber an vielen anderen Stellen Bezug auf die Familie. Zum einen werden Angehörige privilegiert, indem bestimmte Delikte für sie straffrei sind (a). Zum anderen sieht das französische Strafrecht aber auch Strafschärfungen (b), selbstständige Straftatbestände (c) und sogar eine besondere Strafart (d) vor, die auf der Angehörigeneigenschaft beruhen. Es fällt jedoch auf, dass CP und CPP keineswegs kongruente Definitionen der 248
Bozzoni, Responsabilité, 1999, S. 11. JurisClasseur Pénal Code-Ribeyre, Art. 434–12: Refus de déposer, Rn. 11. 250 Guechi, Liens de famille, 1998, S. 310. 251 JurisClasseur Pénal Code-Ribeyre, Art. 434–12: Refus de déposer, Rn. 14. 252 In der Praxis ist dieser Tatbestand irrelevant, da es seit 1919 kaum Verurteilungen gab, s. JurisClasseur Pénal Code-Ribeyre, Art. 434–12: Refus de déposer, Rn. 4. 253 Eine bestimmte Person muss durch die Tat nicht geschädigt werden, s. JurisClasseur Pénal Code-Robert, Art. 434–26: Dénonciation d’une infraction imaginaire, Rn. 25. 254 Crim. 3 mai 2000, Bull. n° 174; JurisClasseur Pénal Code-Robert, Art. 434–26: Dénonciation d’une infraction imaginaire, Rn. 15. 249
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betroffenen Familienmitglieder liefern. Vielmehr bestehen selbst innerhalb der Gesetze große Unterschiede in Bezug auf die erfassten Personengruppen. Dies liegt wohl an dem mit der jeweiligen Regelung verfolgten Zweck.255 a) Immunités Unter bestimmten Umständen sind gewisse Vermögensdelikte gegen Familienangehörige nicht strafbar.256 Zu diesen Delikten zählen der Diebstahl, die Erpressung, der Betrug, und die Untreue.257 Die immunité bei Vermögensdelikten wurde auf Aszendenten, Deszendenten und Ehepartner beschränkt, sofern diese im selben Haushalt leben.258 Hierbei handelt es sich um Verfolgungshindernisse.259 Eine Rückausnahme von der immunité besteht für Gegenstände, die für das Opfer im täglichen Leben abhängig von der konkreten Lebenssituation unentbehrlich sind (z.B. Ausweis- und Aufenthaltspapiere und Zahlungsmittel). Hier gebietet der Schutz vor häuslicher Gewalt im weiteren Sinne eine Strafverfolgung.260 Der Sinn dieser immunités bei den Vermögensdelikten ist es, dass die Familie intern ohne ein externes Eingreifen des Staates ihre Probleme lösen soll. Zudem sei die Zuordnung der Eigentums- und Besitzverhältnisse innerhalb der Familie problematisch.261 Die immunités familiales werden heutzutage häufig kritisiert und kommen im französischen Recht immer seltener vor.262 Die zweite Gruppe der immunités sieht der Code Pénal bei Begünstigungsdelikten vor. Straffrei sind Personen, die zugunsten ihrer Angehörigen eine Nichtanzeige geplanter Straftaten gem. Art. 434–1 CP oder eine Strafvereitlung gem. Art. 434–6 CP begehen, einen Unschuldigen gem. Art. 434–11 CP 255
Guechi, Liens de famille, 1998, S. 314. Guechi, Liens de famille, 1998, S. 201. 257 Art. 311–1, 311–12; 312–1, 312–9, 312–10, 312–12; 313–1, 313–3; 314–1, 314– 4 CP. 258 Sodass jede Verbindung aus Verschwägerung aus dem privilegierten Kreis – die unter dem alten Recht eingeschlossen waren – ausscheidet, s. Guechi, Liens de famille, 1998, S. 202; Maury, Famille et droit pénal, 2002, S. 79. Dies ist eine Konzession an moderne Familienverhältnisse, wobei aber nichteheliche Lebenspartnerschaften nicht aufgenommen wurden, s. ebd., S. 79. 259 Keine Rechtfertigung oder Entschuldigung. Allein die Strafverfolgung kann nicht einsetzen. Zivilrechtliche Schadensersatzansprüchen bestehen weiter, str. s. Maury, Famille et droit pénal, 2002, S. 84; Theault, Liens de famille, 2013, S. 91; Streitstandsübersicht bei Mayaud, in: Puech (Hrsg.), Mélanges Wiederkehr, 2009, S. 545 f.; JurisClasseur Pénal Code-Jeandidier, Art. 311–1 à 311–16, Rn. 156. 260 JurisClasseur Pénal Code-Jeandidier, Art. 311–1 à 311–16, Rn. 151. Diese Ausnahme wurde 2006 zu diesem Zweck eingeführt, Art. 9 des Loi n° 2006–399 vom 4. April 2006. 261 Maury, Famille et droit pénal, 2002, S. 74. 262 Maury, Famille et droit pénal, 2002, S. 76; Theault, Liens de famille, 2013, S. 86; zur Kritik s. JurisClasseur Pénal Code-Jeandidier, Art. 311–1 à 311–16, Rn. 146. 256
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nicht entlasten oder einem Ausländer illegal bei der Einreise in das Schengengebiet helfen.263 Bei dieser Deliktgruppe tritt das staatliche Strafverfolgungsinteresse hinter Individualinteressen der Familienmitglieder zurück. Es werden jedoch andere Personen geschützt als bei den Vermögensdelikten.264 Es handelt sich anders als bei den Vermögensdelikten nicht um ein rein familiäres Privileg, sondern um einen Strafausschließungsgrund, dessen Wurzel sowohl im Schutz des Familienmitgliedes vor Repressionen durch Verwandte liegt, als auch im Respekt gegenüber familiärer Solidarität.265 Die Sonderrolle, die die Familie durch die immunités einnimmt, wird in der französischen Literatur teils als unzeitgemäß kritisiert. Bei schweren Straftaten stellten sie den staatlichen Strafanspruch in Frage und bedrohten so die öffentliche Ordnung, was heutzutage nicht mehr zu rechtfertigen sei. Die immunités bei den Vermögensdelikten seien allein noch der Tradition geschuldet. Generell bestünde die Tendenz, strafrechtlichen Familienschutz immer mehr zu reduzieren, was auch für die immunités gelten sollte.266 Als Reformmöglichkeit wird für die Vermögensdelikte eine Umwandlung in Antragsdelikte vorschlagen.267 b) Strafschärfungsgründe Der Code Pénal sieht einige Strafschärfungsgründe vor, die Familienmitglieder vor familiärer Gewalt schützen sollen.268 Die circonstance aggravante für die Tötung eines Aszendenten, Deszendenten oder eines Ehe- bzw. Lebenspartners gilt auch für die Vergiftung, eine vorsätzliche Körperverletzung, deren Qualifikationen und für tortures und actes de barbarie.269 Außerdem sind alle Minderjährigen unter 16 Jahren besonders geschützt. Ebenso wird die Strafe für Vergewaltigung gem. Art. 222–23, 222–24 CP, wenn sie gegen Angehörige begangen wird, verschärft. Zulasten eines Deszendenten werden 263
Gem. Art. L622–1, L622–4 Code de l’entrée et du séjour des étranger et du droit d’asile, s. Theault, Liens de famille, 2013, S. 99. 264 Privilegiert sind Verwandte und Schwager in direkter Linie, Geschwister und deren Ehepartner, der Ehepartner des Täters oder die Person, die bekanntermaßen in einer eheähnlichen Situation mit diesem zusammenlebt, ebenso wie Komplizen des Täters und Berufsgeheimnisträger. Eingeschränkt ist die Personengruppe bei der illegalen Einreise, da nichteheliche Lebensgemeinschaften leicht vorgetäuschbar sind, s. Theault, Liens de famille, 2013, S. 107; Fenouillet/Malabat, in: Saint-Pau (Hrsg.), Droit pénal: Regards croisés: actes du XXe congrès de l’Association française de droit pénal organisé [à Bordeaux] les 5–6–7 octobre 2011, 2012, S. 98. 265 Maury, Famille et droit pénal, 2002, S. 92; Theault, Liens de famille, 2013, S. 84. 266 Maury, Famille et droit pénal, 2002, S. 93. 267 Theault, Liens de famille, 2013, S. 85; Rassat, Droit pénal spécial, 62011, S. 302. 268 Guechi, Liens de famille, 1998, S. 109. 269 Gem. Art. 221–1, 221–4; 221–5; 222–7, 222–8, 222–9, 222–10, 222–11, 222–12, 222–13, 222–1; 222–3 CP.
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Zuhälterei und die Verabreichung psychoaktiver Substanzen schwerer bestraft.270 Außerdem ist der Ablauf der Verjährungsfrist bei Straftaten von Erziehungsberechtigten gegen ihre Schutzbefohlenen bis zur Volljährigkeit gehemmt.271 c) Selbstständige Straftatbestände Der abandon de famille (Art. 227–3 CP) bestraft das Unterlassen der Zahlung von rechtlich vorgeschriebenem Unterhalt an Angehörige über mehr als zwei Monate.272 Die finanzielle Versorgung der Familie wird auch durch Art. 314-7 CP geschützt, wonach derjenige bestraft wird, der eine Insolvenz herbeiführt mit dem Zweck, sich seinen eigenen Unterhaltspflichten zu entziehen. Wegen mise en péril des mineurs (Art. 227–15 CP) macht sich strafbar, wer es unterlässt, einen Minderjährigen unter 16 Jahren zu ernähren oder sich um ihn zu sorgen, wenn der Minderjährige hierdurch an der Gesundheit gefährdet wird.273 Diese Vorschrift ist wohl mit der deutschen Aussetzung (§ 221 StGB) vergleichbar. Selbstständige Tatbestände waren früher zudem der Aszendentenmord und der Ehebruch.274 Bigamie ist weiterhin gem. Art. 433–20 CP strafbar. Zudem wurde im Jahr 2010 der Begriff des Inzests erneut in den Code Pénal aufgenommen. Erfasst hiervon sind Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung innerhalb der Familie an Kindern unter 15 Jahren gem. Art. 222–31–1 CP.275 Seit 2010 existiert außerdem der Straftatbestand der Belästigung des Ehegatten, Partners oder Geliebten, der das Stalking innerhalb einer Beziehung unter Strafe stellt.276 d) Strafe und Familie Gem. Art. 222–45, 227–29 CP kann seit 2006 die Zusatzstrafe des Art. 131– 35–1 CP gegen Eltern verhängt werden, die z.B. wegen der Misshandlung von Familienangehörigen oder wegen Körperverletzung, Sexueller Belästigung oder Drogenhandels verurteilt wurden. Diese Zusatzstrafe besteht in
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Art. 225–5, 225–7 N° 5 CP und Art. 222–15 CP. Gem. Art. 7 CPP; vertiefend Guechi, Liens de famille, 1998, S. 153. 272 Guechi, Liens de famille, 1998, S. 34. 273 Art. 227–16 CP, s. Guechi, Liens de famille, 1998, S. 93. 274 Fenouillet/Malabat, in: Saint-Pau (Hrsg.), Droit pénal: Regards croisés: actes du XXe congrès de l’Association française de droit pénal organisé [à Bordeaux] les 5–6–7 octobre 2011, 2012, S. 54. 275 Fenouillet/Malabat, ebd. 276 Art. 222–33–2–1 CP; s. Fenouillet/Malabat, in: Saint-Pau (Hrsg.), Droit pénal: Regards croisés: actes du XXe congrès de l’Association française de droit pénal organisé [à Bordeaux] les 5–6–7 octobre 2011, 2012, S. 93. 271
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einem Fortbildungskurs über elterliche Verantwortung, der den Teilnehmern ihre Rolle als Eltern wieder ins Bewusstsein rufen soll.277
III. Historische Entwicklung Im Laufe mehrere Jahrhunderte hatte sich in Frankreich ein System weitgehender Zeugenausschlüsse entwickelt, wobei einzelne Entwicklungsschritte nur schwer rekonstruierbar sind. Wie im deutschen Recht wurden manche Zeugenausschlüsse dem römischen Recht entliehen, das zusammen mit dem kirchlichen Recht als droit savant rezipiert wurde. Andere wurden aus praktischen Gründen erlassen, entstammten den Vorurteilen der Zeit oder beruhten auf der Vormachtstellung des Katholizismus in Frankreich.278 1. Vorrevolutionäres Recht Auch in Frankreich wurde römisches Recht zunächst nach dem Untergang des römischen Reiches durch germanisches Recht abgelöst,279 wobei aber im Süden des heutigen Frankreichs das römische Recht zum Teil neben dem germanischen Recht fortbestand.280 Die formellen Beweisregeln wurden durch den römisch-kanonischen Prozess auch in Frankreich verbreitet.281 Zur Ausgestaltung des kanonischen Rechts ist auf die Ausführungen hierzu im Teil zum deutschen Recht zu verweisen.282 a) Karolingische Zeit In der Zeit von 751 bis 987 trennte sich der (Tat-)Zeugenbeweis in Frankreich von den anderen primitiven Beweisarten und gewann auch wegen des
277 Die sog. peine complémentaire der stage de responsabilité parentale, s. Fenouillet/ Malabat, in: Saint-Pau (Hrsg.), Droit pénal: Regards croisés: actes du XXe congrès de l’Association française de droit pénal organisé [à Bordeaux] les 5–6–7 octobre 2011, 2012, S. 89. 278 Paulus, Témoignage suspect, 1912, S. 7. 279 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 51. 280 Zum germanischen Recht s. S. 36 ff.; s.a. Zweigert/Kötz, Einführung, 31996, S. 75. 281 Lévy, in: Société Jean Bodin (Hrsg.), Société Jean Bodin 1989: Tome XVII: La preuve, 1989, S. 147. 282 Insbesondere für das französische Recht sind die Eideshelfer interessant, die auch der kanonische Prozess kannte. Sie sollten bekräftigen, sich nicht vorstellen zu können, dass der Angeklagte die vorgeworfene Tat begangen habe, was bis ins heutige Recht mit den témoins de moralité fortwirkt, s. Graven Rev. Internat. Crim. 1960, 256, S. 262.
III. Historische Entwicklung
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starken Einflusses des kanonischen Rechts stetig an Bedeutung.283 Die Gottesurteile wurden zur Ausnahme. Ankläger konnten im Grunde nur noch zwischen dem Zeugenbeweis und dem Gerichtskampf wählen.284 Den Zeugen kam nicht länger die Rolle zu, die Parteien allein durch einen Eid zu unterstützen; sie mussten über die Wahrnehmung eines bestimmten Sachverhalts, d.h. über Tatsachen, berichten.285 Wenn der Zeuge keinen Eid leistete, konnte er von der Gegenpartei abgelehnt werden. Generell waren Aszendenten und Deszendenten des Angeklagten, Kinder, Leibeigene, uneheliche Kinder und Hausangestellte nicht zum Zeugnis berechtigt. Ausgeschlossen waren somit diejenigen Personen, die von dem Angeklagten abhängig waren.286 Ein intimes Verhältnis oder ein Interesse am Ausgang des Verfahrens konnten einen Zeugen ebenfalls diskreditieren.287 Ab dem Ende des 12. Jahrhunderts kamen die förmlichen Beweisregeln288 des kanonischen Prozesses auch in weltlichen Verfahren in Südeuropa zur Anwendung. Andernorts erfolgte diese Durchsetzung deutlich langsamer. Die Ordonnance von Louis IX von 1254 machte den Zeugenbeweis gegen Ende des 13. Jahrhunderts zum häufigsten Beweismittel.289 Denn nun waren nur noch das Geständnis, der Zeugenbeweis zweier Zeugen, die non-reprochable waren, und später auch der Urkundsbeweis zulässig. Zwar galt das Geständnis als Königin der Beweise; lag es aber nicht vor, so musste zum Zeugenbeweis gegriffen werden.290 Welche Personen reprochables waren, orientierte sich zu einem großen Teil am droit savant, weshalb Familienangehörige von
283
Ab dem 11. Jhd. hatte sich der Tatzeugenbeweis etabliert, s. Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 8; Villebrun, Essai sur l’extension de la preuve, 1909, S. 88; Rached, Intime conviction, 1942, S. 105. 284 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 55. Die Karolinger verstärkten außerdem die Maßnahmen zur Absicherung der Glaubhaftigkeit des Zeugenbeweises durch die Abschaffung der Eideshelfer, des Zeugnis Verurteilter, die Verpflichtung nüchtern auszusagen und eine Verschärfung der Strafe für Meineid, s. Laingui/Lebigre, Histoire du droit pénal II, 1979, S. 24. 285 Villebrun, Essai sur l’extension de la preuve, 1909, S. 89; Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 4. 286 S. Salmon (Hrsg.), Beaumanoir Coutumes de Beauvaisis, 1900 [1283], S. 107; Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 8. 287 Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 8. 288 „Testis unus, testis nullus.“ Vertiefend zu den Beweisregeln: Esmein/Mayaud, Histoire de la procédure criminelle, 1882, S. 260. 289 Diese Entwicklung ging jedoch nicht Hand in Hand mit der Durchsetzung des Inquisitionsprozesses, der sich in Frankreich erst ab der Mitte des 15. Jhd. etablierte, s. Stefani/ Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 58. 290 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 27.
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der Zeugenaussage ausgeschlossen waren.291 Allerdings galten diese Ausschlüsse weniger zum Schutz des Familienfriedens, als zum Schutz der Glaubhaftigkeit der Aussagen.292 Zeugenausschlüsse waren notwendig, da das Beweissystem von der Richtigkeit einer Aussage ausging und ihr grundsätzlich Glauben schenkte. Möglicherweise parteiische Personen mussten daher von vornherein ausgeschlossen werden.293 Der komplette Ausschluss der témoins reprochables wurde bei besonders schweren Verbrechen wie etwa Majestätsbeleidigung allerdings nicht aufrechterhalten.294 b) Inquisitionsprozess Mit dem Inquisitionsprozess, der sich im 16. Jahrhundert vollends durchsetzte,295 fand die instruction als wichtigster Verfahrensabschnitt nur noch im Geheimen vor dem juge d’instruction und seinem greffier statt.296 Die in dieser Phase vorgesehene Konfrontation von Zeugen und Beschuldigten hatte nur den Zweck, dem Beschuldigten die Identität der Zeugen aufzuzeigen, sodass er eventuelle Vorbehalte gegen sie vorbringen, nicht aber den Zeugen selbst vernehmen konnte.297 Zur mündlichen Verhandlung wurden Zeugen nicht mehr geladen, es wurde allein ihre Aussage verlesen.298 In dieser Zeit entwickelten sich weitere Beweisregeln. So gab es nicht nur den ‚vollen‘ Beweis, sondern auch andere ‚halbe‘ Beweise, die für eine peine légale unzureichend waren, jedoch zur Folter oder einer peine extraordinaire berechtigten. Zudem gab es imperfekte Beweise, die eine Verhaftung ermöglichten.299 Die Ordonnance criminelle von Saint-Germain-en-Laye vom 26. August 1670 setzte im Zenit des Inquisitionsprozesses ein System der preuve légale vollends durch, das den deutschen Beweisregeln stark ähnelte.300 Sie blieb für den Zeugenbeweis bis zur französischen Revolution bestehen und sah die Möglichkeit von Zeugenausschlüssen vor.301 Wurde eine Person als Zeuge 291
Mausen, Ueritatis adiutor, 2002; So wurde bereits in den Cotumes von Toulouse von 1286 das Zeugnis von Angehörigen in bestimmten Fällen ähnlich den römischen Ausnahmen ausgeschlossen, s. Sicard, Preuve, 1965, S. 334. 292 Mausen, Ueritatis adiutor, 2002, S. 201. 293 Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 362; Esmein/Mayaud, Histoire de la procédure criminelle, 1882, S. 165. 294 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 59. 295 Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 345. 296 Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 14. 297 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 59; Art. 154, 158 Ordonnance de Villiers Cotteret von 1539; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 362. 298 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 59. 299 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 59. 300 Rached, Intime conviction, 1942, S. 26. 301 Titre XV Article 16 Ordonnance criminelle de Saint-Germain-en-Laye von 1670; Corler, Évolutions contemporaines, 2006, S. 7.
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ausgeschlossen, so konnte deren Aussage nicht mehr im Verfahren verwendet werden und wurde komplett aus den Akten entfernt.302 Zwar durfte diese Personen noch als simple renseignement gehört werden. Dies konnte aber zu keiner Verurteilung führen.303 Konkret hiervon betroffene Personengruppen wurden nicht festgelegt und mussten durch die Rechtsprechung ausgearbeitet werden, die eine Fülle von Ausschlussgründen entwickelte, wie Zuneigung, Furcht, eine intimes Verhältnis, Alter und Geistesschwäche, Ehrlosigkeit, ein persönliches Interesse am Ausgang des Prozesses, Verwandtschaft etc.304 Die reproches standen in jedem Einzelfall im Ermessen des Richters, sodass die personnes reprochables nicht grundsätzlich von vornherein von der Mitwirkung am Verfahren ausgeschlossen waren.305 Der Ausschluss aufgrund von Verwandtschaft war tatsächlich wohl eher die Ausnahme.306 Bei enger Verwandtschaft wurde es den Zeugen freigestellt auszusagen, allerdings wohl nur sofern ohne die Aussage des Verwandten kein Beweisnotstand eintrat.307 Zudem setzte der Ausschluss nicht bereits zu Beginn des Verfahrens, sondern erst nach der Ermittlungsphase ein: In der instruction mussten auch angehörige Zeugen immer noch unter Eid aussagen, da es in diesem Stadium nicht um Beweise für die Verurteilung, sondern um die Aufklärung der Tat und die Frage der Anklageerhebung ging.308 Hier wird deutlich, dass Sinn und Zweck der Zeugenausschlüsse in Frankreich ursprünglich nicht der Schutz der Zeugen war, sondern allein das Misstrauen gegen angehörige Zeugen zum Ausdruck gebracht wurde.309 c) Code des délits et des peines Der Inquisitionsprozess geriet gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr in die Kritik. In ganz Frankreich wurden Reformen gefordert. Diese Forderungen beinhalteten unter anderem die Abschaffung der geheimen Ermittlung 302
Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 364. Ein solcher Ausschluss musste jedoch gut begründet werden, s. Paulus, Témoignage suspect, 1912, S. 7. 303 Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 83. 304 Esmein/Mayaud, Histoire de la procédure criminelle, 1882, S. 270; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 363. 305 David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 77. 306 David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 78; Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 17; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 82 mit Bezug auf Pothier, Proc. crim., Sect. II, art. 5, § I. 307 David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 79. 308 Art. 4 Ordonnance criminelle de Saint-Germain-en-Laye von 1670; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 363. 309 Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 364, der dies auch anhand eines Falles zeigt, in dem zwei Brüder als Parteien gegeneinander im Strafprozess auftraten. Der Vater war in dieser Konstellation nicht reprochable. Begründet wurde dies damit, dass er beiden Seiten gleichermaßen verpflichtet sei und daher nicht parteiisch sein könne.
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und die Wiedereinführung des Akkusationsprozesses. Der mangelnde Reformwillen der Regierung war schließlich mitursächlich für die Einberufung der Generalständeversammlung von 1789, die zur französischen Revolution führte.310 Im Folgenden wurde sowohl die Öffentlichkeit des Prozesses hergestellt als auch die Gerichtsorganisation geändert, sodass auch Laienrichter am Verfahren teilnahmen. Vor allem aber wurde die freie Beweiswürdigung eingeführt.311 Das Gesetz vom 29. September 1791 ordnete die Zeugenvernehmung während der Hauptverhandlung an.312 Der Code des délits et des peines313 sah dann eine ausführliche Regelung des Zeugenbeweises vor. In dessen Art. 358 wurden sehr viele Personengruppen, unter anderem auch Angehörige vom Zeugnis im Prozess – nicht jedoch im Ermittlungsverfahren – ausgeschlossen.314 2. Code d’instruction criminelle Der Code d’instruction criminelle (CIC) wurde 1808 verabschiedet und trat 1811 in Kraft.315 Er blieb bis 1958 geltendes Recht. a) Zeugenausschlüsse Nachdem bereits während der Revolution die strengen Beweisregeln abgeschafft wurden, wurde 1808 durch Napoleon ein vollständig neues Strafprozessrecht erlassen, das auch den Zeugenbeweis regelte.316 Erhalten blieb allerdings das System einer Zeugenablehnung, das bereits in der Ordonnance
310
S. 59.
Lefebvre, Preuve, 1852, S. 65; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale,
24
2014,
311 Ambroise-Castérot, Procédure Pénale, 2011, S. 21; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 8; Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit, 1979, S. 42. 312 Lefebvre, Preuve, 1852, S. 65. 313 Sog. Code de 3 Brumaire An IV (d.h. vom 25. Oktober 1795). 314 Art. 33 Code des délits et des peines 1795. Erfasst hiervon waren: Deszendenten (selbst wenn diese aus einer früheren Ehe eines mittlerweile verstorbenen Ehepartners stammten, sofern der Angeklagte mit der verstorbenen Frau Kinder hatte, oder es sich um uneheliche Kinder des anderen Ehegatten handelte), Aszendenten (selbst die neuen Ehepartner der Stiefeltern), Geschwister, Verschwägerte im selben Grade wie Verwandte (selbst der verwitwete Ehegatte eines Bruders oder einer Schwester des Angeklagten, sofern diese Kinder miteinander hatten, auch wenn diese Person erneut verheiratet war) und der Ehepartner auch nach der rechtskräftigen Ehe, s. Desquiron, Traité de la preuve par témoins, 1811, S. 152; Urteile des Cour de Cassation des 11 ventose, premier thermidor an 7, 23 frimaire an 8, 27 vendémiaire au 9 et 6 avril 1809. Schon damals waren diese Personen vom Zeugnis im Prozess auch gegen andere Angeklagte ausgeschlossen, s. Dalloz/Vergé, Code d’instruction criminelle annoté, 1898, Art. 322 Rn. 49 ff. 315 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 64. 316 Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 29.
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criminelle von 1539 angelegt war.317 Die Zahl der ablehnbaren Zeugen wurde jedoch deutlich reduziert und die Ablehnungsgründe gesetzlich genau festgeschrieben.318 Grundsätzlich waren angehörige Zeugen eines (Mit-)Angeklagten gem. Art. 156 und 322 CIC weiterhin vom Zeugnis in der audition ausgeschlossen.319 Erfasst waren Aszendenten, Deszendenten, Brüder, Schwestern, 317 Allerdings wirken die Regeln, die noch unter der Geltung der strengen Beweisregeln erlassen wurden, heute anders, s. Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 366. 318 Paulus, Témoignage suspect, 1912, S. 7. 319 Art. 156 CIC Les ascendants ou descendants de la personne prévenue, ses frères et sœurs ou alliés en pareil degré, la femme ou son mari, même après le divorce prononcé, ne seront appelés ni reçus en témoignage, sans néanmoins que l’audition des personnes ci-dessus désignées puisse opérer une nullité, lorsque, soit le ministère public, soit la partie civile, soit le prévenu, ne se sont pas opposés à ce qu’elles soient entendues. Art. 322 CIC Ne pourront être reçues les dépositions: 1° Du père, de la mère, de l’aïeul, de l’aïeule, ou de tout autre ascendant de l’accusé, ou de l’un des coaccusés présents et soumis au même débat; 2° Du fils, fille, petit-fils, petite-fille, ou de tout autre descendant; 3° Des frères et sœurs; 4° Des alliés aux mêmes degrés; 5° Du mari ou de la femme, même après le divorce prononcé; 6° Des dénonciateurs dont la dénonciation est récompensée pécuniairement par la loi; Sans néanmoins que l’audition des personnes ci-dessus désignées puisse opérer une nullité, lorsque, soit le procureur général, soit la partie civile, soit les accusés, ne se sont pas opposés à ce qu’elles soient entendues. [Übersetzung der Verfasserin:] Art. 156 CIC Die Aszendenten und Deszendenten des Beschuldigten, seine Brüder und Schwestern und die mit ihm verschwägerten Personen im selben Grade, sein Ehepartner, auch nach der rechtskräftigen Scheidung werden nicht als Zeugen geladen oder gehört, ohne dass die Vernehmung dieser Personen zur Nichtigkeit der Aussage führt, wenn die Staatsanwaltschaft, die partie civile und der Beschuldigte nicht der Vernehmung widersprechen. Art. 322 CIC Als Zeugen können nicht vernommen werden: 1° Der Vater, die Mutter, die Großeltern und jeder andere Aszendent des Angeklagten oder eines Mitangeklagten im selben Verfahren; 2° Der Sohn oder die Tochter, sein Enkel oder jeder andere Deszendent; 3° Der Bruder oder die Schwester; 4° Verschwägerte Personen im selben Grad; 5° Der Ehepartner sogar nach der rechtsgültigen Scheidung; 6° Der Denunziant dessen Denunziation von Rechtswegen finanziell vergütet wird; Hierdurch wird die Vernehmung dieser Personen als Zeugen jedoch nicht nichtig, wenn die Staatsanwaltschaft, die partie civile und der Angeklagte der Vernehmung nicht widersprochen haben. Die ausgeschlossenen Personen deckten sich zu einem großen Teil mit denen, die bereits im Code du 3 brumaire erhalten waren. Allerdings definierte sich die Verschwägerung
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Ehepartner und verschwägerte Personen im selben Grade wie Verwandte.320 Dritte durften über ihr Wissen aussagen, das sie von einem Angehörigen des Beschuldigten erlangt hatten. Ebenso durften Briefe der Angehörigen verlesen werden.321 Wenn der Angeklagte in Anwesenheit des Richters erklärte, ein Zeuge sei sein Angehöriger, so wurde dieser Zeuge abgelehnt (Art. 156 CIC), da der Gesetzgeber Angehörige nicht dazu habe verleiten wollen, die Gesetze der Natur zu brechen, indem sie gegen ihre Angehörigen aussagen.322 b) Ausnahme durch die pouvoir discrétionnaire des Vorsitzenden Für das Verfahren bei der Cour d’assises galt jedoch durch die pouvoir discrétionnaire des Vorsitzenden gem. Art. 268 und 269 CIC eine Sonderregelung: der Vorsitzende der Cour d’assises konnte angehörige Zeugen zwar nicht vereidigt als témoins, wohl aber unvereidigt als simples renseignements hören.323 Ebenso konnte der Richter Vernehmungsprotokolle der témoins reprochés verlesen, die im Ermittlungsverfahren entstanden waren.324 So konnte der Richter der Cour d’assises, von dem eine maßvolle Entscheidung erwartet wurde, die sowohl das Ermittlungs- als auch das Zeugeninteresse berücksichtigt, doch die Aussage der Angehörigen im Prozess ermöglichen.325 nach dem Tod des einen Ehepartners nicht mehr darüber, ob aus der Ehe Kinder entstanden sind. S. Dalloz/Vergé, Code d’instruction criminelle annoté, 1898, Art. 322 Rn. 16. 320 Dalloz/Vergé, Code d’instruction criminelle annoté, 1898, Art. 156 Rn. 4 ff. Umstritten war, ob auch die Verwandten der partie civile ausgeschlossen sein sollten. Krit. Desquiron, Traité de la preuve par témoins, 1811, S. 171; Dalloz/Vergé, Code d’instruction criminelle annoté, 1898, Art. 156 Rn. 23 ff., 57 ff.; a.A. Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 84. 321 Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, Art. 156 Rn 54 f.; Dalloz/ Vergé, Code d’instruction criminelle annoté, 1898, Art. 156 Rn. 41, Art. 322 Rn. 64 ff. 322 Desquiron, Traité de la preuve par témoins, 1811, S. 170. 323 Crim. 24 mars 1828, Bull. n° 94; 29. mai 1840, Bull. n° 152; 27 déc. 1849, Bull. n° 356; Donnedieu de Vabres, Traité élémentaire de droit criminel, 21943, S. 641; Gorphe, Critique du témoignage, 1924, S. 31; Vitu, Procédure pénale, 1957, S. 196; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 94; Chesney RCLJ 40 nouvelle série (1891), 534, S. 539, der dies jedoch kritisch als reinen Praxiskompromiss sieht; s. ebenso David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 101. 324 Crim. 22. déc. 1842, Bull. n° 335; Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, Art. 269 Rn. 84 ff.; Dalloz/Vergé, Code d’instruction criminelle annoté, 1898, Art. 71 Rn. 46, der jedoch voraussetzte, dass keine Prozesspartei der Verlesung widersprochen hat; anders noch Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, Art. 156 Rn. 86. Dies wird zwar in Art. 269 CIC nicht explizit gesagt, es wurde jedoch von der Rspr. immer wieder bestätigt, s. Crim. 18 déc. 1817, Bull. n° 116; Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 358; Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, Art. 269 Rn. 36; Dalloz/Vergé, Code d’instruction criminelle annoté, 1898, Art. 322 Rn. 401 ff. 325 Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, Art. 269 Rn. 36; Dalloz/ Vergé, Code d’instruction criminelle annoté, 1898, Art. 269 Rn. 257 ff.
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Die Rechtsprechung behielt die Beschränkung dieser Ausnahme auf das Verfahren vor der Cour d’assises bei und gestattete kein ähnliches Vorgehen der Gerichte niederer Ordnung.326 Aus der Unmöglichkeit der uneidlichen Vernehmung angehöriger Zeugen vor den Gerichten niederer Ordnung erwuchs allerdings die Praxis, diese Zeugen vereidigt zu vernehmen. Dies war auch damals schon möglich, sofern keine der Prozessparteien oder der Zeuge selbst der Vereidigung widersprachen, sodass die in Art. 322 Abs. 1 CIC festgeschriebene incapacité durch dessen Abs. 2 zu einem rein fakultativen Ausschluss wurde.327 Mit der Einführung des Code de Procédure Pénale 1959 wurde dann die Praxis der Cour d’assises auch für die anderen Gericht legalisiert, sodass die Vereidigung der Angehörigen nicht mehr als einzige Möglichkeit erschien, deren Aussage in den Prozess einzubringen.328 c) Ausschlüsse in der instruction In der Literatur war es länger umstritten, ob die Ausschlüsse der Art. 156 und 322 CIC auch für die Phase der instruction galten, d.h. ob auch in der instruction angehörige Zeugen nur wegen crimes vernommen werden durften.329 Gem. Art. 75 CIC musste der Untersuchungsrichter den Zeugen nach seiner Beziehung zum Beschuldigten fragen. Dies geschah jedoch nicht mit dem Ziel eines Zeugenausschlusses, sondern um ein Bild von der möglichen Parteilichkeit des Zeugen zu erlangen.330 Befürworter des Ausschlusses von Angehörigen in der instruction führten an, dass dieselben moralischen Konflikte und der Verdacht der Parteilichkeit auch schon in der instruction bestünden.331 Zudem sei es unsinnig Aussagen zu sammeln, die in der nächsten und wichtigsten Prozessphase sowieso nicht verwertet werden könnten. Art. 33 CIC erlaube dem Staatsanwalt ausnahmsweise im Falle des flagrant délit die Vernehmung von Angehörigen. Eine Ausnahmeregelung könne aber nicht zum Regelfall gemacht werden.332 Eine andere Ansicht sprach sich nicht für einen kompletten Ausschluss, aber für
326
Crim. 5 Août 1911–D.I9II–I–388; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 107. 327 Desquiron, Traité de la preuve par témoins, 1811, S. 152; Rached, Intime conviction, 1942, S. 183; Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, 18 Rn. 1 ff.; ebd., 156; Jolly Rev. pénit. 1901, 976, S. 980; Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit, 1979, S. 61. 328 Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 359. 329 Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, Art. 71 Rn. 2. 330 Desquiron, Traité de la preuve par témoins, 1811, 107, 112 f. 331 Rennes, 8 déc. 1836, S. 37. II. 118; David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 100. 332 Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, Art. 71 Rn. 2.
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die unvereidigte Vernehmung der Angehörigen in der instruction aus.333 Die Rechtsprechung sah hingegen keinen Grund dafür, Angehörige überhaupt anders als andere Zeugen zu behandeln. Art. 156 und 332 CIC bezögen sich nicht auf die instruction. Angehörige Zeugen müssten daher wie jeder andere Zeuge vereidigt vernommen werden. Die instruction habe einen für das Verfahren vorbereitenden Charakter, weswegen alle möglichen Beweise hierdurch zusammengetragen werden müssten. Art. 33 CIC betreffe allein den Staatsanwalt, nicht den Ermittlungsrichter.334 Diese Auffassung setzte sich im Laufe der Zeit auch in der Literatur durch.335 Wenn Angehörige die Aussage verweigerten, stand dem juge d’instruction allerdings kein Zwangsmittel zur Verfügung, sodass Zeugen das Zeugnis de facto verweigern konnten.336 3. Code de Procédure Pénale In den Jahren zwischen 1870 bis 1935 wurde der CIC zugunsten individueller Freiheiten reformiert, was in der Zeit von 1935 bis 1945 jedoch vom VichyRegime sukzessive wieder umgekehrt wurde.337 Der Zeugenbeweis war allerdings von keiner dieser Reformen betroffen. Nach dem zweiten Weltkrieg setzte sich die Überzeugung durch, dass die Strafprozessordnung präzise Freiheitsgarantien enthalten müsse, um einen erneuten Missbrauch zu verhindern.338 Als Reaktion hierauf wurde eine Kommission zur Erarbeitung des CPP eingesetzt. Der von der Kommission erstellte Gesetzesvorschlag trat als Code de Procédure Pénale am 2. März 1959 in Kraft.339 Grundlegendes hat sich durch den CPP im Vergleich zum CIC jedoch nicht geändert.340 Die Art. 101 bis 113 333
Chesney RCLJ 40 nouvelle série (1891), 534, S. 543; Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, Art. 71 Rn. 2. 334 Crim. 10 déc. 1869, D. 1870. 1. 234; 22 janv. 1898, S. 1899. I. 110; Douai, 11 août 1853, S. 53 2. 658; Hélie, Traité de l’instruction criminelle tome IV, 1866–1867, Rn. 1843; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 95; Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, Art. 71 Rn. 2. 335 Desquiron, Traité de la preuve par témoins, 1811, 112 f.; Dalloz/Vergé, Code d’instruction criminelle annoté, 1898, Art. 71 Rn. 38 ff.; Hélie, Traité de l’instruction criminelle tome IV, 1866–1867, Rn. 1843; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 95. 336 Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, Art. 71 Rn. 2; Dalloz/ Vergé, Code d’instruction criminelle annoté, 1898, Art. 71 Rn. 44; Lefebvre, Preuve, 1852, S. 66. Zudem oblag es dem Richter, zu entscheiden, ob er einen Zeugen wirklich vernehmen wollte, s. Dalloz/Vergé, Code d’instruction criminelle annoté, 1898, Art. 71 Rn. 42. 337 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 69. 338 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 70. 339 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, 242014, S. 72. 340 Lasvignes/Lemonde, in: Delmas-Marty (Hrsg.), Procès Pénal: Vers une conscience européenne, 1992, S. 61.
IV. Ratio der französischen Regelung
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CPP sind seit Einführung des CPP kaum verändert worden und beruhen fast komplett auf den alten Art. 71 bis 86 CIC, die teilweise noch auf die Ordonnance criminelle de Saint-Germain-en-Laye du 26 août 1670 zurückgehen. Gleiches gilt für Art. 335 CPP.341 Als einzige Änderung ist Art. 62 CPP zu nennen. Er sah in seiner Form bis 1993 für das délit flagrant nicht nur die Erscheinens-, sondern auch die Aussagepflicht vor.342
IV. Ratio der französischen Regelung Nachdem aufgezeigt wurde, wie sich die Rechtslage in Frankreich für die Aussage von Angehörigen des Beschuldigten gestaltet und wie sie sich dahin entwickelt hat, stellt sich die Frage, was mit dieser höchst komplizierten Regelung bezweckt wird. 1. Humanité und Familie In älteren Werken wurde die Ausnahme von der Eidespflicht hauptsächlich moralisch mit der humanité begründet,343 um deren Willen die Angehörigen vor einem grausamen Konflikt bewahrt werden sollten.344 Im selben Atemzug werden auch das Naturrecht oder die guten Sitten als Begründung der Sonderregelung genannt.345 Gisbert sah in einer erzwungenen Aussage die Gefahr, dass das Gefühl der familiären Solidarität nicht vom Wunsch, wahrheitsge341
Guéry/Chambon, Droit et pratique, 82012, S. 250. Aube, Déclarations de la personne, 1993, S. 57; s.a. Pradel D. 1993, 299. 343 David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 93: „Le législateur, avec raison, repousse de pareils témoignages, et cette exclusion repose sur des motifs de justice et d’humanité inconstestables. On ne peut en réalité, avoir qu’une confiance limitée, dans les déclarations de ces personnes unies à l’accusé par des liens d’affections si étroits: les obliger à déposer, c’est les placer dans cette cruelle alternative: ou de commettre un mensonge et de devenir parjures, ou de témoigner sincèrement et de faire perdre l’honneur, la vie à un de leurs parents.“ (Übersetzung der Verfasserin: „Der Gesetzgeber lehnt mit Recht solche Zeugenaussagen ab und eine solche Ausnahme beruht auf unbestreitbaren Motiven der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit. Tatsächlich kann man nur ein eingeschränktes Vertrauen in die Aussagen von Personen haben, die mit dem Angeklagten durch ein so enges Näheverhältnis verbunden sind: sie dazu zu zwingen, auszusagen, das hieße sie vor eine grausame Alternative zu stellen: entweder müssten sie lügen und damit einen Meineid begehen, oder sie würden wahrheitsgemäß aussagen und dadurch die Ehre, das Leben eines Angehörigen aufs Spiel setzen.“); s.a. Chesney RCLJ 40 nouvelle série (1891), 534, S. 547. 344 David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 93; Desquiron, Traité de la preuve par témoins, 1811, S. 151; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 92; Dalloz/Vergé, Code d’instruction criminelle annoté, 1898, Art. 322 Rn. 2. 345 Desquiron, Traité de la preuve par témoins, 1811, S. 151; Chanin, Manuel des jurés, 1800/1801, S. 36, der feststellte, dass Zeugenausschlüsse von Familienmitgliedern in fast jeder Gesellschaft existierten. 342
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mäß auszusagen, verdrängt werden könne. Dies entspreche der menschlichen Natur, woraus der Gesetzgeber den Familienmitgliedern kein Verbrechen machen dürfe.346 Chanin kritisierte, manche Autoren bestünden darauf, dass Verbrechen ohne Rücksicht auf andere Individualinteressen aufgeklärt werden müssten. Die Straflosigkeit einer punktuellen Tat sei aber weniger schädlich, als die Zerstörung der guten Sitten. Diese Sitten würden durch die Einheit und den Erhalt der Familie zusammengehalten. Wenn Angehörige gegeneinander aussagen würden, so könne ihrer Aussage nicht geglaubt werden, entweder, weil sie aus Loyalität lügen, oder weil sie offenbar moralisch so verkommen seien, dass sie gegen ihre eigenen Angehörigen aussagen. In beiden Fällen sei ihnen jedenfalls nicht zu trauen.347 Wallon stellt zu diesem Konflikt fest: „Mieux vaut laisser un crime impuni que d’imposer à un fils l’éternel regret d’avoir causé la mort ou le déshonneur de son père.“348 Dem schließt sich auch Paillard an: Die Familie sei die Keimzelle der Gesellschaft, von der Konflikte ferngehalten werden müssten. Das Strafverfolgungsinteresse müsse hinter dieses Grundinteresse zurücktreten.349 Aber auch in neuerer Zeit wurde vereinzelt die Familie als schützenswertes Gut anerkannt, das durch das Regelungssystem der reproches erhalten werden solle.350 Mittlerweile wird der Familienschutz jedoch kaum mehr als entscheidendes Kriterium für die Verwandtenprivilegierung angesehen.351 346
Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 94. Chanin, Manuel des jurés, 1800/1801, S. 36; s.a. Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, Art. 156 Rn. 39. 348 Übersetzung der Verfasserin: „Lieber soll ein Verbrechen unbestraft bleiben, als einem Sohn die ewige Reue zuzumuten, den Tod oder die Unehre seines eigenen Vaters verursacht zu haben.“ s. Wallon, J.O. du 22 mai 1891, Sénat, p. 289; s.a. Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 106. 349 Paillard, Le témoignage en justice, 1962, S. 93. 350 Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 316: „Le législateur français n’a pas souhaité embarrasser les parents et alliés de la personne poursuivie en les plaçant dans une alternative aussi difficile que celle qui consiste à choisir entre protéger ou accabler celui qui est accusé. […] Libérée de l’engagement moral de dire la vérité, résultant de la formalité du serment, elle laisse libre cours au sentiment naturel et humain de protéger celui est accusé. […] Ce cas de dispense se fonde sur les liens affectifs qui sont censés exister entre le défendeur et le témoin, dont la partialité est alors présumée.“ (Übersetzung der Verfasserin: „Der französische Gesetzgeber wollte die Angehörigen des Beschuldigten nicht in die Verlegenheit bringen, zwischen einer so schweren Alternative wie die Wahl zwischen Schutz und Belastung des Angeklagten. […] Befreit von der moralischen Pflicht, die Wahrheit zu sagen, die aus der Eidespflicht resultiert, kann die Familie frei ihrem natürlichen und menschlichen Bedürfnis entsprechend handeln, den Angeklagten zu beschützen. […] Dieser Fall des Dispenses beruht auf der affektiven Verbindung, deren Existenz zwischen Angeklagten und Zeugen, deren Parteilichkeit daher vermutet wird.“); s.a. Bohoun, Administration de la preuve, 1980, S. 207. 351 Theault, Liens de famille, 2013, S. 99; s.a. Guechi, Liens de famille, 1998, S. 306; Courcenet erkennt in der Gesetzgebung den Willen des Gesetzgebers, die Institution der 347
IV. Ratio der französischen Regelung
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2. Wahrheitsfindung Die meisten Autoren sehen durch die Regeln des CIC und auch des CPP die Wahrheitsfindung geschützt.352 Zumindest sei ursprünglich mit den Zeugenausschlüssen dieser Schutz bezweckt gewesen.353 Der Eid Verwandter müsse verboten werden, da sonst Richter auf die gesteigerte Glaubwürdigkeit des Zeugen aufgrund des Eides vertrauen könnten. Der Verzicht auf die Vereidigung verhindere also Fehlurteile.354 3. Zwischenergebnis Es kann also festgehalten werden, dass die Regelung zur Aussage von Angehörigen nach französischem Verständnis wohl primär dem Schutz der Wahrheitsfindung dient. Dies kann auch daraus abgelesen werden, dass in Art. 335 CPP Angehörige mit anderen Personen genannt werden, denen eine wahrheitsgemäße Aussage nicht zugetraut wird. Zwar bewirken Art. 335 CPP und Art. 43413 CP auch einen Familienschutz. Die meisten kontemporären Autoren sehen diesen jedoch nicht als primär bezweckt an.
Familie als „cellule primaire“ zu schützen. Dies zeige sich in der Behandlung der Aussage von Kindern in Scheidungsverfahren gegen ihre Eltern, bei dem das öffentliche Interesse dem Familienfrieden untergeordnet werde. Dies werde im Strafverfahren jedoch umgekehrt. Hier überwiege das Strafverfolgungsinteresse, s. Courcenet, Atteintes, 2006, S. 531. 352 „Ce que redoute le législateur, c’est que la voix du sang étouffe la vérité.“ (Übersetzung der Verfasserin: „Was der Gesetzgeber befürchtet ist, dass die Stimme des Blutes die Wahrheit erstickt.“) s. David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 96; Rassat, Procédure pénale, 2001, S. 401; Desquiron, Traité de la preuve par témoins, 1811, S. 152; Brière/ Cogniart, Procédure Pénale Tome II, 1972, S. 72; Aghaee Fishani, Preuve, 1996, S. 282; Paillard, Le témoignage en justice, 1962, S. 93; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 217; Mansour, Influence des liens de parenté, 2008, S. 522; Le Poittevin, Code d’instruction criminelle annoté, 1911, Art. 156 Rn. 39; Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 94; JobronMinier, Témoin, 2000, S. 327; Herzog-Evans/Roussel, Procédure Pénale, 52014, Rn. 448; Leroy, Procédure pénal, 32013, S. 190; Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 98; Vitu, Procédure pénale, 1957, S. 195; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 4. 353 Graven Rev. Internat. Crim. 1960, 256, S. 262. 354 Bohoun, Administration de la preuve, 1980, S. 208; Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 339 Hierzu wurde aber bereits von Gorphe angemerkt, dass Verwandtschaft nicht generell eine wahrheitsgemäße Aussage ausschließt und daher die Regelung im Sinne einer bestmöglichen Wahrheitsermittlung nicht sinnvoll sei, s. Gorphe, Critique du témoignage, 1924, S. 32. Auch Boussinot sieht den Zweck der Regelung in der Vermeidung von Falschaussagen. Allerdings habe der Gesetzgeber nicht den Schutz der Wahrheitsfindung, sondern den Schutz des Zeugen vor Strafbarkeit verfolgt, s. Boussinot, Témoin, 2012, S. 206.
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V. Reformdiskussion Die Regeln für die Aussage von Angehörigen des Beschuldigten werden in der französischen Literatur nur wenig diskutiert. 1. Reform im Sinne eines Zeugnisverweigerungsrechts Reformbestrebungen gab es vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Wallon stellte 1891 dem französischen Sénat den Vorschlag einer Reform im Sinne eines deutschen Zeugnisverweigerungsrechts für Eltern und Kinder vor.355 Chesney ging der Vorschlag nicht weit genug, denn er wollte die gesamte enge Familie in diese Privilegierung einbeziehen und eine Belehrungspflicht schaffen.356 Für ein fakultatives Zeugnisverweigerungsrecht spreche, dass der Zeuge selbst am besten entscheiden könne, ob er zu einer unparteiischen Aussage in der Lage sei.357 Chesney und David sahen jedoch bereits die Gefahr, dass Straftaten innerhalb der Familie durch ein so ausgestaltetes Zeugnisverweigerungsrecht sehr schwer aufklärbar würden. Der Staat habe jedoch eine Schutzpflicht gegenüber Kindern und schutzbedürftigen Familienmitgliedern.358 Daher schlug Chesney ein Zeugnisverweigerungsrecht vor, über das in der Verhandlung belehrt werden muss, das jedoch nicht von der Erscheinenspflicht befreien sollte.359 In einer Fußnote sprach sich auch Garraud 1909 in Anlehnung an die Regelungen in Deutschland, Österreich, Spanien und Italien für ein fakultatives Zeugnisverweigerungsrecht aus, da die Wahlmöglichkeit des Zeugen die einzige dieser Aussagesituation angemessene Lösung sei.360 Jobron-Minier plädiert für eine Neuregelung, die alle Zeugen im Sinne der liberté de la preuve gleich behandelt. Hierbei stellt er die Möglichkeit einer Regelung über Zeugnisverweigerungsrechte in den Raum. Dabei sei allerdings zu beachten, dass eine solche Regel die Wahrheitsermittlung merklich einschränken würde.361 Kritisiert wurde die bestehende Rechtslage auch von Bonneaudeau: „La dispense de serment ne change rien au fond du problème.“362 Der Schutz der 355
David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 103 mit Bezug auf Wallon, J.O. 22 du mai 1891, Sénat, p. 289. 356 Chesney RCLJ 40 nouvelle série (1891), 534, S. 545 Er vermutete jedoch, dass Wallon seinen Vorschlag wohl aus Sorge um ein effektives Strafverfahren begrenzt hatte. 357 Chesney RCLJ 40 nouvelle série (1891), 534, S. 547. 358 Chesney RCLJ 40 nouvelle série (1891), 534, S. 545; David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 104. 359 Chesney RCLJ 40 nouvelle série (1891), 534, S. 547. 360 Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 93. 361 Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 347. 362 Übersetzung der Verfasserin: „Die Ausnahme vom Eid ändert nichts an der Ursache des Problems.“ s. Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 367.
V. Reformdiskussion
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Familienangehörigen sei allein durch ein ‚Recht zur Lüge‘ nicht sonderlich umfänglich sichergestellt, da sie in der Ermittlung wie alle anderen Zeugen behandelt werden. Selbst im Hauptverfahren bestehe die Möglichkeit der vereidigten Aussage. Immer noch werde die familiäre Solidarität nicht ausreichend respektiert.363 Statt der aktuellen Regelung sei daher ein Zeugnisverweigerungsrecht (droit au silence) nach dem Vorbild des italienischen und deutschen Rechts, über das der Zeuge auch vor seiner Aussage aufgeklärt werde, vorzuziehen.364 2. Reformvorschlag von Rassat Den einzigen umfassenden Reformvorschlag machte Rassat 1997 im Zuge ihres Vorschlags für eine Reform des CPP, mit dem sie vom französischen Justizministerium beauftragt wurde.365 Die bestehenden incapacités seien
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S. hierzu auch Chesney RCLJ 40 nouvelle série (1891), 534, S. 536. Bonneaudeau, Parenté en droit pénal, 1968, S. 361. 365 Reformvorschlag Rassat (s. Rassat, Proposition de la réforme, 1997, S. 204): Art. 353 Les témoins, appelés un à un pour déposer, doivent, sur demande du président, faire connaitre leurs noms, prénoms, âge, profession, domicile ou résidence. Ils doivent faire savoir, éventuellement de leur propre initiative, s’ils sont ou ont été parents, alliés ou placés dans un état de subordination par rapport à l’une des personnes privées en cause et faire connaitre dans quelles conditions ils ont connu l’une ou l’autre de ces parties avant les faits sur lesquels ils déposent. Art. 434.37.3 CP Toute personne qui aura fait en justice une déposition sans indiquer, conformément aux alinéas 2, 3 et 4 de l’article 353 du C.P.P. les liens qui pouvaient l’unir aux personnes ou aux faits en cause, ou en dissimulant ces liens sera punie d’un an d’emprisonnement et de 100.000 f. d’amende. Art. 355 Les témoins prêtent serment de dire „toute la vérité, rien que la vérité.“ Toutefois, les témoins âgés de moins de seize ans au moment des faits sur lesquels ils déposent et les personnes privées de la capacité de témoigner en justice conformément à l’article 131.26 du Code pénal, ne prêtent pas serment. [Übersetzung der Verfasserin:] Art. 353 Die Zeugen, die nacheinander zur Aussage gerufen werden, müssen auf Nachfrage des Vorsitzenden ihren Vor- und Nachnamen, ihr Alter, ihren Beruf und ihre Anschrift nennen. Sie müssen auch auf ihre eigene Initiative sagen, ob sie mit einem der Beschuldigten verwandt oder verschwägert sind oder waren, oder ob sie mit ihr in einem Subordinationsverhältnis stehen oder standen, und sie müssen erklären, wie sie den oder die Angeklagten vor dem für den Prozess relevanten Zeitpunkt kennen gelernt haben. Art. 434.37.3 CP Jede Person, die vor Gericht eine Aussage tätigt, ohne den Absätzen 2, 3 und 4 des Artikels 353 CPP entsprechend auf die Verbindung, die sie mit dem Angeklagten verbindet, 364
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sowohl täuschend als auch unangemessen.366 Der Personenkreis schließe beispielsweise die Familienmitglieder des Opfers, selbst wenn es partie civile ist, nicht ein. Deren Aussage könne aber ebenso wie die Aussage der Angehörigen des Beschuldigten durch persönliche Interessen geprägt sein.367 Rechtlich würden die incapacités indes keinen Ausschluss vom Verfahren bewirken, obwohl das Wort dies vermuten ließe. Das Gericht werde lediglich über den möglicherweise verdächtigen Charakter einer Aussage informiert. Mindestens für Juroren sei dieser implizite Hinweis jedoch nicht verständlich. Sogar Berufsrichter registrierten kaum, dass jemand nicht vereidigt wird.368 Es sei zudem irreführend, da jeder Beweis frei durch den Richter in seinem Wert gewürdigt werden könne. Den Richter könne nichts davon abhalten, dass er simples renseignements in der Praxis denselben, wenn nicht einen höheren Stellenwert einräumt, als einer vereidigten Aussage.369 Ein Hauptkritikpunkt, der nicht nur von Rassat angemerkt wird, ist, dass die Strafe für die Falschaussage nach dem Code Pénal nur auf vereidigte Zeugenaussagen anwendbar ist.370 Es sei paradox und unlogisch, dass gerade die unglaubwürdigsten Zeugen von der Strafbarkeit wegen Falschaussage befreit seien und daher frei lügen können. Der Effekt der incapacités sei schlussendlich sehr begrenzt dadurch, dass die eidliche Vernehmung von Angehörigen gem. Art. 336 Abs. 1 CPP kein Grund für die Nichtigkeit einer Aussage sei, wenn niemand – sei es allein aus Unaufmerksamkeit – diesem Vorgehen widersprochen habe.371 Rassat schlägt daher vor, die relativen incapacités komplett abzuschaffen und gleichzeitig eine strafbewährte Pflicht zur Offenlegung der Verwandthinzuweisen, oder die eine solche Verbindung verheimlicht, wird mit einem Jahr Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe in Höhe von 100.000 f. bestraft. Art. 355 Die Zeugen schwören, dass sie „die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit“ sagen werden. Allerdings werden Personen, die zum Zeitpunkt, um den die Aussage geht, jünger als 16 Jahre alt waren, oder Personen, denen gemäß Artikel 131.26 CP die Fähigkeit vor Gericht als Zeugen auszusagen abgesprochen wurde, nicht vereidigt vernommen. 366 Rassat, Proposition de la réforme, 1997, S. 204. 367 Rassat, Proposition de la réforme, 1997, S. 205. 368 Rassat, Proposition de la réforme, 1997, S. 205. 369 Rassat, Proposition de la réforme, 1997, S. 205; Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 112. 370 Rassat, Proposition de la réforme, 1997, S. 205; Rassat, Procédure pénale, 22013, S. 340; Rassat, Procédure pénale, 2001, S. 405; Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 14; Rached, Intime conviction, 1942, S. 197; Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 328; Jolly Rev. pénit. 1901, 976, S. 978; Gorphe, Critique du témoignage, 1924, S. 26; Vidal/ Magnol, Cours de droit criminel, 71928, S. 865; David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 10. 371 Rassat, Proposition de la réforme, 1997, S. 205.
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schaft mit dem Angeklagten festzulegen, die dem Richter die Gefahr einer parteiischen Aussage vor Augen führen soll. Die Verheimlichung einer solchen Tatsache durch den Zeugen sollte wiederum unter Strafe gestellt werden.372 Außer in Fällen der rechtlichen Unmöglichkeit (Minderjährige und Personen, denen die Bürgerrechte entzogen wurden) sollten alle Zeugen auf dieselbe Art und Weise unter Eid aussagen, sodass auch eine Falschaussage immer strafbar wäre.373 Jede Aussage habe den gleichen Wert und könne in die freie Beweiswürdigung des Richters einbezogen werden.374 3. Vereinheitlichung von témoignage und simple renseignement In der Literatur wird auch das Gegenteil vereinzelt vorgeschlagen, nämlich generell die Vereidigung vor der Aussage abzuschaffen. Gorphe forderte bereits 1924 die Gleichbehandlung aller Zeugen durch Abschaffung der Vereidigung. Das Misstrauen gegenüber bestimmten arbiträr festgelegten Zeugengruppen müsse abgeschafft und das Urteil über die Glaubwürdigkeit eines Zeugen der freien richterlichen Beweiswürdigung überlassen werden.375 Für die Abschaffung des Eides zumindest vor dem juge d’instruction sprach sich auch die Cour de cassation aus, weil in dieser Prozessphase noch nicaht hinreichend klar sei, wer als Täter in Frage kommt. Eine Vereidigung mit Wahrheitspflicht käme einer Selbstbelastungspflicht gleich.376 Dies sollte das Strafverfahren vereinfachen und die Kriminalisierung der Falschaussage in der instruction wieder rückgängig machen, die erst mit der Reform des Code Pénal von 1994 eingeführt wurde.377 Mit dem Problem der Inkohärenz zwischen instruction und audition beschäftigen sich auch andere Autoren: So fordert Aberkane, dass die Falschaussage auch bei unvereidigten Aussagen strafbar sein sollte.378 Im Gegensatz dazu hält Guechi eine generelle Straflosigkeit der Falschaussage von Angehö372
Rassat, Proposition de la réforme, 1997, S. 205; Die Möglichkeit einer allgemeinen Eidespflicht diskutiert auch Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 347; s.a. David, Témoignage devant la justice, 1902, S. 11. 373 Rassat, Proposition de la réforme, 1997, S. 205; in diese Richtung auch Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 114. 374 Rassat, Proposition de la réforme, 1997, S. 205. 375 Gorphe, Critique du témoignage, 1924, S. 31. 376 Cour de Cassation, Suppression de la prestation de serment de la personne entendue comme témoin au cours de l’instruction préparatoire, https://www.courdecassation.fr/ publications_26/rapport_annuel_36/rapport_2002_140/suggestions_modifications_141/sug ges tions_nouvelles_142/serment_personne_6095.html, 19.07.2016. Die Kritik am Eid hat lange Tradition. Bereits gegen Ende des 19. Jhd. herrschte eine rege Diskussion über die Abschaffung der allg. Eidespflicht. S. Gisbert, Moyens de preuve, 1893, S. 88; Jolly Rev. pénit. 1901, 976, S. 79; s.a. Garraud, Traité théorique et pratique, 1909, S. 68. 377 Desportes/Lazerges-Cousquer, Traité de procédure pénale, 32013, S. 1605. 378 Aberkane RSC 1959, 1, S. 22.
