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German Pages [422] Year 2021
Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung herausgegeben von der
Gesellschaft für Rechtsvergleichung e.V.
75
Sudabeh Kamanabrou
Richtlinienkonforme Auslegung im Rechtsvergleich Eine Untersuchung am Beispiel des Urlaubsrechts
Mohr Siebeck
Sudabeh Kamanabrou, Studium der Rechtswissenschaft an der WWU Münster und der Ruhr-Universität Bochum; 1997 Promotion; 1998 Zweites Staatexamen; 2003 Habilitation; Professorin für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Arbeitsrecht, Wirtschaftsrecht und Methodenlehre sowie Mitdirektorin des Instituts für Arbeit und sozialen Schutz an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld. orcid.org/0000-0002-0674-265X
ISBN 978-3-16-159824-1 / eISBN 978-3-16-159825-8 DOI 10.1628/978-3-16-159825-8 ISSN 1861-5449 / eISSN 2569-426X (Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Die vorliegende Untersuchung führt mehrere meiner Forschungsinteressen zusammen. Sie zielt in erster Linie darauf ab, methodische Fragen der richtlinienkonformen Auslegung aus rechtsvergleichender Perspektive zu erforschen. Dementsprechend richtet sich das Buch vor allem an Leser, die sich für die methodischen Aspekte der richtlinienkonformen Auslegung interessieren, sei es rein national, sei es über die Grenzen des eigenen Landes hinaus. Die Arbeit behandelt daneben auch Umsetzungsprobleme auf dem Gebiet des Urlaubsrechts. Die urlaubsrechtlichen Ausführungen dienen dabei zum einen als Anschauungsmaterial für die methodischen Überlegungen, zum anderen als rechtsvergleichender Beitrag zur Umsetzung des europäischen Urlaubsrechts. Das Buch wendet sich daher auch an urlaubsrechtlich interessierte Leser. Meinen (ehemaligen) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, insbesondere Nina Berenbrinker, Dr. Mathis Böttcher, Franziska Gringel, Theresa Hemmer, Gerrit Horst, Mark Püttmann, Katja Schwarze und Julia Wolf danke ich für zahlreiche Scans, Kopien, Aktualisierungen und Korrekturen. PD Dr. Anne Christin Wietfeld danke ich für die wie stets sehr hilfreiche Textkritik. Mein Dank gilt ferner den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Universitätsbibliothek Bielefeld, allen voran Kerstin Nevermann und Jost Lechte, denen es gelungen ist, auch in schwierigen Fällen die notwendige Literatur zu beschaffen. Gesetze, Rechtsprechung und Literatur sind auf dem Stand vom 1.8.2020. Bielefeld, im August 2020
Sudabeh Kamanabrou
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXIII
Kapitel 1: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Skizzierung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
II. Konkretisierung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . .
4
III. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
IV. Terminologische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Kapitel 2: Die Vorgaben des EuGH zum Urlaubsrecht . . . . . .
13
Die Mindestbeschäftigungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
II. Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . . .
15
III. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen, insbesondere bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
IV. Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
Kapitel 3: Die Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
I.
24
I.
I.
Die EuGH-Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung
II. Diskussionspunkte in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
VIII
Inhaltsübersicht
Kapitel 4: Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
I.
57
Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
II. Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung . . . . . . . . . . . .
115
Kapitel 5: Die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
I.
153
Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
II. Die Auslegung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163
III. Die richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
166
Kapitel 6: Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
I.
179
Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
II. Die Auslegung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
III. Die richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
213
Kapitel 7: Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223
I.
223
Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
II. Die Auslegung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
243
III. Die richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253
Kapitel 8: United Kingdom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
263
I.
263
Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
II. Die Auslegung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
III. Die richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
284
Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
Anpassungsbedarf und Veränderungen im Urlaubsrecht . . . . . . . . .
305
II. Die Auslegung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
328
III. Die richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
338
I.
Inhaltsübersicht
IX
Kapitel 10: Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351
Anhang: Nationale Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
Die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
356
Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
358
Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
360
United Kingdom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
362
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365
Datenbank- und Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
386
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
389
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXIII
Kapitel 1: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
I.
Skizzierung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
II. 1. 2. 3.
Konkretisierung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . Auswahl der urlaubsrechtlichen Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl der untersuchten Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 4 5 6
III. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
IV. Terminologische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Kapitel 2: Die Vorgaben des EuGH zum Urlaubsrecht . . . . . .
13
Die Mindestbeschäftigungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
II. Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . . .
15
I.
III. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen, insbesondere bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kein generelles Verbot des Verfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Übertragung und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Vorgaben für Mehrurlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 19
IV. Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
16 16
XII
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 3: Die Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. 1. 2.
Die EuGH-Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung Erste Urteile zur Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die EuGH-Rechtsprechung ab der Rechtssache Pfeiffer . . . . . . . a) Kernaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Weitere Aspekte der richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . .
23 24 25 26 27 29
II. Diskussionspunkte in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die richtlinienkonforme Auslegung als Ausgleich fehlender Horizontalwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Herleitung der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 288 Abs. 3 AEUV als Hauptanknüpfungspunkt . . . . . . . . b) Rückgriff auf den Vorrang des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . c) Rückgriff auf nationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . a) Folgen für die Harmonisierungswirkung von Richtlinien . . . . b) Fremdeinschätzungen zur Auslegungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . c) Europäische methodische Vorrangregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Änderung einer ständigen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die nationalen Regeln zur Vermeidung von Normkollisionen . . . 6. Die Umsetzungsabsicht und Argumente aus der Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Contra-legem-Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
Kapitel 4: Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
I. 1. 2. 3. 4.
57 57 58 58
5.
Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung Die gesetzliche Regelung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mindestbeschäftigungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen . . . . . . . aa) Die Rechtsprechung des BAG vor 2009 . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Rechtsprechung des BAG nach dem Urteil Schultz-Hoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 34 34 36 38 40 41 41 43 45 47 49 50 54
58 59 59 59 60
Inhaltsverzeichnis
6. 7.
cc) Reaktionen aus der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Übertragungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Änderung der BAG-Rechtsprechung nach dem Urteil KHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Auffassung der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mehrurlaubsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Auslegungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Diskussion in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Aussagen der Rechtsprechung zum Auslegungsziel . . . . . c) Der Vorrang der subjektiven Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Auslegungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Wortsinn der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die historische und genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundlegende Kritik an der objektiv-teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Aspekte der objektiv-teleologischen Auslegung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Eigene Auffassung zu den Auslegungsaspekten und Fazit zur objektiv-teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die verfassungskonforme Auslegung i.e.S. . . . . . . . . . . . . (1) Die Doppelrolle der Verfassung bei der Auslegung . . . (2) Keine Teilnichtigerklärung durch verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung . . . . . cc) Die verfassungskonforme Auslegung als Optimierung und die verfassungsorientierte Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die verfassungskonforme Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . f) Rangfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsfortbildung zur Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsfortbildung bei Normkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsprechung und Literatur zur richtlinienkonformen Auslegung und Fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII 62 63 63 64 66 66 67 67 67 68 71 74 76 77 80 83 86 87 91 93 94 95 96 98 99 100 103 106 110 111 114 115 115
XIV
2.
3.
Inhaltsverzeichnis
a) Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Rechtsprechung des BGH und des BAG . . . . . . . . . . bb) Die Besonderheiten der urlaubsrechtlichen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Einordnung der richtlinienkonformen Auslegung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die richtlinienkonforme Auslegung im Rechtsfindungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Vorgehen bei der richtlinienkonformen Auslegung c) Die Diskussion der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anknüpfung an den Lückenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtsfortbildung unter dem Aspekt der Normkollision cc) Modifizierter Lückenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellungnahme zur richtlinienkonformen Auslegung und Fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine Modifikation des Auslegungsziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Einfluss der Richtlinie im Auslegungsprozess . . . . . . . . . . aa) Der Einfluss bei der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Einfluss, wenn ein konkreter Regelungswille nicht feststellbar ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Keine Rechtsfortbildung aufgrund Richtlinienverstoßes . . . . . aa) Die Rechtsfortbildung zur Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . (1) Unbewusst unrichtige Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Fehlende Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Rechtsfortbildung zur Auflösung von Kollisionen cc) Die Wirkungsweise von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung und Fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wortsinn und Zweck als Auslegungsschranken . . . . . . . . . . . . b) Die funktionale Bestimmung der Contra-legem-Grenze . . . . . c) Die begrenzende Wirkung allgemeiner Rechtsgrundsätze . . . . d) Die Grenze der methodengerechten Interpretation . . . . . . . . .
115 115 118 119 120 121 123 126 126 129 129 130 131 131 132 132 132 133 136 138 138 139 139 140 141 142 144 145 145 149 150 151
Inhaltsverzeichnis
XV
Kapitel 5: Die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
I. 1. 2. 3.
153 153 154 154
4. 5.
6. 7.
Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung Die gesetzliche Regelung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mindestbeschäftigungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . a) Der Umgang der Rechtsprechung mit Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Streichung des Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. zum 1.1.2012 c) Die Reaktion der Literatur auf die neuen Regeln . . . . . . . . . . . Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen . . . . . . . b) Der Übertragungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Verfallfrist bei Wiedereingliederungspflicht . . . . . . . . bb) Die Ausnahme von der Verfallfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Rechtsprechung und Literatur zum Verfall bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Übertragbarkeit und Verfall von Mehrurlaubsansprüchen . . . Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154 155 156 156 158 158 158 158 159 160 161 161 162
II. Die Auslegung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Auslegungsziel und die Auslegungskriterien . . . . . . . . . . . . . 2. Das Vorgehen des Hoge Raad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163 163 165
III. Die richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die richtlinienkonforme Auslegung in der Rechtsprechung . . . . . a) Die begrenzende Wirkung des Wortsinns . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Umsetzungswille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die richtlinienkonforme Auslegung von Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die richtlinienkonforme Auslegung im Spiegel der Literatur . . . . a) (Kein) Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . b) Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . c) Die begrenzende Wirkung allgemeiner Rechtsgrundsätze . . . .
166 167 167 170 170 172 172 173 176
XVI
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 6: Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
I. 1. 2. 3.
179 179 180 181
4. 5.
6. 7.
Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung Die gesetzliche Regelung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mindestbeschäftigungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . a) Der Umgang der C. cass. mit den nicht erfassten Krankheitszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Reaktionen aus der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Reformbedarf aus Sicht der C. cass. und der Literatur . . . . . . Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen . . . . . . . b) Der Übertragungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Übertragbarkeit von Mehrurlaubsansprüchen . . . . . . . . . Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
182 183 184 186 187 187 188 190 191 192
II. Die Auslegung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Umgang mit Methodenfragen in der Rechtsprechung . . . . . 2. Das Auslegungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die exegetische Methode und ihre Kritik durch Ge´ny . . . . . . . b) Jüngere Auslegungslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Auslegungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aspekte der Wortsinnauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Logische Interpretation, Gesamtzusammenhang . . . . . . . . . . . c) Die Gesetzgebungsmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die teleologische Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rangfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193 194 196 197 200 204 205 207 209 212 212
III. Die richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die richtlinienkonforme Auslegung in der Rechtsprechung . . . . . a) Die Contra-legem-Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Bedeutung des Wortsinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Weitere Entscheidungen zur Contra-legem-Grenze . . . . . . cc) Spielraum bei fehlender gesetzlicher Regelung . . . . . . . . . b) Die Begrenzung notwendiger Korrekturen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die richtlinienkonforme Auslegung im Spiegel der Literatur . . . .
213 213 214 215 216 218 218 220
Inhaltsverzeichnis
XVII
Kapitel 7: Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223
I. 1. 2. 3. 4.
223 223 225 226
Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung Die gesetzliche Regelung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mindestbeschäftigungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Umgang der Rechtsprechung mit Art. 38 ET a.F. . . . . . . aa) Erste Entscheidungen zur Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung vor Beginn des Urlaubs . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ablehnende Entscheidungen des TS . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Rückkehr zur Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung vor Beginn des Urlaubs . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Aufgabe der Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Die Reaktion der Literatur auf den Wandel der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Ergänzung des Art. 38.3 ET . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Reaktion der Literatur auf die Gesetzesänderung . . . . . . . aa) Die Genesung vor Ablauf des Urlaubsjahres . . . . . . . . . . . bb) Die Erkrankung während des Urlaubs . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die zeitliche Lage des nachgeholten Urlaubs . . . . . . . . . . . dd) Der Übertragungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
236 239 240 240 241 242 242 243
II. Die Auslegung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Subjektive oder objektive Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Auslegungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Wortsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die soziale Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Nicht abschließender Charakter und Rangfragen . . . . . . . . . . 3. Das Vorgehen des TS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
243 244 246 247 247 248 249 250 250 251
III. Die richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die richtlinienkonforme Auslegung in der Rechtsprechung . . . . .
253 253
5. 6.
7.
227 227 228 229 229 231 233 235
XVIII
Inhaltsverzeichnis
a) Die Argumentation des TS in den Entscheidungen vom 24.6.2009 und 3.10.2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Argumentation des TS in jüngeren Urteilen . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die richtlinienkonforme Auslegung im Spiegel der Literatur . . . . a) Der Ausgleich fehlender Horizontalwirkung . . . . . . . . . . . . . . b) Die Einbindung in den Interpretationsvorgang . . . . . . . . . . . . c) Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . .
253 254 257 258 258 260 260
Kapitel 8: United Kingdom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
263
I. 1. 2. 3. 4.
263 263 264 264
2.
5.
6. 7.
Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung Die gesetzliche Regelung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mindestbeschäftigungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine Änderung der WTR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die richtlinienkonforme Interpretation der reg. 13(9) WTR aa) Die Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen . . . bb) Der Übertragungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Übertragbarkeit von Mehrurlaub . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265 265 265 267 267 268 269 269 271
II. Die Auslegung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die sich wandelnde Schwerpunktsetzung bei den Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die stärkere Zweckorientierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die einzelnen Auslegungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wortsinn und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Gesetzgebungsmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Parlamentarische Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Außerparlamentarische Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
274 277 277 278 278 283
III. Die richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entwicklung der Rechtsprechung des House of Lords . . . . . a) Die Zurückhaltung im Fall Duke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entscheidungen Litster und Pickstone . . . . . . . . . . . . . . . .
284 285 285 286
272
Inhaltsverzeichnis
2.
3.
aa) Die Rechtsprechung des House of Lords . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Diskussion des Umsetzungswillens in der Literatur c) Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grenzen der richtlinienkonformen Interpretation . . . . . . . . . a) Der Rückgriff auf Überlegungen zu s. 3 HRA durch das EAT b) Die Literatur zur Auslegung nach s. 3 HRA . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Bindung an den Normtext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die widerlegbare Vermutung konventionskonformen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Auslegung i.S.d. Grundaussage des Gesetzes . . . . . . . dd) Funktionale Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die richtlinienkonforme Auslegung der reg. 13(9) WTR durch die Instanzgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIX 286 289 290 292 292 293 295 295 296 298 299 300 301
Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
Anpassungsbedarf und Veränderungen im Urlaubsrecht . . . . . . . . . Die Mindestbeschäftigungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kein Anpassungsbedarf in Deutschland, den Niederlanden und Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anpassungsbedarf und Veränderungen in Frankreich und im United Kingdom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . a) Kein Anpassungsbedarf in Deutschland und Spanien, Klärung im United Kingdom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anpassungsbedarf und Veränderungen in den Niederlanden und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Besonderheiten in den Niederlanden und Spanien . . . . . . bb) Anpassungsbedarf in Deutschland, Frankreich und im United Kingdom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Übertragungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gesetzliche Regelung in den Niederlanden und in Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland, Frankreich und im United Kingdom . . . . . . . . . . . . . . . . .
305 305
I. 1.
2.
3. 4.
305 305 307 307 307 308 309 309 309 310 311 311 312
XX
Inhaltsverzeichnis
c) Der Mehrurlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang mit Anpassungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Vorgehen der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Einfluss der unterschiedlichen Auslegungssituationen . . . aa) Nicht ausreichende allgemeine Regelung zur Übertragbarkeit von Urlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zu eng gefasste Ausnahmeregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Konkrete richtlinienwidrige Beschränkung . . . . . . . . . . . . dd) Fehlende gesetzliche (Detail-)Regelung . . . . . . . . . . . . . . . ee) Begrenzung notwendiger Korrekturen . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
320 322 324 325 326 327
II. Die Auslegung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Auslegungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Auslegungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Wortsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Gesetzgebungsmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rangfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
328 328 330 331 332 333 335 337 338
III. Die richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Einbindung in den Auslegungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung nach der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung nach der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die begrenzende Wirkung allgemeiner Rechtsgrundsätze . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
338 338
Kapitel 10: Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351
Anhang: Nationale Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) § 1 Urlaubsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3 Dauer des Urlaubs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4 Wartezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5 Teilurlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355 355 355 355 355 355
5. 6.
314 314 316 317 319
341 344 347 348
Inhaltsverzeichnis
XXI
§ 7 Zeitpunkt, Übertragbarkeit und Abgeltung des Urlaubs § 9 Erkrankung während des Urlaubs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 13 Unabdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
356 356 356
Die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Burgerlijk Wetboek, Boek 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 7:634 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 7:635 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 7:636 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 7:637 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 7:638 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 7:640a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 7:642 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Burgerlijk Wetboek, Boek 7, alte Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 7:635 a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 7:636 a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 7:637 a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 7:642 a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
356 356 356 356 357 357 357 357 357 358 358 358 358 358
Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Code du travail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. L3141-3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. L3141-5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. L3141-10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. L3141-12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. L3141-22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. R3141-4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Code du travail, alte Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. L3141-3 Abs. 1 C. trav. (gültig bis 21.8.2008) . . . . . . . . . . Art. L3141-3 Abs. 1 C. trav. (gültig vom 22.8.2008–23.3.2012) Code Civil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
358 358 358 359 359 359 359 359 360 360 360 360 360 360
Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Constitucio´n espan˜ola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 40 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Estatuto de los Trabajadores . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Estatuto de los Trabajadores, alte Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 38 (gültig bis 11.2.2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Codigo Civil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
360 360 360 360 360 361 361 361 361
XXII
Inhaltsverzeichnis
United Kingdom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Working Time Regulations 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . reg. 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . reg. 13A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . reg. 15A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Working Time Regulations 1998, alte Fassung . . . . . . . . . . . . . . . reg. 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . European Communities Act 1972, repealed, but saved for the implementation period . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . s. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
362 362 362 362 362 363 363 363 363
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365
Datenbank- und Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . United Kingdom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
386 386 386 386 387 387
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
389
Abkürzungsverzeichnis A.A. AB Abs. AC AcP ADC AEUV AFD aff. AL All ER Am. J. Comp. L. Anm. AöR AP AphD App Cas ArA ARSP Art., Artt. AS Aufl. BAG Bearb. bearb. BeckOK Begr. BGH BMJ Brook. J. Int’l L. BUrlG BV BVerfG bzw. c. C. c. C. cass. C. E. C. trav. C.L.J. C.M.L. Rev.
Anderer Ansicht Administratiefrechtelijke Beslissingen Absatz Appeal Cases Archiv für die civilistische Praxis Anuario de Derecho Civil Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Anuario de Filosofia del Derecho affaire Actualidad Laboral All England Law Reports American Journal of Comparative Law Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsrechtliche Praxis Archives de philosophie du droit Law Reports Appeal Cases (1875–1890) Arbeidsrechtelijke Annotaties Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Aksjeselskap; Aranzadi Social, Revista Doctrinal Auflage Bundesarbeitsgericht Bearbeiter/Bearbeiterin bearbeitet Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht Begründer Bundesgerichtshof Boletı´n del Ministerio de Justicia Brooklyn Journal of International Law Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) Besloten vennootschap met beperkte aansprakelijkheid Bundesverfassungsgericht beziehungsweise contre Code Civil Cour de cassation ´ tat Conseil d’E Code du travail Cambridge Law Journal Common Market Law Review
XXIV CA Cass. ass. ple´n. Cass. civ. Cass. com. Cass. soc. CC CE chr. CJ CJCE CJEU Cl & Fin Co Rep Co Corte cost. CSBP D. D. Chr. DB DDA ders. dies. Dr. Ouvr. e.g. E.H.R.L.R. EAT ebda. EBR ECA ECJ EEC EG EGV ehem. EL EL Rev. ELB ELJ EMRK EPA EPL ErfK ET et al. EU EuArbRK EuConst EuGH EuGRZ EuR
Abkürzungsverzeichnis Cour d’appel Cour de cassation, Assemble´e Ple´nier Cour de cassation, Chambre civil Cour de cassation, Chambre commerciale Cour de cassation, Chambre sociale Co´digo civil; Conseil constitutionnel Constitucio´n espan˜ola chronique Chief Justice Cour de Justice des Communaute´s europe´ennes Court of Justice of the European Union Clark and Finnelly’s Reports, House of Lords Cases (1831–1846) Coke’s King’s Bench Reports Company Corte costituzionale italiana Les Cahiers Sociaux Recueil Dalloz/Recueil Dalloz Sirey Dalloz Chronique Der Betrieb Disability Discrimination Act 1995 derselbe dieselbe/dieselben Le Droit Ouvrier exempli gratia European Human Rights Law Review Employment Appeal Tribunal ebenda Established Business Relationship European Communities Act 1972 European Court of Justice European Economic Community Europäische Gemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ehemaliger Ergänzungslieferung European Law Review Westlaw Employment Law Bulletin European Law Journal Europäische Menschenrechtskonvention Equal Pay Act 1970 European Public Law Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht Employment Tribunal; Estatuto de los Trabajadores et alii, et aliae Europäische Union Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht European Constitutional Law Review Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechtszeitschrift Zeitschrift Europarecht
Abkürzungsverzeichnis EUV EuZA EWCA Civ EWG EWGV Fam LR FJ Fn. GA gem. GmbH GPR GRC h.M. HdBEuR HM Gov. HMRC HRA Hrsg. hrsg. HvJ EU I CON i.d.R. i.e.S. i.S.d. i.S.v. i.V.m. i.w.S. IAO ICR IDS ILJ insbes. IT JAR JbJZW JBl JCP JCP S JOR JPN JR JRP JURA JuS JZ Kap. LGDCU LGSS
XXV
Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht England and Wales Court of Appeal (Civil Division) Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Family Law Reports Fundamento jurı´dico Fußnote Generalanwältin, Generalanwalt gemäß Gesellschaft mit beschränkter Haftung Zeitschrift für das Privatrecht der Europäischen Union Grundrechtecharta herrschende(n) Meinung Handbuch Europarecht Her Majesty’s Government Her Majesty’s Revenue and Customs Human Rights Act 1998 Herausgeber/Herausgeberin herausgegeben Hof van Justitie van de Europese Unie International Journal of Constitutional Law in der Regel im engeren Sinn im Sinne des im Sinne von in Verbindung mit im weiteren Sinn Internationale Arbeitsorganisation Industrial Cases Reports Incomes Data Services Industrial Law Journal insbesondere incapacidad temporal Jurisprudentie Arbeidsrecht Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler Juristische Blätter Juris-Classeur pe´riodique Juris-Classeur pe´riodique, e´dition sociale Jurisprudentie Onderneming & Recht Justice of the peace Juristische Rundschau Journal für Rechtspolitik Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) JuristenZeitung Kapitel Ley General de Consumidores y Usuarios vom 26.1.1984 Ley General de la Seguridad Social, konsolidierte Fassung, angenommen durch das Real Decreto Legislativo 1/1994 vom 20.6.1994
XXVI LJ LLP LQR Ltd m.w.N. MLR MR MüKo-BGB n° n.° NI NJOZ NJW No Nr. NtER NVwZ NZA OJLS ÖJZ ÖPNV PL plc PrBergG QB R R.V.A.P. RabelsZ RAD RATP RdA RDT RDTeur REALaw REDC REDE REDT reg. REP Resp. civ. et assur. RFDA RIW RJ RJS RL RMESS RMTI RMTSS Rn.
Abkürzungsverzeichnis Lord Justice of Appeal Limited Liability Partnership Law Quarterly Review Limited mit weiteren Nachweisen The Modern Law Review Master of the Rolls Münchener Kommentar zum BGB numero nu´mero Northern Ireland Law Reports Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Number Nummer Nederlands tijdschrift voor Europees recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Oxford Journal of Legal Studies Österreichische Juristen-Zeitung Öffentlicher Personennahverkehr Public Law public limited company Allgemeines Berggesetz für die preußischen Staaten vom 24. Juni 1865 Queen’s Bench Regina Revista Vasca de Administracio´n Pu´blica Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Revista Aranzadi doctrinal Re´gie Autonome des Transports Parisiens Recht der Arbeit Revue de Droit du Travail Revue trimestrielle de droit europe´en Review of Administrative Law Revista Espan˜ola de Derecho Constitucional Revista Espan˜ola de Derecho Europeo Revista Espan˜ola de Derecho del Trabajo regulation Revista de estudios polı´ticos Responsabilite´ civile et Assurances Revue franc¸aise de droit administratif Recht der Internationalen Wirtschaft Repertorio de jurisprudencia Aranzadi Revue de jurisprudence sociale Relaciones laborales: Revista crı´tica de teorı´a y pra´ctica; Richtlinie Revista del Ministerio de Empleo y Seguridad Social Revista del Ministerio de Trabajo e Inmigracio´n Revista del Ministerio de Trabajo y Seguridad Social Randnummer
Abkürzungsverzeichnis RPDS RRJ RTDciv RTDeur s. S. SA SAE SCLR SCP S SDA SonderUrlG Stat LR STC STS STSJ StudZR TC ¯¯ MIS THE TJCE TL TRA TS TSJ TUPE u.a. u.U. UAbs. UE UK UKEAT UKHL UKPC UKSC v Verf. vgl. Vol WLR WM WTR WTR 1998 YEL z.B. z.T. ZEuP ZfA
XXVII
Revue Pratique de Droit Social Revue de la Recherche juridique – Droit prospectif Revue trimestrielle de droit civil Revue trimestrielle de droit europe´en section; siehe Seite; Siehe Socie´te´ Anonyme Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen Scottish Civil Law Reports La Semaine Juridique – Social Sex Discrimination Act 1975 Sonderurlaubsgesetz Statute Law Review Sentencia del Tribunal Constitucional; Simon’s Tax Cases Sentencia del Tribunal Supremo Sentencia Tribunal Superior de Justicia Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft Tribunal Constitucional; Tribunal des conflits ¯¯ MIS – Revista de Derecho THE Tribunal de Justicia de las Comunidades Europeas Temas Laborales Tijdschrift Recht en Arbeid Tribunal Supremo Tribunal Superior de Justicia (Obergericht für eine autonome Region) Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 1981 und andere; unter anderem unter Umständen Unterabsatz Unio´n Europea United Kingdom United Kingdom Employment Appeal Tribunal United Kingdom House of Lords United Kingdom Privy Council United Kingdom Supreme Court versus Verfasser, Verfasserin vergleiche Volume Weekly Law Reports Wertpapiermitteilungen, Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankenrecht Working Time Regulations Working Time Regulations 1998 Yearbook of European Law zum Beispiel zum Teil Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht
XXVIII ZfRV ZGR zit. ZTR ZZP
Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für Europarecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht zitiert Zeitschrift für Tarifrecht Zeitschrift für Zivilprozess
Kapitel 1
Einführung “As I say, domestic courts may have gone further than the Court of Justice has explicitly required. It would be an interesting subject for comparative law study.”1
I. Skizzierung des Untersuchungsgegenstandes Richtlinien und die dazugehörige konkretisierende Rechtsprechung des EuGH haben großen Einfluss auf das Privatrecht der Mitgliedstaaten. Nicht nur die ursprüngliche Umsetzungsverpflichtung nach Erlass der Richtlinie, sondern auch EuGH-Rechtsprechung führt oft dazu, dass nationales Recht zu schaffen oder zu verändern ist, um einen richtlinienkonformen Zustand herzustellen. Ein Bereich, in dem EuGH-Rechtsprechung im deutschen Recht in den letzten Jahren erhebliche Veränderungen bewirkt hat, ist das Urlaubsrecht. Auf diesem Gebiet gab es eine Reihe von Entscheidungen des EuGH, nach denen das im BUrlG geregelte deutsche Urlaubsrecht in einigen Punkten nicht ohne Weiteres als richtlinienkonform einzuordnen war. Das betraf u.a. die Möglichkeit der Übertragbarkeit von Urlaub bei Langzeiterkrankung. Der EuGH verlangt seit dem Schultz-Hoff-Urteil aus dem Jahr 2009 für den Krankheitsfall eine Übertragungsmöglichkeit.2 Zeitliche Grenzen waren zunächst nicht vorgesehen. Erst im Jahr 2011 eröffnete er in der Rechtssache KHS die Möglichkeit, die Übertragung des krankheitsbedingt nicht genommenen Urlaubs zeitlich zu begrenzen, wobei der Übertragungszeitraum deutlich länger sein muss als der Bezugszeitraum.3 Diesen Anforderungen genügen § 7 Abs. 3 S. 2, 3 BUrlG ihrem Wortsinn nach nicht. Danach kann Urlaub im Krankheitsfall zwar übertragen werden. Er erlischt aber nach Ablauf von drei Monaten des Folgejahres. Bis zu den einschlägigen Entscheidungen des EuGH wurden diese Regelungen auch nicht i.S.d. EuGH-Rechtsprechung
1
Lord Mance, EL Rev. 2013, 437, 450. EuGH 20.1.2009 EU:C:2009:18 (Schultz-Hoff und Stringer) Rn. 43–52. 3 EuGH 22.11.2011 EU:C:2011:761 (KHS) Rn. 26, 38. 2
2
Kapitel 1: Einführung
ausgelegt.4 Das BAG interpretierte jedoch bereits kurz nach dem SchultzHoff-Urteil § 7 Abs. 3 BUrlG richtlinienkonform. Nach einem Urteil des Neunten Senats aus dem Jahr 2009 war Urlaub, der krankheitsbedingt nicht genommen werden konnte, zeitlich unbegrenzt übertragbar – also so weitgehend, wie es das Schultz-Hoff-Urteil verlangte. Diese Interpretation verstand der Senat zunächst als Rechtsfortbildung.5 Wie die Anpassung des § 7 Abs. 3 BUrlG methodisch genau einzuordnen ist, ließ er in einer nachfolgenden Entscheidung aber ausdrücklich offen. In diesem späteren Urteil veränderte der Neunte Senat zudem seine richtlinienkonforme Interpretation inhaltlich und führte mit Blick auf die KHS-Entscheidung einen fünfzehnmonatigen Übertragungszeitraum für krankheitsbedingt nicht genommenen Urlaub ein.6 Der Gesetzgeber nahm diese Rechtsprechung, die auf europäischer und nationaler Ebene ergangen ist, nicht zum Anlass, das BUrlG zu ändern. Aus dem geschriebenen Urlaubsrecht lässt sich der aktuell durch die Rechtsprechung des BAG bestimmte Rechtszustand nicht ableiten. Die Entscheidungen des BAG werfen die Frage nach den methodischen Regeln der richtlinienkonformen Interpretation – insbesondere nach ihren Grenzen – auf. Übertragbarkeit und Verfall von Urlaub bei Langzeiterkrankung wurden vor den einschlägigen EuGH-Entscheidungen auch in einigen anderen europäischen Ländern nicht i.S.d. EuGH-Rechtsprechung gehandhabt. Das eröffnet eine breitere Sicht auf dieses Problem. Es stellt sich die Frage, wie die Reaktionen in diesen Ländern ausfielen, ob die Gerichte richtlinienkonform interpretiert haben und/oder der Gesetzgeber aktiv geworden ist. Dabei geht es nicht allein um methodische Grenzen der richtlinienkonformen Interpretation. Daneben ist das jeweilige rechtliche Umfeld zu beachten, das die Möglichkeit der richtlinienkonformen Interpretation ebenfalls beeinflusst. Damit tut sich eine vergleichende Perspektive auf. Da sich für mehrere Länder innerhalb einer überschaubaren Zeit (inhaltlich) vergleichbarer Anpassungsbedarf ergeben hat, lässt sich sinnvoll vergleichend betrachten, wie sie mit diesem Anpassungsbedarf umgegangen sind. Unter Berücksichtigung des sicherlich unterschiedlichen Regelungskontexts kann untersucht werden, was vom Gesetzgeber und der Justiz unternommen wurde, um ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erreichen und ob die Bemühungen um eine richtlinienkonforme Interpretation – wiederum unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontexts – vergleichbar waren. Eine solche Untersuchung der „Umsetzung von EuGH-Rechtsprechung“ lässt sich ferner in zweierlei Hinsicht gut erweitern. Zunächst kann sie mit Blick auf Anpassungsbedarf und Ver-
4
Zumindest nicht seit 1982, s. dazu S. 59–60. BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 57–67. 6 BAG 7. 8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 33. S. dazu S. 63–64. 5
I. Skizzierung des Untersuchungsgegenstandes
3
änderungen im Urlaubsrecht auf eine breitere Basis gestellt werden, weil der EuGH neben der Frage der Übertragbarkeit und des Verfalls von Urlaub bei Krankheit weitere Fragen, die das Verhältnis von Krankheit und Urlaub betreffen, beantwortet und damit ebenfalls Auslegungs- und/oder Änderungsbedarf in mehreren Mitgliedstaaten hervorgerufen hat. Außerdem ist es sinnvoll, die Untersuchung zwar von diesen Beispielen ausgehen zu lassen, sie dann aber vom Urlaubsrecht zu lösen. Indem nicht nur Probleme der richtlinienkonformen Auslegung im Urlaubsrecht behandelt werden, sondern auch anderweitige zivilrechtliche Rechtsprechung und Literatur zur richtlinienkonformen Auslegung berücksichtigt wird, kann generell vergleichend betrachtet werden, wie die betroffenen Mitgliedstaaten im Zivilrecht mit der richtlinienkonformen Interpretation umgehen. Die vorliegende Arbeit behandelt diese Fragen. Sie zielt auf mehrere Ergebnisse. Es geht zum einen darum, ob und wie ein richtlinienkonformer Zustand im Urlaubsrecht hergestellt wurde. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt jedoch bei methodischen Fragen. Denn zum anderen wird untersucht, wie Rechtsprechung und Literatur in den untersuchten Ländern – auch außerhalb des Urlaubsrechts – mit der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung umgehen, wobei die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung im Mittelpunkt stehen. Die Verknüpfung materiell-rechtlicher Fragen mit Auslegungsfragen liegt nahe, weil Methoden sich am besten vor dem Hintergrund konkreter Beispiele erörtern lassen.7 Zwar dienen Methoden dazu, unabhängig vom konkreten Fall generell gangbare Lösungswege aufzuzeigen. Sie werden aber stets auf konkrete Rechtsprobleme angewendet und sollten daher nicht nur abstrakt diskutiert werden. Die Auslegungsfragen aus dem Urlaubsrecht zu wählen, bietet sich an, weil auf diesem Gebiet mehrere Länder ähnlichen Korrekturbedarf hatten. Das regt zum Vergleich an. Dass eine solche Situation auf dem Gebiet des Arbeitsrechts auftritt, ist nicht überraschend. Das Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten wird schon seit Jahrzehnten stark von Richtlinienrecht beeinflusst. Zahlreiche Urteile zur richtlinienkonformen Auslegung auf europäischer und auf nationaler Ebene betreffen das Arbeitsrecht.8
7 S. z.B. die Anlage der Untersuchung von Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, die die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht am Beispiel des Haustürwiderrufsrechts untersucht. 8 S. zu diesem Befund für das United Kingdom Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 330.
4
Kapitel 1: Einführung
II. Konkretisierung des Untersuchungsgegenstandes Wie bereits dargelegt, ist der Umgang mit der richtlinienkonformen Auslegung, insbesondere mit ihren Grenzen, ein wesentlicher Gegenstand dieser Arbeit. Grenzen hat aber auch die Untersuchung selbst.
1. Auswahl der urlaubsrechtlichen Probleme Eine erste Grenze betrifft die urlaubsrechtlichen Fragen, die in die Diskussion einbezogen werden. Der Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub ist im europäischen Sekundärrecht in Art. 7 RL 2003/88/EG verankert. Diese Richtlinie regelt bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, zu denen insbesondere Mindestruhezeiten und Fragen der Nacht- und Schichtarbeit gehören. Die Regelung zum Mindestjahresurlaub ist neben den Bestimmungen zu Pausen, wöchentlichen Ruhezeiten und der wöchentlichen Höchstarbeitszeit ein Teilaspekt der Mindestruhezeiten. Art. 7 RL 2003/88/EG enthält, ebenso wie die inhaltsgleiche Vorgängerregelung des Art. 7 RL 93/104/EG, nur wenige Vorgaben: Für die Arbeitnehmer ist ein bezahlter Mindestjahresurlaub von vier Wochen vorzusehen. Er darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden. Die Arbeitnehmer erhalten den Urlaub nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind. Der EuGH hat aufgrund von Vorlagefragen aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten die Vorgaben der Richtlinie für den Mindestjahresurlaub erheblich konkretisiert, wobei die einschlägige Rechtsprechung vor allem aus der Zeit seit 2009 stammt. Der EuGH hat sich dabei zu verschiedenen Problemen geäußert, von denen hier nur einige beispielhaft genannt seien. Er entschied u.a. dazu, ob Mitgliedstaaten vorsehen dürfen, dass Arbeitnehmer eine Mindestarbeitszeit absolvieren müssen, bevor sie Urlaubsansprüche geltend machen können. Entschieden wurde ferner, ob erkrankte Arbeitnehmer Urlaubsansprüche erwerben, ob sie Gelegenheit haben müssen, ihren Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums zu nehmen und unter welchen Umständen der Urlaub abgegolten werden kann. Weitere Urteile betrafen den Anwendungsbereich der Arbeitszeitrichtlinie (Arbeitnehmerbegriff, Ausschluss von Personengruppen, Mehrurlaub), die Kollision des Urlaubs mit anderen europarechtlich geschützten Fehlzeiten (Mutterschafts- und Elternurlaub), das Schicksal von Urlaubsansprüchen bei Veränderung der Arbeitszeit sowie die Bemessung des Urlaubsentgelts. In diese Untersuchung einbezogen werden die Teilaspekte Entstehung, Übertragung und Verfall des Urlaubsanspruchs. Sie eignen sich für diese vergleichend angelegte Arbeit besonders gut, weil die einschlägige Recht-
II. Konkretisierung des Untersuchungsgegenstandes
5
sprechung des EuGH erkennbar in mehreren Mitgliedstaaten relevant geworden ist. Mehrere EU-Mitgliedstaaten verlangten ursprünglich eine Mindestbeschäftigungszeit für die Inanspruchnahme von Urlaub (so z.B. Frankreich und das – zu diesem Zeitpunkt noch der EU angehörige – United Kingdom). Ein Problem des Erwerbs des Urlaubsanspruchs ist außerdem die Frage, ob Krankheitszeiten als Beschäftigungszeiten zählen. Auch dieser Punkt wurde in einigen Mitgliedstaaten negativ beantwortet (z.B. in Frankreich und den Niederlanden). Konflikte traten ferner auf bei Regeln zur Übertragung und zum Verfall des Urlaubsanspruchs bei Langzeiterkrankung (z.B. in Deutschland, Frankreich, Spanien und im United Kingdom) sowie bei der Frage der Nachholbarkeit bereits festgesetzten Urlaubs im Krankheitsfall (z.B. in Frankreich, Spanien und im United Kingdom). Die genannten Teilbereiche betreffen zusammen betrachtet die Frage, unter welchen Umständen der Urlaubsanspruch im Krankheitsfall entsteht und aufrechterhalten wird. Die übrigen genannten Teilaspekte, wie z.B. der Anwendungsbereich der Arbeitszeitrichtlinie und die Folgen einer Veränderung des Umfangs der Arbeitszeit für den Urlaubsanspruch, lassen sich davon gut abgrenzen. Ihre Bearbeitung würde den Umfang der Untersuchung erheblich erhöhen, das Erkenntnisziel aber nicht fördern, da es nicht um eine vollständige Erfassung der europäischen Einflüsse auf das nationale Urlaubsrecht geht, sondern der (richterliche) Umgang mit Umsetzungsdefiziten im Vordergrund steht. Für diese Auswahl spricht ferner, dass die Kommission in ihrem Umsetzungsbericht aus dem Jahr 2017 hinsichtlich des Jahresurlaubs allein Fragen der Entstehung und Inanspruchnahme bei Beschäftigungsbeginn sowie den Verfall von Urlaub, der krankheitsbedingt nicht genommen werden konnte, als problematische Punkte benennt.9
2. Auswahl der untersuchten Länder Eine zweite Grenze ergibt sich aus Zahl und Auswahl der untersuchten Länder. Einbezogen wurden Deutschland, die Niederlande, Frankreich, Spanien und das United Kingdom. Alle fünf Länder hatten zu einer oder mehrerer der genannten urlaubsrechtlichen Teilfragen aufgrund der EuGH-Rechtsprechung ab Schultz-Hoff Anpassungsbedarf. In allen fünf Ländern gibt es zu den jeweiligen Problempunkten Rechtsprechung und Reaktionen aus der Literatur. Das mag auch auf andere Länder zutreffen, dennoch zwingen Sprach- und Kapazitätsgrenzen dazu, die Untersuchung räumlich einzugrenzen. Kapazitätsgrenzen ergeben sich dabei in erster Linie aus dem Wunsch, die Primärquellen zu den ausgewählten Ländern selbst zu verarbeiten, was zu
9
COM(2017) 254 final, 26.4.2017, S. 8–9, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/leg al-content/DE/TXT/?uri=celex:52017DC0254.
6
Kapitel 1: Einführung
einer anderen Vergleichsgrundlage führt als eine Sammlung fremder Länderberichte. Das United Kingdom ist bewusst Teil der Untersuchung. Trotz des lange absehbaren und inzwischen vollzogenen Austritts Großbritanniens aus der EU bleibt der Umgang der britischen Gerichte mit den urlaubsrechtlichen Auslegungs- und Anpassungsfragen interessant. Zum einen ändert der Austritt nichts daran, dass die einschlägigen EuGH-Entscheidungen im United Kingdom umzusetzen waren, zumal Unionsrecht im Übergangszeitraum weiterhin zu beachten ist. Zum anderen hat die Rechtsprechung im United Kingdom die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung schon früh recht umfassend verstanden und nationale methodische Regeln im unionsrechtlichen Kontext hintangestellt.10
3. Weitere Beschränkungen Eine weitere Grenze betrifft die in die Untersuchung einbezogene Rechtsprechung und Literatur. Die Analyse von Rechtsprechung und Literatur aus den untersuchten Mitgliedstaaten bildet den Schwerpunkt dieser Arbeit. Mit Blick auf die Rechtsprechung beschränkt sich die Analyse, von Ausnahmen abgesehen, auf höchstrichterliche Entscheidungen auf dem Gebiet des Zivilrechts. Zwar spielt sich die Entwicklung der Rechtsprechung oft maßgeblich (auch) auf instanzgerichtlicher Ebene ab. Da es aber hinsichtlich der Rechtsprechung nicht darum geht, vollständige Entwicklungslinien und das gesamte Spektrum der Argumentation aufzuzeigen, ist es sinnvoll, allein diejenigen Entscheidungen zu betrachten, die die nationale Rechtsprechung letztlich prägen. Für die untersuchten Länder sind das neben verfassungsgerichtlichen Entscheidungen solche des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesgerichtshofs (Deutschland), des Hoge Raad (Niederlande), der Cour de cassation (Frankreich), des House of Lords und des UK Supreme Court sowie des Tribunal Supremo (Spanien). Aus dem Schrifttum wird in erster Linie zivilrechtliche Literatur berücksichtigt, aber auch europarechtliche Literatur. Eine Beschränkung ergibt sich hier in zeitlicher Hinsicht. Die Rechtsprechung des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung hat sich seit ihren Anfängen in den Urteilen von Colson und Kamann und Harz aus dem Jahr 198411 stark entwickelt. Nachdem insbesondere die Entscheidung in der Rechtssache Marleasing12 zu erheblicher Unsicherheit und entsprechenden Diskussionen über die Reich-
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S. oben S. 285–292, 301–303. EuGH 10.4.1984 EU:C:1984:153 (von Colson und Kamann); EuGH 10.4.1984 EU:C:1984:155 (Harz). 12 EuGH 13.11.1990 EU:C:1990:395 (Marleasing). 11
II. Konkretisierung des Untersuchungsgegenstandes
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weite der Verpflichtung geführt hatte, wurden in den Urteilen Pfeiffer und Adeneler13 einige offene Fragen geklärt.14 Das hat einigen Überlegungen die Basis entzogen.15 Beiträge aus der Zeit vor dem Pfeiffer-Urteil werden daher weniger umfassend in diese Untersuchung einbezogen als jüngere Literatur. Begrenzt ist vor dem Hintergrund der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung auch der Kreis der hier diskutierten Probleme der richtlinienkonformen Auslegung. Ab welchem Zeitpunkt die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung eingreift, dass sie Nicht-Umsetzungsrecht erfasst und auch gilt, wenn der Rechtsstreit sich allein zwischen Privatpersonen abspielt oder die Richtlinie (im Vertikalverhältnis) unmittelbare Wirkung entfaltet, ist hinreichend geklärt und nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung und, soweit das diskutiert wird, ihre Einbindung in den Interpretationsvorgang. Begrenzt ist schließlich der Umfang der eigenen Stellungnahme zum Urlaubsrecht und den Methoden der untersuchten Mitgliedstaaten. Soweit es sich um ausländisches Recht und ausländische Methoden handelt, geht es in erster Linie darum, den Stand der Rechtsprechung und Literatur zu erfassen. Dagegen ist es nicht Ziel der Arbeit, diese Punkte zu bewerten, was ja nur aus der Außenperspektive möglich wäre. Für die eigene Rechtsordnung ist die Situation eine andere, daher wird hier zu den Diskussionspunkten im deutschen Recht, seien sie urlaubsrechtlicher oder methodischer Art, Stellung genommen. Dadurch fällt das Kapitel zum deutschen Recht naturgemäß deutlich breiter aus als die Kapitel zu den weiteren untersuchten Ländern. Dazu trägt ferner die Diskussionsfreude deutscher Autorinnen und Autoren bei. Mehrere Promotionen zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts ließen sich für keines der anderen untersuchten Länder finden, für die Diskussion in Deutschland ist das eine Selbstverständlichkeit.16 13
EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer); EuGH 4.7.2006 EU:C:2006:443 (Adeneler). 14 S. zum Ganzen S. 24–30. 15 So finden sich z.B. in der älteren Literatur Aussagen dahingehend, dass die Methoden gegebenenfalls anders anzuwenden sind als nach den rein nationalrechtlichen Regelungen, wenn sich nur so ein richtlinienkonformes Ergebnis ergibt, s. z.B. Grundmann, ZEuP 1996, 399, 415–419. Diese Auffassung beruht auf einem entsprechenden Verständnis der Vorgaben des EuGH. Er verlange eine richtlinienkonforme Auslegung auch dann, wenn keine Spielräume im nationalen Recht gegeben seien, Grundmann, ZEuP 1996, 399, 413–415. Durch die jüngere Rechtsprechung des EuGH ist jedoch klargestellt, dass er die Grenzziehung den mitgliedstaatlichen Gerichten überlässt und dabei die nationalen Methoden respektiert, s. S. 26–27. 16 S. zum Umfang der Literatur und Rechtsprechung in Deutschland im Vergleich zu Österreich und der Schweiz Oberhammer, AcP 214 (2014), 155, 168–173; auf ihn Bezug nehmend Zimmermann, RabelsZ 83 (2019), 241, 246. Canaris spricht mit Blick auf die
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Kapitel 1: Einführung
Eine weitere Besonderheit beim Zuschnitt der Untersuchung für Deutschland ergibt sich daraus, dass mit Blick auf die einbezogenen Länder nur in Deutschland die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ausdrücklich als von der richtlinienkonformen Auslegung zu unterscheidender Interpretationsschritt diskutiert wird.17 Das soll nicht heißen, dass andere Länder keinerlei Unterschiede bei der Interpretation von Gesetzen machen und etwa keinen Lückenbegriff kennen. Rechtsprechung und Literatur verwenden aber in den Niederlanden, in Frankreich, in Spanien und im United Kingdom den Begriff der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung nicht, sondern diskutieren Interpretationsfragen im Kontext von Richtlinien stets unter dem Begriff der richtlinienkonformen Auslegung.
III. Gang der Darstellung Wie bereits erwähnt, soll mit dieser Untersuchung geklärt werden, ob und wie in den untersuchten Ländern in den ausgewählten urlaubsrechtlichen Fragen ein richtlinienkonformer Rechtszustand erreicht wurde. Ziel der Untersuchung ist es ferner, den Umgang mit der richtlinienkonformen Interpretation in diesen Ländern zu analysieren. Soweit die Gerichte nationales Recht richtlinienkonform interpretiert haben, um die urlaubsrechtliche Rechtsprechung des EuGH umzusetzen, ist das lediglich der Ausgangspunkt der Untersuchung. Diese Rechtsprechung wird in einen breiteren Kontext gestellt, um so den Stand der Diskussion zur richtlinienkonformen Interpretation und ihren Grenzen zu erfassen. Die Untersuchung beginnt mit zwei Kapiteln, die sich mit den Vorgaben des EuGH zu den hier behandelten urlaubsrechtlichen Fragen und seinen Vorgaben zur richtlinienkonformen Auslegung befassen. Es folgen fünf Kapitel zu den urlaubsrechtlichen und methodischen Fragen für die betrachteten Länder. Vergleichende Überlegungen und ein Schlusskapitel schließen die Arbeit ab. Im Kapitel zu den Vorgaben des EuGH zum Urlaubsrecht (Kapitel 2) werden die Kernaussagen aus den Urteilen vorgestellt, die für die hier behandelten urlaubsrechtlichen Fragen relevant sind. Die Urteile behandeln die Themen Mindestbeschäftigungszeit für den Urlaubserwerb, UrlaubserSchweiz, Österreich und Deutschland von einer Fülle an methodologischer Literatur, „deren Breite und Vielfalt im internationalen Vergleich kaum ihresgleichen findet“, Canaris, Verfassungskonforme Auslegung, S. 141. 17 S. dazu, dass französische und englische Gerichte zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung als unterschiedliche Arten der Rechtsfindung nicht unterscheiden, die Gerichte dort aber ebenfalls schöpferisch tätig werden, Vogenauer, Auslegung, S 1280. S. für England ferner Brenncke, Judicial Law-Making, S. 102.
III. Gang der Darstellung
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werb bei Krankheit, Übertragung und Verfall des Urlaubs bei Krankheit sowie Nachholbarkeit bereits festgesetzten Urlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum. Auf die Wiedergabe der Sachverhalte und eine Zusammenfassung der Entscheidungsgründe wird verzichtet, soweit sie nicht erforderlich ist, um zu verstehen, welche urlaubsrechtlichen Regeln der EuGH der Richtlinie 2003/88/EG entnimmt. Die Untersuchung bezieht sich allein auf die Rechtsprechung zur Richtlinie 2003/88/EG, die urlaubsrechtliche Rechtsprechung mit Bezug zur GRC ist für die hier behandelten Fragen inhaltlich nicht von Bedeutung. Auch die Frage, ob und wie die GRC sich im Horizontalverhältnis auswirkt, spielt hier keine Rolle, da die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung davon unabhängig ist. Das anschließende dritte Kapitel behandelt die Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung. Zunächst wird die Rechtsprechung vorgestellt, wobei der Schwerpunkt darauf liegt, den aktuellen Stand zu erfassen. Anschließend werden Diskussionspunkte aus der Literatur aufgegriffen. Bei den an dieser Stelle berücksichtigten Punkten geht es um länderübergreifende Aspekte der richtlinienkonformen Auslegung, die einige grundsätzliche Fragen betreffen wie z.B. die Herleitung der richtlinienkonformen Auslegung. Angesprochen werden ferner Gesichtspunkte aus der Rechtsprechung des EuGH, deren Bedeutung und Reichweite diskutiert werden, wie z.B. das Erfordernis der Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts und die Vorgabe, gegebenenfalls von einer ständigen Rechtsprechung abzuweichen, um ein richtlinienkonformes Auslegungsergebnis zu erzielen. Bei diesen Fragen geht es unabhängig von Länderspezifika darum, wie die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung in den untersuchten Ländern verstanden wird. Soweit es um den konkreten Umgang mit dieser Verpflichtung innerhalb einer Rechtsordnung geht, wird das in den Kapiteln zu den einzelnen Ländern diskutiert. Da diese Untersuchung nicht sämtliche Aspekte der richtlinienkonformen Auslegung behandelt, befasst sich dieses Kapitel nur mit den Punkten, die hier relevant sind.18 Die Untersuchung der Vorgaben des EuGH wird ergeben, dass Möglichkeiten und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung aus der nationalen Perspektive zu bestimmen sind. Vor diesem Hintergrund zielt diese Untersuchung nicht darauf ab, eine einheitliche europäische Methode der richtlinienkonformen Auslegung aufzuspüren oder zu entwickeln. Es geht vielmehr um die jeweilige Diskussion der richtlinienkonformen Auslegung vor dem Hintergrund der nationalen Auslegungsregeln. Die nachfolgenden fünf Kapitel (Kapitel 4–8) betrachten dementsprechend die urlaubsrechtlichen und methodischen Fragen für Deutschland, die Niederlande, Frankreich, Spanien und das United Kingdom. Diese Kapitel haben jeweils drei Abschnitte,
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S. oben S. 7.
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Kapitel 1: Einführung
in denen zunächst die urlaubsrechtlichen Fragen behandelt werden, dann die Auslegung von Gesetzen und schließlich die richtlinienkonforme Auslegung. In den urlaubsrechtlichen Abschnitten wird nach einem kurzen Überblick über die aktuelle Rechtslage ermittelt, inwieweit sich aus der Rechtsprechung des EuGH Anpassungsbedarf ergeben hat, wie der Mitgliedstaat mit den Umsetzungsdefiziten umgegangen ist und wie sich die Literatur dazu geäußert hat. Abgesehen von dem fachlichen Interesse am jeweiligen Urlaubsrecht dienen die Entscheidungen, in denen es um eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts geht, als Anschauungsmaterial für den Umgang mit der richtlinienkonformen Auslegung, bevor die richtlinienkonforme Auslegung in den nachfolgenden Abschnitten methodisch untersucht wird. Die methodischen Ausführungen sind in zwei Abschnitte gegliedert. Da die richtlinienkonforme Interpretation sich im Rahmen der nationalen Methoden abspielt,19 sind Fragen der richtlinienkonformen Interpretation untrennbar mit den jeweiligen Auslegungsmethoden für das nationale Recht verbunden. Daher werden zunächst allgemein die nationalen Methoden der Auslegung von Gesetzen betrachtet, die den Kontext für die anschließend untersuchte richtlinienkonforme Interpretation bilden. Bei den nationalen Methoden geht es um Auslegungsziele und -kriterien, im Fall von Deutschland auch um die Rechtsfortbildung.20 Bei der richtlinienkonformen Auslegung stehen die Einbindung in den Interpretationsvorgang und die Grenzen im Mittelpunkt. In beiden Abschnitten geht es sowohl um die Praxis der obersten Gerichte als auch um die Diskussion in der Literatur. Die Ausführungen zu den einzelnen Ländern laufen im neunten Kapitel in vergleichenden Überlegungen zusammen. Auch hierbei ist zunächst ein Abschnitt dem Anpassungsbedarf und den Veränderungen im Urlaubsrecht gewidmet, bevor es um die Fragen der Auslegung von Gesetzen und speziell der richtlinienkonformen Auslegung geht. Dabei ist insbesondere von Interesse, ob die Gerichte ähnliche Grenzen bei der richtlinienkonformen Interpretation des nationalen Rechts gezogen haben oder unterschiedlich korrekturfreudig waren.
19 EuGH 28.6.2018 EU:C:2018:511 (Crespo Rey) Rn. 70; EuGH 7.4.2018 EU:C:2018:257 (Egenberger) Rn. 71; EuGH 19.4.2016 EU:C:2016:278 (Dansk Industri) Rn. 30; EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 27; EuGH 15.4.2008 EU:C:2008:223 (Impact) Rn. 101; EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 116. S. dazu S. 26. 20 S. zu dieser Differenzierung oben S. 8.
IV. Terminologische Fragen
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IV. Terminologische Fragen In terminologischer Hinsicht sind einige Punkte zu klären. Im Folgenden wird sowohl von Unionsrecht als auch von Gemeinschaftsrecht gesprochen, letzteres dann, wenn eine Aussage aus einem Urteil oder aus der Literatur aus der Zeit der Geltung des EWG-Vertrags oder des EG-Vertrags stammt. Bei den methodischen Fragen empfiehlt es sich aus Gründen der Klarheit, als Oberbegriff für Auslegung und Rechtsfortbildung nicht erneut den Begriff „Auslegung“ zu verwenden, sondern einen eigenen Begriff wie z.B. den der „Interpretation“. Allerdings unterscheiden Rechtsprechung und Literatur in den meisten der untersuchten Länder nicht (ausdrücklich) zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Zudem wird im deutschen Recht im Kontext von Richtlinien oft unabhängig davon, ob gerade allein die Auslegung gemeint ist oder neben der Auslegung auch die Rechtsfortbildung, von richtlinienkonformer Auslegung gesprochen. Der Begriff der richtlinienkonformen Auslegung bezeichnet in der Diskussion also nicht nur die Auslegung i.e.S., sondern wird auch als Oberbegriff für die Interpretationsstufen Auslegung und Rechtsfortbildung verwendet. Das ist unschädlich, wenn im konkreten Zusammenhang entweder ersichtlich ist, welche dieser Interpretationsstufen gemeint ist, oder es nicht darauf ankommt. Vor diesem Hintergrund bezeichnet in der vorliegenden Arbeit der Begriff der richtlinienkonformen Auslegung ebenfalls nicht allein die richtlinienkonforme Auslegung i.e.S. An zahlreichen Stellen wird er vielmehr als Oberbegriff für die richtlinienkonforme Auslegung und die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung verwendet, so z.B. im Titel des Buches. Der EuGH benutzt im Kontext der richtlinienkonformen Auslegung häufig gleichbedeutend den Begriff der unionsrechtskonformen Auslegung. Ein Teil der Literatur will differenzieren und von unionsrechtskonformer Auslegung (nur) sprechen, wenn die einschlägige europäische Regelung unmittelbare Wirkung entfaltet.21 Das führt zu einer unnötigen terminologischen Spaltung innerhalb der Fälle, in denen es um die Konformität mit einer Richtlinie geht. Nach diesem Ansatz wäre die richtlinienkonforme Auslegung als unionsrechtskonforme Auslegung einzuordnen, wenn die Frage im Vertikalverhältnis auftritt und die Richtlinienbestimmung die Voraussetzungen für die unmittelbare Wirkung erfüllt. Um richtlinienkonforme Auslegung handelte es sich, wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind oder die Frage im Horizontalverhältnis auftritt. Ein und dieselbe Auslegung, bezogen auf ein und dasselbe europäische Rechtssetzungsinstrument, wäre also in einigen Rechtsstreitigkeiten unionsrechtskonforme, in anderen richtlinien-
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Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 299–300; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 218–220.
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Kapitel 1: Einführung
konforme Auslegung. Auch wäre unklar, ob von unionsrechts- oder richtlinienkonformer Auslegung zu sprechen ist, wenn ohne Fallbezug darüber diskutiert wird, ob eine nationale Norm in Einklang mit einer Richtlinie interpretiert werden kann. Sinnvoller ist es, den Begriff der unionsrechtskonformen Auslegung als Oberbegriff zu verwenden. Die Unterscheidung der beiden Begriffe dient so freilich nur dazu, eine wichtige Fallgruppe der unionsrechtskonformen Auslegung genauer zu bezeichnen. Mit Urlaub ist der vierwöchige Mindesterholungsurlaub i.S.d. Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG gemeint, wenn nicht ausdrücklich von Mehrurlaub oder einer anderen Art des Urlaubs als Erholungsurlaub die Rede ist. Die Untersuchung bezieht sich auf den Mindestjahresurlaub, da nur dieser von der Richtlinie 2003/88/EG erfasst wird. Das Schicksal von Mehrurlaubsansprüchen wird nur vereinzelt angesprochen.
Kapitel 2
Die Vorgaben des EuGH zum Urlaubsrecht „Nach ständiger Rechtsprechung ist der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft anzusehen, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den in der Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 307, S. 18) selbst ausdrücklich gezogenen Grenzen umsetzen dürfen […] “1
Dieser Abschnitt zeigt auf, welche Vorgaben der EuGH in den für diese Untersuchung relevanten Punkten aus Art. 7 RL 2003/88/EG ableitet.2 Da es allein darum geht, welche Vorgaben von den Mitgliedstaaten zu beachten sind, wird nicht berücksichtigt, ob und in welchen Punkten die Rechtsprechung in der Literatur auf Kritik gestoßen ist.3 Literatur spielt in diesem Abschnitt nur zur Frage des Übertragungszeitraums eine Rolle, da die Rechtsprechung des EuGH in diesem Punkt zunächst auslegungsbedürftig schien.4
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EuGH 20.1.2009 EU:C:2009:18 (Schultz-Hoff und Stringer) Rn. 22. Einen Überblick über die einschlägige Rechtsprechung des EuGH und z.T. auch über die Reaktionen der jeweiligen nationalen Gerichte geben (in der eigenen Landessprache) für die Niederlande van Drongelen/ten Hoor/Rombouts, Vakantieregeling, 19–22, 29–40 und dies., ArA 2015 (9) 2, 3, 9–11, 15–24; für Frankreich Auzero/Baugard/Docke`s, Droit du travail, Rn. 908–918; Carles, RPDS 2016, 293, 295–297; dies., RPDS 2016, 309, 313–314; für Spanien Gallego Moya, REDT 2020, 147; Gorelli Herna´ndez, RL 2014, 19, 23–26, 31–35; Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, RL 2013, 1 und für das United Kingdom IDS, Working Time, 4.193–4.215, 4.225–4.229. 3 Die Kritik hält sich zudem in Grenzen. Die meisten Beiträge beschäftigen sich allein damit, diese Rechtsprechung und gegebenenfalls noch die Auswirkungen für das jeweilige nationale Recht zu erläutern. Soweit in einzelnen Punkten nach den ersten Urteilen Fragen offenblieben, sind sie inzwischen durch weitere EuGH-Urteile geklärt. 4 S. dazu unten S. 17–19. 2
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Kapitel 2: Die Vorgaben des EuGH zum Urlaubsrecht
I. Die Mindestbeschäftigungszeit Zur Begrenzung des Urlaubsanspruchs durch das Erfordernis einer Mindestarbeitszeit hat der EuGH sich bereits 2001 in der Rechtssache BECTU ablehnend geäußert. In der Rechtssache ging es um eine Regelung aus dem United Kingdom, nach der der Urlaubsanspruch erst entstand, wenn der Arbeitnehmer dreizehn Wochen ununterbrochen beschäftigt war (reg. 13(7) WTR in der Fassung von 1998). Die Broadcasting, Entertainment, Cinematographic and Theatre Union (BECTU) machte geltend, dass mit dieser Regelung Art. 7 RL 93/104/EG nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden sei, weil Arbeitnehmern, die weniger als dreizehn Wochen ununterbrochen bei demselben Arbeitgeber beschäftigt sind, der Urlaubsanspruch vorenthalten werde, obwohl die Richtlinie ihn jedem Arbeitnehmer einräume. Die in BECTU organisierten Arbeitnehmer sind in den Bereichen Rundfunk, Fernsehen, Film, Theater und Unterhaltung tätig. Sie arbeiten u.a. als Toningenieure, Kameramänner, Cutter oder Maskenbildner und sind nach Angaben der BECTU überwiegend aufgrund von Verträgen mit einer Dauer von weniger als dreizehn Wochen beschäftigt. Die in Art. 7 Abs. 1 RL 93/104/EG enthaltene Formulierung, dass jeder Arbeitnehmer Anspruch auf einen bezahlten Jahresurlaub nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind, dürfe nicht dazu führen, dass bestimmten Gruppen von Arbeitnehmern der Mindesturlaub vorenthalten werde.5 Der EuGH ordnete in dieser Entscheidung zum ersten Mal den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als besonders wichtigen Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft ein, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den in der RL 93/104/EG ausdrücklich genannten Grenzen umsetzen dürfen.6 Eine mitgliedstaatliche Regelung, die den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von einer Mindestbeschäftigungsdauer abhängig macht und so für bestimmte Arbeitnehmer bereits die Entstehung dieses Anspruchs verhindern kann, nehme diesen Arbeitnehmern ein durch die Richtlinie ausdrücklich eingeräumtes Recht und laufe dem Ziel der Richtlinie entgegen.7 Die Formulierung „nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung ..., die in den 5
Vortrag von BECTU nach EuGH 26.6.2001 EU:C:2001:356 (BECTU) Rn. 26–31. EuGH 26.6.2001 EU:C:2001:356 (BECTU) Rn. 43. 7 EuGH 26.6.2001 EU:C:2001:356 (BECTU) Rn. 48. Mit entsprechender Begründung entschied bereits 1963 das italienische Verfassungsgericht, dass der in Art. 36 der italienischen Verfassung verankerte Urlaubsanspruch nicht von einer Mindestbeschäftigungszeit abhängig gemacht werden kann, Corte cost. 10.5.1963 Nr. 66, abrufbar unter https://www. cortecostituzionale.it/actionPronuncia.do. 6
II. Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit
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einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind“, beziehe sich nur auf die Art und Weise der Durchführung des bezahlten Jahresurlaubs.8 Mit einer Mindestbeschäftigungszeit, wenn auch in anderer Gestalt, hatte sich der EuGH erneut in der Rechtssache Dominguez zu befassen. Die Vorlage stammte aus Frankreich und betraf eine Arbeitnehmerin, die nach einem Wegeunfall über ein Jahr krankgeschrieben war. Im französischen Recht war zu dieser Zeit der Urlaubsanspruch von einer jährlichen Mindestbeschäftigungszeit von einem Monat abhängig.9 Zwar sind nach einer weiteren, auch heute noch gültigen Regelung bestimmte Fehlzeiten der Arbeitsleistung gleichgestellt. Dazu zählen u.a. diejenigen, die auf einen Arbeitsunfall zurückgehen. Für den Wegeunfall ist eine Gleichstellung aber nicht gesetzlich vorgesehen. Die Arbeitnehmerin beantragte erfolglos Urlaub für den Zeitraum ihrer Erkrankung. In dem nachfolgenden Rechtsstreit legte die C. cass. dem EuGH u.a. die Frage vor, ob Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG einer Regelung entgegensteht, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von einer effektiven Mindestarbeitszeit von zehn Tagen (oder einem Monat) während des Bezugszeitraums abhängt.10 Der EuGH bejahte diese Frage unter Verweis auf sein Urteil in der Rechtssache BECTU.11
II. Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Der EuGH hat ferner entschieden, dass es für den Erwerb von Urlaubsansprüchen nicht darauf ankommt, ob ein erkrankter Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung erbringt. Die Frage stellte sich in der mit der Rechtssache Schultz-Hoff verbundenen Rechtssache Stringer, in der es im Wesentlichen um den Verfall und die Abgeltung des Urlaubsanspruchs bei Langzeiterkrankung ging. Das Arbeitsverhältnis des betroffenen Arbeitnehmers endete nach einer längeren Erkrankung in den Jahren 2004 und 2005. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte er die Abgeltung seiner Urlaubsansprüche aus diesen Jahren. Der Arbeitgeber lehnte die Abgeltung ab und berief sich darauf, dass die Urlaubsansprüche aufgrund der fortbestehenden
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EuGH 26.6.2001 EU:C:2001:356 (BECTU) Rn. 53. Anders als in der Rechtssache BECTU handelte es sich also um eine jährlich wiederkehrende Anspruchsvoraussetzung. 10 EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 14. Die Frage nach einer Mindestbeschäftigungszeit von zehn Tagen oder einem Monat erklärt sich daraus, dass die Mindestbeschäftigungszeit während des Rechtsstreits durch Art. 22 des Gesetzes Nr. 2008–789 vom 20.8.2008 auf zehn Tage herabgesetzt wurde. Durch Art. 50 des Gesetzes Nr. 2012–387 vom 22.3.2012 wurde sie vollständig gestrichen. 11 EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 15–21. 9
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Kapitel 2: Die Vorgaben des EuGH zum Urlaubsrecht
Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers erloschen seien, weshalb kein Abgeltungsanspruch bestehe.12 Bei der Beantwortung der Vorlagefragen ging der EuGH zunächst darauf ein, ob der Urlaubsanspruch bei erkrankten Arbeitnehmern von der Arbeitsleistung abhängig gemacht werden kann, ob also bei Krankheit Urlaubsansprüche erworben werden. Das bejahte der EuGH, weil der Anspruch lediglich die Arbeitnehmereigenschaft der betroffenen Person voraussetze. Die Richtlinie stelle nicht darauf ab, ob der Arbeitnehmer im Bezugszeitraum gearbeitet oder infolge Krankheit nicht gearbeitet hat. Die Mitgliedstaaten dürften daher den Urlaubsanspruch bei krankgeschriebenen Arbeitnehmern nicht davon abhängig machen, dass sie im Bezugszeitraum tatsächlich gearbeitet haben.13 Diese Auffassung bestätigte der EuGH in den Rechtssachen Dominguez und Maschek.14
III. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen, insbesondere bei Krankheit Wie bereits erwähnt, waren die Fragen in den verbundenen Rechtssachen Schultz-Hoff und Stringer auf den Verfall und die Abgeltung von Urlaubsansprüchen bei Langzeiterkrankung gerichtet. Der EuGH hält Urlaubsansprüche zwar nicht für unverfallbar, sieht es aber als richtlinienwidrig an, wenn ein erkrankter Arbeitnehmer seinen Mindesturlaub verliert, weil er ihn krankheitsbedingt nicht nehmen konnte. Der Mindesturlaubsanspruch muss in solchen Fällen für eine Dauer, die den Bezugszeitraum deutlich übersteigt, aufrechterhalten werden.