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rigen für sinnvoll. So werde die momentan bestehende rechtliche Inkohärenz zwischen instruction und audition aufgehoben.379
VI. Fallstudie Beinahetreffer In Frankreich ist der Beinahetreffer noch eine recht neue und wenig etablierte Ermittlungsmethode. Bis jetzt kam sie zwei Mal zu einer gezielten familial searching im Strafverfahren. 1. Rechtsgrundlage für die DNA-Analyse Eine Rechtsgrundlage für diese gezielte Suche gibt es jedoch nicht. Generell gilt zwar auch in Frankreich der Grundsatz des Gesetzesvorbehalts.380 Art. 70656I Abs. 1 CPP stellt dementsprechend die Ermächtigungsgrundlage zur Entnahme einer DNA-Probe dar. Nach dem Konzept des Gesetzgebers kann die verdächtige Person nur ganz ausnahmsweise in den Fällen der Art. 706-56 Abs. 5 CPP und Art. 706-47-2 Abs. 1 CPP dazu gezwungen werden, gegen ihren Willen eine DNA-Probe abzugeben.381 Diese DNA-Profile werden dann für 40 Jahre gespeichert.382 Personen, die über jeden Verdacht erhaben sind, können komplett frei von jeder Strafandrohung entscheiden, ob sie eine Probe abgeben wollen. Zu diesen Personen zählen auch Aszendenten und Deszendenten, von denen die DNA-Probe häufig für die Suche nach verschwundenen Personen genommen wird.383 Gem. Art. 706-56 Abs. 4 CPP kann Material gesichert werden, das sich auf natürliche Weise vom Körper 379
Guechi, Liens de famille, 1998, S. 314. Debove/Falletti/Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 52013, S. 704. 381 Demarchi, Preuves scientifiques, 2012, S. 191. Eine Entnahme von DNA-Proben durch physischen Zwang kennt das französische Recht nicht. Jedoch stellt es eine Straftat dar, wenn sich eine verpflichtete Person weigert, an Maßnahmen zur Entnahme biologischer Proben teilzunehmen. Gem. Art. 706–56–II Abs. 1 und 2 CPP; s. Guinchard/Buisson, Procédure Pénale, 92013, S. 666; Larguier/Conte, Procédure pénale, 232014; Demarchi, Preuves scientifiques, 2012, S. 173; Jobard/Schulze-Icking, Preuves, 2004, S. 40; Pocara, Le témoignage oral, 2011, S. 313; Eine Weigerung gegen die Entnahme von Genmaterial kann zu einem Jahr Gefängnisstrafe und 15.000 € Geldstrafe führen. Eine Täuschung der Ermittlungsbehörden kann sogar zu einer Haftstrafe von 3 Jahren und einer Geldstrafe i.H.v. 45.000 € führen; s. Herzog-Evans/Roussel, Procédure Pénale, 52014, Rn. 451; Conseil Constitutionel, déc. n° 2003–467 DC du 13 mars 2003. So geschieht die Probenabgabe von Verdächtigen tatsächlich nur bedingt freiwillig, s. Demarchi, Preuves scientifiques, 2012, S. 176. 382 Martin ICS 2004, 1, S. 5; Pham-Hoai/Crispino/Hampikian J. Forensic Sci. 59 (2014), 816, S. 819. 383 S. Art. R.52–10 I. 5°, 74–1, 80–4 CPP; s. Pham-Hoai/Crispino/Hampikian J. Forensic Sci. 59 (2014), 816, S. 816. 380
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getrennt hat, wie z.B. Blut- oder Spermaspuren am Tatort, sodass auch ohne Wissen und Einverständnis der betroffenen Person eine Analyse durchgeführt werden kann.384 Wegen des Gesetzesvorbehaltes wurde 1998 eine gesetzliche Grundlage für eine DNA-Datenbank geschaffen, die den Namen fichier national automatisé des empreintes génétiques (FNAEG, Art. 706-54 CPP) trägt und 2001 in Betrieb genommen wurde.385 Das FNAEG beinhaltete 2004 ca. 30.000 Profile von rechtskräftig Verurteilten und 11.000 von Verdächtigen.386 Ende 2013 waren bereits ca. 2.550.000 DNA-Profile gespeichert, von denen ca. 2.000.000 von Verdächtigen und 450.000 von Verurteilten stammten.387 Das Ziel ist, 400.000 Profile und 70.000 Spuren pro Jahr miteinander abzugleichen.388 In Art. 706-55 CPP ist eine abschließende Liste der Straftaten aufgeführt, die zu einer Speicherung der Daten ermächtigen. Es werden nicht nur DNA-Profile gespeichert, die im Rahmen der Ermittlungen von Sexualstraftaten gesammelt wurden, sondern auch Spuren, die in Verbindung mit Drogenhandel, Zuhälterei, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, vorsätzlichen Tötungsdelikten, Diebstahl, Betrug, Erpressung, Hehlerei, Freiheitsberaubung, vorsätzlicher Körperverletzung, Zuhälterei, Sachbeschädigung, Geldfälschung, Kriegsverbrechen, Terrorismus und der Beteiligung in einer kriminellen Vereinigung stehen.389 Die gesammelten Daten können untereinander abgeglichen werden, um so den Täter zu überführen (Art. 706-54 Abs. 3 CPP).390 Die Identifizierung von Tätern wird durch den schnellen Abgleich aller Spuren mit den gespeicherten Profilen des FNAEG ermöglicht, wobei die Profile aus bis zu 18 Loci bestehen.391 Entsprechend den Artikeln 706-54 Abs. 4 und R.53-10, 3 CPP ist es möglich, DNA-Profile von vermissten Personen oder von nicht identifizierten Leichen im FNAEG zu speichern, um die Suche nach ihnen oder deren Identifikation zu erleichtern. Dies ermöglicht ebenfalls die Suche nach Aszendenten, Deszendenten und Geschwistern. Die 384
Demarchi, Preuves scientifiques, 2012, S. 188. Loi n° 2003–239 du 18 mars 2003 relative à la sécurité intérieure; s.a. Coto, Influence des progrès scientifiques, 2006, S. 234. 386 Art. 706–54 Abs. 1 und 2 CPP. Zu den Zahlen s. Sénat français, Projet de loi de finances pour 2010, 19.11.2009, S. 27. 387 Commission Nationale de l’Informatique et des Liberté, FNAEG: Fichier national des empreintes génétiques, https://www.cnil.fr/fr/fnaeg-fichier-national-des-empreintes-ge netiques, 19.07.2014. 388 Corler, Évolutions contemporaines, 2006, S. 20. 389 Art. 706–55 CPP; s.a. Debove/Falletti/Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 52013, S. 725; Guinchard/Buisson, Procédure Pénale, 92013, S. 666; Der Katalog wurde seit Einführung des FNAEG immer erweitert, s. Martin ICS 2004, 1, S. 4. 390 Debove/Falletti/Dupic/Debré, Précis de droit pénal, 52013, S. 726; Guinchard/Buisson, Procédure Pénale, 92013, S. 666; Corler, Évolutions contemporaines, 2006, S. 20. 391 Art. A38 CPP; Corler, Évolutions contemporaines, 2006, S. 20. 385
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Gesetzgebung wurde dahingehend präzisiert, dass die DNA-Profile der Verwandten, die für die Identifikation herangezogen werden, nicht in der Datenbank aufbewahrt werden dürfen,392 es sei denn, dass sie sich damit explizit und schriftlich einverstanden erklären.393 Diese sehr weiten Möglichkeiten der Datenerhebung und -speicherung werden in der Literatur vereinzelt als Gefahr angesehen. Zum einen wird die Möglichkeit der zwangsweisen Datenerhebung als Gefahr für das Recht auf ein Privatleben und die biologische Identität der Person empfunden. Die Privatsphäre werde der Effektivität der Strafverfolgung geopfert.394 Alle anderen Autoren, sehen (wenn überhaupt) mögliche Eingriffe hingegen immer durch das staatliche Interesse an der Strafverfolgung gerechtfertigt.395 Weitere Kritik wird aufgrund des Risikos der Stigmatisierung gespeicherter Personen geäußert.396 Es bestehe auch eine gewisse Gefahr der ‚falschen Positiven‘, wodurch auch unschuldige Menschen verfolgt werden könnten.397 Da mittlerweile jedoch bis zu 18 Loci erfasst werden, ist dieses Risiko mit dem technischen Fortschritt deutlich geringer geworden. 2. Familial searching Der Beinahetreffer in Form des familial searching ist bis jetzt wohl erst zweimal in den Jahren 2012 und 2015 aufgetaucht. In der Affäre Kulik398 wurde eine junge Frau bereits 2002 vergewaltigt und anschließend getötet. Am Tatort fanden sich DNA-Spuren von mehreren Tätern. Ein einfacher DNA-Abgleich und eine großangelegte Ermittlung lieferten lange keine Ergebnisse. Erst 2011 versuchte die Polizei erneut, die Täter zu ermitteln. Hierfür wurde das erste Mal in der französischen Kriminalgeschichte überhaupt 392
Art. 16–11 CC. Die hierdurch gewonnen Proben werden für Ermittlungen nach einer Todesursache oder der Ursache des Verschwindens verwendet. Die Rechtsgrundlage für die Probenentnahme ist in Art. 74, 74–1 und 80–4 CPP und Art. 16–11 CC geregelt. 394 François, Réception, 2004, S. 604. 395 Siehe z.B. Demarchi, Preuves scientifiques, 2012, S. 182; Le Douarin, in: Puigelier (Hrsg.), Preuve, 2004, S. 40. Nach französischer Dogmatik verletzt dieses Vorgehen, sofern die police judiciaire die Daten verwaltet, nicht das Recht auf ein Privatleben, was die Cour de cassation bereits für ähnliche Identifizierungsmaßnahmen festgestellt hat. 396 Demarchi, Preuves scientifiques, 2012, S. 298. 397 Giudicelli-Delage/Matsopoulou, Transformations de l’administration de la preuve, 2003, S. 170. 398 Piel, Comment l’enquête sur le meurtre d’Elodie Kulik a été relancée par l’ADN d’un parent, http://www.lemonde.fr/societe/article/2012/02/21/comment-l-enquete-sur-lemeurtre-d-elodie-kulik-a-ete-relancee-par-l-adn_1642851_3224.html, 30.12.2015; Négroni, Affaire Kulik: l’ADN a parlé dix ans après le meurtre, http://www.lefigaro.fr/actualitefrance/2012/01/16/01016-20120116ARTFIG00516-le-meurtre-d-elodie-kulik-bientotelucide.php, 30.1.2015. 393
VI. Fallstudie Beinahetreffer
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gezielt auch nach near matches gesucht.399 Normalerweise wird in französischen Ermittlungsverfahren nur nach sehr hohen Allelübereinstimmungen gefahndet.400 Die erste Anwendung des familial searching ergab sich aus einem Zufall, da ein französischer Polizist mit dieser Ermittlungsmethode im Rahmen seiner Doktorarbeit in Berührung gekommen war. Nach einer rechtlichen Überprüfung der französischen Behörden wurde das familial searching nach geringeren Allelübereinstimmungen ausnahmsweise gestattet.401 Tatsächlich hatte der Vater des einen Täters eine DNA-Probe im Rahmen einer anderen Straftat abgeben müssen. Eine explizite Ermächtigungsgrundlage gab es für dieses Vorgehen nach französischem Recht nicht. Allein für die Identifizierung vermisster Personen war die gezielte Suche nach einer Verwandtschaft bereits erlaubt.402 Allerdings war das familial searching auch nicht explizit verboten. Zu einer gerichtlichen Überprüfung der Zulässigkeit dieser Ermittlungsmethode kam es leider nicht, da der überführte Täter bereits verstorben war.403 Ein weiterer Fall des familial searching ist nun im Jahr 2015 im Zuge von Ermittlungen gegen einen Serienvergewaltiger bekannt geworden. Nach 20 Jahren wurde der Täter von ca. 30 schweren Vergewaltigungen durch eine große genetische Übereinstimmung seines Bruders mit den Tatortspuren überführt.404 Auch wenn immer noch keine Rechtsgrundlage für das familial searching besteht (auf Französisch wird es nun parentèle genannt), so existiert mittlerweile immerhin ein gemeinsames Protokoll der chancellerie, der police nationale und der gendarmerie nationale über das Vorgehen bei einer solchen Ermittlung. Bestehen Zweifel, ob ein familial searching durchgeführt werden soll, muss ein spezielles comité technique interministériel konsultiert werden. Da dies allerdings keine echte Ermächtigungsgrundlage darstellt, soll momentan im französischen Justizministerium über eine Gesetzesänderung nachgedacht werden.405
399
Piel, Comment l’enquête sur le meurtre d’Elodie Kulik a été relancée par l’ADN d’un parent, http://www.lemonde.fr/societe/article/2012/02/21/comment-l-enquete-sur-lemeurtre-d-elodie-kulik-a-ete-relancee-par-l-adn_1642851_3224.html, 30.12.2015; PhamHoai/ Crispino/Hampikian J. Forensic Sci. 59 (2014), 816, S. 817. 400 Pham-Hoai/Crispino/Hampikian J. Forensic Sci. 59 (2014), 816, S. 817. 401 Pham-Hoai/Crispino/Hampikian J. Forensic Sci. 59 (2014), 816, S. 817. 402 Pham-Hoai/Crispino/Hampikian J. Forensic Sci. 59 (2014), 816, S. 818. 403 Piel, Comment l’enquête sur le meurtre d’Elodie Kulik a été relancée par l’ADN d’un parent, http://www.lemonde.fr/societe/article/2012/02/21/comment-l-enquete-sur-lemeurtre-d-elodie-kulik-a-ete-relancee-par-l-adn_1642851_3224.html, 30.12.2015. 404 Fansten/Mouillard, Violeur de l’Essonne: place aux gènes, http://www.liberation.fr/ france/2015/12/30/violeur-de-l-essonne-place-aux-genes_1423715. 405 Fansten/Mouillard, Violeur de l’Essonne: place aux gènes, http://www.liberation.fr/ france/2015/12/30/violeur-de-l-essonne-place-aux-genes_1423715.
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C. Frankreich – Incapacité und simple renseignement
3. Übertragbarkeit auf das deutsche Recht Da das französische Modell des Rechts zur Lüge für die DNA-Analyse keine Wirkung entfalten kann, dann die französische Regelung nicht auf das deutsche Recht übertragen werden. Eine Angehörigenprivilegierung existiert in diesem Bereich in Frankreich nicht.
VII. Zusammenfassung Die Angehörigenprivilegierung ist in Frankreich von geringer Bedeutung. Eine Privilegierung entfaltet ihre Wirkung sowieso erst auf der sekundären Ebene der Strafbarkeit einer Falschaussage. Anders als in Deutschland wirkt in Frankreich das Verfassungsrecht nur in einem geringen Maße auf das Strafprozessrecht. Die größte Bedeutung hat hier wohl die EMRK.406 So wird das Verfahrensrecht auch weniger als Garant der Rechtsstaatlichkeit gegenüber dem Staat zum Schutz von Individualrechten, als vielmehr als Ermöglichung von staatlichen Eingriffen in die Privatsphäre des Einzelnen gesehen.407 Die Angehörigenprivilegierung hat daher auch in der Gesamtrechtsordnung keinen bedeutenden Stellenwert. Sie ist vielmehr in ihrer heutigen Form durchaus kompliziert und teils wohl aus historischen Zufälligkeiten heraus noch nicht einmal folgerichtig umgesetzt. In dieses Bild passt der Befund, dass es kaum noch Befürworter der Privilegierung gibt, und der Ruf nach der Abschaffung aller Sonderregeln immer lauter wird.
406 Grund für diese Entwicklung ist wohl, dass Frankreich lange Zeit nicht über ein Gericht verfügte, bei dem man Verfassungsverstöße als individuell Betroffener geltend machen konnte. Stattdessen blieb nur der Weg nach Strasbourg. 407 Diese einseitige Sichtweise moniert auch Graven Rev Int Criminol Police Tech 1948, 163, S. 173; Sicalopoulou, Statut, 1991, S. 34.
D. England und Wales – Non-Compellability Das englische Recht privilegiert nur Ehepartner bzw. civil partner des Angeklagten bei ihrer Zeugenaussage, indem sie zum Teil wählen dürfen, ob sie aussagen wollen. Im Folgenden wird diese Regelung näher erläutert. Hierfür zeigt die Arbeit zunächst die Besonderheiten des englischen Strafprozessrechts auf (I.), dann wird die geltende Rechtslage zur Zeugenaussage von Angehörigen des Angeklagten beschrieben (II.). Sodann werden die geschichtliche Entwicklung (III.), die ratio (IV.) und die Reformdiskussion (V.) dargestellt. Zuletzt thematisiert die Arbeit den Umgang des englischen Rechts mit dem Problem des Beinahetreffers (VI.).
I. Der englische Strafprozess Zunächst werden der Verfahrensablauf des englischen Strafprozesses (1.) und die Grundzüge des adversary system (2.) vorgestellt. 1. Verfahrensablauf des Strafprozesses Das englische Beweisrecht lässt sich nur vor dem Hintergrund des englischen Strafverfahrens verstehen. Dies wird im Folgenden kurz erklärt. Der Strafprozess gliedert sich in drei bzw. vier unterschiedliche Phasen. Zuerst ermittelt die Polizei, indem sie Beweise sichert und Zeugen befragt. Im trial on indictment bzw. summary trial wird dann der Angeklagte gefragt, ob er sich für schuldig oder für unschuldig erklärt (guilty/not guilty plea).1 2014 bekannten sich 81 % der Angeklagten im Crown Court für schuldig.2 Im Magistrates’ Court waren es im selben Zeitraum 77 %.3 In Fällen, in denen der Angeklagte sich für schuldig bekennt, kommt es zu keiner Verhandlung, sondern es wird direkt ein Urteil zur Strafzumessung gefällt. Die Strafe fällt 1
S. Hungerford-Welch, Criminal Procedure and Sentencing, 72009, S. 257. Sentencing Council, Crown Court Sentencing Survey Annual Publication, 25.06.2015, S. 6; Auffällig ist, dass die guilty plea-Rate in den letzten Jahren stark gestiegen ist. So lag sie 2005 noch bei 60% und 2011 bei 68%, s. Ministry of Justice, Judicial and Court Statistics, 09.2008, S. 109. 3 Crown Prosecution Service, CPS Annual Report 2014–15, 2015, S. 69. 2
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D. England und Wales – Non-Compellability
dann fast immer erheblich milder als bei einem not guilty plea aus.4 Der Grund für das Fehlen einer Verhandlung im Falle des guilty pleas liegt im Parteienprozess, in dem es nicht primär um die hoheitlich gesteuerte Wahrheitsfindung, sondern um den fairen Kampf zwischen den beiden Parteien geht, der das beste Mittel zur Wahrheitsfindung sein soll. Eine bekannte Anekdote hierzu schildert Murphy: „A frustrated judge in an English adversarial court finally asked a barrister after witnesses had produced conflicting accounts: ‚Am I never to hear the truth?’ ‚No, my lord, merely the evidence’ replied the counsel.“5 Natürlich verfolgt der englische Strafprozess, wie der inquisitorische Prozess, auch das Ziel, Gerechtigkeit zu schaffen.6 Nach dem englischen Verständnis wird Gerechtigkeit aber nicht allein durch die Wahrheit – die überhaupt nicht ermittelt werden könne –, sondern durch das faire Verfahren zweier widerstreitender Parteien gewährleistet.7 Wenn zwischen den Parteien daher Einigkeit über die Schuld besteht, muss auch niemand mehr über die Schuld verhandeln. Die Logik des adversary system gebietet in diesen Fällen also keine Hauptverhandlung. Befindet sich der Angeklagte für nicht schuldig, folgt die Hauptverfahrensphase des trial.8 Bei schweren bis mittelschweren Straftaten findet dies vor einer Jury im Crown Court statt.9 Leichte Kriminalität wird vor einem Einzelrichter mit juristischer Vorbildung oder durch eine lay bench mit drei Laienrichtern verhandelt.10 Hier werden sowohl für den prosecution- als auch für den defence-case Beweise vorgetragen und Zeugen gehört. Ein Zeuge (witness) ist nach englischem Recht „a person who gives evidence to a judicial tribunal“.11 Der Beweisaufnahme folgen die Plädoyers von Anklage und Verteidigung. Sodann muss der Richter im Juryverfahren die Beweise zusammenfassen (summing up) und teils kommentieren.12 Außerdem gibt er direc4 Sentencing Guidelines Council, Reduction; Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, 2010, S. 440. 5 Übersetzung der Verfasserin: „Ein frustrierter Richter in einem englischen adversatorischen Gericht fragte schließlich einen Barrister, nachdem Zeugen widersprüchliche Aussagen abgegeben hatten: ‚Werde ich niemals die Wahrheit hören?‘ ‚Nein, mein Lord, lediglich die Beweise‘, antwortete der Anwalt.“ Murphy (2002) zitiert nach Petherick/ Turvey/Ferguson, Forensic Criminology, 2010, S. 54. 6 S. Criminal Justice: The Way Ahead, Cm. 5074, S. 120; McConville/Wilson, Handbook Criminal Justice Process, 2002, S. 7. 7 Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 3; Huber/Klumpe, in: Gropp/Huber (Hrsg.), Rechtliche Initiative, 2001, S. 227. 8 McConville/Wilson, Handbook Criminal Justice Process, 2002, S. 324. 9 Ormerod/Laird, Smith and Hogan’s Criminal Law, 2015, S. 35. 10 McConville/Wilson, Handbook Criminal Justice Process, 2002, S. 283; Ormerod/ Laird, Smith and Hogan’s Criminal Law, 2015, S. 36. 11 Übersetzung der Verfasserin: „eine Person, die vor einem gerichtlichen Tribunal eine Aussage abgibt“ s. Phipson, Phipson on Evidence, 172012, S. 112. 12 McConville/Wilson, Handbook Criminal Justice Process, 2002, S. 328. 4
I. Der englische Strafprozess
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tions of law und klärt über die Beweislast auf.13 Hat ein Zeuge ein eigenes Interesse am Ausgang des Verfahrens (z.B. als Komplize, der ein Motiv dafür haben könnte, den Angeklagten zu belasten), so kann der Richter dazu verpflichtet sein, die Jury davor zu warnen, ihr Urteil allein auf dieses Beweismittel zu stützen.14 Durch diese caution warnings wird die Aufmerksamkeit der Jury auf eine mögliche Unglaubwürdigkeit des Zeugen gelenkt, wobei die Beweiswürdigung dennoch ihr überlassen bleibt.15 Ob er diese Warnung ausspricht liegt im Ermessen des Richters, das jedoch in eindeutigen Fällen auf null reduziert sein kann, da der Richter für die Wahrung eines fairen Verfahrens verantwortlich ist.16 Eine solche Warnung wird bei verwandten Zeugen normalerweise jedoch nicht durchgeführt. Als letzter Schritt wird vom Richter über die Strafzumessung entschieden.17 2. Adversary System Das adversary system wirkt sich unmittelbar auf den Zeugenbeweis aus. In der examination in chief sagt der Zeuge für die Partei aus, die ihn geladen hat. Die andere Partei versucht in der cross-examination die Glaubhaftigkeit dieser Aussage zu erschüttern. Abhängig davon, welche Partei den Zeugen vernimmt, sind unterschiedliche Regeln anwendbar. Die examination in chief wird durch offene Fragen gestaltet, auf die der Zeuge frei antworten kann. Dies ändert sich nur, wenn der Zeuge sich weigert auszusagen, und er sich in Widersprüche zu seiner früheren Aussage verstrickt. Richter in England dürfen den Inhalt des Strafverfahrens nicht aktiv selbst gestalten und sollen (mit Ausnahme von Verständnisfragen) keinerlei Fragen stellen.18 Diese Funktion übernehmen in einem adversatorischen System zum größten Teil die Parteien.19 Richter entscheiden während des Vorverfahrens und der Verhandlung allein über Rechtsfragen. Ausnahmsweise kann ein Richter auch Zeugen laden und vernehmen, wenn dies die Verfahrensgerechtigkeit unbedingt gebietet.20 Diese richterliche Kompetenz wird aber nur äußerst zurückhaltend ausgeübt, da die Überzeugung vorherrscht, dass die
13
S. McConville/Wilson, Handbook Criminal Justice Process, 2002, S. 328. Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 15–54. 15 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 15–53. 16 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 15–49; Makanjuola [1995] 3 All E.R. 730, 1351. 17 Dies geschieht aufgrund der sentencing guideline, s. Hungerford-Welch, Criminal Procedure and Sentencing, 72009, S. 740. 18 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14; R. v Sharp [1994] Q.B. 261, 273; R. v MM [2011] EWCA Crim 1291, 35. 19 McConville/Wilson, Handbook Criminal Justice Process, 2002, S. 325. 20 S. Hannibal, Law of Criminal and Civil Evidence, 2002, S. 287; R. v Chapman (1838) 8 Car. & P. 558; R. v Harris [1927] 2 K.B. 587, 594; R. v Cleghorn [1967] 2 Q.B. 584, 587; McEwan, Evidence, 21998, S. 87. 14
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D. England und Wales – Non-Compellability
Parteien einen besseren Überblick über den Fall haben.21 Hier liegt ein entscheidender Unterschied zum kontinentalen inquisitorischen Prozess.22 Da Zeugen nicht vom Richter, sondern von den Parteien geladen und befragt werden, ist auch die Einstellung der befragenden Personen gegenüber dem Zeugen eine andere. Da die Parteivertreter in England darauf bedacht sind, ihrer Partei zum Obsiegen (d.h. zur Verurteilung bzw. zum Freispruch) zu verhelfen, nimmt keiner von beiden besondere Rücksicht auf die Belange des Zeugen.23 Eine Fürsorgepflicht zu Gunsten der Zeugen, wie sie z.B. deutsche Richter treffen soll, ist daher unbekannt. Für die Anklage gilt allerdings ein abgeschwächter Untersuchungsgrundsatz, weil sie auch Zeugen, die nicht dem prosecution case dienen, laden muss.24 Besteht jedoch der Verdacht, dass ein Entlastungszeuge nicht die Wahrheit aussagen wird, so muss sie ihn nicht laden.25 Dennis beschreibt die Atmosphäre einer Zeugenvernehmung im adversary system wie folgt: „It follows that witnesses will not generally be questioned by anyone involved in the proceeding in a spirit of free impartial inquiry. Partisan, controlled questioning is the norm, and free report by the witness is the exception. This point helps to explain why some witnesses find the process of testifying at best bewildering, because they are unable to tell their story in their own way, or at worst traumatic, because of ‚robustʻ cross-examination that may have the effect of making them feel that they themselves are on trial.“26
21 McEwan, Evidence, 21998, S. 87; Richter des Crown Court gaben jedoch an, dass in 19 % ihrer Fälle Zeugen nicht geladen wurden, die sie für sehr relevant hielten. Daher wird gefordert, dass Richter ihre Kompetenz häufiger ausübt, s. Royal Commission on Criminal Justice, Report, 1993, S. 123, die fordert, dass Richter ihre Kompetenz häufiger ausüben. 22 McConville/Wilson, Handbook Criminal Justice Process, 2002, S. 312. 23 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14. 24 Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 291. 25 R. v Tregear [1967] 2 Q.B. 574; R. v Nugent (1977) 65 Cr.App.R.40; R. v Balmforth [1992] Crim.L.R. 825. Als Beispiel für einen solchen Fall, nennen May/Powles Angehörige, die den Angeklagten nicht belasten wollen und daher die Unwahrheit sagen, s. May/ Powles, Criminal Evidence, 52004, 19–01. 26 Übersetzung der Verfasserin: „Daraus folgt, dass Zeugen nicht generell von den am Prozess beteiligten Parteien in einer Stimmung einer freien und unparteiischen Untersuchung befragt werden. Die voreingenommene, kontrollierte Befragung ist die Norm und der freie Bericht des Zeugen ist die Ausnahme. Dieser Punkt hilft zu erklären, warum manche Zeugen den Prozess der Zeugenaussage im besten Fall verwirrend, da sie nicht in der Lage sind ihre Geschichte auf ihre Art und Weise zu erzählen, und im schlimmsten Fall traumatisch finden, wegen der ‚robusten‘ cross-examination, die den Effekt haben kann, dass sich die Zeugen fühlen, als richte sich das Verfahren gegen sie.“ s. Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14.
II. Geltende Rechtslage
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II. Geltende Rechtslage Im Folgenden wird die Zeugenaussage von Angehörigen des Angeklagten unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht. Zuerst wird die allgemeine Zeugnispflicht thematisiert (1.). Dann werden die drei Ausnahmen von der Zeugnispflicht – die incompetence (2.), die non-compellability (3.) und die privileges (4.) – erläutert. Sodann werden Straftaten, die im Zusammenhang mit der Aussage begangen werden können, behandelt (5.). Zuletzt gibt ein Exkurs über den sonstigen Einfluss der Familienangehörigkeit einen Eindruck vom Stellenwert der Familie im englischen Strafrecht (6.). 1. Zeugnispflicht Das Zeugnis in der Hauptverhandlung (testimony) ist im englischen Verfahren besonders wichtig, da durch das strenge Mündlichkeitsprinzip schriftliche Beweise und hearsay evidence nur eine geringe Rolle spielen.27 a) Rechtliche Zeugnispflicht Das englische Recht kennt daher auch eine Zeugnispflicht,28 die durch eine Erscheinenspflicht ergänz wird, sofern ein gerichtlicher sog. witness summons besteht.29 Die Aussage wird in England generell vereidigt abgegeben und ist ansonsten unzulässig.30 Die einzige Ausnahme von der Eidespflicht schreiben s. 56(1) und (2) Youth Justice and Criminal Evidence Act (YJCEA) 27 McEwan, Evidence, 21998, S. 100; Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 16 Relevante Beweise sind verwertbar, auch wenn sie illegal erlangt wurden, s. Compton J. in R. v Leatham (1861) 8 Cox CC 498, 501; R. v Khan (Sultan) [1996] 3 All ER 289; ebd., Rn. 8. Der Richter darf jedoch Beweismittel nicht zulassen, wenn sie unfairly prejudicial für den Angeklagten wären, was aber nur selten vorkommt. Vgl. s. 78 PACE; R. v Khan (Sultan) [1997] AC 558 (HL); McConville/Wilson, Handbook Criminal Justice Process, 2002, S. 202. Eine weitere Ausschlussregel ist das Verbot des bad character evidence, s. Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 19 Sowohl hearsay als auch character evidence wurden sukzessive immer weiter zugelassen. Dies stellt nach englischem Verständnis ein Problem der Mündlichkeit, nach deutscher Dogmatik eher eines der Unmittelbarkeit dar, s. Roberts/ Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 291; Die Unmittelbarkeit wurde früher zudem auch durch die best evidence rule garantiert, wodurch das direktere Beweismittel immer den Vorrang verdiente. Auch diese Regel ist mittlerweile kaum noch existent, s. Garton v. Hunter [1969] 1 All ER 451, [1969] 2 QB 37. In dieselbe Richtung wirkt die Einschränkung der Aussage-privileges, die mittlerweile fast nur legal professional privileges erfassen, s. Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 10. 28 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 307. 29 Ss. 2 ff. Criminal Procedure (Attendance of Witnesses) Act 1965; s. 97 Magistrates’ Courts Act 1980; Lord Mackay of Clashfern/Cook/Dillow/Ormerod, Halsbury’s Laws of England, 52010, § 516. 30 R. v Sharman [1998] 1 Cr.App.R. 406; Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 12.
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D. England und Wales – Non-Compellability
1999 für Kinder unter 14 Jahren vor. In diesem Fall steht die unvereidigte Aussage der vereidigten Aussage im Beweiswert gleich.31 In anderen Fällen kann die Zeugnisfähigkeit oder die Zeugniserzwingbarkeit eingeschränkt sein oder es besteht ein Aussageprivileg (competence, compellability und privilege),32 was bei der Aussage Angehöriger relevant werden kann. Das englische Recht privilegiert allerdings nie den weiten Kreis der Angehörigen, sondern allein den engen Kreis der Ehepartner, denen seit 2004 durch s. 84(1) des Civil Partnership Acts auch eingetragene Lebenspartner gleichgestellt sind.33 Alle Blutsverwandten unterliegen daher rechtlich einer uneingeschränkten Zeugnispflicht. b) Tatsächliche Zeugnispflicht Da die Zeugenaussage vor Gericht sehr stark durch die Taktik der beiden Parteien gesteuert ist, kann in der Praxis allerdings nicht von einer vollkommenen Aussagepflicht gesprochen werden. Ein Grund hierfür liegt darin, dass es keine Aussagepflicht bei der polizeilichen Ermittlung gibt.34 In diesem Stadium wird nicht von einem testimony, sondern von einem statement gesprochen. Liegt ein solches statement nicht vor, so können die Parteien im Vorhinein nicht abschätzen, was der Zeuge sagen wird. Dieses prozesstaktische Risiko wollen die Parteien in der Regel nicht eingehen, sodass sich solche Zeugen gar nicht erst für das trial laden. Ein informeller Austausch zwischen Zeugen und den Parteien vor dem Verfahren ist unüblich und birgt die Gefahr, den Zeugen zu ‚verbrennen‘. So können sich unwillige Zeugen – seien es Familienangehörige oder Dritte – der Aussagepflicht relativ leicht entziehen, indem sie bereits bei der Polizei nicht aussagen. Doch auch bei Zeugen, die im Vorverfahren ein statement abgegeben haben, spielt die Prozesstaktik eine große Rolle. Ist zu vermuten, dass der Zeuge vor Gericht etwa aufgrund der Verwandtschaft nicht die Wahrheit aussagen wird, wird sich der Prozessvertreter zweimal überlegen, ob es wirklich sinnvoll ist, den Zeugen trotzdem zur Aussage zu zwingen.35 Sagt er widersprüchlich aus, so ist seine Glaubwürdigkeit von vornhinein beeinträchtigt. Sinnvoller scheint es daher häufig, auf die Ausnahmen vom hearsay-Verbot zurückzugreifen (s. S. 195 ff.). 31
Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 225. S. zur competence S. 178 ff., zur compellability S. 180 ff. und zu den privileges S. 203 ff. Diese Terminologie ist auch in anderen Common Law-Ländern bekannt, wird jedoch nicht so strikt durchgehalten, s. Rothstein ICLQ 12 (1963), 1189, S. 1189. 33 Im Folgenden wird der Einfachheit halber nur noch von Ehepartnern gesprochen. Dies soll jedoch auch immer die civil partner mit einschließen. 34 Ministry of Justice, Achieving Best Evidence in Criminal Proceedings, https://www. cps.gov.uk/publications/docs/best_evidence_in_criminal_proceedings.pdf, 15.10.2015. 35 McEwan, Evidence, 21998, S. 97. 32
II. Geltende Rechtslage
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c) Ablauf der Zeugenvernehmung Die Zeugenvernehmung wird immer durch die Partei begonnen, die den Zeugen geladen hat, sog. examination in chief.36 Hierbei darf der Zeuge alles gefragt werden, was für den Fall relevant und nicht durch eine Ausschlussregel verboten ist.37 Eine Vernehmung über Tatsachen, die die Glaubwürdigkeit des Zeugen unterstützen sollen, gilt grundsätzlich als irrelevant.38 Zeugen werden, um die Gefahr einer Beeinflussung zu umgehen, weder von der Partei vor ihrer Aussage instruiert, noch trainiert.39 In der examination in chief sind leading questions nicht zugelassen. Hierzu zählen sowohl Suggestivfragen, die die Antwort bereits beinhalten, als auch Fragen, die ein im Prozess bestrittenes Faktum als gegeben darstellen.40 Der Grund für dieses Verbot ist, dass der Zeuge von der vernehmenden Partei geladen wurde und dieser vermutlich positiv gegenübersteht, sodass anzunehmen ist, dass er der vorgegebenen Linie des Anwalts folgen würde.41 Eine Ausnahme vom Verbot der leading questions gilt,42 und wenn der Zeuge sich weigert auszusagen und daher zum hostile witness erklärt wird, woraufhin die Regel der cross-examination Anwendung finden. Dann folgt die cross-examination mit weniger strengen Regeln,43 da sie andere Ziele verfolgt. Sie bezweckt, den durch den Zeugen erbrachten Beweis zu unterminieren, Gesichtspunkte für die eigene Partei zu Tage zu fördern und Zweifel an der generellen Glaubwürdigkeit des Zeugen aufkommen zu lassen.44 Ein Hauptunterschied zur examination in chief ist die Zulässigkeit von leading questions,45 da der Zeuge der Partei der cross-examination wohl nicht nahe steht und so nicht die Gefahr besteht, dass er ihr nach dem Mund reden könnte. Außerdem darf der Vernehmungsinhalt nicht nur relevante Fakten, sondern auch die Glaubwürdigkeit des Zeugen betreffen.46 Fragen zur 36
Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14. Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 3. 38 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14. 39 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14. Ihnen darf allein der Ablauf des Verfahrens erklärt werden, s. R. v Momodou [2005] Crim. L.R. 588; Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 250. 40 Z.B. in einem Verfahren, in dem die Schüsse des A auf B bewiesen werden sollen: „Als A auf B schoss, hatten Sie das Gefühl, dass er betrunken war?“; s. Hannibal, Law of Criminal and Civil Evidence, 2002, S. 292. 41 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14–15. 42 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14–15. 43 Sie hängen vom Ermessen des Gerichts ab, s. McConville/Wilson, Handbook Criminal Justice Process, 2002, S. 201. 44 McConville/Wilson, Handbook Criminal Justice Process, 2002, S. 200; Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14–24. 45 Z.B. „Haben Sie gesehen, wie A auf B geschossen hat?“ 46 Hobbs v Tinling and co Ltd [1929] 2 K.B. 1, 18 f. CA per Scrutton L.J. 37
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D. England und Wales – Non-Compellability
Glaubwürdigkeit des Zeugen dürfen allerdings nur gestellt werden, wenn der vorgeworfene Sachverhalt – entspräche er der Wahrheit – die Meinung des Gerichts über Glaubwürdigkeit des Zeugen und Glaubhaftigkeit dessen Aussage ernsthaft in Frage stellen würde.47 Familienmitglieder können dabei am häufigsten als Zeugen über den bad character des Angeklagten vernommen werden, falls diese Art des Beweises notwendig ist, um den Fall aufzuklären, zum anderen, wenn ein durch den Angeklagten hervorgerufener falscher Eindruck richtig gestellt werden soll. So kann es dazu kommen, dass Angehörige nicht nur über die angeklagte Tat aussagen, sondern als sog. bad character evidence auch über etwaiges anderes Fehlverhalten des Verwandten oder dessen charakterliche Defizite, was eine erhöhte emotionale Belastung darstellt, da hierdurch umso mehr das persönliche Vertrauensverhältnis der Angehörigen ausgenutzt wird.48 Die ‚robusten‘ Vernehmungsmöglichkeiten in der cross-examination spielen bei Verwandten vor allem dann eine wichtige Rolle, wenn sie versuchen, die Verwandtschaftsbeziehung zu verschweigen oder nicht zugeben, dass ihnen zuvor vom Angeklagten ihre Zeugenaussage vorgegeben wurde.49 Nach der cross-examination kann die Partei, die den Zeugen geladen hat, diesen erneut im Rahmen der re-examination hören, wenn sie die zuvor entstandenen Eindrücke korrigieren zu können glaubt. Hierbei dürfen keine neuen Beweise eingeführt werden, es darf nur auf Erkenntnisse der crossexamination nach den Regeln der examination in chief reagiert werden.50 2. Competence „A witness is competent if he may lawfully be called to give evidence.“51
Grundsätzlich stellte s. 80(1) Police and Criminal Evidence Act (PACE) 1984, der mittlerweile durch den inhaltlich übereinstimmenden s. 53(1) YJCEA 199952 ersetzt wurde, eine Vermutung für die competence eines jeden 47
R. v Sweet-Escott (1971) 55 Cr.App.R. 316, 320 f. CA. Dennis, Law of Evidence, 2013, 14–27, 18–21. 49 R. v Phillips (1938) 26 Cr.App.R. 17; Lord Hailsham of St. Marylebone, Halsbury’s Laws of England Vol. 11(2), 41990, § 1172. 50 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14–43. 51 Übersetzung der Verfasserin: „Ein Zeuge ist kompetent, wenn er von Gesetzes wegen als Zeuge geladen werden kann.“ S. Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 163. 52 S. 53 – Competence of witnesses to give evidence YJCEA 1999 (1) At every stage in criminal proceedings all persons are (whatever their age) competent to give evidence. (2) Subsection (1) has effect subject to subsections (3) and (4). (3) A person is not competent to give evidence in criminal proceedings if it appears to the court that he is not a person who is able to (a) understand questions put to him as a witness, and 48
II. Geltende Rechtslage
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Zeugen auf.53 Unter competence wird die Zeugnisfähigkeit im englischen Recht verstanden. Eine Person wird als kompetent angesehen, wenn sie von Gesetzes wegen in einem Verfahren aussagen darf. Grundsätzlich ist jeder Zeuge competent, der eine relevante Zeugenaussage abgeben kann.54 Kinder unter 14 Jahren dürfen nur unvereidigt vernommen werden, sind aber trotzdem kompetente Zeugen.55 Ihre unvereidigte Aussage steht vereidigten Aussagen im Beweiswert in nichts nach.56 Ebenso sind Geisteskranke bzw. geistig Behinderte mittlerweile nicht mehr kategorisch inkompetente Zeugen. Vielmehr liegt die Einschätzung beim Gericht, ob die Person als kompetenter Zeuge anzusehen ist. Gem. s. 53(3) YJCEA 1999 muss es entscheiden, ob der Zeuge die ihm gestellten Fragen verstehen und er diese verständlich beantworten kann.57 Ein klarer Fall, in dem die incompetence vorliegt, ist die Vernehmung des Angeklagten durch die Anklage oder durch die Verteidigung eines Mitangeklagten.58 Competent ist der Angeklagte nur, wenn er sich bereits für schuldig bekannt hat, er freigesprochen, das Verfahren abgetrennt oder eingestellt (b) give answers to them which can be understood. (4) A person charged in criminal proceedings is not competent to give evidence in the proceedings for the prosecution (whether he is the only person, or is one of two or more persons, charged in the proceedings). (5) In subsection (4) the reference to a person charged in criminal proceedings does not include a person who is not, or is no longer, liable to be convicted of any offence in the proceedings (whether as a result of pleading guilty or for any other reason). [Übersetzung der Verfasserin:] S. 53 – Kompetenz der Zeugen, auszusagen YJCEA 1999 (1) In jeder Phase des Strafverfahrens können alle Personen (unabhängig von deren Alter) als Zeugen aussagen. (2) Absatz (1) gilt eingeschränkt durch die Absätze (3) und (4). (3) Eine Person ist nicht kompetent in Strafverfahren auszusagen, wenn es dem Gericht erscheint, dass sie nicht in der Lage ist – (a) Fragen, die ihm als Zeuge gestellt werden, zu verstehen, und (b) dem Gericht verständlich zu antworten. (4) Eine Person, die in einem Strafverfahren angeklagt ist, ist nicht kompetent im Verfahren für die Anklage auszusagen (unabhängig davon, ob sie der einzige Angeklagte ist, oder es weitere Mitangeklagte gibt). (5) Angeklagter in Absatz (4) ist keine Person, die nicht oder nicht mehr wegen einer im Verfahren behandelten Tat (ob wegen eines guilty pleas oder aus einem anderen Grund) verurteilt werden kann. 53 R. v Sed [2004] 1 WLR 3218; Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–17. 54 Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 244. 55 S. 53(1) YJCEA 1999. 56 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 303. 57 Munday, Evidence, 62011, Rn. 3; Lord Mackay of Clashfern/Cook/Dillow/Ormerod, Halsbury’s Laws of England, 52010, § 510. 58 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 306.
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wurde.59 Zu Gunsten der Verteidigung ist der Angeklagte hingegen immer ein kompetenter Zeuge.60 Sagt der Angeklagte dann jedoch aus, so muss er auch für die cross-examination der Anklage zu Verfügung stehen. Sind zwei Personen zusammen angeklagt, kann der eine den anderen als kompetenten Zeugen benennen. Die competence wurde seit dem Criminal Evidence Act (CEA) 1898 immer weiter ausgeweitet, bis die Liberalisierung des Zeugenbeweises mit PACE seinen Abschluss fand und jeder Zeuge für competent erklärt wurde. Dieser Entwicklung liegt der Gedanke zugrunde, dass Beweise, soweit sie zur Verfügung stehen, im Prozess auch verwertet werden sollen,61 was auch die Verteidigungsrechte stärkt.62 Heutzutage besteht darüber Konsens, dass nicht schon auf Ebene der competence Fragen der Glaubwürdigkeit des Zeugen aufgegriffen werden sollen.63 Dass der Angeklagte für die Anklage nicht competent ist, beruht allein auf dem Gedanken der Selbstbelastungsfreiheit.64 3. Compellability „A witness is compellable if he can lawfully be obliged to give evidence.“65
Die compellability besagt, ob ein Zeuge nicht nur generell geladen, sondern auch zur Aussage gezwungen werden kann.66 Grundsätzlich sind die meisten kompetenten Zeugen auch compellable.67 S. 80 Police and Criminal Evidence Act 1984 regelt die Hauptausnahmen von der generellen Zeugnispflicht: S. 80 – Competence and compellability of accused’s spouse or civil partner68
59
S. 53(4) YJCEA 1999 und s. 80(4) PACE 1984; Keane/McKeown, Modern Law of Evidence, 92012, S. 121; Ozin/Norton/Spivey, Practical Guide to PACE, 2006, Rn. 10. 60 Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 42001, Rn. 8. 61 Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 346. 62 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–17. 63 R. v MacPherson [2006] 1 Cr App R 30, 460; Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 305. 64 Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 8. 65 Übersetzung der Verfasserin: „Ein Zeuge ist compellable, wenn er von Rechts wegen dazu verpflichtet werden kann auszusagen.“ s. Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 163. 66 Lord Mackay of Clashfern/Cook/Dillow/Ormerod, Halsbury’s Laws of England, 5 2010, § 509. 67 Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 42001, Rn. 8; Lord Mackay of Clashfern/Cook/Dillow/Ormerod, Halsbury’s Laws of England, 52010, § 509. 68 Übersetzung der Verfasserin: S. 80 – Kompetenz und compellability des Ehepartners oder civil partner des Angeklagten (1) (weggefallen) (2) In jedem Verfahren, in dem der Ehe- oder eingetragene Lebenspartner einer Person angeklagt ist, soll diese Person unter Berücksichtigung von Absatz (4) zum Zeugnis für den angeklagten Partner verpflichtet werden können.
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(1) (weggefallen) (2) In any proceedings the spouse or civil partner of a person charged in the proceedings shall, subject to subsection (4) below, be compellable to give evidence on behalf of that person. (2A) In any proceedings the spouse or civil partner of a person charged in the proceedings shall, subject to subsection (4) below, be compellable – (a) to give evidence on behalf of any other person charged in the proceedings but only in respect of any specified offence with which that other person is charged; or
(2A) In jedem Verfahren, in dem der Ehe- oder Lebenspartner einer Person angeklagt ist, soll diese Person unter Berücksichtigung von Absatz (4) zum Zeugnis verpflichtet werden können – (a) um für einen anderen Mitangeklagten im Verfahren auszusagen, aber nur in Bezug auf eine specified offence die der anderen Person vorgeworfen wird; oder (b) um für die Anklage auszusagen, aber nur in Bezug auf eine specified offence, die irgendeiner Person im Verfahren vorgeworfen wird. (3) In Bezug auf den Ehe- oder Lebenspartner, der in einem Strafverfahren angeklagt ist, ist eine Tat eine specified offence, im Sinne des Absatz (2A), wenn – (a) es einen Angriff auf, eine Verletzung von oder eine Drohung mit einer Verletzung gegenüber dem Ehe oder eingetragenen Lebenspartner oder einer Person, die zum Begehungszeitpunkt unter 16 Jahren alt war; (b) es sich um ein Sexualdelikt handelt, das mutmaßlich an einer Person, die zur Tatzeit unter 16 Jahren alt war; oder (c) es sich um einen Versuch oder eine Verabredung, eine Beihilfe oder Anstiftung zur Begehung einer Tat, die von Absatz (3)(a) oder (b) erfasst wird, handelt. (4) Niemand, der selbst in einem Verfahren angeklagt ist, soll wegen Absatz (2) oder (2A) compellable in seinem eigenen Verfahren sein. (4A) Wird in diesem Absatz von einer Person, die in einem Verfahren angeklagt ist, gesprochen, so beinhaltet dies nicht Personen, die nicht oder nicht mehr in diesem Verfahren wegen einer Tat (ob wegen eines guilty pleas oder aus einem anderen Grund) verurteilt werden können. (5) Eine Person, die mit dem Angeklagten verheiratet war, dies aber nicht mehr ist, ist im Verfahren gegen diese Person compellable, als ob sie nie mit dieser Person verheiratet gewesen wäre. (5A) Eine Person, die mit dem Angeklagten verpartnert war, dies aber nicht mehr ist, ist im Verfahren gegen diese Person compellable, als ob sie nie mit dieser Person verpartnert gewesen wäre. (6) Wenn im Verfahren das Alter einer Person für Absatz (3) relevant wird, so soll das Alter angenommen werden, das das Gericht zu dem relevanten Zeitpunkt für zutreffend erachtet. (7) In Absatz (3)(b) meinen „Sexualdelikte“ Delikte des Protection of Children Act 1978 oder Teil 1 des Sexual Offences Act 2003, oder Delikte nach Abschnitt 2 des Modern Slavery Act 2015 (Menschenhandel), die mit dem Zweck der Ausbeutung durch Handlungen nach Abschnitt 3(3) des Acts (sexuelle Ausbeutung) begangen werden. (8) (weggefallen) (9) Paragraph 1(d) des Criminal Evidence Act 1898 (Kommunikation zwischen Ehemann und -frau) und Paragraph 43(1) des Matrimonial Causes Act 1965 (Beweise über ehelichen Geschlechtsverkehr) werden aufgehoben.
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(b) to give evidence for the prosecution but only in respect of any specified offence with which any person is charged in the proceedings. (3) In relation to the spouse or civil partner of a person charged in any proceedings, an offence is a specified offence for the purposes of subsection (2A) above if— (a) it involves an assault on, or injury or a threat of injury to, the spouse or civil partner or a person who was at the material time under the age of 16; (b) it is a sexual offence alleged to have been committed in respect of a person who was at the material time under that age; or (c) it consists of attempting or conspiring to commit, or of aiding, abetting, counselling, procuring or inciting the commission of, an offence falling within paragraph (a) or (b) above. (4) No person who is charged in any proceedings shall be compellable by virtue of subsection (2) or (2A) above to give evidence in the proceedings. (4A) References in this section to a person charged in any proceedings do not include a person who is not, or is no longer, liable to be convicted of any offence in the proceedings (whether as a result of pleading guilty or for any other reason). (5) In any proceedings a person who has been but is no longer married to the accused shall be compellable to give evidence as if that person and the accused had never been married. (5A) In any proceedings a person who has been but is no longer the civil partner of the accused shall be compellable to give evidence as if that person and the accused had never been civil partners. (6) Where in any proceedings the age of any person at any time is material for the purposes of subsection (3) above, his age at the material time shall for the purposes of that provision be deemed to be or to have been that which appears to the court to be or to have been his age at that time. (7) In subsection (3)(b) above „sexual offence“ means an offence under the Protection of Children Act 1978 or Part 1 of the Sexual Offences Act 2003, or an offence under section 2 of the Modern Slavery Act 2015 (human trafficking) committed with a view to exploitation that consists of or includes behaviour within section 3(3) of that Act (sexual exploitation). (8) (weggefallen) (9) Section 1(d) of the Criminal Evidence Act 1898 (communications between husband and wife) and section 43(1) of the Matrimonial Causes Act 1965 (evidence as to marital intercourse) shall cease to have effect. Section 80A – Rule where accused’s spouse or civil partner not compellable69 The failure of the spouse or civil partner of a person charged in any proceedings to give evidence in the proceedings shall not be made the subject of any comment by the prosecution.
Ausgenommen von der compellability sind neben Ehepartnern auch Staatsoberhäupter,70 Banker in beschränktem Rahmen,71 Diplomaten und deren Angestellte72 und Richter in Bezug auf ihre richterliche Tätigkeit.73 69
Übersetzung der Verfasserin: S. 80A – Non-compellability-Regel der Ehe- oder Lebenspartner des Angeklagten Die Zeugnisverweigerung des Ehe- oder Lebenspartner des Angeklagten im Verfahren soll im Verfahren nicht von der Anklage kommentiert werden.
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a) Persönlicher Schutzbereich Von der non-compellability profitieren nur Ehepartner und civil partners und keine weiteren Familienmitglieder. aa) Ehepartner und civil partner Durch s. 80 PACE genießen sowohl spouses als auch civil partners eine rechtliche Sonderstellung. Spricht das Gesetz von spouse, meint dies im Zusammenhang mit den Regeln zur compellability „a person who is lawfully married to the accused at the time when he or she is called to give evidence“.74 Seit dem Marriage (Same Sex Couples) Act 2013 können nicht nur verschieden-, sondern auch gleichgeschlechtliche Paare eine Ehe eingehen. Lawfully married ist man jedoch nur, wenn die Heirat nach englischem Recht als gültig anerkannt wird. Ausgeschlossen sind demnach nichteheliche Beziehungen, auch wenn sie permanent sind und bereits seit langer Zeit bestehen.75 Erfasst sind anfechtbare, jedoch keine unwirksamen Ehen.76 Dass die Eheleute nicht länger zusammenleben, hebt die non-compellability im Gegensatz zur Scheidung nicht auf.77 Wenn nicht klar ist, ob eine wirksame Ehe besteht, so muss dafür ein eigenes Beweisverfahren eingeleitet werden.78 Spouses sind nur bereits verheiratete Ehepartner. Sind die betroffenen Personen erst verlobt, folgt daraus keine non-compellability.79 Teilweise wird vertreten, dass Gerichte s. 80 PACE nicht beachten müssen, wenn die Ehe einzig aus dem Grund eingegangen wurde, ein Zeugnisverweigerungsrecht zu erzielen.80 Dies
70
Smith J Legal Hist 33 (2012), 209. Griffiths/McKeown/McPeake, Evidence, 162012, Rn. 4; Bankers’ Book Evidence Act 1879. 72 Griffiths/McKeown/McPeake, Evidence, 162012, Rn. 4; Lord Mackay of Clashfern/ Cook/Dillow/Ormerod, Halsbury’s Laws of England, 52010, § 509. 73 Griffiths/McKeown/McPeake, Evidence, 162012, Rn. 4. 74 Übersetzung der Verfasserin: „eine Person, die rechtmäßig mit dem Angeklagten zu dem Zeitpunkt verheiratet ist, zu dem er oder sie als Zeuge geladen wird“, s. Glover/ Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 566. 75 Fall einer polygamen Ehe: R. v Khan (Junaid) (1987) 84 Cr App R 44; Andrews/ Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 8–43. 76 R. v Khan (Junaid) (1987) 84 Cr.App.R. 44; s. Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 13 2013, S. 567. 77 Durston, Evidence, 22011, S. 371. 78 R. v Yacoob (1981) 72 Cr.App.R. 313; Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, S. 8 ff. 79 R. (Crown Prosecution Service) v Registrar-General of Births, Deaths and Marriages and Another [2003] 1 Q.B. 1222; Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 78. 80 Malek, Phipson on Evidence, 182013, Rn. 9–25; krit.Munday Journal of Criminal Law 65 (2001), 336. 71
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wird aber stark angezweifelt.81 Diskutiert wurde im Zusammenhang mit der Missbrauchsgefahr der non-compellability, ob die Hochzeit eines Untersuchungshäftlings bis nach der Aussage der Verlobten von Seiten des Staats verschoben werden dürfte, um die Wirkung der Ehe für die Zeugnispflicht zu verhindern.82 Dies wurde jedoch in R. v Registrar General Births, Marriages and Deaths abgelehnt, da ein solches Vorgehen gegen das Recht auf Ehe nach Art. 12 EMRK verstoßen würde.83 Auch civil partners sind durch s. 80 PACE privilegiert. Es handelt sich hierbei um Personen, die eine gleichgeschlechtliche rechtliche Verbindung eingegangen sind, die in ihrer Wirkung der Ehe komplett gleichgestellt ist.84 Obwohl mittlerweile gleichgeschlechtliche Paare auch eine Ehe eingehen können, bleibt die Möglichkeit einer civil partnership bestehen. bb) Angeklagte Der Angeklagte kann in seinem eigenen Verfahren gem. s. 80(4) PACE entsprechend dem nemo tenetur-Prinzip nie, nicht einmal durch einen mitangeklagten Ehepartner, zum Zeugnis gezwungen werden.85 cc) Familienmitglieder und nichteheliche Lebenspartner Wenn Ehepartner eine Sonderposition einnehmen, stellt sich die Frage, wie sonstige Angehörige im englischen Strafverfahren behandelt werden. (1) Keine non-compellability Kinder, Eltern, Geschwister und andere Angehörige so wie unverheiratet zusammenlebende Paare sind im englischen Recht immer compellable.86 Hiervon sind auch Eltern gegenüber ihren Kindern und Kinder gegenüber ihren Eltern nicht ausgenommen.87 Cross stellte bereits 1979 fest, dass in England weder von der Politik, noch von Justiz oder Rechtswissenschaft je das Bedürfnis geäußert wurde, die Regeln zur competence und compellability
81
Munday, Evidence, 62011, Rn. 3; Munday Journal of Criminal Law 65 (2001), 336, S. 345; so auch US-amerikanischen Gerichte, s. Rothstein ICLQ 12 (1963), 1189, S. 1197. 82 Munday, Evidence, 62011, Rn. 3 mit Hinweis auf Graham Greenes Brighton Rock von 1938, in dem eine Ehe eingegangen wird, um die Zeugnispflicht zu vermeiden. 83 Waller LJ in R. (Crown Prosecution Service) v Registrar General of Births, Deaths and Marriages [2003] QB 1222, 1235; Malek, Phipson on Evidence, 182013, Rn. 9–24. 84 S. Civil Partnership Act 2004. 85 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 308; Malek, Phipson on Evidence, 18 2013, Rn. 9–19. 86 Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 76. 87 R. v The Inhabitants of Bramley (1795) 6 Term Reports 330.
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auch auf andere familiäre Beziehungen auszuweiten.88 Nur die wenigsten Autoren erwähnen in der Diskussion um s. 80 PACE überhaupt, dass Blutsverwandte (insbesondere Kinder) nicht privilegiert werden.89 Im restlichen Common Law setzte sich eine Forderung nach der Aufnahme von Angehörigen allerdings teils durch. So können Blutsverwandte, insbesondere Kinder, in Australien von der Zeugnispflicht ausgenommen werden und auch in vereinzelten Staaten der USA gibt es mittlerweile ein sog. parent-child privilege, das ein Zeugnisverweigerungsrecht für Eltern gegen ihre Kinder und umgekehrt darstellt.90 Die englische Rechtslage verwundert, wo auch englische Praktiker zugeben, dass sie die Situation einer erzwungenen Aussage gegen das eigene (strafmündige) Kind als deutlich belastender empfinden würden, als die Aussage gegen den eigenen Ehepartner.91
88
Cross/Tapper, Cross on Evidence, 61985, S. 202 mit Verweis auf die israelische Evidence Ordinance 1971, clause 4 und die australischen Crimes Act 1958, s. 400. Für das frühe Common Law stellte Wigmore jedoch fest, dass eine solche Ausnahme häufig in Analogie zur Ehe für Vater und Sohn gefordert wurde, s. Wigmore, Treatise, 21923, S. 1032. 89 S. Allen, Practical Guide to Evidence, 42008, S. 96; Hoyano Crim.L.R. 2013, 169, S. 171; McEwan, Evidence, 21998, S. 97. 90 S. 18(6) und (7) des australischen Uniform Evidence Act 2008; In den USA kam eine öffentliche Diskussion über ein parent-child-privilege insbesondere auf, nachdem die Mutter von Monica Lewinsky in den Ermittlungen gegen Präsident Clinton zu einer Aussage gegen ihre Tochter gezwungen wurde, s. Carlson Time 23.02.1998, 25; Polikoff Hofstra L. Rev. 32 (2003), 201, S. 201 f.; Ricafort Ind. L. Rev. 32 (1998), 259, S. 291; Smith-Klocek Cath. Law. 39 (1999), 105, S. 105 f.; Stern Geo. L.J. 99 (2010–2011), 605, S. 607; Die Staaten New York, Idaho, Minnesota, Nevada und Washington privilegieren Aussagen über Gespräche zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern (nicht Aussagen über Beobachtungen der Eltern), wobei die beiden letzteren Staaten diese Privilegierung bei Straftaten gegen die Kinder wiederum ausschließen. In Connecticut sind Eltern generell von der Aussagepflicht in Jugendstrafverfahren ausgenommen, es sei denn sie sind selbst Opfer. Massachusetts privilegiert außer bei häuslicher Gewalt wiederum minderjährige Kinder in Verfahren gegen ihre Eltern, s. Ross SLPR 14 (2003), 85, S. 97; Ein überzeugendes Argument für eine Privilegierung des Sorge- und Beratungsverhältnisses von Eltern für ihre Kinder ist, dass ein Minderjähriger, nachdem er eine Straftat begangen hat, vermutlich nicht zuerst zu einem Anwalt, der vor Gericht schweigen müsste, sondern zu seinen Eltern gehen wird. Versagt man ihm ein Privileg in dieser Situation, so wäre seine Verteidigungsmöglichkeit deutlich eingeschränkt. S.a. Suter Harv. J. L. & Tech. 23 (2009), 309. Aber auch in den USA besteht kaum ein Problembewusstsein, s. Greely/ Riordan/Garrison/Mountain JLME 34 (2006), 248, S. 257 in Bezug auf das familial searching. 91 Dies sagten interviewte Praktiker im Gespräch mit der Verfasserin. Ähnlich verhält es sich wohl in den USA, s. Ross SLPR 14 (2003), 85, S. 86; Stanton Child and family law quarterly 16 (1982), 1, S. 6; Ricafort Ind. L. Rev. 32 (1998), 259, S. 289; Smith-Klocek Cath. Law. 39 (1999), 105, S. 106; Dies führt in den USA wohl zu einem gewohnheitsrechtlichen Privileg, s. Stern Geo. L.J. 99 (2010–2011), 605, S. 633.
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(2) R. v Pearce Die Rechtsprechung hat in R. v Pearce ausdrücklich bestätigt, dass die Regeln zur non-compellability nicht auf Kinder oder unverheiratete Partner anwendbar sind. In diesem Mordfall mussten sowohl die 16-jährige Tochter des Angeklagten als auch die Frau, mit der er seit 19 Jahren unverheiratet zusammenlebte und mit der er drei Kinder hatte, für die Anklage aussagen. Nachdem sie sich weigerten, wurden sie zu hostile witnesses erklärt. Durch ihre Vernehmung wurde der Angeklagte schließlich überführt. Die Verteidigung monierte dieses Vorgehen und argumentierte, dass die Pflicht zur Aussage eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstelle, da dadurch dem Partner und dem Kind der Respekt auf ihr Familienleben versagt werde. Von der unverheirateten Partnerin wurde ferner eine gleichheitswidrige Diskriminierung gegenüber Eheleuten geltend gemacht.92 Die Verteidigung berief sich außerdem explizit auf die Privilegierung verwandter Zeugen in anderen EULändern.93 Nach der Auffassung des Court of Appeal führte diese Argumentation jedoch nicht zur Rechtswidrigkeit der erzwungenen Aussage, da zumindest der Rechtfertigungsgrund nach Art. 8 Abs. 2 EMRK „zur Verhütung von Straftaten“ einschlägig sei.94 Auch wenn es sich hier um die Aufklärung eines Verbrechens und nicht direkt um dessen Verhinderung handle, habe Strafverfolgung doch zumindest einen sekundären positiven Effekt auf Prävention, sodass der Staat sich auf diesen Rechtfertigungsgrund berufen könne.95 Außerdem habe das Parlament erst 1999 s. 80(1) PACE erneut überprüft und keine Änderung zu Gunsten nichtehelicher Lebenspartner vorgenommen. Bei reinen Lebensgemeinschaften fehle es an einer klaren Erkenn- und Identifizierbarkeit.96 Der Wortlaut von s. 80 PACE sei eindeutig und erfasse weder Kinder, noch unverheiratete Lebenspartner. Es bedürfe eines Gesetzgebungsaktes um diese Personen in s. 80 PACE aufzunehmen.97 Diese Rechtsprechung wird in der Literatur teils sehr kritisch gesehen. Munday meint, dass die non-compellability-Regel auch auf andere ‚near-anddear‘ Personengruppen, die de lege lata nicht erfasst sind, ausgeweitet werden sollte.98 R. v Pearce zeige jedoch, dass das englische Recht einen restrik92 Allen, Practical Guide to Evidence, 42008, S. 96; Munday, Evidence, 62011, Rn. 3; eheliche und nichteheliche Lebenspartner sind im Recht von Queensland, Australien gleichgestellt, s. Harris Queensland U. Tech. L.& Just. 3 (2003), 274, S. 287. 93 R. v Pearce [2002] 1 WLR 1553, 1556. 94 Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 77. 95 R. v Pearce [2002] 1 WLR 1553, 1557 f. 96 Munday, Evidence, 62011, Rn. 3; zustimmend Allen, Practical Guide to Evidence, 4 2008, S. 97; Durston, Evidence, 22011, S. 370. 97 R. v Pearce [2002] 1 WLR 1553, 1557 f. 98 Munday, Evidence, 62011, Rn. 3.
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tiven Ansatz verfolge, der dadurch deutlich werde, dass im englischen Recht im Gegensatz zu anderen Rechtsordnungen auch Ärzte und Priester aussagen müssen.99 Für Doak wiederspricht R. v Pearce der übrigen englischen Rechtsprechung, in der die Tendenz bestehe, unverheiratete Beziehungen mit der Ehe gleichzustellen.100 Zudem betont er, dass eine Blutsverwandtschaft eine mindestens gleich starke Bindung wie eine Liebesbeziehung bewirken könne, wodurch auch die Belastung bei einer erzwungenen Aussage mindestens gleichstark sei. Dies werde vom Recht überhaupt nicht beachtet, das einseitig die Ehe schütze.101 (3) Ausschluss der Angehörigenaussage aus Fairnessgründen Die einzige Regel neben der non-compellability, die eine Aussage von Blutsverwandten ausschließen könnte, wäre der Ausschluss eines Beweismittels aus Fairnessgründen nach richterlichem Ermessen. Hierzu gibt es sowohl im Common Law als auch im Statutory Law einige Regeln. Ein Ausschluss erfolgt nach Common Law, wenn der prejudicial effect des Beweismittels seinen Beweiswert übersteigt.102 Ein Ausschluss ist auch möglich, wenn das Gericht keine andere Möglichkeit sieht, die Fairness des Verfahrens für den Angeklagten zu sichern.103 Im Normalfall entsteht eine solche unfaire Situation jedoch nicht allein durch die Vernehmung eines Angehörigen. Auch in R. v Pearce sah das Gericht keine solche Unfairness.104 Es ist daher davon auszugehen, dass Blutsverwandte in den allermeisten Fällen wie jeder andere Zeuge behandelt werden. Für das englische Recht ist unbeachtlich, dass sie einer emotional besonders schwierigen Situation ausgesetzt sind. Denn die Unfairness bemisst sich hauptsächlich von Seiten des Angeklagten und weniger aus der Sicht der Zeugen. Man muss jedoch im Hinterkopf behalten, dass dieser Befund mit der praktischen Umgehungsmöglichkeit der Aussagepflicht durch Verweigerung eines polizeilichen statement, die durch den taktischen Aufbau des adversary system ermöglicht wird, praktisch weniger relevant ist, als es auf den ersten Blick erscheint.