1. Kein generelles Verbot des Verfalls Im Schultz-Hoff-Urteil führte der EuGH aus, dass die Mitgliedstaaten als Ausübungsmodalität Regeln vorsehen können, nach denen der Urlaubsanspruch am Ende des Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums erlischt.15 Zwar ist nach dem Urteil in der Rechtssache FNV eine finanzielle Abgeltung für nicht genommenen Urlaub in späteren Jahren nicht zulässig, weil der Urlaub seine Bedeutung auch behält, wenn er nicht im laufenden 12
EuGH 20.1.2009 EU:C:2009:18 (Schultz-Hoff und Stringer) Rn. 11–14. EuGH 20.1.2009 EU:C:2009:18 (Schultz-Hoff und Stringer) Rn. 39–41. 14 EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 20; EuGH 20.7.2016 EU:C: 2016:576 (Maschek) Rn. 25. 15 EuGH 20.1.2009 EU:C:2009:18 (Schultz-Hoff und Stringer) Rn. 43. Bestätigt in EuGH 10.9.2009 EU:C:2009:542 (Vicente Pereda) Rn. 19; EuGH 6.11.2018 EU:C:2018: 874 (MPG) Rn. 35. 13
III. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen
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Jahr genommen wird und die Möglichkeit einer Abgeltung für übertragenen Mindestjahresurlaub einen den Zielen der Richtlinie entgegenlaufenden Anreiz schaffen würde, auf den Erholungsurlaub zu verzichten.16 Der Verfall des Urlaubs ist dadurch aber nicht ausgeschlossen.
2. Die Übertragung und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen bei Krankheit In der Rechtssache Schultz-Hoff zeigte der EuGH allerdings Grenzen des Verfalls auf, die er später in der Entscheidung KHS veränderte. Im SchultzHoff-Urteil gestattete der EuGH den Verfall nur unter der Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer vor dem Verfallzeitpunkt tatsächlich die Möglichkeit hatte, den Urlaubsanspruch auszuüben.17 Das Gericht machte geltend, dass andernfalls das dem Arbeitnehmer zustehende soziale Recht beeinträchtigt würde. Die Mitgliedstaaten könnten zwar Ausübungsmodalitäten des Urlaubsanspruchs regeln. Da sie aber, wie in der Rechtssache BECTU entschieden, den Anspruch nicht dadurch in Frage stellen dürften, dass sie seine Entstehung ausschließen, könne auch das Erlöschen nicht für die Fälle vorgesehen werden, in denen der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub infolge einer Erkrankung nicht ausüben konnte.18 Das gelte auch, wenn der Arbeitnehmer vor seiner Erkrankung während eines Teils des Bezugszeitraums gearbeitet habe.19 Da der EuGH sich in diesem Urteil nicht dazu äußerte, wie lange der Urlaubsanspruch von Arbeitnehmern, die ihn infolge Krankheit nicht ausüben konnten, aufrechterhalten werden muss, war die Entscheidung im Sinne einer unbegrenzten Aufrechterhaltung zu verstehen.20
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EuGH 6.4.2006 EU:C:2006:244 (Federatie Nederlandse Vakbeweging) Rn. 30, 32–33,
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EuGH 20.1.2009 EU:C:2009:18 (Schultz-Hoff und Stringer) Rn. 43. EuGH 20.1.2009 EU:C:2009:18 (Schultz-Hoff und Stringer) Rn. 45–48. Bestätigt in EuGH 10.9.2009 EU:C:2009:542 (Vicente Pereda) Rn. 19; EuGH 22.11.2011 EU: C:2011:761 (KHS) Rn. 26. In diesem Kontext zeigt sich wiederum (s. Fn. 7) eine interessante Parallele zum italienischen Recht. Für das italienische Urlaubsrecht, das zu diesem Zeitpunkt eine Übertragung des Urlaubs nicht vorsah, entschied der Kassationsgerichtshof 2001, dass der Arbeitnehmer bei längerer Erkrankung seinen Urlaubsanspruch behält. Der Anspruch sei gem. Art. 36 Abs. 3 der Verfassung unverzichtbar und der Urlaubszweck könne nur erreicht werden, wenn der Arbeitnehmer gesund oder zumindest zur Erholung und Regeneration fähig sei, Cassazione civile sezione unite civili 12.11.2001 Nr. 14020, abrufbar unter https://www.ricercagiuridica.com/sentenze/. 19 EuGH 20.1.2009 EU:C:2009:18 (Schultz-Hoff und Stringer) Rn. 50. 20 Das bestätigen die Ausführungen in EuGH 22.11.2011 EU:C:2011:761 (KHS) Rn. 29. 18
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Kapitel 2: Die Vorgaben des EuGH zum Urlaubsrecht
Die Möglichkeit, den Übertragungszeitraum auch für die Fälle zu begrenzen, in denen der Arbeitnehmer den Anspruch infolge Krankheit nicht ausüben konnte, bejahte der EuGH in der Entscheidung KHS. In dieser Rechtssache verlangte ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis nach längerer Erkrankung im Jahr 2008 endete, Urlaubsabgeltung für die Jahre 2006–2008. Eine auf sein Arbeitsverhältnis anwendbare tarifliche Regelung sah den Verfall von Urlaubsansprüchen fünfzehn Monate nach Ablauf des Bezugszeitraums vor.21 In dem Verfahren vor dem EuGH ging es darum, ob sich der Arbeitgeber für den Anspruch aus dem Jahr 2006 auf den Verfall nach der tariflichen Regelung berufen konnte.22 Der EuGH erläuterte, dass seine Entscheidung in der Rechtssache Schultz-Hoff ein unbegrenztes Ansammeln von Urlaubsansprüchen ermögliche, was allerdings dem Zweck des Anspruchs nicht entspreche. Dieser diene der Erholung des Arbeitnehmers von der Arbeit und gewähre ihm einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit. Dieser Zweck könne zwar auch erfüllt werden, wenn der Urlaub erst nach dem Bezugszeitraum genommen wird. Das gelte aber nicht zeitlich unbegrenzt. Nach einer gewissen Zeit verliere der Urlaub den Erholungscharakter und sei nur noch Zeitraum für Entspannung und Freizeit. Aus dem Urlaubszweck ergebe sich, dass ein langzeiterkrankter Arbeitnehmer Urlaubsansprüche nicht unbegrenzt ansammeln könne.23 Zu der zeitlichen Grenze heißt es, der Übertragungszeitraum für Urlaubsansprüche langzeiterkrankter Arbeitnehmer müsse die Dauer des Bezugszeitraums deutlich überschreiten. Er müsse außerdem den Arbeitgeber vor der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiträumen und damit verbundenen organisatorischen Schwierigkeiten schützen. Diesen Vorgaben entspreche ein Übertragungszeitraum von fünfzehn Monaten.24 Einen neunmonatigen Übertragungszeitraum sah der EuGH entsprechend diesen Grundsätzen als nicht ausreichend lang an.25 Nach einer gelegentlich in der Literatur vertretenen Auffassung begrenzt die Richtlinie selbst die Übertragung von Urlaubsansprüchen langzeiterkrankter Arbeitnehmer auf maximal fünfzehn Monate.26 Das hieße, dass es 21
EuGH 22.11.2011 EU:C:2011:761 (KHS) Rn. 13–16. EuGH 22.11.2011 EU:C:2011:761 (KHS) Rn. 20. 23 EuGH 22.11.2011 EU:C:2011:761 (KHS) Rn. 29–34. 24 EuGH 22.11.2011 EU:C:2011:761 (KHS) Rn. 38–39, 43. Wenn der Bezugszeitraum wie üblich ein Jahr beträgt, kann nach diesen Vorgaben der Übertragungszeitraum kaum kürzer sein, da er ja den Bezugszeitraum „deutlich“ überschreiten muss, so bereits Schlachter/Heinig/Rudkowski, EnzEuR 7, § 12 Rn. 60; Veldman, TRA 2012, 41, 27, 29. 25 EuGH 3.5.2012 EU:C:2012:263 (Neidel) Rn. 41–42. 26 Höpfner, RdA 2013, 16, 24; Lacoste-Mary, Dr. Ouvr. 2012, 304, 306. Von einem Verbot der unbegrenzten Übertragung ging auch der C. E. in seiner Entscheidung vom 26.4.2017 FR:CECHR:2017:406009.20170426 no 406009 aus. In seiner Entscheidung vom 14.6.2017 FR:CECHR:2017:391131.20170614 no 391131 rückte er von dieser Auffassung ab, s. unten S. 188–190. Auch Schlachter/Risak, 2003/77EC: Working Time, Art. 7 Nr. 3, 22
III. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen
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den Mitgliedstaaten nicht freisteht, einen längeren Übertragungszeitraum vorzusehen. Nach anderer Auffassung gebietet die Richtlinie die Anhäufung von Urlaubsansprüchen nicht, verbietet sie aber auch nicht.27 Das Urteil in der Rechtssache KHS ist insofern auslegungsbedürftig. Für eine zwingende Begrenzung spricht die Passage, in der der EuGH darauf abstellt, dass ein langzeiterkrankter Arbeitnehmer nicht berechtigt sein kann, Urlaubsansprüche unbegrenzt anzusammeln. Auch heißt es, der Arbeitgeber sei vor der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiträumen und daraus möglicherweise folgenden organisatorischen Schwierigkeiten zu schützen.28 In der Rechtssache King hat der EuGH indes deutlich gemacht, dass eine Begrenzung des Übertragungszeitraums lediglich möglich, nicht aber zwingend ist. Er formuliert dort, er habe für den besonderen Fall der Langzeiterkrankung entschieden, dass die Richtlinie einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegenstehe, nach denen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach einem Übertragungszeitraum von fünfzehn Monaten erlischt.29 Die Begrenzung des Übertragungszeitraums ist daher zulässig, nicht jedoch erforderlich. Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass der nach den vorstehenden Grundsätzen aufrechterhaltene Urlaubsanspruch langzeiterkrankter Arbeitnehmer abzugelten ist, wenn das Arbeitsverhältnis endet, bevor der Zeitraum abgelaufen ist, für den der Urlaubsanspruch aufrechterhalten wird.30 Ferner ist es mit der Richtlinie vereinbar, wenn der Arbeitnehmer die Möglichkeit hat, trotz einer Erkrankung Urlaub zu nehmen.31
3. Keine Vorgaben für Mehrurlaub Für Urlaub, der über den Mindesturlaub hinausgeht, gelten diese Grundsätze nicht. Die Mitgliedstaaten können Regelungen treffen, die über die Mindestanforderungen der Richtlinie hinausgehen und den Mehrurlaubsanspruch erkrankter Arbeitnehmer von der Ursache der gesundheitsbedingten
scheint davon auszugehen, dass eine zeitliche Begrenzung notwendig ist (“they cannot have the right to accumulate, without any limit, entitlements to paid annual leave […]”). 27 Rudkowski, EuZA 2012, 381, 387. S. auch Schlachter/Heinig/Rudkowski, EnzEuR 7, § 12, Rn. 59. 28 EuGH 22.11.2011 EU:C:2011:761 (KHS) Rn. 29–30, 34, 39. 29 EuGH 29.11.2017 EU:C:2017:914 (King) Rn. 55. 30 EuGH 20.1.2009 EU:C:2009:18 (Schultz-Hoff und Stringer) Rn. 56, 62. Bestätigt in EuGH 3.5.2012 EU:C:2012:263 (Neidel) Rn. 29–30; EuGH 12.6.2014 EU:C:2014:1755 (Bollacke) Rn. 17–18; EuGH 20.7.2016 EU:C:2016:576 (Maschek) Rn. 26, 31. 31 EuGH 20.1.2009 EU:C:2009:18 (Schultz-Hoff und Stringer) Rn. 31. Bestätigt in EuGH 10.9.2009 EU:C:2009:542 (Vicente Pereda) Rn. 25; EuGH 21.2.2013 EU:C:2013: 102 (Maestre Garcı´a) Rn. 21.
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Kapitel 2: Die Vorgaben des EuGH zum Urlaubsrecht
Abwesenheit abhängig machen.32 Allgemeiner ausgedrückt bleibt es den Mitgliedstaaten überlassen, ob sie den Arbeitnehmern Urlaubsansprüche zusprechen, die über die Mindestdauer von vier Wochen hinausgehen. Wenn sie das tun, können sie die Bedingungen für die Gewährung und das Erlöschen des zusätzlichen Urlaubs ohne Rücksicht auf die Regeln festlegen, die für den durch die Richtlinie gewährleisteten Mindestjahresurlaub gelten.33
IV. Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum Der EuGH hat ferner mehrfach entschieden, dass der Arbeitnehmer die Gelegenheit haben muss, den Urlaub nachzuholen, wenn er nach Festsetzung des Urlaubszeitraums erkrankt und daher seinen Urlaub (teilweise) nicht tatsächlich in Anspruch nehmen konnte. Das gilt unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer vor oder nach Urlaubsantritt erkrankt. In der Rechtssache Vicente Pereda stützte sich der EuGH zur Begründung in erster Linie auf den Zweck des Urlaubs, der darin liege, dem Arbeitnehmer einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verschaffen, und der sich vom Zweck des Krankheitsurlaubs unterscheide.34 Es sei zwar nach der Richtlinie nicht unzulässig, wenn ein Arbeitnehmer die Möglichkeit habe, während des Krankheitsurlaubs Erholungsurlaub zu nehmen. Wenn der Arbeitnehmer dies aber nicht wünsche, müsse ihm der Jahresurlaub zu einer anderen Zeit gewährt werden.35 Die zeitliche Lage des nachgeholten Urlaubs, der in seiner Länge der Dauer entspricht, um die sich der ursprüngliche Jahresurlaub und die Erkrankung überschneiden, richte sich nach den üblichen Regeln für die Urlaubsfestsetzung. Dabei sei auch den Interessen des Arbeitgebers Rechnung zu tragen. Das könne dazu führen, dass der nachgeholte Urlaub außerhalb des Bezugszeitraums für den ursprünglichen Jahresurlaub liegt.36 32 EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 47–50. Für Ausübungsmodalitäten zur Abgeltung von Mehrurlaub, der infolge Krankheit nicht genommen werden konnte, EuGH 3.5.2012 EU:C:2012:263 (Neidel) Rn. 33–37 und EuGH 20.7.2016 EU:C:2016:576 (Maschek) Rn. 38–40. 33 EuGH 19.11.2019 EU:C:2019:981 (TSN und AKT) Rn. 36. 34 EuGH 10.9.2009 EU:C:2011:761 (Vicente Pereda) Rn. 22. Mit dieser Begründung hatte 1987 für das italienische Urlaubsrecht bereits das italienische Verfassungsgericht entschieden, dass der verfassungsrechtlich verankerte Urlaub im Krankheitsfall nachzugewähren ist, Corte cost. 16.12.1987, Nr. 616; bestätigend Corte cost. 14.6.1990 Nr. 297, abrufbar unter https://www.cortecostituzionale.it/actionPronuncia.do. S. zu weiteren Parallelen zur EuGH-Rechtsprechung Fn. 7 und 18. 35 EuGH 10.9.2009 EU:C:2011:761 (Vicente Pereda) Rn. 25. 36 EuGH 10.9.2009 EU:C:2011:761 (Vicente Pereda) Rn. 22–23. Bestätigt in EuGH
IV. Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit
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Während der Rechtssache Vicente Pereda ein Fall zugrunde lag, in dem der Arbeitnehmer bereits vor Beginn des Urlaubszeitraums erkrankte und die Erkrankung während des Urlaubszeitraums anhielt, ging es in der Rechtssache ANGED um eine Fallgestaltung, in der die Krankheit erst während des Urlaubszeitraums auftrat. Der EuGH entschied, dass es nicht darauf ankommt, wann die Arbeitsunfähigkeit eintritt, sondern der Arbeitnehmer unabhängig davon seinen Urlaub zu einem späteren Zeitpunkt nehmen kann, wenn der ursprünglich festgelegte Jahresurlaub mit einem Krankheitsurlaub zusammenfällt.37 In der Rechtssache Maestre Garcı´a hatte der EuGH Gelegenheit zu betonen, dass der Arbeitgeber die Neufestsetzung des Urlaubs nicht unter Berufung auf unternehmerische Interessen verweigern kann. Seine Interessen würden allein dadurch gewahrt, dass er statt des vom Arbeitnehmer gewünschten Ersatzurlaubszeitraums einen anderen Zeitraum vorschlagen kann, wobei dieser Zeitraum auch außerhalb des Bezugszeitraums liegen könne.38
21.6.2012 EU:C:2012:372 (ANGED) Rn. 23; EuGH 30.6.2016 EU:C:2016:502 (Sobczyszyn) Rn. 32. 37 EuGH 21.6.2012 EU:C:2012:372 (ANGED) Rn. 21. 38 EuGH 21.2.2013 EU:C:2013:102 (Maestre Garcı´a) Rn. 24.
Kapitel 3
Die Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung „Allerdings ist klarzustellen, dass die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 EWG-Vertrag, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegen, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten. Daraus folgt, dass das nationale Gericht bei der Anwendung des nationalen Rechts […] dieses nationale Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen hat, um das in Artikel 189 Absatz 3 genannte Ziel zu erreichen.“1
Die richtlinienkonforme Auslegung ist ein Instrument, mit dessen Hilfe Richtlinienregelungen Einfluss auf die Entscheidungen nationaler Gerichte erlangen. Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien zwischen Privaten (Horizontalwirkung) lehnt der EuGH in ständiger Rechtsprechung ab.2 Richtlinien seien an die Mitgliedstaaten gerichtet, für den Einzelnen könnten sie keine Pflichten begründen.3 Verpflichtungen zulasten der Einzelnen könne die EU nur im Wege der Verordnung schaffen.4 Das bedeutet jedoch nicht, dass Richtlinien im Rechtsstreit zwischen Privaten keine Auswirkungen ha1
EuGH 10.4.1984 EU:C:1984:153 (von Colson und Kamann) Rn. 26. S. nur EuGH 15.1.2015 EU:C:2015:10 (Ryanair) Rn. 30; EuGH 15.1.2014 EU:C:2014:2 (AMS) Rn. 36; EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 37; EuGH 16.7.2009 EU:C:2009:466 (Mono Car Styling) Rn. 59; EuGH 14.7.1994 EU:C:1994:292 (Faccini Dori) Rn. 20; EuGH 26.2.1986 EU:C:1986:84 (Marshall) Rn. 48. 3 EuGH 26.9.2013 EU:C:2013:590 (HK Danmark) Rn. 18; EuGH 14.7.1994 EU:C:1994:292 (Faccini Dori) Rn. 20, 22; EuGH 26.2.1986 EU:C:1986:84 (Marshall) Rn. 48. 4 EuGH 6.11.2018 EU:C:2018:874 (MPG) Rn. 66; EuGH 7.3.1996 EU:C:1996:88 (El Corte Ingle´s) Rn. 17; EuGH 14.7.1994 EU:C:1994:292 (Faccini Dori) Rn. 24. 2
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
ben können oder im Vertikalverhältnis nur relevant sind, soweit ihnen unmittelbare Wirkung zukommt. Da die staatlichen Gerichte das nationale Recht soweit wie möglich richtlinienkonform interpretieren müssen, spielen Richtlinien unabhängig von der unmittelbaren Wirkung der jeweils einschlägigen Richtlinienbestimmung in Rechtsstreitigkeiten eine Rolle. Das gilt sowohl im Vertikalverhältnis, in dem der Rückgriff auf die Richtlinienbestimmung daran scheitern kann, dass sie die Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung nicht erfüllt, als auch im Horizontalverhältnis, in dem die unmittelbare Wirkung nach der Rechtsprechung des EuGH von vornherein nicht in Betracht kommt. Der EuGH gibt in jüngeren Urteilen der Frage nach der Auslegungsfähigkeit der nationalen Norm i.S.d. Richtlinie klar den Vorrang vor der Prüfung, ob die einschlägige Richtlinienbestimmung unmittelbare Wirkung hat.5 Die in Vorlageverfahren häufig gestellte Frage, ob eine nationale Norm wegen Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht unangewendet bleiben muss, stelle sich nur, wenn das nationale Recht nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden könne.6
I. Die EuGH-Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung geht auf die Urteile von Colson und Kamann und Harz aus dem Jahr 1984 zurück.7 Bis der EuGH sich im Jahr 2004 in der Rechtssache Pfeiffer erstmals ausführlich zur richtlinienkonformen Auslegung äußerte, waren Inhalt und Grenzen der Verpflichtung aus den verhältnismäßig knappen Aussagen in den Urteilen von Colson und Kamann, Harz, Kolpinghuis Nijmegen BV und Marleasing abzuleiten.
5 EuGH 24.5.2012 EU:C:2012:306 (Amia) Rn. 32; EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 32. 6 EuGH 6.11.2018 EU:C:2018:871 (Bauer und Willmeroth) Rn. 65; EuGH 7.8.2018 EU:C:2018:631 (Smith) Rn. 41; EuGH 10.10.2013 EU:C:2013:650 (Spedition Welter GmbH) Rn. 28; EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 23. 7 EuGH 10.4.1984 EU:C:1984:153 (von Colson und Kamann); EuGH 10.4.1984 EU:C:1984:155 (Harz). S. zu Entscheidungen aus den 70er Jahren, die zwar die Auslegung von Richtlinien mit Blick auf das Verständnis von Umsetzungsrecht betreffen, aber keine Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung aufstellen, Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 32–45; EuArbRK/Höpfner, Art. 288, Rn. 39; Klamert, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 17–25. S. auch Haguenau, Application effective, S. 266–267.
I. Die EuGH-Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung
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1. Erste Urteile zur Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung In den Rechtssachen von Colson und Kamann und Harz ging es um die Frage, ob ein Verstoß gegen die Richtlinie 76/207/EWG durch das deutsche Umsetzungsgesetz hinreichend sanktioniert wurde. Der EuGH führt aus, dass alle Träger öffentlicher Gewalt verpflichtet seien, die Ziele der Richtlinie zu erreichen und den Pflichten aus Art. 5 EWG nachzukommen. Im Rahmen ihrer Zuständigkeiten gelte das auch für die Gerichte. Nationales Recht, insbesondere Umsetzungsrecht, sei daher im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der einschlägigen Richtlinie auszulegen, um das in Art. 189 Abs. 3 EWG genannte Ziel zu erreichen.8 Das nationale Gericht habe das Umsetzungsgesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden.9 In der Rechtssache Marleasing ging es nicht um die Interpretation von Umsetzungsrecht, sondern um die richtlinienkonforme Auslegung zivilrechtlicher Vorschriften zur Nichtigkeit von Verträgen im Zusammenhang mit der Nichtigerklärung einer Aktiengesellschaft. Diese Vorschriften waren weiter als Art. 11 Nr. 2 RL 68/151/EWG, der die Nichtigerklärung nur in bestimmten Fällen vorsah. Die Sechste Kammer griff die Rechtsprechung aus der Rechtssache von Colson und Kamann auf und erklärte, dass nationales Recht unabhängig davon, ob es vor oder nach der Richtlinie erlassen wurde, soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie orientiert auszulegen sei.10 In der Rechtssache Kolpinghuis Nijmegen BV, die einen strafrechtlichen Hintergrund hatte, nannte der EuGH als (weitere) Grenze der richtlinienkonformen Auslegung die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, insbesondere den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot. Eine Richtlinie könne für sich genommen ohne nationale Umsetzungsnorm keine Strafbarkeit begründen oder verschärfen.11 In einer weiteren Entscheidung zu einer Vorlage im Rahmen eines Strafverfahrens erweiterte der EuGH diese Formulierung. Die richtlinienkonforme Auslegung dürfe nicht dazu führen, dass dem Einzelnen eine Verpflichtung aus 8
EuGH 10.4.1984 EU:C:1984:153 (von Colson und Kamann) Rn. 26; EuGH 10.4.1984 EU:C:1984:155 (Harz) Rn. 26. 9 EuGH 10.4.1984 EU:C:1984:153 (von Colson und Kamann) Rn. 28; EuGH 10.4.1984 EU:C:1984:155 (Harz) Rn. 28. 10 EuGH 13.11.1990 EU:C:1990:395 (Marleasing) Rn. 8. Zwar heißt es in einigen späteren Entscheidungen, die Verpflichtung greife insbesondere bei Umsetzungsnormen, EuGH 15.4.2008 EU:C:2008:223 (Impact) Rn. 98; EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 113. Wie die Formulierung „insbesondere“ zeigt, liegt darin jedoch keine Einschränkung gegenüber dem Marleasing-Urteil. 11 EuGH 8.10.1987 EU:C:1987:431 (Kolpinghuis Nijmegen BV) Rn. 13.
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
einer nicht umgesetzten Richtlinie entgegengehalten wird. Das gelte erst recht, wenn durch diese Auslegung auf Grundlage der Richtlinie und ohne entsprechendes Umsetzungsgesetz die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen verschärft werde, die gegen die Richtlinienbestimmungen verstoßen.12 Die unterschiedlichen Formulierungen in den Rechtssachen von Colson und Kamann und Harz einerseits sowie Marleasing andererseits führten in der Literatur zu Diskussionen darüber, ob die Marleasing-Entscheidung die Maßstäbe für die richtlinienkonforme Auslegung verändert hat. In der Literatur wurde vertreten, dass die Formulierung „soweit wie möglich“ vom Richter verlange, über die nationalen Methoden hinauszugehen.13 Andere leiteten aus der abweichenden Formulierung keine Rechtsprechungsänderung ab.14 Klärungsbedarf löste auch die Formulierung aus der MarleasingEntscheidung aus, nach der das nationale Gericht sein nationales Recht unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie 68/151/EWG auslegen muss, um zu verhindern, dass eine Aktiengesellschaft aus anderen als den in der Richtlinie aufgezählten Gründen für nichtig erklärt wird.15 Das ließ sich im Sinne einer Ergebnispflicht verstehen.16
2. Die EuGH-Rechtsprechung ab der Rechtssache Pfeiffer Nachfolgende Entscheidungen haben die vorstehend genannten Fragen geklärt. Der EuGH nahm in der Rechtssache Pfeiffer und in späteren Urteilen ausdrücklich auf die nationalen Auslegungsmethoden Bezug.17 Er hat ferner 12
EuGH 26.9.1996 EU:C:1996:363 (Arcaro) Rn. 42. S. auch EuGH 28.6.2005 EU:C:2005:408 (Dansk Rørindustri A/S) Rn. 221. 13 Prechal, Weekblad 1991, 1596, 1597–1598. Vor dem Hintergrund der Pfeiffer-Entscheidung zurückhaltender Prechal, Directives, S. 198–199. S. auch Prinssen, Doorwerking, S. 47, nach deren Auffassung „soweit möglich“ vom nationalen Richter größere Anstrengungen verlange als „unter voller Ausnutzung des Beurteilungsspielraums“. 14 Kapteyn, in: European Union, S. 511, 529, spricht im Zusammenhang mit Marleasing von der Anwendung der national anerkannten Auslegungsmethoden; Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 91–92, will den verschiedenen Formulierungen kein zu großes Gewicht beimessen. 15 EuGH 13.11.1990 EU:C:1990:395 (Marleasing) Rn. 13. 16 S. zu dieser Diskussion aus der umfangreichen Literatur zu dieser Entscheidung nur Alonso Garcı´a, El juez, S. 185–189; Arnull, European Union, S. 212 –213; Bello Martı´nCrespo, Directivas, S. 107–112; de Bu´rca, MLR 55 (1992), 215, 223; Docksey/Fitzpatrick, ILJ 1991, 113, 119; Maltby, LQR 109 (1993), 301 (der einleitend zu Recht darauf hinweist, dass eine kurze Kammerentscheidung eine schmale Basis ist, um daraus weitreichende Konsequenzen für die Wirkung von Gemeinschaftsrecht abzuleiten); Prechal, Directives, S. 198; Rodrı´guez Iglesias/Riechenberg, Auslegung, S. 1213, 1221–1222; Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 98–107. S. auch unten S. 41–42. 17 EuGH 28.6.2018 EU:C:2018:511 (Crespo Rey) Rn. 70; EuGH 7.4.2018 EU:C:2018:
I. Die EuGH-Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung
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mehrfach erläutert, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich ist. Im Vertikalverhältnis kommt in solchen Fällen u.U. eine unmittelbare Anwendung der einschlägigen Richtlinienbestimmung in Betracht.18 Im Horizontalverhältnis besteht diese Möglichkeit nicht. Der Betroffene hat aber u.U. einen Schadensersatzanspruch gegen den Mitgliedstaat, der die Richtlinie nicht rechtzeitig oder inhaltlich nicht korrekt umgesetzt hat.19 Diese Ansätze sind nur sinnvoll, wenn die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nicht bedeutet, dass in jedem Fall ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erzielen ist. Schließlich betont der EuGH in zahlreichen Entscheidungen, dass die Auslegung des nationalen Rechts, einschließlich der Entscheidung, ob es sich richtlinienkonform interpretieren lässt, Sache des nationalen Richters ist.20 a) Kernaussagen In seiner jüngeren Rechtsprechung benutzt der EuGH mit kleineren Abweichungen einige Standardformulierungen, um die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung zu beschreiben. Er sieht weiterhin die nationalen Gerichte als Träger öffentlicher Gewalt in der Pflicht, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten Richtlinienziele zu erreichen und dazu geeignete Maßnahmen zu treffen.21 Die Gerichte müssten sämtliche nationale Rechtsnormen berücksichtigen und die Auslegungsmethoden des nationalen Rechts anwenden, um das nationale Recht soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der fraglichen Richtlinie orientiert auszurichten. Das diene dazu, das Richtlinienziel zu erreichen und so Art. 288 Abs. 3 AEUV Genüge zu tun.22 Ergänzend 257 (Egenberger) Rn. 71; EuGH 19.4.2016 EU:C:2016:278 (Dansk Industri) Rn. 31; EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 27; EuGH 15.4.2008 EU:C:2008:223 (Impact) Rn. 101; EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 116. 18 EuGH 25.6.2015 EU:C:2015:418 (IID) Rn. 57; EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 33. 19 EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 43; EuGH 4.7.2006 EU:C:2006:443 (Adeneler) Rn. 112; EuGH 14.7.1994 EU:C:1994:292 (Faccini Dori) Rn. 27. 20 EuGH 6.11.2018 EU:C:2018:871 (Bauer und Willmeroth) Rn. 69; EuGH 7.4.2018 EU:C:2018:257 (Egenberger) Rn. 74; EuGH 4.7.2006 EU:C:2006:443 (Adeneler) Rn. 103. In diesem Sinne auch EuGH 19.4.2016 EU:C:2016:278 (Dansk Industri) Rn. 35. 21 EuGH 7.8.2018 EU:C:2018:631 (Smith) Rn. 38; EuGH 19.4.2016 EU:C:2016:278 (Dansk Industri) Rn. 30; EuGH 19.1.2010 EU:C:2010:21 (Kücükdeveci) Rn. 47; EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 110. In einigen Entscheidungen nimmt der EuGH dabei ausdrücklich auf Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV Bezug, so in den Urteilen EuGH 26.10.2016 EU:C:2016:800 (Canal Digital) Rn. 30; EuGH 4.9.2016 EU:C:2016: 680 (Martı´nez Andre´s) Rn. 50 und EuGH 8.9.2011 EU:C:2011:557 (Rosado Santana) Rn. 51. 22 EuGH 7.8.2018 EU:C:2018:631 (Smith) Rn. 39; EuGH 19.4.2016 EU:C:2016:278
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
oder anstelle der vorstehenden Formulierung führt der EuGH häufig auch aus, der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung verlange von den nationalen Gerichten, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht.23 Gelegentlich äußert sich der EuGH weitergehend zur Ableitung der Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung. Sie sei dem System des AEUV immanent, da sie es den nationalen Gerichten ermögliche, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten bei ihren Entscheidungen die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen.24 Die Pflicht besteht ab Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie.25 Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung liegen nach der Rechtsprechung des EuGH in den allgemeinen Rechtsprinzipien und im Verbot, contra legem zu judizieren.26 In einigen Urteilen werden aus der Gruppe der
(Dansk Industri) Rn. 31; EuGH 10.3.2011 EU:C:2011:129 (Kumpan) Rn. 52, 54; EuGH 19.1.2010 EU:C:2010:21 (Kücükdeveci) Rn. 48; EuGH 16.7.2009 EU:C:2009:466 (Mono Car Styling) Rn. 60; EuGH 23.4.2009 EU:C:2009:250 (Angelidaki) Rn. 197; EuGH 15.4.2008 EU:C:2008:223 (Impact) Rn. 98; EuGH 4.7.2006 EU:C:2006:443 (Adeneler) Rn. 108; EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 113. 23 EuGH 11.9.2019 EU:C:2019:701 (Romano) Rn. 37; EuGH 6.11.2018 EU:C:2018: 871 (Bauer und Willmeroth) Rn. 67; EuGH 7.8.2018 EU:C:2018:631 (Smith) Rn. 39; EuGH 28.6.2018 EU:C:2018:511 (Crespo Rey) Rn. 70; EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 27; EuGH 23.4.2009 EU:C:2009:250 (Angelidaki) Rn. 200; EuGH 15.4.2008 EU:C:2008:223 (Impact) Rn. 101; EuGH 4.7.2006 EU:C:2006:443 (Adeneler) Rn. 111; EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 119. 24 EuGH 10.10.2013 EU:C:2013:650 (Spedition Welter GmbH) Rn. 29; EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 24; EuGH 10.3.2011 EU:C:2011:129 (Kumpan) Rn. 53; EuGH 23.4.2009 EU:C:2009:250 (Angelidaki) Rn. 198; EuGH 15.4.2008 EU:C:2008:223 (Impact) Rn. 99; EuGH 4.7.2006 EU:C:2006:443 (Adeneler) Rn. 109; EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 114. Während in der deutschen Fassung „da“ und in der englischen “since” als Konjunktionen verwendet werden, heißt es in der französischen Fassung „en ce que“ und in der spanischen „en la medida“, was mit „insofern“ zu übersetzen und wohl der treffendere Ausdruck ist. 25 EuGH 23.4.2009 EU:C:2009:250 (Angelidaki) Rn. 201; EuGH 4.7.2006 EU:C: 2006:443 (Adeneler) Rn. 114, 115. 26 EuGH 19.9.2019 EU:C:2019:765 (Rayonna prokuratura Lom) Rn. 61; EuGH 6.11.2018 EU:C:2018:871 (Bauer und Willmeroth) Rn. 26; EuGH 7.8.2018 EU:C:2018: 631 (Smith) Rn. 40; EuGH 28.6.2018 EU:C:2018:511 (Crespo Rey) Rn. 71; EuGH 19.4.2016 EU:C:2016:278 (Dansk Industri) Rn. 32; EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 25; EuGH 10.3.2011 EU:C:2011:129 (Kumpan) Rn. 54; EuGH 23.4.2009 EU:C:2009: 250 (Angelidaki) Rn. 199; EuGH 15.4.2008 EU:C:2008:223 (Impact) Rn. 100; EuGH 4.7.2006 EU:C:2006:443 (Adeneler) Rn. 110.