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Munday, Evidence, 62011, Rn. 3. Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 77; a.A. Allen, Practical Guide to Evidence, 42008, S. 97. 101 Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 77. 102 Die Common Law Regel wird durch s. 78 PACE 1984 bestärkt, s. Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 3. 103 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 3, wobei es hauptsächlich um Geständnisse oder Aussagen von Zeugen geht, die nicht mehr vor Gericht vernommen werden können. S. 82(3) PACE 1984 ändert hieran nichts, s. ebd., Rn. 3–31. 104 R. v Pearce [2002] 1 WLR 1553, 1557. 100
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b) Sachlicher Schutzbereich Im Folgenden werden der sachliche Anwendungsbereich und die Wirkung von s. 80 PACE näher erläutert. aa) Allgemeine Reichweite Gem. s. 80(2) PACE kann der Ehepartner von der Verteidigung immer zu einer Aussage gezwungen werden, es sei denn, er ist selbst mitangeklagt.105 Die Selbstbelastungsfreiheit gebietet in diesem Fall, dass der Ehepartner sich aussuchen kann, ob er aussagt.106 Für die Anklage ist der Zeuge gem. s. 80(2A)(a) und (b) e contrario grundsätzlich nicht zu einer Aussage gegen seinen Ehepartner verpflichtet. Die gilt unabhängig vom Grund für die Zeugnisverweigerung. Gleiches gilt gem. s. 80(3) PACE für eine Aussage für die Verteidigung eines Mitangeklagten des Ehepartners. Mitangeklagt (jointly charged) ist im englischen Recht nur, wer wegen derselben Tat und demselben Delikt angeklagt ist. Ein gemeinsames Verfahren reicht dafür noch nicht aus.107 Für die Auslegung von s. 80 PACE wird dieses enge Verständnis jedoch nicht aufrechterhalten, sodass bereits ein gemeinsamer Prozess ausreicht.108 Diese Privilegierung entfällt gem. s. 80(5) und s. 80(5A) PACE mit Scheidung oder dem Tod des Ehepartners.109 bb) Specified offences Von der generellen Regel der non-compellability für Angeklagte und Mitangeklagte110 bestehen Ausnahmen in bestimmten Fallkonstellationen bei bestimmten Tatbeständen, den sog. specified offences nach s. 80(3) PACE. Diese Ausnahmen existierten zum Teil bereits im Common Law.111
105 Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 570; Durston, Evidence, 22011, S. 369; Malek, Phipson on Evidence, 182013, Rn. 9–23. 106 Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 345. 107 Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 8–30. 108 Creighton Crim.L.R. 1990, 34, S. 37; Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 8–30. 109 S. 80(5) PACE. 110 In Bezug auf den Mitangeklagten wurde das Recht durch Schedule 4 s. 13 des YJCEA 1999 abgeändert um eine Parallelität von der Aussagepflicht für die Anklage und für den Mitangeklagten herzustellen. S. zur alten Rechtslage Creighton Crim.L.R. 1990, 34, S. 41. 111 Für die Wurzeln der specified offences im Common Law spricht, dass s. 80(3) PACE in großen Teilen die Schutzüberlegungen in Bezug auf die Position der Ehefrau, die Lord Edmund Davis in seiner abweichenden Meinung im Urteil Hoskyn übernahm, das nur kurze Zeit vor PACE entstand, s. Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 570.
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(1) Betroffene Tatbestände bzw. Tatkonstellationen Straftaten, bei denen der Partner zu einer Aussage gegen seinen Ehegatten verpflichtet ist, sind gem. s. 80(3)(a) PACE Angriffe, Verletzungen oder die Drohung mit einer Verletzung (assault, injury oder threat of injury) gegenüber dem Ehepartner, civil partner oder einem Kind, das zum Tatzeitpunkt unter 16 Jahre alt war. S. 80(3)(b) PACE erklärt zudem Sexualstraftaten, die gegen eine Person begangen werden, die zum Tatzeitpunkt unter 16 Jahren alt war, zu specified offences. Hierunter fallen gem. s. 80(7) PACE Straftaten des Protection of Children Act 1978, d.h. die Herstellung, den Besitz, die Weitergabe und die Veröffentlichung von Kinderpornographie. S. 80(7) PACE bezieht sich auch auf den ersten Teil des Sexual Offences Act 2003, der eine sehr große Anzahl von Sexualdelikten mit sehr unterschiedlichen Schweregraden unter Strafe stellt und seit 2016 auch auf den Modern Slavery Act 2015, der Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung erfasst.112 Auch der Versuch, die Verabredung, die Beihilfe und die Anstiftung zu diesen Taten sind specified offences. Der Schutz von Kindern war schon im Common Law und im früheren Statutory Law ein Anliegen.113 Die Ausnahme von der non-compellability bei Delikten gegen unter 16-Jährige aus dem Haushalt des Täters wurde bereits im Criminal Law Revision Committee’s Report vorgeschlagen, um der Gefahr vorzubeugen, dass überhaupt keine Beweise zur Verfügung stehen, wenn das Kind z.B. noch zu jung für eine verwertbare Zeugenaussage ist.114 S. 80(3)(b) PACE 1984 wurde weiter gefasst, als es das Criminal Law Revision Committee forderte, da 1984 eine Reihe schwerer Kindesmissbrauchsfälle außerhalb des Familienkreises durch die Medien ging.115 Das Kind, gegen das eine Straftat nach s. 80(3)(a) und (b) PACE begangen wurde, muss daher nicht das Kind eines der Eheleute sein oder in dessen Hausstand leben. Bezweckt ist ein genereller Kinder- und Jugendschutz.116 Bei den specified offences gegen Ehepartner ist bemerkenswert, dass nur Gewalt und nicht auch Sexualdelikte genannt werden. Dies beruht darauf, dass 1984 die Vergewaltigung in der Ehe noch nicht strafbar war.117 Erst 112
Hierunter fallen unter anderem: Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Kindesmissbrauch, Inzest, Prostitution, Menschenhandel, Exhibitionismus, Voyeurismus, Sodomie, Nekrophilie und sexuelle Aktivität in einer öffentlichen Toilette. 113 Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 346. 114 Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, 151; s.a. die Law Reform Commission von Hong Kong, die hierzu eine Befragung durchführte, die ergab, dass 96% eine Ausnahme für eigene Kinder und nur 50% für fremde Kinder befürwortete, s. Law Reform Commission of Hong Kong, Report, 1988, S. 80. 115 Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 73; Zander, Police, 2013, Rn. 8– 50. 116 Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 346. 117 Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 75.
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D. England und Wales – Non-Compellability
1991 wurde die Immunität für Vergewaltigung in der Ehe aufgehoben.118 Die Praxis subsumiert jedoch die Vergewaltigung des Ehepartners unter den assault gem. s. 80(3)(a) PACE, sodass faktisch keine Inkohärenz entsteht.119 Diese Frage ist sowieso eher akademischer Natur, da ein Vergewaltigungsopfer, das nicht aussagen will, durch das taktische Vorgehens im adversary system wohl gar nicht erst als Zeuge geladen wird.120 S. 80(3) PACE wird dafür kritisiert, dass die Reichweite der Ausnahmen nichr sicher sei.121 Insbesondere was unter einem assault oder einem threat of injury zu verstehen ist, war lange unklar.122 In R. v A (B) wurde die Reichweite von s. 80(3)(a) durch den Court of Appeal dann konkretisiert.123 In diesem Fall hatte der Angeklagte gedroht, das Familienhaus mitsamt den gemeinsamen Kindern abzubrennen. Das Gericht folgte einer weiten Auslegung des Ausnahmetatbestandes, die auch allein die Möglichkeit eines assault, einer injury oder eines threat of injury einschließt.124 (2) Rechtswirkung Betrifft ein Prozess sowohl eine specified offence als auch ein Delikt, das nicht unter die Ausnahmeregelung des s. 80(3) PACE fällt, so ist der Ehepartner nur für den Teil, der die specified offence betrifft, zur Aussage verpflichtet und die Aussage darf auch nur zur Aburteilung dieses Teils verwendet werden.125 Dies wird in der Literatur als künstliche Aufspaltung kritisiert.126 Falls mehrere Taten angeklagt sind und der Ehepartner nur für eine der Taten nicht compellable ist, muss das Gericht entscheiden, ob die Aussage zu den specified offences die Jury zu stark auch bezüglich der anderen Vorwürfe beeinflussen würde. Dann kann der Zeuge komplett ausgeschlossen werden.127 Sonst kommen auch judicial directions des Richters, d.h. ein Hinweis auf eine etwaige Unverwertbarkeit, in Frage.
118
R. v R. [1991] 1 All E.R. 759 = [1992] 1 A.C. 599. Birch/Leng, Blackstone’s Guide to the YJCEA 1999, 2000, S. 146; Doak/ McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 75. 120 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–19. 121 Allen, Practical Guide to Evidence, 42008, S. 96; Ragavan Journal of Criminal Law 77 (2013), 310, S. 318; Creighton Crim.L.R. 1990, 34, S. 38. 122 Cross/Tapper, Cross on Evidence, 61985, S. 199. 123 R. v A (B) [2012] 2 Cr App R 34 = [2012] 1 WLR 3378, 3383 ff. 124 Zander, Police, 2013, Rn. 8–50. 125 Schwierigkeiten bereiten Fragen, die sowohl für das eine als auch für das andere Delikt relevant sind s. R. v L. [2008] 2 Cr App R 18 jedoch ohne klare Äußerung. 126 Keane/McKeown, Modern Law of Evidence, 92012, S. 123. 127 Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 8–38. 119
II. Geltende Rechtslage
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(3) Praktische Relevanz Der Crown Prosecution Service (CPS) verfolgt die policy of victim choice, nach der in vielen Fällen der Unwille der Opfer, den Täter zu verfolgen, respektiert wird.128 Es besteht ein Bewusstsein für die schwierige Situation der Ehepartner bei specified offences, wenn diese nicht aussagen wollen.129 Familienangehörige als Zeugen in Fällen häuslicher Gewalt, die einer Aussage ablehnend gegenüberstehen, werden unterschiedlich vom CPS behandelt. Bei einer Befragung im Jahr 2004 gab es konträre Antworten auf die Frage, ob Zeugen tatsächlich auch verpflichtend durch witness summons geladen werden. Zum Teil wurde ein strenges Vorgehen bevorzugt, zum Teil wurde Rücksicht angemahnt. Alle Befragten machten die Ladung jedoch auch von anderen Faktoren abhängig.130 In der Praxis beziehen die Verfolgungsbehörden bei der Frage, ob ein unwilliger Ehegatte zur Aussage gezwungen wird, unter anderem die Schwere der vorgeworfenen Tat, die Wahrscheinlichkeit der Versöhnung der Ehegatten, und die Gefahr der Einschüchterung durch den anderen, aber auch die restliche Beweislage in die Entscheidung ein.131 Auch empirische Studien weisen darauf hin, dass Ehepartner bei Fällen häuslicher Gewalt, falls sie nicht aussagen wollen, hierzu nicht gezwungen werden.132 Zwar sprechen öffentliche Äußerungen von Vertretern des CPS eine andere Sprache,133 die Studie von Cretney/Davis ergab jedoch, dass ein 128
Uglow, Evidence, 22006, S. 347; Crown Prosecution Service, CPS Policy on Prosecution Cases of Domestic Violence, http://www.cps.gov.uk/publications/prosecution/dom violencepol.html, 28.07.2016; Torgbor Family Law 19 (1989), 195; s.a. Barnish, Domestic Violence, 2004, 12. Aber auch Strategien, alle Fälle der häuslichen Gewalt unabhängig vom Opferwillen zu verfolgen, wurden schon diskutiert, s. Cretney/Davis Brit. J. Criminol. 37 (1997), 75, S. 79; zu sog. no-drop policies in den USA s. Corsilles Fordham Law Review 63 (1994), 853; Cassidy Am. J. Crim. L. 33 (2005), 339, S. 350. 129 Crown Prosecution Service, Competence and Compellability, http://www.cps.gov. uk/legal/a_to_c/competence_and_compellability/, 15.10.2015. 130 Cook/Burton/Robinson/Vallely, Evaluation of Specialist Domestic Violence Courts/ Fast Track Systems, https://www.cps.gov.uk/publications/docs/specialistdvcourts.pdf, 15.10.2015. 131 Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 346; Ministry of Justice, Achieving Best Evidence in Criminal Proceedings, https://www.cps.gov.uk/publications/ docs/best_ evidence_in_criminal_proceedings.pdf, 15.10.2015; Cook/Burton/Robinson/ Vallely, Evaluation of Specialist Domestic Violence Courts/Fast Track Systems, https://www.cps. gov.uk/publications/docs/specialistdvcourts.pdf, 15.10.2015. 132 Cretney/Davis Brit. J. Criminol. 37 (1997), 75, S. 76; Edwards New LJ 139 (1989), 691, S. 692; Diesen Befund konnte die Verfasserin in Interviews mit englischen Praktikern bestätigen. Von 10 Befragten mit teilweise Jahrzehnte langer Erfahrung konnte sich kein einziger an einen Fall erinnern, in dem ein Ehepartner zur Aussage gezwungen wurde. S.a. Brownlee J. of Social Welfare & Family Law 12 (1990), 107, S. 108. 133 Crown Prosecution Service, Domestic Violence, http://www.cps.gov.uk/Publications /equality/domestic_violence.html, 16.10.2015.
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D. England und Wales – Non-Compellability
Ermittlungsverfahren ohne die Kooperation der Opfer fast immer eingestellt wird. Sowohl die Polizei als auch der CPS zweifeln an der Umsetzbarkeit einer Aussageerzwingung in solchen Fällen.134 Nur in äußersten Ausnahmefällen werden Zeugen, die nicht aussagen wollen, tatsächlich dazu gezwungen,135 was wohl am taktischen Aufbau des englischen Strafprozesses liegt. So sagte ein befragter Staatsanwalt in der Studie von Cretney/Davies: „Putting a hostile witness into the witness box is a sure way […] of ending up with egg on your face.“136 Dies könnte auch der Grund dafür sein, dass es seit 1898 so wenig Kasuistik zur competence und compellability von Ehepartnern gibt. In der Praxis ist daher immer noch der Wille des Zeugen und nicht dessen compellability entscheidend für die Aussage vor Gericht.137 c) Rechtliche Wirkung Die non-compellability-Regel wirkt sich auf unterschiedliche Art und Weise auf den Strafprozess aus. So besteht ein imperfektes Belehrungsgebot über die Möglichkeit, das Zeugnis zu verweigern (aa). Außerdem beeinflusst sie die Verwertbarkeit früher getätigter Aussagen (bb). Der Einfluss der Ehegattenprivilegierung auf sonstige Ermittlungsmethoden (cc) und die Urteilsfindung (dd) sowie die Folge eines Verstoßes gegen diese Regel (dd) müssen ebenfalls untersucht werden. aa) Belehrungspflicht Prinzipiell besteht weder für die Polizei noch für das Gericht die Pflicht, den Zeugen über seine non-compellability zu belehren.138 Wenn die Polizei jedoch im Vorhinein belehrt und der Partner trotzdem aussagt, so bekräftigt dies die Glaubhaftigkeit der Aussage, was die Verlesung des statement im Rahmen der hearsay-Ausnahme der s. 114(1)(d) CJA 2003 im späteren Verfahren erleichtert.139 Wenn nicht belehrt wurde, muss das Gericht sehr vorsichtig mit 134
Cretney/Davis Brit. J. Criminol. 37 (1997), 75, S. 80. Cretney/Davis Brit. J. Criminol. 37 (1997), 75, S. 82; McEwan, Evidence, 21998, S. 98; Einen Fall des Zeugniszwangs schildert Edwards New LJ 139 (1989), 691, S. 65. 136 Übersetzung der Verfasserin: „Einen hostile witness in den Zeugenstand zu rufen, ist ein sicherer Weg […] sich in die Nesseln zu setzen.“ S. Cretney/Davis Brit. J. Criminol. 37 (1997), 75, S. 83. 137 Brownlee J. of Social Welfare & Family Law 12 (1990), 107, S. 110; Ragavan Journal of Criminal Law 77 (2013), 310, S. 324; s.a. Edwards New LJ 139 (1989), 691, S. 691. 138 R. v L. [2008] 2 Cr App R 18, 33; Anders Doak/McGourlay, Evidence in Context, 3 2012, S. 75, die mit R. v Pitt eine Belehrungspflicht begründet sehen. Zu anderen Common Law-Rechtsordnungen s. Munday, Evidence, 62011, Rn. 3. 139 R. v L. [2008] 2 Cr App R 18, 33 = [2009] 1 WLR 626, 626 f.: „There may be circumstances where the police would be well advised to make it plain that a wife need not make a statement that implicated her husband.“ (Übersetzung der Verfasserin: „Es kann 135
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II. Geltende Rechtslage
dieser Ausnahme sein, besonders, wenn es sich um den einzigen Beweis für die Schuld des Täters handelt.140
Frau A
Gegen B als Mitangeklagten Keine Pflicht s. 80(2A)(b) e contrario
Für die Verteidigung Für A als Für B als Mitangeklagten Mitangeklagten Pflicht Keine Pflicht s. 80(2) s. 80(2A)(a) e contrario
Frau B
Keine Pflicht s. 80(2A)(b) e contrario
Keine Pflicht s. 80(2A)(b) e contrario
Keine Pflicht s. 80(2A)(a) e contrario
Pflicht s. 80(2)
Pflicht s. 80(2A)(b) i.V.m. s. 80(3)(a)
Pflicht s. 80(2A)(b) i.V.m. s. 80(3)(a)
Pflicht s. 80(2)
Pflicht s. 80(2A)(a) i.V.m. s. 80(3)(a)
Frau B
Keine Pflicht s. 80(2A)(b) e contrario
Keine Pflicht s. 80(2A)(b) e contrario
Keine Pflicht s. 80(2A)(a) e contrario
Pflicht s. 80(2)
Pflicht s. 80(2A)(b) i.V.m. s. 80(3)(b)
Pflicht s. 80(2)
Frau A
Pflicht s. 80(2A)(b) i.V.m. s. 80(3)(b)
Pflicht s. 80(2A)(a) i.V.m. s. 80(3)(b)
Pflicht s. 80(2A)(b) i.V.m. s. 80 (3)(b)
Pflicht s. 80(2A)(b) i.V.m. s. 80(3)(b)
Pflicht s. 80(2A)(a) i.V.m. s. 80(3)(b)
Pflicht s. 80(2)
Frau A
Für die Anklage Gegen A als Mitangeklagten Keine Pflicht s. 80(2A)(b) e contrario
Frau B
Kinderpornographie zu Lasten Körperverletzung an der 13-jährigen D Frau A
Mord an C
Tabelle 3: Graphische Übersicht zur Aussagepflicht141
Eine Belehrung durch das Gericht vor der Aussage im trial sieht die Rechtsprechung mittlerweile als wünschenswert an.142 Dies liegt daran, dass nach
Umstände geben, in denen die Polizei gut beraten wäre, klar zu machen, dass die Ehefrau nicht dazu verpflichtet ist, eine Aussage über ihren Ehemann abzugeben.“); Glover/ Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 570; Choo, Evidence, 32012, S. 357. 140 R. v Horsnell [2012] EWCA Crim 227; R. v L. [2008] 2 Cr App R 18. 141 Auf Grundlage der Tabelle aus Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 12 2010, S. 252.
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D. England und Wales – Non-Compellability
der Vereidigung die Wahlmöglichkeit des Zeugen, auszusagen oder zu schweigen, nur erlischt, wenn er vor der Vereidigung von seiner non-compellability weiß.143 Wurde er vor seiner Vereidigung belehrt, so kann der Zeuge, wenn er sich dann weigert, auszusagen, oder er sich insgesamt unkooperativ zeigt, zum hostile witness (s. S. 199 ff.) erklärt werden, so als wäre er von Anfang an compellable gewesen.144 Hierdurch wird es möglich, dass er in der cross-examination den Überführungsbeweis gegen den eigenen Ehepartner liefern muss, wenn er nämlich Stellung zu einer früheren Aussage beziehen soll.145 Auch über die Folgen der Erklärung zum hostile witness muss der Richter den Zeugen aufklären (sog. Acaster warning). Sind diese Belehrungen unterblieben, so kann der Zeuge bei Verweigerung des Zeugnisses nach dem Eid nicht zum hostile witness erklärt werden.146 Wird der Zeuge nicht über sein Recht belehrt, macht dies die folgende Aussage allerdings nicht unverwertbar und führt nicht zur Aufhebbarkeit des darauf beruhenden Urteils.147 Etwas anderes gilt nur, wenn der Ehepartner bereits im Vorfeld des trial zum Ausdruck gebracht hat, dass er nicht aussagen wolle, und die Anklage den Ehepartner nicht über sein Verweigerungsrecht aufgeklärt hat. In diesem Fall muss die Anklage das Gericht und die Verteidigung über die vorprozessuale Weigerung des Zeugen informieren. Das Gericht ist dann zu einer Belehrung verpflichtet.148 Dies kann dazu führen, dass eine bereits begonnene Aussage durch den Ehepartner wieder abgebrochen werden kann. Erfolgt hier keine Belehrung, so kann dieser Fehler in der Appellationsinstanz gerügt und das Urteil deswegen aufgehoben werden.149
142
R. v Acaster (1912) 7 Cr App. R. 187; R. v Pitt [1983] QB 25; Bates v H.M. Advocate 1989 S.L.T. 701; Cohen, Spouse-Witnesses, 1913, S. 20; May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17–29. 143 R. v Acaster (1912) 7 Cr. App. R. 187; R. v Pitt [1983] 1 Q.B 25 = 75 Cr.App.R. 254, 258; s.a. May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17–29. 144 R. v Pitt [1983] Q.B. 25; Munday, Evidence, 62011, Rn. 3. 145 S. Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474; R. v Pitt [1983] Q.B. 25; R. v Nelson [1992] Crim. L.R. 653, 654; s.a. Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 247. 146 Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 42001, Rn. 8; Singh/Ramjohn, Unlocking Evidence, 22013, S. 79. 147 R. v Nelson [1992] Crim. L.R. 653, 654; Munday, Evidence, 62011, Rn. 3. Dies ist im Zusammenspiel mit der allgemeinen Beweisverwertungsregel zu sehen, wonach auch illegal erhobene Beweise zulässig sind. 148 R. v Birmingham Justices Ex p. Shields (1994) 158 JP 845. 149 Munday, Evidence, 62011, Rn. 3.
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bb) Verwertbarkeit früherer Aussagen Ob der Zeuge vor der Vernehmung in der Hauptverhandlung bereits bei der Polizei oder in den gerichtlichen Voruntersuchungen ausgesagt hat, hat keinen Einfluss auf die Möglichkeit sich vor der Aussage im trial auf die fehlende compellability zu berufen.150 Wenn sich also ein Ehepartner erst im trial auf seine non-compellability beruft, stellt sich die Frage, ob die vorprozessuale Aussage in den Prozess eingeführt werden dürfen. Grundsätzlich gilt im englischen Recht das Verbot des hearsay-Beweises. Es verbietet den Beweis einer Tatsache, indem ein Zeuge dazu aussagt, was ein anderer ihm zu dieser Tatsache gesagt hat.151 Dies schließt sowohl die Verlesung des Protokolls einer früheren Vernehmung als auch die Vernehmung der Verhörsperson aus, da es jeweils um die Inhalte der Aussage einer anderen Person geht. Kein hearsay ist die Aussage, ob jemand etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt hat, um dessen (Un-) Glaubwürdigkeit zu beweisen. 2003 wurde das Verbot des hearsay Beweises deutlich gelockert. Es müssen aber weiter besondere Voraussetzungen erfüllt werden, damit Beweise vom Hörensagen zulässig sind.152 (1) Frühere Vernehmungen von nicht aussagenden Personen Die einzige Möglichkeit, hearsay-Aussagen im Strafprozess zu verwerten, wenn die Person, von der die Aussage stammt, nicht im Prozess aussagt, bietet s. 114 CJA 2003.153 S. 114(1)(d) lässt die Verwertung eines polizei-
150 Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 342; Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 566. 151 Crown Prosecution Service, Hearsay, http://www.cps.gov.uk/legal/h_to_k/hearsay/# hearsay, 22.07.2016. 152 Crown Prosecution Service, Hearsay, http://www.cps.gov.uk/legal/h_to_k/hearsay/# hearsay, 22.07.2016. 153 S. 114 (1) und (2) CJA 2003 (1) In criminal proceedings a statement not made in oral evidence in the proceedings is admissible as evidence of any matter stated if, but only if – […] (d) the court is satisfied that it is in the interests of justice for it to be admissible. (2) In deciding whether a statement not made in oral evidence should be admitted under subsection (1)(d), the court must have regard to the following factors (and to any others it considers relevant) – (a) how much probative value the statement has (assuming it to be true) in relation to a matter in issue in the proceedings, or how valuable it is for the understanding of other evidence in the case; (b) what other evidence has been, or can be, given on the matter or evidence mentioned in paragraph (a); (c) how important the matter or evidence mentioned in paragraph (a) is in the context of the case as a whole; (d) the circumstances in which the statement was made;
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lichen Vernehmungsprotokolls zu, wenn dies nach dem Ermessen des Richters im interest of justice liegt. Hierbei muss der Katalog der s. 114(2) CJA 2003 berücksichtigt werden. Diese Ausnahme vom hearsay-Verbot ist daher nicht in jedem Fall anwendbar, in dem ein Ehepartner sich auf die noncompellability beruft, nachdem er bereits bei der Polizei ausgesagt hat. Vielmehr muss die Anklage in jedem Einzelfall zeigen, dass eine Verwertung notwendig und verhältnismäßig wäre. Mit R. v L.154 wurden das erste Mal unter Anwendung des s. 114(1)(d) CJA 2003 das sonst strenge Verbot von hearsay evidence in Bezug auf das statement eines Ehegatten gelockert. Die Ehefrau von L hatte bei der Polizei eine Aussage gemacht, die das Alibi ihres Ehemannes widerlegte. Diese Aussage nahm sie später mit der Begründung zurück, dass sie gelogen habe.155 Durch die Vernehmung der Verhörsperson konnte die bei der Polizei abgegebene Aussage trotz der Berufung auf die non-compellability im Prozess verwertet werden, da das Gericht diese Verwertung als im interest of justice (e) how reliable the maker of the statement appears to be; (f) how reliable the evidence of the making of the statement appears to be; (g) whether oral evidence of the matter stated can be given and, if not, why it cannot; (h) the amount of difficulty involved in challenging the statement; (i) the extent to which that difficulty would be likely to prejudice the party facing it. [Übersetzung der Verfasserin:] S. 114 (1) und (2) CJA 2003 (1) In Strafverfahren ist eine Aussage, die nicht mündlich in der Verhandlung gemacht wurde, als Beweis zu jeder Frage verwertbar, wenn und nur wenn – […] (d) das Gericht davon überzeugt ist, dass es im Interesse der Gerechtigkeit liegt, den Beweis zuzulassen. (2) Bei seiner Entscheidung, ob eine Aussage, die nicht mündlich in der Verhandlung gemacht wurde, gemäß Absatz (1)(d) verwertbar ist, muss das Gericht folgende Faktoren berücksichtigen (und alle anderen, die es für relevant hält) – (a) wieviel Beweiswert diese Aussage in Bezug auf einen Punkt des Verfahrens hat (angenommen, sie entspräche er Wahrheit), oder wie wichtig sie für das Verständnis anderer Beweise im Verfahren ist; (b) welche anderen Beweise zu dem entsprechenden Thema, auf das sich Absatz (2)(a) bezieht, bereits vorgebracht wurden und noch werden könnte: (c) wie wichtig das Thema oder der Beweis, auf den sich Absatz (2)(a) bezieht, für das gesamte Verfahren ist; (d) die Umstände, in denen die Aussage getätigt wurde; (e) wie glaubwürdig die Person scheint, die diese Aussage getätigt hat; (f) wie glaubhaft der Beweis über die Aussage scheint; (g) ob mündlich über diese Aussage berichtet werden kann, und wenn nicht, warum; (h) die Schwierigkeit diese Aussage anzugreifen; (i) das Ausmaß der Beeinträchtigung der anderen Partei durch diese Schwierigkeit für die gegnerische Partei. 154 R. v L. [2008] EWCA Crim 973 = [2008] 2 Cr.App.R. 18 = [2009] 1 WLR 626. 155 R. v L. [2009] 1 WLR 626, 628.
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ansah. Die Verteidigung machte geltend, dass gegen die Anwendbarkeit dieser Ausnahmeregel s. 80 PACE spräche, der so umgangen werden würde. Eine Verwertung der Aussage, obwohl die Ehefrau sich legitimerweise auf ihre non-compellability berufe und sie im Übrigen von der Polizei auch nicht belehrt wurde, würde eine Unfairness des Beweises begründen.156 Dies sah das Gericht im vorliegenden Fall anders: „the interests of convicting a husband of child abuse take precedence over the demands of marital duty and harmony“.157 Die Verwertung der Aussage würde dem interest of justice am besten dienen.158 Die Entscheidung wurde in R. v Horsnell bestätigt.159 In der Literatur wird R. v L. als widersprüchlich kritisiert. Wenn dem Zeugen die Verweigerung des Zeugnisses durch s. 80 PACE ermöglicht werde, so könne sein hearsay statement im Prozess nicht zugelassen werden.160 S. 80 PACE sei älter als die hearsay-Ausnahme, sodass damals ein Verwertungsverbot noch nicht antizipiert werden konnte. Zudem sähe s. 114(d) CJA 2003 eindeutig vor, dass die Ausnahme keine anderen Zulässigkeitsregeln aufheben dürfe.161 Die Feststellung des Court of Appeal, dass durch die Verwertung des police statements keine oder zumindest nur eine deutlich geringer Belastung für die Ehe entstehen würde, als dies durch eine Zeugenaussage in der Verhandlung der Fall wäre, sei nicht nachvollziehbar.162 Aus diesem Grund fordert Ragavan im Sinn der Rechtsprechung in R. v Horsnell, dass von s. 114(1)(d) nur in Fällen schwerster Kriminalität und häuslicher Gewalt Gebrauch gemacht werden sollte.163 Brabyn merkt an, dass das Recht zur Zeugnisverweigerung umso mehr ausgehöhlt werde, wenn der Zeuge in der polizeilichen Vernehmung nicht über sein Verweigerungsrecht aufgeklärt wird.164 Klar ist, dass durch diese Rechtsprechung die Möglichkeit, das Zeugnis im Prozess zu verweigern, in der Realität deutlich ineffektiver geworden ist. Eine non-compellability ist nunmehr nur noch tatsächlich umsetzbar,
156
Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 76. Übersetzung der Verfasserin: „die Interessen einen Ehemann wegen Kindesmissbrauchs zu überführen, überwiegen das Bedürfnis nach ehelicher Pflicht und Harmonie“ s. R. v L. [2009] 1 WLR 626, 634. 158 Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 76. 159 R. v Horsnell [2012] EWCA Crim 227; Ragavan Journal of Criminal Law 77 (2013), 310, S. 322; Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 570. 160 Malek, Phipson on Evidence, 182013, Rn. 9–24; Brabyn Crim.L.R. 2011, 613, S. 623; Spencer C.L.J. 2003, 250, S. 252; Ormerod Crim.L.R. 2008, 823, S. 824. 161 Brabyn Crim.L.R. 2011, 613, S. 625; Ormerod Crim.L.R. 2008, 823, S. 825. 162 Brabyn Crim.L.R. 2011, 613, S. 626 mit Bezug auf R. v L. [2008] EWCA Crim 973; [2009] 1 W.L.R. 626, 634; Ragavan Journal of Criminal Law 77 (2013), 310, S. 322; Ormerod Crim.L.R. 2008, 823, S. 825. 163 Ragavan Journal of Criminal Law 77 (2013), 310, S. 324. 164 Brabyn Crim.L.R. 2011, 613, S. 625. 157
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wenn der Ehepartner im Ermittlungsverfahren nie irgendeine Aussage getätigt hat.165 (2) Frühere Vernehmungen von aussagenden Personen Sagt der Zeuge zwar im trial aus, bestehen dennoch Zweifel an seiner Aufrichtigkeit, gelten die Regeln für die Vorhaltung früherer Aussagen. Da Angehörige vor allem nach häuslicher Gewalt häufig direkt nach der Tat noch aussagebereit sind, kann die Möglichkeit, auf die polizeilichen Aussagen zurückzugreifen, relevant werden. Auch die Vorhaltungsregeln sind durch das adversary system bestimmt, sodass zwischen examination in chief und crossexamination unterschieden werden muss. In der examination in chief ist im Grunde die Vorhaltung polizeilicher statements nicht zulässig.166 Eine Ausnahme dazu bildet die res gestae-Regel, nach der vorherige Aussagen verwertet werden dürfen, wenn sie aus der Situation heraus entstanden sind.167 Außerdem darf eine frühere Aussage verwertet werden, wenn der Vorwurf aufkommt, dass der Zeuge sich die gerichtliche Aussage ausgedacht hat.168
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Ormerod Crim.L.R. 2008, 823, S. 825. Bei früheren Aussagen, die mit der gerichtlichen Aussage übereinstimmen, liegt dies daran, dass sie keinen weiteren Beweiswert hätten, s. Munday, Evidence, 62011, S. 602. 167 Lord Hailsham of St. Marylebone, Halsbury’s Laws of England Vol. 11(2), 41990, § 1175; Munday, Evidence, 62011, S. 602. 168 Munday, Evidence, 62011, S. 603; Lord Hailsham of St. Marylebone, Halsbury’s Laws of England Vol. 11(2), 41990, § 1175; S. 119 CJA 2003 - Inconsistent statements (1) If in criminal proceedings a person gives oral evidence and – (a) he admits making a previous inconsistent statement, or (b) a previous inconsistent statement made by him is proved by virtue of section 3, 4 or 5 of the Criminal Procedure Act 1865 (c. 18), the statement is admissible as evidence of any matter stated of which oral evidence by him would be admissible. (2) If in criminal proceedings evidence of an inconsistent statement by any person is given under section 124(2)(c), the statement is admissible as evidence of any matter stated in it of which oral evidence by that person would be admissible. [Übersetzung der Verfasserin:] S. 119 CJA 2003 – Inkonsistente Aussagen (1) Wenn eine Person in einem Strafverfahren mündlich aussagt und – (a) sie zugibt, zuvor eine inkonsistente Aussage getätigt zu haben, oder (b) eine frühere inkonsistente Aussage von ihr wird gem. section 3, 4 oder 5 des Criminal Procedure Acts 1865 (c.18) bewiesen, so ist diese Aussage als Beweis zulässig soweit eine mündliche Aussage des Zeugen zu diesem Thema zulässig wäre. 166
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(a) Hostile witness Eine frühere Aussage kann in der examination in chief allein einem hostile witness vorgehalten werden. Zum hostile witness kann ein Zeuge erklärt werden, der zwar vor Gericht erscheint und vereidigt wird, aber anschließend die Aussage verweigert oder den Anschein erweckt, nicht die Wahrheit sagen zu wollen.169 Die Entscheidung darüber, ob der Zeuge als hostile eingestuft wird, trifft das Gericht in Abwesenheit der Jury.170 Die Konsequenz einer Erklärung zum hostile witness ist, dass auch die Partei, die den Zeugen geladen hat, versuchen darf, den Zeugen einer Falschaussage zu überführen oder zumindest seine Glaubwürdigkeit zu untergraben. Die Partei der examination in chief darf dann ausnahmsweise alle Mittel anwenden, die sonst nur der Partei der cross-examination zu Verfügung stehen.171 Hat beispielsweise der Bruder des Beschuldigten in der polizeilichen Vernehmung zugegeben, dass der Angeklagte kurz nach der Tat Blut auf der Kleidung hatte und ‚erinnert‘ er sich plötzlich im trial nicht mehr daran, so kann ihm dieser Widerspruch vorgehalten werden.172 Akzeptiert er das polizeiliche statement als richtig, kann dies als Beweis verwertet werden.173 Allerdings wird in der Praxis der Wert einer Aussage eines hostile witness nicht als hoch anzusehen sein, da die gesamte Prozedur die Glaubwürdigkeit des Zeugen insgesamt in Frage stellt.174 Wenn der hostile witness nicht zugibt, dass das statement wahr ist, so darf dieses auch nicht als Beweis verwendet werden, selbst wenn eindeutig ist, dass es der Wahrheit entspricht.175 Das statement dient dann allein dazu, die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage zu stellen, sodass der Richter bzw. die Jury die Aussage im Endeffekt komplett unberücksichtigt lassen müs(2) Wenn in einem Strafverfahren der Beweis über eine inkonsistente Aussage einer Person gemäß section 124(2)(c) erbracht wird, ist diese Aussage als Beweis zulässig soweit eine mündliche Aussage des Zeugen zu diesem Thema zulässig wäre. 169 Die Voraussetzung dafür, dass ein Zeuge zum hostile witness erklärt werden kann, ergibt sich aus dem Common Law und aus s. 3 des Criminal Procedure Act 1865. Erforderlich ist, dass sich der Zeuge weigert zu antworten oder „malice towards the party calling him“ zeigt, „is recalcitrant or appears to have no desire to tell the truth at the instance of that party“, s. Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 42001, Rn. 7–60. S.a. R. v Thompson (1977) 64 Cr. App. R. 96 in dem die Tochter des Angeklagten ihre Aussage verweigerte und daraufhin zum hostile witness erklärt wurde. Ihr wurde ihre polizeiliche Aussage vorgehalten, woraufhin sie zugab, dass es der Wahrheit entspreche; Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14–22; Newark Crim.L.R. 1986, 441. 170 Price v Manning (1889) 42 Ch. D. 372; Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 8; Hannibal, Law of Criminal and Civil Evidence, 2002, S. 302. 171 Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 317; s.a. S. 198 ff. 172 Hannibal, Law of Criminal and Civil Evidence, 2002, S. 302. 173 S. 119 (1)(a) CJA 2003 s. Fn. 168. 174 Richter warnen teils explizit vor hostile witnesses, s. Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 311; Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 76. 175 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14–23; McEwan, Evidence, 21998, S. 106.
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sen.176 In unserem Beispiel dürfte die Jury die polizeiliche Aussage des Bruders daher nicht verwerten. Sie könnte nur das Alibi, das er dem Angeklagten gegeben hat, aufgrund der Widersprüchlichkeit seines Verhaltens für unglaubwürdig halten.177 Aber auch in diesem Fall könnte das frühere statement durch die hearsay-Ausnahme des s. 119 CJA 2003 eingebracht werden.178 Dieses Verfahren des hostile witness kann auch bei widerwilligen Ehegatten angewandt werden, wenn sie sich trotz Zweifeln zur Aussage entschieden und den Eid geleistet haben, dann aber doch etwas anderes als zuvor bei der Polizei aussagen. Allerdings darf der Ehegatte nur zum hostile witness erklärt werden, wenn er im Wissen über diese Möglichkeit im Vorhinein wirksam auf seine non-compellability verzichtet hat.179 Obwohl Blutsverwandte häufig ebenfalls nicht aussagen wollen, gilt für sie keine Sonderregel und sie können problemlos zu hostile witnesses erklärt werden.180 Praktisch scheint diese Maßnahme jedoch sehr unattraktiv: „A reluctant witness may prefer a short sentence of imprisonment for contempt of court to the consequences which may flow from testifying. Another option is simply to tell lies in the witness box. Prosecutors can do little about witnesses who change their stories except to treat them as hostile, a procedure from which they frequently find there is little to gain. The most useful and humane way of dealing with the problem of the intimidated witness is probably to rely on his or her written statement […].“181
(b) Unfavourable witness Wenn der Zeuge in der examination in chief nicht das aussagt, was er bereits im polizeilichen statement gesagt hat, sondern seine Aussage ändert, ohne dass hieraus ein Wille erkennbar wird, die vernehmende Partei zu sabotieren, so ist er nicht hostile, sondern nur unfavourable. Der Unterschied liegt darin, dass der unfavourable witness grundsätzlich dazu bereit ist, auszusagen, und es auch keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass er nicht die Wahrheit sagt. An176 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14–22; Hannibal, Law of Criminal and Civil Evidence, 2002, S. 303. 177 Die Glaubwürdigkeit des hostile witness darf allerdings nicht durch bad character evidence untergraben werden. 178 S. 119 (1)(b), (2) CJA 2003 s. Fn. 168; s.a. Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 42001, Rn. 7–56. 179 Keane/McKeown, Modern Law of Evidence, 92012, S. 123. 180 So R. v L. [2008] EWCA Crim 973 = [2008] 2 Cr.App.R. 18 = [2009] 1 WLR 626. 181 Übersetzung der Verfasserin: „Ein reluctant witness könnte eine kurze Haftstrafe wegen contempt of court den Konsequenzen seiner Aussage vorziehen. Eine andere Option ist es, einfach im Zeugenstand zu lügen. Ankläger können wenig gegen Zeugen tun, die ihre Geschichte verändern, außer sie als hostile zu behandeln, eine Prozedur, die ihnen häufig als wenig gewinnbringend erscheint. Die sinnvollste und menschlichste Art, mit dem Problem eingeschüchterter Zeugen umzugehen, ist es wahrscheinlich, sich auf ihre geschriebene Aussage zu stützen […].“ s. McEwan, Evidence, 21998, S. 98.
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ders als der hostile witness darf der unfavourable witness nicht im Stile der cross-examination vernommen oder diskreditiert werden. Allein der Beweis der ursprünglich ausgesagten Tatsache durch einen anderen Beweis ist möglich.182 Durch die Unstimmigkeiten im Aussageverhalten verliert jedoch der Zeuge an Glaubwürdigkeit, wenn er diese nicht glaubhaft erklären kann.183 (c) Cross-Examination Die cross-examination darf immer auf die oben dargestellten Mittel zurückgreifen, da es gerade dem Adversay System entspricht, den Zeugen der gegnerischen Partei auf ‚Herz und Nieren‘ zu prüfen.184 Hierbei dürfen dem Zeugen, wie dargestellt, stets vorprozessuale statements vorgehalten werden. Existiert ein solches statement, kann dies also immer im trial verwendet werden. Ob ein solcher Vorhalt allerdings prozesstaktisch sinnvoll ist, liegt im Ermessen der Partei, die die cross-examination durchführt. (d) Einigung der Parteien über Protokollverlesung Eine weitere Möglichkeit der Verwertbarkeit früherer Aussagen besteht aufgrund des Parteiprozesses auch, wenn beide Parteien sich darüber einig sind, dass eine bestimmte Aussage der Wahrheit entspricht und die Verwertung durch den Richter genehmigt wird.185 Es würde keinen Sinn machen, wenn der Zeuge zu unbestrittenen Tatsachen aussagen müsste. cc) Einfluss auf sonstige Ermittlungsmethoden Die Frage der Auswirkung der non-compellability auf andere Ermittlungsmethoden stellte sich im Fall R. v Horsnell,186 in dem das Tagebuch der Ehefrau des Angeklagten zur Verlesung kam, obwohl diese die Aussage verweigerte. Die Entscheidung problematisierte allerdings hauptsächlich das allgemeine Problem des hearsay evidence, wenn dadurch das Recht auf die crossexamination beeinträchtigt wird. Die Privilegierung des Angehörigen war nur der Anlass. Andere Auswirkungen der Privilegierung gab es bis jetzt nicht. Daher ist festzustellen, dass die non-compellability keinen Einfluss auf andere Ermittlungsmethoden wie die Beschlagnahme, die Durchsuchung oder heimliche Ermittlungsmaßnahmen hat.
182
Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14–21. Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 14–22. 184 S. s. 5 Criminal Procedure Act 1865. 185 S. 114 CJA 2003 s. Fn. 153. 186 R. v Horsnell [2012] EWCA Crim 227. 183
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dd) Einfluss auf die Urteilsfindung Gem. s. 80A PACE187 darf die Zeugnisverweigerung des Ehepartners nicht von der Anklage kommentiert werden. Im Plädoyer kann die Anklage also zum Beweis der Schuld des Angeklagten nicht argumentieren, dass die Ehefrau nicht aussage, nur um ihren Mann nicht zu belasten. In der Praxis wird diese Regel häufig vernachlässigt.188 Ein Verstoß durch die Anklage führt nicht immer zur Aufhebung des Urteils. Vielmehr kann ein Hinweis durch das Gericht die durch die Kommentierung entstandene Unfairness wieder ausgleichen.189 Ein solcher richterlicher Hinweis ist jedoch eher die Ausnahme.190 Die Verteidigung und auch der Richter dürfen im Gegensatz zur Anklage auf die Zeugnisverweigerung eingehen.191 Dies kann die Jury dann in ihrer Urteilsfindung berücksichtigen.192 Der Richter muss sich jedoch anders als der Mitangeklagte ausgeglichen zur Verweigerung äußern, indem er auf alle möglichen Ursachen der Verweigerung hinweist.193 ee) Folge von Rechtsfehlern Wird ein Zeuge zur Aussage gezwungen, obwohl er die Vernehmung mit Berufung auf seine non-compellability rechtmäßig im Vorhinein verweigert hatte, muss ein hierauf beruhendes Urteil in der Rechtsmittelinstanz aufgehoben werden.194 Gleiches gilt in Fällen, in denen der Zeuge nicht über sein Recht aufgeklärt wurde, obwohl es wahrscheinlich schien, dass er es wahrgenommen hätte.195 In allen anderen Fällen, in denen die non-compellability eines Ehegatten moniert wird, entscheidet der Court of Appeal, ob das Urteil fair erging und aufrechterhalten werden kann.196
187 188
Rn. 3.
Der die sinngemäße s. 80(8) PACE und die ältere s. 1(b) CEA 1898 ersetzt. R. v Marsh [2008] EWCA Crim 1816, 32 per Hughes LJ; Munday, Evidence, 62011,
189 R. v Whitton [1998] Crim. L.R. 492; R. v Davey [2006] EWCA Crim 565, 20; May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17–36; Choo, Evidence, 32012, S. 357. 190 Munday, Evidence, 62011, Rn. 3. 191 Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 342. 192 R. v Naudeer (1985) 80 Cr App R 9; R. v Whitton [1998] Crim. L.R. 492. 193 Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 8–41. 194 Leach v R. [1912] AC 305; Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474; Lord Mackay of Clashfern/Cook/Dillow/Ormerod, Halsbury’s Laws of England, 5 2010, § 513. 195 R. v Pitt [1983] QB 25, 75 Cr App R. 254, CA. 196 Singh/Ramjohn, Unlocking Evidence, 22013, S. 80 wonach die Einstellung des Ehepartners in Bezug auf die Aussage, ob er für die Anklage oder den Mitangeklagten ausgesagt hat, und die Bedeutung der Aussage für das Urteil einbezogen werden.
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4. Privileges „A witness is said to be privileged when he may validly claim not to answer a question or to supply information which would be relevant to the determination of an issue in judicial proceedings.“197
a) Rechtswirkung Privileges bewirken, dass sowohl die Antwort auf einzelne Fragen bei der Zeugenvernehmung während des Verfahrens verweigert werden darf als auch dass bereits im Vorverfahren bei der disclosure Dokumente, die thematisch von dem Privileg betroffen sind, nicht offen gelegt werden müssen.198 Das englische Common Law war anders als viele kontinentaleuropäische Staaten traditionell nie sonderlich großzügig gegenüber familiären Zeugenprivilegierungen.199 In letzter Zeit ist insgesamt die Tendenz zu erkennen, immer mehr private privileges zu reduzieren, da sie als Behinderung der Justiz empfunden werden.200 So haben privileges mittlerweile einen geringen Anwendungsbereich. Heute existieren nur noch das privilege against selfincrimination, das legal professional and litigation privilege, das Quellenprivileg für Journalisten und das privilege not to disclose without prejudice communications.201 b) Unterschied zwischen non-compellability und privilege Zum Teil wird im englischen Recht terminologisch zwischen compellability und privilege nicht klar getrennt.202 Der Unterschied zwischen beidem ist, dass der Zeuge, der non-compellable ist, nicht dazu gezwungen werden kann 197
Übersetzung der Verfasserin: „Ein Zeuge ist privilegiert, wenn er rechtmäßig für sich beanspruchen kann, auf eine Frage nicht zu antworten oder Informationen, die für die Behandlung einer Frage in einem juristischen Verfahren relevant wären, nicht zu erteilen.“ s. Cross/Tapper, Cross on Evidence, 61985, S. 378. 198 Durston, Evidence, 22011, S. 569 Der englische Parteiprozess fordert, dass Beweismittel im Rahmen der disclosure auch der anderen Seite bekannt gemacht werden. Diese Pflicht trifft in besonderem Maß die StA, die über ungleich mehr Ressourcen verfügt als die Verteidigung, s. ss. 3, 4 und 7 CPIA 1996. Aber auch die Verteidigung muss eingeschränkt Beweismittel offenlegen, s. ss. 5 und 6 CPIA 1996; s. Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 60. 199 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 309; Damaška The American Journal of Comparative Law 45 (1997), 839, S. 848 aus zivilrechtlicher Perspektive. 200 Dies wurde für das Zivilrecht im 16. Report of the Law Reform Comittee 1967 (Cmnd. 3471) und für das Strafrecht 1972 in Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, empfohlen, was im Civil Evidence Act 1968 und in PACE 1984 umgesetzt wurde, s. Cross/Tapper, Cross on Evidence, 61985, S. 378. 201 Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 501. 202 S. Rumping v DPP [1964] AC 814, HL, 833 und 862; s.a. Lusty U.N.S.W.L.J. 27 (2004), 1, S. 2; Harris Queensland U. Tech. L.& Just. 3 (2003), 274, S. 275.
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überhaupt auszusagen und sich vereidigen zu lassen. Derjenige, der durch ein privilege geschützt wird, muss zwar aussagen, kann sich dann jedoch während seiner Aussage bei bestimmten Themen auf das Privileg berufen und schweigen. Dieser Unterschied kann relevant werden, wenn versucht wird, einen Zeugen zu einem privilegierten Thema zu vernehmen. Wenn er sich weigert hierzu auszusagen, kann dies negativ von der Anklage kommentiert werden. Bei non-compellable Zeugen ist dieser taktische Schachzug verboten.203 Es handelt sich nach deutscher Terminologie bei der non-compellability also um Zeugnis-, bei privileges dagegen um Auskunftsverweigerungsrechte.204 c) Nicht mehr existente Eheprivilegien Dass im englischen Strafverfahren grundsätzlich alle Beweise offengelegt werden sollen, hat zur Abschaffung des spousal privilege (oder auch matrimonial communications privilege) geführt.205 Es hatte zum Inhalt, dass vor Gericht nicht über die Inhalte der Kommunikation während der Ehe zwischen Ehepartnern ausgesagt werden musste. Das spousal privilege bestand in Strafverfahren bis s. 80(9) PACE 1984 es abschaffte.206 d) Privilege Against Spouse Incrimination Als weiteres familiäres Privileg wird das privilege against spouse incrimination diskutiert. In der Sache geht es um die Situation, die in Deutschland in § 55 Abs. 1 Alt. 2 StPO geregelt wurde, also darum, ob ein Zeuge seinen Angehörigen in einem Verfahren belasten muss, das gegen einen Dritten gerichtet ist. Ob es dieses Privileg in England für Ehepartner gibt, ist nie
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Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 309. S. Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 42001, Rn. 8. 205 Durch s. 80(9) PACE, der s. 1(1)(d) CEA 1898 und s. 43(1) des Matrimonial Causes Act 1965 abschaffte; Malek, Phipson on Evidence, 182013, S. 9 ff. In anderen Common Law-Rechtsordnungen besteht dieses privilege weiter fort. In den meisten Staaten der USA oder auch Indien (s. 122 Evidence Act 1972) gelten unterschiedliche Ausprägungen des spousal privileges. In Kanada wurde 2015 die incompellability von Ehepartnern abgeschafft, s. 4 (2) Canada Evidence Act. Allerdings ist das marital communications privilege weiterhin in Kraft, s. 4 (3) Canada Evidence Act. Neuseeland hat jegliche Privilegierung mit s. 71 Evidence Act 2006 abgeschafft. In Südafrika gilt mit s. 196 und 198 des Criminal Procedure Acts 1977 immer noch eine Privilegierung in Bezug auf die compellability und das marital communications privilege. In Australien sehen die Bundesstaaten teilweise eine sehr weite Privilegierungen, teilweise auch überhaupt keine vor. 206 Im Zivilprozess bis 1968, s. Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 536. 204
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definitiv entschieden worden.207 S. 14(1)(b) des Civil Evidence Act 1968 sieht es für das Zivilverfahren vor.208 In England gibt es bis jetzt nur obiter dicta zu dieser Rechtsfrage.209 Für ein solches Privileg im Common Law sprach sich Lord Ellenborough in R. v The Inhabitants of All Saints, Worcester aus.210 In Rio Tinto Zinc Corporation v Westinghouse Electric Corporation äußerte sich das erkennende Gericht allerdings skeptisch. In R. v Pitt211 wurde festgestellt, dass mit der Ehefrau des Angeklagten, wenn diese aussagt, wie mit jedem anderen Zeugen verfahren werden müsse. Daraus könnte geschlossen werden, dass sie über alles – d.h. auch über nicht angeklagte Straftaten – aussagen müsse.212 In Lamb v Munster wurde eine Erstreckung der Selbstbezichtigungsfreiheit auf den Ehegatten explizit abgelehnt.213 Hieraus wird von der h.M. in der Literatur geschlossen, dass kein privilege against spouse incrimination bestehe.214 Das Criminal Law Revision Committee beurteilte die Rechtslage als unklar.215 May/Powles sprechen sich jedoch wie das Criminal Law Revision Committee für eine Angleichung von Straf- und Zivilrecht aus.216 Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass aus den alten Common Law-Regeln zur competence, compellability und zum privilege against selfincrimination abgeleitet werden müsse, dass ein privilege against spouse
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Lord Hailsham of St. Marylebone, Halsbury’s Laws of England Vol. 11(2), 41990, § 1186; Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 508; s.a. Cohen, SpouseWitnesses, 1913, S. 9. 208 S.a. Cross/Tapper, Cross on Evidence, 61985, S. 384; In familienrechtlichen Verfahren über das Kindeswohl gilt gem. s. 98 Children Act 1989 dieses Privileg jedoch nicht. Allerdings dürfen Aussagen, die den Ehepartner belasten könnten nicht in anderen Verfahren verwertet werden. S. dazu May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 11. 209 Dies wirkt aus deutscher Sicht unvorstellbar. In England scheint dieses Problem jedoch nie virulent geworden zu sein. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass in Verfahren gegen Dritte der Beweis über begangene Straftaten des Ehegatten des Zeugen nur in sehr begrenztem Umfang zulässig ist, da er zumeist nicht relevant ist. Einzig als Beweis des bad characters eines anderen Zeugen gem. s. 101 CJA 2003 ist eine Straftat eines nichtangeklagten Angehörigen als zulässiges Beweisthema überhaupt denkbar, s. dazu Glover/ Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 509. 210 R. v The Inhabitants of All Saints, Worcester (1817) 6 M & S 194, 201. 211 Cross/Tapper, Cross on Evidence, 61985, S. 384. 212 Rio Tinto Zinc Corporation and Others Appellants v Westinghouse Electric Corporation Respondents v et a contra [1978] AC 547, 637 f. (Lord Diplock). 213 Lamb v Munster (188283) L.R. 10 Q.B. 110, 112 f. 214 Durston, Evidence, 22011, S. 572; zweifelnd Keane/McKeown, Modern Law of Evidence, 92012, S. 598; Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 321. 215 Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 169. 216 May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 11; Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, 15; s.a. Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 12–15.
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incrimination existiert.217 Dieses sei bereits im 17. Jahrhundert etabliert und auch in Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner218 erwähnt worden. Auch der Supreme Court von Queensland (Australien) stufte es als Teil des Common Law ein.219 Da die Mehrheit in Rechtsprechung und Literatur sich gegen die Existenz eines solchen Privilegs im englischen Strafverfahren ausspricht, ist wohl davon auszugehen, dass Ehegatten sich gegenseitig wegen Taten, die im jeweiligen Verfahren nicht angeklagt sind, belasten müssen. 5. Straftaten im Zusammenhang mit der Zeugenaussage Da für blutsverwandte Zeugen eine allgemeine Zeugnispflicht besteht, ist beachtlich, wie Zeugen behandelt werden, wenn sie sich trotz Zeugnispflicht weigern, auszusagen, oder die Unwahrheit sagen. Auf eine solche Situation gibt es unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten: Einerseits kann der Staat versuchen, den unwilligen Zeugen die Situation der Aussage zu erleichtern. Andererseits kann er aber auch die Sabotage des Strafprozesses unter Strafe stellen. Für die zweite Alternative bietet das englische Recht die Straftatbestände perverting the course of public justice (a), contempt of court (b) und perjury (c). a) Perverting the course of public justice In der Phase der polizeilichen Ermittlung kann sich nach dem Common LawTatbestand des perverting the course of public justice strafbar machen, wer eine vorsätzliche Handlung begeht, die dazu geeignet ist, die Polizei in die Gefahr zu bringen, in eine falsche Richtung zu ermitteln,220 wobei ein konkretes Ermittlungsverfahren jedoch noch nicht eingeleitet worden sein muss.221 Die Tat kann nur durch aktives Handeln, nicht durch ein Unterlassen begangen werden.222 Hierunter fallen zum einen falsche Verdächtigungen aber auch der Widerruf einer wahren Aussage.223 Ebenso kann die Verdeckung von Tatsachen, die zeigen, dass eine Straftat begangen wurde, den Tatbestand erfüllen.224 Auch die Anstiftung zur Falschaussage kann hiernach strafbar sein. 217
Lusty U.N.S.W.L.J. 27 (2004), 1, 19 ff., 29 ff., 39, der historisch für das Bestehen argumentiert und rechtsvergleichend ein Common Law-Privileg herausarbeitet. 218 [1979] AC 474. 219 Callanan v B. [2004] QCA 478. 220 Archbold/Richardson, Criminal Pleading, 2015, 28–4. 221 R. v Selvage and Morgan [1982] Q.B. 372, 373; R. v Vreones [1891] 1 Q.B. 360, 369; Archbold/Richardson, Criminal Pleading, 2015, 28–1. 222 Archbold/Richardson, Criminal Pleading, 2015, 28–1. 223 R. v Rispal (1762) 3 Burrow 1320; R. v A. [2010] EWCA Crim. 2913; Archbold/ Richardson, Criminal Pleading, 2015, 28–3. 224 R. v Sharpe and Stringer (1938) 26 Cr.App.R. 122; R. v Wilde [1960] Crim.L.R. 116.
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Die Tat wird zumeist mit Bewährungsstrafen zwischen vier Monaten und zwei Jahren geahndet. Bei Falschaussagen in einem Verfahren hängt die Strafe von der Schwere der verhandelten Tat, der Überzeugungskraft der Falschaussage und deren Effekt auf die Justiz ab. So wurde zum Beispiel in R. v Mercer eine Mutter wegen eines falschen Alibis zu drei Jahren Haft verurteilt, das sie ihrem Sohn in Mordermittlungen gegeben hatte.225 In R. v A. wurde festgestellt, dass die für die Strafe relevante Schuld häufig stark von der Beziehung des Zeugen zum Beschuldigten abhänge. In diesem Fall wurde die Strafe in Anbetracht der Tatsache gemindert, dass die Angeklagte zugunsten ihres Ehemannes eine wahre Aussage zurückgezogen hatte.226 Insofern werden familiäre Beziehungen privilegierend berücksichtigt. b) Contempt of court In der Phase der gerichtlichen Verhandlung besteht die Möglichkeit, dass widerwillige Angehörige contempt of court begehen. aa) Tatbestand Contempt of court ist eine Gerichtsstrafe wegen Missachtung des Gerichts.227 Bestraft wird ein vorsätzliches Handeln oder Unterlassen „calculated to interfere with the due administration of justice […]“.228 Die Gerichtsstrafe tritt ein, wenn Anweisungen des Gerichts missachtet werden.229 Grund für die Strafbarkeit ist, dass die Strafrechtspflege stark auf die Kooperation der Zeugen angewiesen ist.230 Der Richter kann den Zeugen laden und, wenn nicht zu erwarten ist, dass er erscheint, oder bereits nicht erschienen ist, einen witness warrant ausstellen, aufgrund dessen der Zeuge verhaftet und dem Richter vorgeführt wird.231 Wenn ein Zeuge compellable ist und er einer solchen Ladung zur Aussage nicht Folge leistet, kann dies zu einer Strafe wegen contempt of court führen.232 Ob ein witness summons gegen Kinder unter 18 Jahren erlassen wird, 225
R. v Mercer [2010] 1 Cr.App.R. (S.) 104. R. v A. [2010] EWCA Crim. 2913. 227 Zu den Begehungsmöglichkeiten, s. Archbold/Richardson, Criminal Pleading, 2015, 28–27. 228 Übersetzung der Verfasserin: „kalkuliert um den gebührenden Ablauf der Justiz zu behindern […]“ s. Archbold/Richardson, Criminal Pleading, 2015, Rn. 28–32. Die Strafbarkeit existiert sowohl im Common Law als auch im Statutory Law, s. Eady/Smith, Arlidge, Eady & Smith on Contempt, 42011, S. 842. 229 Archbold/Richardson, Criminal Pleading, 2015, Rn. 28–52. 230 Rose LJ in R. v Yusuf [2003] 2 Cr App R 32, 488, 491. 231 S. 97 (1)-(3) des Magistrates’ Court Act 1980 und s. 45 (4) Supreme Court Act 1981. 232 S. 3 Criminal Procedure (Attendance of Witness) Act 1965; dies verlangt keinen Vorsatz, s. Eady/Smith, Arlidge, Eady & Smith on Contempt, 42011, S. 909; näher zum 226
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liegt im Ermessen des Gerichts, das abhängig von der möglichen Belastung des Kindes durch die Aussage vor Gericht entscheidet.233 Ob diese Möglichkeit tatsächlich in Verfahren genutzt wird, in denen das Kind nicht Opfer, sondern einfach Zeuge gegen seine Eltern ist, ist nicht feststellbar. Contempt of court begeht ebenfalls, wer sich ohne rechtlichen Grund weigert, den Eid abzulegen oder auszusagen.234 Bei einer Verweigerung der Aussage nach Vereidigung kann auch der Zeuge, der nicht compellable ist, wie jeder andere wegen contempt of court bestraft werden.235 Dies sollte das Gericht dem Zeugen vor der Eidablegung erklären.236 Genauso kann natürlich auch der Ehepartner, der wegen einer specified offence compellable ist, bei einer Zeugnisverweigerung bestraft werden.237 Ausflüchte und Tatsachenverdrehungen bei der Aussage werden nur durch den Tatbestand des contempt of court erfasst, wenn aus ihnen der Wille spricht, die Verhandlung insgesamt zu sabotieren.238 Bei einer partiellen Zeugnisverweigerung, also wenn der Zeuge die Antwort auf einzelne Fragen verweigert, ist eine Bestrafung eher unwahrscheinlich.239 Zudem kann sich sein Schweigen im Urteil für den Angeklagten negativ auswirken.240 Auch die Verweigerung der Herausgabe von Dokumenten kann als contempt of court bestraft werden.241 bb) Rechtsfolge Die Länge der möglichen Strafe wegen contempt of court ist abhängig von der dem jeweiligen Gericht zugeschriebenen Strafkompetenz und dem Ermessen des Gerichts im Einzelfall.242 Nichterscheinen kann mit bis zu drei Vorgehen bei solch einem Fall: Practice Note [2001] 3 All ER 94; Archbold/Richardson, Criminal Pleading, 2015, Rn. 28–87; Wurde kein witness warrant erstellt, kann keine contempt-Strafe verhängt werden, s. R. v Wang [2005] EWCA Crim 476. 233 R. v B. County Council and Another [1991] 1 W.L.R. 221. 234 Ss. 2-3 Criminal Procedure (Attendance of Witnesses) Act 1965; Hennegal v Evance (1806) 33 ER 77; Ex parte Jose Luis Fernandez (1861) 142 ER 349; Attorney-General v Clough [1963] 1 Q.B. 773; Attorney-General v Mulholland and Foster [1963] 2 Q.B. 477; R. v Judge Ex p. Justices of the Isle of Ely [1931] 2 K.B. 442, 447; Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 248; Eady/Smith, Arlidge, Eady & Smith on Contempt, 4 2011, Rn. 11–95; Brownlee J. of Social Welfare & Family Law 12 (1990), 107, S. 107. 235 R. v Pitt [1983] QB 25, 30; Archbold/Richardson, Criminal Pleading, 2015, Rn. 28– 87. 236 R. v Acaster (1912) 7 Cr.App.R. 187; R. v Pitt [1983] QB 25. 32; Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 8. 237 Cretney/Davis Brit. J. Criminol. 37 (1997), 75, S. 75. 238 Eady/Smith, Arlidge, Eady & Smith on Contempt, 42011, S. 844. 239 Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 248. 240 R. v Ackinclose [1996] Crim. L.R. 747; Eady/Smith, Arlidge, Eady & Smith on Contempt, 42011, S. 846. 241 Eady/Smith, Arlidge, Eady & Smith on Contempt, 42011, S. 912. 242 R. v Moran (1985) 81 Cr.App.R. 51.