I. Die EuGH-Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung
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allgemeinen Rechtsgrundsätze der Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot hervorgehoben.27 Schließlich hatten in einigen Fällen vorlegende Gerichte auf nationale Rechtsprechung zu der jeweiligen Auslegungsfrage hingewiesen. Der EuGH sieht eine ständige Rechtsprechung für sich betrachtet nicht als Hinderungsgrund für eine richtlinienkonforme Auslegung. Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung umfasse die Pflicht, eine Rechtsprechung abzuändern, die auf einer richtlinienwidrigen Auslegung des nationalen Rechts beruht.28 b) Weitere Aspekte der richtlinienkonformen Auslegung Während der EuGH die vorstehenden Gesichtspunkte im Zusammenhang mit der richtlinienkonformen Auslegung regelmäßig anspricht, geht er auf weitere Punkte seltener ein. Gelegentlich heißt es, es sei davon auszugehen, dass der Mitgliedstaat, der seinen Gestaltungsspielraum nach Art. 288 Abs. 3 AEUV ausgenutzt hat, seinen Pflichten in vollem Umfang nachkommen wollte. In der Rechtssache Pfeiffer trifft der EuGH diese Aussage im Kontext von Umsetzungsrecht.29 Dass sie eine größere Reichweite hat, zeigt sich allerdings in dem dortigen Verweis auf das Urteil der Fünften Kammer in der Rechtssache Wagner Miret, in der es um präexistentes nationales Recht ging. Im Zusammenhang mit der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung führte die Fünfte Kammer aus, bei der Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts habe das nationale Gericht davon auszugehen, dass der Staat beabsichtigte, seinen Verpflichtungen aus der Richtlinie in vollem Umfang nachzukommen. Das nationale Recht sei, unabhängig davon, ob es älter oder jünger als die Richtlinie ist, soweit wie möglich richtlinienkonform auszulegen.30 Mit dem Hinweis auf die Pflicht der Mitgliedstaaten, die Ziele der Richtlinie zu erreichen, und der Annahme, dass der Mitgliedstaat sich entsprechend verhalten will, stützt der EuGH die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung. Gesetzgeber und Justiz tragen – jeweils in ihrem Aufgabenbereich – mit Blick auf Art. 288 Abs. 3 AEUV dazu bei, die Ziele der Richtlinie zu erreichen. Dabei ist von den Gerichten zu unterstellen, dass 27
EuGH 10.3.2011 EU:C:2011:129 (Kumpan) Rn. 54; EuGH 23.4.2009 EU:C: 2009:250 (Angelidaki) Rn. 199; EuGH 15.4.2008 EU:C:2008:223 (Impact) Rn. 100; EuGH 4.7.2006 EU:C:2006:443 (Adeneler) Rn. 110; EuGH 8.10.1987 EU:C:1987:431 (Kolpinghuis Nijmegen BV) Rn. 13. 28 EuGH 5.9.2019 EU:C:2019:665 (PohotovostÆ) Rn. 55–56; EuGH 6.11.2018 EU:C: 2018:871 (Bauer und Willmeroth) Rn. 68; EuGH 7.4.2018 EU:C:2018:257 (Egenberger) Rn. 72; EuGH 19.4.2016 EU:C:2016:278 (Dansk Industri) Rn. 33; EuGH 13.7.2000 EU:C:2000:402 (Centrosteel) Rn. 17. 29 EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 112. 30 EuGH 16.12.1993 EU:C:1993:945 (Wagner Miret) Rn. 20.
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
der Gesetzgeber entsprechend gehandelt hat oder keinen Handlungsbedarf sah. Dieser Gedanke wird allerdings vom EuGH nur selten erwähnt und spielt so nur eine untergeordnete Rolle. In Entscheidungen nach dem Pfeiffer-Urteil verzichtet er auf den Hinweis, dass das nationale Gericht davon auszugehen habe, dass der Gesetzgeber seiner Verpflichtung in vollem Umfang nachkommen wollte – sei es durch neue Gesetzgebung, sei es durch den Fortbestand alten Rechts.31 Nur in zwei Urteilen fordert der EuGH die nationalen Gerichte auf, bei der Auslegung Methoden anzuwenden, die im nationalen Recht Normkollisionen vermeiden oder die Reichweite einer Regelung einschränken, soweit sie mit einer anderen nicht vereinbar ist.32 Vereinzelt geblieben ist ferner die Aussage der Sechsten Kammer, eine richtlinienkonforme Auslegung sei ungeachtet entgegenstehender Auslegungshinweise aus den vorbereitenden Arbeiten zu der nationalen Regelung vorzunehmen.33
II. Diskussionspunkte in der Literatur Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung wird in der Literatur intensiv diskutiert. Dabei werden einige der Teilaspekte, die der EuGH anspricht, unterschiedlich verstanden und gewichtet. Die begrenzenden Faktoren werden unterschiedlich stark betont und auf verschiedene Weise miteinander verknüpft oder einzeln betrachtet. Bei vielen Detailfragen der richtlinienkonformen Auslegung spielt die nationale Perspektive eine entscheidende Rolle, da die richtlinienkonforme Auslegung sich im Rahmen der nationalen Auslegungsmethoden abspielt. Diese Fragen werden in den Abschnitten zu den untersuchten Mitgliedstaaten und bei den vergleichenden Überlegungen untersucht. Nachfolgend geht es um die länderübergreifenden Aspekte der Diskussion.
31 Er findet sich z.B. nicht in den Urteilen EuGH 6.11.2018 EU:C:2018:871 (Bauer und Willmeroth); EuGH 7.8.2018 EU:C:2018:631 (Smith); EuGH 7.4.2018 EU:C:2018:257 (Egenberger) und EuGH 19.4.2016 EU:C:2016:278 (Dansk Industri), bei denen u.a. die Interpretationsfähigkeit nationalen Umsetzungsrechts eine Rolle spielte. 32 EuGH 16.7.2009 EU:C:2009:466 (Mono Car Styling) Rn. 63; EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 116. 33 EuGH 29.4.2004 EU:C:2004:275 (Björnekulla Fruktindustrier) Rn. 13. S. dazu noch unten S. 50–53.
II. Diskussionspunkte in der Literatur
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1. Die richtlinienkonforme Auslegung als Ausgleich fehlender Horizontalwirkung Nach Auffassung eines Teils der Literatur entfaltet die richtlinienkonforme Auslegung ähnliche Wirkung wie die Horizontalwirkung von Richtlinien.34 Das ist zwar nicht von der Hand zu weisen. Dennoch ist daran zu erinnern, dass die richtlinienkonforme Auslegung und die Horizontalwirkung einer Richtlinienbestimmung – wenn sie anerkannt wäre – im Einzelfall nicht stets dieselbe Wirkung entfalten würden. Die beiden Instrumente führen nur dann gleichermaßen zu einer Entscheidung des Rechtsstreits i.S.d. Richtlinie, wenn zum einen auslegungsfähiges nationales Recht gegeben ist und zum anderen die einschlägige Regelung der Richtlinie die Voraussetzungen erfüllt, um unmittelbare Wirkung zu entfalten. Umgekehrt hat eine Richtlinie gleichermaßen keine Auswirkung auf das Rechtsverhältnis zwischen Privaten, wenn keine auslegungsfähige nationale Norm existiert und die relevante Richtlinienbestimmung die Voraussetzungen für die unmittelbare Wirkung nicht erfüllt. In manchen Fällen wird aber nur eine der beiden Konstellationen gegeben sein. Wenn z.B. zwar eine unmittelbare Wirkung der Richtlinienbestimmung in Betracht kommt, aber kein auslegungsfähiges nationales Recht vorhanden ist, führen nicht beide Instrumente zu einer Entscheidung des Rechtsstreits i.S.d. Richtlinie. Zu Recht verweist daher ein Teil der Literatur darauf, dass die fehlende Horizontalwirkung durch das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung nicht in Frage gestellt wird, weil es bei richtlinienkonformer Auslegung um die Anwendung nationalen Rechts geht.35 Ferner heißt es nicht selten, der EuGH mildere mithilfe der richtlinienkonformen Auslegung die Folgen der fehlenden Horizontalwirkung ab.36 So34
Dubos, Juridictions, Rn. 119, unter Berufung auf Manin, RDTeur 1990, 669, 677; Haguenau, Application effective, S. 275; Mangas Martı´n/Lin˜a´n Nogueras, Instituciones, S. 427; Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, Derecho des las relaciones laborales 2016, 619, 620. S. auch Simon, Directive, S. 94, und ders., La panace´e de l’interpre´tation conforme, S. 279, 296. Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, § 1, Rn. 1.143, spricht von einer mittelbaren Anwendung europäischer Richtlinien. 35 von der Groeben/Schwarze/Hatje/Geismann, Art. 288 AEUV, Rn. 55; Simon, Re´pertoire de droit europe´en, Rn. 133; ihm folgend Kilgus, Dalloz actualite´, 27 Mai 2015. 36 Alzaga Ruiz, RMTI 2010 (1), 129, 146; dies., AL 13/2007, 1536, 1546; GA Colomer 27.4.2004 EU:C:2003:245 (Pfeiffer) Rn. 24; Haltern, Europarecht, Rn. 738; Prinssen, Doorwerking, S. 39. S. auch GA Trstenjak 8.9.2011 EU:C:2011:559 (Dominguez) Rn. 65, die von einem Ausgleich für die fehlende Horizontalwirkung spricht. Ähnlich Simon, La panace´e de l’interpre´tation conforme, S. 279, 296 („reme`de palliatif“) und Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, § 1, Rn. 1.154, der daraus ableitet, dass die richtlinienkonforme Auslegung der Horizontalwirkung möglichst nahekommen sollte. Schwächer Alonso Garcı´a, Sistema, S. 300–301: Angesichts der fehlenden Horizontalwirkung sei die richtlinienkonforme Auslegung das einzige Mittel, um die nationalen Rechtsordnungen zu „harmonisieren“.
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
weit in der Aussage mitschwingt, der EuGH habe einen Weg gesucht, um Richtlinien zwischen Privaten Geltung zu verschaffen, ist das nicht überzeugend. Er mag die effektivere Durchsetzung der Richtlinie im nationalen Recht, die die richtlinienkonforme Auslegung mit sich bringt, begrüßen. Die von ihm aus dem AEUV abgeleitete Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung ist dennoch eine eigenständige Aufgabe der Gerichte als Träger öffentlicher Gewalt, die neben andere Auswirkungen tritt, die die Richtlinie nach sich zieht. Aus der Rechtsprechung des EuGH lässt sich nicht ableiten, dass er die richtlinienkonforme Auslegung als Abhilfe für die nicht ausreichende Reichweite von Richtlinien entwickelt und eingesetzt hat. Der EuGH hätte sich den Befürwortern der Horizontalwirkung von Richtlinien anschließen können, wenn ihm daran gelegen gewesen wäre, Richtlinienbestimmungen, die die Voraussetzungen für die unmittelbare Wirkung erfüllen, unabhängig von Umsetzungsrecht zwischen Privaten zur Anwendung zu bringen. Die Sichtweise, nach der der EuGH sich mangels Akzeptanz nationaler Gerichte gezwungen sah, auf die Horizontalwirkung von Richtlinien zu verzichten, ist zwar eine mögliche Interpretation der Entwicklungsgeschichte der Wirkung von Richtlinien.37 Sie hat aber durchaus spekulative Züge.38 Wahrscheinlicher ist, dass der EuGH die Horizontalwirkung tatsächlich aus den von ihm genannten Gründen – Adressaten sind die Mitgliedstaaten, Verpflichtungen zulasten des Einzelnen kann die EU nur durch Verordnung schaffen39 – ablehnt. Diese Lösung ist auch sinnvoll, um die Unterschiede zwischen Richtlinien und Verordnungen nicht zu verwischen, zumal die EU 37 Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, § 1, Rn. 1.129. Der bei Sagan in Fn. 435 zitierten Stelle bei Prechal, Directives, S. 199, kann ich diese Einschätzung nicht entnehmen. Prechal behandelt dort die Frage, ob der EuGH die Estoppel-Theorie eingeführt hat, um die Vertikalwirkung von Richtlinien theoretisch zu unterfüttern und so der Kritik einiger mitgliedstaatlicher Gerichte entgegenzuwirken. Es geht an dieser Stelle nicht darum, ob der EuGH die unmittelbare Wirkung von Richtlinien gerne auf Horizontalverhältnisse erstreckt hätte und sich daran gehindert sah. In dem Abschnitt, in dem Prechal sich mit der Horizontalwirkung von Richtlinien befasst, Prechal, Directives, S. 255–260, geht sie ebenfalls nicht auf ein „Zurückstecken“ des EuGH ein, was aber nahe gelegen hätte, wenn sie davon ausgegangen wäre. S. auch Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 20–21. A.A. EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 23; Jarass, NJW 1991, 2665, 2666 (mit Fn. 16). 38 Wie viel Eigenwertung in einer solchen Sichtweise steckt, zeigt sich daran, dass das (vermeintliche) „Dilemma“, in dem sich der EuGH befand, u.a. auf die Schilderung von Haltern, Europarecht, Rn. 701, 708, gestützt wird, der in Rn. 701 u.a. meint, der EuGH habe sich in der Rechtssache van Duyn um Popularität bemüht, indem er der ihrerseits als Scientologin unpopulären Frau van Duyn die Einreise verwehrte (Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 21 bezieht sich auf Haltern, Europarecht, 2. Aufl. 2007, wo diese Aussage in Rn. 678 enthalten ist). Wahrscheinlich hält nicht nur die Autorin dieses Buchs es für unwahrscheinlich, dass der Wunsch nach mehr Popularität die van Duyn-Entscheidung des EuGH beeinflusst hat. 39 S. oben S. 23.
II. Diskussionspunkte in der Literatur
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das Rechtssetzungsinstrument der Verordnung nicht nach Belieben einsetzen kann.40 Selbst wenn sich der EuGH aber hinsichtlich der Entscheidung zur Horizontalwirkung von Richtlinien tatsächlich in einer so hilflosen Lage befunden hätte und bis heute keinen Ausweg sähe, spräche das nicht dafür, die richtlinienkonforme Auslegung als verdeckte Ersatzlösung für die politisch nicht durchsetzbare Horizontalwirkung von Richtlinien zu instrumentalisieren.41 Aussagen dazu, was der EuGH eigentlich erreichen wollte, sind nach hier vertretener Auffassung generell zurückhaltend zu betrachten. So meint Prechal, der EuGH habe in der Rechtssache Pfeiffer zwar auf nationale Auslegungsmethoden und ihren möglichen Geltungsbereich abgestellt, eigentlich aber die Nichtanwendung der richtlinienwidrigen Norm gewollt.42 Allerdings ist nicht ersichtlich, warum das Gericht nicht das gemeint haben soll, was es gesagt hat: Dass der nationale Richter nach Möglichkeit das nationale Recht richtlinienkonform interpretieren soll, gegebenenfalls unter Einschluss solcher Methoden, die eine Einschränkung zulassen. Jedenfalls aus der jüngeren Rechtsprechung des EuGH wird deutlich, dass er das Phänomen des nicht richtlinienkonform interpretierbaren nationalen Rechts akzeptiert.43 Sicher fordert der EuGH die nationalen Gerichte nachdrücklich dazu auf, im Wege der Interpretation möglichst ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erzielen. Das bedeutet aber nicht, dass er damit verdeckt anregt, in jedem Fall ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erzielen. Möglicherweise werden die Ausführungen in Rechtssachen wie Pfeiffer oder Dominguez als besonders „drängend“ wahrgenommen, weil in diesen Fällen das nationale Recht eine richtlinienkonforme Lösung ermöglichte, falls es möglich war, eine Ausnahmeregel nicht (Pfeiffer) oder gerade doch (Dominguez) anzuwenden. Ob die Chancen auf ein richtlinienkonformes Ergebnis in solchen Konstellationen tatsächlich höher sind als in anderen Fällen, ist allerdings nicht ausgemacht.
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S. zu diesem Argument aus der Literatur nur Haltern, Europarecht, Rn. 710; Jarass, NJW 1991, 2665, 2666. S. auch Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 32–34. 41 In diesem Sinne aber Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, § 1, Rn. 1.154, nach dessen Auffassung die richtlinienkonforme Auslegung als Ausgleich zur – nach seiner Auffassung vom EuGH nur ungern zugestandenen – fehlenden Horizontalwirkung von Richtlinien gedacht ist und dieser möglichst nahekommen soll. A.A. EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 79. 42 Prechal, C.M.L. Rev. 42 (2005), 1445, 1462. 43 S. die Nachweise in Fn. 17 und 18 sowie EuGH 4.10.2018 EU:C:2018:810 (Link Logistic N&N) Rn. 60.
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
2. Die Herleitung der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung Der EuGH betont, dass die Gerichte mit der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts Art. 288 Abs. 3 AEUV Genüge tun. Er sieht die richtlinienkonforme Auslegung als dem System des AEUV immanente Verpflichtung an und stützt sich zur Begründung in einigen Urteilen außerdem auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV).44 Die Literatur greift diese Ansätze auf,45 oft allerdings nur referierend. Soweit die Ansätze diskutiert werden, finden sich in den Details Nuancen.46 Eine stärkere Abweichung zeigt sich im United Kingdom. Dort stützen sich Teile der Literatur und Rechtsprechung für die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung maßgeblich auch auf nationales Recht. a) Art. 288 Abs. 3 AEUV als Hauptanknüpfungspunkt Der Großteil der Literatur zieht in erster Linie oder allein Art. 288 Abs. 3 AEUV heran, um die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung zu begründen. Für einige Autoren ist diese Regelung für die Auslegungsverpflichtung tragend, Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV verwenden sie subsidiär zur Begründung.47 Der Rückgriff auf die Loyalitätspflicht sei eine nützliche Verstärkung einer Verpflichtung, die in Art. 288 Abs. 3 AEUV nicht ausdrück-
44 S. oben S. 27–28. Zum Gebot der loyalen Zusammenarbeit als stützendes Argument insbes. Fn. 21. 45 Alonso Garcı´a, Sistema, S. 300; Bello Martı´n-Crespo, Directivas, S. 98–99; Betlem, in: Europese recht, S. 97, 105; Craig/de Bu´rca, EU Law, S. 245; Dubos, Juridictions, Rn. 106, 111; Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 22–29; ders., REALaw 8 (2015), 215, 218; Kovar, L’interpre´tation, S. 381; Lenaerts/Corthaut, EL Rev. 31 (2006), 287, 293; Salus, Auslegung und Anwendung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 54; Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 35. Ohne Nennung bestimmter Regelungen bezeichnen Holdgaard/Elkan/Krohn Schaldemose, C.M.L. Rev. 55 (2018), 17, 32, die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung als eine aus dem europäischen Recht erwachsende Verpflichtung. 46 Äußerungen vor dem Pfeiffer-Urteil gehen naturgemäß nicht auf die in dieser Rechtssache erstmals verwendete Formulierung ein, nach der die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung dem AEUV inhärent ist. 47 Dubos, Juridictions, Rn. 111; Simon, Syste`me juridique communautaire, Rn. 343. Ohne diese Differenzierung Simon, La panace´e de l’interpre´tation conforme, S. 279, 282–284, dem es in diesem Beitrag aber wohl in erster Linie darum geht, dem Leser die Verankerung der richtlinienkonformen Auslegung durch den EuGH in Erinnerung zu rufen. In einem jüngeren Text erwähnt Simon Art. 288 AEUV im Kontext der richtlinienkonformen Auslegung nicht: Simon, Re´pertoire de droit europe´en, Rn. 129–139. Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 24, 29, zieht Art. 4 Abs. 3 EUV nicht nur nachrangig heran.
II. Diskussionspunkte in der Literatur
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lich niedergelegt ist.48 Andere Autoren sehen in Art. 288 AEUV die speziellere Regelung und lehnen den Rückgriff auf Art. 4 Abs. 3 EUV ab.49 Eher selten wird die richtlinienkonforme Auslegung allein auf Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV gestützt.50 Vereinzelt wird die verhältnismäßig junge Formulierung des EuGH, die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung sei dem System des AEUV immanent, hervorgehoben. Sie verändere zwar die Praxis der richtlinienkonformen Auslegung nicht, sei aber für die Rechtsnatur der Verpflichtung relevant. Die richtlinienkonforme Auslegung sei ein fundamentaler ungeschriebener Rechtsgrundsatz des Unionsrechts, der auf gleicher Stufe mit der Lehre von der unmittelbaren Wirkung und der Verantwortlichkeit des Staates für die fehlerhafte Richtlinienumsetzung stehe. Letztere habe der EuGH ebenfalls aus dem AEUV abgeleitet.51 Diese Auffassung geht in dieselbe Richtung wie die zuvor erwähnte Ansicht, die die Rolle des Art. 288 Abs. 3 AEUV betont und den Rückgriff auf die Loyalitätspflicht als subsidiäre Begründung einstuft.52 Andere sehen die neue, zusätzliche Begründung kritisch. Sie sei weniger überzeugend als der Rückgriff auf konkrete Vorschriften aus den Verträgen.53
48 Dubos, Juridictions, Rn. 111; Simon, Syste`me juridique communautaire, Rn. 343. In Deutschland sprechen Auer, Primärrechtskonforme Auslegung, S. 27, 49 (Fn. 91); Gebauer, Europäische Auslegung, Rn. 32, und Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 4, von einer Hilfserwägung. 49 EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 42; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 297–298; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV, Rn. 110. 50 Cudero Blas, in: EL juez nacional, S. 89, 90-91; Keus, Europees privaatrecht, S. 70; Vas Nunes, ArA 2016, 54, 60. Aus der deutschen Literatur Everling, ZGR 1992, 376, 380; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 268. Allerdings zieht Nettesheim in Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, Art. 288 AEUV, Rn. 135, Art. 288 AEUV i.V.m. Art. 4 Abs. 3 EUV heran, sodass die alleinige Anknüpfung an Art. 4 Abs. 3 EUV für das deutsche Recht wohl überholt ist. 51 Betlem, in: Europese recht, S. 97, 105. Auf die Aussage, die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung sei dem System des AEUV immanent, stützen sich auch McDonnell, in: Law of the European Union, S. 436, und Simon, Re´pertoire de droit europe´en, Rn. 136, sowie ders., La panace´e de l’interpre´tation conforme, S. 279, 282–283. Simon zieht außerdem die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten heran. 52 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Texte der in Fn. 47 erwähnten Autoren vor dem Pfeiffer-Urteil des EuGH veröffentlicht wurden, sodass sie diese Formulierung noch nicht aufgreifen konnten. 53 Klamert, C.M.L. Rev. 43 (2006), 1251, 1253–1254.
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
b) Rückgriff auf den Vorrang des Unionsrechts Insbesondere in Frankreich stellt ein Teil der Literatur zur Begründung der richtlinienkonformen Auslegung zusätzlich auf den Vorrang des Unionsrechts ab.54 Dabei knüpfen einige an einen Vorrang im Sinne einer Normenhierarchie und einen damit verbundenen – generellen – Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht an.55 Anderen Stellungnahmen lässt sich entnehmen, dass der Rückgriff des EuGH auf Art. 288 Abs. 3 AEUV und den Grundsatz der Unionstreue als Ausdruck dafür gesehen wird, dass der EuGH die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung auf den bindenden Charakter der Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung stützt und sie damit eine Konsequenz des Vorrangs des Unionsrechts ist.56 In diesem Sinne ist der Vorrang des Unionsrechts kein zusätzliches Argument für die richtlinienkonforme Auslegung, sondern der Aspekt, der die Ableitung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV erst ermöglicht. In der deutschsprachigen Literatur wird dieser Zusammenhang ausgedrückt, indem auf den primärrechtlichen Charakter des Umsetzungsbefehls hingewiesen wird.57 Mit Blick auf den Vorrang des Unionsrechts heißt es gelegentlich, die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung vermeide einen Konflikt, der nur durch Nichtanwendung der nationalen Norm gelöst werden könne.58 54 Dubos, Juridictions, Rn. 106, 111; ders., RFDA 2003, 3 (der dort allerdings die Rechtsprechung des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung allein auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts zurückführt); Kovar, L’interpre´tation, S. 381 (Grundlage der richtlinienkonformen Auslegung). Aus der Literatur außerhalb Frankreichs Lenaerts/Corthaut, EL Rev. 31 (2006), 287, 293; Vedder/Heintschel von Heinegg/Vedder, Europäisches Unionsrecht, Art. 288, Rn. 34 (der daneben Art. 288 AEUV heranzieht). 55 Kovar, L’interpre´tation, S. 381; Lenaerts/Corthaut, EL Rev. 31 (2006), 287, 293. 56 Dubos, Juridictions, Rn. 111. So unter Berufung auf Dubos auch Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 18, die allerdings auf S. 15 davon auszugehen scheint, dass der EuGH den Vorrang des Unionsrechts zur Begründung der Verpflichtung neben Art. 249 Abs. 3 und Art. 10 EGV anführt. Sie verweist dafür auf die Entscheidungen von Colson und Kamann, Marleasing und Pfeiffer. Der (genannten) Rechtsprechung des EuGH lässt sich das so jedoch nicht entnehmen. 57 Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 34–37; Schlachter, ZfA 2007, 249, 259; Weber, Grenzen, S. 91–92. S. auch Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 154 (im Kontext des Vorrangs der richtlinienkonformen Interpretation). 58 Kovar, L’interpre´tation, S. 381. S. auch Dubos, Juridictions, Rn. 112, der aber Richtlinien nicht durchgängig den hier nachfolgend beschriebenen effet d’exclusion zuspricht und daher nicht davon ausgeht, dass die richtlinienkonforme Auslegung lediglich konfliktvermeidende Wirkung hat. Tridimas, YEL 21 (2001), 327, 332, meint, die praktische Folge des effet d’exclusion sei, die richtlinienwidrige Norm zu beseitigen, sodass der Weg für eine richtlinienkonforme Lösung anhand des verbleibenden nationalen Rechts frei sei. Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, RL 2010, 1, 13–14, scheint eher die umgekehrte Perspektive einzunehmen. Er meint, dass die richtlinienkonforme Interpretation in den Fällen, in de-
II. Diskussionspunkte in der Literatur
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Diese Argumentation geht davon aus, dass eine richtlinienwidrige nationale Norm unangewendet zu lassen ist. In der französischsprachigen Literatur wird das als „effet d’exclusion“ beschrieben. Aufgrund des effet d’exclusion tritt, anders als beim sogenannten „effet de substitution“, die Richtlinienbestimmung nicht an die Stelle des nationalen Rechts. Das richtlinienwidrige nationale Recht bleibt lediglich unangewendet.59 Ein Teil der Literatur meint, ein solcher Ausschlusseffekt lasse sich mit der Rechtsprechung des EuGH in Einklang bringen.60 Nach anderer Auffassung ist der effet d’exclusion auf unmittelbar anwendbares Unionsrecht beschränkt, eine Entkopplung sei der Rechtsprechung des EuGH nicht zu entnehmen.61 Ein Teil der Vertreter dieser zweiten Ansicht befürwortet aber die Trennung der Ausschlusswirkung von der unmittelbaren Anwendbarkeit des einschlägigen Unionsrechts.62 Der EuGH sieht freilich keine unionsrechtliche Grundlage dafür, nationales Recht unangewendet zu lassen, das einer nicht (korrekt) umgesetzten Richtlinie zuwiderläuft, wenn diese nicht unmittelbar anwendbar ist.63 Seine Rechtsprechung zur Unanwendbarkeit nationaler Normen, die dem Verbot der Altersdiskriminierung widersprechen, hat daran nichts geändert, da das Gericht sich in diesen Fällen zumindest auch auf primärrechtliche Diskriminierungsverbote stützt.64
nen sie zur Auswahl unter verschiedenen nationalen Normen führt, einem Ausschlusseffekt sehr nahekommt. 59 Zu diesen unterschiedlichen Wirkungsweisen Arnull, European Union, S. 240; Galmot/Bonichot, Rev. fr. Droit adm. 1988, 1, 2, 10; Prechal, C.M.L. Rev. 42 (2005), 1445, 1456; Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, RL 2010, 1, 11; Simon, Directive, S. 66; Tridimas, YEL 21 (2001), 327, 330. S. auch Craig/de Bu´rca, EU Law, S. 251–255. Aus der deutschsprachigen Literatur Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 257, 262–272. 60 GA Saggio 16.12.1999 EU:C:1999:620 (Oceano) Rn. 30–39; Tridimas, YEL 21 (2001), 327, 329–332. S. auch Lenaerts/Corthaut, EL Rev. 31 (2006), 287, 292. Ursprünglich auch Simon, Directive, S. 94–99, der aber inzwischen allein im Vertikalverhältnis von der Unanwendbarkeit richtlinienwidrigen nationalen Rechts ausgeht: Simon, Re´pertoire de droit europe´en, Rn. 148. 61 Coutron, RTDeur 2015, 39, 42; Dubos, Juridictions, Rn. 126; Eilmansberger, JBl 2004, 364, 369–375. S. auch Arnull, European Union, S. 241–250; Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, Derecho des las relaciones laborales 2016, 619, 623. 62 Coutron, RTDeur 2015, 39, 42; Dubos, Juridictions, Rn. 147–158; GA Le´ger 11.1.2000 EU:C:2000:3 (Linster) Rn. 57, 68–89. Ausdrücklich ablehnend dagegen von Danwitz, JZ 2007, 697, 703; ders., RTDeur 2007, 575, 588–590; Eilmansberger, JBl 2004, 364, 369–370, 375. 63 EuGH 26.9.1996 EU:C:1996:363 (Arcaro) Rn. 39–43. 64 EuGH 19.1.2010 EU:C:2010:21 (Kücükdeveci) Rn. 50–51; EuGH 22.11.2005 EU:C:2005:709 (Mangold) Rn. 75–77. Auf Primärrecht stützt sich der EuGH auch in EuGH 5.12.2017 EU:C:2017:936 (M.A.S. und M.B.) Rn. 39; EuGH 8.9.2015 EU:C: 2015:555 (Taricco) Rn. 49–58.
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
Wenn die Ausschlusswirkung an die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts geknüpft ist, würde sie bei Richtlinien oft nicht greifen. Die Frage, ob und unter welchen Umständen von einer solchen Ausschlusswirkung auszugehen ist, braucht hier aber nicht weiter verfolgt zu werden, da sie die Herleitung der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung letztlich nicht betrifft. Die Folgen für das nationale Recht, die sich ergeben, wenn eine Norm nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann, mögen zwar ein Anreiz sein, ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erreichen. Eine Rechtsgrundlage für die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung bieten sie aber nicht. c) Rückgriff auf nationales Recht Im United Kingdom leitet die ältere Literatur die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung gelegentlich aus nationalem Recht (s. 2(4) ECA) ab. Einige Autoren knüpfen ausschließlich an s. 2(4) ECA an, ohne die unionsrechtliche Herleitung der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung auch nur zu erwähnen.65Steiner erwähnt zwar den Rückgriff des EuGH auf die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten, stützt sich für die richtlinienkonforme Auslegung englischen Rechts aber auf s. 2(4) ECA.66 Einen Mittelweg geht Fitzpatrick, der die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung als unionsrechtliche Verpflichtung einordnet, die sich aus der Loyalitätspflicht und der Bindung der Mitgliedstaaten an die Ziele der Richtlinie ergibt.67 Er deutet an, dass aus der unionsrechtlichen Perspektive eine richtlinienkonforme Auslegung wohl unabhängig von den nationalrechtlichen Regeln vorzunehmen ist, legt sich aber in diesem Punkt nicht fest, weil er die Auslegungsverpflichtung aus s. 2(1), (4) ECA ableitet.68 Worauf die höchstrichterliche Rechtsprechung im United Kingdom die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung stützt, lässt sich nicht eindeutig sagen.69 Vieles deutet aber darauf hin, dass s. 2(4) ECA zumindest erhebliche Bedeutung für die Reichweite der Auslegungspflicht hat. Ausführungen zur Herleitung der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung finden sich vor allem in der Entscheidung Pickstone v Freemans Plc. In dieser Entscheidung erwähnt Lord Templeman zwar Art. 5 EWGV, der zum 65 Ellis, LQR 104 (1988), 379; Foster, MLR (1988) 51, 775. S. zur Anknüpfung der Verpflichtung im englischen Recht aus der deutschsprachigen Literatur Klamert, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 132. 66 Steiner, LQR 106 (1990), 144, 156–158. 67 Fitzpatrick, OJLS 9 (1989), 336, 344–345. 68 Fitzpatrick, OJLS 9 (1989), 336, 347–348. 69 S. auch Vogenauer, Auslegung, S. 1224–1225. Allgemein auf englische Gerichte bezogen (also nicht auf die höchstrichterliche Rechtsprechung beschränkt) Brenncke, 39 Stat LR (2018), 134, 138.
II. Diskussionspunkte in der Literatur
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Zeitpunkt der Entscheidung die damalige Rechtsgrundlage der Loyalitätspflicht war. Das geschieht aber bei der Benennung der für den Fall relevanten Normen aus dem nationalen Recht und dem Gemeinschaftsrecht, die „miteinander interagieren“.70 Im Kontext der richtlinienkonformen Interpretation greift Lord Templeman nicht auf Art. 5 EWGV zurück. Aus der Entscheidung von Colson und Kamann zitiert er eine Passage aus dem Tenor. Die Herleitung der Verpflichtung nimmt er nicht in Bezug.71Lord Oliver stützt sich in der Pickstone-Entscheidung maßgeblich auf s. 2(4) ECA und den Umsetzungswillen des Gesetzgebers – die nationale Norm war erlassen worden, um einer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung nachzukommen.72 Auch aus der bald darauf ergangenen Entscheidung Litster and others v Forth Dry Dock Engineering Co Ltd ergibt sich nichts anders. Dort wird lediglich die Pickstone-Entscheidung in Bezug genommen. Aus ihr ergebe sich größere Flexibilität bei der Anwendung der zweckorientierten Auslegung im gemeinschaftsrechtlichen Kontext.73 Zur Herleitung der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung verhält sich die Entscheidung nicht. Auch in diesem Fall ging es um eine Umsetzungsregelung. Der Umsetzungszweck kann allerdings nicht der tragende Gedanke bei der richtlinienkonformen Auslegung sein, weil die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung nicht auf Umsetzungsrecht beschränkt ist. Für Fälle, in denen es nicht um Umsetzungsrecht geht, bleiben von der Begründung aus der Pickstone-Entscheidung also nur die Hinweise auf die Rechtsprechung des EuGH und auf s. 2(4) ECA übrig. Damit würde die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung deutlich auch auf nationales Recht gestützt. Für eine doppelte Verankerung sprechen außerdem Entscheidungen des UK Supreme Court. So hat Lord Mance in der Entscheidung The United States of America v Nolan die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung als Kardinalprinzip des europäischen und nationalen Rechts bezeichnet.74 Im Fall Assange v The Swedish Prosecution Authority führt Lord Mance in seinem Minderheitsvotum aus, dass im Kontext der rahmenbeschlusskonformen Auslegung nicht die europarechtlich begründete Pflicht zur Konformauslegung greife, sondern lediglich die aus dem common law stam-
70
Pickstone v Freemans Plc [1988] UKHL 2, [1988] 2 All ER 803, 808 (Lord Templeman). 71 Pickstone v Freemans Plc [1988] UKHL 2, [1988] 2 All ER 803, 815 (Lord Templeman). 72 Pickstone v Freemans Plc [1988] UKHL 2, [1988] 2 All ER 803, 816–819 (Lord Oliver). 73 Litster and others v Forth Dry Dock and Engineering Co Ltd [1988] UKHL 10, [1989] 1 All ER 1134, 1153 (Lord Oliver). 74 The United States of America v Nolan [2015] UKSC 63, [2016] 1 All ER 857 Rn. 14 (Lord Mance, unter Zustimmung von Lord Neuberger, Lady Hale und Lord Reed).