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Monaten Haft bestraft werden.243 Vor Verhängung einer Strafe wegen ungerechtfertigter Zeugnisverweigerung soll dem Zeugen die Möglichkeit gegeben werden, seine Entscheidung zu überdenken und einen Rechtsanwalt zu konsultieren.244 Weigert sich ein Zeuge weiterhin, so droht vor dem Crown Court eine Strafe von bis zu zwei Jahren Haft.245 Beim Magistrates’ Court drohen höchstens ein Monat Haft und eine Geldstrafe bis zu 2.500 GBP.246 In der Regel gibt es für eine unberechtigte Zeugnisverweigerung allerdings eine Bewährungsstrafe.247 Auch das Opfer kann mit contempt-Strafe belegt werden.248 Für unter 21-Jährige darf keine Haftstrafe ausgesprochen werden.249 Es steht im Ermessen des Gerichts, eine contempt-Strafe zu verhängen.250 Richter verfahren sehr unterschiedlich mit Zeugen, die sich weigern, auszusagen.251 Die Strafe wird direkt durch das betroffene Gericht verhängt.252 Insgesamt sind contempt-Strafen selten und insbesondere gegen Frauen werden sie fast nie verhängt.253 Eine tatsächliche Bestrafung von Eltern, die sich weigern 243
Bis zu drei Monate im Crown Court, ss. 3 und 8 Criminal Procedure (Attendance of Witnesses) Act 1965 in der Form der s. 66 Criminal Procedure and Investigations Act 1996; s. 45 (4) Supreme Court Act 1981; R. v Moran (1985) 81 Cr.App.R. 51; Andrews/ Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 42001, Rn. 8. Bis zu einem Monat beim Magistrates’ Court, s. S. 97(3) Magistrates’ Court Act 1980 in der Fassung des Contempt of Court Act 1981 und des CJA 1991. 244 Lord Mackay of Clashfern/Cook/Dillow/Ormerod, Halsbury’s Laws of England, 5 2010, § 509. 245 Eady/Smith, Arlidge, Eady & Smith on Contempt, 42011, S. 847. 246 S. 13 des Contempt of Court Act 1981; bzw. s. 97(4) des Magistrates’ Courts Act 1980; Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 8; Eady/Smith, Arlidge, Eady & Smith on Contempt, 42011, S. 844. 247 Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 248. 248 R. v Holt (1996) 161 JP 96; Allerdings wird die Strafe wohl bei der reinen Verweigerung einer körperlichen Untersuchung des Opfers nicht verhängt, s. Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 248. 249 Archbold/Richardson, Criminal Pleading, 2015, Rn. 28–99. 250 Criminal Procedure Rules 2014 (S.I 2014 No. 1610) Pt 62.5 (3); Archbold/ Richardson, Criminal Pleading, 2015, Rn. 28–105. 251 R. v Holt, (1997) 161 JP 96; R. v Yusuf [2003] 2 Cr App R 32, 488; R. v Robinson [2006] 2 Cr.App.R.(S.) 88; Archbold/Richardson, Criminal Pleading, 2015, Rn. 28–100; Eine solche überstürzte Verurteilung geschah im medienwirksamen Fall der 25-jährigen Michelle Renshaw. Sie sollte in einem Verfahren wegen häuslicher Gewalt gegen ihren ehemaligen Geliebten aussagen und verweigerte dies, weswegen sie für fünf Tage ins Gefängnis kam. S. Edwards New LJ 139 (1989), 691, S. 691. 252 Rechtsmittel sind jedoch zulässig, s. R. v Yusuf [2003] 2 Cr App R 32, 488; Eady/ Smith, Arlidge, Eady & Smith on Contempt, 42011, S. 908. 253 Im Jahr 2012 kamen insgesamt 138 Personen wegen contempt of court im Vereinigten Königreich in Haft. Hiervon wird nur ein Bruchteil wegen einer Zeugnisverweigerung bestraft worden sein, da diese Straftat eine riesige Bandbreite an Verhaltensweisen erfasst. S. HC Deb 18 Dec 2013 Column 687W ff.; ältere Zahlen s. Edwards New LJ 139 (1989), 691, S. 64; The Law Commission, Criminal Law Rape Within Marriage, 1992, Rn. 4.
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gegen ihre Kinder auszusagen, oder von Kindern, die sich weigern gegen ihre Eltern auszusagen, ist in der Praxis umso seltener.254 Ebenso ist eine contempt-Strafe für Ehepartner, die aufgrund einer specified offence compellable sind, sehr rar.255 c) Perjury Angehörige können in der Phase der gerichtlichen Verhandlung aber auch einen Meineid begehen, wenn sie als vereidigte Zeugen in einem Gerichtsverfahren vorsätzlich falsch aussagen. Es ist irrelevant, ob die Aussage tatsächlich falsch ist, oder der Täter dies nur denkt.256 Der Court of Appeal hat entschieden, dass die Strafe für Meineid im Verhältnis zur Strafe für die Tat stehen soll, wegen der die Falschaussage begangen wurde. So können Strafen von zwei bis vier Jahren für perjury im Normalfall angemessen sein.257 Die Beziehung des lügenden Zeugen zum Angeklagten kann strafmildernd berücksichtigt werden.258 Kinder werden vor ihrer Aussage nicht vereidigt. Sie können sich daher nicht wegen perjury, allerdings gem. s. 57 YJCEA 1999 wegen einer unvereidigten Falschaussage strafbar machen.259 Die Strafe kann Haft bis zu 6 Monaten oder eine Geldstrafe bis zu 1.000 GBP betragen. Die Strafmündigkeit beginnt in England schon mit 10 Jahren, sodass bereits ab diesem Alter eine Falschaussage eines Kindes gegen seine Eltern strafbar ist.260 Kinder unter 14 können allerdings allein zu einer Geldstrafe bis zu 250 GBP verurteilt werden. Es bleibt jedoch die Frage, ob Kinder wegen einer Lüge zu Gunsten ihrer Eltern vor Gericht praktisch überhaupt verfolgt werden. Im Zeitraum von 2001 bis 2010 gab es insgesamt nur eine Verurteilung wegen Meineides pro 260.000 Einwohner,261 was eine sehr niedrige Rate ist. Hierunter dürften nicht viele Kinder gewesen sein. 254
Brabyn Crim.L.R. 2011, 613, S. 619; Brownlee J. of Social Welfare & Family Law 12 (1990), 107, S. 107; ebenso wohl in den Staaten der USA, die kein parent-child privilege kennen, s. Ross SLPR 14 (2003), 85, S. 99; Ausburn Ga. L. Rev. 20 (1985), 173, S. 219. 255 Cretney/Davis Brit. J. Criminol. 37 (1997), 75, S. 85. 256 Archbold/Richardson, Criminal Pleading, 2015, Rn. 28–145. 257 R. v Cunnigham [2007] 2 Cr.App.R.(S.) 61, C.A.; Archbold/Richardson, Criminal Pleading, 2015, Rn. 28–140. 258 Crown Prosecution Service, Sentencing Manual Perjury, http://www.cps.gov.uk/le gal/s_to_u/sentencing_manual/perjury/, 1.08.2015. 259 Die Tatbestandsvoraussetzungen sind bis auf den Eid mit denen der perjury identisch. 260 Levitt Brit. Med. Bull. 83 (2007), 235, S. 242. 261 Bei 213,4 Verurteilungen wegen Meineides pro Jahr in diesem Zeitraum (s. Chaplin/Flatley/Smith, Crime, 22011, S. 47) auf eine Bevölkerung Englands und Wales von 6.170.900 Menschen, s. Office for National Statistics, Population Estimates for England
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6. Exkurs: Einfluss der Familienangehörigkeit auf das weitere englische Strafrecht Die Familienangehörigkeit wird auch in weiteren Normen des englischen Strafrechts berücksichtigt. a) Sentencing Guidelines In den Magistrates’ Court Sentencing Guidelines und den definitiven Guidelines des Sentencing Guidelines Council werden Strafschärfungs- und Strafmilderungsgründe für spezielle Straftaten festgelegt.262 In fast allen Guidelines ist der abuse of a position of trust als Strafschärfungsgrund genannt.263 Eine solche Position ist bei Straftaten innerhalb der Familie zumeist erfüllt. Ein weiterer Strafschärfungsgrund liegt vor, wenn die Tat in Anwesenheit eines Angehörigen des Opfers, vor allem eines Kindes oder Partners begangen wurde.264 Für die Strafzumessung bei provoziertem Todschlag wird explizit darauf hingewiesen, dass die familiäre Beziehung zwischen Täter und Opfer besonders beachtet werden muss.265 Viele Guidelines sehen im Gegenzug auch einen Strafmilderungsgrund aus familiären Gründen bei leichterer Kriminalität vor. Die Strafe kann nämlich häufig gemindert werden, wenn der Täter die einzige Person ist, die sich um einen von ihm abhängigen Verwandten kümmert.266 b) Conspiracy Das englische Recht sieht eigentlich keine Privilegierungen der Verwandtschaft im materiellen Recht vor. Die einzige Common Law-Ausnahme betrifft die Straflosigkeit der conspiracy von Ehepartnern, sofern nur diese beiden Personen an der Verabredung beteiligt sind. Conspiracy stellt unter Strafe, sich zur Begehung jedweder Straftat zu verabreden. Grund für diese Sonderregel war die frühere Doktrin der legal unity of spouses.267 Zudem wurde angenommen, dass ein Prozess wegen conspiracy gegen beide Ehegatten and Wales, Mid-2011 (2011 Census-based), http://www.ons.gov.uk/ons/rel/pop-estimate/ population-estimates-for-england-and-wales/mid-2011--2011-census-based-/index.html. 262 Hungerford-Welch, Criminal Procedure and Sentencing, 72009, S. 754. 263 S. z.B. Sentencing Guidelines Council, Attempted Murder, 2009, S. 7; Sentencing Guidelines Council, Domestic Violence, 2006, S. 4; Sentencing Guidelines Council, Magistrates’ Court Sentencing Guidlines, 2008, S. 66. 264 S. z.B. Sentencing Guidelines Council, Magistrates’ Court Sentencing Guidlines, 2008, S. 199; Sentencing Guidelines Council, Attempted Murder, 2009, S. 710; Sentencing Guidelines Council, Domestic Violence, 2006, S. 9. 265 S. Sentencing Guidelines Council, Manslaughter, 2005, S. 6. 266 Z.B. Sentencing Guidelines Council, Magistrates’ Court Sentencing Guidlines, 2008, S. 199. 267 S. S. 224 ff.; Gillies, Law of Criminal Conspiracy, 21990, S. 63.
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deren Ehe gefährden würde.268 Diese Ausnahme wird als anachronistisch, wahllos und idiosynkratisch kritisiert.269 Die Relevanz dieser Strafvorschrift und insbesondere dieser Sonderregel ist jedoch anscheinend gering.270 c) Marital coercion Bis 2014 gab es zudem die Verteidigung der marital coercion. Die Figur der marital coercion fand Anwendung, wenn eine Ehefrau eine Straftat im Beisein ihres Mannes begangen hatte. In diesem Fall sei zu vermuten, dass die Frau vom Ehemann hierzu gezwungen wurde und sich daher nicht strafbar gemacht habe.271 Seit 1925 wurde eine solche Nötigung jedoch nicht mehr vermutet, sondern musste nachvollziehbar dargelegt werden.272 Erforderlich waren weder Gewalt oder die Drohung mit Gewalt, sondern allein das Gefühl der Ehefrau, keine andere Wahl zu haben, als die Tat zu begehen.273 Die Anforderungen waren daher nicht mit denen des deutschen Nötigungsnotstandes vergleichbar.274 Diese Verteidigung wurde zuletzt 2013 in einem Verfahren gegen die Ehefrau eines britischen Staatssekretärs – erfolglos – vorgebracht.275 Dieses Verfahren war der Auslöser für eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit und letztendlich auch für die Abschaffung der Verteidigung. Diese Rechtsfigur
268 269
Gillies, Law of Criminal Conspiracy, 21990, S. 63. Williams M. L. R. 10 (1947), 16, S. 20; Gillies, Law of Criminal Conspiracy, 21990,
S. 64. 270
Kritisch hierzu Williams M. L. R. 10 (1947), 16, S. 20. Freer Arch. Rev. 2013, 4, S. 5. 272 Rubin Legal Studies 34 (2014), 631, S. 633. 273 S. Zitat des zuständigen Richters in Rozenberg, The Vicky Pryce Case Highlights why ‚Marital Coercion‘ Should be Thrown out, http://www.theguardian.com/commentis free/2013/mar/07/vicky-pryce-marital-coercion-thrown-out, 14.03.2016; Vollkommen klar war die Abgrenzung jedoch bis zum Schluss nicht, s. Rubin Legal Studies 34 (2014), 631, S. 632. 274 Zur defence of duress, s. Rozenberg, The Vicky Pryce Case Highlights why ‚Marital Coercion‘ Should be Thrown out, http://www.theguardian.com/commentisfree/2013/mar/0 7/vicky-pryce-marital-coercion-thrown-out, 14.03.2016. 275 Hierbei handelt es sich um den Fall Vicky Pryce, der nicht veröffentlicht wurde. Ihr wurde vorgeworfen, fälschlicherweise die Verantwortung für einen Verkehrsverstoß, den tatsächlich ihr Mann begangen hatte, übernommen und auch die daraus resultierenden Strafpunkte auf sich genommen zu haben. Es gab jedoch ein hohes Interesse der Öffentlichkeit an diesem Fall, s. Rozenberg, The Vicky Pryce Case Highlights why ‚Marital Coercion‘ Should be Thrown out, http://www.theguardian.com/commentisfree/2013/ mar/07/vicky-pryce-marital-coercion-thrown-out, 14.03.2016; Fitton, Women still need Vicky Pryce’s ‚marital coercion‘ plea, http://www.telegraph.co.uk/women/womens-life/ 9988070/Women-still-need-Vicky-Pryces-marital-coercion-plea.html, 14.03.2016. 271
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wurde ohnehin nur noch höchst selten genutzt276 und die meisten Stimmen hielten sie nicht zuletzt wegen des transportierten Frauenbildes für anachronistisch.277 Aus diesen Gründen wurde s. 47 CJA 1925 abgeschafft.278 d) Zusammenfassung Insgesamt ist vor allem in der englischen Literatur eine starke Abneigung gegen die Privilegierung der Ehe im materiellen Strafrecht zu attestieren. Dass die Familiensituation in der Strafzumessung eine Rolle spielt, ist jedoch (auch für Aussagedelikte) weithin anerkannt.
III. Historische Entwicklung Zwar waren Einschränkungen der Zeugnisunfähigkeit immer eine Ausnahmeerscheinung. Trotzdem waren bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts doch recht viele Personen hiervon betroffen. Die Zeugenausschlüsse beruhten auf zwei unterschiedlichen Gedanken: Erstens sollten Personen, die versucht sein könnten vor Gericht zu lügen, hiervon abgehalten werden. Zweitens galten bestimmte Personengruppen per se als unglaubwürdig. 1. Zeugenausschlüsse wegen interest Die incompetence wegen interest schloss diejenigen Personen als Zeugen aus, bei denen ein Verdacht bestand, dass sie irgendein – sei es auch nur geringes – Interesse am Ausgang des Verfahrens haben könnten.279 Die Entwicklung des Ausschlusses wegen interest ist nicht klar nachzuvollziehen.280 In England kam der Zeugenbeweis im 15. Jahrhundert auf. Mindestens bis ca. 1500 wurden Personen, die mit dem Angeklagten in einem engen familiären Verhältnis standen, als für den ‚Zeugenbeweis‘ besonders 276
Rubin Legal Studies 34 (2014), 631, S. 658; Fitton, Women still need Vicky Pryce’s ‚marital coercion‘ plea, http://www.telegraph.co.uk/women/womens-life/9988070/Womenstill-need-Vicky-Pryces-marital-coercion-plea.html, 14.03.2016; Freer Arch. Rev. 2013, 4, S. 5. 277 Freer Arch. Rev. 2013, 4, S. 5; Rozenberg, The Vicky Pryce Case Highlights why ‚Marital Coercion‘ Should be Thrown out, http://www.theguardian.com/commentisfree/ 2013/mar/07/vicky-pryce-marital-coercion-thrown-out, 14.03.2016; Schon 1922 wurde dieses vermittelte Ehebild kritisiert, s. Rubin Legal Studies 34 (2014), 631, S. 646. 278 Krit. hierzu jedoch Fitton, Women still need Vicky Pryce’s ‚marital coercion‘ plea, http://www.telegraph.co.uk/women/womens-life/9988070/Women-still-need-Vicky-Pryces -marital-coercion-plea.html, 14.03.2016; Gerry JPN 180 (2016), 15; zurückhaltend in diese Richtung auch Rubin Legal Studies 34 (2014), 631, S. 658. 279 Malek, Phipson on Evidence, 182013, Rn. 9. 280 Malek, Phipson on Evidence, 182013, Rn. 9.
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geeignet angesehen.281 Im 16. Jahrhundert setzte sich der Tatzeugenbeweis durch und 1562/1563 wurde eine allgemeine Zeugnispflicht eingeführt.282 Spätestens 1627 war es allgemein verboten, als Zeuge auszusagen, wenn man ein – irgendwie geartetes – Interesse am Ausgang des Prozesses hatte.283 Der Ausschluss wegen interest erfasste ein finanzielles oder auch ein rein emotionales Interesse am Prozess. Obwohl Familienmitglieder dies wohl häufig unbestrittenermaßen aufwiesen, waren sie zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte vom Ausschluss wegen interest erfasst.284 Vielmehr wurde sogar deren vereidigte Aussage zugelassen und es wurde der Jury überlassen, über die Glaubwürdigkeit dieser Zeugen zu entscheiden.285 Wie es zu der Entwicklung dieser Zeugenausschlüsse kam, ist nicht wirklich rekonstruierbar, wobei eine Beeinflussung durch das römische und das kanonische Recht möglich, jedoch nicht sonderlich wahrscheinlich scheint, da der ausgeschlossene Personenkreis eben deutlich enger war.286 Der Evidence Act von 1877 und schließlich der Criminal Evidence Act 1898 schafften die incompetence wegen interest ab.287 Es ist schwer zu sagen, warum das englische Strafprozessrecht starre Zeugenausschlüsse erst so vergleichsweise spät abschaffte. Der Grund kann darin liegen, dass sich das englische Recht eben abgeschottet vom kontinentalen Recht entwickelte und so Reformströmungen weniger schnell rezipiert wurden.288 Der Gedanke des interest setzte sich jedoch in den Beschränkungen für Ehepartner fort.289 281 Wigmore, Treatise, 21923, S. 986; Malek, Phipson on Evidence, 182013, Rn. 9; Holdsworth, History of English Law Vol. IX, 31966, S. 182. 282 Holdsworth, History of English Law Vol. IX, 31966, S. 178. 283 Nach dem Grundsatz ‚nemo in propria causa testis esse debet‘, s. Phipson, Principles, 121922, S. 159; Malek, Phipson on Evidence, 182013, Rn. 9. Dieser Logik entspricht auch, dass der Angeklagte bis 1877 nicht als Zeuge in seinem Verfahren aussagen durfte, obwohl er von der Anklage vernommen wurde. Eine solche Aussage galt jedoch nicht als Zeugnis, s. ebd., Rn. 9; Dies änderte sich mit dem Evidence Act von 1843, s. Roberts/ Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 303. 284 Wigmore, Treatise, 21923, S. 991; Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 42001, Rn. 8; Holdsworth, History of English Law Vol. IX, 31966, S. 197; Blutsverwandte wurden beim Zeugnis nie besonders behandelt. Diese Selbstverständlichkeit im englischen Recht spiegelt sich auch im US-amerikanischen Recht wieder, wo 1970 der Gedanke eines parent-child Privilegs aufkam und noch als vollkommen abwegig abgelehnt wurde, s. Covey U. Ill. L. Rev. 1990, 879, S. 882. 285 S. hierzu Coke, Institutes of the Lawes of England, 1628, § 6 zit. nach Holdsworth, History of English Law Vol. IX, 31966, S. 187. 286 Wigmore, Treatise, 21923, S. 989; Malek, Phipson on Evidence, 182013, Rn. 9; Holdsworth, History of English Law Vol. IX, 31966, S. 193. 287 Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 180. 288 Holdsworth, History of English Law Vol. IX, 31966, S. 181. 289 Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 147; Holdsworth, History of English Law Vol. IX, 31966, S. 197; Phipson, Principles, 121922, S. 164.
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2. Zeugenausschluss wegen Eidesunfähigkeit Früher waren auch alle Personen inkompetent, die nicht Christen oder Juden waren, da sie nicht auf das Neue oder das Alte Testament schwören konnten und deshalb mit einer Falschaussage nicht Gefahr einer göttlichen Strafe liefen.290 Auch Personen, die wegen bestimmter ‚infamer‘ Verbrechen verurteilt wurden, waren nicht als Zeugen zugelassen. Kinder und Geisteskranke waren früher ebenfalls generell inkompetente Zeugen.291 Vor dem YJCEA 1999 durften Kinder nur dann aussagen, sofern sie die Bedeutung des Eides und die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, verstanden. Eine strenge Altersgrenze wurde hierbei nicht gezogen.292 Waren sie noch unter zehn Jahren, konnten sie unvereidigt aussagen.293 Sofern Kinder aussagten, so musste ihre Aussage durch ein anderes Beweismittel bekräftigt werden (sog. corrobation) und der Richter warnte die Jury davor, ihr Urteil allein auf das Zeugnis des Kindes zu stützen.294 Bei geistig beeinträchtigten Personen wurde die competence ins Ermessen des Richters gestellt, der beurteilen musste, ob die Person die Natur des Eides verstand und wieviel Glaubwürdigkeit ihr als Zeuge zukam. 295 Auch dies änderte sich grundsätzlich durch den YJCEA 1999. 3. Kein Zeugenausschluss von Blutsverwandten Das englische Recht kannte zu keinem Zeitpunkt Zeugenausschlüsse für Blutsverwandte des Beschuldigten. Dies steht in scharfem Kontrast zur Rechtsentwicklung auf dem Kontinent. Die naheliegendste Erklärung hierfür ist sicherlich, dass die Zeugenausschlüsse in Deutschland und Frankreich letztlich auf die Digesten zurückgingen.296 Das römische Recht wurde in England jedoch nie in gleichem Maße rezipiert wie in Kontinentaleuropa. Auch über den ‚Umweg‘ des kanonischen Rechts gelangten diese ursprünglich römisch-rechtlichen Regeln nicht nach England. Zwar galt das kanonische Recht zumindest bis zur Reformation in kirchlichen Verfahren natürlich
290 Allen, Practical Guide to Evidence, 42008, S. 88; Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 42001, Rn. 8; Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 302; Urteil, das zum Umschwung führte war Omychund v Barker (1745) 1 Atk. 21 wegen der schwindenen Zahl kompetenter Zeugen; Atheisten wurden 1861 ebenfalls zugelassen, s. Allen, Law of Evidence, 1997, S. 50. 291 R. v Hill (1851), 2 Den. 254; im Fall R. v Wallwork (1958) 42 Cr.App.R. 153 konnte daher ein Vater, der seine 5-jährige Tochter vergewaltigt hatte, nicht verurteilt werden. 292 R. v Hayes [1977] 1 WLR 234; R. v Brasier (1779) 1 Leach 199. 293 S. 38 des Children and Young Persons Act 1933; Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 303. 294 Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 252. 295 R. v Whitehead (186572) LR 1 CCR 33. 296 Zum römischen Recht s. S. 29 f.
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auch in England.297 Am kanonischen Recht zu Zeugenausschlüssen orientierte sich das englische weltliche Recht wohl aber allein bei dem Ausschluss von Jurymitgliedern, die in ihrer alten Konzeption ebenfalls als Zeugen verstanden wurden.298 Dass das kirchliche Recht in der englischen Rechtsentwicklung keine große Rolle spielte, ist auch daran zu erkennen, dass dort nie der Inquisitionsprozess mit seinen strengen Beweisregeln oder die Folter als Beweisgewinnungsmittel praktiziert wurde.299 Andere Erklärungen für das Fehlen eines Ausschlusses für Blutsverwandte fehlen weitgehend. Wigmore vermutet, dass der Ausschluss für Ehegatten auf der unity of spouses gründete und es in Ermangelung einer solchen Doktrin für Blutsverwandte eben keinen Ausschluss gebe.300 4. Ehepartner Die Rechtslage in Bezug auf die Aussage von Ehegatten zu Zeiten des Common Law war sehr komplex, unübersichtlich und bisweilen unklar.301 Das geltende Recht ergab sich aus einem nicht zufriedenstellenden Flickwerk aus Common Law und Statutory Law.302 a) Competence Die competence war ursprünglich die Voraussetzung für die Vereidigung, die in England bei jeder Zeugenaussage erfolgt.303 Ehepartner waren früher grundsätzlich keine kompetenten Zeugen gegeneinander.304 Dies ist eindeutig
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Wigmore, Treatise, 21923, S. 989. Holdsworth, History of English Law Vol. IX, 31966, S. 186. 299 Holdsworth, History of English Law Vol. IX, 31966, S. 180; eine Ausnahme bildete allein die Star Chamber, s. Zweigert/Kötz, Einführung, 31996, S. 192. 300 Wigmore, Treatise, 21923, S. 1032. 301 R. v Dunning [1965] Crim. L.R. 372; Nach Wigmore (Wigmore, Evidence, 1961, 2227) sei die Rechtslage durch ‚tantalising obscurity‘ geprägt; Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 341; Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 143; Creighton Crim.L.R. 1990, 34, S. 37. 302 Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 566; May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17–26; Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 73. 303 So stammt der Begriff der competence auch von der kanonischen Eidesfähigkeit gegenüber Gott. Nur diejenigen Personen, die durch einen Meineid den göttlichen Zorn nach dem Tod auf sich lenken konnten, d.h. nur Gläubige wurden als fähig erkannt; s. dazu Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 301. 304 Bentley v Cooke (1784) 3 Douglas 422; Benyon/Bourn, The Police, 1986, S. 265 meinen sogar, dass das House of Lords die incompetence als ‚deep seated constitutitonal principle‘ bezeichnet habe; s.a. Macnair, Law of Proof, 1999, S. 223. 298
III. Historische Entwicklung
217
ab dem 17. Jahrhundert belegt.305 Es wird jedoch gemutmaßt, dass der Ausschluss von Ehefrauen gegen ihren Mann bereits schon sehr viel früher, nämlich im 7. Jahrhundert, aufgrund der religiösen Vorstellung der Herrschaft des Mannes über die Frau etabliert wurde, da bereits damals Frauen nicht Teilnehmer an der Straftat ihres Ehegatten sein konnten.306 aa) Rückausnahmen im Common Law Bereits das alte Common Law sah bestimmte Rückausnahmen von diesem strengen Zeugenausschluss vor.307 Eine Ausnahme bestand bei Straftaten, die Gewalt gegen den Ehepartner beinhalteten, da sonst der eine dem anderen Ehepartner gegenüber schutzlos ausgeliefert gewesen wäre.308 Der erste bekannte Fall, in dem ein Ehepartner gegen den anderen aussagte, war Lord Audley’s Case von 1630, in dem der Angeklagte seine Frau von einem Bediensteten hatte vergewaltigen lassen.309 Die beiden weiteren Ausnahmen des Common Law waren Hochverrat, da das öffentliche Interesse an der Aufklärung der Straftat das öffentliche Interesse am Schutz des Ehepartners überwiegen sollte,310 und Entführung zum Zweck der Zwangsheirat.311 Außerdem konnte die zweite Ehefrau in einem Verfahren wegen Bigamie gegen ihren Ehemann aussagen, da deren Ehe unwirksam war.312
305
Macnair, Law of Proof, 1999, S. 186. So beschrieb Lord Coke 1628 bereits die incompetence von Ehepartnern. Die Ursprünge dieser Regelung sind nicht überliefert, s. Lusty U.N.S.W.L.J. 27 (2004), 1, S. 6. 306 Lusty U.N.S.W.L.J. 27 (2004), 1, S. 7. 307 Malek, Phipson on Evidence, 182013, Rn. 9. 308 Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 167; Lord Audley’s Case (1631), 3 State Tr. 401; R. v Blanchard (1951) 35 Cr. App. R. 183; R. v Deacon [1973] 1 W.L.R. 696, C.A.; Cohen, Spouse-Witnesses, 1913, S. 25; Phipson, Principles, 121922, S. 165; unsicher war jedoch bis zuletzt, welche Delikte tatsächlich darunter fielen, s. Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 568; Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 144. 309 Cohen, Spouse-Witnesses, 1913, S. 22. 310 Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 167; kritisch hierzu Cohen, Spouse-Witnesses, 1913, S. 23; interessante Ausführungen dazu finden sich auch in Phipson, Principles, 12 1922, S. 166, die dafür sprechen, dass die Ehefrau für treason des Mannes nicht competent war, andersherum allerdings schon, da die Stellung der Frau mit der des feudalen Vasallen vergleichbar sei. Sie schulde ihm Treue im Gegenzug für Schutz; s.a. The Director of Public Prosecutions v Blady [1912] 2 K.B. 89, 92 (Lush, J.). 311 R. v Wakefield (1827), 2 Lew. 279; Reeve v Wood (1864) 122 ER 867, 868 (Blackburn J.); Cohen, Spouse-Witnesses, 1913, S. 30. 312 Die competence weitete der Criminal Justice Administration Act 1914 auch auf die erste Frau aus, s. Phipson, Principles, 121922, S. 165.
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D. England und Wales – Non-Compellability
bb) Rückausnahmen im Statutory Law Ausgelöst durch die Fundamentalkritik Benthams in ‚A Treatise on Judicial Evidence‘ von 1825 wurde die generelle incompetence zuerst für das Zivilrecht mit dem Evidence Act 1851 und dann mit dem Criminal Evidence Act 1898 auch für das Strafrecht aufgehoben.313 Nach s. 1 des Criminal Evidence Act 1898 war der Ehepartner als Zeuge für die Verteidigung immer competent. Die Aussage stand aber unter dem Vorbehalt der Genehmigung des angeklagten Ehepartners, sodass ein Zeuge nicht aussagen durfte, wenn der Angeklagte dies nicht wünschte.314 Nach s. 4(1) CEA 1898 konnte der Zeuge aber bei bestimmten Delikten315 sowohl für die Anklage als auch für die Verteidigung des Mitangeklagten ohne vorheriges Einverständnis des angeklagten Ehepartners vernommen werden.316 S. 39 des Sexual Offences Act 1956 und der Indecency with Children Act 1960 eröffneten die competence des Zeugen für Anklage und Verteidigung ohne Einverständnis des
313
Bentham, Treatise on Judicial Evidence, 1825, S. 241: „If all criminals of every class had assembled, and framed a system after their own wishes, is not this rule the very first which they would have established for their security? […] Innocence claims the right of speaking, as guilt invokes the privilege of silence.“ (Übersetzung der Verfasserin: „Wenn alle Kriminellen aller Klassen sich versammelt hätten und ein System nach ihren Wünschen zu entwerfen, wäre diese Regel nicht die erste, die sie eingeführt hätten, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten? […] Unschuld fordert das Recht zu sprechen, so wie Schuld sich auf das Recht zu schweigen beruft.“). 314 Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 569; Zander, Police, 2013, Rn. 8– 49; Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 146; Zander, Police, 2013, Rn. 8–49; In den USA galt die incompetence bei fehlender Genehmigung des Angeklagten bis 1933, s. Funk v. United States, 290 U.S. 371, 38081 (1933); Seymore Nw. U. L. Rev. 90 (1995), 1032, S. 1047. Erst 1980 wurde in den Bundesgerichten abgeschafft, dass der Angeklagte über die Aussage seines Ehepartners entscheiden konnte (sog. adverse spousal testimony privilege), sofern dieser nicht Opfer der Tat war, s. Trammel v. United States 445 U.S. 40 (1980); Holmes Hous. L. Rev. 28 (1991), 1095, S. 1123. 315 Zu diesen Delikten zählten: Vernachlässigung und Verlassen der Ehefrau oder der Familie gemäß dem Vagrancy Act 1824 und s. 80 Poor Law (Scottland) Act 1845; Sexualdelikte gegen Frauen und Mädchen und die Entführung zur Zwangsheirat gemäß s. 4855 Offences against the Person Act 1861; Eigentumsdelikte gegen die Ehefrau nach s. 12 und 16 des Married Women’s Property Act 1882; Sexualdelikte zum Schutz von Frauen und Mädchen und zur Eindämmung der Prostitution nach dem Criminal Law Amendment Act 1885; Delikte zum Schutz vor Kindesmisshandlung nach dem Prevention of Cruelty to Children Act 1894. Später wurde auch der Schwangerschaftsabbruch mit s. 2(5) des Infant Life (Preservation) Act 1929 aufgenommen. 316 Zander, Police, 2013, Rn. 8–51; So war schon mit dem Evidence Act 1877 competence und compellability im Fall der Strafbarkeit wegen non-repair of a highway festgeschrieben worden. Und der Married Women’s Property Act 1883 stellte eine competence und compellability bereits für Straftaten in Bezug auf das Eigentum der Ehefrau her, s. Cohen, Spouse-Witnesses, 1913, S. 15.
III. Historische Entwicklung
219
Angeklagten für einen weiteren Kreis von Sexualdelikten.317 Durch den Theft Act 1968 s. 30(2) wurde schließlich die incompetence sowohl für die Anklage als auch auf die Verteidigung des Mitangeklagten für all die Fälle aufgehoben, in denen es um eine Straftat ging, deren Verfolgung der Ehepartner selbst anstrebe.318 Außerdem wurde die generelle competence für Verfahren über Straftaten eröffnet, die mit Bezug zum Ehegatten begangen wurden, auch wenn das Verfahren nicht vom Ehepartner selbst betrieben wurde.319 Was allerdings darunter zu verstehen war, war stark umstritten.320 Wurde der Ehepartner, ohne dass eine der Ausnahmen einschlägig war, zur Aussage zugelassen, so begründete dies einen Aufhebungsgrund in nächster Instanz.321 Zudem war lange umstritten, ob die abweichenden Regeln des Statutory Law von der grundsätzlichen incompetence auch geschiedene Ehepartner betrafen. In R. v Algar wurde für das Common Law entschieden, dass die incompetence fortwirkte.322 Das Problem bestand darin, dass das Statutory Law, das die competence anordnete, immer nur von wife und husband die Rede war.323 So kam es zu dem widersprüchlichen Ergebnis, dass verheiratet Ehepartner durch Statute competent waren; geschiedene Ehepartner jedoch nicht, da diese nicht mehr husband oder wife sind.324
317
Ob die competence ohne Genehmigung für den Mitangeklagten auch bei Delikten des Sexual Offences Act 1956 galt, war bis zur Einführung vom PACE umstritten, s. Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 179. 318 Zander, Police, 2013, Rn. 8–51; Der Theft Act 1968 war nicht auf Diebstahlsdelikte beschränkt. Er nahm die Common Law-Regel zur competence bei ehelichen Gewaltdelikten in sich auf, s. Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 175, 177; hiergegen noch R. v Lapworth [1931] 1 K.B. 117 – Rechtsprechungsänderung dann mit Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1978] 2 All E.R. 136; [1978] 2 W. L. R. 695. 319 S. 30(3) Theft Act 1968. 320 R. v Noble [1974] 1 W. L. R. 894; R. v Verolla [1963] 1 Q. B. 285; Reeve v Wood (1864), 4 Best and Smith 364; The Director of Public Prosecutions v Blady, [1912] 2 K.B. 89. 321 Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 567; Deacon [1973] 1 WLR 696, CA; R. v Mount (1934) 24 Cr. App. R. 135. 322 R. v Algar [1954] 1 Q.B. 279; Heydon, Cases and Materials on Evidence, 1975, S. 385; von Benyon/Bourn, The Police, 1986, S. 266 wird die damalige Regelung als ‚absurd‘ bezeichnet. 323 Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 180. Bis zur Mitte des 20. Jhd. erschöpfte sich die englische Methode der Gesetzesauslegung in der Wortlautauslegung, s. Vogenauer, Auslegung, 2001, S. 780. 324 R. v Algar [1954] I Q. B. 279; [1953] 2 All E.R. 1381; Monroe v Twisleton (1802) Peake Additional Cases 219.
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D. England und Wales – Non-Compellability
cc) Neuregelung 1984 Das Criminal Law Revision Committee schlug 1972 eine grundsätzliche Neuregelung der competence (und compellability hierzu jedoch sogleich) vor.325 Auslöser war ein Fall, in dem ein Ehemann den Bruder seiner Ehefrau in deren Anwesenheit erschossen hatte. Dass die Frau in diesem Fall als Zeugin incompetent war, obwohl sie aussagen wollte, wurde als ungerecht empfunden.326 Das eingesetzte Committee sah keinen Grund weswegen die incompetence der Ehepartner untereinander aufrechterhalten werden könnte. Insbesondere die eheliche Harmonie könne dies nicht gebieten.327 Das einzige Argument für eine Sonderregelung bestünde durch das Dilemma für den Ehepartner bei einem Verfahren, in dem er zur Aussage gezwungen werden sollte. Da dies aber gerade nicht die competence, sondern due compellability betrifft, sprach sich das Criminal Law Revision Committee eindeutig für die competence der Ehepartner in allen Fällen aus.328 Auf Basis dieser Empfehlung und des durch das Committee erstellten Gesetzesentwurfs wurde daraufhin der Police and Criminal Evidence Act 1984 erlassen.329 Alle alten statutory-Regeln und das alte Common Law wurden durch PACE aufgehoben.330 Indem Ehepartner für uneingeschränkt und ausnahmslos competent erklärt wurden, gleichzeitig aber die alte Common LawRegel abgeschafft wurde, nach dem competence mit compellability gleichzusetzen sei, wurden die Probleme der competence teilweise auf die Ebene der compellability verlagert.331 b) Compellability Mit der sukzessiven Abschaffung der incompetence stellte sich zum ersten Mal die Frage der compellability. Denn mit Gewährung der Zeugnisfähigkeit war noch nicht gesagt, dass Ehepartner auch eine Pflicht zur Aussage traf. Der Terminus compellability wurde wohl überhaupt das erste Mal 1851 ver-
325 Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 148; May/ Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17–26. 326 R. v Deacon [1973] 2 All ER 1145 = [1973] I WLR 696; in diese Richtung auch Cross/Tapper, Cross on Evidence, 61985, S. 197. 327 Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 148; Dagegen Lempert Iowa L. Rev. 66 (1980–1981), 725, S. 733, da eine ‚freiwillige‘ Aussage des Ehepartners nicht grds. freiwillig sei und den Schutz der Ehe nicht gewährleisten könne. 328 Dies gilt allgemein als sinnvoll, s. u.a. Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 183. 329 Wobei s. 80 PACE später wiederum zum Teil durch den YJCE Act 1999 modifiziert wurde; Evidence (General) Cmnd 4991, paras 143–57 und Annex 1, draft Bill, para 9; Zander, Police, 2013, Rn. 8–49. 330 McEwan, Evidence, 21998, S. 95. 331 Murphy/Glover, Murphy on Evidence, 122011, S. 341.
III. Historische Entwicklung
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wendet. Mit den Jahren entwickelte sich dann ein komplexes System der compellability bei bestimmten Delikten. Wer nach Common Law competent war, galt auch grundsätzlich als compellable, da es keinen Unterschied zwischen zeugnisfähigen und zeugnispflichtigen Personen gab.332 Einzig die privileges, die die Verweigerung einer Antwort auf spezielle Fragen während der Aussage zuließen, ermöglichten es zeugnisfähigen Personen, zu schweigen.333 Alle im vorherigen Abschnitt dargestellten Ausnahmen beziehen sich allein auf die competence des Ehepartners, also auf dessen Zeugnisfähigkeit nicht -pflicht. Für Anklage und Verteidigung konnte der Ehepartner im Common Law nur im absoluten Ausnahmefall zum Zeugnis gezwungen werden.334 Explizite Ausnahmen von der non-compellability gab es nach dem Evidence Act 1877 für public nuisance335 und nach s. 6(1) Criminal Evidence Act 1898 beim Tatbestand des non-repair of highways and bridges.336 Weitere Ausnahmen wurden nicht explizit festgelegt, da teilweise angenommen wurde, dass die compellability sowieso aus der competence folgen würde. In Leach v R., als erstem bedeutenden Fall zur compellability nach dem Erlass des Criminal Evidence Act 1898, entschied das House of Lords jedoch, dass aus der competence nicht zwangsläufig eine compellability folge.337 In diesem Fall wurde die Ehefrau eines Mannes, der wegen Inzests mit seiner Tochter angeklagt war, gegen ihren Willen zur Aussage gezwungen, woraufhin ihr Mann verurteilt wurde. Dieses Urteil hob das House of Lords mit der Begründung auf, dass die non-compellability der Ehefrau ein tief verwurzeltes Prinzip sei, das nur durch Gesetz aufgehoben werden könne.338 Für das Statutory Law wurde knapp 20 Jahre später in R. v Lapworth jedoch das Gegenteil entschieden, nämlich dass aus der competence auch die compellability resultiere.339 Der Sexual Offences Act 1956 schrieb dann wiederum die com332
Rn. 4.
Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 307; Munday, Evidence, 62011,
333 Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 243; Heydon, Cases and Materials on Evidence, 1975, S. 393. 334 Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 145. 335 Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 179. 336 Schedule 7, Pt. V to the 1984 Act; die Auswahl an Tatbeständen wurden von Cross richtigerweise als wahllos bezeichnet, s. Cross M. L. R. 24 (1961), 32, S. 84; Andrews/ Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 8–28; Die Schwierigkeit einen überzeugenden Ausnahmekatalog an Straftaten herauszuarbeiten kann auch z.B. in den Gesetzesmaterialien zum (alten) westaustralischen Recht gesehen werden, s. Law Reform Commission of Western Australia, Project 31, 1977, Rn. 7; s.a. New Zealand Law Commission, Preliminary Paper No 23, 1994, S. 85; Naudé S. Afr. J. Crim. Just. 17 (2004), 325, S. 332. 337 Leach v R. [1912] AC 305. 338 Leach v R. [1912] A. C. 305, 331. 339 R. v Lapworth [1931] 1 KB 117; Zander, Police, 2013, Rn. 8–49.
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D. England und Wales – Non-Compellability
pellability des Ehepartners für Sexualdelikte explizit nur als Ausnahme vor.340 Diese Rechtsunsicherheit wurde mit Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner341 aufgelöst, wo sich die Mehrheit der Law Lords gegen eine Zeugnispflicht bei Gewaltdelikten aussprach, auch wenn sich das Delikt gegen den Ehepartner als Zeugen richtete.342 In diesem Fall wurde Hoskyn wegen schwerer Körperverletzung an einer Frau der Prozess gemacht, die er zwei Tage vor dem Prozessbeginn geheiratet hatte. Sie weigerte sich auszusagen, wurde jedoch dazu gezwungen, wogegen sich Hoskyn in den späteren Instanzen zur Wehr setzte.343 Der Court of Appeal bestätigte das erstinstanzliche Urteil.344 Die Mehrheit des House of Lords gab Hoskyn jedoch mit Bezug auf Leach v R. Recht. Lord Salmon argumentierte, dass die Ehefrau zwar seit 1898 competent sei. Dies habe jedoch keine Aussagepflicht auslösen sollen, wenn sie trotz reiflicher Überlegung nicht aussagen wolle. Der Druck, den eine Aussagepflicht mit sich bringe, könne eine Ehe zerstören.345 Gegen ein Zeugnisverweigerungsrecht sprach sich jedoch Lord Edmund Davies aus, der anmerkte, dass einige Delikte einfach zu schwerwiegend seien, um deren Aufklärung dem Belieben des Ehepartners zu überlassen. Es läge im öffentlichen Interesse, diese Straftaten verfolgen zu können.346 Außerdem sei eine Aussagepflicht ein guter Schutz für den Ehepartner, da er so nicht den Einschüchterungsversuchen des Angeklagten ausgesetzt wäre, weil klar sei, dass er keine andere Wahl habe, als auszusagen.347 Durch Mehrheitsentscheidung stellte das House of Lords jedoch fest, dass ein kompetenter Zeuge nicht zwangsläufig auch compellable für die Anklage sei und die Frau selbst in Ausnahmefällen nicht zur Aussage gezwungen werden könne. Die Rechtsprechung in Hoskyn galt bis zur Einführung von PACE. Sowohl die Argumente der Mehrheitsmeinung als auch die der dissenting speech fanden Eingang in die Begründung zu s. 80 PACE.348 Das Criminal Law Re340
Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 175. Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474. 342 Keane/McKeown, Modern Law of Evidence, 92012, S. 121. 343 Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 177. 344 Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 177, denn vor Hoskyn war die Common Law Rechtslage sehr unklar. 345 Lord Salmon in Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474, S. 495. 346 Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474, 507. 347 Lord Edmund Davies in Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474, 499. 348 Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 343 Seit der Verabschiedung von PACE 1984, wurden in Bezug auf die compellability keine wichtigen Änderungen vorgenommen. Nach der alten Version der s. 80 PACE bis 1991 waren mitangeklagte Ehepartner für die Verteidigung anderer Mitangeklagter scheinbar compellable. Dies wurde von der Literatur scharf kritisiert und es wurde vermutet, dass es sich hierbei um ein Redaktions341
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vision Committee sprach sich dafür aus, die compellability in bestimmten Fällen unbeschränkt zuzulassen. Es erwog zwar die Möglichkeit, dass so der Zeuge in die schwierige Lage gedrängt werden könnte, entweder den Partner zu belasten oder eine Falschaussage zu begehen. Dieses Risiko sah man aber im Verhältnis zu der Gefahr, dass ein Ehepartner den anderen aus Rache nicht entlasten könnte, als gering an.349 Hier wird deutlich, dass die compellabilityRegeln eher auf den Schutz des Angeklagten, als auf die Schonung des Zeugen ausgerichtet sind. c) Privilege Vor PACE 1984 gab es mehrere eheliche privileges, die dem Ehepartner gestatteten, auf bestimmte Fragen mit Bezug auf den Ehepartner zu schweigen. Diese privileges galten, anders als die non-compellability, nicht nur im Verfahren gegen den Ehepartner, sondern in jedem Verfahren. aa) Matrimonial communications-privilege Das matrimonial communications-Privileg wurde passend zur restriktiven Tendenz des englischen Rechts in Bezug auf Privilegien allgemein, durch s. 80(9) PACE abgeschafft.350 Da s. 80 PACE die Situation von Ehepartnern komplett neugestaltete, wurde auch dieses ‚anachronistische‘351 Überbleibsel des alten Rechts aufgehoben. Es handelte sich nicht um ein Common LawPrivileg. Vielmehr wurde es durch statute im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die neugewonnene competence von Ehepartnern durch s. 1(d) CEA 1898 geschaffen. Es gestattete den Ehepartnern über die währende der Ehe getätigte Kommunikation untereinander, zu schweigen.352 Die Entscheidung, ob das Recht ausgeübt werden sollte, stand dem aussagenden Ehepartner zu.353 Die Wirkung des Privilegs war jedoch auf Aussagen beschränkt: Wenn sich ein Briefwechsel von Ehepartnern im Besitz eines Dritten befand, so konnte dieser im Prozess verwertet werden.354 Ebenso war es trotz des Privilegs zuläs-
versehen handelte, s. Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 8–39; Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 251. 349 Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 153. 350 Anders in anderen Common Law-Ländern, s. Murphy, Practical Approach, 1985, 2 1985, S. 326. 351 Übersetzung der Verfasserin; Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 326. 352 Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 12. 353 Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 298 mit Verweis auf Her Majesty’s Advocate v H. D. [1953] J. C. 65. 354 Rumping v Director of Public Prosecutions, [1946] A. C. 814.
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D. England und Wales – Non-Compellability
sig, Telefongespräche zwischen Ehepartnern abzuhören.355 Das Privileg erlosch mit Scheidung oder Tod eines der Ehegatten.356 bb) Zeugenaussage über ehelichen Geschlechtsverkehr Als weiteres eheliches Privileg357 bestand das Recht, über ehelichen Geschlechtsverkehr zu schweigen, was wohl zur Beibehaltung des Anstands diente.358 Nach Kritik des Criminal Law Revision Committees359 wurde es für das Strafverfahren ebenfalls mit s. 80(9) PACE 1984 abgeschafft.360
IV. Ratio der englischen Regelung Die ratio der Privilegierung von Ehegatten wird im englischen Schrifttum recht ausgiebig und kritisch diskutiert. Hierbei müssen Grund und Zweck der alten Common Law-Regeln zur incompetence von der ratio des aktuellen s. 80 PACE getrennt untersucht werden. 1. Ratio der non-compellability Zuerst wird die ratio der Ausnahme von der Zeugnispflicht behandelt. a) Unity of spouses Der anfängliche Grund für die Sonderstellung von Ehepartnern ist wohl im alten Common Law-Prinzip der rechtlichen Einheit der Ehegatten, der sog. unity of spouses, zu erblicken.361 Es handelt sich um ein ursprünglich religiö355
R. v Keeton (1970) 54 Cr. App. R. 267. Shenton v Tyler [1939] Ch. 620 = [1939] 1 All E.R. 827. 357 Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 12. 358 Cross, Cross on Evidence, 51979, S. 199. 359 Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 173. 360 Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 12; Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 326. 361 So bereits Coke, Institutes of the Lawes of England, 1628, § 6, zit. nach Holdsworth, History of English Law Vol. IX, 31966, S. 197: „Note it hath been resolved by the justices that a wife cannot be produced either against or for her husband, quia sunt duae animae in una carne, and it might be a cause of implacable discord, and dissension between the husband and wife, and a means of great inconvenience.“ (Übersetzung der Verfasserin: „Beachte aber, dass die Richter entschieden haben, dass eine Ehefrau nicht gegen ihren Mann aussagen darf, da sie zwei Seelen in einem Fleische sind, und es unerbittliche Zwietracht und Uneinigkeit auslösen und es der Grund für große Schwierigkeiten darstellen könnte.“); Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 313; R. v Yeo [1951] 1 All E.R. 864; R. v Verolla [1963] 1 QB 285; Wigmore, Treatise, 21923, S. 1032; Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 342; Munday, Evidence, 62011, Rn. 3. Zum Teil wird aber auch 356
IV. Ratio der englischen Regelung
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ses Dogma, nach dem Ehemann und -frau vor Gott zu einer Person verschmelzen.362 Es stammt aus einer Zeit, in der die Ehe noch nicht geschieden werden konnte und die Ehepartner daher für den Rest ihres Lebens miteinander leben mussten.363 Diese untrennbare Verbindung führte dazu, dass die Zeugnispflicht des Ehepartners wie ein Selbstbezichtigungszwang gewirkt hätte.364 Lässt man die religiöse Vorstellung des ‚Verschmelzens‘ vor Gott außen vor, kann der Grund für dieses wörtliche Verständnis der Einheit der Ehegatten vermutlich in der Parallelität der Interessen der Ehepartner gesehen werden. Der eine Partner war unauflösbar an das Schicksal des anderen gebunden und wäre bei einer Zeugnispflicht möglicherweise dazu genötigt gewesen, auch sich selbst großen Schaden zuzufügen. Wegen dieses persönlichen Interesses wäre sowieso nicht mit einer wahrheitsgemäßen Aussage zu rechnen gewesen.365 Diese Beweggründe sind identisch mit denen für den alten Zeugenausschluss aufgrund von interest.366 Hinzu tritt jedoch noch die
vertreten, dass das Prinzip der legal unity nur eine Chiffre für die Rechtlosigkeit der Ehefrau sei, s. Phipson, Principles, 121922, S. 167; Williams M. L. R. 10 (1947), 16, S. 17. 362 Dieser Topos wurzelt wahrscheinlich in der Bibel. Genesis 2:24 (King James Bible): „Therefore shall a man leave his father and his mother, and shall cleave unto his wife: and they shall be one flesh.“ (Lutherbibel: Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch.“) Und im neuen Testament Matthew 19:6 (King James Bible): „Wherefore they are no more twain, but one flesh. What therefore God hath joined together, let not man put asunder.“ (Lutherbibel: „So sind sie nun nicht zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“); s.a. Williams M. L. R. 10 (1947), 16, S. 16; Lusty U.N.S.W.L.J. 27 (2004), 1, S. 6. 363 Bis 1923 war der einzige anerkannte Scheidungsgrund der Ehebruch der Frau, den nur der Ehemann geltend machen konnte. Ehebruch von Seiten des Mannes wurde toleriert, so dass die Ehefrau außer bei Bigamie oder Inzest keine Möglichkeit hatte, selbst eine Scheidung herbeizuführen. Eine Scheidung wegen Gewalt oder Ehebruch des Mannes war nur durch die Zahlung von 1.500 GBP möglich, was allein sehr reichen Frauen vorbehalten war. Ab 1923 wurden der Ehebruch von Mann und Frau als Scheidungsgrund anerkannt. 1937 kamen die Gründe der ehelichen Gewalt und die Trennung durch den anderen Partner hinzu. 1969 wurde die Scheidung dann weitgehend liberalisiert. Wurde die Ehe geschieden, so hatte der Ehemann das Recht, das gesamte Vermögen der Frau bis auf einen sehr niedrigen Unterhalt und, wenn er dies wollte, etwaige gemeinsame Kinder zu behalten. Eine Trennung ohne das Recht auf Wiederverheiratung war seit 1878 aufgrund einer Verurteilung des Ehemannes wegen Gewaltdelikten gegen die Frau und ab 1902 wegen Trunksucht möglich. S. Wojtczak, Divorce, http://www.historyofwomen.org/ divorce.html, 02.08.2016; Rubin Legal Studies 34 (2014), 631, S. 651. 364 Phillips v Barnet (1876) 1 Q.B.D. 436, 440 (Lush J). 365 Cross M. L. R. 24 (1961), 32, S. 87; Rspr. zum Common Law: Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474, 488 Lord Wilberforce. 366 Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474, 484 ff. Lord Wilberforce.
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emotionale Komponente, dass durch eine erzwungene Aussage in der bis zum Tode geschlossenen Ehe Zwietracht gesät würde.367 Die Frage ist jedoch, warum das englische Recht dann eine Privilegierung nicht zumindest auch für minderjährige Kinder und unverheiratete Töchter, die rechtlich gesehen ebenfalls dem Vater untergeordnet waren,368 vorsah. Eine mögliche Erklärung könnte hier der zeitliche Aspekt der Unterordnung bieten: mit der Volljährigkeit bzw. der Verheiratung endete die Abhängigkeit der Kinder vom Familienvater. Anders jedoch die Situation der Ehefrau: die Scheidung wurde erst im 20. Jahrhundert allgemein möglich. Aber auch die religiöse Wurzel der unity of spouses für die incompetence der Ehegatten könnte erklären, warum Blutsverwandte nicht privilegiert werden. Denn es besteht zwischen nahen Blutsverwandten kein sakramentales Band wie die Ehe.369 Trotzdem könnte – wenn schon religiös argumentiert wird – zur Bestärkung des Verhältnisses zwischen Kindern und ihren Eltern zumindest das 4. Gebot berücksichtigt werden. Die allgemeine Aufforderung, Mutter und Vater zu ehren, scheint einen Ausschluss vom Zeugnis aber weniger zwingend als die rechtliche Einheit der Ehepartner zu gebieten.370 Die Einheit von Mann und Frau wird heutzutage natürlich nicht mehr für die Begründung der s. 80 PACE herangezogen. Nicht nur ist mittlerweile eine Scheidung möglich; auch hat sich die gesellschaftliche Wahrnehmung der Institution Ehe und der rechtlichen Rolle von Ehemann und -frau stark gewandelt. Von einer rechtlichen Einheit kann nicht mehr gesprochen werden.371 b) Eheliche Harmonie Auch wenn Mann und Frau nicht mehr rechtlich als eine Person gesehen werden, besteht doch weiterhin ein schützenswertes Bedürfnis nach Erhalt der ehelichen Harmonie.372
367
Wigmore, Treatise, 21923, S. 1033; Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 313; Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474, 488 Lord Wilberforce; a.A. Lusty U.N.S.W.L.J. 27 (2004), 1, S. 3, er erkennt in der unity of spouses keinen Schutz der ehelichen Harmonie. Dieser Schutz sei unabhängig hiervon gewünscht. 368 Masek, in: Kanner (Hrsg.), Women: From Anglo-Saxon Times to the Present, 1980, S. 141. 369 Wigmore, Treatise, 21923, S. 1032. 370 Siehe aber das jüdische Recht, das aus religiösen Geboten gerade einen Zeugenausschluss für Blutsverwandte ableitet, s. S. 32. 371 Brabyn Crim.L.R. 2011, 613, S. 614. 372 Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474, 485.
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aa) Argumente für den Schutz der Ehe Viel Unterstützung findet daher immer noch der Zweck des Schutzes der ehelichen Beziehung und Harmonie, des ehelichen Friedens und Vertrauens.373 Roberts/Zimmermann sehen als Leitmotiv für s. 80 PACE, dass, wenn das eheliche Verhältnis bereits angegriffen ist, ein Ehepartner keines rechtlichen Drucks mehr bedarf, um auszusagen. Falls allerdings das Paar weiterhin eine gute Beziehung hat, so dürfe der Ehepartner das Zeugnis für die Anklage verweigern um eine intakte Beziehung zu bewahren.374 Für Dennis ist dieser Schutz heute sogar deutlich effektiver umgesetzt, als noch mit der generellen incompetence. Durch die Wahlmöglichkeit können die Ehepartner selbst entscheiden, ob ihr Interesse an der Aufrechterhaltung der Ehe für sie Grund genug für eine Zeugnisverweigerung ist.375 Für diesen Schutzzweck spricht zudem die Begrenzung des privilegierten Personenkreises auf Ehepartner. In R. v Pearce ist zum Ausdruck gekommen, dass das Interesse an der Aufrechterhaltung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft gegenüber dem öffentlichen Interesse an Strafverfolgung nachrangig ist.376 Dass nach der Ehe keinerlei Verweigerungsrecht mehr besteht, wird konsequenterweise damit begründet, dass mit dem Ende der Partnerschaft auch jedes Interesse auf Vertrauenswahrung und Stabilität zwischen den Parteien verschwunden sei, oder zumindest das Allgemeininteresse an einer effizienten Aufklärung der Straftat dann überwiege.377 Ganz klar bekannte sich auch das Criminal Law Revision Committee zu diesem Zweck.378 Die Ehe ist demnach schützenswerter als das Interesse an vollständiger Sachverhaltsaufklärung. 373
Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 342; Munday, Evidence, 62011, Rn. 3; Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–17; Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 2 2010, S. 312; May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17–28; Durston, Evidence, 2 2011, S. 370; dies wurde ebenfalls bereits von Coke als Zweck des Ausschlusses gesehen, s. Coke, Institutes of the Lawes of England, 1628, § 6, zit. nach Holdsworth, History of English Law Vol. IX, 31966, S. 197; Cross M. L. R. 24 (1961), 32, S. 87; Wigmore, Treatise, 21923, S. 1033. Choo vermutet die Wurzel des Schutzes der Ehe in dem Konzept der Heiligkeit der Ehe und dem Bedürfnis, die eheliche Harmonie aufrechtzuerhalten, s. Choo, Evidence, 32012, S. 359; s.a. Hannibal, Law of Criminal and Civil Evidence, 2002, S. 283. Hiergegen wandte sich Bentham 1825 noch entschieden, da er solche Ehen per se nicht für schutzwürdig hielt, s. Bentham, Treatise on Judicial Evidence, 1825, S. 238. 374 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 313. 375 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–17; May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17–28. 376 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 312; May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17–28; Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 77. 377 Diese Argumentation gilt auch für Aussagen über Sachverhalte, die vor und während der Partnerschaft stattgefunden haben, s. Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–18. 378 Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 156.
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Ähnlich äußert sich Brabyn, die jedoch den Fokus auf die soziale Funktion der Ehe legt, die durch den Schutz des ehelichen Vertrauensverhältnisses gefördert werde. Die Ehe sei zwar eine Institution, die immer mehr an Bedeutung verliere, gerade deswegen müsse sie aber geschützt werden. Denn oft sei sie der Garant für ein stabiles soziales Umfeld. Die Gesellschaft insgesamt profitiere von einem intakten Familienzusammenhalt. Eine intakte Ehe bedürfe eines Vertrauensverhältnisses, in das der Staat nicht eindringen dürfe.379 bb) Kritik Auch wenn die h.M. die ratio wohl im Schutz der Ehe sieht, wird viel Kritik hieran geäußert. Bereits Bentham monierte die „heroic dimensions given to the conjugal flame by the sentimentality of English lawyers“.380 Auch Hoskyn wurde kritisiert, da bei Gewaltdelikten innerhalb der Beziehung überhaupt kein Vertrauensverhältnis mehr bestehe, das geschützt werden könne.381 Heute wird auch die Relevanz der Ehe an sich in Frage gestellt. Durch die gesellschaftlichen Veränderungen habe die Ehe einen viel geringeren Stellenwert, der möglicherweise das staatliche Strafverfolgungsinteresse nicht (mehr) überwiege. Auch beinhalte s. 80 PACE keine tatsächliche Vertrauensbeziehung als Tatbestandsmerkmal, was sich daran zeige, dass ein ExEhepartner nach der Scheidung unbeschränkt compellable ist, obwohl auch nach der Scheidung noch ein familiäres Vertrauensverhältnis bestehen kann.382 Die non-compellability sei insgesamt inkohärent geregelt, da andere vertraute Person wie Freunde oder Priester nicht privilegiert seien.383 Die Gefahr einer Falschaussage und die emotionale Belastung aufgrund der Wahl, ob ausgesagt werden soll oder nicht, würden durch s. 80 PACE nicht behoben.384
379 Brabyn Crim.L.R. 2011, 613, S. 616; krit. Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 2010, S. 313; Ormerod Crim.L.R. 2008, 823, S. 825; Hoyano Crim.L.R. 2013, 169, S. 170; Law Reform Commission of Canada, Evidence, 1972, S. 7. 380 Übersetzung der Verfasserin: „heroischen Dimensionen, die der ehelichen Flamme durch die Sentimentalität englischer Juristen gegeben wird“, s. Bentham, zitiert nach Hoyano Crim.L.R. 2013, 169, S. 170. 381 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 312. 382 Hoyano Crim.L.R. 2013, 169, S. 171. Hiergegen wird jedoch eingewandt, dass die Regel nicht in jedem Einzelfall tatsächlich das eheliche Vertrauen schützen müsse, um trotzdem grundsätzlich dem Zweck des Vertrauensschutzes dienen zu können, s. O’Connor v Marjoribanks (1842) 4 Manning and Granger 435, 445. 383 Hoyano Crim.L.R. 2013, 169, S. 171. 384 Hoyano Crim.L.R. 2013, 169, S. 171. 2
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c) Moralische Pflicht des Staates Neben die emotionale Argumentation tritt vereinzelt auch eine ethisch-moralische Erklärung für den Schutz der Ehe: Der Staat stehe in der Pflicht, sich nicht in die Institution Ehe einzumischen.385 Werde jemand zur Aussage gegen seinen Ehepartner gezwungen, so sei dies für den Durchschnittsmenschen ein „abstoßender Gedanke“.386 Früher wurde sogar befürchtet, dass die erzwungene Aussage einer Ehefrau auch die Jury abschrecken und das Verfahren lahmlegen könnte.387 Heute empfinden große Teile der Gesellschaft einen Aussagezwang der Ehepartner jedoch wohl kaum mehr als „abstoßend“.388 2. Ratio der Ausnahme durch specified offences Bereits im 17. Jahrhundert wurde vertreten, dass die strenge Regel der incompetence in manchen Fällen zugunsten der Strafverfolgung aufgehoben werden müsse.389 Ebenso stellen die Ausnahmetatbestände bzw. die Rückausnahmen im geltenden Recht den Versuch eines Ausgleichs zwischen dem Schutz der Ehepartner und anderen schützenswerten Positionen dar.390 Im englischen Recht wurde zumeist nicht der absolute Schutz eines der betroffenen Interessen verfolgt.391 Tatsächlich kennt PACE weitaus mehr Ausnahmen in Form der specified offences als das alte Common Law.392 Mit den specified offences nach s. 80(3) PACE wurde die Hoffnung verfolgt, dass Fälle häuslicher Gewalt bzw. des Kindesmissbrauchs, die eine hohe Dunkelziffer haben, besser verfolgt werden können.393 385 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 312, die dies für unsere modernen Verhältnisse nicht mehr anerkennen; Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–17. 386 Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474, 488, 490 (Übersetzung der Verfasserin); May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17–28; Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 341; fast noch genauso in der 13th ed. 2011; Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 42001, Rn. 8; Cross M. L. R. 24 (1961), 32, S. 87; Watts Wm. & Mary L. Rev. 28 (1986), 583, S. 611. 387 McEwan, Evidence, 21998, S. 97. 388 Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 500; Lord Edmund-Davies in Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474, 501, 507 der darauf hinweist, dass die Rspr. zu R. v Lapworth bis 1979 wahrscheinlich unzählige Male angewandt wurde, ohne „expressions of outrage or resentment“ zu erzeugen. 389 Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 341. 390 May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17–28; Durston, Evidence, 22011, S. 374; Bevan/Lidstone, Guide to PACE 1984, 1985, S. 305. 391 Denn grundsätzlich ist jede Einschränkung der Aufklärungsmöglichkeiten einer Straftat, sei es z.B. durch Zeugenprivilegien oder durch non-compellability, besonders begründungsbedürftig, s. Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 308. 392 Murphy, Practical Approach, 1985, 21985, S. 342. 393 Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 75; Ormerod Crim.L.R. 2008, 823, S. 825. Es sei wünschenswert, jeden möglichen Beweis im Prozess verwerten zu können,
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a) Schutz der Ehegatten vor häuslicher Gewalt Schon vor PACE bestand eine Ausnahme von der incompetence bei häuslicher Gewalt.394 Trotzdem hatten Ehefrauen Anzeigen häufig noch vor der Weiterleitung zum CPS zurückgenommen, sodass mangels Aussichten auf eine Aufklärung des Falles nicht weiter ermittelt wurde.395 So wurde s. 80(3) (a) PACE geschaffen,396 da mit der Zeit das Problembewusstsein für häusliche Gewalt gewachsen war.397 Als Argument für die compellability wird häufig geäußert, dass der Aussagezwang den Ehepartnern weitere Konflikte, ausgelöst durch die Möglichkeit der Zeugnisverweigerung, erspare. So habe der Zeuge ‚keine Wahl‘ als gegen den eigenen Ehegatten auszusagen. Dies würde den Ehepartner, der unter häuslicher Gewalt leidet, auch vor weiteren Repressionen schützen.398 Diese Logik wird jedoch angezweifelt, da es dem angeklagten gewalttätigen Ehegatten wahrscheinlich egal ist, ob die Frau ein Recht zu Schweigen hat oder nicht. Druck würde er so oder so ausüben.399 Wenn ein Opfer häuslicher Gewalt erst Anzeige erstattet, sich aber dann im Prozess weigert, auszusagen, kann dies als contempt of court bestraft werden.400 Doak/McGourlay sehen dieses Vorgehen sehr kritisch, da mit einer
um zum richtigen Urteil zu kommen, und auf der anderen Seite besteht ein gesellschaftliches Bedürfnis, die eheliche Harmonie nur so gering wie möglich zu stören, s. Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 147. 394 Lord Audley’s Case (1632) 3 St Tr 402; May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17–28. 395 HM Crown Prosecution Service Inspectorate, Violence at Home, 2004, S. 22; Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 314; Eine psychologische Analyse der Situation von Opfern häuslicher Gewalt liefert zudem Holmes, die unterschiedliche psychologische Erkenntnisse (erlernte Hilflosigkeit, Depressionen, Stockholmsyndrom und Posttraumatische Belastungsstörung) als Grund dafür anführt, dass diese Opfer fast nie von selbst aussagen würden und ein Wahlrecht, ob sie aussagen, daher immer zu Lasten der Tatsachenaufklärung ging, s. Holmes Hous. L. Rev. 28 (1991), 1095, S. 1111. 396 Die Rückausnahme ist deutlich weitgehender als im Common Law, da nicht nur die competence, sondern eine generelle compellability in diesen Fällen angeordnet wurde, s. Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 314 mit Verweis auf R. v Lapworth [1931] 1 KB 117; Court of Appeal in Hoskyn.v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474. 397 Uglow, Evidence, 22006, S. 347; s. bereits Lord Edmund-Davies in Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner [1979] AC 474, 500; Brownlee J. of Social Welfare & Family Law 12 (1990), 107, S. 110; So haben die Gerichte auch besondere Richtlinien für den Umgang mit häuslicher Gewalt: Sentencing Guidelines Council, Domestic Violence, 2006 und für den Magistrates’ Court, s. Sentencing Guidelines Council, Magistrates’ Court Sentencing Guidlines, 2008, S. 177; s.a. Cassidy Am. J. Crim. L. 33 (2005), 339, S. 339. 398 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 313; Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–17; Choo, Evidence, 32012, S. 359. 399 McEwan, Evidence, 21998, S. 100. 400 Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 75.