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
mende, weniger weitreichende Vermutung, nach der das Parlament bei der Gesetzgebung den internationalen Verpflichtungen des United Kingdom nachkommen wolle. Dabei stützt er sich wesentlich auf den Anwendungsbereich des ECA, der Rahmenbeschlüsse nicht erfasse.75 In diesem Punkt stimmen die Richter, die die Mehrheitsmeinung vertreten, ihm zu.76 Damit bestimmt die Reichweite des ECA maßgeblich, wie weit sich das Gericht zur Konformauslegung im unionsrechtlichen Kontext verpflichtet sieht. Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung berührt diese Sichtweise letztlich nicht, weil sie durch den ECA gedeckt ist. Der Punkt ist dennoch nicht irrelevant, weil sich hier zeigt, dass die UK-Gerichte sich ohne ausdrückliche Anordnung im nationalen Recht nicht in dem Maße zur richtlinienkonformen Auslegung als verpflichtet ansähen, wie es mit ausdrücklicher Anordnung der Fall ist. d) Stellungnahme Die Auffassung, die die Bedeutung des Art. 288 Abs. 3 AEUV betont, ist zu befürworten. Der tragende Aspekt für die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung ist die in Art. 288 Abs. 3 AEUV niedergelegte Pflicht der Mitgliedstaaten, die in Richtlinien vorgesehenen Ziele zu erreichen. Bereits aus der Umsetzungsverpflichtung und der Verbindlichkeit der Ziele der Richtlinie ergibt sich, dass es letztlich darum geht, richtlinienkonformes nationales Recht zu gewährleisten. Vorhandenes Recht auf Richtlinienkonformität zu überprüfen und gegebenenfalls Umsetzungsnormen zu schaffen, mag zwar die nächstliegende Maßnahme sein, um dieses Ziel zu erreichen, sie ist aber nicht die einzige. Der Vorrang des Unionsrechts spielt für die richtlinienkonforme Auslegung nur insofern eine Rolle, als die Umsetzungsverpflichtung primärrechtlicher Natur ist. Auch die in Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV geregelte Loyalitätspflicht ist neben Art. 288 Abs. 3 AEUV nicht erforderlich, um die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung zu begründen. Wäre die Loyalitätspflicht dort nicht ausdrücklich niedergelegt, wäre es nicht weniger Aufgabe aller mitgliedstaatlichen Stellen, Richtlinienziele zu erreichen. Mit einem Teil der Literatur kann Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV aber herangezogen werden, um die im AEUV nicht ausdrücklich enthaltene Verpflichtung zu bestätigen. Schließlich hat der EuGH mit der Formulierung, die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung sei dem System des AEUV im-
75 Assange v The Swedish Prosecution Authority [2012] UKSC 22, [2012] 4 All ER 1249 Rn. 203–217 (Lord Mance, dissenting). Zustimmend Lady Hale (dissenting) Rn. 175–176. 76 Assange v The Swedish Prosecution Authority [2012] UKSC 22, [2012] 4 All ER 1249 Rn. 10 (Lord Phillips), 112 (Lord Kerr), 121 (Lord Dyson), mit einer gewissen Zurückhaltung auch Rn. 98 (Lord Brown).
II. Diskussionspunkte in der Literatur
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manent, keinen neuen Anknüpfungspunkt für die Auslegungsverpflichtung angesprochen. Das ist lediglich ein anderer Ausdruck dafür, dass diese Verpflichtung aus dem AEUV hervorgeht, auch wenn sie dort nicht ausdrücklich niedergelegt ist. Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung gilt unabhängig davon, ob sie im nationalen Recht eigens verankert ist. Die primärrechtliche Umsetzungsverpflichtung bindet die Mitgliedstaaten und ist von ihnen ohne Weiteres zu beachten. Bereits der Beitritt zur Union bewirkt die Bindung.77
3. Die Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts Ob eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts möglich ist, ist nach der Rechtsprechung des EuGH von den nationalen Gerichten zu prüfen und zu entscheiden.78 Dieses Erfordernis der Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts bringt drei länderübergreifende Diskussionspunkte mit sich. Zunächst hat es Folgen für die Harmonisierungswirkung von Richtlinien. Diese Anforderung beschränkt außerdem die Möglichkeit, aus der Außenperspektive sinnvoll zu bestimmen, ob eine richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Rechts im Einzelfall möglich ist. Schließlich wird erörtert, ob der EuGH eine europäische methodische Vorrangregel aufgestellt hat. a) Folgen für die Harmonisierungswirkung von Richtlinien Da die nationalen Gerichte zu entscheiden haben, ob nationales Recht richtlinienkonform ausgelegt werden kann, liegt die Entscheidung darüber, ob ein richtlinienkonformes Ergebnis möglich ist, letztlich in der Hand des nationalen Richters. Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung ist keine Ergebnispflicht.79 Der Verweis des EuGH auf die nationalen Ausle-
77 S. zur Diskussion im deutschen Recht Herdegen, WM 2005, 1921, 1925–1926, der auf das Zustimmungsgesetz zum Beitritt und auf Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG abstellt. Ähnlich Roth/ Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 39, die sich allerdings allein auf Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG beziehen. Weber, Grenzen, S. 126, bemüht Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nur, um den Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung zu begründen. 78 S. oben S. 27. 79 Arnull, European Union, S. 212 –213; Bello Martı´n-Crespo, Directivas, S. 105, 124, 144; Coutron, RTDeur 2015, 39, 44, 59; Cudero Blas, in: EL juez nacional, S. 89, 93-94; Holdgaard/Elkan/Krohn Schaldemose, C.M.L. Rev. 55 (2018), 17, 32–34; Kovar, L’interpre´tation, S. 381, 386, 394; Lenaerts/Corthaut, EL Rev. 31 (2006), 287, 295; Lo´pez de los Mozos Dı´az-Madron˜ero, Directiva comunitaria, S. 121; Mangas Martı´n/Lin˜a´n Nogueras, Instituciones, S. 430; Michael/Payandeh, NJW 2015, 2392, 2395; Prinssen, Doorwerking, S. 208–209; Robin-Olivier, I CON 2014, 165, 179–180; Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 37; Sawyer, 28 Stat LR (2007), 165, 172; Simon, Re´pertoire de droit eu-
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
gungsmethoden ist nach einer Auffassung insofern ungünstig, als er unterschiedliche Ergebnisse in den verschiedenen Mitgliedstaaten nach sich ziehen kann.80 Nach anderer Ansicht führt der Verweis auf die nationalen Auslegungsmethoden zu einem harmonischeren Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht. Die sich durch unterschiedliche Methoden und Rechtskulturen ergebenden Unterschiede seien zu akzeptieren.81 Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Zwar ist der Harmonisierungserfolg eingeschränkt, wenn er bei nicht oder nicht korrekter Umsetzung der Richtlinie auch davon abhängt, ob das nationale Recht nach den nationalen Methoden richtlinienkonform ausgelegt werden kann. Diese Schranke der Richtlinienwirkung geht aber auf die Eigenheit der Richtlinie als Rechtssetzungsinstrument zurück. Da Richtlinien der Umsetzung bedürfen und diese Umsetzung nicht immer rechtzeitig und/oder fehlerfrei erfolgt, ist der eingeschränkte Harmonisierungserfolg in diesem Rechtssetzungsmittel angelegt. Das betrifft sowohl die zeitliche Komponente, also die Frage der rechtzeitigen Umsetzung, als auch die inhaltliche Komponente. Ist eine Richtlinie nicht oder nicht korrekt umgesetzt worden und eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich, muss (weiterhin) der in erster Linie zur Umsetzung aufgerufene Gesetzgeber handeln. Notfalls muss die Kommission den säumigen Mitgliedstaat durch ein Vertragsverletzungsverfahren dazu anhalten. So wird letztlich die Harmonisierungswirkung erreicht, auf die die Richtlinie abzielt. Wenn man diesen Weg abkürzt und bei Umsetzungsdefiziten das nationale Recht über die Grenze hinaus interpretiert, die die nationalen Methoden setzen, wird die Fehleranfälligkeit des Rechtssetzungsinstruments Richtlinie auf eine Art und Weise korrigiert, die ihrem Wesen nicht entspricht. Soll die Harmonisierung schneller oder sicherer erreicht werden, sollte der Unionsgesetzgeber auf die Verordnung zurückgreifen, was ihm freilich nicht stets gestattet ist.82 Damit zeigt sich, dass es bei der Begrenzung der richtlinienkonformen Auslegung durch nationale Methoden letztlich um Fragen der Kompetenzverteilung in der Union geht. Da die Umsetzung von Richtlinien rope´en, Rn. 133; ders., La panace´e de l’interpre´tation conforme, S. 279, 295; Steiner/ Woods, EU Law, 5.3.2, S. 140; Timmermans, Nouveau chapitre, S. 291, 301; Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 105–107. 80 Prechal, C.M.L. Rev. 42 (2005), 1445, 1459. Divergenzen bei der Auslegung bewerten auch Colneric, ZEuP 2005, 225, 233, und wohl auch Salus, Auslegung und Anwendung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 56, sowie Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 238, negativ. 81 Haket, REALaw 8 (2015), 215, 221. Neutral äußert sich Robin-Olivier, I CON 2014, 165, 180–181, die die Kontextabhängigkeit der richtlinienkonformen Interpretation hinsichtlich der Effektivität des Unionsrechts zwar als problematisch einstuft, diesen Umstand aber akzeptiert. 82 Selbst wenn der AEUV die Handlungsform nicht festlegt, kann die Richtlinie der Verordnung nach dem in Art. 5 Abs. 4 EUV verankerten Verhältnismäßigkeitsprinzip vorzuziehen sein, s. nur Streinz/Streinz, Art. 5 EUV, Rn. 16.
II. Diskussionspunkte in der Literatur
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in der Hand der Mitgliedstaaten liegt, sind Verzögerungen bei der Harmonisierung hinzunehmen. b) Fremdeinschätzungen zur Auslegungsfähigkeit Trotz der Entscheidungshoheit der nationalen Gerichte gehen einige Generalanwälte gelegentlich auf die Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts ein und äußern sich dazu, ob sie eine richtlinienkonforme Auslegung im Einzelfall für möglich halten.83 Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Solche Hinweise sind unschädlich, weil die Auslegungskompetenz beim nationalen Gericht verbleibt und die Ausführungen des Generalanwalts dem mitgliedstaatlichen Gericht lediglich eine Perspektive für das Verständnis des nationalen Rechts aufzeigen. Zudem kann der Blick von außen für das nationale Gericht hilfreich sein. In der Literatur werden derartige Vorstöße der Generalanwälte gelegentlich als übergriffig eingestuft. So heißt es, GA Bot habe in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Dansk Industri die Auslegung des dänischen Rechts durch den dänischen Obersten Gerichtshof korrigiert und damit in dessen Befugnisse eingegriffen. Ein solches Vorgehen laufe dem kooperativen Geist des Vorabentscheidungsverfahrens und der Gewichtsverteilung bei der richtlinienkonformen Interpretation entgegen.84 Dieser Einschätzung ist im Ergebnis nicht zu folgen, zumal der Generalanwalt sich bei seinen Ausführungen darauf stützen konnte, dass verschiedene andere (auch nationale) Stellen ein richtlinienkonformes Normverständnis für möglich hielten.85 Vor diesem Hintergrund mag die – gegebenenfalls ungläubige – Nachfrage erlaubt sein, ob das nationale Gericht wirklich keine Auslegungsmöglichkeit sieht.86 So werden diese Schlussanträge von anderen auch als zurückhaltende 83 GA Bobek 17.3.2016 EU:C:2016:194 (Pöpperl) Rn. 64; GA Bot 25.11.2015 EU:C:2015:776 (Dansk Industri) Rn. 52–71; GA Sharpston 10.9.2015 EU:C:2015:589 (Pfotenhilfe-Ungarn) Rn. 71; GA Kokott 6.5.2010 EU:C:2010:248 (Ingeniørforeningen i Danmark) Rn. 84; GA Mengozzi 21.1.2009 EU:C:2009:24 (Mono Car Styling) Rn. 15–23, 103–104. 84 Holdgaard/Elkan/Krohn Schaldemose, C.M.L. Rev. 55 (2018), 17, 34. S. auch Baldus/ Raff, GPR 2016, 71, 75. S. ferner die Überschrift bei Sˇadl/Mair, EuConst 13 (2017), 347, 360 (“Intrusive methods of interpretation”). 85 GA Bot 25.11.2015 EU:C:2015:776 (Dansk Industri) Rn. 61–63. Darauf weisen auch Madsen/Olsen/Sˇadl, ELJ 2017, 140, 144, hin. Ähnlich deutlich hat GA Bot sich in seinen Schlussanträgen zu den verbundenen Rechtssachen Bauer und Willmeroth, 29.5.2018, EU:C:2018:337 Rn. 42, zur Auslegungsfähigkeit nationalen Rechts geäußert, auch dort unter Verweis auf dem vorlegenden Gericht widersprechende Ansichten (Fn. 30). Holdgaard/Elkan/Krohn Schaldemose, C.M.L. Rev. 55 (2018), 17, 36, sehen selbst die Auslegungsbemühungen des dänischen Obersten Gerichtshofs durchaus kritisch. 86 Zu der Frage des Stils des dänischen Obersten Gerichtshofs und Kommunikationsstörungen zwischen diesem Gericht und dem EuGH Holdgaard/Elkan/Krohn Schaldemose,
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
Lösung (“modest solution”) bezeichnet.87 Das vorlegende Gericht kann solche Äußerungen so lange gelassen hinnehmen, wie es die Entscheidungsbefugnis in Auslegungsfragen des nationalen Rechts hat. Die Kritik lenkt den Blick allerdings auf einen Punkt, der bei Fremdeinschätzungen zur Auslegungsfähigkeit nationalen Rechts selten beachtet wird. Wenn die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung sich in methodischer Hinsicht nach nationalen Regeln richten, muss eine Fremdeinschätzung, wenn sie einen sinnvollen Diskussionsbeitrag leisten soll, diese Regeln beachten. Die Vorstellungen, die der einzelne Generalanwalt mit den Grenzen der Auslegung verbindet, mögen nicht den methodischen Regeln des Mitgliedstaates entsprechen, dessen Recht richtlinienkonform ausgelegt werden soll. Wer sich zur Auslegungsfähigkeit einer bestimmten Norm äußert, sollte das also unter den methodischen Vorzeichen der dazugehörigen Rechtsordnung tun.88 Mit noch größerer Vorsicht sind ergebnisorientierte Äußerungen des EuGH zu betrachten. Wie sich gezeigt hat, kann erhebliche Unsicherheit aufkommen, wenn die EuGH-Richter sich – wie in der Rechtssache Marleasing – in einer Art und Weise äußern, die man als Ergebnispflicht der richtlinienkonformen Auslegung im Einzelfall deuten kann, auch wenn das möglicherweise nicht gemeint war.89Alonso Garcı´a fordert den EuGH daher auf, Aussagen zur richtlinienkonformen Auslegung sorgfältig zu formulieren.90 Allerdings sollte nicht jede Aussage des EuGH zum einschlägigen nationalen Recht als Einmischung in die Kompetenzen des nationalen Gerichts gewertet werden.91 Es ist Aufgabe des EuGH, den Inhalt der Richtlinie klar vorzugeC.M.L. Rev. 55 (2018), 17, 18, 31–32, 34–36; Neergaard/Sørensen, YEL 36 (2017), 275, 279–280, 289, 291, 301. 87 Madsen/Olsen/Sˇadl, ELJ 2017, 140, 142. 88 In diesem Sinne bereits Holdgaard/Elkan/Krohn Schaldemose, C.M.L. Rev. 55 (2018), 17, 35–36, die sich in erster Linie gegen die Gleichsetzung von Wortsinngrenze und Contra-legem-Grenze wenden. Letztere werde wahrscheinlich in vielen Rechtssystemen nicht anhand des Wortsinns bestimmt. So spielten im dänischen Recht Gesetzgebungsmaterialien eine große Rolle. Vor diesem Hintergrund könne ein bestimmtes Auslegungsergebnis daher u.U. auch entgegen dem Wortsinn der Norm erzielt werden und sei umgekehrt die Offenheit des Wortsinns nicht mit der Auslegungsfähigkeit der Norm gleichzusetzen. 89 Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH nennt GA Colomer 27.4.2004 EU:C:2003:245 (Pfeiffer) Rn. 26–29, s. dort Rn. 31–35 auch eine Auflistung von Urteilen mit zurückhaltenderen Äußerungen. S. aus der Literatur noch Coutron, RTDeur 2015, 39, 58. 90 Alonso Garcı´a, Sistema, S. 314; ders., REDE 2008, 353, 376. Zustimmend Lo´pez Castillo, in: Instituciones, S. 219, 251. 91 In diesem Sinne wohl auch Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 104. S. ferner Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 45. So hat z.B. der EuGH in der Rechtssache Pupino lediglich ausgeführt, dass eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts in dem Fall nicht offensichtlich unmöglich sei. Ob eine solche Auslegung letztlich möglich ist,
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ben. Lässt sich das so umschriebene Ergebnis nur auf eine Art und Weise erzielen, ergibt sich daraus zugleich, wie das nationale Recht richtlinienkonform zu verstehen wäre. Zutreffend heißt es in der Literatur dazu, der EuGH zeige mit der detaillierten Auslegung des Gemeinschaftsrechts indirekt auf, welche Interpretation des nationalen Rechts ein richtlinienkonformes Ergebnis gewährleistet.92 Ob dieses richtlinienkonforme Ergebnis erzielt werden kann, ist damit noch nicht gesagt und auch nicht Gegenstand der Aussage des EuGH.93 c) Europäische methodische Vorrangregel Der EuGH hat mehrfach erklärt, dass die nationalen Gerichte das nationale Recht richtlinienkonform auslegen müssen, um die mit der Richtlinie verfolgten Ergebnisse zu erreichen, indem sie die dem Richtlinienzweck am besten entsprechende Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften wählen.94 Diese Rechtsprechung wird vereinzelt als europäische methodische Vorrangregel bezeichnet, die auf die nationale Methodik einwirken und – neben anderen methodischen Regeln des EuGH – eine hybride Methodik der richtlinienkonformen Auslegung bewirken soll. Dem richtlinienkonformen Auslegungsergebnis sei Vorrang vor allen anderen möglichen, aber richtlinienwidrigen Auslegungsvarianten zu geben. Für diese Vorrangregel beziehe sich der EuGH nicht auf nationale Methoden, er gebe sie vielmehr den Mitgliedstaaten vor.95 Dabei gehe es nur um die Auswahl unter mehreren Auslegungs-
überlässt er wie stets dem vorlegenden Gericht, EuGH 16.6.2005 EU:C:2005:386 (Pupino) Rn. 48. Dennoch wird das Urteil als Beispiel dafür gesehen, dass der EuGH trotz des Hinweises auf die Entscheidungskompetenz des nationalen Gerichts gelegentlich andeutet, dass eine richtlinienkonforme Auslegung möglich ist, Craig/de Bu´rca, EU Law, S. 248. Die Aussage lässt sich aber auch zwanglos wörtlich so verstehen, dass im Zeitpunkt der Entscheidung die Unmöglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung noch nicht feststand. 92 Kovar, L’interpre´tation, S. 381, 390. S. auch Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 104; Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 101. 93 Gelegentlich findet sich auch der Hinweis, dass eine richtlinienkonforme Auslegung, vorbehaltlich der Einschätzung des nationalen Gerichts, nach Lage der Akten eine Auslegung contra legem sein könnte, so EuGH 4.10.2018 EU:C:2018:810 (Link Logistic N&N) Rn. 60. 94 EuGH 17.10.2018 EU:C:2018:833 (Klohn) Rn. 34; EuGH 18.7.2013 EU:C:2013:488 (AES–3C Maritza East 1 EOOD) Rn. 53; EuGH 16.2.2012 EU:C:2012:92 (T. G. van Laarhoven) Rn. 37; EuGH 23.12.2009 EU:C:2009:807 (CoNISMa) Rn. 50; EuGH 22.12.2008 EU:C:2008:766 (Magoora) Rn. 44; EuGH 4.7.2006 EU:C:2006:443 (Adeneler) Rn. 124. 95 Brenncke, 39 Stat LR (2018), 134, 137–138; ders., EuR 2015, 440, 446–447; ders., JbJZW 25 (2014), 11, 14. S. ferner Brenncke, Judicial Law Making, S. 272, der dort S. 271 ausführt, dass er sich nicht mit der Frage auseinandersetzt, ob der EuGH die Kompetenz hat, europäische methodische Regeln (zur richtlinienkonformen Auslegung) aufzustellen,
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
ergebnissen, die nach nationalem Recht möglich sind. Ob es mehrere mögliche Auslegungsergebnisse gebe, richte sich nach den Auslegungskriterien des nationalen Rechts. Auch die Gewichtung der Kriterien sei nicht Gegenstand der Vorrangregel.96 Zunächst ist klarzustellen, dass eine europäisch motivierte methodische Vorrangregel nach der Rechtsprechung des EuGH tatsächlich frühestens dann greifen kann, wenn sich die Frage der Auswahl unter mehreren nach nationalen Methoden möglichen Auslegungsergebnissen stellt.97 Ein früher in die Auslegung einfließender Vorrang wäre nicht mit dem in der Rechtsprechung des EuGH verankerten Grundsatz vereinbar, dass die richtlinienkonforme Auslegung sich nach den nationalen Auslegungsmethoden richtet. Zur Anwendung nationaler Methoden zählen Auswahl und Gewichtung der Auslegungskriterien. Der Verweis auf die nationalen Methoden wäre eine Leerformel, wenn die richtlinienkonforme Auslegungsvariante stets andere Auslegungsmöglichkeiten verdrängte. Es ginge dann allein darum, ob ein richtlinienkonformes Verständnis der Norm überhaupt irgendwie möglich ist. Unabhängig davon stellt der EuGH mit dieser Formulierung aber keine europäische methodische Vorrangregel auf, die auf die nationale Methodik einwirkt oder sie gar überlagert.98 Er beschreibt vielmehr lediglich eine Folge der primärrechtlichen Umsetzungsverpflichtung. Diese Folge ist bedeutsam, weil sie Auslegungsergebnisse determinieren kann. Man kann in diesem Zusammenhang auch von einer Vorrangregel sprechen, weil es um die Auswahl unter mehreren zulässigen Auslegungsergebnissen geht und damit um die Frage, welche der Auslegungsvarianten vorzuziehen ist. Nationale methodische Regeln beeinflusst die Verpflichtung zur Wahl des richtlinienkonformen Ergebnisses bei Auswahl unter mehreren methodisch zulässigen Auslegungsergebnissen aber nicht. Wenn die methodischen Regeln des Mitgliedstaates die Auswahl unter mehreren zulässigen Auslegungsergebnissen bestimmen, gehört die Auswahl zur Anwendung der nationalen Methoden. Erst nach Abschluss dieses Auslegungsschrittes ist geklärt, was nach nationalen Methoden zulässig ist. Zu einer Auswahl nach einer europäischen Vorrangregel kann es dann nicht mehr kommen, weil die Auswahl bereits durch die nationalen Methoden erfolgte. Das so bestimmte Ergebnis ist entweder richtlinienkonform oder nicht. Wenn die methodischen Regeln des Mitgliedstaates die Auswahl unter mehreren zulässigen Auslegungsergebnissen dasondern es für seine Untersuchung nur darauf ankommt, dass deutsche und englische Gerichte solche Regeln anerkannt haben. 96 Brenncke, Judicial Law Making, S. 272; ders., 39 Stat LR (2018), 134, 138. Ihm folgend Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 36. 97 So auch die Auffassung von Brenncke, 39 Stat LR (2018), 134, 138. 98 So aber Brenncke, 39 Stat LR (2018), 134, 137; ders., EuR 2015, 440, 446.
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gegen nicht bestimmen, werden sie nicht beeinflusst, wenn nun aufgrund einer primärrechtlichen Verpflichtung die Auswahl in einer bestimmten Art und Weise zu treffen ist.
4. Die Änderung einer ständigen Rechtsprechung Der EuGH hat in mehreren Entscheidungen darauf hingewiesen, dass eine ständige Rechtsprechung die richtlinienkonforme Auslegung nicht hindert.99 Diese Aussage enthält keine Neuerung, sondern lediglich eine Klarstellung, die der EuGH aufgrund entsprechenden Vorbringens vorlegender Gerichte vornahm. Allein eine anderslautende Rechtsprechung steht der richtlinienkonformen Auslegung nicht entgegen.100 Maßgeblich ist, ob das nationale Recht auslegungsfähig ist.101 Im Zusammenhang mit der Rechtssache Dansk Industri hat der Gedanke, dass die richtlinienkonforme Auslegung eine Rechtsprechungsänderung nach sich ziehen kann, dennoch für erhebliche Unruhe gesorgt. Anlässlich der Schlussanträge zur Entscheidung Dansk Industri wurde die Sorge geäußert, die Entscheidung darüber, ob nationales Recht richtlinienkonform ausgelegt werden könne, könnte den nationalen Gerichten aus der Hand genommen werden.102 Der EuGH macht aber in seinem Urteil deutlich, dass er nicht über die Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts entscheidet, sondern lediglich dessen Auslegungsfähigkeit vom nationalen Gericht nicht allein deshalb verneint werden darf, weil es bisher in nicht richtlinienkonformer Weise verstanden wurde.103 Daher ist auch der Lesart des Urteils nicht zu 99
S. die Nachweise in Fn. 28. Aus der Literatur zustimmend Coutron, RTDeur 2017, 1–2; Holdgaard/Elkan/Krohn Schaldemose, C.M.L. Rev. 55 (2018), 17, 35, die diese Aussage als natürliche Konsequenz der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung ansehen. 101 S. auch die ausführlichen Erläuterungen von GA Bot 25.11.2015 EU:C:2015:776 (Dansk Industri) Rn. 51–73. S. ferner Haket, NtEr 2016, 237, 240. Bemerkenswert ist allerdings, dass nicht nur GA Bot, sondern auch ausländische Kommentatoren wie z.B. Coutron, RTDeur 2017, 1–2, und Vas Nunes, ArA 2016, 54, 64, sich nachdrücklich positiv zur Auslegungsfähigkeit des dänischen Rechts in diesem Punkt äußern, ohne sich mit den in Dänemark gebräuchlichen Auslegungsregeln auseinanderzusetzen. 102 Baldus/Raff, GPR 2016, 71, 73–75. In diese Richtung auch Vas Nunes, ArA 2016, 54, 62, der aus der Formulierung ableitet, dass der EuGH die Contra-legem-Grenze nicht für erreicht hält. 103 EuGH 19.4.2016 EU:C:2016:278 (Dansk Industri) Rn. 34 („allein deshalb“, „en raison du seul fait“, “by mere reason of the fact”, „por el mero hecho de que“). Dagegen wenden sich auch Baldus/Raff, GPR 2016, 71, nicht. Sie meinen, die Rechtsprechung selbst werde „kaum je sagen, sie sei der einzige Grund, der ihr selbst entgegenstehe“ (S. 73). Tatsächlich hat der Oberste Gerichtshof Dänemarks, Højesteret, in seinem Vorlagebeschluss nicht ausgeführt, weshalb er die Auslegung, die er in ständiger Rechtsprechung vertritt, für zutreffend hält und eine richtlinienkonforme Interpretation nicht für möglich 100
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folgen, nach der das Urteil so verstanden werden kann, dass der EuGH seine Interpretation des nationalen Rechts gegenüber der des nationalen Gerichts für vorrangig hält. Dieses mögliche Verständnis des Urteils wird daraus abgeleitet, dass es für nationale oberste Gerichte gewöhnungsbedürftig sei, wenn ihre Urteile verworfen werden und sie deshalb den Hinweis, ihre Rechtsprechung zu ändern, wenn die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung das verlangt, als Vorrang der Auslegung des EuGH vor der eigenen Auslegung verstehen könnten. Die Aussage des EuGH lasse erkennen, dass er möglicherweise nicht länger bereit sei, den Mitgliedstaaten die Wahl der Auslegungsmittel zu überlassen, wenn eine Verletzung von EU-Recht im Raum steht.104 Die Autoren, die diese Lesart in die Diskussion einbringen, erachtet (Højesteret, Entscheidung vom 22.9.2014, Sag 15/2014 Rn. 6.5, abrufbar unter htt p://domstol.fe1.tangora.com/media/-300016/files/15-2014.pdf; diese Passage ist ferner in englischer Sprache abgedruckt in einer inoffiziellen englischen Fassung der Folgeentscheidung des Højesteret vom 6.12.2016, abrufbar unter https://domstol.dk/media/2udgvv vb/judgment-15-2014.pdf). Auch in dem dort in Bezug genommenen Urteil vom 17.1.2014, Sag 96/2013, S. 6–7, abrufbar unter http://domstol.fe1.tangora.com/media/-300016/files/ 96-13 mfl.pdf, finden sich keine weiteren Erläuterungen. Holdgaard/Elkan/Krohn Schaldemose, C.M.L. Rev. 55 (2018), 17, 31, weisen darauf hin, dass diese knappen Ausführungen dem üblichen Stil des Gerichts entsprechen. Fehlende Erläuterungen im Vorlagebeschluss bedeuten auch nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Danks Industri nicht, dass das Gericht für diese Auffassung keine guten Gründe hat und sie letztlich nicht vertreten kann. Es ist nur daran gehindert, sich allein auf das Vorhandensein einer ständigen Rechtsprechung zu berufen. Tatsächlich hat der Højesteret in seiner soeben erwähnten Folgeentscheidung vom 6.12.2016, Sag 15/2014, S. 37–38, abrufbar unter http://domst ol.fe1.tangora.com/media/-300016/files/15-2014 1.pdf, ausgeführt, dass es das nationale Recht als klar und nicht im Sinne der RL 200/78/EG als auslegungsfähig ansieht, weil der Gesetzgeber in Kenntnis seiner ständigen, unter Rückgriff auf die Gesetzgebungsmaterialien begründeten Rechtsprechung zwar eine Änderung der Norm in einem anderen Punkt vorgenommen, sie im Übrigen aber unverändert gelassen hat (s. in der soeben erwähnten englischsprachigen Fassung S. 43). Das Gericht bestätigte so seine Auffassung, dass das nationale Recht sich nicht richtlinienkonform auslegen lässt. Holdgaard/Elkan/Krohn Schaldemose, C.M.L. Rev. 55 (2018), 17, 36, lassen eine gewisse Skepsis erkennen, ob der Højesteret sich wirklich gebührend um eine richtlinienkonforme Auslegung bemüht hat. Die einschlägige Regelung, § 2a des dänischen Angestelltengesetzes, wurde (erst) mit Wirkung zum 1.2.2015 richtlinienkonform gefasst, aktuelle Fassung abrufbar unter https://w ww.retsinformation.dk/Forms/R0710.aspx?id=179871. S. zu der stark am Gesetzestext und den Gesetzgebungsmaterialien orientierten Auslegungstradition in Dänemark Rytter/ Wind, I CON 2011, 470, 476–477. 104 Neergaard/Sørensen, YEL 36 (2017), 275, 288–289. Sˇadl/Mair, EuConst 13 (2017), 347, 354, 359, 360, stellen zwar fest, dass der EuGH die Frage der Auslegungsfähigkeit dem nationalen Gericht überlassen hat, sehen aber dennoch in der Entscheidung des EuGH Unverständnis für die nationale Auslegungstradition und die Haltung des dänischen Obersten Gerichtshofs, der sich im Wesentlichen als rechtsanwendende Institution ansehe und die Grenzen der Judikative in einem demokratischen Rechtssystem respektiere und für den die Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung unangenehm, wenn nicht gar demütigend sei.
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vertreten sie allerdings nicht als eigene Auffassung, sondern wahren mit Formulierungen wie „könnte“ und „möglicherweise“ durchweg Distanz. Abgesehen davon, dass es sich damit bislang um eine Auffassung ohne Anhänger handelt, kann von einer Verwerfung mitgliedstaatlicher Urteile durch den EuGH keine Rede sein. Auch setzt der EuGH sich unmittelbar im Anschluss an die Passage zur möglichen Änderung einer bestehenden Rechtsprechung mit der Situation auseinander, dass ein richtlinienkonformes Ergebnis nicht erzielt werden kann.105 Das zeigt, dass er dem nationalen Gericht weder eine bestimmte Auslegung noch die Wahl der Auslegungsmittel vorschreibt und weiterhin bereit ist, Entscheidungen nationaler Gerichte zu akzeptieren, die eine richtlinienkonforme Auslegung des einschlägigen nationalen Rechts nicht für möglich halten.
5. Die nationalen Regeln zur Vermeidung von Normkollisionen Der EuGH hat in zwei Urteilen angemerkt, das nationale Gericht habe bei der richtlinienkonformen Auslegung auch Methoden anzuwenden, die im nationalen Recht Normkollisionen vermeiden oder die Reichweite einer Regelung einschränken, soweit diese mit einer anderen nicht vereinbar ist.106 Diese Formulierung ist von mehreren Generalanwälten aufgegriffen worden, ohne dass sie sie aber für den konkreten Fall für (möglicherweise) relevant erklärt haben.107 Sie wird auch in den untersuchten Mitgliedstaaten diskutiert. Ein Teil der Literatur versteht diese Äußerung des EuGH als Anspielung auf die verfassungs- oder primärrechtskonforme Auslegung. In einigen Rechtsordnungen habe der Richter in solchen Fällen große Freiheit, das nationale Recht abweichend vom Wortsinn zu interpretieren.108 Zu Recht 105 EuGH 19.4.2016 EU:C:2016:278 (Dansk Industri) Rn. 35. Auch deshalb kann Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 79, nicht gefolgt werden, der von einer Korrektur des Contra-legem-Befundes des nationalen Gerichts spricht. Um eine Korrektur handelt es sich allenfalls insofern, als allein mit der ständigen Rechtsprechung die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung nicht abgelehnt werden darf. 106 EuGH 16.7.2009 EU:C:2009:466 (Mono Car Styling) Rn. 63; EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 116. 107 GA Bot 25.11.2015 EU:C:2015:776 (Dansk Industri) Rn. 45; GA Sharpston 11.7.2013 EU:C:2013:472 (Endress) Rn. 68; GA Trstenjak 8.9.2011 EU:C:2011:559 (Dominguez) Rn. 66; GA Jääskinen 22.4.2010 EU:C:2010:221 (Sorge) Rn. 69; GA Mengozzi 29.3.2007 EU:C:2007:199 (Rampion und Godard) Rn. 37; GA Kokott 7.9.2006 EU:C: 2006:523 (Hutchison) Rn. 150. 108 Colneric, ZEuP 2005, 225, 232; Hartkamp, Deel I, Rn. 183, der für das niederländische Recht auch ansonsten Spielräume sieht, vom Wortsinn einer Norm abzuweichen. Für das deutsche Recht befürworten Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51–52, mit Blick auf diese Aussage des EuGH die „richtlinienkonforme Rechtsfindung contra legem“. Dazu,
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weist Timmermans darauf hin, dass nicht das Rangprinzip gemeint sein kann, weil Richtlinien ansonsten über die Auslegung des nationalen Rechts praktisch Horizontalwirkung zukäme, die das Unionsrecht ihnen gerade nicht zuweist. Wenn die richtlinienkonforme Auslegung keine Basis für eine Auslegung contra legem sei, könne sie den nationalen Richter auch nicht verpflichten, eine richtlinienwidrige Norm unter Berufung auf das Rangprinzip außer Acht zu lassen. Das Rangprinzip löse Konflikte zwischen Normen verschiedenen Rangs und sei damit eine Konfliktregel, keine Auslegungsmethode, wie sie der EuGH in der Rechtssache Pfeiffer im Blick gehabt habe.109 Einige bringen diese Vorgabe des EuGH zu Recht mit dem Äquivalenzprinzip in Zusammenhang.110 Der nationale Richter soll nicht vorschnell eine richtlinienkonforme Auslegung für unmöglich erklären. Wenn die nationalen Methoden Lösungen für Konflikte innerstaatlicher Normen aufzeigen, lässt sich das möglicherweise im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung fruchtbar machen.111 Der EuGH fordert dazu auf, die nationalen methodischen Regeln auszuschöpfen und Auslegungsfragen im Zusammenhang mit Unionsrecht ebenso zu behandeln wie Interpretationsprobleme in rein nationalem Kontext. Ob passende Regeln bestehen, die im Kontext der richtlinienkonformen Auslegung angewendet werden können, ohne ihren Charakter zu verändern, richtet sich allein nach der nationalen Methode, ebenso wie die Reichweite solcher „Kollisionsregeln“.
6. Die Umsetzungsabsicht und Argumente aus der Entstehungsgeschichte Zwei Urteilen des EuGH zufolge sollen die nationalen Gerichte davon ausgehen, dass der Gesetzgeber die Richtlinie korrekt umsetzen wollte.112 Obdass im deutschen Recht Kollisionsgesichtspunkte eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nicht tragen, S. 141–142. 109 Timmermans, Nouveau chapitre, S. 291, 301–302. 110 GA Bot 24.3.2009 EU:C:2009:183 (Wolzenburg) Rn. 89; Brenncke, Judicial Law Making, S. 269–270; ders., EuR 2015, 440, 450; ders., 39 Stat LR (2018), 134, 136 (der allerdings durchgängig meint, dass der EuGH in der einschlägigen Passage des Urteils über das Äquivalenzprinzip hinausgeht); Kovar, L’interpre´tation, S. 381, 393; Michael/Payandeh, NJW 2015, 2392, 2395; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 912–913; Weber, Grenzen, S. 98. S. auch Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 31–32, die darin zugleich eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der richtlinienkonformen Auslegung sehen. Der Sache nach auch Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 43, der allerdings das Äquivalenzprinzip nicht erwähnt. 111 S. für Deutschland zur Parallele zur verfassungskonformen Auslegung S. 133–138. 112 EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 112; EuGH 16.12.1993 EU:C:1993:945 (Wagner Miret) Rn. 20. S. dazu oben S. 29–30.
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wohl er diese Aussage seit Jahren nicht mehr aufgegriffen hat, schenkt ein Teil der Literatur dieser sogenannten Umsetzungsvermutung viel Aufmerksamkeit. Das beruht u.a. auf der Verknüpfung dieser Vermutung mit einer vereinzelten Aussage des EuGH zum Stellenwert der Materialien bei der richtlinienkonformen Auslegung.113 Eine derartige Umsetzungsvermutung lässt sich – so wie die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung – mit dem EuGH auf Art. 288 Abs. 3 AEUV zurückführen.114 Die Mitgliedstaaten können nicht von Fall zu Fall entscheiden, ob und inwieweit sie Richtlinien in das nationale Recht umsetzen wollen. Sie haben lediglich die Wahl der Mittel, sind aber auf die Ziele der Richtlinie festgelegt. Diese Art der Rechtssetzung ist nur sinnvoll, wenn den Mitgliedstaaten der Wille unterstellt wird, Richtlinien generell korrekt umzusetzen. Die Umsetzungsvermutung ist damit für sich betrachtet keine besondere, eigenständige Verpflichtung und hat letztlich keinen bestimmenden Einfluss auf die Interpretation nationaler Rechtsnormen.115 Insbesondere enthält sie kein Vorrangelement. Das zeigt sich auch in der Entscheidung Wagner Miret, in der die Fünfte Kammer zwar die Umsetzungsvermutung aufstellt, dann aber erwähnt, dass nach dem Vorlagebeschluss eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich zu sein scheint.116 Maßgeblich ist, ob 113
EuGH 29.4.2004 EU:C:2004:275 (Björnekulla Fruktindustrier) Rn. 13, dazu sogleich. Wenig diskutiert wird zu Recht der Anwendungsbereich der Umsetzungsvermutung. Nach Brenncke, 39 Stat LR (2018), 134, 139–140, soll sie nur gelten, wenn entweder ein Umsetzungsgesetz erlassen wurde oder der Gesetzgeber davon abgesehen hat, weil er die vorhandenen Regelungen für ausreichend hielt. Sie gelte nicht, wenn der Gesetzgeber die Richtlinie unbewusst nicht umgesetzt hat, die Umsetzung der Richtlinie bewusst verweigert oder er weder tätig wurde noch das nationale Recht für ausreichend hielt. (S. ferner Brenncke, Judicial Law Making, S. 273. Ähnlich, aber hinsichtlich der Fallgruppe der bewussten Nichtumsetzung noch offen bereits Brenncke, EuR 2015, 440, 448.) Abgesehen davon, dass die beiden ersten Fallgruppen der Nichtanwendung theoretischer Natur sein dürften und sich die dritte in der Praxis nur mit Mühe von dem Fall abgrenzen lässt, dass der Gesetzgeber das bereits vorhandene Recht für ausreichend hielt, ist zweifelhaft, ob diese Differenzierung sich aus den zwei einschlägigen Urteilen tatsächlich ableiten lässt. Da der EuGH sich in der Rechtssache Pfeiffer für die Umsetzungsvermutung auf die Umsetzungspflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV stützt, ist eher anzunehmen, dass sie – wie die Umsetzungspflicht – stets gilt, auch wenn sie sich nicht unbedingt immer bestätigen lässt. 114 S. zur Herleitung der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung oben S. 34–41. 115 Für den wohl eher theoretischen Fall, dass die Auslegung der nationalen Norm nach den nationalen Methoden so offen ist, dass die Umsetzungsvermutung doch einmal den Ausschlag gibt, liegt darin kein erheblicher Eingriff in nationale Auslegungsmethoden. 116 EuGH 16.12.1993 EU:C:1993:945 (Wagner Miret) Rn. 20, 22. A.A. Brenncke, Judicial Law Making, S. 275; ders., 39 Stat LR (2018), 134, 142; ders., JbJZW 25 (2014), 11, 15–16, der ein solches Vorrangelement aus der Björnekulla-Entscheidung ableiten will (dazu sogleich).
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die Auslegung der nationalen Norm die Umsetzungsvermutung bestätigt.117 Das ist anhand der nationalen Methoden zu bestimmen. Der EuGH scheint der Umsetzungsvermutung ebenfalls keine erhebliche Bedeutung zuzumessen, da er sie seit 2004 nicht mehr erwähnt hat. Nach einem Urteil der Sechsten Kammer besteht die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung auch dann, wenn die Gesetzgebungsmaterialien für eine nicht richtlinienkonforme Auslegungsvariante sprechen.118 Ein Teil der Literatur hält deshalb Argumente aus der Entstehungsgeschichte im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung für unbeachtlich.119 Einige Autoren setzen dabei dieses Urteil zu der soeben behandelten Umsetzungsvermutung in Beziehung. Aufgrund der Björnekulla-Entscheidung – die selbst die Umsetzungsvermutung nicht erwähnt – komme der generelle Umsetzungswille des Gesetzgebers auch dann zur Geltung, wenn dieser konkrete Vorstellungen gehabt habe, die zu einem richtlinienwidrigen Auslegungsergebnis führen.120 So verstanden würde das Björnekulla-Urteil bedeuten, dass der EuGH über den Stellenwert eines Auslegungskriteriums des nationalen Rechts im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung entscheidet.121 Dasselbe geht freilich bereits ohne die Verknüpfung mit der Umsetzungsvermutung aus der Björnekulla-Entscheidung hervor. Nach diesem Urteil käme den Materialien als Erkenntnisquelle für den Willen des Gesetzgebers im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung nur dann Bedeutung zu, wenn sie für ein richtlinienkonformes Auslegungsergebnis sprechen. In anderen Fällen hätten die Materialien kein entscheidendes Gewicht. Nur am Rande sei 117 In diesem Sinne auch Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 38–40, der im Rahmen seiner Ausführungen zu den vom EuGH aufgestellten Anforderungen an die richtlinienkonforme Auslegung jedoch der Vermutung größeres Gewicht beimisst, indem er andere historische und teleologische Argumente zurücktreten lässt. Aus der Rechtsprechung des EuGH lässt sich das allerdings nicht ableiten. 118 EuGH 29.4.2004 EU:C:2004:275 (Björnekulla Fruktindustrier) Rn. 13. 119 Alonso Garcı´a, Sistema, S. 307; ders., REDE 2008, 353, 367; Klamert, C.M.L. Rev. 43 (2006), 1251, 1259–1260. Prechal, C.M.L. Rev. 42 (2005), 1445, 1459, meint in Fn. 38, die Entscheidung Björnekulla scheine zu bestätigen, dass die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Auslegungsmethoden Grenzen setzen könne. Entgegen Haket, REALaw 8 (2015), 215, 220, liegt darin keine „differenzierte“ Interpretation des Urteils, da „Grenzen setzen“ in diesem Kontext sinnvoll nur als unbeachtlich verstanden werden kann. 120 Brenncke, Judicial Law Making, S. 275; ders., 39 Stat LR (2018), 134, 141–142; ders., JbJZW 25 (2014), 11, 16 (der jeweils betont, dass das nur bei irrtümlich fehlerhafter Umsetzung gelte); Smits/van Schagen, in: Het zwijgen, S. 79, 81; Wissink, in: Influence of EU Law, S. 119, 151. Ohne Rückgriff auf die Björnekulla-Entscheidung (also allein auf die Vermutung des Umsetzungswillens des Gesetzgebers gestützt) Bello Martı´n-Crespo, Directivas, S. 123. 121 Brenncke, Judicial Law Making, S. 275; ders., 39 Stat LR (2018), 134, 142–143; Roth/ Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 28.
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angemerkt, dass das vorlegende Gericht sich mit der Äußerung der Sechsten Kammer des EuGH zum Stellenwert der Materialien nicht auseinandersetzen musste, weil der Rechtsstreit sich nach der Entscheidung des EuGH im Vergleichsweg erledigt hat.122 Die Björnekulla-Entscheidung ist schwerlich anders zu verstehen, als dass Argumente aus der Entstehungsgeschichte nachrangig sein sollen, wenn sie der richtlinienkonformen Auslegung entgegenstehen.123 Sie ist jedoch nicht repräsentativ für die Haltung des EuGH zu den Gesetzgebungsmaterialien, weshalb der EuGH – unabhängig von der Frage, ob er dazu die Kompetenz hätte124 – letztlich keine verbindliche Vorgabe zur Gewichtung der Entstehungsgeschichte im Auslegungsprozess macht. Zunächst hat keine Kammer des Gerichts diese Aussage zum Stellenwert der Gesetzgebungsmaterialien jemals wieder aufgegriffen. Außerdem verweist der EuGH zumindest seit dem kurz nach dem Björnekulla-Urteil von der Großen Kammer erlassenen Pfeiffer-Urteil hinsichtlich der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung klar auf die nationalen Auslegungsmethoden.125 Schließlich hat er seit dem Pfeiffer-Urteil nicht mehr darauf abgestellt, dass die Absicht zur vollständigen Umsetzung der Richtlinie zu vermuten ist.126 Insgesamt spricht also viel dafür, dass der EuGH (aktuell) nichts über den Stellenwert der Materialien bei der Auslegung nationalen Rechts sagen will.127
122 Zeitungsberichten zufolge hat Björnekulla sich mit Felix vor der Entscheidung des vorlegenden schwedischen Gerichts, des Svea hovrätt, darauf geeinigt, den Namen Bostongurka nicht mehr zu verwenden. Das Produkt wird inzwischen als Hackad Gurka vermarktet, s. den Bericht in Dagens Handel vom 3.1.2006, abrufbar unter https://www.d agenshandel.se/article/view/319914/ingen bostongurka for bjornekulla. 123 Dagegen sprechen Neergaard/Sørensen, YEL 36 (2017), 275, 287, sich für eine abschwächende Lesart des Urteils aus, die auf den entschiedenen Fall bezogen ist. Es habe sich um ein Umsetzungsgesetz gehandelt, sodass der Gesetzgeber mangels EuGH-Rechtsprechung die Tragweite der umzusetzenden Richtlinie nicht ermessen konnte. Außerdem sei der Wille zur korrekten Umsetzung klar erkennbar gewesen. Zumindest das erste Argument dürfte allerdings für Umsetzungsgesetze stets gelten, sodass auch diese Lesart des Urteils letztlich die Bedeutung der Materialien erheblich beeinflusst. Abschwächend auch Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 40, der Aussagen aus den Materialien zurücktreten lässt, wenn genügend Anhaltspunkte für ein richtlinienkonformes Normverständnis gegeben sind. 124 Ablehnend zu Recht Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 20; Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 61; Herdegen, WM 2005, 1921, 1926. S. auch Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 37–38. 125 EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 116. S. weitere Nachweise in Fn. 17. 126 S. oben S. 30. Dieses Argument verwenden auch Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 29. 127 In diesem Sinne auch Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 95, 103–104; EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 85. Zurückhaltend zur Bedeutung des Björnekulla-Urteils auch Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 28–29, die allerdings in der Rechtspre-
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Kapitel 3: Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Auslegung
7. Die Contra-legem-Grenze Die richtlinienkonforme Auslegung kann nach der Rechtsprechung des EuGH nicht als Basis für eine Auslegung contra legem dienen.128 Da die methodischen und funktionalen Grenzen sich gerade nicht nach Vorgaben des EuGH, sondern nach den nationalen Regeln richten, werden die Auffassungen zur Contra-legem-Grenze bei den jeweiligen Länderberichten und im vergleichenden Teil behandelt. Angesichts des Verweises auf die nationalen Methoden ist es nach hier vertretener Ansicht nicht sinnvoll, zu fragen, ob sich aus der Rechtsprechung des EuGH eine allgemeingültige Antwort, z.B. im Sinne einer Wortsinngrenze, ergibt.129 Allerdings sind nach Prechal angesichts der Aufforderung, „soweit wie möglich“ richtlinienkonform auszulegen, die nationalen Methoden im Lichte der gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen anzupassen.130 Sie erwähnt in diesem Kontext die Entwicklung im United Kingdom, wo zunächst nur Umsetzungsrecht richtlinienkonform interpretiert wurde.131 Insoweit geht es aber wohl eher um den Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung als um die Anpassung von Auslegungsmethoden. Andere Stimmen in der Literatur verweisen zu Recht auf das Pfeiffer-Urteil, in dem der EuGH ausdrücklich auf die nationalen Methoden Bezug nimmt und sehen die nationalen Gerichte nicht in der Pflicht, neue Auslegungsmethoden zu erfinden oder zu übernehmen.132 Der EuGH habe auch nicht die Kompetenz, nationale Methoden im Kontext der richt-
chung des EuGH einen Hinweis darauf vermissen, ob sich der Begriff des Contra-legemJudizierens auf die nationalen Methoden bezieht oder unionsautonom auszulegen ist. Der Verweis des EuGH auf die nationalen Auslegungsmethoden (s. Fn. 17) ist aber nur dann sinnvoll, wenn er sich auf die Frage erstreckt, unter welchen Umständen contra legem entschieden wird. Gegen eine Deutung als generelle Zurückweisung der Bedeutung von Materialien auch Neergaard/Sørensen, YEL 36 (2017), 275, 287. 128 EuGH 4.10.2018 EU:C:2018:810 (Link Logistic N&N) Rn. 59; EuGH 28.6.2018 EU:C:2018:511 (Crespo Rey) Rn. 71; EuGH 19.4.2016 EU:C:2016:278 (Dansk Industri) Rn. 32; EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez) Rn. 25; EuGH 10.3.2011 EU:C:2011:129 (Kumpan) Rn. 54; EuGH 23.4.2009 EU:C:2009:250 (Angelidaki) Rn. 199; EuGH 15.4.2008 EU:C:2008:223 (Impact) Rn. 100; EuGH 4.7.2006 EU:C:2006:443 (Adeneler) Rn. 110. Der EuGH äußert sich nicht weiter zum Inhalt dieser Formel. Entgegen der Auffassung von Nielsen/Tvarnø, Europarättslig Tidskrift 2017, 303, 319, hat er das auch in der Entscheidung Dansk Industri nicht getan. So auch Neergaard/Sørensen, YEL 36 (2017), 275, 290. 129 Dagegen scheinen Brenncke, Judicial Law Making, S. 278 und Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 301, eine Antwort auf diese Frage zu vermissen. 130 Prechal, C.M.L. Rev. 42 (2005), 1445, 1459. S. auch dies., Directives, S. 199. 131 Prechal, Directives, S. 199. 132 Schütze, European Union Law, S. 106, unter Berufung auf EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 116.
III. Zusammenfassung
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linienkonformen Interpretation hintanzustellen.133 Eine mittlere Position nimmt wohl die Auffassung ein, nach der zwar nur die im nationalen Recht anerkannten Methoden anzuwenden sind, das aber in Fällen, in denen sie ansonsten nicht anwendbar wären.134
III. Zusammenfassung Der EuGH erinnert die Gerichte der Mitgliedstaaten in zahlreichen Urteilen an die Verpflichtung, das nationale Recht so weit möglich in Übereinstimmung mit Richtlinienrecht zu interpretieren. Die Gerichte müssen dabei einige Anstrengungen unternehmen. Sie dürfen z.B. eine richtlinienkonforme Interpretation nicht unter Hinweis auf eine ständige anderslautende Rechtsprechung ablehnen. Ferner dürfen sie unter dem Gesichtspunkt der Äquivalenz nationale Kollisionsregeln nicht nur deshalb unangewendet lassen, weil ein Konflikt bei der Interpretation nicht rein nationaler Natur ist, sondern im Kontext von Richtlinienrecht auftritt. Neben Grenzen aus allgemeinen Rechtsprinzipien begrenzt vor allem das Verbot der Auslegung contra legem die richtlinienkonforme Auslegung. Sowohl die Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts als auch die Grenzen, die die nationalen Methoden der Interpretation setzen, bestimmen sich aus der nationalen Perspektive. Dadurch ist es schwierig, aus der Außenperspektive eine fundierte Einschätzung dazu abzugeben, ob eine richtlinienkonforme Interpretation im Einzelfall möglich ist. Der Verweis auf die nationalen Methoden setzt ferner der Harmonisierungswirkung von Richtlinien im Wege der Interpretation Grenzen.
133 Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 20; Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 61; Herdegen, WM 2005, 1921, 1926. S. auch Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 37–38. 134 Arnull, European Union, S. 214 (“ […] must at the very least mean that those methods must be used in circumstances in which they would not otherwise apply.”). Allerdings ist nicht recht ersichtlich, was diese “circumstances” ausmacht.
Kapitel 4
Deutschland „Um den Begriff der ,Rechtsfindung contra legem‘ herrscht erhebliche Verwirrung, deren Milderung schon aus Gründen einer gewissen methodischen Klarheit eine vordringliche Aufgabe ist. Alles und jedes wird vertreten.“1
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung Nach einem Überblick über die gesetzliche Regelung zu den hier untersuchten urlaubsrechtlichen Fragen wird in den darauffolgenden Punkten erörtert, wie die Rechtsprechung mit den Umsetzungsdefiziten umgegangen ist und wie sich die Literatur dazu geäußert hat.
1. Die gesetzliche Regelung im Überblick Der Jahresurlaub ist im Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) geregelt (nachfolgend: BUrlG). Der Gesetzgeber hat das BUrlG im Nachgang zu den für diese Untersuchung einschlägigen EuGH-Urteilen nicht verändert. Nach den §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG hat jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub im Umfang von 24 Werktagen. Eine Mindestbeschäftigungszeit ist nicht vorgesehen. Gem. § 7 Abs. 3 S. 1, 2 BUrlG verfällt der Urlaub grundsätzlich mit Ablauf des laufenden Kalenderjahres. Er kann nur auf das nächste Kalenderjahr übertragen werden, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe die Übertragung rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub nach § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden. Eine Ausnahme für Fälle, in denen der Urlaub krankheitsbedingt nicht genommen werden konnte, enthält das Gesetz nicht. Ob ein Arbeitnehmer 1
Bydlinski, Lex-lata-Grenze, S. 27, 33.
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Kapitel 4: Deutschland
während einer Erkrankung Urlaub erwirbt, ist nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt. Zum Zusammentreffen von Urlaub und Krankheit findet sich allein § 9 BUrlG. Nach dieser Norm werden attestierte Krankheitstage nicht auf den Jahresurlaub angerechnet, wenn der Arbeitnehmer während des Urlaubs erkrankt.
2. Die Mindestbeschäftigungszeit Wie bereits erwähnt, ist eine Mindestbeschäftigungszeit gesetzlich nicht vorgesehen. § 4 BUrlG regelt zwar eine Wartezeit von sechs Monaten für den Erwerb des vollen Urlaubsanspruchs. Diese Wartezeit gilt allerdings nur zu Beginn des Arbeitsverhältnisses, ist also nicht jedes Jahr neu zu absolvieren.2 Außerdem erwirbt der Arbeitnehmer gem. § 5 Abs. 1 lit. a) und b) BUrlG Teilurlaubsansprüche, wenn er im ersten Beschäftigungsjahr wegen Nichterfüllung der Wartezeit keinen vollen Urlaubsanspruch erwirbt oder vor erfüllter Wartezeit aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet. Trotz der Wartezeit steht dem Arbeitnehmer also Urlaub entsprechend seiner Beschäftigungsdauer zu.
3. Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Der Urlaubsanspruch entsteht unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer Arbeit geleistet hat.3 Arbeitnehmer erwerben daher auch für Krankheitszeiten Urlaubsansprüche. Die urlaubsrechtliche Rechtsprechung des EuGH hat das deutsche Recht in diesem Punkt nicht beeinflusst.
4. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen Wie bereits erwähnt, verfällt nicht genommener Urlaub grundsätzlich am Ende des Kalenderjahres. § 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG sieht eine Übertragung nur vor, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe vorliegen. In diesen Fällen wird der Urlaub kraft Gesetzes auf das Folgejahr übertragen.4 Die Übertragung ist allerdings befristet, der Übertragungszeitraum beträgt gem. § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG drei Monate. Tarifvertragliche Übertragungsregeln sind nach § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG zulässig. Dabei sind auch Regelungen zuungunsten der Arbeitnehmer möglich. Die Tarifvertragsparteien können die Übertragung des Urlaubs erleichtern oder
2
BeckOK/Lampe, § 4 BUrlG, Rn. 5; ErfK/Gallner, § 4 BUrlG, Rn. 5. BAG 23.1.2018 DE:BAG:2018:230118.U.9AZR200.17.0 Rn. 16; BeckOK/Lampe, § 1 BUrlG, Rn. 11. 4 BAG 9.8.1994 – 9 AZR 384/92 – NZA 1995, 174, 175. 3
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
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ausschließen, sie können den Übertragungszeitraum verändern oder die Befristung auf das Urlaubsjahr ganz abschaffen.5 Im Einzelarbeitsvertrag können dagegen nur für den Arbeitnehmer günstigere Regelungen vereinbart werden, § 13 Abs. 1 S. 3 BUrlG.6
5. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Die Rechtslage zur Übertragbarkeit und zum Verfall von Mindesturlaubsansprüchen bei Krankheit hat sich in Deutschland aufgrund der Urteile Schultz-Hoff und KHS verändert. Das beruht allein auf einer neuen Interpretation des § 7 Abs. 3 BUrlG durch die Rechtsprechung. Der Gesetzgeber hat die einschlägige Regelung des BUrlG nicht geändert. Die Erkrankung des Arbeitnehmers ist ein in der Person des Arbeitnehmers liegender Grund für die Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr. § 7 Abs. 3 BUrlG enthält keine Ausnahme für den Fall der Langzeiterkrankung, weshalb es naheliegt, die Norm auch in solchen Fällen anzuwenden. Dann gilt bei Langzeiterkrankung ebenfalls der dreimonatige Übertragungszeitraum. Nach Ablauf dieser Zeit erlischt der Urlaubsanspruch, ohne dass es darauf ankommt, ob der Arbeitnehmer genesen ist und so Gelegenheit hatte, den übertragenen Urlaub zu nehmen. Wenn sich § 7 Abs. 3 BUrlG nur so verstehen lässt, widerspricht die Rechtslage in Deutschland den Vorgaben des Art. 7 RL 2003/88/EG, wie sie durch die EuGHRechtsprechung konkretisiert sind. a) Die Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen Zur Frage der Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen bei Krankheit hat sich die Rechtsprechung des BAG aufgrund der einschlägigen Urteile des EuGH erheblich gewandelt. aa) Die Rechtsprechung des BAG vor 2009 Zwischen 1982 und 2009 hat das BAG § 7 Abs. 3 BUrlG ohne Modifikationen auf Fälle angewendet, in denen Mindesturlaub infolge einer Erkrankung auf das Folgejahr übertragen wurde und die Erkrankung in den ersten drei Monaten des Folgejahres fortbestand.7 5
ErfK/Gallner, § 13 BUrlG, Rn. 13. Ungünstigere einzelvertragliche Abreden sind nach dieser Norm allein hinsichtlich der Regelung des § 7 Abs. 2 S. 2 BUrlG zulässig, nach der bei einem Anspruch auf mehr als zwölf Urlaubstage mindestens zwölf aufeinanderfolgende Urlaubstage zusammenhängend zu gewähren sind. 7 Grundlegend BAG 13.5.1982 – 6 AZR 360/80 – AP Nr. 2 zu § 7 BUrlG Übertragung. S. aus jüngerer Zeit BAG 21.6.2005 – 9 AZR 200/04 – AP Nr. 11 zu § 55 InsO. 6
60
Kapitel 4: Deutschland
Vor 1982 vertrat das Gericht die Auffassung, dass krankheitsbedingt nicht genommener Urlaub nicht im Wege der Übertragung nach § 7 Abs. 3 BUrlG, sondern automatisch auf das Folgejahr übergeht. § 7 Abs. 3 BUrlG regele nicht den Fall, dass es dem Arbeitnehmer krankheitsbedingt unmöglich war, den Urlaub im Kalenderjahr oder im Übertragungszeitraum zu nehmen. Die Norm habe Unmöglichkeitsfälle nicht vor Augen.8 Der Anspruch war nach dieser älteren Rechtsprechung nicht auf die ersten drei Monate des Folgejahres begrenzt. Ob er am Ende des Folgejahres bei fortdauernder Erkrankung fortbestand, war nicht entscheidungserheblich und wurde daher nicht geklärt.9 Diese Rechtsprechung gab das BAG im Jahr 1982 auf. Die Unmöglichkeit der Urlaubsgewährung infolge Krankheit sei in § 7 Abs. 3 BUrlG mitgeregelt. Nach Ablauf des dreimonatigen Übertragungszeitraums erlösche der Urlaub.10 Bei dieser Anwendung der Norm blieb das Gericht bis zum Jahr 2009. bb) Die Rechtsprechung des BAG nach dem Urteil Schultz-Hoff Das BAG hatte im Jahr 2009 kurz nach der Schultz-Hoff-Entscheidung des EuGH über den Abgeltungsanspruch einer Arbeitnehmerin zu entscheiden, die ihren Urlaub vor Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses krankheitsbedingt nicht in Anspruch nehmen konnte. In diesem Kontext hat das Gericht seine Rechtsprechung zum Verfall des Urlaubs im Fall der Erkrankung geändert und entschieden, dass der gesetzliche Urlaub nicht verfällt, wenn der Arbeitnehmer ihn krankheitsbedingt im Urlaubsjahr oder in den ersten drei Monaten des Folgejahres nicht nehmen konnte. Im Ergebnis ist das BAG damit zu seiner Rechtsprechung aus der Zeit vor 1982 zurückgekehrt, die Begründung fällt allerdings anders aus. Das BAG spricht sich in dieser Entscheidung für eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung der Absätze 3 und 4 des § 7 BUrlG aus.11 Es stützt sich auf die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung, die vom nationalen Richter verlange, das gesamte innerstaatliche Recht zu berücksichtigen, um zu beurteilen, inwieweit es angewendet werden kann, damit kein der Richtlinie widersprechendes Ergebnis herbeigeführt wird. Ermögliche es das nationale Recht durch Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen 8
BAG 13.11.1969 – 5 AZR 82/69 – AP Nr. 4 zu § 7 BUrlG Übertragung. BAG 13.11.1969 – 5 AZR 82/69 – AP Nr. 2 zu § 7 BUrlG Übertragung. Der Senat erwog eine Umwandlung in einen Abgeltungsanspruch bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit. Von einem ersatzlosen Wegfall des Anspruchs war nicht die Rede. Das Schicksal des übertragenen Anspruchs nach Ablauf des Folgejahres war aber nicht Gegenstand der Entscheidung. 10 BAG 13.5.1982 – 6 AZR 360/80 – AP Nr. 2 zu § 7 BUrlG Übertragung. 11 BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 57–67. 9
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
61
Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, seien die nationalen Gerichte gehalten, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen. Das gelte auch dann, wenn zur Zielerreichung die Reichweite der nationalen Regelung eingeschränkt werden müsse. Berücksichtige man die Ziele des Art. 7 RL 2003/88/EG und den regelmäßig anzunehmenden Willen des nationalen Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien, seien § 7 Abs. 3, 4 BUrlG nach Wortlaut, Systematik und Zweck dahin zu verstehen, dass gesetzliche Urlaubsabgeltungsansprüche nicht erlöschen, wenn ein Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums erkrankt und deswegen arbeitsunfähig ist.12 In methodischer Hinsicht hat das BAG in dieser Entscheidung eine einschränkende Auslegung der Norm erwogen, die Frage der Auslegungsfähigkeit jedoch letztlich dahinstehen lassen und eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung vorgenommen.13 Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung umfasse nicht nur die Auslegung i.e.S., sondern auch die Rechtsfortbildung. Der Wortlaut begrenze die richtlinienkonforme Rechtsfindung nicht. Unzulässig sei die richterliche Rechtsfindung, wenn sie eine eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers auf Grund eigener rechtspolitischer Vorstellungen abändern wolle und so die Bindung an Recht und Gesetz und das Gewaltenteilungsprinzip verletze. Das Verbot der Auslegung contra legem sei in diesem Sinne funktionell zu verstehen.14 Nach der deutschen Rechtsmethodik setzt eine Rechtsfortbildung in der Regel eine Regelungslücke voraus. Diese sieht das BAG als gegeben an. Die Gesetzesgeschichte des BUrlG enthalte keine Anhaltspunkte für eine den Richtlinienzielen widersprechende Zielsetzung des Gesetzgebers.15 In einem späteren Urteil hat das BAG dahinstehen lassen, ob weiterhin zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zu unterscheiden sei. Entscheidend sei, dass weder der Wortlaut noch die Gesetzesmaterialien den eindeutigen Willen des Gesetzgebers erkennen ließen, den Urlaubsanspruch auch dann zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des dreimonatigen Übertragungszeitraums erlöschen zu lassen, wenn der Arbeitnehmer krankheitsbedingt den Urlaub nicht nehmen konnte.16 Mit Blick auf dieses Urteil heißt es in der Literatur, die ursprüngliche Rechtsfortbildung habe sich wohl tendenziell zu einer einschränkenden Auslegung entwickelt.17 Ob sich das aus der Entscheidung ableiten lässt, ist zweifelhaft. Das Gericht lässt ausdrücklich 12
BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 58–59. BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 60–63, 64–67. 14 BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 65. 15 BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 67. 16 BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 33. Offen bereits BAG 13.12.2011 – 9 AZR 399/10 – NZA 2012, 514 Rn. 37 („Auslegung bzw. Fortbildung“). 17 ErfK/Gallner, § 7 BUrlG, Rn. 50. 13
62
Kapitel 4: Deutschland
offen, welcher methodischen Instrumente es sich bedient und betont, welchen Aspekt es – unabhängig von der methodischen Verankerung der Entscheidung – für tragend hält. cc) Reaktionen aus der Literatur Soweit sich die Literatur zu der methodischen Begründung des BAG geäußert hat, sind diese Stellungnahmen durchweg kritisch ausgefallen. Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung des BAG wird dabei von einigen Autoren zu den Aussagen des BGH zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung in Beziehung gesetzt. Der BGH hatte sich im Zusammenhang mit der Frage des Nutzungsersatzes im Fall der Ersatzlieferung beim Verbrauchsgüterkauf für eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ausgesprochen. Er stützte sich für die Feststellung der zur Rechtsfortbildung erforderlichen planwidrigen Regelungslücke maßgeblich auf die Gesetzgebungsmaterialien, aus denen sich der Wille des Gesetzgebers ergebe, den Nutzungsersatz richtlinienkonform zu regeln.18 Das Urteil des BAG sei, so die Kritik der Literatur, demgegenüber weitergehend, da das Gericht es ausreichen lasse, dass eine richtlinienwidrige Zielsetzung des Gesetzgebers nicht erkennbar sei.19 Die § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG seien deutlich älter als die Arbeitszeitrichtlinie und nach ihrem Inkrafttreten nie geändert worden. Der Gesetzgeber habe also keinen Anlass gehabt, sich zur Richtlinienkonformität seiner Regelung zu äußern.20 Ließe man den generellen Umsetzungswillen genügen, sei praktisch jede Richtlinie im nationalen Recht unmittelbar anwendbar, wenn nicht der Gesetzgeber bewusst einen Richtlinienverstoß begehen wolle.21 Andere weisen darauf hin, dass das Ergebnis durch richtlinienkonforme Auslegung
18
BGH 26.11.2008 – VIII ZR 200/05 – NJW 2009, 427 Rn. 25. Bauer/Arnold, Anm. zu BAG AP Nr. 39 zu § 7 BUrlG; Höpfner, Anm. zu BAG AP Nr. 65 zu § 11 BUrlG; Krieger/Arnold, NZA 2009, 530, 531; Thüsing, RdA 2010, 187, 189. 20 Bauer/Arnold, Anm. zu BAG AP Nr. 39 zu § 7 BUrlG; Höpfner, Anm. zu BAG AP Nr. 65 zu § 11 BUrlG. Eine Lücke ablehnend auch Kamanabrou, SAE 2009, 233, 234–235. Gegen eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung des § 7 Abs. 3 BUrlG ferner Picker, ZTR 2009, 230, 234. 21 Thüsing, RdA 2010, 187, 189. S. auch Bauer/Arnold, Anm. zu BAG AP Nr. 39 zu § 7 BUrlG; Staudinger/Richardi/Fischinger, § 611 BGB, Rn. 1849. Höpfner, Anm. zu BAG AP Nr. 65 zu § 11 BUrlG, knüpft seine Kritik zur Ausweitung der Richtlinienwirkung an die Formulierung des BAG an, nach der es auf die Ziele von Art. 7 Abs. 1 und 2 RL 2003/88/EG ankomme. Damit werde die Richtlinie zum Maßstab für die Lückenfeststellung erhoben und im Ergebnis die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien im Privatrecht bewirkt. Ob das BAG allerdings der Richtlinie tatsächlich eine Maßstabsfunktion zuweisen will, ist fraglich, da es die Ziele der Richtlinie in Verbindung mit dem generellen Umsetzungswillen des Gesetzgebers berücksichtigt. 19
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
63
erzielt werden konnte, weshalb der Weg über die Rechtsfortbildung entbehrlich gewesen sei.22 b) Der Übertragungszeitraum Nachdem der EuGH in der Rechtssache KHS seine Rechtsprechung zur Übertragbarkeit von Urlaubsansprüchen bei Krankheit nuanciert hatte,23 änderte das BAG seine richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Urlaubsrechts erneut. aa) Die Änderung der BAG-Rechtsprechung nach dem Urteil KHS Im Zuge der Rechtsprechungsänderung nach dem Urteil Schultz-Hoff war von einem Übertragungszeitraum für Urlaub, der krankheitsbedingt nicht im Urlaubsjahr genommen werden konnte, zunächst nicht die Rede. Die Frage war in den ersten Fällen, die dem BAG nach dem Urteil Schultz-Hoff vorlagen, nicht entscheidungserheblich. Sie stellte sich für das Gericht erst in einer Entscheidung vom 7.8.2012, also nachdem das Urteil in der Rechtssache KHS ergangen war.24 Die Rechtsprechung des BAG aus dem Jahr 2009 war im Sinne einer unbegrenzten Ansammlung von Urlaubsansprüchen bei Langzeiterkrankung zu verstehen. Davon geht das BAG in seiner Entscheidung vom 7.8.2012 selbst aus. Es erklärt ausdrücklich, an seiner Rechtsprechung insoweit nicht mehr festhalten zu wollen und spricht von einer modifizierten unionsrechtskonformen Auslegung von § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG.25 Nach der neuen Auslegung des § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG erlöschen Ansprüche auf den gesetzlichen Urlaub nicht vor Ablauf von fünfzehn Monaten nach Ende des Urlaubsjahres, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub krankheitsbedingt nicht nehmen konnte. Mit Ablauf des 31. März des zweiten Folgejahres verliere der Arbeitnehmer Ansprüche aber selbst dann, wenn er weiterhin arbeitsunfähig sei.26 Der übertragene Urlaub erlösche nicht mit Ablauf des Folgejahres, da § 7 Abs. 3 BUrlG anwendbar sei. Außerdem sei bei fortdauernder Erkrankung nur die Weiterübertragung auf das zweite Folgejahr richtlinienkonform, da nach der Rechtsprechung des EuGH der Übertragungszeitraum den Bezugszeitraum deutlich übersteigen müsse.27 Die Über-
22 Kamanabrou, SAE 2009, 233, 234, 236 (unter Bezugnahme auf Kamanabrou, SAE 2009, 121, 126–127); Sedlmeier, EuZA 2010, 88, 96. Gegen die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung dagegen Ehlers, Krank im Urlaub, S. 208–211; Picker, ZTR 2009, 230, 233; dafür wohl Polzer, Befristung des Urlaubsanspruchs, S. 110–111. 23 EuGH 22.11.2011 EU:C:2011:761 (KHS) Rn. 28–44. 24 BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216. 25 BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 28, 40. 26 BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 32. 27 BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 35–37.