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contempt-Strafe nur das Opfer bestraft werde. Der Täter, der häufig Druck auf das Opfer ausübt, käme straflos davon.401 Sinnvoller sei es, dem Opfer die Aussage zu erleichtern oder police statements in weiterem Umfang als bislang als Beweis auch in der Hauptverhandlung zuzulassen.402 Allein die compellability könne die Verfolgung häuslicher Gewalt nicht entscheidend voranbringen. Zwar seien Frauen, die zu einer Aussage gezwungen wurden, darüber teils im Nachhinein glücklich. Wichtiger seien aber eine tatsächlich höhere Verurteilungsrate und angemessene Strafen.403 b) Kinder- bzw. Jugendschutz Auch die Ausnahmen von der incompetence bei Straftaten gegen Kinder gab es schon im Common Law. Mit der aktuellen Ausnahmen von der noncompellability in s. 80(3)(a) und (b) PACE wurde vom Gesetzgeber ein verstärkter Schutz von Kindern bezweckt, der den Vorrang vor dem Schutz der ehelichen Harmonie genießen soll.404 Bei der Frage, warum nur Kinder geschützt werden, spielen zum einen das Gewicht von Straftaten gegen Kinder als besonders wehrlose Personen und zum andern die möglichen Beweisprobleme eine Rolle, da Kinder häufig selbst nicht ausreichend über einen Verbrechensablauf aussagen können.405 Dieses Argument stößt jedoch insofern auf Widerspruch, als dass Mord und Totschlag nicht in den Katalog der specified offences aufgenommen wurden. Sind diese Delikte vollendet, so können die Opfer ebenso wenig aussagen. Ebenso bedürfen alte und behinderte Menschen besonderen Schutzes.406 Allerdings waren im Common Law allein die Schwere einer Tat und die Hilflosigkeit nie der Grund für eine compellability. Hinzu mussten Beweisprobleme treten.407
401
Außerdem scheine die Strategie der Polizei, jeden Fall häuslicher Gewalt unabhängig vom Willen der Opfer zu verfolgen, eine Hemmung der Anzeigebereitschaft hervorzurufen, s. Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 75; Cretney/Davis Brit. J. Criminol. 37 (1997), 75, S. 78. 402 Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 76; Uglow, Evidence, 22006, S. 348; Cretney/Davis Brit. J. Criminol. 37 (1997), 75, S. 78. 403 Cretney/Davis Brit. J. Criminol. 37 (1997), 75, S. 88. 404 Roberts/Zuckerman, Criminal evidence, 22010, S. 314. 405 Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 150; May/ Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17–28. Zudem ist zu bedenken, dass bis zum Criminal Justice and Public Order Act 1994 für Kinder besonders hohe Beweisstandards galten, sodass ihre Aussage häufig durch eine dritte Person bekräftigt werden musste (sog. corrobation) und es so vermehrt zu Beweisnotständen kam, s. Birch/Leng, Blackstone’s Guide to the YJCEA 1999, 2000, S. 145; s.a. Cohen, Spouse-Witnesses, 1913, S. 19. 406 Andrews/Hirst, Andrews & Hirst on Criminal Evidence, 31997, Rn. 8–35; McEwan, Evidence, 21998, S. 97. 407 Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 152.
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Das Criminal Law Revision Committee wollte die compellability des Ehepartners bei Delikten gegen Kinder nur schaffen, wenn die Kinder im Haushalt des Täters leben.408 Der Gesetzgeber nahm diese Einschränkung nicht vor und erfasste alle unter 16-Jährige, da er – wohl bewegt durch tagespolitische Vorkommnisse – den Kinderschutz besonders weitgehend verwirklichen wollte.409 Das stieß auf Kritik, da Beweisschwierigkeiten keine solch weite Ausnahme erforderlich machten. Der Ehepartner habe normalerweise kein besonderes Wissen über Taten gegen fremde Kinder.410 c) Strafverfolgungsinteresse Heutzutage wird auch argumentiert, das staatliche Strafverfolgungsinteresse überwiege generell gegenüber dem Schutzgut der ehelichen Harmonie.411 Dies sei nicht nur die Begründung für die bereits bestehenden specified offences. Gleichzeit begründe das Strafverfolgungsinteresse ein Bedürfnis nach weiteren Rückausnahmen von s. 80 PACE.412 3. Zwischenergebnis Abschließend kann also festgestellt werden, dass die h.M. in England immer noch die Ehe als Schutzzweck der non-compellability ansieht. Allerdings werden die Stimmen immer lauter, die den Schutz der Ehe nicht mehr für wichtig genug halten, um das Allgemeininteresse der Strafverfolgung zu verdrängen. Aus diesem Grund wird mit den specified offences der Schutz von Personengruppen bezweckt, die besonders schutzbedürftig sind – namentlich Ehepartner und Minderjährige.
408
Criminal Law Revision Committee, Evidence 11th Report, 1972, Rn. 150 Wegweisend scheint aus heutiger Sichtweise, dass das Criminal Law Revision Committee 1972 die Schwere von Sexualdelikten gegen Kinder bereits als größer, als diejenige von Gewaltdelikten gegen Kinder einstufte – obwohl dies zu dieser Zeit keineswegs Konsens war. 409 Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 90; Brabyn Crim.L.R. 2011, 613, S. 614. 410 Creighton Crim.L.R. 1990, 34, S. 42, der die aktuelle Regelung als inkonsistent ansieht, da ihr keine erkennbare ratio mehr zu Grunde liege. Dies sei beim Vorschlag des Criminal Law Revision Committee zumindest anders gewesen, auch wenn ihr Vorschlag nach Creightons Ansicht die Strafverfolgung zu stark eingeschränkt hätte. Hiergegen wurde im Gesetzgebungsverfahren jedoch ein Fall eines überfamiliären Pädophilenrings eingewandt, s. Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–18. 411 Munday, Evidence, 62011, Rn. 3; Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 313; Durston, Evidence, 22011, S. 374; May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 17– 28; s.a. Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–17. 412 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–19.
V. Reformdiskussion
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V. Reformdiskussion In England herrscht auch nach der Neuregelung in den 1980er Jahren immer noch eine rege Reformdiskussion. Insgesamt kann man sagen, dass die existierende Regelung auf immer weniger Akzeptanz stößt. 1. Ausweitung auf weitere Personengruppen Nur wenige Stimmen sprechen sich für eine Ausweitung der non-compellability-Regeln auf andere Personengruppen aus.413 Glover/Murphy fordern, dass die Ungleichbehandlung von Ehen und nicht ehelichen Lebensgemeinschaften aufgehoben wird.414 Auch Durston kritisiert das strenge Festhalten am Tatbestandsmerkmal der Ehe, da langjährige Beziehungen, bei denen die Personen zusammen wohnen, mit Ehen vergleichbar seien.415 Brabyn fügt hinzu, dass mit der gegenwärtigen Regelung letztlich der Erhalt eines stabilen Familienumfeldes bezweckt sei und daher auch nichteheliche Lebensgemeinschaften und Eltern-Kind-Beziehungen privilegiert werden müssten.416
413
Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 77 ziehen diesen Schritt in Erwägung, wobei sie einen Anstieg an familiären Missbrauchsfällen in England in den letzten Jahren konstatieren. Der Schutz von Familienmitgliedern gebiete zumindest, dass die Ausnahmen des s. 80(3) PACE aufrechterhalten werden. 414 Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 567. 415 Durston, Evidence, 22011, S. 370; so auch Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13– 19 mit Berufung auf R. v Pearce [2001] EWCA Crim 2834; [2002] 1 Cr.App.R. 39. 416 Brabyn Crim.L.R. 2011, 613, S. 620, die in Fn. 47 auf die deutsche Regelung hinweist; In der US-amerikanischen Diskussion wird dies schon seit 1970 in unterschiedlichen Abstufungen gefordert, s. Coburn Dick. L. Rev. 74 (1969), 599, S. 622. So sieht Ross eine Notwendigkeit allein für die Privilegierung von Eltern, die gegen ihr minderjähriges Kind über vertrauliche Gespräche mit diesem aussagen müssen, s. Ross SLPR 14 (2003), 85, S. 120; Zu möglichen Varianten des Privilegs und einer Übersicht über die häufig geäußerte Kritik s. Covey U. Ill. L. Rev. 1990, 879; Watts Wm. & Mary L. Rev. 28 (1986), 583, S. 607. mit Bezug auf die Forderung nach einem solchen Privilegs der American Bar Assiciation; Ross SLPR 14 (2003), 85, S. 91; Ricafort Ind. L. Rev. 32 (1998), 259, S. 288; Gegen die Einführung eines solchen Privilegs in Amerika aufgrund der zu starken Einschränkung der Justiz In re Grand Jury, 103 F.3d 1146 ff.; Schlueter St. Mary’s L.J. 19 (1987), 35, S. 68; Ausburn Ga. L. Rev. 20 (1985), 173, S. 178; Clark Alb. L. Rev. 45 (1980), 142, S. 151; zu den neueren Entwicklungen s. Stern Geo. L.J. 99 (2010–2011), 605; Auch in Südafrika wird die Einführung eines solchen Privilegs diskutiert, s. Fourie S. Afr. J. Crim. Just. 21 (2008), 259.
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2. Vermutung für eine compellability Choo schlägt eine Regelung de lege ferenda vor, die sich an s. 18(6) und (7) des australischen Uniform Evidence Act 2008417 orientiert. Hiernach besteht eine Vermutung für die compellability Angehöriger und nichtehelicher Lebenspartner, die jedoch widerlegt werden könne, indem die Entscheidung über die Zeugnispflicht in das Ermessen des Richters gestellt wird.418 Beurteilungskriterien sind der mögliche Schaden an der Beziehung, die Schwere der vorgeworfenen Tat und der Stellenwert der Aussage für den Prozess. Die australische Regelung wird auch von anderen Autoren als beispielhaft gelobt, da hierdurch auch (blutsverwandten) Familienmitgliedern und zusammenlebenden Paaren flexibel die Möglichkeit der Zeugnisverweigerung zugebilligt werden kann.419 Brabyn spricht sich gegen die grundsätzliche compellability aus,420 und schlägt stattdessen vor, dass enge Familienmitglieder grundsätzlich nicht compellable sein sollen. Nur in Ausnahmefällen wie bei häuslichen Gewaltund Sexualdelikten, wenn das öffentliche Interesse das Individual- und Kollektivinteresse an der Privilegierung der familiären Beziehung überwiegt, sollten Familienmitglieder für compellable erklärt werden können.421 3. Ausweitung der specified offences Einige Stimmen plädieren dafür, dass der Katalog der specified offences ebenfalls Tötungsdelikte und gegebenenfalls weitere schwere Verbrechen erfassen solle, bei denen das Opfer – parallel zu Delikten gegen Kinder – nicht mehr in der Lage sei, selbst den Täter zu überführen.422 Andere fordern 417
Diese Regelung gilt nur in manchen Bundesstaaten, s. Stuesser IJEP 16 (2012), 323, S. 327; Zur Entwicklung in Australien, s. Farber Tex. Int’l L. J. 46 (2010–2011), 109. 418 Choo, Evidence, 32012, S. 359; Dies wurde auch bereits 1990 von Creighton vorgeschlagen, der anmerkt, dass dies sicherlich keine Garantie gegen Falschaussagen oder mangelnde Kooperation im Verfahren ist, trotzdem aber gerechter sei, als eine generelle noncompellability, s. Creighton Crim.L.R. 1990, 34, S. 36. 419 Cross/Tapper, Cross on Evidence, 61985, S. 202 mit Bezug auf Research paper No 5 ch 7,draft Code, s 57. Als weiteres Beispiel für ein Common Law-Land, in dem sich die competence-Regel in Bezug auf Eltern und ihre Kinder mit der Zeit zu ihren Gunsten geändert hatten, führen Cross/Tapper zudem die clause 4 der israelischen Evidence Ordinance 1971 an; Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 77; zustimmend auch Dwyer IJEP 2003, 191, S. 196. 420 Brabyn Crim.L.R. 2011, 613, S. 619. 421 Brabyn Crim.L.R. 2011, 613, S. 622. 422 Cross/Tapper, Cross on Evidence, 61985, S. 200; Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 315; Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–19; Creighton Crim.L.R. 1990, 34, S. 35 Diesem Argumentationsansatz folgte der Bundesstaat Queensland, Australien, mit der umgekehrten Logik: So waren Ehepartner bei leichten Straftaten compellable und durften bei schweren Straftaten schweigen. Die Argumentation ging dort dahin, dass
V. Reformdiskussion
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eine Ausweitung der specified offence auf andere gefährdete Personenkreise wie ältere Menschen, ethnische Minderheiten und sozial oder wirtschaftlich Hilfsbedürftige. Allein Kinder zu schützen, sei willkürlich.423 4. Verwertbarkeit von hearsay evidence Spencer sieht die effektive Verfolgung schwere Straftaten momentan behindert. Ehepartner sollten zwar nicht zur Aussage gezwungen werden. Die beste Lösung und geringste Belastung sei für die Ehe die Verwertung einer früheren Aussage, so wie es zum Teil bereits durch s. 114(d) CJA getan wird. Dafür müsse aber auch die polizeiliche Zeugenbefragung reformiert werden, sodass bereits in der Ermittlungsphase eine Befragung durch den Parteivertreter im Sinne von Art. 6 EMRK möglich wäre.424 5. Abschaffung der Privilegierung Der überwiegende Teil in der Literatur, der sich zu s. 80 PACE äußert, fordert dessen Abschaffung.425 Dies wird zumeist damit begründet, dass der Schutz der ehelichen Harmonie heutzutage keinen hohen Stellenwert mehr genieße.426 Das staatliche Strafverfolgungsinteresse verlange eine allgemeine Zeugnispflicht.427 Die gesellschaftlichen Verhältnisse hätten sich auch seit besonders bei schweren Straftaten die Belastung einer erzwungenen Überführung des Ehepartners hoch sei. Der Großteil der Staaten, die ein Ausnahmemodell abhängig von der begangenen Tat haben, verfolgen jedoch den ‚englischen‘ Ansatz, s. Harris Queensland U. Tech. L.& Just. 3 (2003), 274, S. 284. 423 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 314 mit dem Verweis auf das Beispiel aus Tapper/Cross, Cross and Tapper on Evidence, 122010, S. 251: „[T]he accused’s wife is compellable against him if he kissed a 15-year-old […] but not if he raped and murdered a 16-year-old.“ (Übersetzung der Verfasserin: „Die Ehefrau des Angeklagten ist gegen ihn compellable, wenn er eine 15-jährige küsst […] aber nicht, wenn er eine 16-Jährige vergewaltigt und ermordet hätte.“); So auch Uglow, Evidence, 22006, S. 349; Hoyano Crim.L.R. 2013, 169, S. 172. 424 Spencer C.L.J. 2003, 250, S. 251. 425 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 313; McEwan, Evidence, 21998, S. 99; Creighton Crim.L.R. 1990, 34, S. 42, der eine Entwicklung hin zur generellen compellability jedenfalls begrüßen würde; Glover/Murphy, Murphy on Evidence, 132013, S. 570 mit Bezug auf EGMR, Urteil v. 03.04.2012, Van Der Heijden v Die Niederlande (Nr. 42857/05); ebenso Stuesser IJEP 16 (2012), 323 Eine ähnliche Tendenz ist auch in der restlichen Common Law-Welt zu beobachten: So wurde auch in Neuseeland jegliche Privilegierung mit s. 71 Evidence Bill 2006 abgeschafft. 426 Durston, Evidence, 22011, S. 373, der jedoch die Abschaffung einer Privilegierung als eine mögliche Reaktion auf die veränderten sozialen Verhältnisse ansieht; Ormerod Crim.L.R. 2008, 823, S. 825; Law Reform Commission of Canada, Evidence, 1972, S. 6. 427 Choo, Evidence, 32012, S. 359; Hoyano Crim.L.R. 2013, 169, S. 172; Doak/ McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 75, die von einem nicht nachvollziehbaren ‚Vetorecht‘, des Zeugen gegen die Bestrafung seines Ehepartners sprechen. Nach Roberts/
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D. England und Wales – Non-Compellability
1984 nochmals stark verändert. Die Scheidungsrate ist deutlich angestiegen und zwei Drittel der Engländer sehen keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen Ehen und unehelichen Partnerschaften.428 So fragen Doak/ McGourlay, ob nicht durch die Abschaffung von s. 80 PACE alle Partner derselben sozialen und rechtlichen Zeugnispflicht unterliegen sollten. Zeugen könnten dann nur noch entscheiden, ob sie aussagen oder sich durch ein Schweigen strafbar machen.429 Nach demselben Prinzip werde beispielsweise mit der Aussagepflicht von Priestern verfahren.430 Auch Dennis hält die non-compellability wegen der Auswahl der specified offences und des privilegierten Personenkreises für inkonsistent und fordert die Abschaffung jeglicher Privilegierungen.431 Dem stimmt Choo zu und fügen hinzu, dass zeugnisunwillige Ehepartner außer bei schweren Straftaten durch die Anklage sowieso in der Praxis nicht zu einer Aussage gezwungen werden würden.432 Kritisiert wird zudem, dass durch s. 80 PACE selbst die Verteidigung eines Mitangeklagten dem ehelichen Frieden untergeordnet werde. Denn die noncompellability gilt grundsätzlich nicht nur für die Anklage, sondern auch für die Verteidigung eines Mitangeklagten, wodurch dessen Recht auf eine effektive Verteidigung empfindlich beeinträchtigt werden könne.433 Für Roberts/Zuckerman ist die Begründung der non-compellability nicht nur nicht überzeugend, sondern sogar falsch. Die Argumentation des Gesetzgebers bleibe unklar, wodurch die Regelung planlos sei. So würden Ehepartner in Zivilverfahren zumeist – anders als im Strafverfahren – wie jeder andere Zeuge behandelt. Eine solch unterschiedliche Behandlung könne nicht gerechtfertigt werden.434 Das Parlament solle den in s. 80 PACE getroffenen Interessenausgleich erneut überprüfen, obwohl sich momentan wohl keine Mehrheit für eine Abschaffung finden würde.435
Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 315 bestünde daher auch eine Abneigung gegen die non-compellability-Regeln in der Rspr. Hierfür verweisen sie auf R. v L. (R) [2008] 2 Cr App R 18, [2008] EWCA Crim 973, [31]; R. v Pearce [2002] 1 Cr.App.R. 39, [2001] EWCA Crim 2834. 428 Park/Bryson/Clery/Curtice/Phillips, British Social Attitudes, 2013, S. 7. 429 Doak/McGourlay, Evidence in Context, 32012, S. 77. 430 Butler v Moore (1802) 2 Sch & Lef 249. 431 Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 13–19. 432 Choo, Evidence, 32012, S. 359. 433 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 315; Creighton Crim.L.R. 1990, 34, S. 41. 434 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 316. 435 Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, 22010, S. 315 die im Parlament aber auch keine große Anhängerschaft des Privilegs erkennen. Die Ausweitung von s. 80 PACE auf civil partners sei nicht als Zeichen einer besonderen Affinität für die Zeugnisverweigerung zu verstehen.
VI. Fallstudie Beinahetreffer
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6. Kein Reformbedarf Die einzige Stimme, die explizit keinen Reformbedarf sieht, hält die bestehende Regelung für einen geglückten Kompromiss zwischen der Ehe und dem öffentlichem Interesse an der Verfolgung schwerer Verbrechen.436 Sicherlich gibt es aber auch andere, die sich zum Reformbedarf nicht äußern, da sie mit der bestehenden Lage zufrieden sind.
VI. Fallstudie Beinahetreffer Für die Untersuchung des Umgangs des englischen Rechts mit dem sog. Beinahetreffern wird zunächst die Entwicklung des DNA-Beweises in England dargestellt (1.). Danach wird auf den Beinahetreffer bzw. das familial searching eingegangen (2.). 1. Entwicklung des DNA-Beweises in England Das Vereinigte Königreich war eines der ersten Länder, in dem der DNABeweis zur Verbrechensaufklärung verwendet wurde. Auch dort war die Technik der Gesetzgebung voraus. So musste 1987 im ersten Fall, der durch DNA-Spuren gelöst wurde, auf gesetzliche Regelungen zurückgegriffen werden, die in keiner Weise auf den DNA-Beweis zugeschnitten waren.437 Bereits 1988 wurde Colin Pitchfork in England als erster Mensch aufgrund einer DNA-Probe eines Mordes überführt und verurteilt.438 In den Ermittlungen zu diesem Fall wurde gleichzeitig der erste Reihengentest durchgeführt und der erste Beschuldigte durch einen DNA-Abgleich entlastet. DNA-Proben konnten nach der damaligen Rechtslage nur mit Einverständnis des Beschuldigten und auch nur für einen begrenzten Katalog von Straftaten genommen werden. 1994 wurden ss. 54, 55 und 56 PACE zugunsten von DNA-Tests deutlich ausgeweitet, sodass der Katalog möglicher Anlasstaten nun im Grunde alle erdenklichen Straftaten erfasste und Speichelproben auch gegen den Willen des Beschuldigten entnommen werden konnten.439 Diese Erweiterung geschah in Vorbereitung der 1995 in Betrieb genommen National DNA Data-
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Hannibal, Law of Criminal and Civil Evidence, 2002, S. 283. Sog. Melias Case s. Wade, DNA Crime Investigations, 2009, S. 29. All dies geschah auf Grundlage der s. 64 PACE 1984, die jedoch nicht auf DNA-Spuren zugeschnitten war, s. Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 614; Carling Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 31 (2008), 487, S. 492. 438 Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 613; Wade, DNA Crime Investigations, 2009, S. 30; McCartney Brit. J. Criminol. 46 (2006), 175, S. 179. 439 Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 614. 437
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D. England und Wales – Non-Compellability
base (NDNAD).440 Zu diesem Zeitpunkt mussten DNA-Identifizierungsmuster von Personen, gegen die nicht weiter ermittelt wurde oder die freigesprochen wurden, nach den Ermittlungen wieder gelöscht werden.441 Ein Verstoß hiergegen wurde in dem Fall Attorney General’s Reference No 3 of 1999 beanstandet.442 Anstatt jedoch einen rechtswidrig erlangten Beweis für unverwertbar zu erklären, stellte das House of Lords fest, dass es im Common Law kein Prinzip gebe, nach dem rechtswidrig erlangte Beweise nicht verwendet werden dürften.443 Als weitere Reaktion wurde die Pflicht aufgehoben, die DNA-Profile von Unschuldigen von Amts wegen zu vernichten.444 All dies führte zu einer erdenklich weiten Regelung der Probenentnahme und -speicherung.445 2003 wurde die Probenentnahme von jeder festgenommenen Person ermöglicht, die einer recordable offence verdächtigt wurde, unabhängig davon, ob später gegen sie überhaupt ermittelt wurde.446 Dieses sog. DNA expansion programme wurde von Juristen und der Öffentlichkeit hauptsächlich positiv wahrgenommen und wenig kritisiert.447 Erst 2009 wurde diese Rechtslage durch den EGMR in S und Marper v Vereinigtes Königreich als zu pauschal, wahllos und für eine demokratische Gesellschaft unnötig moniert.448 Dies führte zu erbitterter Kritik an der Rechtsprechung des EGMR.449 Nach langer Diskussion wurde 2012 letztendlich der Protection of Freedoms Act verabschiedet, der abermals die Regelungen von PACE 1984 modifizierte. Hierbei wurden strengere zeitliche Grenzen für die Speicherung von Profilen und die Möglichkeit der Löschung
440 Greely/Riordan/Garrison/Mountain JLME 34 (2006), 248, S. 250. Die massive Speicherung von DNA-Profilen wird jedoch zum Teil als EMRK-widrig kritisiert. S. Swoboda StV 2013, 461, S. 462. 441 Zander, Police, 2013, Rn. 324. 442 Attorney General’s Reference No 3 of 1999 [2001] 2 AC 91. 443 May/Powles, Criminal Evidence, 52004, 10–05; R. v Leathem (1861) 8 Cox CC 498. 444 S. 82(2) Criminal Justice and Police Act 2001; s.a. Williams/Johnson JLME 33 (2005), 545, S. 547. 445 Zander, Police, 2013, Rn. 325. 446 CJA 2003; Carling Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 31 (2008), 487, S. 492; Williams/Johnson JLME 33 (2005), 545, S. 549. 447 McCartney Brit. J. Criminol. 46 (2006), 175; Martin ICS 2004, 1, S. 2; Mennell/ Shaw Forencis Sci Int 2006, 7; dies stellt Carling insbesondere in Bezug auf privacy rights fest, s. Carling Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 31 (2008), 487, S. 496; in der Gesellschaft wurde das Programm positiv aufgenommen, s. Williams/Johnson JLME 33 (2005), 545, S. 552; krit. Levitt Brit. Med. Bull. 83 (2007), 235, S. 242. 448 EGMR, Urteil vom 04.12.2008, S. und Marper v Vereinigtes Königreich (Nr. 30562/04 und 30566/04), was wohl der einzige Grund für eine Einschränkung des DNABeweises ist, s. Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 647. 449 S. z.B. Swergold B. C. Int’l & Comp. L. Rev. 33 (2010), 179; Pro EGMR jedoch Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 625.
VI. Fallstudie Beinahetreffer
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von Daten nicht verurteilter Personen und Jugendlicher eingeführt.450 Am 31. März 2015 waren im NDNAD 5.766.369 DNA-Profile von Personen und 486.691 DNA-Tatortspurenprofile gespeichert.451 Großbritannien verfügt damit im Verhältnis zur Einwohnerzahl über die weltweit größte DNA-Datenbank.452 2. Beinahetreffer nach englischem Recht Im Folgenden wird der Beinahetreffer nach englischem Recht dargestellt. a) Rechtslage Schon 2002 wurde in England ein – allerdings bereits verstorbener – Täter durch einen partial match identifiziert. Dies wird als erster Fall überhaupt geführt, indem die verwandtschaftliche Ähnlichkeit der Gene für die Strafverfolgung verwendet wurde.453 2003 wurde aufgrund eines partial match Jeffrey Gafoor eines 15 Jahre zurückliegenden Mordes überführt.454 2004 wurde dann die erste Person aufgrund eines Beinahetreffers durch ein gezieltes familial searching überführt.455 Damals wurde eine Liste von 25 Personen erstellt, deren DNA-Profile dem des Täters sehr ähnlich waren. Der Täter konnte dann durch das Profil seines Bruders ermittelt werden.456 Nicht jede Suche nach Verwandten führte aber zu einem Täter. So wurden zwischen 2004 und 2006 120 familial searchings durchgeführt, die aber nur in 15 Fällen zu einem Ermittlungserfolg führten.457 Von Januar 2009 bis Dezember 2015 waren 450
S. 14 Protection of Freedoms Act 2012. Home Office, National DNA Database Strategy Board Annual Report 2014–15, 2015, S. 6. 452 Forensic Science and Pathology Unit, Forensic Science and Pathology Unit 2005, 10/2005, S. 4. 453 Murphy Mich. L. Rev. 109 (2010), 291, S. 301; McCartney Brit. J. Criminol. 46 (2006), 175, S. 181; Williams/Johnson JLME 33 (2005), 545, S. 554; Curran/Buckleton Science & Justice 2008, 164, S. 164. Allerdings scheint es in Deutschland bereits drei Jahre zuvor zu einem solchen Fall gekommen zu sein, s. S. 106. 454 Savill, Nephew’s DNA traps Killer 15 Years Later, http://www.telegraph.co.uk/ news/uknews/1434910/Nephews-DNA-traps-killer-15-years-later.html, 30.03.2016; PhamHoai/ Crispino/Hampikian J. Forensic Sci. 59 (2014), 816, S. 816; Williams/Johnson JLME 33 (2005), 545, S. 554 In 2003 ein weiterer (aktueller) Mordfall durch diese Ermittlungsmethode aufgeklärt, s. Carling Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 31 (2008), 487, S. 496. 455 The Economist, The sins of the fathers, http://www.economist.com/node/2611138, 14.03.2016. 456 Fisher/Tilstone/Woytowicz, Introduction to Criminalistics, 2009, S. 280. 457 National DNA Database Strategy Board, National DNA Database Annual Report 2005–2006, 2006, S. 20; ähnliche Zahlen werden aus Kalifornien berichtet, wo in 9 von 10 Fällen die Suche kein Ergebnis bringt, s. Murphy Crim. Just. 27 (2012–2013), 19, S. 22. 451
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D. England und Wales – Non-Compellability
es dann ‚nur noch‘ 171 Fälle des familial searching.458 Diese Zahlen könnten rechtlich gesehen jedoch deutlich höher sein.459 Das familial searching wird aufgrund seiner hohen Kosten nicht routinemäßig bei jeder Straftat angewandt, sondern ist auf „most serious crimes“ beschränkt, wobei in jedem Fall eine Genehmigung des NDNAD Strategy Boards erteilt werden muss.460 Es gibt allerdings keinen klaren Katalog, der festlegt, was als „most serious crime“ behandelt werden soll.461 Zwar existiert ein Leitfaden der Association of Chief Police Officers über den Umgang mit familial searching, dieser ist aber – wohl aus ermittlungstaktischen Gründen – nicht öffentlich zugänglich.462 Im englischen Recht sind der Beinahetreffer (partial match bzw. near match) und vor allem das gezielte Suchen nach Beinahetreffern (familial searching) heutzutage gängige Praxis.463 Rechtsgrundlage für eine solche Praxis ist s. 63(T) PACE 1984. Diese Norm ist wenig detailliert und gibt nicht vor, was genau mit den Proben, wenn sie einmal rechtmäßig entnommen wurden, gemacht werden darf. So kommt es, dass die Verwendung für das familial searching auf keinerlei rechtliche Hürden stößt.464 Daher ist die 458
Zu den Zahlen: Home Office, National DNA Database Strategy Board Annual Report 2014–15, 2015, S. 3; Home Office, National DNA Database Strategy Board Annual Report 2013–14, 2014, S. 5; Home Office, National DNA Database Strategy Board Annual Report 2012–13, 2013, S. 6; Home Office/The Rt Hon Lord Taylor of Holbeach CBE, National DNA Database Annual Report 2011–2012, 2012, S. 22; National DNA Database Strategy Board, National DNA Database 2009–2011, 2012, S. 28; Teils wird ingesamt bis Mai 2011 von an die 200 familial searches gesprochen, durch die 40 schwere Verbrechen aufgeklärt werden konnten, s. Federal Bureau of Investigation, Familial Searching, https://www.fbi. gov/about-us/lab/biometric-analysis/codis/familial-searching, 30.03.2016; Haimes sieht allerdings die Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte, s. Haimes JLME 34 (2006), 263, S. 273; krit. nur Williams/Johnson JLME 33 (2005), 545, S. 555. Sie fordern, dass das familial searching klareren Regeln unterliegen und bestimmte potentielle Probleme, wie die Kenntnis über seine Abstammung schon im Vorhinein geregelt sollten. 459 Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 642; Williams/Johnson JLME 33 (2005), 545, S. 554. 460 Home Office, National DNA Database Strategy Board Annual Report 2014–15, 2015, S. 3. 461 S. aber Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 643, der eine Anlasstatkatalog für das familial searchings fordert, wobei er gerade auf die Schwierigkeit der Grenzziehung hinweist, aufgrund derer der britische Gesetzgeber bereits die Voraussetzungen an die Löschung von DNA-Profilen drastisch gesenkt hat, um Ermittlungen zu erleichtern. 462 Williams/Johnson JLME 33 (2005), 545, S. 555; Haimes JLME 34 (2006), 263, S. 272; National Policing Improvement Agency, National DNA Database Equality Impact Assessment Stage One, 2007, S. 6; Greely/Riordan/Garrison/Mountain JLME 34 (2006), 248, S. 256. 463 Gabel Hastings Women’s L.R. 21 (2010), 3, S. 21; Home Office, National DNA Database Strategy Board Annual Report 2013–14, 2014, S. 5. 464 Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 642.
VI. Fallstudie Beinahetreffer
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Befürchtung berechtigt, dass – wenn DNA-Untersuchungen billiger werden – diese Methode immer populärer wird.465 Es gibt in England weder einen grundsätzlichen Gesetzesvorbehalt noch eine Zweckbindung bei der Datenerhebung und -verarbeitung.466 Deshalb ist es problemlos möglich, alle vorhandenen DNA-Profile ohne vorherige Belehrung des Probanden hierüber und ohne dass die Probe für diesen Zweck entnommen wurde, in das familial searching einzubeziehen. b) Kritik Kritik am familial searching kommt nur sehr vereinzelt auf. So herrscht die Meinung im gesamten Common Law-Raum, dass das familial searching Angehörige nicht in ihrer Privatsphäre beeinträchtigen. Allein das Unwohlsein, das so mancher bei dieser Ermittlungsmethode empfinde, könne kein Grund für ihr Verbot sein.467 Als Problem wird indes gesehen, dass bereits 2006 die DNA von 37 % der männlichen schwarzen Bevölkerung und nur von unter 10 % der männlichen kaukasischen oder asiatischen Bevölkerung des Vereinigten Königreichs in der NDNAD gespeichert war.468 Dies führt zu einer Diskriminierung, da schwarze Täter mit einer höheren Wahrscheinlichkeit durch ihre Familienmitglieder überführt werden als Mitglieder anderer Ethnien.469 Als Lösung wird in England eine Datenbank diskutiert, die schlicht die gesamte Bevölkerung und sogar Personen, die sich nur kurze Zeit im Vereinigten Königreich aufhalten, erfasst, was jedoch mit einem hohen administrativen und finanziellen Aufwand verbunden wäre.470 Für diesen Ansatz machte sich auch der damalige Premierminister Tony Blair stark, der sagte, dass er keinen Grund sehe, der gegen eine universelle DNA-Datenbank spräche, aus der niemand je gelöscht werde.471 Hierfür spräche auch die Mög-
465 Williams/Johnson JLME 33 (2005), 545, S. 555; Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 642. 466 May/Powles, Criminal Evidence, 52004, Rn. 10-07; R. v Apicella (1985) 82 Cr.App.R. 295. 467 Greely/Riordan/Garrison/Mountain JLME 34 (2006), 248, S. 256; so auch im Endeffekt Maguire/McCallum/Storey/Whitaker Forensic Sci Int Genet 8 (2014), 1, S. 2. 468 Randerson The Guardian 05.01.2006; Wah Whittier L. Rev. 29 (2007), 909, S. 952 sieht dies jedoch nicht als Problem des familial searching, sondern des Strafverfolgungssystems, das eine effektive Ermittlung durch familial searching nicht behindern dürfe. 469 Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 622. 470 BBC News, All UK ‚must be on DNA database’, http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk/6979 138.stm, 31.03.2016. 471 Morris, A ‚Chilling‘ Proposal for a Universal DNA Database, http://www.indepen dent.co.uk/news/uk/crime/a-chilling-proposal-for-a-universal-dna-database-401503.html, 31.03.2016.
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D. England und Wales – Non-Compellability
lichkeit der Entlastung Unschuldiger.472 Bislang erfährt dieser Vorschlag politisch jedoch wohl keine große Unterstützung.473 Vereinzelt wird angebracht, dass das familial searching auch schwerwiegende Auswirkungen auf die Familie haben kann, wenn aufgedeckt wird, ob eine Verwandtschaft zwischen zwei Personen besteht. Zudem müsse auch das Recht, seine Abstammung eben nicht kennen zu wollen, beachtet werden.474 Haimes merkt als einzige in der gesamten britischen Diskussion an, dass das Verhältnis zwischen Angehörigen dadurch gestört werden kann, wenn der eine den anderen den Strafverfolgungsbehörden ‚ans Messer liefert‘.475 c) Übertragbarkeit auf das deutsche Recht Zur strafprozessrechtlichen Problematik des Beinahetreffers, wie wir sie in Deutschland in Bezug auf familiäre Privilegien antreffen, kann das englische Recht keine Hilfestellung geben. Zwar gibt es mit der Privilegierung von Ehepartnern ein Rechtsinstrument, das der Wirkweise des § 52 StPO ähnelt. Allerdings kann beim familial searching überhaupt kein Problem mit diesem Privileg auftauchen, da Ehepartner gerade nicht blutsverwandt sein sollten und somit überhaupt nicht die Gefahr einer unwillentlichen Überführung des anderen besteht. Das englische Beispiel kann uns allerdings zeigen, dass diese Ermittlungsmethode in manchen Fällen äußerst effektiv ist. Eine Lösung aus dem Dilemma der familiären Verweigerungsrechte in Zeiten moderner Technik kann es jedoch nicht aufzeigen – es sei denn, eine komplette Abschaffung des Angehörigenschutzes würde als Lösungsvorschlag für Deutschland akzeptiert.
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Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 624; für die USA s. Wah Whittier L. Rev. 29 (2007), 909, S. 957. 473 Williams/Johnson JLME 33 (2005), 545, S. 550; Nydick Emory Int’l L. Rev. 23 (2009), 609, S. 641; Morris, A ‚Chilling’ Proposal for a Universal DNA Database, http:// www.independent.co.uk/news/uk/crime/a-chilling-proposal-for-a-universal-dna-database401503.html, 31.03.2016. 474 Haimes JLME 34 (2006), 263, S. 269; dieser Kritik schließen sich Levitt und Murphy an, s. Levitt Brit. Med. Bull. 83 (2007), 235, S. 239; Murphy Mich. L. Rev. 109 (2010), 291, S. 319. 475 Haimes JLME 34 (2006), 263, S. 269; aus der australischen Sichtweise mahnt Parven den Schutz der Familie als wichtiges gesellschaftliches Interesse an, s. Parven U.W. Sydney L. Rev. 17 (2013), 41, S. 58; für die USA s. Murphy Mich. L. Rev. 109 (2010), 291, S. 320; Suter Harv. J. L. & Tech. 23 (2009), 309, S. 364; Barca Hastings L. J. (Hastings Law Journal) 64 (2012-2013), 499, S. 522.
VII. Zusammenfassung
243
VII. Zusammenfassung Das englische Recht sieht somit allein eine Sonderregel für Ehegatten und eingetragene Lebenspartner, nicht aber für Blutsverwandte oder andere Angehörige vor, die nicht verfassungsrechtlich verankert ist. Die Ehegattenprivilegierung hat allerdings eine lange Tradition im Common Law. In den letzten Jahrzehnten wurde diese Tradition jedoch immer kritischer gesehen und deren Reichweite wurde immer enger gefasst. So gilt seit 1984 eine differenzierte Regelung, die vor allem eine Lösung für das Problem der häuslichen Gewalt aber auch der Einschränkung von Beschuldigtenrechten bieten soll. Der Stellenwert der Zeugenprivilegierung hat auch durch die Ausnahmen beim hearsay-Beweis durch die Rechtsprechung abgenommen und ist insgesamt nur noch als nachrangig anzusehen.
E. Rechtsvergleich Es kann zunächst festgestellt werden, dass alle drei dargestellten Rechtsordnungen eine allgemeine Zeugnispflicht kennen, die für Angehörige auf die eine oder andere Weise durchbrochen wird. Für die Rechtsvergleichung ist zunächst zu klären, welche Personen die unterschiedlichen Rechtsordnungen schützen (I.), um dann in einem zweiten Schritt die grundsätzliche Regelungswirkung der Sonderregeln zu untersuchen (II.). Hier schließt sich ein Vergleich bestimmter Aspekte der Privilegierungen an (III.). Sodann werden die Sanktionen für unkooperative Zeugen (IV.) und die praktische Relevanz der Sonderregeln für Angehörigen (V.) verglichen. Als nächster Punkt werden die verfassungsrechtlichen Wurzeln (VI.) und die ratio untersucht (VII.), die beide Aufschluss über den Stellenwert der Zeugeninteressen im strafrechtlichen Gesamtgefüge geben können (VIII.). Daran schließt sich der Vergleich des Beinahetreffers (IX.). Zuletzt wird in einem zusammenfassenden und abschließenden Teil eine Bewertung der nationalen Regelungssysteme vorgenommen (X.).
I. Persönlicher Schutzbereich Grundsätzlich kann in allen drei untersuchten Rechtsordnungen eine Sonderbehandlung der Aussage von Familienmitgliedern beobachtet werden. 1. Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich Ein bedeutender Unterschied besteht zwischen den kontinentalen Rechtsordnungen Deutschlands und Frankreichs, deren Sonderregeln für die Familie sich auf einen fast identischen Personenkreis beziehen, und dem englischen Recht. Tatsächlich unterscheidet sich der durch das deutsche Recht privilegierte Personenkreis von dem des französischen Rechts allein in Bezug auf Verlobte, Verwandte in der Seitenlinie im 3. Grad und verschwägerte Personen nach der Scheidung, die in Deutschland einbezogen sind, während sie von der französischen Regelung nicht erfasst werden.1 Interessanterweise konzentrieren sich die Stimmen in Deutschland, die sich für eine Einschrän1
Zur deutschen Rechtslage s. S. 7 f., zur französischen s. S. 131 ff.
I. Persönlicher Schutzbereich
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kung des Zeugnisverweigerungsrechts aussprechen, auch auf diese Personen, indem sie fordern, Verlobte, entfernte Verwandte, Verschwägerte nach der Scheidung der verbindenden Ehe und sogar den geschiedenen Ehegatten selbst aus dem Schutzbereich auszunehmen.2 Im Kern ist der persönliche Schutzbereich in Deutschland und Frankreich daher sehr ähnlich und könnte sich sogar weiter annähern. 2. Andersartige Regelung in England Ganz anders ist die Lage in England, wo nur Ehegatten und eingetragene Lebenspartner privilegiert behandelt werden.3 Die Konzentration auf Ehepartner beruht historisch auf dem Dogma der unity of spouses. Dieser Gedanke, der vor allem die Unterordnung der Frau unter ihren Mann bewirkte, existierte schon im frühen Common Law. Aus der rechtlichen Einheit der Ehepartner, aus der es in Ermangelung der Möglichkeit einer Scheidung kein Entrinnen gab, entstand zwangsläufig eine Interesseneinheit, aufgrund derer man eine wahrheitsgemäße Aussage weder erwarten noch verlangen konnte.4 Denselben Konflikt mit ehelichen Interessen sah und sieht auch das kontinentale Recht, ohne sich freilich auf Eheleute zu beschränken. 3. Historische Erklärung der Unterschiede Die Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich lassen sich durch die gemeinsamen römischrechtlichen Wurzeln erklären. Schon im römischen Recht wurden nahe Familienmitglieder vom Zeugnis ausgeschlossen und entfernte Familienangehörige privilegiert behandelt. Dies setzte sich auch im kanonischen Recht weiter fort, das sowohl im heutigen Deutschland und Frankreich5 als auch in England6 angewandt wurde. Abgesehen vom kanonischen Recht setzte sich in England die Rezeption allerdings nicht so erfolgreich und vor allem nicht so nachhaltig wie in Kontinentaleuropa durch.7 Die h.M. im der Rechtsgeschichte sieht den Grund hierfür in der Politik Heinrichs II. im 12. Jahrhundert8 Bis zu diesem Zeitpunkt galten sowohl im heutigen Frankreich und Deutschland als auch auf den britischen Inseln lokal geprägte germanische Stammesrechte. Diesen war gemein, dass ihr Zeugenbeweis nicht auf die Rekonstruktion von Tatsachen, sondern auf die Ehre der beteiligten Parteien abzielte. Dieser germanische Rechtsgang wurde in Eng2
Zur Krikt am persönlichen Schutzbereich in Deutschland s. S. 86 ff. Zum pers. Schutzbereich in England s. S. 185 ff. 4 Zum Dogma der unity of spouses s. S. 226 ff. 5 Zum kanonischen Recht s. S. 29 f. 6 Wigmore, Treatise, 21923, S. 989; Zweigert/Kötz, Einführung, 31996, S. 191. 7 Wigmore, Treatise, 21923, S. 989. 8 Caenegem, Birth of the English Common Law, 21988, 100 ff. 3
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E. Rechtsvergleich
land allerdings bereits im 12. Jahrhundert durch eine staatlich-obrigkeitliche Rechtsordnung verdrängt.9 Zu diesem Zeitpunkt hatten andere europäische Herrscher den Weg der organisierten, teils sogar zentralisierten Staatlichkeit noch nicht eingeschlagen, sodass Heinrich II. ein selbstständiges Rechtssystem entwickeln musste und, da die Rezeption zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingesetzt hatte, nicht auf das bereits bestehende System des römischen Rechts zurückgreifen konnte.10 Dies begründete die eigenständige Entwicklung des Common Law11 und ist daher auch eine Erklärung für die NichtÜbernahme der vielfältigen familiären Zeugenausschlüsse des römischen Rechts. 4. Erklärungsansätze der englischen Wissenschaft Tatsächlich wird in der modernen englischen Literatur kaum bemerkt, dass Blutsverwandte – insbesondere Eltern und Kinder – im Gegensatz zu Ehepartnern nicht privilegiert werden und nur verhältnismäßig wenige Stimmen sprechen sich für die Erweiterung der non-compellability-Regeln auf nahe Blutsverwandte aus.12 In der Literatur findet sich keinerlei Erklärung für diese Ungleichbehandlung. Plausibel scheint der Gedanke, dass in England genauso wie im kontinentaleuropäischen Recht der Ausschluss vom Zeugnis ursprünglich nicht aus Rücksicht auf die Situation des Zeugen, sondern zur Verhütung von Falschaussagen geschah. Dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit war das Denken vom Individuum aus eher fremd, was im Fehlen subjektiver Rechte zum Ausdruck kam. Allein ein nahes emotionales Verhältnis löste daher keinen Ausschluss aus. Vielmehr musste auch die persönliche Situation des Zeugen durch eine Verurteilung des Angeklagten fundamental beeinflusst werden. Für Ehegatten war dies aufgrund der rechtlichen und faktischen unity of spouses der Fall. Denn wurde der Ehemann verurteilt, bedeutete dies für die Ehefrau zumeist den finanziellen Ruin. In einer solchen 9 Dieses Recht wurde durch die Angelsachsen auf die Insel gebracht, die dann von Wilhelm I. 1066 geschlagen wurden, s. Zweigert/Kötz, Einführung, 31996, S. 178. 10 Zweigert/Kötz, Einführung, 31996, S. 179. 11 Eine weitere Erklärung für die autonome Entwicklung des Common Law könnte bei Heinrich VIII. liegen. Im Rahmen der Loslösung der anglikanischen von der katholischen Kirche im Jahr 1531 soll Heinrich VIII. wissentlich, um Distanz zum katholischen Rom zu schaffen, die Verwendung des römischen Rechts, das mittlerweile als kanonisches Recht fortwirkte, verboten haben. Zwar hatte die Rezeption des römischen Rechts auch in England bereits eingesetzt, doch wurde dies nun aktiv geleugnet und unterbunden, sodass die Erzählung einer vollkommen eigenständigen englischen Rechtsgeschichte konstruiert wurde, s. Jones, English, 1998, S. 94. Möglich scheint auch, dass beide Erklärungsansätze kombiniert die Abspaltung des englischen vom kontinentaleuropäischen Recht herbeigeführt haben, s. Weber, in: Holtmann/Riemer (Hrsg.), Europa: Eine interdisziplinäre Betrachtung, 2001, S. 245. 12 Zu den vereinzelten Stimmen s. S. 235 ff.
II. Regelungswirkung
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Situation wurde erwartet, dass der Ehepartner alles tun würde, um eine Verurteilung zu verhindern – im Zeugenstand also lügen würde. Für Kinder galt diese existentielle Abhängigkeit allenfalls bis zur Volljährigkeit.13 Bemerkenswert ist jedoch, dass heutzutage in England die subjektive Position der Zeugen und ggf. der (säkulare) Stellenwert der Institution Ehe als Zweck der non-compellability-Regel genannt wird, während das Dogma der unity of spouses (naheliegenderweise) keine Rolle mehr spielt. Spätestens dann stellt sich die Frage der Gleichbehandlung von Ehegatten und Blutsverwandten jedoch von Neuem. Denn die emotionale Konfliktlage, der Kinder bei einer Aussage gegen ihre Eltern ausgesetzt sind, kann mit der des Ehepartners durchaus vergleichbar sein. Zudem hat die Institution Ehe im Laufe des 20. Jahrhunderts an Stellenwert eher verloren und wird zunehmend durch nichteheliche Lebenspartnerschaften ersetzt, während die Familie weiterhin eine wichtige Funktion als ‚Nukleus der Gesellschaft‘ innehat. Es spräche also nach dem modernen englischen Verständnis viel für eine Gleichbehandlung. Tradition und Gewohnheit sind wohl die entscheidenden Faktoren, warum es hierzu nicht kommt. Überdies weist die aktuelle englische Diskussion eher in die Richtung einer gänzlichen Abschaffung der non-compellability – auch dies wäre eine konsequente Gleichbehandlung von Ehepartnern und Blutsverwandten. 5. Zwischenergebnis Es ist zu konstatieren, dass der personelle Schutzbereich in Deutschland und Frankreich weitgehend übereinstimmt, und England einen eigenen, deutlich restriktiveren Weg geht. Diese Linie setzte sich auch in der Moderne fort, denn während in Frankreich und Deutschland14 Ehegatten auch nach der Scheidung privilegiert bleiben, wurde die Privilegierung nach der Scheidung in England durch PACE 1984 endgültig abgeschafft.
II. Regelungswirkung Bei der allgemeinen Regelungswirkung bestehen wesentliche Unterschiede zwischen der französischen Rechtslage, die allein eine Straffreiheit bei Falschaussage vorsieht, und der deutschen und englischen mit einem Zeugnisverweigerungsrecht in unterschiedlichen Abstufungen.
13
S. hierzu S. 228. Zur Forderungen einer Abschaffung des Zeugnisverweigerungsrechts des Ehegatten nach der Scheidung in Deutschland s. S. 86 f. 14
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E. Rechtsvergleich
1. Subjektives Recht auf Zeugnisverweigerung Die Privilegierungen in Deutschland und England wirken – in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich – als subjektive Zeugnisverweigerungsrechte. In Deutschland gilt das Zeugnisverweigerungsrecht ohne Einschränkungen, das heißt, dass ein in § 52 StPO genannter Angehöriger in jeder Verfahrensphase das Recht hat, zu schweigen.15 Auch darauf, wegen welches Delikts ermittelt wird, kommt es nicht an. Anders gestaltet sich die Lage im englischen Recht: ein Zeugnisverweigerungsrecht nach deutschem Verständnis besteht nur in den Fällen, in denen der Ehegatte über eine Tat des Angeklagten, die keine specified offence ist, für die Anklage aussagen soll.16 Die non-compellability unterliegt daher mehreren Ausnahmen: weder sind Taten der häuslichen Gewalt gegen den Ehegatten, oder Gewalt- und Sexualdelikte gegen unter 16-Jährige, noch sind – und das ist ein fundamentaler Unterschied – Aussagen für die Verteidigung von der Privilegierung erfasst. Die Ausnahmen vom Zeugnisverweigerungsrecht werden demnach zum einen aus Gründen der public policy und zum anderen durch die Struktur des Parteiprozesses vorgegeben. Die Beschränkung der non-compellability auf das Zeugnis für die Anklage und damit die Zeugnispflicht des Angehörigen für die Verteidigung steht auf den ersten Blick in deutlichem Widerspruch zu dem deutschen Konzept eines subjektiven Rechts des Zeugen auf Zeugnisverweigerung. Diese englische Konzeption der non-compellability, bei der danach unterschieden wird, welche Partei den Zeugen als ‚ihren‘ Zeugen benennt, ist tatsächlich vor allem auf die Position des Angeklagten ausgerichtet: Gegen ihn soll der Ehepartner über die Beweise disponieren können, doch für ihn sollen alle Beweise unbeschränkt zur Verfügung stehen. Für den Vergleich zweier so unterschiedlicher Systeme muss allerdings auch die praktische Umsetzung im adversatorischen Prozess mitbedacht werden. Da der englische Strafprozess stark von taktischen Überlegungen beider Parteien geprägt ist, werden nur selten Zeugen, die zu einer Aussage überhaupt nicht bereit sind, dazu gezwungen, vor Gericht auszusagen.17 Denn eine unehrlich wirkende oder gar widersprüchliche Aussage schadet der Partei, die den Zeugen geladen hat, zumeist mehr, als sie ihr nützt, sodass häufig auf den ‚unwilligen‘ Zeugen verzichtet wird. Faktisch birgt die Zeugnispflicht der Ehepartner für die Verteidigung daher keine so krasse Beeinträchtigung der Zeugenposition, wie es auf den ersten Blick scheint. Trotzdem ist das Zeugnisverweigerungsrecht nicht absolut garantiert, sodass es vereinzelt zu erzwungenen Aussagen kommen kann. 15
Zur Wirkung des deutschen Zeugnisverweigerungsrechts s. S. 9 f. Zur Wirkung der non-compellability s. S. 190 ff. 17 Zur tatsächlichen Reichweite der Zeugnispflicht in England s. S. 178 f. 16
II. Regelungswirkung
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2. ‚Recht zur Lüge‘ Das französische Modell setzt mit seiner Privilegierung nicht bei der Zeugnispflicht, sondern erst bei der Strafbarkeit einer falschen Aussage an. Diese Regelung, die zwar nur in der audition gilt, soll als Prototyp der französischen Privilegierung behandelt werden.18 Das System ist so zumindest in der Hauptverhandlung klar: Indem Angehörige für gewöhnlich nicht vereidigt werden, erfüllt eine Falschaussage von ihnen nicht den Tatbestand des Meineides. Da es keine strafbare unvereidigte Falschaussage gibt, wird Angehörigen die Möglichkeit eröffnet – manche Stimmen in der französischen Literatur bezeichnen es sogar als ‚Recht‘ –, vor Gericht zu lügen. Die Aussagepflicht entfällt jedoch nicht. 3. Historische Erklärung der Unterschiede Dieses Konzept weicht deutlich von der deutschen und der englischen Reglung ab. Gerade im Vergleich zu Deutschland drängt sich die Frage auf, wie es zu einem solchen Unterschied kommen konnte, wo doch beide Rechtsordnungen über einen langen Zeitraum demselben im römischen Recht wurzelnden Konzept der Zeugenausschlüsse für die gesamte nahe Familie folgten.19 a) Französische Reaktion auf den Beweisnotstand Ein gewisser Wendepunkt kann für Frankreich bereits kurz nach der Einführung des CIC 1811 beobachtet werden. Sowohl in Preußen als auch in Frankreich wurde die Folter gegen Ende des 18. Jahrhunderts abgeschafft,20 wodurch die Zahl der (erpressten) Geständnisse als Überführungsbeweis abnahm. Im 19. Jahrhundert wuchs daher das Bedürfnis nach einem effektiveren Zeugenbeweis als Alternative zum Geständnis. Ganze Zeugengruppen pauschal auszuschließen wurde nun als unzumutbare Einschränkung der Sachaufklärung angesehen.21 Dennoch behielt der CIC die Zeugenausschlüsse vorerst bei, obwohl sie eigentlich der neu eingeführten freien richterlichen Beweiswürdigung fundamental widersprachen. Wohl nicht zuletzt wegen drohender Beweisnotstände respektierten die französischen Gerichte die absoluten Zeugenausschlüsse schon kurze Zeit nach Einführung des CIC nur noch grob. Zumindest vor der Cour d’assises wurde es zur gängigen Praxis, dass der Vorsitzende sein richterliches Ermessen (pouvoir discrétionnaire) dahingehend ausübte, Angehörige (unvereidigt) als sog. simples renseigne18
Das geltende Recht für die Phase der instruction wird vorerst ausgeklammert, da es bis vor einigen Jahren noch dem der audition entsprach. Zur Reform des Rechts der audition s. S. 141 f. 19 Zum deutschen Recht s. S. 33 ff. Zum französischen Recht s. S. 153 ff. 20 Jones, History of Criminal Justice, 52011, S. 143. 21 Für einen Überführungsbeweis war weiterhin das Zeugnis zweier Zeugen nötig.
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E. Rechtsvergleich
ments zu hören. Da das Tribunal correctionnel ebenso wenig auf Aussagen von Angehörigen verzichten wollte wie die Cour d’assises, den Richtern dort jedoch kein pouvoir discrétionnaire zustand, wurden dort angehörige Zeugen regelmäßig nicht nur vernommen, sondern sogar kurzerhand vereidigt.22 Die französische Praxis missachtete angesichts des Beweisnotstands schlicht den offensichtlichen Willen des Gesetzgebers. Ob beim Zustandekommen dieser ‚Verlegenheitslösung‘ bereits bedacht wurde, dass Angehörige sich dann wenigstens nicht wegen Falschaussage strafbar machen konnten, oder ob dem Strafprozess allein neue Beweisquellen eröffnet werden sollten, ist für das 19. Jahrhundert kaum zu beantworten. Denn es handelte sich um eine ‚Reform‘ durch die Rechtsprechung und in Frankreich wurden bis vor kurzer Zeit Urteile im Grunde überhaupt nicht begründet.23 Für das 20. Jahrhundert kann jedoch angenommen werden, dass die materiell-rechtliche Straffreiheit bei Falschaussagen durch Angehörige durchaus wissentlich und willentlich fortbesteht. Denn 1959 wurde mit dem neuen CPP die richterliche Rechtsfortbildung der Vernehmung von Angehörigen als simples renseignements gesetzlich festgeschrieben. In Art. 335 CPP werden Angehörige nun im selben Absatz wie der Angeklagte und die partie civile vom Eid ausgenommen. Vor allem beim Angeklagten ist klar, dass er nicht nur einfach nicht vereidigt werden soll, sondern dass dies gerade die Straflosigkeit seiner Falschaussage bezweckt. Weil Angehörige im selben Atemzug genannt werden, gilt diese Erwägung wohl auch für sie. b) Deutsche Reaktion auf den Beweisnotstand Die Entwicklung in Deutschland gestaltete sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts an anders: Auch in Deutschland galt zunächst trotz Abschaffung der Folter die gesetzliche Beweistheorie. Die freie Beweiswürdigung setzte sich in den deutschen Gebieten erst ab 1848 sukzessive durch, obwohl seit der Verabschiedung des CIC in Frankreich eine lebhafte Diskussion darüber entbrannt war.24 Hinsichtlich der Zeugenausschlüsse von Verwandten verabschiedeten die deutschen Kleinstaaten aber bereits früher unterschiedliche Regelungen. Schon 1813 – das heißt nur zwei Jahre nach Inkrafttreten des CIC – wurde im Bairischen Strafgesetzbuch ein subjektives Recht auf Zeugnisverweigerung für Angehörige eingeführt.25 Positiv gewendet bedeutete dies, dass Angehörige nun grundsätzlich als Zeugen in Betracht kamen. Das Problem des Beweisnotstandes konnte so in vielen Fällen, in denen die Zeugen gewillt waren auszusagen, gelöst werden. Aufgrund der deutschen Klein22
Zu dieser Lösung der Rspr. s. S. 158 ff. In neuster Zeit sind zwei Urteile ergangen, die die Begründungspflicht anmahnten, s. Crim. 27 sept. 2011, N° 11–80.252 und Crim. 26 oct. 2011, N° 11–80.683. 24 Schmidt, Schmidt 1994, 1994, S. 48; Schmidt, Einführung, 1983, 291. 25 Zum Bairischen Strafgesetzbuch s. S. 36 f. 23
II. Regelungswirkung
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staaterei dauerte es allerdings noch knapp 70 Jahre, bis sich das Zeugnisverweigerungsrecht im gesamten Gebiet des dann deutschen Reiches durchsetzen konnte. c) Zusammenführung Die unterschiedliche Entwicklung des französischen und deutschen Rechts war daher eine gegensätzliche Reaktion auf eine in beiden Ländern parallel verlaufende, tiefgreifende Veränderung des Strafverfahrens, nämlich den enormen Bedeutungszuwachs des Zeugenbeweises. In Frankreich wurde diese Entwicklung durch die Einführung der freien richterlichen Beweiswürdigung verstärkt. Nach der freien richterlichen Beweiswürdigung entscheidet der Richter selbst nach eigener Überzeugung, ob er einen Zeugen für glaubwürdig hält oder nicht – kategorische Zeugenausschlüsse passen hierzu nicht. Die französische Rechtsprechung nach 1811 erkannte, dass der dennoch aus dem alten Recht übernommene absolute Zeugenausschluss für Verwandte weder zur gesteigerten Bedeutung des Zeugenbeweises noch zur freien richterlichen Beweiswürdigung passen wollte. Sie reagierte hierauf mit einem Akt richterlicher Rechtsfortbildung, der sich naturgemäß so weit wie möglich im Rahmen des geltenden Rechts halten musste. Die Entwicklung eines subjektiven Zeugnisverweigerungsrechts hätte in Frankreich vollkommen außerhalb jeder geltenden Norm stattfinden müssen und wäre der französischen Rechtsprechung daher wohl schlichtweg nicht möglich gewesen. 4. Wirkungsvergleich der unterschiedlichen Modelle Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Wirkung eines ‚Rechts zur Lüge‘ mit derjenigen eines Zeugnisverweigerungsrechts vergleichbar ist. Das Resultat, dass niemand gezwungen wird, einen Angehörigen direkt zu belasten, ist beiden Konzepten gemein. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass der Angehörige in Frankreich zu einer aktiven Teilnahme am Verfahren verpflichtet ist. So besteht nach dem französischen Modell die Gefahr, dass ein Zeuge, selbst wenn er nicht die Wahrheit sagt, einen Angehörigen belastet, denn manche Menschen können nur schlecht lügen. Ein Gericht würde in diesen Fällen wohl schnell merken, dass etwas an der Aussage nicht stimmt. Da es in Frankreich auch kein Verbot der Verwertung eines solchen Eindrucks gibt, könnte dies zumindest zu einer indirekten Belastung des Angeklagten führen. Und wenn das Gericht hier nachhakt, so könnten viele Zeugen schließlich unter dem Druck der Aussagesituation ‚zusammenbrechen‘ und doch die belastende Wahrheit aussagen. Denn eine ausgedachte Geschichte in einer Vernehmung stringent durchzuhalten, ist – abhängig von deren Kom-
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E. Rechtsvergleich
plexität – sehr schwierig.26 Überdies muss bedacht werden, dass es wahrscheinlich auch Personen gibt, die zwar ihre Angehörigen eigentlich nicht belasten wollen, trotzdem aber – sei es aus Gewissensgründen oder einfach, weil sie schon wissen, dass sie eine Lüge niemals glaubhaft durchhalten könnten – nicht bereit sind, vor Gericht zu lügen. Diesen Personen bleibt in Frankreich nur der konfliktvolle Weg einer den Angehörigen belastenden Aussage. In Deutschland und in England sind Angehörige (bzw. Ehepartner) hiervor geschützt. Zeugen können dort allenfalls der Fehlvorstellung unterliegen, dass sich ihr Schweigen negativ auf ihren Angehörigen auswirken könnte. Dies gilt umso mehr, als weder in Deutschland noch in England eine Belehrungspflicht dahingehend vorgesehen ist, dass die Ausübung des Verweigerungsrechts nicht zu Lasten des Beschuldigten verwertet werden kann.27 Nimmt man einen solchen Zeugen in den Blick, der sich fälschlich zu einer Aussage verpflichtet fühlt, weil er negative Rückschlüsse bei einer Zeugnisverweigerung befürchtet, erweist sich die französische Regelung für ihn als vorteilhafter, weil eine Falschaussage wenigstens nicht strafbar ist.28 Trotzdem muss mit Blick auf die Gesamtheit der Fälle von Zeugen, die gegen ihren Angehörigen aussagen sollen, doch das Konzept eines Zeugnisverweigerungsrechts als zeugenschonender angesehen werden, zumal es dem Zeugen dann freisteht, sich dem Prozess komplett zu entziehen. Bedacht werden sollte außerdem, dass das Konzept des ‚Rechts zur Lüge‘ in Frankreich dadurch durchbrochen wird, dass Angehörige in der Hauptverhandlung auch vereidigt vernommen werden und sich dann doch wegen Meineides strafbar machen können.29 Ob eine Vereidigung stattfindet, liegt zwar wohl auch in den Händen des Zeugen. Da der Zeuge aber nicht darüber belehrt wird, dass er den Eid verweigern kann, können die Prozessparteien de facto über die Angehörigenprivilegierung disponieren. Dies schmälert den Schutz des Angehörigen weiter und stellt das Schutzkonzept insgesamt auf tönerne Füße. Ob der Zeugenschutz im europäischen Vergleich überhaupt als primäres Regelungsziel gesehen werden kann, ist eine andere Frage, der weiter unten nachgegangen wird. Steht die Wahrheitsfindung im Vordergrund, so ist die französische Regelung möglicherweise zielführender, da jeder Zeuge aussagen muss. Es sollte jedoch bedacht werden, dass auch ein französisches Gericht es vielleicht nicht immer bemerkt, wenn ein Zeuge, der eigentlich nichts sagen will, stattdessen (straffrei) lügt. Wie groß diese Gefahr für die Wahrheitsfindung ist, kann man pauschal nur sehr schwer sagen, da die Aufdeckung einer Falschaussage von der Menschenkenntnis der Richter, vom Ge26 S. hierzu Füllgrabe, Irrtum, 1995, S. 38; Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit, 1998, S. 129. 27 Zur Belehrung im deutschen Recht s. S. 10 ff. Zum französischen Recht s. S. 134. 28 Zur Strafbarkeit ausschließlich der vereidigten Aussage in Frankreich s. S. 141 ff. 29 Zu Art. 336 CPP s. S. 134 f.
III. Sachlicher Schutzbereich der Privilegierung
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schick des lügenden Zeugen und schließlich von der sonstigen Beweislage abhängt. 5. Zwischenergebnis Insgesamt haben zwar alle drei Länder Sonderregeln für die Zeugenaussage von Angehörigen. In England und Frankreich ist der Schutz jedoch grundsätzlich weniger umfassend als in Deutschland. Außerdem sind dort deutliche Einschränkungstendenzen zu beobachten: In Frankreich betrifft dies die Gesetzgebung, die zu einer ausnahmslosen Strafbarkeit der Falschaussage in der instruction geführt hat,30 und die Rücknahme der incompatibilité von Kindern in Meineidsverfahren gegen ihre Eltern in der neueren Rechtsprechung.31 In England betrifft dies die Aufweichung der hearsay-Ausnahme für Ehegatten, die bereits in einem früheren Verfahren ausgesagt hatten und später das Zeugnis verweigern.32 Bemerkenswert ist schließlich, dass in der juristischen Literatur in Frankreich und England generell eher weniger Verständnis für die bestehenden Sonderregelungen existiert, sodass die Stimmen, die sich überhaupt damit auseinandersetzen, tendenziell deren ersatzlose Streichung fordern.33 Somit entwickeln sich Deutschland einerseits und England und Frankreich andererseits weiter auseinander. Denn mit Blick auf die Entwicklung der letzten 50 Jahre – Einführung von §§ 81c Abs. 3, 100c Abs. 6 S. 2 StPO, die erweiterte Auslegung der Wirkung von §§ 52 und 252 StPO und insbesondere auch das Beinahetrefferurteil – ist in Deutschland eine Tendenz hin zu einem immer umfassenderen Schutz festzustellen.34
III. Sachlicher Schutzbereich der Privilegierung Abgesehen von der allgemeinen Wirkweise, unterscheiden sich die Länder auch in Einzelfragen der Angehörigenprivilegierung enorm. 1. Einfluss des Verfahrensstadiums In den verglichenen Rechtsordnungen divergiert die Angehörigenprivilegierung zum Teil auch in den unterschiedlichen Verfahrensphasen.
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Zur Reform der instruction s. S. 141 f. Zu dieser Rechtsprechungsänderung s. S. 124 f. 32 Zu dieser Ausnahme s. S. 197. 33 Zur französischen Diskussion s. S. 163 ff. und zur englischen s. S. 237 f. 34 Zusammenfassend s. hierzu S. 111. 31
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E. Rechtsvergleich
a) Durchgängige Privilegierung in Deutschland In allen drei Rechtsordnungen gibt es keine Aussagepflicht gegenüber der Polizei.35 In Deutschland muss der Zeuge dennoch auch von der Polizei über sein Verweigerungsrecht belehrt werden.36 Die Privilegierung wirkt daher in allen Stadien gleich. § 252 StPO garantiert zudem, dass auch die Aussage aus einer früheren Verfahrensphase – mit Ausnahme einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung – nicht verwertbar ist, wenn der Zeuge erst in der Hauptverhandlung das Zeugnis verweigert.37 b) Potentiel vollumfängliche Privilegierung in England Wie in Deutschland gibt es auch in England zwei Verfahrensphasen, in denen Zeugen gehört werden können. Die Aussagepflicht gestaltet sich im Regelfall wie in Deutschland. Selbst bei specified offences besteht für Ehegatten keine Aussagepflicht gegenüber der Polizei,38 was aber allein daran liegt, dass keinen Bürger zu diesem Zeitpunkt eine Aussagepflicht trifft. Im Hauptverfahren gilt dann eine grundsätzliche Aussagepflicht, die aber für Ehegatten durch die non-compellability durchbrochen und bei specified offences wiederhergestellt wird. Da im englischen Strafverfahren ein Verbot der Verwertung von hearsay-Beweisen galt, griffen die beiden Verfahrensphasen nur wenig ineinander.39 Allerdings ist in den letzten Jahren immer mehr die Tendenz zu beobachten, dass diese strikte Regel bei drohendem Beweisnotstand aufgeweicht wird. Leidtragende dessen sind auch privilegierte Ehepartner: neuerdings kann mit Erlaubnis des Richters eine polizeiliche Aussage verlesen werden, wenn ein Ehegatte sich aufgrund seiner non-compellability weigert auszusagen.40 Es gibt somit kein Umgehungsverbot wie es § 252 StPO festlegt. Allerdings ist der Ehegatte weiterhin vollumfänglich geschützt, wenn er auch bei der Polizei nicht ausgesagt hat.
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Dies könnte sich jedoch ändern, s. Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 27.05.2016, S. 12. 36 Dies ist wie in allen anderen Verfahrensstadien auf § 52 Abs. 3 StPO zurückzuführen. Eine Ausnahme gilt, wenn die Aussage nicht im Rahmen einer Vernehmungssituation gemacht wurde, da der Zeuge von allein zur Polizei kam und dieser keine Möglichkeit zur Belehrung blieb (sog. Spontanäußerungen), s. BGH StV 2007, 401; KK-StPO-Diemer, § 252, Rn. 20. 37 Zur Wirkung des § 252 StPO s. S. 19 f. 38 Zur Aussagepflicht bei der Polizei s. S. 178 f. 39 Zur Verwertbarkeit von hearsay evidence s. S. 197 ff. 40 Zum Fall R. v L. [2009] 1 WLR 626, 628 s. S. 198 f.
III. Sachlicher Schutzbereich der Privilegierung
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c) Partieller Schutz in Frankreich Die Lage des angehörigen Zeugen hängt in Frankreich sehr stark von der Verfahrensphase ab. Die enquête kennt wie in Deutschland und England keine Aussagepflicht. In der instruction, die nur noch in wenigen Fällen durchgeführt wird, herrscht dafür eine Zeugnispflicht, die auch die Angehörigen trifft, ohne dass ihm das ‚Recht zur Lüge‘ zusteht.41 Da es sich hierbei um eine ermittlungsrichterliche Phase zwischen polizeilicher Ermittlung und Hauptverhandlung handelt, kann die instruction wohl am besten mit der ermittlungsrichterlichen Vernehmung verglichen werden, die auch im deutschen Verfahren zur Beweissicherung durchgeführt werden kann. Auch wenn diese Vernehmungen gewisse Parallelen aufweisen, so besteht doch der große Unterschied darin, dass zwar bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung in Deutschland die Wirkung des § 252 StPO aufgehoben wird; das Zeugnisverweigerungsrecht aber weiterhin besteht. In Frankreich ist das ‚Recht zur Lüge‘ von Angehörigen in der instruction komplett aufgehoben, seitdem durch eine Reform die Aussage in dieser Phase ausnahmslos vereidigt stattfindet und eine Falschaussage daher strafbar ist. In der audition setzt die Privilegierung dann wieder ein. In Frankreich herrscht daher eine widersprüchliche Rechtslage: Je nach Verfahrensphase sind Angehörige unterschiedlich privilegiert, wobei die Privilegierung in der audition mittlerweile – falls es zu einer instruction kommt – nicht mehr ihre volle Wirkung entfalten kann. Problematisch ist dabei vor allem die im Grunde unbegrenzte Möglichkeit, Aussagen aus früheren Vernehmungsprotokollen in die audition einzubringen, ohne dass der Zeuge erneut aussagt, wenn die Sache vor niedrigeren Gerichten als der Cour d’assises, verhandelt wird. Aber auch vor der Cour d’assises kann zur Ergänzung der Zeugenbefragung die frühere Aussage verlesen werden.42 Diese inkohärent wirkende Lösung lässt stark an die frühere Rechtslage denken. Zwar sah das Recht vor der französischen Revolution absolute Zeugenausschlüsse vor – heute ist eher das Gegenteil der Fall. Allerdings galt auch schon früher im kanonisch geprägten Inquisitionsprozess der Zeugenausschluss allein im Hauptverfahren.43 Einen ‚Anbeweis‘, der die Folter des Beschuldigten ermöglichte, durften und mussten Angehörige im Vorverfahren auch damals geben. Dies ähnelt nun der Rechtslage, die seit 1994 besteht.44 Vor 1994 musste der Angehörige in der instruction zwar ebenso wie
41
Zur inkohärenten Regelung des ‚Rechts zur Lüge‘ s. S. 139 f. Zur Möglichkeit der Vernehmungsprotokollverlesung s. S. 113 f. 43 Zum Inquisitionsprozess in Frankreich s. S.152, s. außerdem die Ausführungen zum Inquisitionsprozess im Teil zum deutschen Recht s. S. 33 ff. 44 Zur Reform s. S.120. 42
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heute aussagen, machte sich, da sie nur unvereidigt aussagten, bei einer Falschaussage aber nicht strafbar.45 2. Einfluss des Beschuldigten auf die Zeugenaussage Ein weiteres Kriterium für einen umfassenden Vergleich bietet die Einflussmöglichkeit des Beschuldigten auf die Aussage seines Angehörigen. a) Keine Dispositionsmöglichkeit Für das Ob der Aussage besteht in Deutschland und Frankreich eine solche Einwirkungsmöglichkeit grundsätzlich nicht. In Frankreich hat der Angeklagte lediglich die Möglichkeit, einer Vereidigung seines Angehörigen nach Art. 336 CCP zu widersprechen, oder keinen Widerspruch einzulegen.46 Hierdurch kann er darauf Einfluss nehmen, ob sich der Angehörige bei einer wahrheitswidrigen Aussage strafbar macht oder nicht. Zwar kann wohl auch der Zeuge selbst seiner Vereidigung widersprechen.47 Da er aber über diese Möglichkeit nicht belehrt wird und wahrscheinlich nicht weiß, dass eine Vereidigung die Voraussetzung für die Strafbarkeit der Falschaussage ist, ist der (anwaltlich vertretene) Angeklagte praktisch sehr viel besser in der Lage, die Privilegierung des Zeugen durch einen Widerspruch zu wahren. Die Angehörigenprivilegierung ist in Frankreich allerdings praktisch so irrelevant, dass der Angeklagte diese Option wohl nur in den seltensten Fällen bewusst nutzen wird. b) Aussagezwang für die Verteidigung in England In England hat der Beschuldigte eine deutlich größere Macht über die Aussage des Zeugen: Der Beschuldigte hat die Möglichkeit, den Zeugen zu einer Aussage für die Verteidigung zu zwingen, auch wenn es sich nicht um eine specified offence handelt.48 Er kann ihn allerdings nicht mehr von einer Aussage abhalten. Dies war unter Geltung des Criminal Evidence Act 1898 noch anders, wurde mit PACE 1984 aber endgültig abgeschafft.49 Der Unterschied in der Position des Beschuldigten zwischen England und dem kontinentalen Recht beruht wohl wesentlich auf dem adversary system. Im inquisitorischen Verfahren kann nicht streng zwischen Zeugen der Anklage und Zeugen der Verteidigung unterschieden werden. Allerdings ist eine solche Unterscheidung auch keine notwendige Voraussetzung für eine derartige Einwirkungsmöglichkeit des Beschuldigten: Denn auch im inquisitori45
Zur früheren Rechtslage s. S. 141 f. Zur Wirkweise von Art. 336 CPP s. S. 134. 47 S. ebenfalls S. 134. 48 Zur Einflussmöglichkeit des Beschuldigten im englischen Strafprozess s. S. 190 f. 49 Zur Entwicklung der compellability s. S. 223 ff. 46
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schen Verfahren wäre es denkbar, den Ehepartner nur mit Einwilligung des Angeklagten zu vernehmen – was in der deutschen Reformdiskussion sogar bereits vorgeschlagen wurde. Ein solches ‚Vetorecht‘ des Angeklagten hat sich indes zu Recht in Deutschland nicht durchgesetzt und wurde in England wieder abgeschafft, denn es wäre kaum mit den Schutzzwecken vereinbar, die in Deutschland und England den Privilegierungsvorschriften zu Grunde liegen. Da auch der englische Gesetzgeber den Zweck des spousal privilege in der Erhaltung der marital harmony sieht und nicht darin, dass sich der Angeklagte der Bestrafung entziehen kann, war auch die Abschaffung des ‚Vetorechts‘ in England nur folgerichtig.50 Interessanter ist hingegen die immer noch geltende Möglichkeit des Beschuldigten, seinen Ehepartner zu einer Aussage für die Verteidigung zu zwingen. Dies ermöglicht ihm, eine Aussage seines Ehegatten zu erwirken, selbst wenn dieser überhaupt nicht aussagen möchte. Praktisch wird der Angeklagte aber nur äußerst selten seinen aussageunwilligen Ehegatten zu einer Aussage zwingen, denn es birgt ein großes prozesstaktisches Risiko, einen unwilligen Zeugen als ‚seinen‘ Zeugen zu benennen. Es liegt nicht im Interesse des Angeklagten, im Hauptverfahren einen Zeugen zur Aussage zu bestimmen, von dem er nicht im Vorhinein aufgrund eines statement weiß, was dieser sagen wird.51 Die Möglichkeit, den Ehepartner gegen dessen Willen zur Aussage zu bringen, wird dadurch noch unattraktiver, dass der Anklage dann das Recht zur cross-examination zusteht, die sehr intensiv sein kann und die Gefahr birgt, dass der Zeuge ‚umfällt‘. c) Zwischenergebnis Festzustellen bleibt aber, dass das englische Modell mit der Möglichkeit, eine Aussage zu Gunsten des Angeklagten zu erzwingen, das Verteidigungsrecht des Angeklagten dem Interesse des Zeugen überordnet. Das Interesse des Beschuldigten an einer effektiven Verteidigung ist zuvor – anders als das Interesse an einem unberechtigten Freispruch – in allen drei Rechtsordnungen als höchst schützenswert anerkannt. Das deutsche Recht gewährt hier jedoch dem Interesse des angehörigen Zeugen den Vorrang vor dem Interesse des Beschuldigten an einer effektiven Verteidigung. 50
Kann der Beschuldigte über die Aussage entscheiden, so wird seine Entscheidung wohl nicht allein von der Rücksicht auf den Partner und die gemeinsame Ehe, sondern auch von dem Wunsch bestimmt werden, nicht verurteilt zu werden. Zwar kann der Wunsch, die Bestrafung des Angeklagten zu verhindern, auch den Zeugen dazu bringen, von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Sofern aber der Zeuge die Bestrafung seines Ehegatten verhindern will, zeigt dies in aller Regel zugleich, dass die Ehe aus seiner Sicht noch ‚schutzwürdig‘ ist. Verhindert hingegen der Angeklagte die Vernehmung, so kann dies aus rein egoistischen Motiven geschehen. 51 Zur taktischen Prägung des englischen Verfahrens s. S. 178 f.
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3. Schutz in Strafverfahren gegen Dritte Im Vergleich des deutschen mit dem französischen und englischen Recht fällt auf, dass es dort keine Regelung gibt, die wie § 55 Abs. 1 Alt. 2 StPO einen Zeugen auch im Fall einer den Angehörigen belastenden Aussage in anderen, nicht gegen diesen Angehörigen gerichteten Verfahren privilegiert. Da § 55 StPO die logische Weiterführung eines Aussageprivilegs für Angehörige ist, stellt sich die Frage, warum in Frankreich und England nicht zumindest diese Fortführung Eingang in das Strafprozessrecht gefunden hat. Im englischen Recht wurde von manchen Stimmen der Punkt der Fortführung der Ehegattenprivilegierung durchaus gesehen, allerdings immer nur in Hinblick auf die Sonderkonstellation, dass ein Zeuge im Strafverfahren gegen seinen Ehepartner unter Verzicht auf seine non-compellability aussagt und auch zu anderen, nicht angeklagten Taten seines Ehepartners Auskunft geben soll. Die Diskussion rankt sich hier um das Problem, ob der Ehepartner durch seine Aussagebereitschaft bereits auf jegliche Privilegierung verzichtet hat oder ob der Verzicht nur die jeweils angeklagte Tat betrifft. Die Existenz eines privilege of spouse incrimination wird jedoch von der h.M. in Literatur und moderner Rechtsprechung verneint.52 Die praktisch sehr viel relevantere Konstellation, nämlich, dass ein Zeuge im Strafverfahren gegen einen Dritten inzident seinen Ehepartner belasten müsste, wird erstaunlicherweise gar nicht diskutiert. Sieht man den Schutz der Ehe als Hauptzweck der non-compellability an, so ist auch in diesen Situationen sicherlich ein Verweigerungsrecht geboten. Auch in Frankreich wird Angehörigen das ‚Recht zur Lüge‘ in diesen Fällen versagt, da Art. 335 CPP nur die Angehörigen des Angeklagten vom Eid ausschließt. Ist der Angehörige noch nicht verdächtig, geschweige denn angeklagt, kann dieser Ausschluss nicht greifen. Der Schutz der Wahrheitsfindung als ratio der Angehörigenprivilegierung würde allerdings für einen solchen fortgeführten Schutz sprechen, da die Gefahr von Falschaussagen genauso – vielleicht sogar umso stärker – bei Aussagen besteht, die erst den Verdacht auf einen Angehörigen lenken können. Hier hat der Zeuge ein noch viel größeres Interesse, nicht die Wahrheit auszusagen, damit ein Verdacht überhaupt nicht erst aufkommt. Eine Gemeinsamkeit besteht allerdings zwischen allen drei Ländern: Wird der Angehörige gemeinsam mit jemand anderem angeklagt, so gelten zumindest im Verhältnis zu diesem Mitbeschuldigten die jeweiligen Privilegierungen in allen Rechtsordnungen, auch wenn die Aussage nicht den angeklagten Angehörigen, sondern seinen Mitbeschuldigten betrifft.53 Dies beruht wahrscheinlich auf dem Gedanken, dass die Taten von Personen, die im sel52 53
Zu dieser Diskussion s. S. 206 ff. Für Deutschland s. S. 8, für Frankreich s. S. 133 und für England s. S.189.
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ben Verfahren angeklagt sind, inhaltlich zumeist zusammengehören. Eine Aussage über den Mitangeklagten birgt immer das Risiko, dass auch der Angehörige belastet wird.54 4. Erstreckung auf andere Ermittlungsmethoden Zudem besteht ein großer Unterschied in der Reichweite der Privilegierung auf andere Ermittlungsmethoden in den drei Rechtsordnungen: a) Allgemeine Erstreckung In Deutschland betrifft die Privilegierung nicht nur die Zeugenaussage der Angehörigen. Vielmehr ist § 52 StPO nur die Kernnorm eines umfassenden Familienschutzkonzepts, das sich auf diverse andere Ermittlungsmethoden auswirkt.55 Dieser Gedanken liegt auch den persönlichen Strafaufhebungsgründen für Angehörige bei der Nichtanzeige geplanter Straftaten, der Strafvereitelung56 und nach der h.M. allen weiteren flankierenden Normen im Strafprozessrecht zu Grunde.57 Die Intention des Gesetzgebers war es, dass Angehörige umfassend von einem – je nach Ermittlungsmethode unterschiedlich intensiven – Konflikt befreit werden sollen. Eine solche Ausweitung der Sonderstellung angehöriger Zeugen ist in Frankreich und England unbekannt.58 Dies folgt für Frankreich schon aus dem Regelungskonzept, das allein vor Strafbarkeit wegen Meineides schützt und daher von vornherein nicht bei anderen Ermittlungsmethoden eingreifen kann. Teils besteht in Frankreich schon keine Pflicht zu einer aktiven Teilnahme am Ermittlungsprozess, teils ist die Verweigerung der Teilnahme jedenfalls nicht strafbar.59 Eine Ausweitung des Straflosigkeitskonzepts wür54 Eine andere Regelungsmöglichkeit wäre die Unverwertbarkeit einer solchen Aussage zulasten des Angehörigen. Allerdings ist dies praktisch so schwer realisierbar, dass keiner der drei Staaten diesen Weg gewählt hat. 55 Zu den flankierenden Normen s. S. 11. 56 §§ 138 und 258 StGB. 57 S. hierzu S. 50 ff. 58 Für Frankeich s. S. 135 f. und für England s. S. 202 f. 59 So gibt es weder eine Herausgabepflicht, noch müssen DNA-Proben von Nichtverdächtigen abgegeben werden. Zwar gibt es eine Strafbarkeit der Strafvereitelung in Art. 434-4 CP. Diese stellt aber nur die aktive Vereitelung unter Strafe, s. JurisClasseur Pénal Code-Duvert, Art. 434–4: Altération des preuves au cours d’une procédure judiciaire, Rn. 1. Zwar ist in Art. 433–6 CP die rébellion unter Strafe gestellt, was das Pendant zum deutschen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) darstellt. Allerdings ist hiervon – wie in Deutschland – allein ein aktiver Widerstand und nicht das einfache Nichtbefolgen bzw. der passive Widerstand erfasst, s. JurisClasseur Pénal Code-Bernardini, Art. 433–6 à 433–10: Rébellion, Rn. 61; So ist nicht strafbar, wer sich zu Boden fallen lässt und ‚sich schwer macht‘, damit die Polizisten ihn nicht festnehmen können, s. Crim. 27 juin 1908, Bull. n° 272; 1 mars 2006, Bull. n° 58.
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de daher praktisch keine Privilegierung schaffen. In England gilt zwar das Verweigerungskonzept, das auch auf andere Formen aktiver oder passiver Mitwirkung am Strafverfahren ausgeweitet werden könnte. Allerdings wurde die Verwertung des Tagebuchs der Ehefrau eines Angeklagten bereits explizit für zulässig erklärt.60 Körperliche Untersuchungen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen sind ebenfalls ohne Rücksicht auf das Verhältnis des Betroffenen zum Beschuldigten möglich.61 b) Fortwirkung der Privilegierung für Kinder in Frankreich Ganz fremd ist das Konzept der Erstreckung eines Beweiserhebungsverbots auf andere Beweismittel aber dem französischen Recht dennoch nicht: Im zivilrechtliche Scheidungsverfahren, in dem die Kinder der Ehepartner absolut vom Zeugnis ausgeschlossen sind, gilt auch heute noch das Verbot der Verwertung von Aufzeichnungen der Kinder und des Zeugnisses vom Hörensagen über Aussagen der Kinder. Diese weite Erstreckung der familienrechtlichen incompatibilité ist aber im Strafrecht nie angekommen und wird es wohl auch nicht mehr, da diese incompatibilité seit dem Urteil der Cour de cassation vom 02.06.2015 überhaupt nicht mehr analog im Strafverfahren angewandt wird.62 c) Fortwirkung der non-compellability bei fehlender Belehrung Aber auch in England erschöpft sich die Wirkung der non-compellability nicht im Schweigerecht: Sie wirkt wie § 252 StPO fort, indem der Zeuge im trial, wenn er nicht vor der Vereidigung über sein Schweigereicht belehrt wurde, nicht zum hostile witness erklärt werden kann, und so ein früheres statement des Ehegatten nicht (ohne weiteres) verlesen werden darf, wenn er die weitere Aussage verweigert. Aus diesem Grund hat sich im englischen Recht in den letzten Jahren eine gewisse Belehrungspraxis entwickelt, die aber nur sehr uneinheitlich umgesetzt wird.63 Die Wirkung der noncompellability auf die Stellung als hostile witness ist zwar nicht mit der deutschen Möglichkeit des Widerrufs des Verzichts auf das Zeugnisverweigerungsrecht vergleichbar, da die non-compellability mit der Vereidigung entfällt und der Zeuge sich wegen contempt of court strafbar machen kann, wenn er trotzdem schweigt. Die praktische Wirkung ist jedoch vergleichbar, da Angehörige zumeist nicht wegen contempt verfolgt werden.64 Praktisch kann der Zeuge daher relativ gefahrlos seine Meinung ändern und schweigen. Hat 60
Zu R. v Horsnell [2012] EWCA Crim 227 s. S. 202 f. Zu Frankreich s. S. 135 und für England s. S. 202. 62 S. hierzu S. 124 ff. 63 Zur Belehrungspflicht in England s. S. 194 f. 64 Zur tatsächlichen Verfolgung von contempt of court s. S. 209 f. 61
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der Zeuge indes bereits teilweise ausgesagt und entscheidet er sich erst dann dazu, zu schweigen, bleibt seine Teilaussage – wie in Deutschland – verwertbar.65 Die englische Rechtsprechung zum hostile witness geht aber in ihrer Wirkung trotzdem nicht so weit wie § 252 StPO, da die Parteien sich immer einigen können, ein früheres statement verlesen zu lassen. Verweigert eine der Parteien ihr Einverständnis, so können frühere Aussagen in das Verfahren eingebracht werden, wenn der Richter dies ausnahmsweise zulässt, was in Fällen der non-compellability bereits vorgekommen ist.66 d) Zwischenergebnis Dass in Frankreich und England keinerlei andere Ermittlungsmaßnahmen privilegiert werden, legt nahe, dass von der Aussagesituation die schwerste Belastung für den angehörigen Zeugen ausgeht. Im Vergleich zur körperlichen Untersuchung oder der DNA-Analyse erfordert die Aussage nicht nur eine passive, sondern eine aktive Mitwirkung am Verfahren gegen den eigenen Angehörigen. Obwohl beide Mitwirkungsarten im Endeffekt zur Verurteilung des Angeklagten führen können, ist eine aktive Belastung, bei der sich der Zeuge Vorwürfe machen kann, dass er etwas nicht oder anders hätte sagen sollen, mit einem größeren Konflikt verbunden.67 Die Begrenzung der französischen und der englischen Privilegierung auf die Zeugenaussage ist somit wohl der Tatsache geschuldet, dass der Angehörige bei dieser am stärksten strapaziert wird. 5. Einfluss der untersuchten Tat auf die Privilegierung Auch die jeweils untersuchte Tat und deren Opfer können Einfluss auf die Angehörigenprivilegierung haben. a) Ausnahme bei Staatsschutzdelikten Allen drei Ländern ist gemein, dass zum einen oder anderen Zeitpunkt Staatsschutzdelikte von der Angehörigenprivilegierung ausgenommen waren. So galt schon im kanonischen Prozess eine Ausnahme von den Zeugenausschlüssen bei Majestätsverbrechen.68 In Deutschland galten im 18. Jahrhundert die Zeugenausschlüsse für Angehörige nicht in Hochverratsverfahren.69 Auch im französischen Inquisitions65
S. für England S. 194 f. und für Deutschland s. S. 9 Fn. 19. S. hierzu R. v L. [2008] EWCA Crim 973 und S. 196 ff. 67 Ähnlich verhält sich in Deutschland schließlich die Situation des Beschuldigten, dessen Selbstbelastungsfreiheit nur vor der aktiven, nicht vor der passiven Teilnahme an seiner eigenen Überführung bewahrt, s. S. 52 ff. 68 Zum kanonischen Recht s. S. 28 f. 69 Zum deutschen Recht im 18. Jhd. s. S. 34 ff. 66
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prozess wurde eine Ausnahme für die Straftat der Majestätsbeleidigung von den reproches gegen angehörige Zeugen gemacht.70 Ebenso wurde die incompetence der Ehegatten in England im alten Common Law wohl beim Verbrechen des Hochverrats aufgehoben. Ob dies auch eine Aussagepflicht mit sich brachte, ist jedoch nicht klar überliefert.71 Das Recht der DDR führte 1952, nachdem es in Deutschland seit 1877 mit der RStPO keinerlei Ausnahmen für das Zeugnisverweigerungsrecht gegeben hatte, erneut eine solche Ausnahme für Straftaten gegen den Staat ein. Da das DDR-Recht mit der Wiedervereinigung jedoch durch das bundesdeutsche Recht abgelöst wurde, bleibt die Einschränkung der Verwandtenprivilegierung zum Schutz der Staatsinteressen in der Neuzeit nur eine kurze Episode. Historisch bemerkenswert ist allerdings, dass solch eine Einschränkung zugunsten staatlicher Interessen nicht schon zu Zeiten des Nationalsozialismus galt, obwohl die nationalsozialistische Ideologie auf die Gemeinschaft und nicht auf das Individuum ausgerichtet war.72 Dass heute in keinem der drei Staaten das Staatsinteresse dem Individualinteresse grundsätzlich übergeordnet ist, weist auf ein gewandeltes Verständnis des Verhältnisses von Staat und Bürger hin.73 b) Ausnahme bei schwerster Kriminalität Da die Einräumung der Angehörigenprivilegierung immer das Resultat eines Abwägungsprozesses ist, entscheidet zum Teil auch die Schwere der jeweiligen Tat darüber, ob die Privilegierung aufrechterhalten wird. In Deutschland gelten die Zeugnisprivilegierung und auch die Privilegierung bei der Strafvereitelung ausnahmslos und unabhängig von dem vorgeworfenen Delikt. Anders ist es jedoch bei der Nichtanzeige geplanter Straftaten: Hier sind Angehörige trotz ihrer Sonderstellung verpflichtet, die Planung von Mord oder Totschlag, Völkerrechtsverbrechen, erpresserischen Menschenraub, Geiselnahme, oder einen terroristischen Anschlag auf Luft- oder Seeverkehr anzuzeigen. Diese Rückausnahmen betreffen Straftaten, die hochrangige Individualrechtsgüter bedrohen.74
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Zum französischen Recht bis zum Ende des 18. Jhd., s. S. 152 ff. Zum englischen Common Law s. S. 217 f. 72 So ließe die Parole „Du bist nichts, Dein Volk ist alles!“ vermuten, dass das Kollektivinteresse an effektiver Strafverfolgung jedem Individualinteresse vorginge, s. S. 39. 73 Dass der absolutistische Staat sein Selbsterhaltungsinteresse durch die Staatsschutzdelikten, über private Belange der Bürger stellte, verwundert im Sinne des Gedanken der Staatsräson nicht. Aber auch in England, wo sich der Absolutismus nie ganz durchsetzen konnte, beeinflusste der Gedanke der ‚reason of state‘ die Rechtsentwicklung, s. Condren Parergon 28 (2011), 5, S. 22; Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit, 1979, S. 25. 74 Die Ausnahmen vom Angehörigenprivileg in der DDR wurden durch ähnliche Delikte ausgelöst. Die Ausnahmen hatten jedoch nicht ‚nur‘ eine Anzeigepflicht, sondern sogar eine Aussagepflicht ausgelöst, s. S. 40. Eine weitere Ausnahme bei schweren Delikten 71
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In Frankreich hat zwar heute die Schwere der untersuchten Tat keinen Einfluss auf die Zeugenausschlüsse oder die Strafbarkeit wegen Falschaussage. In der Zeit nach Einführung der CIC durften Angehörige allerdings ausnahmsweise nur vor der Cour d’assises und nicht vor den niedrigeren Gerichten vernommen werden. Diese Einschränkung bedeutete eine Ausnahme von der Sonderbehandlung der Angehörigen für besonders schwere Taten – den crimes.75 In England hat sich nie eine Ausnahme von der incompetence oder der non-compellability allein wegen der Schwere eines Verbrechens etabliert. Vielmehr bedurfte es für eine solche Ausnahme auch immer eines drohenden Beweisnotstands. In der aktuellen Diskussion wird eine Ausweitung der specified offences auf Kapitaldelikte gefordert, da bei einem vollendeten Totschlag das Opfer auch nicht aussagen kann und ein Beweisnotstand drohen könnte.76 c) Ausnahme bei häuslicher Gewalt und Straftaten gegen Minderjährige Ein Bereich, in dem alle drei Länder heutzutage noch Ausnahmen von den Privilegierungen vorsehen, ist die Kriminalität im häuslichen Bereich gegen Kinder oder den eigenen Partner. aa) Gesteigertes Problembewusstsein für häusliche Gewalt In allen drei Ländern ist das Bewusstsein für das Problem der häuslichen Gewalt erst im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden. Noch im 19. Jahrhundert wurde ein gewisser Grad an Gewalt gegen die Ehefrau nicht als Straftat, sondern als legitime Züchtigung verstanden, auch wenn Kapitaldelikte gegen den Partner auch damals schon strafbar waren.77 Das fehlende Problembewusstsein zeigt sich in Frankreich und Deutschland bis mindestens 1811 in den absolut geltenden Zeugenausschlüssen, von denen anders als im englischen Common Law und auch im kanonischen Recht78 keine Ausnahme für das Zeugnis des Opfers vorgesehen war.79 Vielmehr wurde die Opferrolle durch die Ausschlüsse im Beweisrecht zementiert und das Opfer schutzlos gestellt. könnte in der Vernehmung des Ermittlungsrichters trotz der späteren Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts liegen, hierzu s. S. 265 f. 75 S. zu der historischen Entwicklung S. 156. 76 Zu den Reformforderungen in England s. S. 234. 77 Ein Wahrnehmungswandel wurde mit der Frauenbewegung in den 1979er Jahren herbeigeführt, die mit der Parole „Das Private ist politisch!“ und der dazugehörigen Politik der ersten Person soziale Probleme in den Fokus des politischen Interesses brachte. 78 Schon im kanonischen Recht galten die Zeugenausschlüsse bei Misshandlung der Ehefrau nicht. Zum kanonischen Recht s. S. 28 f. 79 Zur Entwicklung des deutschen und des französischen Rechts s. S. 33 ff., 152 ff.
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bb) Keine Privilegierung bei häuslicher Gewalt in England Heute ist die Privilegierung des Ehegatten in England am stärksten von der Art des verfolgten Delikts abhängig: die sog. specified offences, also Gewaltdelikte gegen den Ehepartner selbst und Gewalt- und Sexualdelikte gegen Jugendliche unter 16 Jahren führen zu einer kompletten Aufhebung des Eheprivilegs.80 Grund hierfür sind die erhöhte Schutzbedürftigkeit der Opfer solcher Taten und die Beweisschwierigkeiten bei Taten innerhalb der Familie und bei minderjährigen Opfern.81 Der Katalog der specified offences entwickelte sich zum Teil bereits im Common Law, wobei diese bis 1898 wegen der im Übrigen geltenden gänzlichen incompetence des Ehepartners dazu dienten, dessen Zeugnisfähigkeit überhaupt erst herzustellen.82 Der Zeuge durfte dann aussagen, musste dies aber nicht. Diese Wahlmöglichkeit wurde 1979 in Hoskyn v Metropolitan Police Commissioner noch einmal ausdrücklich bestätigt. Seit 1984 besteht der gesetzliche Katalog der specified offences in seiner heutigen Form. Mit PACE wurde allerdings die Wirkweise der Sonderregeln für häusliche Gewalt im Grunde umgekehrt: Nunmehr haben Ehepartner bei specified offences gerade keine Wahl mehr, sondern müssen für die Anklage aussagen.83 Die englische Rückausnahme von der non-compellability gilt nur für häusliche Gewaltdelikte und nicht für sonstige Delikte wie z.B. Vermögens- oder Eigentumsdelikte. Begeht also beispielsweise die Ehefrau gegen ihren Mann ein Vermögensdelikt, so kann dieser nicht zu einer Aussage gezwungen werden. Bei Nicht-Gewaltdelikten geht die Interessenabwägung des Gesetzgebers demnach nicht zugunsten einer effektiven Strafverfolgung, sondern zugunsten des Schutzes der Ehe aus. England sieht in der ausnahmsweisen Zeugnispflicht eine vielversprechende Lösung für das Problem des Verfolgungsdefizits bei diesen Delikten. Ob dies tatsächlich wirkt, erscheint aber zumindest fraglich. Denn tatsächlich werden aus praktischen Gründen, die weniger dem Schutz der Familie, als dem adversatorischen Aufbau des Strafverfahrens geschuldet sind, Zeugen auch bei specified offences meist nicht zur Aussage gezwungen. In diesen Fällen versucht die Anklage eher, eine Verurteilung anhand anderer Zeugenaussagen zu erreichen oder sie stellt das Verfahren direkt ein.84 80
Zur Wirkung der specified offences s. S. 188 ff. Zur ratio der specified offences s. S. 231 f. 82 Die Sonderregeln betrafen Fälle des Hochverrats, der Entführung und Zwangsheirat, der Gewalt des einen gegen den anderen Ehepartner und der Bigamie. Ab 1989 kamen weitere Statutory-Ausnahmen bei Sexualstraftaten, Straftaten gegen den Anstand und allen Straftaten gegen den Ehepartner hinzu, s. S. 217 f. 83 Für die Verteidigung müssen sie ohnehin immer aussagen, vgl. s. S.188. 84 Zur praktischen Relevanz der specified offences s. S. 191 ff. Einen gewissen Fortschritt stellen hier wohl die special measures für besonders verletzbare Zeugen dar. Die eine rücksichtsvolle Sonderbehandlung von schutzbedürften Zeugen ermöglichen. 81
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cc) Anzeigepflicht bei häuslicher Gewalt in Frankreich Das französische Recht kennt heutzutage im Prozessrecht und der dazugehörigen materiellen Strafbarkeit wegen Falschaussage keinerlei Differenzierung der Angehörigenprivilegierung aufgrund des Deliktstyps mehr. Im materiellen Recht gibt es allerdings eine Rückausnahme von der Privilegierung bei Straftaten gegen Minderjährige: Gem. Art. 434-1 Abs. 2 und 3 CP macht sich ein Angehöriger strafbar, wenn er eine geplante oder andauernde Misshandlung eines Minderjährigen unter 15 Jahren oder einer schutzbedürftigen Person nicht anzeigt.85 Hier gewichtet der französische Gesetzgeber den Opferschutz also höher als die familiäre Solidarität. Hinzu kommt, dass diese Opfer oftmals nicht in der Lage sind, die gegen sie verübten Delikte selbst zur Anzeige zu bringen, sodass die Strafverfolgung in besonderem Maße auf eine Anzeige durch Dritte angewiesen ist.86 Auch Frankreich kennt außerdem Strafausschlüsse bei Nicht-Gewaltdelikten im häuslichen Bereich. So sind bestimmte Vermögensdelikte, falls Täter und Opfer im selben Haushalt wohnen, nicht strafbar. Zum Schutz vor häuslicher Gewalt wurde hier jedoch vor einigen Jahren wiederum eine Rückausnahme der Straflosigkeit vorgesehen: Betrifft das Delikt Güter des täglichen Gebrauchs, so ist die Tat allerdings wieder strafbar.87 dd) Verwertbarkeit früherer Aussagen zu häuslicher Gewalt in Deutschland In Deutschland sieht das Gesetz keine Ausnahme von den Angehörigenprivilegierungen aufgrund der Natur des untersuchten Delikts vor. Allein das öffentliche Interesse an der Verfolgung häuslicher Gewaltdelikte wird nach den RiStBV in den meisten Fällen angenommen.88 Bei etlichen Nicht-Gewaltdelikten im häuslichen Bereich hat sich der deutsche Gesetzgeber dafür entschieden, diese als absolute Antragsdelikte auszugestalten, sodass das Opfer über die Verfolgung entscheiden kann. Anders ist dies bei häuslicher Gewalt: Von den in Betracht kommenden Delikten ist nur die einfache Körperverletzung ein relatives Antragsdelikt, bei dem aber die Staatsanwaltschaft oftmals ein öffentliches Interesse annimmt.89 Eine Einschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts aufgrund des untersuchten Delikts kann rechtspraktisch allein in der Rechtsprechung zu § 252 StPO bei ermittlungsrichterlicher Vernehmung gesehen werden. Sie ermöglicht es Richter als Zeugen vom Hörensagen über eine frühere richterliche Vernehmung zu hören, wenn sich der Zeuge in der Hauptverhandlung auf 85
Zu den Straftaten s. S. 143 ff. Zur Nichtanzeige von Straftaten gegen Minderjährige s. S. 144 . 87 Zu den immunités s. S. 147. 88 S. Abschnitt 233 und 234 RiStBV. 89 S. Abschnitte 233 und 234 RiStBV. 86
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sein Verweigerungsrecht beruft.90 Diese Beweissicherungsmethode wird immer dann angewandt, wenn ein Zeuge zwar zum Zeitpunkt der Ermittlungen zur Aussage bereit ist, zu einem späteren Zeitpunkt aber die Ausübung eines Zeugnisverweigerungsrechts droht und so ein Beweisnotstand eintreten könnte.91 Dies kommt vor allem in Fällen der häuslichen Gewalt vor, da die Opfer noch beeindruckt von der Tat den Täter verfolgt sehen wollen, diesem nach einer gewissen Zeit allerdings verzeihen oder eingeschüchtert werden und deshalb nicht mehr bereit sind, an der Strafverfolgung mitzuwirken.92 So wird der angehörige Zeuge in der Praxis häufig sobald wie möglich nach der angezeigten Tat von einem Ermittlungsrichter zur Beweissicherung vernommen.93 Faktisch kann daher eine gewisse Umgehung der Angehörigenprivilegierung bei häuslicher Gewalt konstatiert werden, obwohl die ‚Umgehung‘ des § 252 StPO rein rechtlich natürlich nicht auf Fälle häuslicher Gewalt beschränkt ist. Denkbar wäre eine Ausnahme von der Angehörigenprivilegierung jedoch auch für Deutschland, wenn Angehörige zum Beispiel nur als ultima ratio vernommen werden könnten. Ein absolutes Gebot des Angehörigenschutzes gilt nämlich, wie der BGH festgestellt hat, nicht.94 ee) Zusammenführung Heute ist Frankreich und England gemein, dass Minderjährigen besonderer Schutz zu Gute kommt. Dieser Schutz ist zwar insofern unterschiedlich ausgestaltet, als dass in England die Zeugnispflicht ausnahmsweise wiederhergestellt wird und in Frankreich Angehörige ausnahmsweise eine Straftat proaktiv anzeigen müssen. Dennoch sind diese Einschränkungen der Privilegierung durchaus vergleichbar. In beiden Ländern sieht der Gesetzgeber es für geboten an, die Privilegierung, die sonst für die Familie besteht, aufgrund einer Verhältnismäßigkeitsabwägung ausnahmsweise zu Gunsten der Strafverfolgung zurücktreten zu lassen. Eine andere Parallele besteht zwischen Deutschland und England beim Umgang mit häuslicher Gewalt gegen den Ehepartner. Zwar ist die Ausnahme von der non-compellability in England eine deutlich tiefgreifendere Ausnahme als ‚nur‘ die Verwertbarkeit einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung in Deutschland. Dennoch ist der ‚Umweg‘, den das deutsche Recht durch die Ausnahme von § 252 StPO bei einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung geht, beachtenswert, weil die Angehörigenprivilegierungen in Deutschland ansonsten höchst stringent umgesetzt sind und kaum Ausnahmen kennen. 90
Zu dieser Ausnahme s. S. 19 ff. Brüning/Wenske ZIS 2008, 340, S. 346. 92 Sanchez-Hermosilla/Schweikart, StPO in Fällen, 2009, S. 15. 93 S. hierzu S. 19 ff. 94 BGHSt 38, 99. 91
III. Sachlicher Schutzbereich der Privilegierung
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ff) Außerstrafrechtliche Antwort auf häusliche Gewalt Diese ‚Schwäche‘ des deutschen Strafrechts bei der Ahndung von Delikten häuslicher Gewalt, die gerade im Vergleich mit dem englischen Recht zu Tage zu treten scheint, darf indes den Blick nicht dafür verstellen, dass das deutsche Recht im Strafrecht nicht die einzige Lösung für das Problem der häuslichen Gewalt sieht. Das Gewaltschutzgesetz bietet außerstrafrechtliche Lösungsalternativen.95 Dieses Vorgehen stellt eine deutlich schnellere Reaktionsmöglichkeit auf häusliche Gewalt dar als ein häufig langwieriges Strafverfahren. Schließlich ist eine strafrechtliche Verfolgung nicht immer im Sinne des Opfers, wenn es z.B. gemeinsame Kinder gibt, die unter der Bestrafung des Ehepartners leiden könnten. Zudem kann diese Maßnahme des Gewaltschutzgesetzes dazu beitragen, dass der Angehörige zum Täter Abstand gewinnt und nicht aufgrund seines Abhängigkeitsverhältnisses seine Anzeige später zurückzieht. So dient das Betretungsverbot auch der Sicherung eines späteren Strafverfahrens.96 Auch in Frankreich besteht auch trotz der allgemeinen Aussagepflicht ein Verfolgungsdefizit im Bereich der häuslichen Gewalt,97 worauf ebenfalls mit einer ‚zweigleisigen‘ Lösung von strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Elementen reagiert wurde. Der außerstrafrechtliche Weg ähnelt sehr dem deutschen Modell: Durch eine ordonnance de protection des Familiengerichts kann der gewalttätige Ehepartner aus dem Haushalt des Opfers verwiesen und ihm kann eine Kontaktsperre mit dem Opfer und etwaigen Kindern auferlegt werden.98 Sie kann mit einem deutlich geringeren Zeitaufwand erwirkt werden als eine strafrechtliche Verurteilung und wird daher als effizientere Lösung empfunden.99
95
S. §§ 1, 4 GewSchG und § 111 Nr. 6 FamFG. Nachdem Österreich eine außerstrafrechtliche Regelung bereits gute Erfolge zur Deeskalation schwieriger häuslicher Lebenssituationen erzielt hatte, wurde 2002 in Deutschland das Gewaltschutzgesetz erlassen, s. BTDrs. 14/5429, S. 56, 57. 96 Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Häusliche Gewalt" Streit 2002, 120, S. 127; Zur Förderung späterer Strafverfahren durch außerstrafrechtliche Unterstützung der Opfer s.a. Brownlee J. of Social Welfare & Family Law 12 (1990), 107, S. 111; Ragavan Journal of Criminal Law 77 (2013), 310, S. 312. Zur Kritik an der praktischen Wirsamkeit des GewSchG s. Hecht FPR 2005, 13. 97 Laborde, Rapport, 2010, S. 16. 98 Im Rahmen der ordonnance kann das Gericht außerdem anordnen, dass der gewalttätige Partner auszieht und trotzdem für den Unterhalt der gemeinsamen Wohnung aufkommen muss, dass der Waffenschein entzogen wird und das Opfer seinen Wohnort nicht angeben muss. Das Gericht kann auch über Unterhaltszahlungen entscheiden, s. JurisClasseur Divorce-Thouret, Fasc. 130: Divorce – Mesures urgents, Rn. 18. 99 Art. 51511 Code Civile; JurisClasseur Divorce-Thouret, Fasc. 130: Divorce – Mesures urgents, S. 28.
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E. Rechtsvergleich
Und auch in England steht seit März 2014 mit den domestic violence protection notices and orders eine außerstrafrechtliche Reaktionsmöglichkeit auf häusliche Gewalt zur Verfügung, das mit dem deutschen und dem französischen Modell vergleichbar ist.100 gg) Zwischenergebnis Insgesamt kann also festgestellt werden, dass in allen drei Ländern Maßnahmen zur effektiveren Bekämpfung häuslicher Gewalt eingeleitet wurden. Deutschland und Frankreich sind sich in ihrer Wahl der Mittel im außerstrafrechtlichen Bereich sehr ähnlich. Hinsichtlich der Aussagepflicht bestehen indes große Unterschiede: In Frankreich besteht eine Aussagepflicht, was allerdings der allgemeinen Rechtslage entspricht. In England besteht ausnahmsweise eine Aussagepflicht als Zeuge der Anklage. In Deutschland besteht niemals eine Aussagepflicht, denn das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO gilt ausnahmslos. Es kann höchstens durch eine ermittlungsrichterliche Vernehmung vor der Hauptverhandlung ‚umgangen‘ werden. Empirische Befunde aus England zeigen jedoch, dass auch eine Aussagepflicht das Problem der Aussageunwilligkeit praktisch nicht lösen kann. In Frankreich können Ehepartner oder Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind, straflos lügen oder sich schlicht weigern, irgendwie zweckdienlich auszusagen, was das Verfahren de facto zu blockieren vermag. Erfolgsversprechender ist daher der außerstrafrechtliche Weg, der in Deutschland, Frankreich und seit kurzem auch in England beschritten werden kann. Die Möglichkeit, einen unmittelbaren Schutz vor dem gewalttätigen Familienmitglied zu erwirken, kann auch die Aussagebereitschaft für ein nachgeschaltetes Strafverfahrens erhöhen. Eine Aussagepflicht wie in England ist dann nicht mehr von Nöten.
IV. Folgerichtigkeit der Regelung im nationalen System In puncto Folgerichtigkeit geht es darum, ob die untersuchte Regelung in sich selbst stimmig ist und ob sie sich in den Rest des Normsystems harmonisch einfügt, d.h. keinen Fremdkörper darstellt. Sie hat zudem Einfluss auf die konkrete Zweckmäßigkeit der Regelungen, d.h. die Umsetzung der durch sie verfolgten ratio.
100 Home Office, Domestic Violence Protection Orders, 2016; bereits früher forderte dies Brownlee J. of Social Welfare & Family Law 12 (1990), 107, S. 111.
IV. Folgerichtigkeit der Regelung im nationalen System
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1. Verweigerungsrechte im deutschen System Für Deutschland kann festgestellt werden, dass die Angehörigenprivilegierung sich gut in das deutsche Strafverfahrensrecht einfügt. Dem Gesetzgeber ging es primär um den Schutz des Zeugen, den er durch ein absolutes subjektives Recht verwirklicht. Die Privilegierung besteht in einem umfänglichen Schutzsystem bei allen Methoden der Beweismittelgewinnung, und auch im materiellen Recht durch die Straffreiheit bestimmter Begünstigungstaten. Insbesondere die flankierenden Normen, die Wirkung des § 252 StPO und das Beinahetrefferurteil zeugen von der Folgerichtigkeit der Regelungen und dem Bemühen der Rechtsprechung, diese Folgerichtigkeit aufrecht zu erhalten. So spielt § 52 StPO ebenso in der Rechtspraxis eine wichtige Rolle. Auch der sekundäre Familienschutz ist in den meisten Fällen gewährleistet. In Deutschland ist die Angehörigenprivilegierung daher stringent umgesetzt. 2. Non-compellability im englischen System In England erfasst die Privilegierung für Ehepartner zwar keine weitere Ermittlungsmethode, dies macht die Umsetzung des Schutzkonzepts jedoch nicht inkohärent. Der Hauptkritikpunkt liegt dort vielmehr im privilegierten Personenkreis. Denn es gibt, wie von einzelnen Stimmen angemerkt wird, heutzutage keinen Grund mehr dafür, Ehepartner besser zu stellen als enge Blutsverwandte. Zwar können die Tradition und die religiösen Wurzeln der Regel deren heutige Form erklären, heutzutage müsste die ratio des Eheschutzes allerdings auf einen Familienschutz ausgeweitet werden. Sieht man vom persönlichen Schutzbereich der englischen Privilegierung ab, so kann man ansonsten jedoch von einer durchaus stimmigen Regelung sprechen. Die Ehe ist zwar nur soweit geschützt, wie nicht die Verteidigungsrechte tangiert werden oder es sich um häusliche Gewalt oder Gewalt gegen unter 16-Jährige handelt. Dies ist jedoch das Ergebnis eines legitimen gesetzgeberischen Abwägungsprozesses. Das System des Regel-Ausnahmeverhältnisses der non-compellability ist durchdacht und soll besonders gefährdete Rechtsgüter schützen. Kritik kann hier höchstens an der Grenzziehung bei den specified offences geäußert werden. Dadurch, dass in Fällen der häuslichen Gewalt und der Gewalt gegen unter 16-jährige die Wahrscheinlichkeit besonders hoch ist, dass dort das Opfer von selbst entweder keine Anzeige erstattet bzw. nicht aussagen würde und dass es häufig keine weiteren Zeugen für Taten im Familienbereich gibt, ist die Auswahl der specified offences aber überzeugend.101 Die gesetzgeberische Folgerichtigkeit wird 101
Hiergegen könnte wohl nur – wie es in der Literatur auch getan wurde – eingewandt werden, dass mit diesen Argumenten Ausnahmen nicht für alle Straftaten gegen Minderjährige unter 16 Jahren gerechtfertigt werden können, sondern allein für Straftaten gegen Minderjährige, die auch mit den Eheleuten im Haushalt leben. Zur Kritik s. S. 231.
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jedoch durch die Möglichkeit der Verlesung früherer statements im Rahmen der hearsay-Ausnahme durchbrochen. Dies führt zu einer Umgehung des s. 80 PACE und kann den Zeugen de facto doch zur Aussage zwingen. Mit gutem Willen könnte diese Praxis auch als Ergebnis eines Abwägungsprozesses verstanden werden: Die Verwertung einer früheren Aussage ist weniger intrusiv als eine erzwungene Aussage. Eine solche Abwägung lässt die Rechtsprechung jedoch nicht erkennen, sodass es sich wohl tatsächlich allein um eine Umgehung der non-compellability handelt. Die grundsätzliche Folgerichtigkeit der Regelung wird durch diese neuere richterliche Praxis daher in Frage gestellt. 3. ‚Recht zur Lüge‘ im französischen System Einen Mangel an innerer Stringenz muss eindeutig dem französischen Recht attestiert werden: Das Konzept des ‚Rechts zur Lüge‘ wird aufgrund der Vereidigung in der instruction nicht mehr folgerichtig durchgehalten. Die Privilegierung wird so ihrer Wirkung beraubt, da zumal Aussagen aus der ermittlungsrichterlichen Vernehmung relativ problemlos in die Hauptverhandlung eingeführt werden können. Vor dem Hintergrund, dass die französische Literatur aber sowieso nicht den Familienschutz, sondern den Schutz der Wahrheitsfindung als primäre ratio der Regel ansieht, mag dies noch folgerichtig sein. Die ausnahmslose Vereidigung in der instruction erscheint allerdings eher wie ein Unfall, der dem Gesetzgeber bei seiner Reform 1994 nicht aufgefallen ist. So wird nun regelmäßig schon in der instruction vereidigt, ohne dass dieser Widerspruch zur audition von Literatur oder Praxis bemerkt wird.102 Eine mit Blick auf die erklärte ratio folgerichtige Lösung wäre vielmehr, die gesamte Privilegierung aufzuheben. In der jetzigen Situation profitiert niemand von dem ‚Recht zur Lüge‘. Da die privilegierende Wirkung des ‚Rechts zur Lüge‘ also weitgehend außer Kraft gesetzt wurde und gleichzeitig trotzdem noch die Irreführung der Gerichte durch straflose Falschaussagen in der audition besteht, muss der französischen Regelung jede Folgerichtigkeit abgesprochen werden. 4. Zwischenergebnis Insgesamt sind somit die deutsche und im Grundsatz auch die englische Lösung folgerichtige Umsetzungen des jeweils verfolgten Schutzgedankens. Frankreich wird weder seinem Anspruch, die Wahrheitsfindung zu schützten, noch faktisch dem Familienschutz gerecht.
102 Die Ausnahmen bilden hier Guechi, Liens de famille, 1998, S. 314; Leturmy, Recherche, 1995, S. 227; Jobron-Minier, Témoin, 2000, S. 339; s. außerdem S. 140 ff.
V. Unkooperative angehörige Zeugen
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V. Unkooperative angehörige Zeugen Da Zeugen in einer schwierigen emotionalen Lage sind, wenn sie am Strafverfahren gegen Angehörige mitwirken sollen und sie diese eventuell durch eine falsche Aussage ‚schützen‘ wollen, ist für den Rechtsvergleich auch der Vergleich der Sanktionen der Aussagedelikte im weiteren Sinne interessant. Relevant ist dies besonders in England für Blutsverwandte, insbesondere für Eltern und ihre Kinder, da diesen Personen keinerlei Privilegierung zukommt. In Frankreich ist die strafrechtliche Repression sowieso Dreh- und Angelpunkt der Angehörigenprivilegierung. Aber auch in Deutschland kann es aufgrund einer nur defizitären Belehrungspraxis über die Folgen einer Zeugnisverweigerung, aber auch wenn der Zeuge unbedingt aktiv das Verfahren beeinflussen will, zu Falschaussagen kommen. 1. Sanktion für Nichterscheinen und Zeugnisverweigerung In Deutschland sind alle nahen Angehörigen von der Zeugnispflicht ausgenommen. Die Pflicht, vor Gericht zu erscheinen, entfällt allerdings nicht; bei Zuwiderhandeln werden dem Zeugen die Kosten seines Fernbleibens und ein Ordnungsgeld von bis zu 1.000 € auferlegt.103 Die Sanktion bei rechtswidriger Zeugnisverweigerung ist daher für Angehörige wegen ihrer umfassenden Privilegierung nicht relevant. In England kann die Aussage von Ehegatten im Normalfall ebenso verweigert werden. In Fällen der specified offences und bei Aussagen für die Verteidigung können aber auch Ehegatten zum Zeugnis gezwungen werden. Die rechtswidrige Aussageverweigerung ist dennoch hauptsächlich für Blutsverwandte relevant, die immer zum Zeugnis verpflichtet sind.104 Eine Verweigerung kann mit bis zu drei Monaten Haft wegen contempt of court sanktioniert werden. Die Bestrafung liegt jedoch im Ermessen des Gerichts, das bei Angehörigen, bei denen ohnehin nicht mit einer wahrheitsgemäßen Aussage zu rechnen ist, häufig von einer Strafe absieht.105 In Frankreich sind fast alle nahen Verwandten von der Privilegierung des Art. 335 CPP erfasst, aber da die Privilegierung nur von der Strafbarkeit für Falschaussage befreit, ist die Strafbarkeit für Zeugnisverweigerung für Angehörige ebenfalls relevant. Bei einer Aussageverweigerung, kann es zu einer Geldstrafe von bis zu 3.750 € kommen.106 Sowohl in England als auch in Frankreich sind die Strafen für eine Zeugnisverweigerung nicht sonderlich hoch und die Sanktionierung wird in das 103
Zu § 51 StPO s. S. 21 f. Zum potentiellen Täterkreis des contempt s. S. 207 ff. 105 Zur Sanktionierung von contempt s. S. 208 f. 106 Zu den Tatbeständen der Verweigerung der Beteiligung in Frankreich s. S. 135 ff. 104
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Ermessen der Richter gestellt. So sind in Frankreich Verurteilungen wegen unberechtigter Zeugnisverweigerung auch höchst selten.107 Der Grund hierfür könnte die Überzeugung sein, dass eine Pönalisierung keine angemessene Reaktion auf eine Zeugnisverweigerung ist. Die Strafe kann – wohl als Anreiz – aufgehoben werden, wenn sich der Zeuge doch zur Aussage entschließt. 2. Sanktion für Falschaussage Sagt der angehörige Zeuge falsch aus, stellt sich die Frage, wie die drei Rechtsordnungen mit einer Falschaussage umgehen. Das deutsche Recht bedroht grundsätzlich die Falschaussage mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Allerdings sieht § 157 StGB eine Möglichkeit der Strafmilderung oder sogar eines Absehens von Strafe vor, wenn die Falschaussage zum Schutz eines Angehörigen begangen wurde. Diese Möglichkeit ist von großer praktische Bedeutung, sodass sich die Strafe wegen Falschaussage für Angehörige zumeist wohl im unteren Strafrahmen bewegen wird.108 Das englische Recht sieht für einen Meineid eine Haftstrafe bis zu sieben Jahren und/oder eine Geldstrafe vor. Da Zeugen in England immer vereidigt aussagen, begehen sie bei einer Lüge immer einen Meineid.109 Es ist nicht feststellbar, wie viele Angehörige deswegen pro Jahr verurteilt werden. Allerdings ist im Vergleich zu Deutschland festzustellen, dass insgesamt deutlich weniger Verurteilungen wegen Falschaussage bzw. Meineides ausgesprochen werden.110 Die Strafandrohungen im englischen Recht sind insge107
Geoffroy, Rapport, 2009, S. 33. Zu § 157 StGB s. S. 23 f. 109 Die Aussage von Kindern unter 14 Jahren wird zwar nicht vereidigt, aber auch Kinder, die bereits zehn Jahre und damit strafmündig sind, können sich wegen eines Aussagedelikts strafbar machen, s. S. 210 f. 110 So kam es in England und Wales im Zeitraum von 2001 bis 2010 zu einer Verurteilung wegen Meineides pro 260.000 Einwohner und in Deutschland im Jahr 2010 zu einer Verurteilung wegen Falschaussage auf ca. 15.300 Einwohner. S. Chaplin/Flatley/ Smith, Crime, 22011, S. 45, wonach im Zeitraum von zehn Jahren 213,4 Verurteilungen pro Jahr in England und Wales ausgesprochen wurden und Office for National Statistics, Population Estimates for England and Wales, Mid-2011 (2011 Census-based), http://www.ons.gov.uk/ ons/rel/pop-estimate/population-estimates-for-england-and-wales/mid-2011—2011-censusbased-/index.html wonach die Bevölkerung Englands und Wales in diesem Zeitraum 56.170.900 Menschen betrug. Im Jahr 2010 wurden 5.603 Personen in Deutschland wegen Falschaussage verurteilt, s. Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, 2011, S. 476, bei einer Bevölkerung von 81.756.000 Menschen, s. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung auf Grundlage früherer Zählungen, https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Gesellschaft Staat/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/Tabellen/GeschlechtStaatsangehoerigkeit.html, 22.07.2016. 108
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samt höher, auch wenn sich die konkrete Strafhöhe stark nach dem Ermessen des Richters richtet, sodass aus dem zwei Jahre höheren Strafrahmen nicht pauschal der Schluss gezogen werden darf, dass die Falschaussage im englischen Verständnis schwerer wiegt als im deutschen. Aus der prozentual deutlich geringeren Anzahl tatsächlicher Verurteilungen wegen perjury im Vergleich zur deutschen Falschaussage ist vielmehr ein pragmatischerer Umgang mit der Lüge vor Gericht abzulesen. Dies mag auch am adversary system liegen: Zwar ist perjury in England ebenfalls eine Straftat, die sich gegen die Justiz wendet. Der Zeuge ist aber von vornherein je einer Partei zugeordnet und genießt nur ein geringeres Vertrauen, da er sowieso im Interesse einer Partei geladen wurde und für diese aussagt. Dieses pragmatische Vorgehen zeigt sich auch in der Zurückhaltung bei der Verfolgung von Falschaussagen von Ehefrauen.111 In Frankreich macht sich der Angehörige mit einer Lüge nur in der instruction und im Falle einer Vereidigung gem. Art. 336 CPP auch in der audition strafbar. In diesen Fällen droht eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren und eine Geldstrafe bis zu 75.000 €.112 Über die praktische Relevanz der Falschaussage in Frankeich kann nur spekuliert werden, da keine aufgeschlüsselten Statistiken zu den Fall- und Verurteilungszahlen existieren.113 Der französische Strafrahmen und -tatbestand sind mit dem der deutschen Falschaussage aber durchaus vergleichbar. Somit kann die familiäre Verbundenheit in allen drei Ländern einen Einfluss auf die Bestrafung wegen Falschaussage haben. Deutschland und England verfolgen zwar beide die Linie, dass eine falsche Aussage vor Gericht als mögliche Irreführung strafbar sein muss,114 beide Länder schränken die tatsächliche Bestrafung von lügenden Angehörigen dann jedoch nach Ermessen der Strafverfolgungsorgane ein. Frankreich verzichtet für die Hauptverhandlung im Grundsatz bereits auf die Strafbarkeit der Lüge eines Angehörigen, da von diesem ohnehin die Wahrheit nicht zu erwarten ist und die Gefahr der Irreführung des Gerichts für gering erachtet wird. Hier wird also bereits das Bedürfnis nach Bestrafung verneint. Da die Strafbarkeit in der instruction jedoch auch für Angehörige besteht, setzt die französische Regelung die Entkriminalisierung der Falschaussage von Angehörigen nicht stringent um.