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Kapitel 4: Deutschland
tragung auf das zweite Folgejahr erhalte dem Arbeitnehmer den Anspruch aber gem. § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG nur für weitere drei Monate.28 Das BAG führt seine neue Interpretation des § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG auf die gesetzgeberische Zielsetzung zurück, indem es auf die Ziele des Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG und den regelmäßig anzunehmenden Willen des nationalen Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien Bezug nimmt. Berücksichtige man diese Aspekte, entspreche die beschriebene unionsrechtskonforme Auslegung dem Zweck, den der Gesetzgeber mit § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG verfolge. Ob zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zu unterscheiden sei, sei nicht relevant. Entscheidend sei, dass sich weder aus dem Wortlaut der Norm noch aus den Gesetzesmaterialien zum BUrlG ein eindeutiger Wille des Gesetzgebers ergibt, den Urlaubsanspruch auch dann zum Ende des Urlaubsjahres oder des dreimonatigen Übertragungszeitraums erlöschen zu lassen, wenn der Arbeitnehmer auf Grund von Krankheit nicht dazu in der Lage war, den Urlaub in Anspruch zu nehmen. Der Gesetzgeber habe möglicherweise den Fall der Langzeiterkrankung nicht bedacht.29 Für das Erlöschen des Urlaubsanspruchs mit Ablauf des 31. März des zweiten Folgejahres stützt das BAG sich auf die nun wieder reguläre Anwendung des § 7 Abs. 3 BUrlG. Der bereits einmal übertragene Urlaub müsse weder mit Blick auf die Richtlinie noch nach nationalem Recht erneut privilegiert werden. Für diese Lösung spreche ferner, dass das Erholungsbedürfnis des Arbeitnehmers mit zunehmendem Abstand zum Urlaubsjahr abnehme und der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse an der zeitlichen Begrenzung der Übertragung habe.30 Unabhängig von der Frage, wie lange der Urlaubsanspruch maximal aufrechterhalten wird, erlischt er, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub im Folgejahr nicht nimmt, obwohl er rechtzeitig wieder arbeitsfähig geworden ist, um den Urlaub noch in dieser Zeit in Anspruch zu nehmen.31 bb) Die Auffassung der Literatur Die Literatur hat sich nach dem KHS-Urteil intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, ob sich für den Fall der Langzeiterkrankung ein Übertragungszeitraum von fünfzehn Monaten durch Interpretation erzielen lässt. Dabei wird unterschiedlich beurteilt, ob es unionsrechtlich geboten ist, den Übertragungszeitraum zu begrenzen. Ist das der Fall, ist der Druck, ein entsprechendes Ergebnis durch Interpretation zu erreichen, größer, als wenn das nicht der Fall ist. Nach einer vereinzelt vertretenen Auffassung begrenzt be-
28
BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 40. BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 33. 30 BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 40–41. 31 BAG 9.8.2011 – 9 AZR 425/10 – NZA 2012, 29 Rn. 19–20. 29
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
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reits die Richtlinie den Übertragungszeitraum auf fünfzehn Monate,32 nach ganz überwiegender Ansicht ist die Begrenzung des Übertragungszeitraums in den Fällen der Langzeiterkrankung dagegen nicht zwingend.33 Inzwischen ist durch die Rechtssache King geklärt, dass der EuGH die Begrenzung des Übertragungszeitraums lediglich für möglich, nicht aber für zwingend erforderlich hält.34 Die Vertreter beider Auffassungen sowie diejenigen, die sich zur Frage der unionsrechtlichen Notwendigkeit einer befristeten Übertragung nicht äußern, halten eine solche Befristung im Wege der Interpretation des § 7 Abs. 3 BUrlG überwiegend für möglich.35 Die Begründung fällt unterschiedlich aus. Unter der Prämisse, dass die Begrenzung auf fünfzehn Monate zwingend ist, wird vertreten, dass die Änderung der BAG-Rechtsprechung unvermeidlich ist. Ob es sich dabei um Auslegung oder Rechtsfortbildung handele, hänge davon ab, welchen methodischen Ansatz man für die ursprüngliche Entscheidung zur unbegrenzten Übertragbarkeit verfolgt habe.36 Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass die Möglichkeit der Begrenzung je nach der methodischen Anknüpfung durchaus unterschiedlich sein kann. Wer im Wege der Auslegung zu dem Ergebnis kommt, dass § 7 Abs. 3 BUrlG gar nicht eingreift, wenn es dem Arbeitnehmer krankheitsbedingt unmöglich war, den Urlaub im Kalenderjahr oder im Übertragungszeitraum zu nehmen, wird nicht ohne Weiteres zu einer auf fünfzehn Monate begrenzten Übertragung gelangen. Ferner wird geltend gemacht, dass der Gesetzgeber Richtlinien zwar ordnungsgemäß umsetzen, generell aber nicht darüber hinausgehen wolle. Das BAG habe bereits begründet, inwiefern das BUrlG lückenhaft sei. Aus der Entstehungsgeschichte ergebe sich kein abweichender Wille, vielmehr sei sogar aus der Norm ersichtlich, dass der Urlaubsanspruch grundsätzlich befristet sei.37 In dieselbe Richtung geht die Begründung, nach der eine wortlautferne richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht weiter reichen kann als zwingend vorgegeben.38 Andere halten die Korrektur zwar nicht für zwingend, aber für sachgerecht. Zudem sei die Auslegung des § 7
32
Höpfner, RdA 2013, 16, 24. Franzen, NZA 2011, 1403, 1405; Kamanabrou, Anm. zu EuGH AP Nr. 6 zu Richtlinie 2003/88/EG; Rudkowski, EuZA 2012, 381, 387; Schinz, RdA 2012, 181, 184; Schlachter/ Heinig/Rudkowski, EnzEuR 7, § 12, Rn. 59. 34 EuGH 29.11.2017 EU:C:2017:914 (King) Rn. 55. 35 Zweifelnd aber Franzen, NZA 2011, 1403, 1405. 36 Höpfner, RdA 2013, 16, 23–24. 37 Gehlhaar, NJW 2012, 271, 273. Ähnlich Rudkowski, EuZA 2012, 381, 388–389. 38 Bayreuther, DB 2011, 2848. S. auch Rudkowski, EuZA 2012, 381, 388 („für die Annäherung an den Gesetzeswortlaut, für eine ,Präzisierung‘ des bisherigen Richterrechts, bedarf es keiner Rechtfertigung“). 33
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Kapitel 4: Deutschland
Abs. 3 BUrlG vor 2009 an sich die bessere Interpretation der Norm gewesen, sodass nur notwendige Korrekturen vorzunehmen seien.39 Methodische Bedenken sollten bei dieser modifizierten Interpretation weniger schwer wiegen als bei der Ausgangsentscheidung im Jahr 2009, da die Änderung die umstrittene Rechtsfortbildung des § 7 Abs. 3 BUrlG teilweise umkehrt.40 Wie an anderer Stelle dargelegt, ist die Fünfzehnmonatsgrenze dem BUrlG in seiner derzeitigen Gestalt nicht methodengerecht zu entnehmen.41 § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG lässt sich zwar i.S.d. Rechtsprechung des BAG vor 1982 dahin verstehen, dass die Norm nicht anwendbar ist, wenn der Urlaub krankheitsbedingt weder im Urlaubsjahr noch im Übertragungszeitraum genommen werden kann.42 Ein abweichender Übertragungszeitraum kann so aber nicht begründet werden, weil diese Auslegung ja gerade die Nichtanwendung der Befristung bewirkt. Versteht man die Norm in diesem Sinne, spricht nichts dafür, dass der Gesetzgeber planwidrig keine Befristung des krankheitsbedingt übertragenen Urlaubsanspruchs vorgesehen hat, weshalb auch keine Rechtsfortbildung in Betracht kommt. Ein begrenzter Übertragungszeitraum für krankheitsbedingt nicht genommenen Urlaub ist zwar sinnvoll, muss aber durch den Gesetzgeber geregelt werden.43 c) Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mehrurlaubsansprüchen Das Erlöschen von Mehrurlaubsansprüchen im Krankheitsfall kann individual- oder kollektivvertraglich für den Arbeitnehmer ungünstiger gestaltet werden als das Schicksal des Mindesturlaubsanspruchs, weil die Richtlinie auf den Mehrurlaub keine Anwendung findet. Dafür ist allerdings eine entsprechende Vereinbarung erforderlich. Ist sie nicht gegeben, unterfällt der Mehrurlaub denselben Regeln wie der Mindesturlaub.44
6. Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum Wenn der Arbeitnehmer vor oder während des für ihn vorgesehenen Urlaubszeitraums erkrankt, sind ihm die Urlaubstage nachzugewähren, die er 39
Schinz, RdA 2012, 181, 184. Rudkowski, EuZA 2012, 381, 389. 41 Kamanabrou, Anm. zu EuGH AP Nr. 6 zu Richtlinie 2003/88/EG. 42 Kamanabrou, SAE 2009, 121, 126–127. 43 Kamanabrou, Anm. zu EuGH AP Nr. 6 zu Richtlinie 2003/88/EG. Mit anderer Begründung Ehlers, Krank im Urlaub, S. 208–236 (keine Auslegung aufgrund der Wortlautgrenze, (derzeit) keine Rechtsfortbildung, da kürzestmöglicher Übertragungszeitraum unklar). 44 BAG 23.3.2010 – 9 AZR 128/09 – NZA 2010, 810 Rn. 19; BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 78–97; HWK/Schinz, § 7 BUrlG, Rn. 78. 40
II. Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen
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infolge Krankheit nicht wahrnehmen konnte. § 9 BUrlG regelt die Nichtanrechnung von Krankheitstagen (genauer: von nachgewiesenen Tagen der Arbeitsunfähigkeit) auf den Urlaub zwar ausdrücklich nur für den Fall der Erkrankung während des Urlaubs. Die Norm wird aber auch auf Fälle erstreckt, in denen die Erkrankung vor Urlaubsantritt auftritt und dann bis in den Urlaub hinein andauert.45
7. Zusammenfassung Da eine Mindestbeschäftigungszeit für den Erwerb des Urlaubsanspruchs nicht vorgesehen ist und der Erwerb von Urlaubstagen bei Krankheit sowie die Nachholbarkeit von Urlaub bei Krankheit im Urlaubszeitraum richtlinienkonform geregelt sind, stellen sich Auslegungsfragen allein hinsichtlich der Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen bei Erkrankung und der Begrenzung des Übertragungszeitraums. Auf diesem Gebiet hat das methodische Vorgehen des BAG zu Diskussionen geführt. Zunächst hatte das BAG 2009 die zeitlich unbegrenzte Übertragbarkeit des krankheitsbedingt nicht genutzten Urlaubs auf eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung gestützt.46 Später ließ es offen, ob zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zu unterscheiden sei und stellte maßgeblich darauf ab, dass kein eindeutiger Wille des Gesetzgebers erkennbar sei, der einem richtlinienkonformen Interpretationsergebnis entgegenstehe. Zugleich modifizierte das BAG seine Interpretation des § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG dahingehend, dass der übertragene Urlaub nach fünfzehn Monaten verfällt, da diese Norm auf den übertragenen Urlaub wieder regulär anwendbar sei.47
II. Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen wird in Deutschland breit diskutiert. Umstritten sind insbesondere das Auslegungsziel, die objektivteleologische Auslegung sowie die Voraussetzungen der Rechtsfortbildung.
1. Das Auslegungsziel Das Auslegungsziel wird von Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich bestimmt. Trotz starker Annäherung durch vermittelnde Ansichten verbleiben nicht zu vernachlässigende Differenzen. 45
BAG 9.6.1988 – 8 AZR 755/85 – NZA 1989, 137 Rn. 12; DFL/Gutzeit, § 9 BUrlG, Rn. 6; ErfK/Gallner, § 9 BUrlG, Rn. 3. 46 S. oben S. 60–61. 47 S. oben S. 61, 63–64.
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a) Die Diskussion in der Literatur Die Diskussion um das Auslegungsziel dreht sich in der deutschen Literatur48 darum, ob eine subjektive oder eine objektive Auslegung vorzunehmen ist, ob also der Wille des Gesetzgebers zu ermitteln ist oder der sogenannte normative Sinn des Gesetzes.49 Dabei wird das Meinungsbild gemessen an den in der deutschen Rechtswissenschaft im Allgemeinen praktizierten Gepflogenheiten zum Teil überraschend belegarm dargestellt. Das mag daran liegen, dass der Ursprung dieser Theorien bereits lange zurückliegt und heutzutage eher vermittelnde Ansätze vertreten werden.50 Zudem stammen einige Einzelargumente zu den Grundpositionen aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert und werden in ihrer ursprünglichen Form heute nicht mehr vertreten.51 Der Aussagegehalt der subjektiven und der objektiven Theorie wird nicht einheitlich beschrieben.52 Nach einer Auffassung geht es der subjektiven Theorie darum, den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln, den sie als verbindlich ansieht. Demgegenüber sei nach der objektiven Theorie die heutige vernünftige Bedeutung des Gesetzes – der Wille des Gesetzes – maßgeblich.53 Die subjektive Theorie wird allerdings nicht durchweg als entste48 Die Werke von Bydlinski und Kramer sind in der deutschen Literatur zur Methodenlehre stark rezipiert worden, sodass sie hier einbezogen werden, auch wenn der Meinungsstand in den einzelnen Ländern zu den in diesem Buch behandelten Fragen ansonsten lediglich anhand nationaler Literatur und Rechtsprechung ermittelt wird. 49 Alexy/Dreier, in: Interpreting Statutes, S. 73, 77, 93; Bydlinski, Methodenlehre, S. 428–436; Engisch, Einführung, S. 133–144; Larenz, Methodenlehre, S. 316–320; Reimer, Methodenlehre, Rn. 246–259; Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 627–632. Von vornherein breiter angelegt ist die Diskussion bei Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 28–66 und Wank, Methodenlehre, § 6, Rn. 159–210. Einen ganz anderen Ansatz verfolgen Müller/ Christensen, Methodik, die beides für nicht existent halten, die eigentliche Aufgabe des methodisch arbeitenden Rechtsanwenders in der Normkonkretisierung sehen und diese mit Hilfe einer strukturierenden Methodik erreichen wollen. Nach Wischmeyer, Zwecke, S. 348–354, verdeckt die Unterscheidung nach objektivem und subjektivem Ansatz, dass es eigentlich um die Frage eines gerichts- oder parlamentszentrierten Verständnisses von Rechtsanwendung sowie um die Unterscheidung zwischen statischem und dynamischem Rechtsverständnis geht. 50 S. zum ersten Punkt Larenz, Methodenlehre, S. 316; zum zweiten Punkt Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 30; Reimer, Methodenlehre, Rn. 248. 51 Nachweise zu der älteren Literatur finden sich bei Heck, AcP 112 (1914), 1, 67–89; Fleischer, Gesetzesmaterialien, S. 1, 7–9; Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 42–46 (aus dem Blickwinkel der Bedeutung der Materialien für die Auslegung). Zu der unterschiedlichen Grundhaltung zum Recht, die hinter den beiden Theorien steht, instruktiv Schröder, Rechtsbegriff und Auslegungsgrundsätze, S. 125. 52 Dazu insbesondere Kramer, Methodenlehre, S. 139. 53 Engisch, Einführung, S. 133; Larenz, Methodenlehre, S. 316; Möllers, Methodenlehre, § 6, Rn. 63, 69; Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 198–202; Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 627–628; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 796–797.
II. Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen
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hungszeitlich gekennzeichnet.54 Nach einer anderen Auffassung ist sie geltungszeitlich zu verstehen. Dabei wird die geltungszeitliche Fassung des Gesetzes unterschiedlich bestimmt. Einerseits heißt es, die Auslegung müsse sich an den Wertungen des heutigen Gesetzgebers orientieren.55 Andererseits wird vorgebracht, der Wille des historischen Gesetzgebers sei dynamisch als auf eine zeitangemessene Auslegung gerichtet anzusehen.56 Vertreten wird ferner ein recht abstraktes Verständnis der Regelungsabsicht des Gesetzgebers. Seine Ziel- und Zweckentscheidungen seien so zu interpretieren, wie er sie als Repräsentant der in der Gesellschaft konsensfähigen Vorstellungen denken musste.57 Auch die objektive Theorie wird teils abweichend von der soeben verwendeten Beschreibung charakterisiert. Die objektive Auslegung sei die Suche nach dem für den sorgfältigen Durchschnittsleser objektiv entnehmbaren Inhalt des Gesetzes.58 Eine der Grundfragen in dem Theorienstreit sei die, ob und mit welchem Gewicht Gesetzgebungsmaterialien zur Auslegung heranzuziehen seien. Während Objektivisten sie bei der Auslegung unberücksichtigt ließen, würden Subjektivisten die daraus ableitbare Regelungsabsicht des Gesetzgebers sogar dem Text vorgehen lassen.59 Zu den Theorien wird weiter ausgeführt, dass die subjektive Theorie mit Blick auf das Prinzip der Gewaltenteilung den Willen des historischen Gesetzgebers als maßgeblich ansehe, soweit er sich ermitteln lasse und sich die Verhältnisse nicht grundlegend geändert hätten.60 Inflexibilität werde der subjektiven Theorie zu Unrecht vorgehalten, weil sie nicht notwendig zu einem statischen Gesetzesverständnis führe. Die Verbindlichkeit der gesetzgeberischen Zielsetzung könne sich auch für Subjektivisten mit der Zeit lockern.61 Gegen sie könne ferner nicht eingewendet werden, dass ein einheit54 Reimer, Methodenlehre, Rn. 248, differenziert dementsprechend die Positionen in subjektiv-historische, subjektiv-aktuelle und objektiv-aktuelle Auslegung. 55 Wank, Rechtsfortbildung, S. 66–69; ders., Methodenlehre, § 6, Rn. 193. 56 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 64, die sich auf S. 62 ausdrücklich dagegen aussprechen, auf den Willen des heutigen Gesetzgebers abzustellen. Dagegen mit etwas anderer Begründung auch Bydlinski, Methodenlehre, S. 429. 57 Zippelius, Methodenlehre, S. 19. Dagegen Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 42–45. 58 Bydlinski, Methodenlehre, S. 428. 59 Bydlinski, Methodenlehre, S. 429–430. Heutzutage verlangen allerdings einige Vertreter vermittelnder Theorien, nach denen zunächst der Wille des Gesetzgebers maßgeblich ist, dass dieser Wille im Gesetz Ausdruck gefunden hat. So Engisch, Einführung, S. 143; Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 210. A.A. Wank, Methodenlehre, § 10, Rn. 33–35. Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 66–67, lassen es genügen, dass der Wille des Gesetzgebers sich mit dem Wortsinn vereinbaren lässt. 60 Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 628; Wank, Methodenlehre, § 6, Rn. 204–205, 208–209. S. zur Argumentation mit dem Gewaltenteilungsprinzip Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 162–164. 61 Fleischer, Gesetzesmaterialien, S. 1, 9; Kramer, Methodenlehre, S. 153–154; Röhl/
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licher Wille des Gesetzgebers sich nicht feststellen lasse. Das Parlament akzeptiere mit der Beschlussfassung über das Gesetz das Sinnverständnis der eigentlichen Verfasser.62 Die objektive Theorie bestimme den Gesetzeszweck freier und verstehe die teleologische Auslegung dementsprechend weiter. Vor diesem Hintergrund sei nur die subjektive Auslegung Gesetzesanwendung, die objektive Auslegung dagegen Rechtssetzung, die „subjektive“ Theorie sei objektiv, die „objektive“ subjektiv.63 Die Überlegungen münden meist in Kombinationslehren, bei denen zunächst die subjektive Auslegung Vorrang erhält.64 Einen etwas anderen Akzent setzt, wer die objektive Theorie als Suche nach dem Sinn versteht, der dem Gesetz selbst innewohnt, und damit die Vorstellung verbindet, dass das Gesetz über das vom Gesetzgeber Beabsichtigte hinausgeht, ein Eigenleben entwickelt und sich mit der Zeit verändert.65 Diesem Umstand werde die subjektive Theorie nicht gerecht. So bemühten sich Subjektivisten selbst darum, trotz des Rückbezugs auf die Absichten des Gesetzgebers den Wandel der Zeit in ihrer Theorie zu erfassen. Der Wille des historischen Gesetzgebers könne also nicht letztes Ziel der Auslegung sein, auch wenn er Bedeutung für die Auslegung habe.66 Neben den Vorstellungen
Röhl, Rechtslehre, S. 628. S. auch Reimer, Methodenlehre, Rn. 254. Diese und weitere Kritik an der subjektiven Theorie hat bereits Heck, AcP 112 (1914), 1, 67–89, aufgelistet und diskutiert. 62 Bydlinski, Methodenlehre, S. 431–432; Fleischer, Gesetzesmaterialien, S. 1, 7–8; Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 207–208; Höpfner, RdA 2018, 321, 327; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 1–14; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 358–359; MüKoBGB/Säcker, Einleitung, Rn. 129; Müller/Christensen, Methodik, Rn. 361f; Reimer, Methodenlehre, Rn. 352; Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 627–628. S. auch Engisch, Einführung, S. 142. Ablehnend Larenz, Methodenlehre, S. 329; Wischmeyer, JZ 2015, 957, 958. Differenzierend Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 140–152, 169, der mit Hilfe der sogenannten Paktentheorie begründet, dass Äußerungen Einzelner den Verfahrensbeteiligten als Verständnis zugrunde gelegt werden können. Dieses gemeinsame Verständnis sei aber nur insoweit als Wille des Gesetzgebers anzusehen, als es sich auf den Aufgabenbereich der gesetzgebenden Gewalt bezieht. 63 Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 629–631. S. auch Wank, Methodenlehre, Rn. 204. Bydlinski, Methodenlehre, S. 434–435, sieht darin nur einen Einwand gegen die objektiv-teleologische Auslegung, nicht zugleich gegen die objektive Auslegung, da er unter letzterer eine Auffassung versteht, die den Gesetzessinn allein aus dem Gesetzestext ableiten will, nicht aber insgesamt ein Einfallstor für die Wertungen des Interpreten ist. Ausführlich gegen die Möglichkeit, den Gesetzesinhalt anhand objektiver Maßstäbe zu bestimmen, Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 32–41. Nachdrückliche Kritik zur objektiven Theorie bei Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 806–815; s. auch Hillgruber, JRP 2001, 281, 285–286. 64 S. dazu unten S. 74–76. 65 Larenz, Methodenlehre, S. 317. Beschreibend auch Engisch, Einführung, S. 135–136. 66 Larenz, Methodenlehre, S. 317–318.
II. Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen
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und Zielen des Gesetzgebers sollen rechtliche Zwecke und Sachzwänge den Gesetzesinhalt bestimmen. Das Gesetz wandele sich mit der Zeit, weil es notwendig sei, ihm Antworten auf die Fragen der Jetztzeit zu entnehmen.67 Dennoch folge aus der Gesetzesbindung, dass erkennbare Regelungsabsichten und Wertentscheidungen des Gesetzgebers maßgeblich bleiben, wenn sie nicht zu heutigen Verfassungsgrundsätzen und Rechtsprinzipien in Widerspruch stehen. Der heutige Sinn des Gesetzes sei unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Regelungsabsicht zu ermitteln, subjektive und objektive Elemente seien zu kombinieren.68 b) Die Aussagen der Rechtsprechung zum Auslegungsziel Das BVerfG hat sich in mehreren Entscheidungen damit befasst, mithilfe welcher Kriterien Gesetze auszulegen sind und auf welches Ziel die Auslegung gerichtet ist.69 Zur Entscheidung zwischen subjektiver oder objektiver Auslegungstheorie hat sich das Gericht direkt nur in einer frühen Entscheidung geäußert. Die subjektive Theorie stelle auf den historischen Willen des Gesetzgebers, also auf seine Motive in ihrem geschichtlichen Zusammenhang ab. Nach der objektiven Theorie sei Gegenstand der Auslegung das Gesetz
67 Larenz, Methodenlehre, S. 318. Ähnlich Kramer, Methodenlehre, S. 155–158, der allerdings nicht auf einen „automatischen“ Wandel des Gesetzes abstellt, sondern darauf, dass es sinnvoll ist, das Gesetz für die Gegenwartsbedürfnisse passend zu interpretieren. S. auch Zippelius, Methodenlehre, S. 20–21, der allerdings in diesem Kontext auch von Rechtsfortbildung spricht, Auslegung an dieser Stelle also wohl in einem weiteren Sinne versteht. Nach Bydlinski, Lex-lata-Grenze, S. 27, 60–68, kann unter bestimmten Umständen die historische Regelungsabsicht durch objektive Kriterien ersetzt werden, da Methodik die Aufgabe habe, aktuelle Rechtsfragen rational im aktuellen Kontext zu lösen. Der historisch maßgebende Wille könne dabei aber keinesfalls generell unter Berufung auf den Willen des gegenwärtigen Gesetzgebers ersetzt werden. Bydlinski diskutiert vielmehr den Funktionswandel nur für Generalklauseln und Fälle der negativen Regelungsabsicht. Unter letzterer versteht er negative Stellungnahmen in Gesetzgebungsmaterialien; ein Unterlassen einer möglichen Regelung sei nicht dasselbe wie eine tatsächlich erlassene gesetzliche Negativregelung (ebda. S. 49–50). 68 Larenz, Methodenlehre, S. 318. Ähnlich Kramer, Methodenlehre, S. 155–163. S. zum Wandel der Normsituation Larenz, Methodenlehre, S. 350–353, wobei in den Beispielen in erster Linie die Rechtsprechung des BGH der des RG gegenübergestellt, nicht aber zur Regelungsabsicht des Gesetzgebers in Beziehung gesetzt wird. Diese findet nur insoweit Erwähnung, als der BGH sich auf sie bezieht. Kritisch zum Wandel des Gesetzes durch Zeitablauf Möllers, Methodenlehre, § 6, Rn. 73–76. S. in etwas anderem Kontext auch Hillgruber, JZ 1996, 118, 121. 69 S. zu den Methoden der Gesetzesauslegung in der Rechtsprechung des BVerfG den gleichnamigen Aufsatz von Bleckmann, JuS 2002, 942. Kritisch zur „Unbefangenheit gegenüber dem Gesetzgeber“ in der Rechtsprechung der Zivilgerichte Foerste, JZ 2007, 122, 124.
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Kapitel 4: Deutschland
selbst, d.h. der im Gesetz objektivierte Wille des Gesetzgebers.70 Damit ist zwar nicht die verbreitete Gegenüberstellung von subjektiv-entstehungszeitlicher und objektiv-geltungszeitlicher Auslegung angesprochen, die vor allem das Problem des Wandels der Verhältnisse in den Blick nimmt. Die Definition der objektiven Theorie ähnelt aber derjenigen, nach der es auf den für den sorgfältigen Durchschnittsleser objektiv entnehmbaren Inhalt des Gesetzes ankommt.71 In dem Beschluss wird dieser objektivierte Wille des Gesetzgebers für maßgeblich erklärt, was eine Ausrichtung der Auslegung im Sinne der objektiven Theorie bedeutet.72 Die Gesetzgebungsmaterialien sind nach dieser – und späteren – Entscheidungen des BVerfG zwar nicht unberücksichtigt zu lassen. Argumente aus der Entstehungsgeschichte sollen aber nur unterstützend verwendet werden; sie können die Auslegung nach Wortsinn und Systematik bestätigen oder bei Auslegungszweifeln eine Rolle spielen.73 Weiter heißt es, die subjektiven Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder seien nicht relevant.74 Der Wille des Gesetzgebers könne bei der Auslegung des Gesetzes nur insoweit berücksichtigt werden, als er im Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden habe.75 In seiner aktuellen Rechtsprechung stellt das BVerfG bei der Auslegung weiterhin auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers ab.76 Allerdings
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BVerfG 17.5.1960 – 2 BvL 11/59, 2 BvL 11/60 – BVerfGE 11, 126, 129–130. So, wie bereits erwähnt, Bydlinski, Methodenlehre, S. 428. 72 BVerfG 17.5.1960 – 2 BvL 11/59, 2 BvL 11/60 – BVerfGE 11, 126, 130, unter Bezugnahme auf BVerfG 21.5.1952 – 2 BvH 2/52 – BVerfGE 1, 299, 312 und BVerfG 15.12.1959 – 1 BvL 10/55 – BVerfGE 10, 234, 244, wo zwar jeweils nicht von „subjektiver Theorie“ die Rede ist, die subjektiven Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung aber ausdrücklich für nicht entscheidend erklärt werden. 73 BVerfG 17.5.1960 – 2 BvL 11/59, 2 BvL 11/60 – BVerfGE 11, 126, 130; BVerfG 21.5.1952 – 2 BvH – 2/52BVerfGE 1, 299, 312. Aus der jüngeren Rechtsprechung BVerfG 17.1.2017 DE:BVerfG:2017:bs20170117.2bvb000113 Rn. 555; BVerfG 31.3.2016 DE: BVerfG:2016:rk20160331.2bvr157613 Rn. 63, wo es aber jeweils auch heißt, dass die Auslegungsmethoden sämtlich zur Auslegung heranzuziehen sind und sich gegenseitig ergänzen, ohne dass eine vorrangig ist; ohne diesen Zusatz BVerfG 9.7.2007 DE: BVerfG:2007:fs20070709.2bvf000104 Rn. 219. 74 BVerfG 17.1.2017 DE:BVerfG:2017:bs20170117.2bvb000113 Rn. 555; BVerfG 31.3. 2016 DE:BVerfG:2016:rk20160331.2bvr157613 Rn. 63; BVerfG 15.12.1959 – 1 BvL 10/55 – BVerfGE 10, 234, 244; BVerfG 21.5.1952 – 2 BvH 2/52 – BVerfGE 1, 299, 312. 75 BVerfG 16.12.1981 – 1 BvR 898/79 u.a. – BVerfGE 59, 128, 153; BVerfG 17.5.1960 – 2 BvL 11/59, 2 BvL 11/60 – BVerfGE 11, 126, 130. S. auch BVerfG 29.6.2016 DE: BVerfG:2016:rs20160629.1bvr101515 Rn. 77. 76 S. aus den letzten Jahren nur BVerfG 17.1.2017 DE:BVerfG:2017:bs20170117.2bv b000113 Rn. 555; BVerfG 31.3.2016 DE:BVerfG:2016:rk20160331.2bvr157613 Rn. 63; BVerfG 27.1.2015 DE:BVerfG:2015:rs20150127.1bvr047110 Rn. 125; BVerfG 26.8.2014 71
II. Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen
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räumt es in einigen jüngeren Entscheidungen dem gesetzgeberischen Willen und den Materialien einen höheren Stellenwert ein.77 So heißt es, die richterliche Rechtsfindung dürfe das gesetzgeberische Ziel der Norm nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen oder die Regelungskonzeption des Gesetzgebers durch eine eigene ersetzen. Bei der Ermittlung der dem Gesetz zugrunde liegenden Regelungskonzeption komme neben dem Wortsinn den Gesetzesmaterialien und der Systematik des Gesetzes eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu.78 Zudem hat das BVerfG mehrfach erklärt, dass die Auslegungsmethoden sämtlich zur Auslegung heranzuziehen sind und sich gegenseitig ergänzen, ohne dass eine von ihnen unbedingten Vorrang vor einer anderen habe.79 Das Gericht hat schließlich im Kontext mit der verfassungskonformen Auslegung und Reduktion80 festgestellt, dass das Grundgesetz eine bestimmte Auslegungsmethode oder gar eine reine Wortinterpretation nicht vorschreibt.81 Es sieht Bedarf, das geltende Recht durch Rechtsprechung an veränderte Verhältnisse anzupassen, spricht davon aber
DE:BVerfG:2014:rk20140826.2bvr217213 Rn. 16; BVerfG 19.3.2013 DE:BVerfG:2013: rs20130319.2bvr262810 Rn. 66. S. aus der daran angelehnten Rechtsprechung des BGH: BGH 14.11.2018 DE:BGH:2018:141118BXIIZB292.16.0 Rn. 56; BGH 2.7.2018 DE: BGH:2018:020718UANWZ.BRFG.49.17.0 Rn. 40; BGH 29.1.2018 DE:BGH:2018: 290118UANWZ.BRFG.12.17.0 Rn. 16; BGH 12.3.2013 – XI ZR 227/12 – NJW 2013, 3437 Rn. 37. 77 S. zur Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 68–71, 85–87. Soweit es in der Literatur heißt, theoretische Vorgaben und praktische Methoden klafften nicht selten auseinander (s. Fleischer, Gesetzesmaterialien, S. 1, 11), dürfte dieser Befund durch die neuere Rechtsprechung zumindest deutlich abgeschwächt sein. 78 BVerfG 26.8.2014 DE:BVerfG:2014:rk20140826.2bvr217213 Rn. 16; BVerfG 19.3.2013 DE:BVerfG:2013:rs20130319.2bvr262810 Rn. 66. Im Kontext der Rechtsfortbildung BVerfG 6.6.2018 DE:BVerfG:2018:ls20180606.1bvl000714 Rn. 74–75. Teile der Rn. 66 aus der Entscheidung vom 19.3.2013 wurden vom BAG in Bezug genommen, BAG 18.5.2017 DE:BAG:2017:180517.U.2AZR79.16.0 Rn. 15; BAG 21.12.2016 DE:BAG: 2016:211216.U.5AZR374.16.0 Rn. 20; BGH 16.5.2013 – II ZB 7/11 – NJW 2013, 2674 Rn. 27 übernimmt die Rn. komplett. 79 BVerfG 17.1.2017 DE:BVerfG:2017:bs20170117.2bvb000113 Rn. 555; BVerfG 31.3.2016 DE:BVerfG:2016:rk20160331.2bvr157613 Rn. 63; BVerfG 26.8.2014 DE: BVerfG: 2014:rk20140826.2bvr217213 Rn. 16; BVerfG 19.3.2013 DE:BVerfG:2013:rs 20130319.2bvr262810 Rn. 66; BVerfG 19.6.2007 DE:BVerfG:2007:rk20070619.1bvr 129005 Rn. 60; BVerfG 20.3.2002 DE:BVerfG:2002:rs20020320.2bvr079495 Rn. 79. 80 Dazu unten S. 95–99, 103–106. 81 BVerfG 31.10.2016 DE:BVerfG:2016:rk20161031.1bvr087113 Rn. 22; BVerfG 23.5.2016 DE:BVerfG:2016:rk20160523.1bvr223015 Rn. 50; BVerfG 19.5.2015 DE: BVerfG:2015:rk20150519.2bvr117014 Rn. 51; BVerfG 26.9.2011 DE:BVerfG:2011:rk2011 0926.2bvr221606 Rn. 57; BVerfG 6.4.2000 DE:BVerfG:2000:lk20000406.1bvl001899 Rn. 13; BVerfG 30.3.1993 – 1 BvR 1045/89 u.a. – BVerfGE 88, 145, 166–167.