111 Möglicherweise betrifft diese Zurückhaltung auch andere Familienmitglieder. Zur tatsächlichen Verfolgung von Aussagedelikten in England s. S. 210. 112 Zur Sanktionierung der Falschaussage in Frankreich s. S. 142 f. 113 Zur Verurteilug wegen Falschaussagen gibt es in Frankreich keine genaue Statistik. 114 „Ein Recht des Zeugen, nicht nur zu schweigen, sondern solidarisch falsch auszusagen, ließe die Strafverfolgungsinteressen über die Maßen zurücktreten.“ s. Eckstein, Ermittlungen, 2013, S. 388.
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E. Rechtsvergleich
VI. Praktische Relevanz der Zeugenprivilegierungen In allen drei Rechtsordnungen besteht eine allgemeine Zeugnispflicht, da der Zeugenbeweis ausnahmslos sehr wichtig ist. Praktisch hat er jedoch nicht überall denselben Stellenwert. 1. Große Relevanz für das deutsche Recht In Deutschland gilt ein strenges Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsprinzip in der Hauptverhandlung. Es kann nur ausnahmsweise auf die mündliche Aussage verzichtet werden. Hat ein Zeuge von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, so ist die Verwertung seiner früheren Aussage gem. § 252 StPO grundsätzlich nicht möglich.115 Die praktische Relevanz der Angehörigenprivilegierung ist sehr hoch, wobei vor allem §§ 52, 55 und 252 StPO relevant werden.116 Über das Zeugnisverweigerungsrecht muss immer vor der Aussage eines Angehörigen belehrt werden. Die restlichen flankierenden Normen kommen in der Praxis recht selten zum Tragen. Dies liegt jedoch weniger daran, dass auf deren Schutz verzichtet wird, als dass körperliche Untersuchungen bei den Angehörigen oder eine Beschlagnahme der Korrespondenz zwischen Angehörigen und dem Beschuldigten in der Praxis nur selten relevant werden. Die akustische Wohnraumüberwachung wird generell nur bei besonders schweren Taten und auch dann nur ausnahmsweise eingesetzt, sodass schon die geringe Anzahl möglicher Fälle, in denen die Privilegierung von Angehörigen relevant werden könnte, den Anwendungsbereich des § 100c Abs. 6 S. 2 StPO erheblich schmälert. Insgesamt werden die Regelungen zur Privilegierung naher Angehöriger als richtiger und wichtiger Teil des deutschen Strafprozessrechts aufgefasst.117 Auf ihre Einhaltung wird daher auch von der Rechtsprechung großer Wert gelegt. 2. Geringe praktische Relevanz im englischen adversary system Auch in England hat die non-compellability für das Zeugnis von Ehegatten einen gewissen praktischen Stellenwert. Generell herrschen im Hauptverfahren ein Mündlichkeits- und ein durch das Verbot des hearsay-Beweises sogar noch strengeres Unmittelbarkeitsprinzip als in Deutschland.118 In den letzten Jahren wurde jedoch das absolute hearsay-Verbot an einigen Stellen durchbrochen. Gem. s. 114(1)(d) CJA 2003 kann nun mit Erlaubnis des Rich115
Zu § 252 StPO s. S. 18 ff. Dies ergibt sich aus Interviews mit Strafrechtspraktikern, die die Verfasserin geführt hat. Es wird aber auch schon durch die ausnahmslose Belehrungspflicht über die Verweigerungsrechte und die große Zahl an obergerichtlicher Rspr. zu diesem Thema deutlich. 117 S. hierzu S. 110 f. 118 Vogler ZStW 2014, 239, S. 241. 116
VI. Praktische Relevanz der Zeugenprivilegierungen
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ters die Verlesung einer früheren Aussage eines Zeugen gestattet werden, der selbst im Verfahren nicht aussagt.119 Daher kann eine Aussage im Ermittlungsverfahren für den verdächtigen Ehegatten mittlerweile zu einem späteren Zeitpunkt zum Problem werden.120 So ist die Tragweite des Verweigerungsrechts für Angehörige durch die Rechtsprechung in den letzten Jahren praktisch eingeschränkt worden. Wegen der prozessualen Realitäten ist die non-compellability indes sowieso weniger relevant, als es auf den ersten Blick scheint. Es besteht keine Pflicht, über die non-compellability zu belehren.121 So kommt es, dass englische Richter Ehegatten in aller Regel nicht belehren, um bei diesen gar nicht erst den Gedanken zu wecken, dass sie schweigen könnten. Die Polizei belehrt mangels Aussagepflicht sowieso nicht über die non-compellability.122 Im adversatorischen Verfahren kann man zwar davon ausgehen, dass die Verteidigung des Ehegatten über dieses Recht belehrt. Eine Garantie dafür gibt es mangels Belehrungspflicht jedoch nicht. Aber auch die Ausnahme zur non-compellability bei den specified offences ist weniger praxisrelevant, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Zwar kommt es gerade bei Delikten häuslicher Gewalt eigentlich ganz besonders auf die Aussage des Opferzeugen an. Die Anklage verzichtet gleichwohl häufig darauf, einen aussageunwilligen Opferzeugen zu benennen, denn die Aussage eines solchen Zeugen ist nur sehr schwer vorhersehbar und daher unter prozesstaktischen Aspekten nicht vorteilhaft.123 3. Keine praktische Relevanz in Frankreich Obwohl auch in Frankreich die Zeugenaussage das wichtigste Beweismittel ist, heißt dies nicht, dass sie immer mündlich in der Hauptverhandlung abgegeben werden muss. Nur bei Verfahren vor der Cour d’assises herrscht ein Unmittelbarkeitsprinzip. Vor dem Tribunal correctionnel ist es dagegen ohne Probleme möglich, ein Vernehmungsprotokoll der instruction, in der Angehörige kein ‚Recht zur Lüge‘ haben, ohne nochmalige Vernehmung des Zeugen zu verlesen.124 Relativierend ist zu sagen, dass die instruction aus Gründen der Zeit- und Ressourcenknappheit fast nur noch bei crimes, wo sie gesetzlich vorgeschrieben ist, durchgeführt wird. Vor dem Hintergrund des Angehörigenschutzes scheint dies allerdings paradox, da eine Belastung durch den Angehörigen gerade bei schwerer Kriminalität besonders schlimm sein kann. 119
Früher behandelte das englische Recht hearsay-Aussagen sehr restriktiv, s. S. 195 ff. S. hierzu R. v L. [2009] 1 WLR 626, 628, S. 216 f. 121 Die Rspr. hat eine Belehrung höchstens für ratsam gehalten, weil sonst der Zeuge nicht zum hostile witness erklärt werden kann, vgl. S. 198 ff. 122 Zur Belehrung im englischen Strafverfahren s. S. 193 f. 123 Zur praktischen Zeugnispflicht s. S. 176 f. 124 Zu den Grundprinzipien des französischen Strafverfahrens s. S. 113 ff. 120
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Insgesamt muss gesehen werden, dass in Frankreich die Angehörigenprivilegierung von Praktikern kaum wahrgenommen wird.125 Die Unstimmigkeit der Regelungen für instruction und audition fällt nur wenigen überhaupt auf.126 Daher scheint es zweifelhaft, dass die Aussagepflicht in der instruction gezielt ausgenutzt wird. Allerdings spricht dies nur dafür, dass der Schutz nicht vorsätzlich mit Blick auf die audition eingeschränkt wird. Auf der anderen Seite äußert sich die geringe Bekanntheit des ‚Rechts zur Lüge‘ eben auch in dessen Missachtung. Da eine vereidigte Vernehmung von Angehörigen gem. Art. 336 CPP verwertbar ist, wird diese in vielen Fällen – obwohl sie die Ausnahme darstellen sollte – wohl zur Regel. So stellt die Eidespflicht in der instruction faktisch keine weitere Einschränkung des Angehörigenschutzes dar, da ein solcher Schutz in der Praxis sowieso nur marginal gewährt wird.
VII. Verfassungsrechtliche Vorgaben In Deutschland ist die Angehörigenprivilegierung verfassungsrechtlich in einem beschränkten Umfang geboten, da durch das Grundgesetz sowohl das Allgemeine Persönlichkeitsrecht als auch die Familie und die Gewissensfreiheit garantiert werden.127 In Frankreich ist das Strafprozessrecht deutlich weniger vom Verfassungsrecht durchdrungen. Dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht kommt in der französischen Dogmatik das droit à la vie intime et privée wohl am nächsten, das jedoch durch die Zeugenaussage gegen einen Angehörigen nicht betroffen sein soll.128 Einen verfassungsrechtlich vorgegebenen Schutz der Familie kennt das französische Recht sowieso nicht.129 In 125 Diese Erkenntnis ergibt sich aus Interviews, die die Verfasserin mit Praktikern geführt hat. Aber auch die sehr geringe Aufmerksamkeit für diese Regel in der Literatur weist in diese Richtung. 126 Zur vereinzelten Kritik s. S. 140 ff. 127 S. hierzu S. 61 ff. und S. 78 ff. 128 Vgl. Desportes/Lazerges-Cousquer, Traité de procédure pénale, 32013, S. 422. Insgesamt ist das französische Strafprozessrecht deutlich weniger als das deutsche vom Verfassungsrecht geprägt, s. Jescheck, 46. DJT Gutachten Bd. I Teil 3B, 1966, S. 30. Mittlerweile spielt die EMRK zwar eine gewisse Rolle. Dies bewirkt jedoch keine vergleichbare verfassungsrechtliche bzw. grundrechtliche Durchdringung. 129 Letteron/Colliard, Libertés, 82005, S. 370; Sehr interessant ist dafür auch die Erklärung von Jobard/Schulze-Icking, Preuves, 2004, S. 38: „En France, le souci de la protection individuelle contre l’intrusion de la puissance publique n’est pas aussi forte qu’en Allemagne, pays marqué par le souvenir de deux dictatures (hitlérienne et stalinienne); en sorte que les procédures judiciaires par le génétique ne relèvent pas si immédiatement de prescriptions constitutionnelles.“ (Übersetzung der Verfasserin: „In Frankreich ist die Sorge um den Schutz von Individualinteressen gegen das Eindringen des Staates nicht so stark ausgeprägt wie in Deutschland, einem Land, das durch die Erinne-
VII. Verfassungsrechtliche Vorgaben
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Frankreich gebietet höherrangiges Recht daher keine Sonderstellung für Angehörige. Ebenso stellt sich die Lage in England dar. Dort wird keinerlei verfassungsrechtliche Verankerung der Ehegattenprivilegierung erwogen. Für Frankreich und England könnten Vorgaben aus höherrangigem Recht daher nur aus der EMRK folgen. Die EMRK erkennt in Art. 8 das Recht auf Achtung des Privat- und des Familienlebens an. Und tatsächlich hat sich der EGMR bereits in Van der Heijden v. Niederlande130 im Jahr 2012 zum Thema der strafprozessualen Zeugenprivilegierungen geäußert: er entschied, dass bei einer Zeugnispflicht von Angehörigen im Strafverfahren durchaus der Schutzbereich des Art. 8 EMRK eröffnet sei. Allerdings bestehe ein großer Ermessensspielraum hinsichtlich der Frage, wer von einer Aussageprivilegierung erfasst werden müsse, da unter den Mitgliedstaaten der EMRK kein Konsens über die Angehörigenprivilegierung bestehe.131 Es wurde in einer kurzen rechtsvergleichenden Bemerkung festgestellt, dass nur zwei Mitgliedsstaaten eine Zeugnispflicht von Ehegatten vorsähen.132 Insgesamt liegt der Argumentation des Urteils und vor allem der drei abweichenden Voten implizit die Einstellung zu Grunde, dass eine solche Zeugnisprivilegierung selbstverständlich sei,133 ohne aber festzustellen, dass Art. 8 EMRK eine rungen an zwei Diktaturen (Drittes Reich und DDR) geprägt ist; dies sorgt dafür, dass Ermittlungen in der DNA nicht so schnell verfassungsrechtliche Vorschriften berühen.“) 130 EGMR, Urteil v. 03.04.2012, Van der Heijden v. Niederlande (No. 42857/05). In diesem Urteil ging es um die Frage, ob ein langjähriger nichtehelicher Lebenspartner gegen den anderen in Mordermittlungen aussagen muss, obwohl das niederländische Recht für Angehörige, Ehe- und eingetragene Lebenspartner ein Zeugnisverweigerungsrecht vorsieht. Das Gericht sprach sich mit einer Stimmmehrheit von zehn zu sieben dafür aus, den Mitgliedsstaaten zu überlassen, ob nichteheliche Lebenspartner von einer Privilegierung profitieren. 131 EGMR, Urteil v. 03.04.2012, Van der Heijden v. Niederlande (No. 42857/05), Rn. 61. 132 Diese Staaten seien Frankreich und Luxemburg, s. EGMR, Urteil v. 03.04.2012, Van der Heijden v. Niederlande (No. 42857/05), Rn. 32. 133 EGMR, Urteil v. 03.04.2012, Van der Heijden v. Niederlande (No. 42857/05), Rn. 65; Besonders greifbar wird diese Einstellung im abweichenden Votum der Richter Tulkens, Vajić, Spielmann, Zupančič und Lafranque, Rn. 14: „[T]he rationale of the testimonial privilege stems from the inherent unfairness of holding life-partners to the duty to testify against each other because of the profound moral dilemma this causes. The substantial aim of the privilege is the protection of ‚family life‘, which has an important social value in society and exists regardless of formal registration. This social vaule (and human right) is considered so important that in nearly every judicial system family members are exempted from giving evidence against each other, even if this is detrimental to the process of establishing the truth.“ (Übersetzung der Verfasserin: „[D]ie ratio des Aussageprivilegs rührt von der inhärenten Ungerechtigkeit her, Lebenspartner zur Aussage gegeneinander zu verpflichten, da dies ein schwere moralisches Dilemma erzeugt. Das wesentliche Ziel des Privilegs ist der Schutz des ‚Familienlebens‘, das einen wichtigen sozialen Wert in der Gesellschaft hat und unabhängig von einer formellen Registrierung besteht. Dieser soziale
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E. Rechtsvergleich
solche Privilegierung gebiete. Es ist davon auszugehen, dass der EGMR aufgrund des Ermessensspielraums auch respektiert, wenn keine Privilegierung besteht. Art. 8 EMRK schreibt daher wohl auch weder für Frankreich noch für England eine Sonderstellung angehöriger Zeugen vor.
VIII. Vergleich der ratio In allen drei Ländern unterlag die ratio der Privilegierungen einem Wandel. Historisch gesehen liegen die Wurzeln aller drei Regelungen wohl im Misstrauen gegenüber der Aufrichtigkeit der Angehörigen134 und in einem moralisch-religiösen Respekt für Ehe und Familie.135 Mittlerweile hat sich dies jedoch geändert. Als Schutzzwecke werden heute in den drei Ländern der Schutz der Wahrheitsfindung, der Schutz der Ehe bzw. der Familie, die Aufrechterhaltung der Moral und der Schutz der individuellen Zeugeninteressen diskutiert. Trotz einer rechtlich prinzipiell identischen Funktionsweise des Zeugnisverweigerungsrechts in England und Deutschland ist die ratio nicht dieselbe. In Deutschland kann als primärer Zweck der Angehörigenprivilegierung der Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Zeugen und sekundär der Schutz der Familie und der Gewissensfreiheit ausgemacht werden.136 Dieser Schutz gilt in Deutschland absolut, da das Zeugnisverweigerungsrecht keinerlei Einschränkungen unterliegt. Dem englischen spousal privilege lag hingegen ursprünglich das Dogma der unity of spouses zu Grunde, das sich in der modernen englischen Literatur in der Überzeugung fortsetzt, dass der primäre Zweck der non-compellability der Schutz der Ehe ist.137 Allerdings wird die Ehe insbesondere im Verhältnis zum öffentlichen Interesse an effektiver Strafverfolgung für immer weniger schutzwürdig gehalten. So sind die Rufe nach einer Reform bzw. der Abschaffung aller strafprozessualen Eheprivilegierungen nicht zu überhören. Zudem bezweckt die englische Regelung allein den Institutionenschutz und nicht den Schutz des Persönlichkeitsrechts des Zeugen, auch wenn faktisch dessen konfliktbehaftete Situation aufgehoben wird. Bei der englischen Regelung muss zudem mitgedacht werden, wofür die Privilegierung gerade nicht gilt: nämlich für Sexual- und Gewaltstraftaten gegenüber Minderjährigen und Wert (und dieses Menschenrecht) wird als so wichtig aufgefasst, dass in fast jeder Rechtsordnung Familienmitglieder von der Zeugnispflicht gegeneinander ausgenommen sind, auch wenn ihre Aussage für die Wahrheitsfindung entscheidend ist.“). 134 Für Deutschland s. S. 46 ff., für Frankreich s. S. 161 f. und für England s. S. 224 ff. 135 Für Deutschland s. S. 71 ff., für Frankreich s. S. 159 ff. und für England s. S. 226 ff. 136 Zur ratio des deutschen Rechts insgesamt s. S. 80. 137 Zur ehelichen Harmonie als ratio im englischen Rech s. S. 226.
VIII. Vergleich der ratio
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dem eigenen Ehepartner. Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Ehepartners und minderjähriger Kinder ist somit dem Interesse an der Aufrechterhaltung der Ehe übergeordnet. Außerdem gilt die Privilegierung nie für Aussagen für die Verteidigung.138 Das Beschuldigteninteresse ist dem individuellen Zeugeninteresse immer übergeordnet. Es zeigt sich also, dass der englische Gesetzgeber einigen Interessen den Vorrang gegenüber dem Schutz der Ehe einräumt, während der deutsche Gesetzgeber dies nicht tut. Als primärer Zweck des ‚Rechts zur Lüge‘ wird in Frankreich der Schutz der Wahrheitsfindung verstanden.139 Sekundär ist möglicherweise auch der Schutz der Familie intendiert.140 Das Konzept eines ‚Rechts zur Lüge‘ wäre keine sonderlich effektive Umsetzung des Familienschutzes, da die Angehörigen schließlich weiterhin zur Aussage verpflichtet sind. Wäre tatsächlich der Schutz der aussagenden Person beabsichtigt, so kennt auch das französische Recht effektivere Wege, diesen zu garantieren. Man denke nur an die absolute incompatibilité für Kinder im Scheidungsverfahren ihrer Eltern, an das Zeugnisverweigerungsrecht für Berufsgeheimnisträger oder auch an das Zeugnisverweigerungsrecht für Angehörige im Zivilverfahren.141 Hieran zeigt sich, dass der französische Gesetzgeber die Familie grundsätzlich für schützenswert hält, für ihn im Strafverfahren jedoch andere Interessen überwiegen. Die Privilegierung dient nicht vorrangig dem Schutz von Individualinteressen, sondern bezweckt die Wahrung des staatlichen Interesses der effektiven Strafverfolgung. Hierfür spricht auch die Eingliederung der Verwandten in den Personenkreis des Art. 335 CPP. Denn den dort genannten Personen wird wegen ihrer Parteilichkeit bei der Aussage nicht vertraut. Allerdings drängt sich die Frage auf, ob es tatsächlich sinnvoll ist, die Wahrheitsfindung dadurch schützen zu wollen, dass Angehörige zwar unvereidigt aussagen müssen, aber ohne Strafandrohung vor Gericht lügen dürfen. Wie in der französischen Literatur häufig bemerkt wird, ist die Unterscheidung zwischen témoignage und simple renseignement für die Beweiswürdigung nicht mehr relevant. Und auch wenn die Strafbarkeit der Falschaussage praktisch nur eine geringe Abschreckungswirkung entfalten mag, so entfällt diese vollkommen, wenn die Falschaussage gar nicht strafbar ist. Es muss daher bezweifelt werden, dass der französischen Regelung nach 1811 überhaupt jemals eine klare gesetzgeberische ratio zu Grunde lag. Das französische Recht erscheint vielmehr in erster Linie durch historische Zufälligkeiten geprägt zu sein.142 Zwar hatte sich der französische Gesetzgeber bei der Ab138
Zur Ausnahme von der non-compellability für die Verteidigung s. S. 188. Zur ratio des Wahrheitsfindungsschutzes in Frankreich s. S. 161 f. 140 Dies wurde insbesondere zu Beginn des 20. Jhd. vertreten, s. S. 159 ff. 141 Zur ehemaligen incompatibilité von Kindern im Scheidungsverfahren s. S. 123 f., zum secret professionnel s. S. 125 und zum Zivilrecht s. S. 130 f. 142 S. hierzu S. 249 ff. 139
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E. Rechtsvergleich
lösung des CIC durch den CPP dazu entschlossen, die so entstandene Rechtslage zu erhalten. Dieses gesetzgeberische ‚Konzept‘ wurde aber weitgehend durch die Einführung der ausnahmslosen Vereidigung aller Zeugen in der instruction im Jahr 1994 aufgehoben. Nunmehr kann der angehörige Zeuge zwar in der audition ungestraft lügen; hat sich aber, sofern er bereits vor dem Ermittlungsrichter entsprechend ausgesagt hat, bereits wegen Meineides strafbar gemacht. Ein an einer gesetzgeberischen ratio orientiertes Konzept ist hierbei nicht mehr zu erkennen. Obwohl überall ähnliche Gründe für die Angehörigenprivilegierung diskutiert werden, kommt die jeweils h.M. in den drei Ländern zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Der Schutz der Familie wird in Frankreich nicht als gewichtig genug anerkannt, um das staatliche Strafverfolgungsinteresse zu überwiegen. Stattdessen schlägt Frankreich mit dem Schutz der Wahrheitsfindung einen Weg ein, der sich deutlich von demjenigen in Deutschland und England unterscheidet. Deutschland und England nehmen den familiären Aspekt auf, wobei England nur einen auf Ehegatten beschränkten Schutz bietet. Und auch in England kann der Schutz der Ehe zwar als Zweck der non-compellability ausgemacht werden, die Beschuldigtenrechte gehen diesem Zweck allerdings immer vor. In Deutschland wird als einzigem Land die individuelle Situation des Zeugen hervorgehoben und vor die Beschuldigtenrechte gestellt.
IX. Stellenwert von Zeugeninteressen im strafrechtlichen Gesamtgefüge Der Vergleich der rationes der jeweiligen Sonderregeln hat deutliche Unterschiede zwischen den drei Staaten aufgezeigt: Während das französische Recht die Wahrheitsfindung schützen will, sorgt sich das englische Recht um die Harmonie und das Vertrauen in der Ehe, allerdings nur so lange, wie keine specified offences oder die Verteidigungsrecht des Beschuldigten betroffen sind. Das deutsche Recht hingegen schützt das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Gewissensfreiheit des Zeugen sowie dessen Familienleben, und zwar im Wesentlichen ausnahmslos. Wie die jeweiligen Interessen innerhalb des nationalen Strafrechtssystems gewichtet werden, hängt von nationalen Traditionen und sozialen Entwicklungen ab. Diese Unterschiede werfen daher die Frage auf, welcher Stellenwert den Individualinteressen von Zeugen im Strafrecht der drei Länder generell, jenseits von Privilegierungen von nahen Angehörigen, zukommt. Die Ehe wird in allen drei Rechtsordnungen grundsätzlich für schutzwürdig gehalten, wobei jeweils im Detail zwischen dem Allgemeininteresse am Erhalt der Ehe als Institution und dem Individualinteresse der Eheleute
IX. Stellenwert von Zeugeninteressen im strafrechtlichen Gesamtgefüge
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am Erhalt ihrer Ehe zu differenzieren ist. In Frankreich wird die Familie eindeutig als schutzwürdig anerkannt – die vielen materiellen Strafnormen zu ihrem Schutz machen dies deutlich. Die Ermittlung der materiellen Wahrheit und damit die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gehen im Strafverfahren jedoch immer vor. Im Zivilverfahren ist dies anders, was eben daran liegt, dass es dort nicht um ein staatliches Wahrheitserforschungsinteresse, sondern ‚nur‘ um die Durchsetzung privater Rechte geht. Ein ähnliches Phänomen lässt sich im deutschen Zivilverfahren beobachten: Das Zeugnisverweigerungsrecht erfasst dort einen sachlich größeren Bereich als in der StPO.143 Andererseits sticht die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in Frankreich auch nicht alle Individualinteressen aus – der weitgehende Schutz von Berufsgeheimnisträgern macht dies deutlich. Ähnlich verhält es sich in England mit dem Schutz der Ehe durch die non-compellability-Regel. Auch der englische Gesetzgeber hält die Eheleute für schutzwürdig. Höher wiegt jedoch immer das Recht des Angeklagten, sich zu verteidigen. Auch die körperliche Unversehrtheit des Zeugen selbst und die Verfolgung von gewissen Taten zu Lasten Minderjähriger gehen dem Schutz der Ehe vor. Anders hat sich der deutsche Gesetzgeber entschieden: Im Strafverfahren gewährt er Angehörigen ein absolutes Verweigerungsrecht. Diese Unterschiede scheinen Rückschlüsse auf das Verhältnis von Staat und Individuum für den begrenzten Bereich des Strafverfahrens zuzulassen.144 Aus dem Vorrang staatlicher vor gewissen individuellen Belangen kann geschlossen werden, dass in Frankreich eine stärkere Staatlichkeit herrscht.145 Im Vergleich dazu ist das absolute Zeugnisverweigerungsrecht in Deutschland eher Zeichen eines größeren Misstrauens gegenüber dem Staat.146 Dieser Unterschied könnte historisch begründet sein: Bestand in Frankreich seit der französischen Revolution für jeden Bürger zumindest theoretisch die Möglichkeit, die Gesetzgebung des Staates durch allgemeine und gleiche Wahlen zu beeinflussen, so war dies einem großen Teil der Menschen noch im deutschen Reich bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts nicht
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Es berechtigt den Zeugen auch zur Verweigerung des Zeugnisses über Tatsachen, die ihm oder seinen Angehörigen zur Unehre gereichen oder einen Vermögensschaden auslösen könnten, s. zum deutschen Zivilverfahren. S. 38 f. 144 So sagte die Hong Konger Law Reform Commission: „[F]amily members denouncing each other in criminal cases for the greater good of society has connotations of totalitarian regimes.“ (Übersetzung der Autorin: „Dass sich Familienmitglieder untereinander in Strafverfahren für das Wohl der Gesellschaft denunzieren, hat Konnotationen eines totalitären Regimes.“) s. Law Reform Commission of Hong Kong, Report, 1988, S. 79. 145 Hartmeier, in: Ammon/Hartmeier (Hrsg.), Zivilgesellschaft: Ein Spannungsfeld im Wandel: Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Ukraine, Weissrussland, 2001, S. 20. 146 Hartmeier, in: Ammon/Hartmeier (Hrsg.), Zivilgesellschaft: Ein Spannungsfeld im Wandel: Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Ukraine, Weissrussland, 2001, S. 21.
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möglich.147 In Deutschland kommt dieses Misstrauen auch durch die vielen Freiheitsrechte zum Ausdruck, die dem Bürger mittlerweile in jeder Lebenslage Schutz vor unberechtigten Eingriffen des Staates liefern. Die französische Regelung zeugt hingegen von einem starken Vertrauen in die Richtigkeit staatlicher, d.h. hier richterlicher Entscheidungen. Die wenig nachgiebige Haltung des französischen Strafprozessrechts gegenüber Individualinteressen kann allerdings auch ein hohes Bedürfnis nach innerer Sicherheit und Strafverfolgung zum Ausdruck bringen. England geht indes einen Mittelweg: Die Individualinteressen des Zeugen werden zumindest reflexartig geschützt.148 Die bestehende Regelung zur noncompellability scheint auf ein Verhältnis von Staat und Individuum zu deuten, dass weder Individual- noch Staatsinteressen grundsätzlich für bedeutender hält.149 Durch die Ausnahmen in bestimmten Fällen wird ein profunder Abwägungsprozess deutlich, den der englische Gesetzgeber im Sinne einer verhältnismäßigen und gerechten Lösung vorgenommen hat. Die starke Kritik am bestehenden Modell der non-compellability legt aber nah, dass auch England sich eher in die Richtung Frankreichs bewegt. Die Kritik lässt erahnen, dass gesellschaftlich kein Verständnis mehr für die Besserstellung von Ehepartnern im Vergleich zu anderen Zeugen besteht.150 Dies könnte zwar auch bedeuten, dass die Ehe im Vergleich zu nichtehelichen Lebenspartnerschaften nicht mehr für schutzwürdig gehalten wird. Zumindest die Äußerungen mancher Kritiker lassen jedoch eher auf eine generelle Sympathie für ein strengeres und strikteres Strafrechtssystem schließen, das weniger Rücksicht auf Individualinteressen nimmt.151
147
So etwa im preußischen Dreiklassenwahlrecht. Reflexartig, weil die h.M. in England davon ausgeht, dass s. 80 PACE primär die Institution Ehe und nicht die konkreten Eheleute schützt, s. S. 226 ff. 149 Dieser Flexibilität wird das englische Strafprozessrecht auch durch das Opportunitätsprinzip gerecht, s. Huber/Klumpe, in: Gropp/Huber (Hrsg.), Rechtliche Initiative, 2001, S. 226 Auf der anderen Seite besteht jedoch zum Beispiel die Regel, dass illegal gewonnene Beweise generell verwertbar sind, wenn dies nicht die Fairness des Verfahrens einschränkt. Diese flexible Regelung weist dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse eigentlich den Vorrang zu. 150 Diese prozessuale Regelung, die Strafbefreiung bei gemeinsamer conspiracy und die Verteidigung der marital coercion werden als anachronistisch beurteilt, s. S. 211 ff. 151 Die compellability für die Verteidigung ist jedoch nicht Teil dieser Entwicklung, denn hiermit wird ein anderes Individualinteresse, namentlich das des Beschuldigten, gestärkt. 148
X. Fallstudie Beinahetreffer
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X. Fallstudie Beinahetreffer Ein Beinahetreffer ist mittlerweile in allen drei Ländern aufgetreten. England sieht sich selbst als Heimat des familial searching.152 Diese Ermittlungsmethode ist dort bei Fällen schwerer Kriminalität, die anderweitig nicht lösbar sind, gängige Praxis und bietet durch die schiere Größe der englischen Datenbank auch eine verhältnismäßig hohe Chance auf einen Treffer.153 Eine explizite gesetzliche Regelung existiert für diesen höchst sensiblen Bereich der Strafverfolgung allerdings nicht. Ebenso wenig sind die Vorgaben der Polizei für das familial searching der Öffentlichkeit zugänglich.154 Diese Methode stößt trotz der Ausnutzung des verwandtschaftlichen Verhältnisses auf keinerlei rechtliche Probleme. In England ist die Angehörigenprivilegierung auf Ehepartner begrenzt. Da der Beinahetreffer nur zur Feststellung der Blutsverwandtschaft funktioniert, können logischerweise die non-compellability-Regeln keine Auswirkung hierauf haben. In Frankreich ist das familial searching als gezielte Ermittlungsmethode ein neues Phänomen. Zwar scheint es mittlerweile vereinzelte Einsätze des Verwandtenscreenings zu geben. Aber auch hier fehlt es an einer expliziten Gesetzesgrundlage. Dass Familienmitglieder zur Überführung ihrer Angehörigen herangezogen werden können, stellt auch in Frankreich kein Problem dar.155 Nach dem französischen Modell wäre eine Privilegierung auch schwer vorstellbar, da diese schließlich nur vor einer Strafbarkeit von Falschangaben schützt.156 Die Mitwirkung am Verfahren gegen den Angehörigen ist nicht ausgeschlossen. Warum sollte für die Teilnahme an einer DNA-Untersuchung etwas anderes gelten? Die deutsche Situation ist hingegen deutlich von dem Problem der Angehörigenüberführung geprägt.157 Sicherlich entstehen auch nach der Reform durch das Fehlen einer Gesetzesgrundlage für das familial searching Probleme, die mit denen in England und Frankreich vergleichbar sein dürften. Es stellt sich die Frage, bei welchen Taten, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Proben ein Verwandtschaftsabgleich durchgeführt werden darf. Insofern ist die rechtliche Entwicklung der beiden europäischen Nachbarn beachtenswert. Deutschland ist jedoch das einzige Land, in dem der Beinahetreffer wegen der Angehörigenprivilegierung problematisch ist. 152
Zum Unterschied zwischen Beinahetreffer und familial searching s. S. 97. Das Vereinigte Königreich hat die weltweit größte DNA-Datenbank im Verhältnis zur Bevölkerung. 154 S. hierzu S. 239 f. 155 Zur Aussagepflicht von Angehörigen s. S. 130 ff. 156 Das System der Ausnahme von einer Strafbarkeit für Angehörige kann in diesem Kontext sowieso nicht eingreifen, da Angehörige ihre DNA immer nur freiwillig abgeben. 157 Zum Stellenwert der Angehörigenprivilegierung im deutschen Recht s. S. 110. 153
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E. Rechtsvergleich
In Bezug auf die Privilegierung muss festgestellt werden, dass der Vergleich der Behandlung eines Beinahetreffers in den drei Rechtsordnungen die restlichen Befunde der Rechtsvergleichung unterstützt: Dass England und Frankreich keine Rücksicht auf Angehörige beim familial searching nehmen zeigt erneut, dass in Deutschland die Angehörigenprivilegierung mit Abstand am stärksten ausgeprägt und am tiefsten verwurzelt ist.
XI. Wertender Vergleich Stößt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im europäischen Strafrecht ohne eine Angleichung des nationalen Rechts an seine Grenzen, da kein ausreichender Minimalkonsens zwischen den Ländern besteht, kann die Europäisierung nur durch Harmonisierung fortgeführt werden.158 Käme es zu einer Harmonisierung der Zeugenvernehmung, so müsste die beste, das heißt die in alle nationalen Rechtsordnungen passende, verständlichste und nicht zuletzt gerechteste Regelung gewählt werden.159 Eine wertende Vergleichung kann zudem ganz generell Impulse für die nationale Rechtsentwicklung geben. Möchte man unterschiedliche Regelungen vergleichen, müssen hierfür zuerst Bewertungsparameter festgelegt werden. Relativ klar sind die Kriterien der Folgerichtigkeit und der Verständlichkeit und Anwendbarkeit. Deutlich schwieriger ist es, Maßstäbe für die Gerechtigkeit einer Regelung im engeren Sinne zu konkretisieren. 1. Kompatibilität der Ansätze im europäischen Kontext Geht es um die beste Lösung für die gesamte Europäische Union, so muss zuerst bedacht werden, dass in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Prozessrechtssysteme gelten. Sie können grob in inquisitorische und adversatorische Systeme unterteilt werden. Es stellt sich die Frage, ob eine Angehörigenprivilegierung aus dem einen in die anderen Systeme transplantiert werden kann. Für die französische Regelung stellt sich allerdings nicht primär die Frage der Vereinbarkeit mit dem adversary system, sondern die generelle Frage einer Übertragbarkeit. Weder Deutschland noch England kennen die Unterscheidung zwischen témoins und simples renseignements. In England werden alle Zeugen vereidigt. Eine unvereidigte Vernehmung ist nicht möglich. In Deutschland werden Zeugen nur ausnahmsweise vereidigt. Die Differenzie158
S. hierzu 293 ff. Zur wertenden Rechtsvergleichung s. Eser, in: Freund/Frisch (Hrsg.), Grundlagen und Dogmatik: FS für Wolfgang Frisch zum 70. Geburtstag, 2013, S. 1459. Genauso könnte die Verständlichkeit bereits als Kriterum einer gerechten Regelung gesehen werden. Die Gerechtigkeit müsste dann als Gerechtigkeit im engeren Sinne, das heißt, als zweckmäßiger Interessenausgleich bezeichnet werden. 159
XI. Wertender Vergleich
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rung des französischen Modells ist daher unabhängig von ihrem Prozesssystem nicht auf die anderen Rechtsordnungen übertragbar. Zudem ergibt das französische System nur im Zusammenspiel mit den materielrechtlichen Aussagedelikten Sinn, die ebenfalls in allen Mitgliedstaaten geändert werden müssten. Eine solche Änderung würde den gesamten Zeugenbeweis fundamental verändern, was dem Subsidiaritätsgebotes widerspräche. Bei der deutschen Lösung, die einem inquisitorischen System entstammt, stellt sich dafür die Frage der Vereinbarkeit mit adversatorischen Verfahrenssystemen. Im Parteiprozess wird ein besonderer Wert auf die Beschuldigtenrechte gelegt, da es dort (außer in Ausnahmefällen) keine unabhängige Instanz gibt, die für die Wahrung der Rechte beider Parteien eintritt.160 So könnte es ein Problem darstellen, wenn ein Zeuge nicht aussagt und daher dem Beschuldigten einen potentiellen Entlastungsbeweis entzieht. Allerdings widerspricht die Schlechterstellung des Beschuldigten nicht grundsätzlich dem adversary system. Auch in anderen Fällen, wie bei der disclosure von Dokumenten der Anklage, werden dem Angeklagten nicht immer sämtliche Informationen für seine Verteidigung zur Verfügung gestellt.161 Es ist dem englischen Recht daher nicht vollkommen fremd, auch die Beschuldigtenrechte zugunsten anderer Interessen einzuschränken. Ein ausnahmsloses subjektives Zeugnisverweigerungsrecht wäre daher auch mit dem adversatorischen Prozess vereinbar. Das genau gegenteilige Problem könnte aus Sicht des deutschen Rechts durch die Aufbrechung der non-compellability bei Aussagen für den Angeklagten entstehen. Im Inquisitionsprozess ist eine strenge Aufteilung von Aussagen für die Anklage und für die Verteidigung nicht bekannt. Grundsätzlich können aber auch von den Parteien Zeugen geladen werden. Daher ist es denkbar, daran, wer den Zeugen geladen hat, eine Rechtsfolge zu knüpfen. Diese Regelung würde praktisch jedoch zumeist leer laufen, weil die meisten Zeugen vom Gericht geladen werden. Ebenso ist es kein grundsätzliches Problem des Inquisitionsprozesses, dass Beschuldigtenintressen, denen des Zeugen übergeordnet werden. Aus Sicht des Inquisitionsprozesses könnte sich daher die Lösung der non-compellability und der specified offences harmonisch in dieses System einfügen. 2. Verständlichkeit und Umsetzbarkeit Die Frage der Einfachheit und Verständlichkeit bemisst sich nach der Möglichkeit für Rechtsanwender und Rechtsadressaten, die jeweilige Regelung ohne eine vertiefte Studie der Materie verstehen zu können. Ein weiterer 160
S. hierzu 173 ff. Sog. crown privilege oder public interest immunity, s. Dennis, Law of Evidence, 2013, Rn. 9. 161
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E. Rechtsvergleich
Aspekt ist die Einfachheit der Anwendung, das heißt die Auslegbarkeit der Regelung oder auch das Fehlen einer Notwendigkeit hierfür. In Deutschland ist das subjektive Recht auf Zeugnisverweigerung leicht verständlich, da es sich um ein absolutes Recht handelt, das ausnahmslos und in allen Verfahrensstadien gewährleistet ist. Etwas unübersichtlicher wird die Rechtslage unter Berücksichtigung aller flankierenden Normen. Solange sie jedoch ebenfalls einen absoluten Schutz anordnen, bleiben sie weiterhin gut verständlich. Die Wirkung der Verweigerungsrechte auf das restliche Verfahren durch § 252 StPO und die Rückausnahme bei ermittlungsrichterlicher Vernehmung ist dagegen schon deutlich komplizierter. Indem eine Belehrung darüber fehlt, dass das Schweigen sich nicht negativ auf den Beschuldigten auswirken kann, ist für den angehörigen Zeugen seine eigene Situation auch nicht voll überschaubar. So ist das Grundkonzept eines Zeugnisverweigerungsrechts durchaus einfach und verständlich. Die gesetzliche, richterliche und dogmatische Entwicklung der Angehörigenprivilegierung ist innerhalb der letzten mehr als 100 Jahre jedoch recht unübersichtlich geworden. Ein großer Schritt in Richtung Klarheit wäre durch eine umfassende Belehrung getan, da so auch der Zeuge tatsächlich in die Position versetzt würde, eine aufgeklärte Entscheidung über die Verweigerung seines Zeugnisses treffen zu können.162 In Frankreich wird das Verständnis der Angehörigenprivilegierung für den Rechtsanwender zum einen schon dadurch erschwert, dass die unvereidigte Aussage der Angehörigen im Prozessrecht, deren Konsequenz aber im materiellen Recht kodifiziert ist. Betroffene angehörige Zeugen werden von der Straffreiheit einer unvereidigten Falschaussage nichts wissen, da es keine entsprechende Belehrungspflicht gibt. Allerdings ist das ‚Rechts zur Lüge‘, wenn man es einmal verstanden hat, von der Funktionsweise her simpel. Die Angelegenheit wird jedoch dadurch verkompliziert, dass für die instruction andere Regeln gelten und es sich daher um eine nicht folgerichtige und inkonsequente Normierung handelt. Diese Inkonsequenz wirkt sich auch negativ auf die Verständlichkeit aus. Die englische Regelung der non-compellability von Ehepartnern ist grundsätzlich leicht zu verstehen. Durch die Einschränkungen, die die non-compellability erfährt, verkompliziert sich jedoch die Lage. Insbesondere die Aussagepflicht für die Verteidigung hebt die klare Entscheidung für ein Verweigerungsrecht auf und macht die Situation für den Ehepartner komplexer. Hinzu tritt, dass die specified offences nicht vollkommen klar definiert sind, da nicht zu einer Kataloglösung gegriffen wurde – die jedoch im Common LawSystem, in dem nicht alle Straftatbestände kodifiziert sind, auch nur schwer möglich wäre. In Anbetracht der Tatsache, dass der englische Gesetzgeber
162
Zum Belehrungsdefizit der deutschen Rechtslage s. S. 59.
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Angehörige gerade nicht absolut privilegieren wollte, ist die Regelung allerdings verhältnismäßig klar verständlich. In puncto Verständlichkeit kann also festgestellt werden, dass das französische Recht durch seine nicht stringente Regelung auch nur schwer verständlich ist. Das englische Recht wird durch seine Ausnahmen zwar komplizierter, bietet allerdings immer noch eine einfache Regelung für einen differenzierten relativen Schutz. Das deutsche Recht ist grundsätzlich gut verständlich. Allerdings sind Rechtsprechung und Literatur zu einem dogmatischen Dickicht angewachsen. 3. Gerechtigkeit im engeren Sinne Die Kriterien für eine Bewertung, ob die Angehörigenprivilegierungen gerecht sind, sind nur schwer zu ermitteln. Generell kann gefragt werden, ob eine Bewertung anhand eines so unklaren, auf ethisch-moralische Wertungen abzielenden Kriteriums überhaupt sinnvoll ist. Da der Anspruch an den Gesetzgeber jedoch nicht nur ist, eine folgerichtige und verständliche, sondern eben auch eine inhaltlich gerechte Lösung zu finden,163 kann sich diese Arbeit der Frage nicht verschließen. Die objektive institutionelle Gerechtigkeit einer Regelung bemisst sich danach, ob sie alle in Betracht kommenden individuellen aber auch kollektiven Interessen bedacht und in ein ausgewogenes, dem Gemeinwohl entsprechendes Verhältnis im Sinne einer überindividuellen Zweckmäßigkeit gebracht hat.164 Zudem müssen gleiche Fälle gleich, ungleiche Fälle ungleich behandelt werden.165 Da dies jedoch immer noch sehr abstrakte und nur schwer auf den Einzelfall anwendbare Kriterien sind, soll die Gerechtigkeitskontrolle nicht zu einem Urteil darüber kommen, welche Regelung am gerechtesten ist. Sie soll stattdessen eine Filterfunktion einnehmen. Die Frage ist daher: Gibt es Regelungen, die eindeutig ungerecht sind, weil sie bestimmte Interessen kategorisch unberücksichtigt lassen? a) Überindividuelle Zweckmäßigkeit Ein erstes Kriterium könnte aus der vernunftrechtlichen Erwägung der Gemeinwohlfreundlichkeit geschöpft werden. Diese Arbeit kann keine psychologische oder soziologische Bewertung der Belastungssituation einer Aussage 163
Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, 1992, S. 11 m.w.N. Hierbei handelt es sich um die Zweckmäßigkeit in Bezug auf die soziale Gerechtigkeit, s. Kaufmann, Gerechtigkeit, 1993, S. 32, der neben der Gleichheit noch die Rechtssicherheit als Aspekte der Gerechtigkeit erkennt; zum Interessenausgleich s.a. Kriele, Kriterien, 1963, S. 67. 165 Kaufmann, Gerechtigkeit, 1993, S. 29 mit Verweis auf das V. Buch der Nikomachischen Ethik Aristoteles’; s.a. Kriele, Kriterien, 1963, S. 90. 164
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E. Rechtsvergleich
gegen einen Angehörigen leisten. Dass diese Situation jedoch in allen drei Ländern zumindest zum Teil bedacht wurde, spricht dafür, dass ein gewichtiger Unterschied zwischen einer gewöhnlichen Zeugenaussage und der Aussage eines Angehörigen des Beschuldigten besteht. Ausgangspunkt der folgenden Erwägungen ist also, dass die Situation einer Aussage im Verfahren gegen nahe Angehörige für den Zeugen sehr belastend sein kann.166 Wie der Vergleich zeigt gebietet es das Gemeinwohl trotzdem – anders als z.B. das deutsche Verfassungsrecht167 – nicht zwingend, dass Angehörige anders behandelt werden als andere Zeugen. Eine ausnahmslose Zeugnispflicht stellt keine für das Allgemeinwohl absolut unzweckmäßige Regelung dar, die zur völligen Erosion von Ehe, Familie und Persönlichkeitsrechten führen würde. Auch wenn es aus deutscher Sicht nicht richtig scheint, das Wahrheitsermittlungsinteresse absolut vor die Interessen der Angehörigen zu stellen, so gebietet es doch die Gerechtigkeit nicht grundsätzlich, umgekehrt Angehörigeninteressen der Wahrheitsermittlung vorzuziehen. Die Gerechtigkeit könnte vielmehr gegen eine Privilegierung sprechen, um die Beschuldigteninteressen nicht zu gefährden. Diese Erwägung wird im englischen Recht angestellt, weswegen das Zeugnis von Ehegatten nicht verweigert werden darf, wenn sie vom Angeklagten geladen wurden. Ob Angehörige überhaupt privilegiert werden, betrifft daher die Frage der allgemeinen Interessengewichtung. Ob das Persönlichkeitsrecht mehr zählt als der staatliche Anspruch auf Wahrheitsermittlung und welchen Stellenwert die Familie oder die Beschuldigtenrechte innerhalb der Rechtsordnung einnehmen, kann nur begrenzt anhand des Kriteriums einer gerechten Lösung diskutiert werden. Es handelt sich hierbei vielmehr um eine auch politische Entscheidung, die nicht per se als gerecht oder ungerecht bezeichnet werden kann. Eine Bewertung der Rangordnung ist zwar möglich. Hierbei bewegt man sich jedoch auch aufgrund der eigenen nationalen Prägung nicht auf einer objektiven Bewertungsebene, sondern auf dem Gebiet der Rechtspolitik. Der Stellenwert dieser vier Belange kann in begrenztem Maße daher Aufschluss über das jeweilige Verhältnis des Staates zu Kollektiv- und Individualinteressen bieten.168 b) Gleichbehandlung Da Gerechtigkeit nach heutigem Verständnis viel mit Gleichbehandlung zu tun hat, muss die englische Regelung als ungerecht bewertet werden, weil sie einseitig Ehepartner privilegiert. Denn zumindest die Blutsverwandten der Kernfamilie sind ebenso wie die Ehepartner untereinander emotional verbun166
Diese potentielle Belastung wurde von den durch die Verfasserin interviewten Praktikern in den drei verglichenen Ländern bestätigt. 167 S. hierzu S. 80. 168 S. zu diesem Verhältnis 280 f.
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den, sodass die Belastungssituation für sie im Falle einer Aussage absolut vergleichbar ist. Das Vertrauen insbesondere zwischen Eltern und minderjährigen Kindern kann durch eine erzwungene Aussage auch für die Zukunft geschädigt werden, was weitere Erziehungsbemühungen erschweren könnte. So ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, dieses Verhältnis – vielleicht noch mehr als das der Ehepartner – unter staatlichen Schutz zu stellen. In Deutschland könnte ähnlich für die Aufnahme der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft argumentiert werden, wobei das erzieherische Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern schwerer wiegt. Andersherum könnte der persönliche Schutzbereich aber auch als zu weit kritisiert werden. Denn er erfasst einen großen Kreis von Blutsverwandten, was möglicherweise nicht mehr zeitgemäß ist. Außerdem sind auch Personen privilegiert, die in überhaupt keinem Näheverhältnis zum Angeklagten stehen, sich aber durch ein spontanes Verlöbnis trotzdem der Zeugnispflicht entziehen können. Der Gleichheitsaspekt spielt auch bei der Bewertung der französischen Rechtslage eine Rolle. Denn wenn Angehörige in instruction und audition unterschiedlich behandelt werden, ohne dass hierfür ein plausibler Grund besteht, so widerspricht dies allgemeinen Gerechtigkeitserfordernissen. Abgesehen davon birgt das Modell des ‚Rechts zur Lüge‘ die Gefahr der Falschbelastung Dritter, da Verwandte aussagen müssen und gleichzeitig ihren Angehörigen entlasten wollen. Hinzu tritt die Gefahr der Fehlleitung des Staates, was jedoch unter Gerechtigkeitsaspekten weniger gewichtig ist, als die Gefahr der Falschbelastung eines Dritten. Die französische Regelung ist daher disparat, inkonsistent und im Endeffekt ungerecht. c) Einzelfallgerechtigkeit Die Gerechtigkeit der jeweiligen nationalen Regelung zeigt sich insbesondere im Umgang mit häuslicher Gewalt und mit Gewalt gegen sonstige schutzbedürftige Personen. Weder Frankreich noch Deutschland haben gesetzliche Lösungen, die diese schwierige Situation berücksichtigen. Die deutsche Regelung der Verwertbarkeit einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung ist eine richterrechtliche Behelfslösung. Anders die Lage in England: Hier wird eine Interessenabwägung vorgenommen, wodurch der absolute Angehörigenschutz in dieser besonderen Situation aufgehoben wird. Soweit die englische Lösung dazu führt, dass Eheleute wegen Gewaltdelikten aussagen müssen, die gegen sie selbst begangen wurden, könnte man ihr jedoch Paternalismus gegenüber dem Opferzeugen vorwerfen.169 Denn hier entscheidet der Staat über die Aus-
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So unterstützt auch die feministische Theorie den Ansatz einer Aussagepflicht in diesen Fällen, da diese keine entmachtende Wirkung auf die betroffenen Zeugen habe, sondern vielmehr die Opfer zu einer Konfrontation mit der Situation zwänge, die den Opfern helfe, s. Seymore Nw. U. L. Rev. 90 (1995), 1032, S. 1082 Interessant sind in
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sage des Angehörigen, da dieser aufgrund seiner Situation selbst nicht in der Lage sei, die richtige Entscheidung zu treffen. Allerdings geht es in der Sache immer noch um einen staatlichen Strafanspruch, über den das Opfer grundsätzlich ohnehin nicht disponieren kann. Diesen Strafanspruch darf der Staat legitimer Weise nutzen, um die Abhängigkeit in gewalttätigen Beziehungen zu durchbrechen. Die Aussagepflicht ist daher zumindest auf dem Papier eine sinnvolle und gerechte Lösung. Die englische Lösung bietet einen interessanten Ansatz für einen sinnvollen Interessenausgleich. Grundsätzlich entspricht das Konzept eines nur relativen Schutzes angehöriger Zeugen, das von der jeweiligen Tat abhängig gemacht wird, eigentlich viel mehr dem Maßstab einer gerechten Lösung als ein absolutes Modell, da hierbei die Interessen, die grundsätzlich eine noncompellability begründen können, mit denen, die im Einzelfall betroffen sind, abgewogen werden. Die Grenzziehung bei den specified offences ist trotz der Nichtaufnahme von Kapitaldelikten eine gerechte Lösung, da die specified offences nicht nur besonders schwere Delikte betrifft, sondern dort auch ein Beweisnotstand drohen muss. Allerdings besteht ein großer Unterschied zwischen theoretischem Ansatz und praktischer Umsetzung. Denn die Zweckmäßigkeit der Regelung ist nicht wirklich erhöht, wenn die Aussagepflicht praktisch nicht durchgesetzt wird. Zweckmäßiger ist die Ausnahme von der hearsay-Regel. Betrachtet man diese allerdings unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten, so muss festgestellt werden, dass hierdurch wieder nicht alle rechtlich zeugnispflichtigen Personen betroffen werden, sondern nur diejenigen, die früher im Verfahren bereits ‚dumm genug‘ waren, ohne Zwang auszusagen. Außerdem beschränkt sich die Ausnahme zur hearsay-Regel nicht auf Fälle von specified offences. Einen gerechten Ausgleich bietet diese jetzige Umgehungsmöglichkeit daher auch nicht. Eine andere Möglichkeit für die gerechte Behandlung von Fällen häuslicher Gewalt, die auch in der Praxis umsetzbar ist, stellt daher eine alternative außerstrafrechtliche Lösung dar, die auf Zwang verzichtet, und einen alternativen Weg aus dem Abhängigkeitsverhältnis weist.
XII. Zusammenfassung Abschließend kann festgestellt werden, dass sich zwar die Gesetzgeber aller drei Länder der sozialen Beziehung zwischen Beschuldigtem und seinen Angehörigen angenommen haben, dass allerdings die daraus resultierten Regelungen von sehr unterschiedlicher Reichweite sind und sich auch in ihrer diesem Artikel auch die Interviews mit Opfern häuslicher Gewalt über die Frage, ob sie ausgesagt hätten, wenn sie dazu rechtlich verpflichtet gewesen wären (S. 1075 ff.).
XII. Zusammenfassung
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Zielsetzung stark unterscheiden. So besteht zwar nominell zwischen Deutschland und Frankreich in Bezug auf den privilegierten Personenkreis eine große Gemeinsamkeit, gleichzeitig unterscheiden sich aber die Wirkungen der Privilegierungen enorm. Ein Kompromissmodell zwischen einem subjektiven Zeugnisverweigerungsrecht und einer absoluten Aussagepflicht mit ‚Recht zur Lüge‘ auf sekundärer Sanktionierungsebene könnte die Regel-AusnahmeLösung – nicht der persönliche Schutzbereich! – des englischen Rechts bieten. Da es bei der Gewährung eines Aussagedispenses immer um das Verhältnis von Strafverfolgungs-, Zeugen- und Beschuldigteninteressen geht, erscheint das System der specified offences als gangbarer Mittelweg. Dies gilt nicht für die Gewichtung des Beschuldigteninteresses, da hier England von einer uneingeschränkten compellability ausgeht. Der Vergleich hat jedoch gezeigt, dass das englische Regel-Ausnahme-Modell der Zeugnisverweigerungsrechte praktisch zu wenig mehr Aussagen von Angehörigen führt, als das deutsche Modell. Daher muss das Ergebnis einer umfänglichen Rechtsvergleichung sein, dass das englische System zwar auf dem Papier einen verlockenden Kompromiss darstellt, dass dieser in der Realität jedoch auch keinen Fortschritt generieren würde. Nötig wäre ein gleichzeitiges Umdenken der Ermittlungsbehörden, sodass allein der Unwille eines angehörigen (Opfer-)Zeugen nicht als Einstellungsgrund betrachtet wird, sondern die Aussagebereitschaft durch begleitende Maßnahmen wie etwa durch außerstrafrechtliche Gewaltschutzinstrumente gesteigert wird.
F. Ausblick: Implikationen für das europäische Beweisrecht Zuletzt werden, gleichsam als Ausblick, die Implikationen der unterschiedlichen Regelungen für ein europäisches Beweisrecht untersucht. Die aktuelle Lage der EU lässt allerdings daran zweifeln, ob eine Europäisierung des Strafverfahrensrechts in den nächsten Jahrzehnten weitergeführt werden kann. Jedenfalls eine britische Beteiligung an weiteren Harmonisierungsmaßnahmen ist nach dem Volksentscheid über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU unwahrscheinlich.1 Die Verhandlungen zur Einführung einer Europäischen Staatsanwaltschaft gehen mit offenem Ausgang weiter. Insgesamt ist in allen Mitgliedsstaaten eine gewisse Europamüdigkeit, wenn nicht sogar zum Teil eine dezidierte Europafeindlichkeit zu konstatieren, was die Verlagerung weiterer Kompetenzen auf die EU unwahrscheinlich erscheinen lässt.2 In einem ersten Schritt wird die Funktionsweise der Europäisierung des Strafverfahrensrechts dargestellt (I.). Darauf wird die Konsequenz der im Rechtsvergleich herausgearbeiteten Unterschiede in der Angehörigenprivilegierung für die Europäisierung im Allgemeinen und für spezielle Mechanismen erläutert (II.). Abschließend folgt eine Zusammenfassung (III).
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Da das Vereinigte Königreich jedoch in den kommenden Jahren über sein Verhältnis mit der EU verhandeln wird und hierfür im Raum steht, dass es eine Rolle wie Norwegen oder die Schweiz einnehmen soll, ist es doch nicht vollkommen ausgeschlossen, dass zum Teil auch das Vereinigte Königreich Maßnahmen auf dem Gebiet des europäischen Strafprozessrechts mit verabschieden wird. So haben die Schweiz, Island und Norwegen zum Teil europäisches Strafrecht im Rahmen des Schengener Abkommens verabschiedet, s. Schröder/Stiegel, in: Sieber/Brüner/Satzger/Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, Rn. 2. Die Schweiz, Norwegen und Island planen Mitglied des PrümBeschlusses zu werden, s. Direktion für europäische Angelegenheiten DEA, Prüm, https:// www.eda.admin.ch/content/dam/dea/de/documents/fs/13-FS-Pruem_de.pdf, 25.12.2016. 2 S.a. Böse ZIS 2014, 152, S. 153.
I. Möglichkeiten der Europäisierung des Strafverfahrensrechts
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I. Möglichkeiten der Europäisierung des Strafverfahrensrechts Das Ziel der Europäisierung der mitgliedstaatlichen Strafverfahrensrechte ist eine effektivere Strafverfolgung. Diese Europäisierung kann entweder durch eine gegenseitige Anerkennung von polizeilichen und justiziellen Entscheidungen (1.) oder durch eine Rechtsharmonisierung (2.) erfolgen. 1. Gegenseitige Anerkennung als Grundlage der Europäisierung Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips und auch der öffentlichen Akzeptanz der EU, sollte jede weitere Zusammenarbeit so schonend wie möglich gestaltet werden. Dafür wäre es ideal, wenn die europäischen Strafverfahrensordnungen bereits so ähnlich wären, dass die nationalen Rechte gar nicht angeglichen werden müssen. Denn die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten der europäischen Rechtsordnungen und die darauf basierende Vergleichbarkeit der Rechtsdurchsetzung sind die Grundlage für das gegenseitige Vertrauen, das wiederum die Basis für eine gegenseitige Anerkennung als Grundprinzip des Europäischen Strafrechts gem. Art. 82 Abs. 1 AEUV darstellt.3 Viel ist bereits abstrakt über diese beiden europäischen Konzepte – gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Anerkennung – geschrieben worden.4 Konsens ist, dass es für ein Vertrauen eines „gleichen, gemeinsamen Grundrechtsfundament[s], gleichwertige[r] innerstaatliche[r] Verfahrensstandards und einer korrekten Anwendungspraxis der Mitgliedstaaten“ bedarf.5 Wie weit diese rechtlichen Gemeinsamkeiten im Detail bestehen müssen, kann abstrakt nicht gesagt werden. Entscheidend dürfte zumeist das generelle Schutzniveau von Individualinteressen im Strafverfahren sein.6 2. Harmonisierung als Grundlage der Europäisierung Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung kann jedoch an seine Grenzen stoßen, wenn die prozessualen Regeln der Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich sind und grundlegende Rechtsprinzipien eines Staates durch die Erhe3
S. hierzu z.B. Erwägungsgrund 4 Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren. 4 Das zentrale Dokument zur gegenseitigen Anerkennung und zum gegenseitigen Vertrauen bildet das Stockholmer Programm – Ein Offenes und Sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, Abl. 2010 C 115, S. 1, 5, 12, 13 ff.; Auch wenn die Resultate dieses Diskurses wenig greifbar und von praktischem Nutzen sind, s. Groeben/ Schwarze/Hatje-Meyer, AEUV Art. 82, Rn. 7; Calliess/Ruffert-EUV/AEUV-Suhr, AEUV Art. 82 (ex-Art. 31 Abs. 1 lit. a) bis d) EUV) [Gegenseitige Anerkennung und Rechtsangleichung], Rn. 7. 5 Groeben/Schwarze/Hatje-Meyer, AEUV Art. 82, Rn. 7. 6 Groeben/Schwarze/Hatje-Meyer, AEUV Art. 82, Rn. 7.
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F. Ausblick: Implikationen für das europäische Beweisrecht
bung oder die Verwertung eines Beweises verletzt wären.7 Hier kann nur noch eine Harmonisierung zu einer erfolgreichen Europäisierung verhelfen.8 So wären entweder eine vollständige Rechtsharmonisierung oder aber eine Teilharmonisierung zur Ermöglichung der gegenseitigen Anerkennung denkbare Maßnahmen zur weiteren Europäisierung des Strafprozessrechts.9
II. Gemeinsamkeiten der Regelungen als Grundlage des gegenseitigen Vertrauens Auf europäischer Ebene gibt es weder in der EMRK noch in der Europäischen Grundrechtecharta Vorgaben zur Privilegierung von angehörigen Zeugen. Das bestehende und im Entstehen befindliche Recht regelt zumeist nur allgemein die Rechtshilfe durch gegenseitige Anerkennung und sieht keine Spezialnormen für die Zeugenaussage, geschweige denn die Angehörigenprivilegierung vor. Auch das Arbeitsdokument der Kommission über die Durchführbarkeit einer EU-Regelung für den Schutz von Zeugen und Personen, die mit der Justiz zusammenarbeiten,10 berührt diese Frage nicht. So sind die mitgliedstaatlichen Regeln zur Stellung von Angehörigen des Beschuldigten höchst unterschiedlich. Es konnte festgestellt werden, dass zwar alle drei verglichenen Staaten manchen Angehörigen des Beschuldigten eine Sonderrolle im Strafverfahren zu Teil werden lassen. Der genauere Vergleich zeigt jedoch grundlegende Unterschiede zum einen in der Auswahl des privilegierten Personenkreises und zum anderen in der Funktionsweise und im Zweck der Privilegierung. Gerade der gemeinsame Zweck ist aber – wenn schon faktisch kein gleichartiger Schutz besteht – entscheidend für die Beurteilung grundlegender Gemeinsamkeiten. Denn wenn in Frankreich die Sonderposition der Angehörigen gerade nicht von der Sorge um die persönliche und familiäre Situation des Zeugen getragen wird, sondern primär der Wahrheitsfindung dient, so kann nicht davon gesprochen werden, dass z.B. der französische und der deutsche Gesetzgeber eine vergleichbare Grundlinie in Bezug auf die Rolle angehöriger Zeugen verfolgen. Da die Angehörigenprivi7
Ligeti/Weyembergh, in: Erkelens/Meij/Pawlik (Hrsg.), European Public Prosecutor’s Office: An extended arm or a two-headed dragon?, 2015, S. 63. 8 Dieses Problem wurde auch schon im Grünbuch zur Erlangung verwertbarer Beweise in Strafsachen aus einem anderen Mitgliedstaat aus dem Jahr 2009 thematisiert und es wurde bereits damals vermutet, dass letztlich nur gemeinsame einheitliche Regeln die Verwertbarkeit garantieren können, s. Grünbuch zur Erlangung verwertbarer Beweise in Strafsachen aus einem anderen Mitgliedstaat, KOM/2009/0624 endg., S. 6. 9 Groeben/Schwarze/Hatje-Meyer, AEUV Art. 82, Rn. 7. 10 Arbeitsdokument der Kommission über die Durchführbarkeit einer EU-Regelung für den Schutz von Zeugen und Personen, die mit der Justiz zusammenarbeiten, KOM/2007/ 0693 endg.
II. Gemeinsamkeiten der Regelungen als Grundlage des gegenseitigen Vertrauens 295
legierung in Deutschland aber einen sehr hervorgehobenen Stellenwert hat, kann dieser Unterschied auch nicht als unwichtige Detailfrage bei der Auslotung der Grundlage eines gegenseitigen Vertrauens abgetan werden. Insofern kann nicht von einem Grundkonsens und einem gleichmäßigem Schutzniveau in diesem Bereich gesprochen werden, weswegen es für die Zeugenaussage Angehöriger keine Grundlage für ein gegenseitiges Vertrauen gibt. Zumindest ein freier Beweisverkehr, der auf einer uneingeschränkten und voraussetzungslosen gegenseitigen Anerkennung basiert, ist wegen der Unterschiede im geltenden nationalstaatlichen Recht daher ausgeschlossen. Im Folgenden werden die Auswirkungen der Europäischen Ermittlungsanordnung (1.), des Vorschlages über die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (2.) und des Prümbeschlusses (3.) für die Rolle von Angehörigen des Beschuldigten im Strafverfahren untersucht. Für diese einzelnen Mechanismen, die auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung fußen, kann diese Arbeit einen konkreten, wenn auch höchst punktuellen Beitrag zur Zulässigkeit von in anderen Mitgliedstaaten erhobenen Beweisen liefern. Es wird untersucht werden, was diese fehlende Grundlage einer confiance mutuelle für die bereits bestehenden Instrumente des europäischen Strafprozessrechts bedeutet und wie in Zukunft auf dieses Fehlen reagiert werden sollte. 1. Europäische Ermittlungsanordnung Die Richtlinie zur Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) trat im Mai 2014 in Kraft11 und ersetzt die vorherigen Regelungen zur innereuropäischen Rechtshilfe in ihrem Geltungsbereich.12 Im Rahmen seines Opt-In-Rechts beteiligt sich an der EEA bislang auch das Vereinigte Königreich,13 was durch den ‚Brexit‘ aber wohl Makulatur werden wird. Die Richtlinie ist in Deutschland durch eine Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen umgesetzt worden und am 22. Mai 2017 in Kraft getreten. In Frankreich wurden die Vorgaben der Richtlinie als Einschub in den CPP eingefügt, die am 3. Dezember 2016 in Kraft getreten sind.14 a) Funktionsweise der Europäischen Ermittlungsanordnung Die EEA beruht auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Sinne des Art. 82 Abs. 1 AEUV. Die Richtlinie sieht vor, dass der Vollstreckungs11 RL 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, ABlEU 2014 Nr. L 140/1. 12 Böse ZIS 2014, 152, S. 152; Esser, in: Heinrich/Roxin (Hrsg.), FS C. Roxin 80. Geburtstag Bd. 2, 2011, S. 1508. 13 Ratsdokument 12661/10 vom 27. Juli 2010. 14 Ordonnance n°20161636 du 1er décembre 2016 relative à la décision d’enquête européenne en matière pénale.
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F. Ausblick: Implikationen für das europäische Beweisrecht
staat auf Antrag des Anordnungsstaates15 eine Ermittlungsmaßnahme durchführen muss. Die Durchführung erfolgt nach dem Recht des Vollstreckungsstaates. Zum ersten Mal wird so die strafrechtliche Beweiserhebung dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung unterworfen, da die Entscheidung, ob die nationalen Behörden aktiv werden, von einem anderen Mitgliedstaat getroffen wird und der Vollstreckungsstaat auf die Richtigkeit dieser Entscheidung vertrauen muss.16 Die EEA sieht zum einen allgemeine Regeln über den Ablauf der Rechtshilfe vor. Voraussetzung ist, dass die Maßnahme auch im Anordnungsstaat angeordnet werden könnte.17 Zum anderen sind bestimmte Ermittlungsmethoden wie die audiovisuelle Vernehmung speziell geregelt.18 Für die Angehörigenprivilegierung spielt die EEA vor allem bei ‚klassischen‘ Ermittlungsmethoden (kommissarische Zeugenvernehmung, Beschlagnahme etc.) und bei der audiovisuellen und der telefonischen Vernehmung, bei denen Ermittlungsbeamte des Anordnungsstaates selbst die Befragung durchführen, eine Rolle.19 In diesen allgemeinen Vorschriften sind auch die Gründe, wegen derer der Vollstreckungsstaat die Maßnahme ablehnen darf, aufgelistet. Für den Zeugenbeweis, aber auch für andere Ermittlungsmethoden, bei denen die Angehörigenprivilegierung eine Rolle spielen kann, ist hier insbesondere Art. 11 Abs. 1 lit. a) EEA-RL relevant, wonach die Vollstreckung der Anordnung versagt werden kann, wenn „nach dem Recht des Vollstreckungsstaats Immunitäten oder Vorrechte bestehen, die es unmöglich machen, die EEA zu vollstrecken […].“ Erwägungsgrund Nr. 20 der Richtlinie eröffnet den Mitgliedstaaten explizit die Möglichkeit, „Immunitäten und Vorrechte“ eigenständig zu definieren, da es für diese keine einheitlich unionsrechtliche Definition gibt.20 So werden im deutschen IRG an dieser Stelle die Zeugnisverweigerungsrechte aus persönlichen Gründen als Ablehnungsgründe eingeführt. § 91b Abs. 1 Nr. 2 lit. a) IRG sieht als zwingende Zulässigkeits-
15 Die Richtlinie und die Gesetzesbegründung bedienen sich, wenn es um die beteiligten Mitgliedsstaaten geht, unterschiedlicher Terminologie. So spricht die Richtlinie von Anordnungs- und Vollstreckungsstaat. Die Gesetzesbegründung behält stattdessen die klassische Rechtshilfeterminologie des ersuchenden und ersuchten Mitgliedstaats bei. 16 Die Europäische Beweisanordnung sah z.B. nur den Austausch von bereits erhobenen Beweisen vor, s. Schuster StV 2015, 393, S. 393. 17 Art. 6 (1) b) EEA-RL 2014/41/EU. 18 Art. 24 EEA-RL 2014/41/EU. 19 Die ‚normale‘ Zeugenvernehmung funktioniert nach den allgemeinen Regeln der Richtlinie, s. Erwägungsgrund 8. Die audiovisuelle und telefonische Vernehmung sind speziellen Regeln in Art. 24, 25 EEA-RL unterworfen. 20 Erwägungsgrund Nr. 20 EEA-RL erwähnt die Privilegierung aufgrund von familiären Beziehungen jedoch nicht explizit vor.
II. Gemeinsamkeiten der Regelungen als Grundlage des gegenseitigen Vertrauens 297
voraussetzung21 für die Durchführung einer Ermittlungshandlung vor, dass keine Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrechte, insbesondere nach den §§ 52, 53 oder 55 der Strafprozessordnung oder hierauf Bezug nehmende Vorschriften entgegenstehen.22 Damit gelten nicht nur das Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichen Gründen, sondern auch alle flankierende Normen als Ausschlussgrund für eine europäische Kooperation. Allerdings schließt diese Norm die Maßnahmen nur aus, wenn das entsprechende Recht auch ausgeübt wird. Ist ein Zeuge zur Kooperation bereit, so wird er im Rahmen einer EEA natürlich vernommen.23 Auch das französische Recht sieht bei einer Zeugenvernehmung, die Frankreich als Vollstreckungsstaat ausführt, vor, dass die nationalen französischen Privilegierungen anwendbar sein sollen. So entfaltet nach Art. 69449 CPP das französische ‚Recht zur Lüge‘ auch in diesem Fall – zumindest innerhalb Frankreichs – Wirkung. Der ersuchte Staat muss bei einer Vernehmung per Videokonferenz den Zeugen gem. Art. 24 Abs. 5 lit. e) der Richtlinie und nach § 91h Abs. 3 S. 2 IRG zudem darüber belehren, dass ihm die Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte sowohl des ersuchten als auch des ersuchenden Mitgliedsstaates zustehen.24 Die EEA und deren Umsetzung ordnen daher in Fällen, in denen beide Staaten an der Beweiserhebung beteiligt sind, also bei der explizit geregelten audiovisuellen und telefonischen Befragung, für die Verfahrensrechte der betroffenen Person das Prinzip der Meistbegünstigung an.25 Bei allen anderen Ermittlungsmethoden, bei denen nur der Vollstreckungsstaat auf Antrag des ersuchenden Staates tätig wird (etwa bei einer ‚normalen‘ Zeugenvernehmung), gilt allein das Recht des Vollstreckungsstaates.
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Die Richtlinie überlässt es in Art. 11 Abs. 1 lit. a) den Mitgliedsstaaten, ob sie den Ausschlussgrund zwingend oder rein fakultativ gestalten wollen. Die deutsche Lösung bestärkt daher erneut den Stellenwert, der Angehörigenprivilegierung in Deutschland, s. Bundesministerium der Justiz, Referentenentwurf IRG-Änderung vom 15.01.2016, S. 24. 22 Vgl. hierzu BT-Drucks. 421/16, S. 63; Ebenso wurde bereits der Text des Rahmenbeschlusses 2008/978/JI des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen ausgelegt, s. Roger GA 2010, 27, S. 37; Gleß, in: Sieber/Brüner/Satzger/Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, Rn. 38. 23 BT-Drucks. 421/16, S. 63. 24 In der Richtlinie wird zwar allein von Aussageverweigerungsrechten gesprochen und § 91h Abs. 3 S. 3 IRG nimmt dies lediglich für die Rechte des Beschludigten auf. Allerdings ist der Gesetzesbegründung zur Umsetzung der EEA in das IRG eindeutig zu entnehmen, dass Zeugnisverweigerungsrechte von Zeugen als „wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung“ i.S.d. § 91h Abs. 3 S. 2 IRG zu verstehen sind und daher zu berücksichtigen sind. 25 S.a. Schuster StV 2015, 393, S. 395.
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F. Ausblick: Implikationen für das europäische Beweisrecht
b) Höheres Privilegierungsniveau im ersuchenden Staat Da die EEA bei audiovisuellen und telefonischen Befragungen unter der Voraussetzung der beiderseitigen Zulässigkeit der Ermittlungsmethode und dem Prinzip der Meistbegünstigung den Ansatz der gegenseitigen Anerkennung gewählt hat, spielen die unterschiedlich hohen Schutzstandards in diesem Fall keine Rolle. Probleme könnten sich jedoch für den anordnenden Staat in den Fällen der ‚klassischen‘ Ermittlungsmaßnahmen ergeben, die allein durch den Vollstreckungsstaat durchgeführt werden. So wäre eine von Deutschland angeordnete kommissarische Zeugenvernehmung des Kindes eines Beschuldigten in England grundsätzlich nach beiden nationalen Strafprozessrechten zulässig. Allein das Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts macht eine Zeugenbefragung in Deutschland schließlich noch nicht unzulässig, da immer die Möglichkeit besteht, dass ein Zeuge trotzdem aussagt. England würde das Kind dann jedoch vernehmen, ohne dieses über ein etwaiges Zeugnisverweigerungsrecht zu belehren, da ein solches im englischen Recht – wie gezeigt – nicht vorgesehen ist.26 Weil jedes Land im Sinne des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung nur sein eigenes Recht anwendet, kann nicht erwartet werden, dass die englischen Behörden automatisch über das deutsche Zeugnisverweigerungsrecht belehren. Da eine doppelte Belehrung explizit nur für die gemeinsamen Ermittlungsmaßnahmen der Video- und Telefonvernehmung geregelt wurde, ist e contrario auch davon auszugehen, dass eine solche Meistbegünstigung bei den ‚klassischen‘ Ermittlungsmethoden nicht vorgesehen ist. Allerdings sieht Art. 9 Abs. 2 der EEA-RL vor, dass die Vollstreckungsbehörde die von der Anordnungsbehörde ausdrücklich angegebenen Formund Verfahrensvorschriften einhalten soll, sofern weder die Richtlinie, noch wesentliche Rechtsgrundsätze des Ausführungsstaates dem entgegenstehen. In diesem Bereich wird also das Prinzip forum regit actum angeordnet.27 Schuster sieht die Belehrung über ein Zeugnisverweigerungsrecht klar als Verfahrensvorschrift an.28 Dem wird wohl, auch wenn das Zeugnisverweigerungsrecht an sich keine bloße Verfahrensvorschrift ist und vielmehr die Ermittlungsmethode als solche betrifft, im Rahmen einer europarechtskonformen Auslegung zuzustimmen sein. Denn die nachfolgende Befragung wird hierdurch – wenn der Zeuge nicht von seinem Verweigerungsrecht Gebrauch macht – in seinen Abläufen und in den innerstaatlichen Kompetenzzuteilungen nicht weiter beeinträchtigt.
26 Eine solche Situation, in der Deutschland einen geringeren Schutzstandard gewährt, ist ebenfalls denkbar, da Österreich auch nichtehelichen Lebenspartnern ein Zeugnisverweigerungsrecht zugesteht, s. Fn. 516, s.a. Schuster StV 2015, 393, S. 396. 27 Schuster StV 2015, 393, S. 394. 28 Schuster StV 2015, 393, S. 396.
II. Gemeinsamkeiten der Regelungen als Grundlage des gegenseitigen Vertrauens 299
Es ist davon auszugehen, dass eine Belehrung über ein Zeugnisverweigerungsrecht, das der nationalen Rechtsordnung fremd ist, dieser nicht wesentlich widerspricht. Schließlich werden so Individualinteressen in einem geringem Maße beeinträchtigt und der Ausführungsstaat hat selbst kein Interesse an der Zeugenvernehmung. Eine formelle Belehrung wird daher zwar nicht automatisch, aber auf Anfrage der Anordnungsbehörde durchgeführt werden. Trotzdem stellt sich die Frage, wie das Gericht des Anordnungsstaates mit Ermittlungsergebnissen umgehen muss, wenn eine solche Belehrung nicht stattgefunden hat und das höhere Schutzniveau bei der Zeugenvernehmung nicht berücksichtigt wurde. Zwar gilt im Rechtshilferecht eigentlich das Prinzip locus regit actum, sodass nur das Recht des ersuchten Staates beachtet werden muss.29 In unserem Beispielsfall würde aber wohl trotzdem ein Verwertungsverbot der Aussage wegen fehlender Belehrung eintreten. So entschied der BGH zumindest 1992, dass eine Zeugenaussage, die (damals freilich noch im ‚normalen‘ Rechtshilfeverfahren) in Italien aufgenommen wurde, mangels Belehrung unverwertbar war.30 Da die Angehörigenprivilegierung zu einem gewichtigen Grundsatz des deutschen Strafverfahrensrechts zählt, könne über eine Missachtung dieses Prinzips nicht hinweg gesehen werden.31 Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, so wie er in der EEA umgesetzt ist, gebietet nur, das Recht der anderen Mitgliedsstaaten grundsätzlich als funktional äquivalentes Recht zu respektieren. Der Anordnungsstaat behält trotz dieser Anerkennung immer noch das Recht, selbst zu entscheiden, ob die durch ein solches europäisches Zusammenarbeitsverfahren gewonnen Beweise im eigenen nationalen Verfahren verwertbar sein sollen. Zwar hat ein deutsches Prozessgericht im außer-europäischen Rechts29
KK-StPO-Gmel, § 223, Rn. 25. BGH NStZ 1992, 394: „Aber auch wenn das italienische Recht ein Zeugnisverweigerungsrecht des Verlobten eines Beschuldigten nicht vorsieht, darf bei der Verwertung einer solchen Aussage im deutschen Strafprozeß der sich aus § 252 StPO ergebende Rechtsgedanke nicht unbeachtet bleiben. Danach darf die Aussage eines außerhalb der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Recht, das Zeugnis zu verweigern, Gebrauch macht, nicht verlesen werden. Weil nach dieser Vorschrift der Zeuge das Zeugnis auch nachträglich bis zur Hauptverhandlung verweigern kann, ist gefolgert worden, daß ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach § 52 III 1 StPO der Verlesung der Aussage eines noch lebenden Zeugen entgegensteht […]. Dem schließt sich der Senat für den Fall an, daß bei einer Rechtshilfevernehmung durch ein ausländisches Gericht eine Belehrung über ein einschlägiges, nach deutscher Vorschrift bestehendes Recht zur Verweigerung des Zeugnisses unterblieben ist.“ Dass es sich heute um Rechtshilfe im Rahmen europäischen Rechts handelt, ändert an der Relevanz dieser Entscheidung jedoch nichts. Denn die EEA sieht einen größeren Einfluss des Rechts des anordnenden Staates vor, als dies nach dem alten Rechtshilferecht mit dem Prinzip forum regit actum galt. 31 S.a. Schomburg-IRG-Schomburg/Hackner, IRG Vor § 68, Rn. 83. 30
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F. Ausblick: Implikationen für das europäische Beweisrecht
hilferecht die Möglichkeit, Beweise, die nach dem locus regit actum-Prinzip erhoben wurden, auch dann zu verwerten, wenn die ausländische Beweisaufnahme gegen deutsches Recht verstieß. Diese Möglichkeit stößt jedoch an eine Grenze, wenn dadurch Grundprinzipien des deutschen Strafverfahrens verletzt werden. Das Urteil des BGH zeigt, dass auch die Angehörigenprivilegierung zu diesen Prinzipien gehört. Folgt man der Entscheidung des BGH, müsste dies dazu führen, dass in Deutschland die Aussagen von Angehörigen aus Frankreich und von Blutsverwandten aus England nie verwertet werden könnten, wenn diese nicht über ihr in Deutschland bestehendes Recht, das Zeugnis zu verweigern, belehrt worden sind, selbst wenn sie zur Aussage bereit gewesen wären.32 Da Deutschland mit Nr. 117 Abs. 2 RiVASt jedoch vorsieht, dass eine Belehrung über deutsche Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte stattfinden soll, ist das Risiko einer solchen Unverwertbarkeit bereits minimiert.33 Ein explizit in der EEA festgeschriebenes Prinzip der Meistbegünstigung auch für die ‚klassischen‘ Ermittlungsmethoden würde die Einhaltung der Zeugenrechte allerdings noch weitgehender sichern. c) Höheres Privilegierungsniveau im ersuchten Staat Dreht man die Situation um und stellt sich vor, dass der Anordnungsstaat ein niedrigeres Zeugenschutzniveau hat, so sind die Konsequenzen weitaus weniger gravierend. Denn der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gebietet es gerade, das Recht des anderen Mitgliedstaates zu akzeptieren, sodass im Zweifelsfall nicht die exakt selben Ermittlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Frankreich müsste es z.B. in diesem Fall hinnehmen, wenn deutsche Behörden einen Zeugen nicht vernehmen, weil dieser sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft. Ein Problem könnte sich lediglich aus französischer Sicht stellen, wenn der Anordnungsstaat die Straflosigkeit der Lüge einer Aussage als simple renseignement nicht anerkennen würde und nach dem eigenen nationalen Recht diesen Zeugen wegen einer Falschaussage verfolgen würde. Hier scheint es praktisch höchst fraglich, ob die materiell-
32 Sofern der Angeklagte der Verwertung widerspricht, sog. Widerspruchslösung. S. hierzu umfassend MüKo-StPO-Kudlich, Einleitung, Rn. 476 Wenn der Wille des Zeugen an einer Partizipation klar zu Tage getreten ist, könnte noch über die Verwertbarkeit im Rahmen des sog. hypothetischen Ersatzeingriffs nachgedacht werden, s. u.a. BGH NStZ 2016, 551 m. Anm. Schneider. 33 S. Nr. 117 Abs. 2 RiVASt: „Soweit der Person, die vernommen werden soll, ein Recht zur Verweigerung der Aussage, der Auskunft oder der Eidesleistung zustehen könnte, ist unter wörtlicher Anführung der deutschen Gesetzesbestimmungen darum zu bitten, die Person vor der Vernehmung über das ihr nach den deutschen Vorschriften etwa zustehende Recht zur Verweigerung zu belehren.“
II. Gemeinsamkeiten der Regelungen als Grundlage des gegenseitigen Vertrauens 301
rechtliche Privilegierung das französischen Rechts auch in anderen Mitgliedstaaten Berücksichtigung finden würde. 2. Europäische Staatsanwaltschaft Die Idee einer Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) kam das erste Mal 1997 im Corpus Juris auf, einem von Wissenschaftlern erarbeiteten Modell eines europäischen Straf- und Strafprozessrechts.34 Die Idee wurde anschließend in das Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der EG übernommen.35 Und führte schließlich am 17.07.2013 zu einem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft36 und endete am 12.10.2017 zur Verabschiedung der Verordnung zur Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der EUStA.37 a) Vorschlag von 2013 Art. 30 Abs. 1 dieses Vorschlags von 201338 sah den freien Verkehr von Beweismitteln vor, die in einem Mitgliedsstaat erhoben wurden. Grundsätzlich ist die Frage der Zulässigkeit von Beweisen für die EUStA von großer Bedeutung, da Straftaten zu Lasten der finanziellen Interessen der EU zumeist transnational organisiert und durchgeführt werden.39 Sofern die Verwertung 34
Delmas-Marty/Kleinke/Sieber, Corpus Juris, 1998. Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, KOM (2001) 715 endgültig. 36 Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft, COM(2013) 534 final; Schon vor der Brexit-Entscheidung erklärte das Vereinigte Königreich als Reaktion auf diesen Vorschlag, dass es keinen Gebrauch seines Opt-In-Rechts machen werde, s. European Commission’s proposal on Eurojust and the European Public Prosecutor’s Office, 02.12.2013. 37 Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. Oktober 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA). Bisher beteiligen sich Belgien, Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Repulik und Zypern. 38 Art. 30 Abs. 1 des Vorschlag für eine Verordnung über die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft: „Die von der Europäischen Staatsanwaltschaft vor dem Prozessgericht beigebrachten Beweismittel sind ohne Validierung zulässig – auch wenn das innerstaatliche Recht des Mitgliedstaates, in dem das Gericht seinen Sitzt hat, andere Vorschriften für die Erhebung oder Beibringung dieser Beweismittel enthält –, wenn sich ihre Zulassung nach Auffassung des Gerichts nicht negativ auf die Fairness des Verfahrens oder die Verteidigungsrechte auswirken würde, wie sie in den Artikeln 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind.“ 39 Hamran/Szabova NJECL 4 (2013), 40, S. 54. 35
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F. Ausblick: Implikationen für das europäische Beweisrecht
des Beweismittels nicht gegen die Beschuldigtenrecht gem. Art. 47 und 48 GRC – insbesondere die Fairness des Verfahrens und die Verteidigungsrechte – verstößt, sollte das Gericht den Beweis nicht für unzulässig erklären können, auch wenn dieser im nationalen Recht des Prozessstaates so nicht hätte erhoben werden dürfen. Ein Ausschluss von ‚lediglich‘ rechtswidrig erlangten Beweismitteln war nicht vorgesehen, da solche Beweismittel nicht allgemein in allen Mitgliedstaaten unverwertbar sind. Der Vorschlag zur Zulässigkeit von Beweismitteln beruhte daher noch stärker auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung als die EEA, da die Gerichte im Prozessstaat grundsätzlich nicht mehr über die Verwertbarkeit der Beweise hätte entscheiden dürfen.40 b) Vorschlag von 2015 und Verordnung von 2017 Der Vorschlag von 2013 stieß aber wegen der immer noch bestehenden großen Unterschiede in den Prozessrechten der Mitgliedstaaten, denen eine pauschale und fast ausnahmslose Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung nicht gerecht werde, auf scharfe Kritik.41 Als Alternative wurde eine der EEA entsprechende Regelung vorgeschlagen.42 Keine Unterstützung fand der Vorschlag, ein vom nationalen Recht unabhängiges Validierungsverfahren für die Verwertbarkeit von Beweisen einzuführen.43 Die Kritik löste weitere Verhandlungen über die Zulässigkeit von Beweisen aus,44 was letztendlich im Oktober 2015 zu einer bedeutenden Änderung des Entwurfs führte, der bezüglich der Verwertbarkeit von Beweismitteln auch zum größten Teil in die Verordnung von 2017 überführt wurde:45 Art. 37 Abs. 1 der Verordnung
40 Inghelram, in: Erkelens/Meij/Pawlik (Hrsg.), European Public Prosecutor’s Office: An extended arm or a two-headed dragon?, 2015, S. 125. 41 Zur Kritik der Mitgliedsstaaten s. z.B. Ratsdokument St 18120/13 S. 6; diese Kritik wurde von der für die Verhandlungen zuständigen Ratspräsidentschaft auch aufgenommen s. Ratsdokument 9372/15; Kritik äußerten aber auch der Ausschluss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments, s. Zwischenbericht über den Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft vom 21.2.2014, A70141/2014, S. 7 und Zwischenbericht über den Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft vom 18.3.2015, A80055/2015, S. 7; als Beispiel der Kritik aus der Literatur s. Ligeti, in: Mitsilegas/Bergström/Konstadinides (Hrsg.), Research Handbook, 2016, S. 499; Erbežnik EuCLR 5 (2015), 209, S. 219; Grünewald HRRS 14 (2013), 508, S. 512. 42 Zwischenbericht über den Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, Dokument des Europäischen Parlaments, A 80055/2015, S. 7. 43 Ratsdokument 6490/1/14 vom 27.2.2014, S. 4. 44 S. hierzu Ratsdokument 11255/14 vom 27.6.2014, S. 3 f. 45 Ratsdokument 12621/15 vom 5.10.2015, S. 8; 12.10.2017.
II. Gemeinsamkeiten der Regelungen als Grundlage des gegenseitigen Vertrauens 303
vom12. Oktober 201746 sieht nun nicht mehr eine vorbehaltslose Zulässigkeit von Beweisen aus anderen Mitgliedsstaaten vor, sondern lässt die Ablehnung des Beweises durch das Prozessgericht zu und schließt diese nur aus, wenn die Ablehnung allein aufgrund der Erhebung des Beweises in einem anderen Mitgliedstaates erfolgen soll. Weiterhin sehen Art. 41 Abs. 4, Art. 32 und auch Art. 31 Abs. 3 der Verordnung von 2017 explizit ein Meistbegünstigungsprinzip bezüglich der Rechte der von den Ermittlungen betroffenen Personen, unter die nach Art. 51 lit. d) auch Zeugen fallen, und bezüglich nationaler Form- und Verfahrensvorschriften vor. Trotz dieser Konzessionen im Vorschlag von 2015 konnte keine Einigkeit zwischen den Mitgliedstaaten über die EUStA erzielt werden, sodass bisher lediglich 20 Mitgliedstaaten sich der Verstärkten Zusammenarbeit bereit erklärt haben gem. Art. 20 EUV und Art. 326 ff. AEUV. c) Implikationen des ursprünglichen Vorschlags von 2013 Für den Zeugenbeweis hätte der ursprüngliche Vorschlag bedeutet, dass vor einem deutschen Prozessgericht in einem Verfahren der EUStA die Zeugenaussage eines Angehörigen des Angeklagten im Sinne des § 52 Abs. 1 StPO, die in Frankreich ohne das Recht zu Schweigen aufgenommen wurde, hätte verwertbar sein müssen.47 Denn der einzige Grund für die Unzulässigkeit des Beweises hätte in Art. 47 und 48 GRC gesucht werden müssen. Grundsätzlich unfair – eben ungerecht, wie es im vorherigen Kapitel erläutert wurde – wird ein Verfahren durch die Vernehmung naher Angehöriger des Beschuldigten aber nicht.48 Für das deutsche Recht würde dies jedoch, da die Angehörigen46
Art. 31 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates lautet wie folgt: „Die von den Staatsanwälten der EUStA oder von dem Angeklagten vor einem Gericht beigebrachten Beweismittel dürfen nicht allein deshalb als unzulässig abgelehnt werden, weil sie in einem anderen Mitgliedstaat oder nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates erhoben wurden.“ Erwägungsgrund Nr. 80 weist darauf hin, dass zudem lediglich der Grundsatz des Fairness des Verfahrens und die Verteidigungsrechte des Beschuldigten eine starre Grenze für die Anerkennung setzen und die weitere Entscheidung über die Verwertbarkeit den nationalen Gerichten überlassen bleiben muss. 47 Die umgekehrte Konstellation, dass ein EStA in einem französischen Verfahren eine Aussage eines in Deutschland ansässigen Angehörigen des Beschuldigten erfordert, wäre weder von dem ursprünglichen, noch von dem aktuellen Vorschlag für die Verordnung betroffen gewesen. Denn Art. 24 Abs. 1 der konsolidierten Fassung sieht zwar vor, dass die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf die Aufhebung von Vorrechten für bestimmte Personen stellen kann. Unter diese Vorrechte fällt wohl – parallel zur Auslegung der Europäischen Ermittlungsanordnung – auch das Zeugnisverweigerungsrecht. Allerdings statuierte der Vorschlag nie die Pflicht der Mitgliedstaaten diesem Antrag stattzugeben. So wäre Deutschland auch nicht dazu verpflichtet, auf Antrag einen angehörigen Zeugen ohne die Rechte der §§ 52 ff. zu vernehmen. 48 Zur Gerechtigkeit der Privilegierungen s. S. 287 ff.
304
F. Ausblick: Implikationen für das europäische Beweisrecht
privilegierung ihre Wurzeln eben auch im Verfassungsrecht hat, schwerwiegende Probleme der Vereinbarkeit von Verfassungs- und EU-Recht mit sich bringen. Dies würde wiederum zu einer Behinderung des Integrationsprozesses im Strafrecht führen, sodass diese radikale Lösung im Endeffekt nicht die europafreundlichste wäre. d) Implikationen der Verordnung von 2017 Anders stellt sich die Lage bei der Kompromisslösung der Verordnung von 2017 dar: Es besteht keine Verpflichtung mehr, eine Zeugenaussage, die nach dem eigenen Beweisrecht nicht verwertbar wäre, zu verwerten. Die Rechtslage ist mit derjenigen, die durch die EEA erreicht wurde, daher vergleichbar. Das behindert natürlich eine gleichmäßige und effektive Tätigkeit der EUStA und bedeutet nur einen kleineren Fortschritt für die europäische Integration. Hierdurch entsteht sicherlich auch die Gefahr des Forum-Shoppings durch die Staatsanwaltschaft, die in dem Mitgliedsstaat Anklage erheben wird, der die weitesten Beweismöglichkeiten bietet. Positiv für eine nachhaltige Europäisierung könnte sich allerdings auswirken, dass der Integrationsprozess so entschleunigt wird. Eine überhastet Europäisierung läuft Gefahr, dass sie weder von den Gerichten, noch von der Gesellschaft akzeptiert wird. Der Kompromiss der Verstärkten Zusammenarbeit stellt daher eine ausgeglichene Lösung dar, die die – wie diese Arbeit gezeigt hat – doch sehr unterschiedlichen Beweisregeln in ein ausgewogenes Verhältnis setzt. 3. Prüm-Vertrag zum DNA-Datenabgleich Auch auf europäischer Ebene spielt die Weiterentwicklung der DNA-Analyse eine Rolle. Durch den Vertrag bzw. Beschluss von Prüm könnte der Beinahetreffer auch dort für Probleme sorgen. a) Entstehung und Wirkung des Beschlusses Der Vertrag von Prüm wurde am 25.05.2005 zwischen ursprünglich sieben Mitgliedstaaten zur Vertiefung der Zusammenarbeit in Strafsachen geschlossen und durch den sog. Prüm-Beschluss am 23.06.2008 in das Recht der EU überführt.49 Der Beschluss regelt den Austausch von Informationen aus kri49
Beschluss des Rates vom 23.6.2008 (2008/615/JI) zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität, Abl. Nr. L 210/1 v. 6.8.2008; In Deutschland ist der Vertrag durch Gesetz zur Umsetzung des Vertrags vom 27. Mai 2005 zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, dem Königreich der Niederlande und der Republik Österreich über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität
II. Gemeinsamkeiten der Regelungen als Grundlage des gegenseitigen Vertrauens 305
minalistischen Datenbanken zwischen Mitgliedstaaten. Deutschland und Frankreich setzen das Prüm-System bereits ein.50 Das Vereinigte Königreich ist aufgrund eines Opt-Outs schon seit Dezember 2014 nicht mehr an den Prüm-Beschluss gebunden.51 Dem Prümverband sind aber auch die nicht-EUMitglieder Norwegen und Island beigetreten.52 Der Beschluss sieht die Vernetzung der mitgliedstaatlichen Informationsdatenbanken vor, wodurch unter anderem ein grenzüberschreitender Austausch und Abgleich von DNA-Profilen möglich wird. Dieser Austausch findet jedoch nur im Rahmen eines Treffer/Kein-Treffer-Verfahrens statt.53 Das heißt, dass in einem ersten Schritt ein bestimmtes DNA-Profil an einen oder mehrere andere Mitgliedsstaaten weitergeleitet wird, wo es dann mit dort vorhandenen Datenbanken automatisiert abgeglichen wird. Nur wenn eine Übereinstimmung besteht, wird in einem nächsten Schritt entschieden, ob und welche Daten weitergegeben werden.54 Inhaltlich richtet sich die Übermittlung im Sinne des Grundsatzes der Verfügbarkeit nach den nationalen Regeln des Staates, der die Datenbank betreibt, sodass es keinen Unterschied mehr gibt, ob die Anfrage von einer nationalen Behörde oder einer und der illegalen Migration vom 10. Juli 2006 umgesetzt, s. BGBl. I S. 1458 ff.; der Beschluss wurde dann durch das Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses des Rates 2008/615/JI vom 23.06.2008 zur Vertiefung der grenzüberschreitendenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität vom 31.07.2009, BGBl. 2009 I, S. 2507 f. umgesetzt; s.a. Hetzer, in: Sieber/Brüner/ Satzger/Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, S. 14; s. zum Überführungsprozess Mutschler, Prümer, 2010, S. 66; zur Kritik am Überführungsprozess aus demokratietheoretischer Perspektive, s. Pörschke, Grundsatz, 2014, S. 141. 50 S. hierzu Home Department, Prüm Business and Implementation, 2015, S. 33, in dem die aktuelle Umsetzung des Beschlusses erörtert wird. 51 Vor der Brexit-Entscheidung wurde jedoch darüber beraten, dem Prüm-Beschluss erneut beizutreten, s. Commons European Scrutiny Committee, UK participation in Prüm Contents, http://www.publications.parliament.uk/pa/cm201516/cmselect/cmeuleg/342-xii/ 34205.htm, 25.12.2016. Da dies die Schweiz, Norwegen und Island ebenso planen, ist es auch vorstellbar, dass das Vereinigte Königreich dem polizeilichen Datenaustauschabkommen irgendwann erneut beitreten wird. 52 Bundesministerium des Inneren, Der erweiterte Schengenraum, 2009, S. 30. 53 Beschluss 2008/615/JI des Rates vom 23. Juni 2008 zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität. 54 Hetzer, in: Sieber/Brüner/Satzger/Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, Rn. 41; Papayannis ZEuS 2008, 219, S. 231; Pörschke, Grundsatz, 2014, S. 134. Dieser zweite Schritt ist formell in Bezug auf Formulare und Fristen durch die sog. Schwedische Initiative bestimmt. Rahmenbeschluss 2006/960/JI des Rates über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Abl. L 386 v. 29.12.2006, S. 89 ff.; Berichtigung in Abl. L 75 vom 15.03.2007, S. 26; BT-Drucks. 17/5096 vom 17.03.2011.
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F. Ausblick: Implikationen für das europäische Beweisrecht
Behörde eines anderen Mitgliedstaats gestellt wird.55 Der Prüm-Beschluss und die schwedische Initiative56 sind im Vergleich zur früheren Rechtslage, bei der zwar auch schon unter gewissen Umständen DNA-Profile abgeglichen werden konnten, ein riesiger Fortschritt: Denn zum einen bestehen jetzt klare Regeln wie der Abgleich formell und zeitlich abzulaufen hat, und zum anderen kann durch die automatisierte anonymisierte Abfrage viel Zeit gespart werden.57 b) Prüm-Vertrag und familial searching Da die DNA-Analyse in England und Frankreich heutzutage deutlich weiter reicht als in Deutschland und auch das gezielte familial searching in der DNA-Analysedatei erfasst, könnte diese Ermittlungskooperation aus deutscher Sicht für den Angehörigenschutz ein Problem darstellen. Denn die Verständigung auf einen Datenaustausch aufgrund eines Treffer/kein-TrefferVerfahrens erfolgte vor der Etablierung des familial searching. Indem diese Möglichkeit des Datenabgleichs bei den Vertragsverhandlungen nicht bedacht wurde, könnte Prüm heutzutage anderen Mitgliedstaaten durch die Hintertür ermöglichen, auch in der deutschen DNA-Analysedatei Angehörige der gesuchten Person zu ermitteln.58 aa) Naturwissenschaftliche Möglichkeit des familial searching Zwar ist grundsätzlich der DNA-Datenaustausch nach Prüm gem. Art. 3 Abs. 1 S. 2 des Prüm-Beschlusses von der Zulässigkeit des Abgleichs im angefragten Staat abhängig, wodurch familial searching in Deutschland eigentlich ausgeschlossen sein sollte. Dafür, ob die Möglichkeit eines von deutscher Seite unerkannten familial searching besteht, ist jedoch entscheidend, was im europäischen Kontext als Treffer verstanden wird. Denn zeigt das System einen Treffer im Sinne des Prüm-Beschlusses an, so werden die personenbezogenen Daten zu dem entsprechenden DNA-Profil von deutschen Behörden wahrscheinlich an den anfragenden Mitgliedsstaat übermittelt.
55
S. § 27 BKAG und § 92 Abs. 3 und 4 IRG, die einzelne obligatorische und fakultative Ablehnungsgründe vorsehen, die jedoch nur bei einer Gefährdung der deutschen Staatssicherheit, innerstaatlicher Verfahren, des Leibs oder Lebens einer Person und bei Taten, die nach deutschem Recht mit einer Höchststrafe von einem Jahr bestraft werden, greifen, s. auch die Ablehnungsgründe der schwedischen Initiative in Art. 10. 56 Zur schwedischen Initiative s. S. 305 Fn. 54. 57 Pörschke, Grundsatz, 2014, S. 108. 58 An dieser Möglichkeit zweifelt Lovelace jedoch, wobei er sich auch nicht festlegen möchte, s. Lovelace, Terrorism, 2008, S. 130 Er sieht die Unsicherheit jedoch in einer fehlenden Definition eines hit. Eine solche wurde durch den Prüm-Beschluss bei Aufnahme in das europäische Recht allerdings mittlerweile geliefert.
II. Gemeinsamkeiten der Regelungen als Grundlage des gegenseitigen Vertrauens 307
Ein Treffer kann nach dem Beschluss sowohl ein ‚Full Match‘ als auch ein ‚Near Match‘ sein. Da der ‚Full Match‘ eine komplette Allelübereinstimmung erfordert, ist dieser für den Beinahetreffer nicht relevant. Ein ‚Near Match‘ wird definiert als „Übereinstimmung, bei der nur eines der verglichenen Allele abweicht. Ein ‚Near Match‘ wird nur dann akzeptiert, wenn in den beiden abgeglichenen DNA-Profilen bei mindestens sechs vollständig belegten Loci (‚full designated‘) eine vollständige Übereinstimmung besteht.“59 Nach der Vorstellung der Verfasser des Ratsbeschlusses kann ein solcher near match allein auf einer fehlerhaften Eingabe des Profils in das System oder auf einer fehlerhaften Allelbestimmung beruhen. Die Möglichkeit einer Verwandtschaft als Grund für einen near match wurde nicht bedacht. bb) Einschränkung der Missbrauchsgefahr Werden tatsächlich nur sechs Loci miteinander verglichen und weicht einer der Loci ab – was nach dem Ratsbeschluss möglich ist – besteht die Gefahr, dass auch Verwandte einen near match ergeben und daher als Treffer dem anfragenden Mitgliedstaat angezeigt werden.60 Diese Gefahr wird jedoch dadurch relativiert, dass in den meisten Mitgliedstaaten heutzutage nicht mehr nur sechs, sondern deutlich mehr Loci in das DNA-Profil aufgenommen werden. Je mehr Loci verglichen werden, desto sicherer kann ausgeschlossen werden, dass ein Angehöriger als Treffer angezeigt wird. Allerdings müssen die Länder jeweils die gleichen Loci speichern, sonst nützt auch die erhöhte Anzahl nichts.61 Die Möglichkeit, durch eine Reduktion der zu vergleichenden Loci gezielt nach Verwandten zu suchen, besteht aber dennoch. Es ist vorstellbar, dass Mitgliedstaaten bewusst um einen Vergleich von nur sechs Loci bitten, damit eben nicht nur der Täter, sondern auch dessen Angehörige als Treffer angezeigt werden.
59
Beschluss 2008/616/JI des Rates vom 23.6.2008, Anhang 1.2. So Dr. rer. nat. Christa Augustin (Fachabstammungsgutachterin DGAB und Leiterin der Forensischen Genetik im Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Eppendorf, Hamburg) im persönlichen Gespräch, die selbst auch schon einen Fall eines – allerdings ungewollten – near matches in einem Prüm-Verfahren hatte, der sich später als mismatch herausstellte und in dem in Tschechien die Familie des near match wohl nicht weiter untersucht wurde. Zur Möglichkeit falscher Positiver beim Prümabgleich (allerdings ohne explizit die erhöhte Gefahr der Belastung Angehöriger zu erwähnen), s. Töpfer GID 191 (2008), 14, S. 19. 61 So gibt es bereits das European Standard Set of Loci und das Interpol Standard Set of Loci, die jeweils bestimmte Loci festlegen, die für den internationalen Abgleich verwendet werden können. Ebenso sind im Durchführungsbeschluss zum Prüm-Beschluss insbesondere 7 in allen Sets enthaltene Loci aufgeführt, die verglichen werden sollen und 17 weitere, die verglichen werden können, s. Beschluss 2008/616/JI des Rates vom 23.6.2008, Anhang 1.1. 60
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F. Ausblick: Implikationen für das europäische Beweisrecht
Der zweite Schritt im Prümverfahren, nämlich der Austausch der entanonymisierten Daten, könnte diese Möglichkeit allerdings beschränken. Grundsätzlich richtet sich die Entscheidung, ob die persönlichen Daten des übereinstimmenden Profils an die Behörden des anfragenden Staates weitergegeben werden, nach dem nationalen (Rechtshilfe-)Recht.62 In Deutschland ist gem. § 92 Abs. 1 IRG63 die Übermittlung personenbezogener Daten an Strafverfolgungsorgane anderer Mitgliedstaaten der EU nach Maßgabe des deutschen Rechts, d.h. nach den Vorgaben des § 10 BKAG möglich.64 Es gilt ein Gleichstellungsgebot.65 Wenn also in einem gleichgelagerten innerdeutschen Fall die Voraussetzungen für die Übermittlung der entanonymisierten Daten gem. § 10 BKAG vorlägen, müssen die Daten auch an andere europäische Behörden weitergeleitet werden. Dies ist bei einer Übermittlung an eine Polizeibehörde der Fall, wenn dies erforderlich ist, was in diesem Zusammenhang jedoch nur bedeutet, dass sie geeignet sein muss, den Zweck der Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung zu fördern.66 § 10 Abs. 1 und 2 BKAG sehen einen Ermessenspielraum für die Entscheidung vor, ob Daten übermittelt werden.67 Wie genau der Umgang der deutschen Behörden mit Treffern ist, die auf der Mindestzahl von nur sechs Loci beruhen, ist nicht feststellbar. In Deutschland wird nicht nur die Anzahl der übereinstimmenden Allele, sondern auch deren Häufigkeit verglichen, sodass eine Gesamtwahrscheinlichkeit der Übereinstimmung angegeben werden kann. Durch diese unterschiedlichen 62 Art. 5 des Beschlusses 2008/616/JI des Rates vom 23.6.2008; Hetzer, in: Sieber/ Brüner/Satzger/Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, S. 14. 63 Für die Prävention von Straftaten ist eine solche Übermittlung gem. 14a Abs. 1 S. 2 BKAG möglich. Zum Verhältnis der beiden Normen s. Graulich, BKAG § 14a, Rn. 12; Der Verweis auf die Datenübermittlung im Rahmen internationaler Rechthilfe in § 81g StPO stellt einen bloßen Verweis auf das IRG dar, s. LR-StPO-Krause, § 81g, Rn. 66. 64 Diese Norm gilt nicht nur für die Datenübermittlung bei der Gefahrenabwehr, sondern für auch für die Strafverfolgung, s. Graulich, BKAG § 10, Rn. 18. Mit Umsetzung der EEA-Richtlinie, wird sich an dieser Rechtslage nichts ändern. Zwar kann ein Mitgliedstaat gem. § 91f Abs. 2 Nr. 1 IRG immer die Übermittlung von bereits erhobenen DNA-Profilen anfordern. Deutschland als ersuchter Staat ist aber gem. Art. 10 Abs. 2 a) der EEA-RL nur zu einer Übermittlung verpflichtet, wenn dies auch nach nationalem Recht zulässig wäre. Diese Voraussetzung für die sonstige vollkommene Gleichstellung besteht aber auch heute schon, sodass die Umsetzung der Richtlinie für den DNA-Profilabgleich die Rechtslage nicht ändern wird, s. Bundesministerium der Justiz, Referentenentwurf IRG-Änderung vom 15.01.2016, 15.01.2016, S. 74; kritisch hierzu Böse ZIS 2014, 152, S. 155. Das familial searching wird jedoch nicht mit Hinweis auf Art. 10 der EEA-RL abgelehnt werden können, da die Neuregelung des Reihengentests nach § 81h StPO gerade keinen expliziten Verweis auf § 52 StPO vorsieht. Dies ist jedoch die Voraussetzung für die Anwendung des Art. 10 EEA-RL nach § 91 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) IRG. 65 Mutschler, Prümer, 2010, S. 91. 66 Graulich, BKAG § 10, Rn. 3. 67 Graulich, BKAG § 10, Rn. 19.
III. Zusammenfassung
309
Analysesysteme (rein quantitativer Vergleich vs. Wahrscheinlichkeitsberechnung) und die funktionale Trennung von Polizei und forensischen Experten ist zu vermuten, dass es beim nicht speziell für solche Fragen ausgebildeten BKA keine einheitlich vorgegebene Handhabe gibt. So besteht trotz der Ermessensentscheidung auf nationaler Ebene das Risiko des familial searching in der deutschen DNA-Analysedatei durch andere Mitgliedsstaaten. Eine Recherche nach Beinahetreffern in der Analysedatei sollte durch die Reform des StPO bezüglich des Beinahetreffers aber explizit ausgeschlossen werden.68 Und obwohl bei einer Datenübermittlung gem. § 10 Abs. 6 BKAG auch der Datenempfänger an den Übermittlungszweck in seiner Verwendung der Daten gebunden ist, begrenzt dies – unterstellt, dass die mitgliedstaatlichen Behörden sich tatsächlich hieran halten – nur die Verwendung des DNA-Profils auf „Zwecke der Strafverfolgung“ oder „Zwecke der Gefahrenabwehr“.69 Eine bestimmte Ermittlungsmethode wie das familial searching innerhalb desselben Strafverfahrens wird hierdurch nicht ausgeschlossen. c) Zwischenergebnis Der Prüm-Beschluss hat damit in seiner jetzigen Ausführung das Potential, für ein gezieltes familial searching verwendet bzw. aus deutscher Sicht, wenn es um die DNA-Analysedatei des BKA geht, missbraucht zu werden.
III. Zusammenfassung Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Angehörigenprivilegierung aus deutscher Sicht in der bereits vollzogenen Europäisierung des strafrechtlichen Beweisrechts noch nicht ausreichend beachtet wurde. Die Unterschiede zwischen den Angehörigenprivilegierungen in den Mitgliedstaaten scheinen bei der EEA allerdings nicht von grundlegender Bedeutung zu sein. Es besteht die Gefahr, dass bei kommissarischen Zeugenvernehmungen für Deutschland z.B. in Frankreich, eine Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht unterbleibt, da dies von Deutschland explizit beantragt werden muss. Für Deutschland macht dies die EEA bei solchen Zeugenaussagen nur nutzlos, nicht – wie im schlimmsten Fall denkbar – verfassungswidrig. Anders könnte sich die Lage beim automatisierten DNAAbgleich durch den Prüm-Beschluss entwickeln. Sollten andere Mitgliedstaaten tatsächlich die zufällige Schutzlücke des Beschlusses ausnutzen, müsste 68
Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 27.05.2016, S. 5, 27, 29. 69 § 10 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 BKAG, s. Graulich, BKAG § 10, Rn. 31.
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F. Ausblick: Implikationen für das europäische Beweisrecht
Deutschland seine Regeln für die Weitergabe entanonymisierter Profile durch das BKA bei den sog. near matches verschärfen und die Kooperation in diesen Fällen einstellen. Für zukünftige Entwicklungen steht Deutschland mit dem Vertrag von Lissabon der Notbremsemechanismus des Art. 82 Abs. 3 AEUV zur Verfügung, mit dem ein Mitgliedstaat den Gesetzgebungsprozess unterbrechen kann, wenn die geplante Regel Grundsätze des eigenen Rechts gefährden würde. Dies scheint bei kommenden strafprozessrechtlichen Projekten, in denen die Situation von Angehörigen aus deutscher Sicht nicht ausreichend gewürdigt wird, denkbar. Für bereits verabschiedete Kooperationsmechanismen ist dies allerdings nicht mehr möglich.70 In Zukunft sollte der deutsche Gesetzgeber bei den europäischen Gesetzgebungsverfahren daher auch die Angehörigenprivilegierungen im Auge behalten. Sonst droht ein viel größerer Schaden für die EU, als dass ein einzelner Kooperationsmechanismus nicht verabschiedet werden kann. Denn dann würde im Zweifelsfall das BVerfG im Rahmen einer Identitätskontrolle eine Maßnahme für verfassungswidrig erklären, was weder für die Rolle Deutschlands in Europa, noch für die innere Stabilität der EU wünschenswert scheint.
70
Groeben/Schwarze/Hatje-Meyer, AEUV Art. 82, Rn. 49.
G. Fazit Abschließend lässt sich sagen, dass Deutschland, Frankreich und England sehr unterschiedliche Antworten auf dasselbe soziale Problem gefunden haben. Auch wenn sich die Regelungen insofern gleichen, als dass alle Länder eine Sonderrolle für gewisse Angehörige vorsehen, lässt sich doch eine starke Prägung durch die jeweilige nationale Rechtsentwicklung beobachten. Die Angehörigenprivilegierung bietet ein wunderbares Beispiel dafür, wie unterschiedlich in ähnlichen Kulturen mit ein und demselben Problem umgegangen werden kann. So gewann die Privilegierung in Deutschland immer mehr an Gewicht, während sie sich in England schon immer auf Ehegatten beschränkte, nur einen geringen praktischen Stellenwert hat und heutzutage von vielen Seiten kritisch betrachtet wird. In einer noch stärkeren Krise befinden sich die Sonderregeln im französischen Recht, deren Abschaffung im Grunde unisono gefordert wird. Diesen Eindruck bestätigt auch der Vergleich des Umgangs mit Beinahetreffern bzw. dem familial searching in den drei Ländern. Die unterschiedlichen Regelungen lassen auf recht verschiedene Gewichtungen von Zeugen-, Beschuldigten- und Strafverfolgungsinteresse schließen. Während in Deutschland die Zeugeninteressen an erster Stelle stehen, ist in Frankreich der Wahrheitsermittlung der Vorrang eingeräumt. In England ist das Bild nicht so eindeutig. Klar wird jedoch, dass dort zumindest die Beschuldigteninteressen die Interessen des Zeugen überwiegen. Die Rechtsvergleichung kommt zu dem Ergebnis, dass das englische Recht eine interessante Lösung für den Konflikt dieser drei Interessen durch die bereichsspezifischen Ausnahmen bei Delikten häuslicher Gewalt bietet. Käme es zu einer Harmonisierung im Zuge der Europäisierung bietet das englische Recht – auch wenn es selbst nicht mehr von der Harmonisierung betroffen wäre – einen Kompromiss zwischen den konträren Positionen Deutschlands und Frankreichs, der wohl auch mit deutschem Verfassungsrecht vereinbar wäre. Denn der Umgang mit häuslicher Gewalt ist der entscheidende Prüfstein für die Gerechtigkeit der Angehörigenprivilegierung. Würde diese Bereichsausnahme für häusliche Gewalttaten mit einem Zeugnisverweigerungsrecht für alle nahen Angehörigen bei allen sonstigen Delikten kombiniert, wäre eine Lösung gefunden, die sowohl dem Wahrheitsermittlungs- als auch dem Zeugeninteresse entspräche. Um dem Umsetzungsdefizit, das auch in England besteht, vorzubeugen, sollte diese Lösung allerdings mit außer-
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G. Fazit
strafrechtlichen Schutzmechanismen für Opfer häuslicher Gewalt kombiniert werden. Die Antwort auf die Forschungsfrage, ob eine Europäisierung des Beweisrechts auf Grundlage der gegenseitigen Anerkennung vor dem Hintergrund des Schutzes naher Angehöriger im Strafverfahren tatsächlich möglich ist, muss somit eingeschränkt positiv beantwortet werden. Durch die bisher verabschiedeten und implementierten Europäisierungsmechanismen sind noch keine größeren Probleme entstanden. Da kein Mechanismus (also weder die EEA noch die EStA, obwohl dies auch schon anders geplant war,) eine verpflichtende Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweise vorschreibt, sondern allein die Kooperation der Mitgliedsstaaten bei der Beweisgewinnung verpflichtend macht, besteht für Staaten mit einem höheren Angehörigenschutz noch kein Konflikt. Zwar kann das familial searching in Zukunft problematisch werden. Dies könnten aber durch eine einfache einseitige Änderung der Verwaltungsvorschriften beim BKA von deutscher Seite aus entschärft werden. Würde die Europäisierung jedoch weiter vorangetrieben und sähe diese dann auch eine verpflichtende Verwertbarkeit von im Ausland gewonnenen Beweisen vor, könnten gewichtige verfassungsrechtliche Konflikte in Deutschland entstehen.
H. Thesen 1. In Deutschland gilt nicht nur ein subjektives Zeugnisverweigerungsrecht für Angehörige des Beschuldigten, sondern ein umfassendes Schutzkonzept auch bei anderen Ermittlungsmethoden. Diese Privilegierung ist verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 6 und Art. 4 Abs. 3 GG verwurzelt. 2. In Frankeich müssen Angehörige immer aussagen. Allein die Vereidigung in der audition bleibt ihnen im Regelfall erspart, wodurch sie sich nicht wegen Falschaussage strafbar machen können (sog. ‚Recht zur Lüge‘). Diese Privilegierung wird jedoch vor allem durch die Vereidigung im Ermittlungsverfahren erheblich eingeschränkt. 3. In England genießen nur Ehe- und Lebenspartner eine noncompellability, die bei einer Aussage für die Verteidigung und bei specified offences, d.h. bei Sexual- und Gewaltdelikten gegen sie selbst oder Minderjährige unter 16 Jahren entfällt. 4. Die Unterschiede lassen sich aus der historischen Entwicklung erklären: das deutsche und das französische System stellen unterschiedliche Antworten auf den Beweisnotstand nach Abschaffung der Folter dar. Die fehlende Privilegierung von Blutsverwandten im englischen Recht resultiert aus der frühen Ablösung vom römisch-kanonischen Recht und lässt sich aus heutiger Sicht auch in England nicht mehr rechtfertigen. 5. Es werden unterschiedliche rationes verfolgt: Deutschland will die Zeugeninteressen, Frankreich die Wahrheitsfindung, England will die Institution der Ehe (eingeschränkt durch Beschuldigteninteressen und den Schutz vor häuslicher Gewalt) und schützen. 6. Die Regelungswirkung ist in Deutschland und England ähnlich, da beide Rechtsordnungen dem Zeugen ein subjektives Recht zu schweigen einräumen. Das französische ‚Recht zur Lüge‘ gewährt im Vergleich dazu einen deutlich geringeren Schutz für den Zeugen. Trotzdem ist keine Lösung genuin ungerecht. 7. In allen drei Ländern wird die Aussage bei häuslicher Gewalt besonders behandelt. Die englische Regel-Ausnahme-Model der specified offences ist der überzeugendest Ansatz zum Umgang mit eingeschüchterten und abhängigen Zeugen. Allerdings gibt es praktisch ein großes Umsetzungsdefizit.
314
H. Thesen
Daher verfolgen auch alle drei Länder mittlerweile einen zweispurigen auch außerstrafrechtlichen Ansatz. 8. In England und noch mehr in Frankreich hat die Angehörigenprivilegierung im Gegensatz zu Deutschland keine praktische Bedeutung im Strafverfahren. Dies liegt in England an der taktischen Art und Weise der Zeugenvernehmung im adversary process. 9. Das deutsche und englische Modell ließen sich im europäischen Kontext in andere Systeme transplantieren. Durch die Inkohärenz bereits innerhalb des französischen Rechts, kann der französische Ansatz auch im europäischen Kontext nicht als sinnvolle Lösung für die Aussage von Angehörigen angesehen werden. 10. Ein Beinahetreffer ist in allen drei Ländern aufgetreten. Das familial searching ist England bereits etabliert und setzt sich auch in Frankreich durch. Für Deutschland können beide Länder jedoch kein Vorbild für eine Regelung sein, da die englischen und französischen Privilegierungen auf diese Ermittlungsmethode nicht anwendbar sind. 11. Die neugeschaffene Ermächtigungsgrundlage zum familial searching ist ein angemessener Ansatz, der die Angehörigeninteressen nur im Sonderfall des Reihengentests und nicht auch bei regulären Ermittlungen beeinträchtigt. 12. Im europäischen Kontext könnte das gezielte familial searching bei Prüm-Ermittlungen in der deutschen DNA-Analysedatei problematisch werden. Eine Anpassung nationaler Verwaltungsvorschriften kann hier jedoch bereits Abhilfe schaffen. 13. Auf europäischer Ebene erschweren diese sehr unterschiedlichen Regelungen eine uneingeschränkte gegenseitige Anerkennung im Beweisrecht. Diesen großen Unterschieden tragen die vermittelnden Lösungsansätze der Europäischen Ermittlungsanordnung und auch der Verordnung über die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft Rechnung. 14. Käme eine europäische Rechtsvereinheitlichung in Betracht, wäre eine Angehörigenprivilegierung des gesamten nahen Angehörigenkreises mit einem subjektiven Recht zur Zeugnisverweigerung für alle Mitgliedstaaten am verträglichsten. Dieses Zeugnisverweigerungsrecht könnte in Fällen von häuslicher Gewalt aufgehoben werden. Diese Ausnahme würde jedoch nur in Verbindung mit außerstrafrechtlichen Maßnahmen zum Schutz der Opfer auch praktisch eine positive Wirkung für die effektive Strafverfolgung solcher Taten entfalten.
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Ende der Privilegierung 7 f., 86 f., 133, 185, 190, 226, 230, 249 Enquête préliminaire 118 ff. Europäische Ermittlungsanodrnung (EEA) 297, 311 f. Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) 303 Europäisierung 295 ff. Faires Verfahren 62 f., 106 Falschaussage, s. Sanktionierung Familial searching 95 f., 105 ff., 171 f., 241 f., 285, 308 f. Familienschutz 71 ff., 105 ff., 124, 148, 160 f., 185 ff., 245 f., 279 f. Folgerichtigkeit 171, 258, 269 ff., 285 ff. Gegenseitige Anerkennung 294 f. Gegenseitiges Vertrauen 295 f. Gerechtigkeit 288 ff. Geschichtliche Entwicklung 51 ff., 127 ff., 215 ff., 247 f., 251 ff. Gewaltschutzgesetz, s. Außerstrafrechtliche Lösung Gewissensfreiheit 78 ff., 278 f. Glaubwürdigkeit 47 f., 117, 179, 201 ff., 217 Häusliche Gewalt 76, 88, 230, 263 f., 267 ff., 311 Hostile Witness 261 ff. Incapacité 129 ff. Incompatibilité 128 Incompetence 178 ff., 213 ff., 224 ff. Instruction 120 ff. Interessenausgleich 49, 63, 68, 159 ff., 229, 280 f., 287 ff., 311 Kohärenz der Regelung 141, 165, 190
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Sachregister
Konflikttheorie, s. Zwangslage des Zeugen Kritik an Privilegierung 91, 163 ff., 235 f. Minderjährigenschutz 145 f., 191 ff., 266 f., 281, 283 Near-Match 98, 171, 242, 309 f., 312 Nemo tenetur-Grundsatz 42, 52 ff., 70, 186 Non-compellability 182 ff., 190 ff., 226 ff., 250, 271, 280, 285
Schutzzweck 45 ff., 160 ff., 225 ff., 258, 279 Simple renseignement 116 ff., 129 ff., 141, 154, 166 f., 210, 310 Specified offences 189 ff., 230 ff., 235, 249, 265, 270, 272, 286 f., 291 Strafbarkeit s. Sanktionierung Straflosigkeit der Lüge s. ‚Recht zur Lüge‘ Strafverfolgungsinteresse 61, 71, 90, 112, 149, 161, 229, 233, 236, 281 Subjektives Recht 36 f., 249 ff., 270 Témoin 116 ff.
Persönlicher Schutzbereich 7 f., 123 ff., 126 ff., 244 ff. Privilege 203 ff., 223 ff. Police and Criminal Evidence Act (PACE) 178, 183 f., 188, 222 Praktische Relevanz 23, 146, 193 f., 276 ff. Prüm-Vertrag 306 ff. Ratio 45 ff., 161 ff., 226 ff., 280 ff. ‚Recht zur Lüge‘ 120, 142, 251, 272, 277 f. Reform – § 81h StPO 105 ff., 107 ff. – Diskussion in Deutschland 81 ff. – Diskussion in England 234 ff. – Diskussion in Frankreich 163 ff. Rezeption 31, 33 f., 246 f., 271 Römisches Recht 28 f., 151, 271 Sanktionierung – des Ausbleibens 21 f.,136 f., 208 ff., 272 ff. – der Aussageverweigerung 22, 136 f., 208 ff., 272 ff. – der Falschaussage 23 ff., 139 ff., 211 ff., 273 f.
Unfavourable witness 202 Untersuchungsverweigerungsrecht 43 f., 60, 90 Vereidigung 12, 35, 118, 134, 141, 158, 163, 167, 195, 210, 218, 256, 260, 270, 280 Verfassungsrecht 62 ff., 72 ff., 78 ff., 111, 171, 244, 277 ff. Verwertbarkeit früherer Aussagen 41, 196 ff., 202, 266 f. Wahrheitsfindung 47 ff., 78, 163, 174, 254, 260, 272 f., 282 f., 280 f. Wertepluralismus 61 Zeugenaussage 6 f., 116 ff., 177 ff. Zeugenausschluss 33 f., 38, 50, 59, 75, 159, 217 f., 228, 253, 257 Zeugeninteressen 20, 278 ff., 280 ff., 311 Zeugenvernehmung 13, 113, 129, 155, 176, 179, 297 ff., 309 Zeugnisverweigerungsrecht 7 ff., 27 ff., 45 ff., 81 ff., 249 ff. Zwangslage des Zeugen 55 ff., 70, 73