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stets im Zusammenhang mit Rechtsfortbildung.82 Im Übrigen heißt es, die Regelungskonzeption des Gesetzgebers sei auch unter gewandelten Bedingungen vom Richter möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen.83 Im Ergebnis ist damit letztlich auch die Rechtsprechung des BVerfG durch eine Kombination von subjektiven und objektiven Elementen, durch eine Orientierung an der gesetzgeberischen Regelungsabsicht einerseits und die Notwendigkeit der Anpassung des Rechts (auch) durch die Rechtsprechung andererseits, geprägt.84 c) Der Vorrang der subjektiven Auslegung Als gemeinsamer Nenner lässt sich feststellen, dass nach der Rechtsprechung des BVerfG und der überwiegenden neueren methodologischen Literatur die subjektive und die objektive Auslegung nicht als Alternativen zu verstehen sind. In dieselbe Richtung geht die Ansicht, die den Streit als verfehlt ansieht, weil es an sich um das Rangverhältnis von Auslegungskriterien gehe.85 Eine objektiv-teleologische Auslegung sei jedenfalls dann nötig, wenn Wortsinn, Systematik und Gesetzeshistorie keine Lösung bieten.86 Eine andere Auffassung betont die Notwendigkeit, das Gesetz durch Auslegung an die Bedürfnisse der Jetztzeit anzupassen. Ob dieser Ansatz im Einzelfall zu anderen Ergebnissen führt als die zuvor beschriebene Auffassung, die die subjektive und die objektive Theorie in einem Stufenverhältnis sieht, lässt sich abstrakt nicht feststellen. Wie stark das subjektive Element im Rahmen dieses Ansatzes ist, hängt wesentlich davon ab, wie begründungsbedürftig das Abweichen von der gesetzgeberischen Regelungsabsicht ist. Wer den Wandel des Gesetzesinhalts gewissermaßen als notwendig und selbstverständlich ansieht und gesetzliche Wertungen mit dem Hinweis auf anerkannte Rechtsprinzipien für eine jeweils aktuelle Neubewertung öffnet,
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BVerfG 31.10.2016 DE:BVerfG:2016:rk20161031.1bvr087113 Rn. 19; BVerfG 19.5.2015 DE:BVerfG:2015:rk20150519.2bvr117014 Rn. 51; BVerfG 17.9.2013 DE: BVerfG:2013:rk20130917.1bvr192812 Rn. 33; BVerfG 25.1.2011 DE:BVerfG:2011: rs20110125.1bvr091810 Rn. 53; BVerfG 22.8.2006 DE:BVerfG:2006:rk20060822.1bvr 116804 Rn. 20; BVerfG 12.11.1997 – 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94 – BVerfGE 96, 375, 394. 83 BVerfG 26.8.2014 DE:BVerfG:2014:rk20140826.2bvr217213 Rn. 16; BVerfG 19.3.2013 DE:BVerfG:2013:rs20130319.2bvr262810 Rn. 66; BVerfG 25.1.2011 DE: BVerfG:2011:rs20110125.1bvr091810 Rn. 53. 84 S. auch Vogenauer, Auslegung, S. 29. 85 Bydlinski, Methodenlehre, S. 429–430. S. auch Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 184. 86 Bydlinski, Methodenlehre, S. 453–454.
II. Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen
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kommt eher zu einer Abweichung.87 Zutreffend betont ein Teil der Literatur demgegenüber, dass das Altern einer Norm ihren Anwendungsbefehl nicht relativiert.88 Wer von dem Gesetzesverständnis des Gesetzgebers abweichen wolle, müsse das begründen.89 Die vermittelnden oder kombinierten Ansätze setzen die Akzente bei der Verbindlichkeit des gesetzgeberischen Willens für die Auslegung also durchaus unterschiedlich.90 Zu Recht heißt es vor diesem Hintergrund in der Literatur, der Theorienstreit habe zwar im Ergebnis wenig Bedeutung, sei aber nicht völlig irrelevant, da die Haltung zu den Theorien auch bei vermittelnden Auffassungen die „Optik der Interpretation“ beeinflusse.91 Zudem darf nicht übersehen werden, dass nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung die Auslegung stets am Willen des Gesetzgebers orientiert sein muss und eine objektive Auslegung nicht statthaft ist. Anpassungsbedarf sei (allein) im Wege der Rechtsfortbildung zu bewältigen.92 Wenn Hassold schreibt, bei dem Streit gehe es nur um die rechtsstaatliche Form, in der die richterliche Rechtsfortbildung ausgeübt werden muss, ist das eine ungewöhnlich gelassene Formulierung in einer bisweilen (v)erbittert geführten Auseinandersetzung.93 Vorzuziehen sind vermittelnde Ansätze, nach denen die objektive Auslegung nachrangig ist und nur zur Anwendung kommt, wenn die subjektive Auslegung unergiebig ist.94 Eine zumindest zunächst subjektiv orientierte 87 S. Larenz, Methodenlehre, S. 318. S. ferner Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 632, die die objektive Auslegung u.a. für einschlägig halten, wenn sich die Verhältnisse geändert haben und die Untätigkeit des Gesetzgebers nicht darauf schließen lässt, dass er keine Veränderung wünscht. 88 Hillgruber, JZ 1996, 118, 121; Möllers, Methodenlehre, § 6, Rn. 73. 89 Kramer, Methodenlehre, S. 163; Thiessen, Gesetzesmaterialien, S. 45, 74. 90 Foerste, JZ 2007, 122, 125, verweist darauf, dass der „Wertewandel“ auch bei Bindung an den Willen des Gesetzgebers bei der Auslegung zu einer veränderten Anwendung der einschlägigen Norm führen kann, wenn dieser Wandel als Basis für eine Rechtsfortbildung genutzt wird. Ob der Wille des Gesetzgebers sich durchsetzt, entscheidet sich also nicht allein auf der Ebene der Auslegung. S. auch Kramer, Methodenlehre, S. 153–154; Möllers, Methodenlehre, § 6, Rn. 78; Reimer, Methodenlehre, Rn. 254. 91 Kramer, Methodenlehre, S. 155 (Fn. 366). Nach Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 196, und Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 30–31, verleiht das Auslegungsziel den einzelnen Auslegungsmitteln ihre Bedeutung und ihren Rang bzw. ihr Gewicht. 92 Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 210; MüKo-BGB/Säcker, Einleitung, Rn. 124, 135; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 730, 730c–730d, 816–817. 93 Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 206. 94 Engisch, Einführung, S. 143–144; Hassold, Gesetzesauslegung, S. 211, 217, 239–240; Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 181–182. S. ferner Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 181–182, die allerdings die Änderung der Verhältnisse nicht als Anlass für eine objektive Auslegung sehen. Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 10–161, wollen auf die mutmaßliche Wertentscheidung des Gesetzgebers (erst) abstellen, wenn sich seine tatsächliche Wertentscheidung nicht ermitteln lässt. Auch sie geben damit erkennbaren Absichten des Gesetzgebers den Vorrang.
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Kapitel 4: Deutschland
Auslegung ist Ausdruck der Gesetzesbindung des Rechtsanwenders. Daher ist sie nicht auf die Wertungen des heutigen Gesetzgebers gerichtet, sondern auf den Willen des historischen Gesetzgebers. Lässt sich sein Regelungswille ermitteln, ist damit der Gesetzesinhalt bestimmt, die Auslegung ist beendet. Veränderte Verhältnisse mögen unter Umständen eine Rechtsfortbildung stützen. Sie führen jedoch nicht zu einem Bedeutungswandel der Norm. Eine Versteinerung des Rechts ist dadurch nicht zu befürchten. Veränderungen, die sich nicht durch Rechtsfortbildung abfangen lassen, kann der heutige Gesetzgeber durch eine Anpassung der fraglichen Regelung vornehmen. Einerseits ist nicht ersichtlich, dass permanent konkrete Regelungsabsichten des historischen Gesetzgebers den Verhältnissen der Jetztzeit nicht mehr gerecht werden, sodass der heutige Gesetzgeber mit dem erforderlichen Anpassungsbedarf überfordert wäre. Andererseits ist so sichergestellt, dass die Neuregelung von dem erforderlichen politischen Konsens getragen wird und nicht allein von den Vorstellungen des Rechtsanwenders dazu, was die Anforderungen der Jetztzeit sind. Auch wenn – tatsächlicher oder vermeintlicher – Anpassungsbedarf kein Abweichen von der gesetzgeberischen Regelungsabsicht im Wege der Auslegung gestattet, kann nicht allein auf den Willen des historischen Gesetzgebers als Auslegungsziel abgestellt werden. Andernfalls könnte der Norminhalt nicht bestimmt werden, wenn die gesetzgeberische Regelungsabsicht nicht erkennbar ist. In diesen Fällen ist vielmehr zur objektiven Auslegung überzugehen. Die Auslegung ändert dadurch ihre Zielrichtung. Da der gesetzgeberische Wille nicht feststellbar ist, dient in diesem Fall des non liquet die objektiv-teleologische Auslegung dazu, den Inhalt, mit dem die Norm anzuwenden ist, anderweitig zu bestimmen. Dass in solchen Fällen die Gesetzesbindung gelockert ist, ist angesichts der offenen Auslegungsfrage hinzunehmen. Es ist schlicht nicht möglich, dass der Gesetzgeber zu allen Auslegungsfragen einen konkreten Regelungswillen gebildet hat.
2. Die Auslegungskriterien Zu den Auslegungskriterien zählen Wortsinn, Systematik, Historie sowie Sinn und Zweck.95 Die Diskussion dieser Kriterien hat oft einen Hinweis auf die von Savigny aufgestellten Auslegungskanones zum Ausgangspunkt: das grammatische, das logische, das historische und das systematische Element.96 95 Zur Verwendung der Auslegungskriterien in der Rechtsprechung Vogenauer, Auslegung, S. 29–50. 96 Savigny, System, S. 213–214. S. dazu Bydlinski, Methodenlehre, S. 437; Kramer, Methodenlehre, S. 66; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 129; Reimer, Methodenlehre, Rn. 274–277; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 698–703; Vogel, Juristische Methodik, S. 96.
II. Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen
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Die Rezeption Savignys Lehre ist freilich umstritten, zu denken gibt vor allem der Hinweis auf den oft verkürzten Blick auf seine Auslegungslehre.97 Die heutigen Ausführungen zu den Auslegungskriterien erfolgen letztlich losgelöst von den Savigny‘schen Überlegungen. a) Der Wortsinn der Norm Der Wortsinn ist nach einhelliger Auffassung Ausgangspunkt der Auslegung.98 Maßgeblich ist, soweit vorhanden, die fachsprachliche Bedeutung, nicht die umgangssprachliche.99 Einige Autoren weisen zudem darauf hin, dass der spezifische Sprachgebrauch des Gesetzgebers, der sich z.B. aus einer Legaldefinition ergeben kann, der allgemeinen fachsprachlichen Verwendung des Begriffs vorgeht.100 Die Wörter, die der Gesetzgeber verwendet, sind allerdings nicht isoliert, sondern in ihrem syntaktischen Zusammenhang zu betrachten.101 Darüber hinaus ist der Wortsinn auch aus dem Kontext zu ermitteln.102 Allein die Wortsinnauslegung kann nicht genügen, um eine Norm zu interpretieren, da Wörter nie oder allenfalls selten eindeutig sind.103 Spielräume für das Verständnis können sich aus der Mehrdeutigkeit eines 97 Eingehend zu Savignys Auslegungslehre Rückert, Savigny, Rn. 93–119, 135–147, 188–198. S. ferner Reimer, Methodenlehre, Rn. 274–277; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 701. 98 Kramer, Methodenlehre, S. 67; Larenz, Methodenlehre, S. 320; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 21–22; Möllers, Methodenlehre, § 4, Rn. 39; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 743; Wank, Methodenlehre, § 7, Rn. 5; Zippelius, Methodenlehre, S. 37. 99 Bydlinski, Methodenlehre, S. 439; Möllers, Methodenlehre, § 4, Rn. 48–63; Hassold, Gesetzesauslegung, S. 211, 223; Neuner, Contra legem, S. 119–121; Reimer, Methodenlehre, Rn. 294, 298–299; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 741; Wank, Methodenlehre, § 7, Rn. 33; Zippelius, Methodenlehre, S. 37–38. Differenzierend, allerdings mit Beispielen aus den Bereichen Strafrecht und Grundrechte, Alexy/Dreier, in: Interpreting Statutes, S. 73, 83–84. 100 Bydlinski, Methodenlehre, S. 439; Möllers, Methodenlehre, § 4, Rn. 48–63; Reimer, Methodenlehre, Rn. 294, 298–299; Wank, Methodenlehre, § 7, Rn. 33, und Zippelius, Methodenlehre, S. 37–38. 101 Zippelius, Methodenlehre, S. 37. S. auch BVerfG 19.3.2003 DE:BVerfG:2003: rk20030319.2bvr154001 Rn. 24, zur unterschiedlichen Deutung desselben rechtlichen Begriffs in verschiedenen Regelungszusammenhängen. 102 Hassold, Gesetzesauslegung, S. 211, 223; Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 192; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 141–144; Pötters/Christensen, JZ 2011, 387, 389; Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 613–614. 103 S. dazu Wiedemann, Interpretation, S. 647, 650: „Manchmal ist die Eindeutigkeit aber nur scheinbar vorhanden als Ergebnis mangelnder Kenntnis oder Phantasie.“ Im Übrigen besteht Uneinigkeit über die Eindeutigkeit von Zahlwörtern, s. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 343; Möllers, Methodenlehre, § 4, Rn. 46–47, einerseits; Kramer, Methodenlehre, S. 94 (mit Fn. 163); Müller/Christensen, Methodik, Rn. 309; Wank, Methodenlehre, § 7, Rn. 51, andererseits.
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Begriffs oder aus unscharfen Grenzen ergeben, aber auch daraus, dass es sich um ausfüllungsbedürftige Wertbegriffe handelt.104 Eine Beschränkung auf die reine Wortsinninterpretation in Fällen, in denen der Wortsinn eindeutig ist, wird einhellig abgelehnt.105 Gelegentlich wird der Wortsinn als wandelbar bezeichnet.106 Demgegenüber betonen andere Autoren zu Recht, dass es angesichts der Gesetzesbindung für die Wortsinnauslegung auf das entstehungszeitliche Verständnis des Gesetzgebers ankommt.107 Allein der Bedeutungswandel eines Wortes führe nicht zu einer Änderung des Gesetzesinhalts.108 Das ist eine der Streitfragen, an der sich zeigt, dass die Grundhaltung zu den Auslegungstheorien die „Optik der Interpretation“ beeinflusst.109 Nach überwiegender Auffassung bildet der Wortsinn die Grenze der Auslegung.110 Andere lehnen den Wortsinn als Auslegungsgrenze ab.111 Die Frage 104
Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 191–206; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 131–137. Zu Vagheit und Wertbegriffen auch Kramer, Methodenlehre, S. 68–74, 77–78. 105 Kramer, Methodenlehre, S. 94–95; Möllers, Methodenlehre, § 6, Rn. 3–5; Rüthers/ Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 732–733; Wank, Methodenlehre, § 7, Rn. 49. Dazu, dass die Rechtsprechung die vor allem in älteren Urteilen gelegentlich bemühte Eindeutigkeitsregel zumindest faktisch nicht (durchgängig) befolgt, Vogenauer, Auslegung, S. 51–53, sowie die Analyse der Rechtsprechung auf S. 54–108. 106 Möllers, Methodenlehre, § 4, Rn. 41, 60. S. auch Larenz, Methodenlehre, S. 323–324. 107 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 742. 108 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 139. 109 Dazu oben S. 75. 110 Bydlinski, Methodenlehre, S. 467–471; Engisch, Einführung, S. 143; Kramer, Methodenlehre, S. 63–65; Larenz, Methodenlehre, S. 322; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 66–67; Neuner, Contra legem, S. 90–102; Zippelius, Methodenlehre, S. 39. Außerhalb des Strafrechts erwähnt das BVerfG in einigen Entscheidungen die Wortlautgrenze, so in BVerfG 2.5.2016 DE:BVerfG:2016:rk20160502.2bvr113714 Rn. 30; BVerfG 4.11.2015 DE:BVerfG:2015:qk20151104.2bvq005612 Rn. 10; BVerfG 19.9.2007 DE: BVerfG:2007:fs20070919.2bvf000302 Rn. 95. In anderen Entscheidungen – wiederum außerhalb des Strafrechts – heißt es, der Wortsinn begrenze die Auslegung nicht. Das BVerfG versteht Auslegung in diesem Kontext aber in einem weiteren Sinne, der die Rechtsfortbildung einschließt, s. z.B. BVerfG 31.10.2016 DE:BVerfG:2016:rk20161031.1bvr087113 Rn. 22, und die weiteren in Fn. 81 genannten Entscheidungen. Auch BGH und BAG verwenden in mehreren Entscheidungen die Wortlautgrenze, so in BGH 26.11.2008 – VIII ZR 200/05 – NJW 2009, 427, 428; BAG 29.9.2004 – 1 AZR 473/03 – NJOZ 2005, 4150, 4513; BGH 4.5.1988 – VIII ZR 196/87 – NJW 1988, 2109; BAG 23.2.1984 – 6 AZR 135/81 – AP Nr. 1 zu § 2 SonderUrlG Baden-Württemberg; BGH 7.5.1982 – V ZR 58/81 – NJW 1982, 1868; BGH 13.6.1966 – KZR 5/65 – NJW 1967, 343, 346. 111 Reimer, Methodenlehre, Rn. 310, 553; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 736–737; Wank, Methodenlehre, § 7, S. 56–79. Pötters/Christensen, JZ 2011, 387, 392, sprechen zwar von einer „Wortlautgrenze“ (Anführungszeichen im Original), verstehen darunter aber gerade nicht die grammatikalische Auslegung, sondern den umfassend, mit Hilfe aller Kriterien ausgelegten Wortlaut des Gesetzes.
II. Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen
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nach der Grenzfunktion des Wortsinns ist nicht mit der nach den Grenzen der Interpretation gleichzusetzen. Ob die Norm mit dem durch Auslegung ermittelten Inhalt anzuwenden oder eine Korrektur vorzunehmen ist, ist eine andere Frage.112 Die Wortsinngrenze wirft allerdings Probleme auf, weil sie selbst unscharf ist. Zudem wird sie nicht einheitlich umschrieben, da für die Grenzfunktion teils auf den umgangssprachlichen, teils auch auf den fachsprachlichen Wortsinn abgestellt wird.113 Soll der umgangssprachliche Wortsinn die Grenze bilden, gerät die Grenzfunktion mit dem Vorrang der fachsprachlichen Bedeutung von Gesetzesbegriffen in Konflikt. Wenn die fachsprachliche Bedeutung maßgeblich ist, kann nicht zugleich der umgangssprachliche Wortsinn die Auslegung begrenzen. Zwar ist den Autoren zuzustimmen, nach deren Auffassung dem Gesetzgeber kein vom umgangssprachlichen Sinn des Wortes abweichendes Verständnis zu unterstellen ist, wenn es dafür keine Anhaltspunkte gibt.114 Ob solche Anhaltspunkte gegeben sind und wie der Begriff letztlich fachsprachlich zu verstehen ist, ergibt sich aber gerade nicht aus der umgangssprachlichen Wortbedeutung.115 Dementsprechend heißt es zur Wortsinngrenze kritisch, der „mögliche“ Wortsinn sei extrem weit und habe eine geringe Begrenzungsfunktion.116
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Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 147; Reimer, Methodenlehre, Rn. 310. Zippelius, Methodenlehre, S. 39, hält den Sprachgebrauch der Rechtsgemeinschaft für maßgeblich, soweit das Gesetz keine abweichende Begriffsbestimmung enthält, wobei mit letzterem wohl Definitionen gemeint sind, sodass es mangels einer Definition auf den allgemeinen Sprachgebrauch ankommt. Ähnlich stellen Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 146, auf den natürlichen Sprachgebrauch ab. Dieser sei relevant, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte für einen spezifisch juristischen Sprachgebrauch bestehen. Damit kommt dem natürlichen Sprachgebrauch – der wohl mit dem umgangssprachlichen Begriffsverständnis gleichzusetzen ist – eine Grenzfunktion zu. Dagegen nennt Engisch, Einführung, S. 143, den Sprachgebrauch „der Umgangssprache oder der juristischen Fachsprache“ als Grenze der Auslegung. Ähnlich spricht Larenz, Methodenlehre, S. 322, von dem „allgemeinen oder dem jeweils als maßgeblich zu erachtenden Sprachgebrauch dieses Gesetzgebers“. Nicht ganz klar ist, wie Bydlinski, Methodenlehre, S. 439, 441, 467–471, den möglichen Wortsinn bestimmt. Er versteht zwar unter Sprachgebrauch sowohl den allgemeinen als auch den spezifisch juristischen Sprachgebrauch (S. 439), sodass auch letzterer erfasst zu sein scheint, wenn er vom „nach dem Sprachgebrauch noch ,möglichen Wortsinn‘“ spricht (S. 467–468). Allerdings stellt er im Zusammenhang mit der Wortsinngrenze auch auf den bloß Sprach- nicht aber Sachkundigen ab, was dafür spricht, dass der allgemeinsprachlichen Bedeutung begrenzende Funktion zukommt. 114 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 147. 115 Das zeigt sich u.a. an dem vielfach verwendeten Beispiel der Auslegung des Begriffs „wichtiges Glied“ im Rahmen des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB (s. dazu z.B. Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 147–148). 116 Reimer, Methodenlehre, Rn. 310. S. auch EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 49–50. 113
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Entsprechendes gilt, wenn die Grenze der Auslegung beim fachsprachlichen Wortsinn liegen soll. Zwar lässt sich auch hier sagen, dass von der üblichen fachsprachlichen Bedeutung – soweit eine solche trotz Relativität der Rechtsbegriffe feststellbar ist – auszugehen ist, wenn keine Anhaltspunkte für ein abweichendes Verständnis gegeben sind. Ergeben weitere Auslegungskriterien aber solche Anhaltspunkte, setzt auch die übliche fachsprachliche Bedeutung der Auslegung keine unüberwindbaren Grenzen. Der Wille des Gesetzgebers muss schließlich nicht im Gesetzeswortlaut angedeutet sein, damit er berücksichtigt werden kann.117 Zwar heißt es gelegentlich, der Wille des Gesetzgebers müsse im Normtext zum Ausdruck gekommen sein.118 Der Kontext dieser Äußerungen lässt aber darauf schließen, dass damit die soeben behandelte Grenzfunktion des Wortsinns gemeint ist, nicht jedoch eine weitere Beschränkung zulässiger Auslegungsergebnisse. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass sich in der Literatur kein Beispiel dafür findet, dass der Gesetzgeber einen Begriff erkennbar in einem bestimmten Sinne verstanden hat, dieser Sinn aber nicht mit einer möglichen Bedeutung dieses Wortes – sei es in der Umgangssprache oder in der Fachsprache – vereinbar ist. b) Die Systematik Systematische Gesichtspunkte sind bei der Auslegung einer Norm ebenfalls zu berücksichtigen. Dabei wird zwischen der äußeren und der inneren Systematik unterschieden. Die äußere Systematik betrifft den Standort der Norm. So kann die Überschrift einer Norm oder ihre Stellung im Gesetz Aufschluss darüber geben, wie sie zu verstehen ist.119 Schwieriger gestaltet sich der Rückgriff auf die innere Systematik. Dabei geht es darum, die Norm als Teil der Rechtsordnung, als Teil eines einheitlichen Systems zu betrachten. 117 Fleischer, Gesetzesmaterialien, S. 1, 18–19; Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 74–76, 177; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 69–70; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 734–737. Kritisch zum Umgang der Rechtsprechung mit der von ihr gelegentlich befürworteten Andeutungstheorie Vogenauer, Auslegung, S. 116, 120. 118 Engisch, Einführung, S. 143; Hassold, Gesetzesauslegung, S. 211, 218–219. S. aus der Rechtsprechung des BVerfG 16.12.1981 – 1 BvR 898/79 u.a. – BVerfGE 59, 128, 153; BVerfG 17.5.1960 – 2 BvL 11/59, 2 BvL 11/60 – BVerfGE 11, 126, 130. S. auch BVerfG 29.6.2016 DE:BVerfG:2016:rs20160629.1bvr101515 Rn. 77. 119 Bydlinski, Methodenlehre, S. 442–444; Engisch, Einführung, S. 117; Larenz, Methodenlehre, S. 326–327; Reimer, Methodenlehre, Rn. 311; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 140–141, 745; Zippelius, Methodenlehre, S. 46. In diesem Sinne, allerdings ohne Verwendung des Begriffs der äußeren Systematik, auch Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 149–152; Möllers, Methodenlehre, § 4, Rn. 118–122. Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 154–155, versteht unter dem inneren System gleichrangige Normen, die in einem inneren Zusammenhang zueinander stehen. Allein zur inneren Systematik äußern sich Alexy/Dreier, in: Interpreting Statutes, S. 73, 88.
II. Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen
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Andere Regelungen sollen zum Verständnis der auszulegenden Norm herangezogen, Wertungswidersprüche vermieden werden.120 Der systematischen Auslegung steht nicht entgegen, dass eine Rechtsordnung, der ein einheitlicher Wertungsplan zugrunde liegt, eine Idealvorstellung ist, die sich in der Realität nicht wiederfindet.121 Werte, die bei der Auslegung zu berücksichtigen sind, können sich aus der Wertordnung der Verfassung, aber auch aus einfachem Gesetzesrecht ergeben.122 Soll nicht ein konkret vorhandenes System, sondern der Rückgriff auf Wertungen aus „der Rechtsordnung“ in die Auslegung einfließen, ordnen einige Autoren das als teleologische Auslegung ein.123 Andere weisen zumindest auf die Nähe solcher Erwägungen zur teleologischen Auslegung hin.124 Nach hier vertretener Auffassung ist hinsichtlich der Einordnung dieser Aspekte der Auslegung in den Auslegungskanon zu differenzieren. Um systematische Auslegung handelt es sich, wenn bei Regelungen Wertungen einbezogen werden, bei denen davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber sie aufgrund ihres Sachzusammenhangs bei Erlass seiner Regelung berücksichtigt hat. Dann ist anzunehmen, dass die Neuregelung sich in das bereits Vorhandene stimmig einfügen sollte.125 Die Systematik lässt in diesen Fällen auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers schließen. Das gilt z.B. für den nachkonstitutionellen Gesetzgeber für die Wertungen der Verfassung.126 Auch insofern ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber eine stimmige – insbesondere verfassungskonforme – Lösung schaffen wollte.127 Regelungen und Wertungen, die nicht in einem Sachzusammenhang stehen oder die der Gesetzgeber gar nicht berücksichtigen konnte, weil sie erst 120
Larenz, Methodenlehre, S. 325–326; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 149–150; Neuner, Contra legem, S. 105–106; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 142–146, 744; Zippelius, Methodenlehre, S. 43–44. 121 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 145–146, 744. 122 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 147, 752–754. 123 Bydlinski, Methodenlehre, S. 443; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 150. 124 Engisch, Einführung, S. 117; Larenz, Methodenlehre, S. 327–328; Möllers, Methodenlehre, § 4, Rn. 112–113; Zippelius, Methodenlehre, S. 44–45. 125 BVerfG 9.5.1978 – 2 BvR 952/75 – BVerfGE 48, 246, 257 (bezogen auf Regelungen aus demselben Gesetz); Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 150. 126 Zu Recht weist allerdings Gusy, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 221, darauf hin, dass die Hinweise der Verfassung für die Auslegung einfachen Rechts begrenzt sind. 127 S. auch Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 155–156, der seine Aussage zwar nicht ausdrücklich auf den nachkonstitutionellen Gesetzgeber bezieht, aber davon spricht, dass der Normsetzer daran interessiert sei, rangkonformes Recht zu schaffen. Dabei kann der Gesetzgeber andere Normen nur beachten, wenn sie bei der Schaffung seiner Regelung schon existierten oder zumindest in Planung waren (das gilt letztlich unabhängig von ihrem Rang), was Höpfner an späterer Stelle (Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 163) dann auch ausdrücklich ausspricht.
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später geschaffen wurden – das gilt z.B. für den vorkonstitutionellen Gesetzgeber hinsichtlich der Verfassung – können dagegen bei der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens keine Rolle spielen, weil sie nicht zu dem System gehören, das der Gesetzgeber vorgefunden hat. Insofern handelt es sich aber um objektiv-teleologische Aspekte, die bei der Auslegung relevant werden, wenn und soweit die Auslegung nach Wortsinn, Systematik und Historie128 kein klares Ergebnis gegeben hat. Damit ist auch der Unterschied angesprochen, der sich durch die differenzierende Zuordnung zu den einzelnen Auslegungsmethoden ergibt. Während es in der ersten Fallgruppe darum geht, aus dem Umfeld der Norm Schlüsse auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers zu ziehen, geht es bei der zweiten Fallgruppe um Argumente zur Inhaltsbestimmung, die nicht auf dem gesetzgeberischen Regelungswillen beruhen.129 Eine bedeutende Rolle spielt die rangkonforme, insbesondere die verfassungskonforme Auslegung. Sie wird weder einheitlich eingeordnet noch einheitlich beschrieben. Einige verstehen sie als systematische Auslegung.130 Andere sehen sie als Ausprägung der teleologischen Auslegung.131 Wieder andere verzichten auf eine solche Zuordnung und behandeln Verfassungskonformität als eigenständigen Auslegungsgesichtspunkt.132 Schließlich wird auch vertreten, dass die Konformauslegung der Geltungserhaltung dient, sodass sie nicht Teil der Auslegung ist, mit der der Inhalt des Gesetzes ermittelt wird.133 Da die Diskussion zur verfassungskonformen Auslegung einen erheblichen Umfang angenommen hat und zudem Parallelen zur richt128 Historie umfasst in diesem Text die historische und die genetische Auslegung; zu dieser Unterscheidung unten S. 83. 129 S. zur objektiv-teleologischen Auslegung und dem Umstand, dass sie nicht der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens dient, unten S. 86–94. 130 Prümm, Verfassung, S. 96; Zippelius, Methodenlehre, S. 44. 131 Bydlinski, Methodenlehre, S. 455–457; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 177–179. Wohl auch Larenz, Methodenlehre, S. 333–343, der im Rahmen der objektivteleologischen Auslegung auf rechtsethische Prinzipien zurückgreift und unter ihnen den Prinzipien mit Verfassungsrang besondere Bedeutung zuweist. Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 25–26; Canaris, Verfassungskonforme Auslegung, S. 141, 154, und Hassold, Gesetzesauslegung, S. 211, 234, ordnen sie sowohl als systematische als auch als teleologische Auslegung ein, wobei Canaris zugleich die Sonderstellung betont, die ihr durch den Vorrang vor anderen Auslegungskriterien zukommt. 132 Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 266–270; Möllers, Methodenlehre, § 11, Rn. 51. 133 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 157–159, 184; Reimer, Methodenlehre, Rn. 239, 630. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 762a, ordnen die systemkonforme Rechtsanwendung als Ausfüllung von Kollisionslücken ein, sprechen aber dennoch in Rn. 763 von verfassungskonformer Auslegung, wenn unter mehreren Auslegungsmöglichkeiten diejenige ausgewählt wird, die den Wertmaßstäben der Verfassung am besten entspricht und so die Norm soweit wie möglich aufrechterhalten wird.
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linienkonformen Auslegung denkbar sind, wird sie hier in einem eigenen Punkt behandelt.134 c) Die historische und genetische Auslegung Zur Auslegung werden ferner historische und genetische Elemente verwendet.135 Die historische Auslegung136 nimmt die Rechtslage vor Erlass der auszulegenden Norm in den Blick, befasst sich also mit ihrer Vorgeschichte.137 Die genetische Auslegung befasst sich mit der Entstehungsgeschichte der auszulegenden Norm. Mithilfe der Gesetzesmaterialien soll ermittelt werden, welche Regelungsabsicht der Gesetzgeber bei Erlass der Norm hatte.138 Die historische und genetische Auslegung sind nicht nur für diejenigen relevant, die Gesetze (in erster Linie) subjektiv nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers auslegen wollen. Auch nach der Auffassung, die den Anpassungsbedarf der Gesetze im Wandel der Zeit betont und so den Willen des Gesetzgebers gegebenenfalls (bereits) im Rahmen der Auslegung zurückstellt, sollen erkennbare Regelungsabsichten und Wertentscheidungen des Gesetzgebers maßgeblich bleiben, wenn sie nicht zu heutigen Verfassungsgrundsätzen und Rechtsprinzipien in Widerspruch stehen.139 Der Einwand, mit der Bindung an den Willen des historischen Gesetzgebers drohe eine Versteinerung des Rechts, trifft nicht die historische und genetische Auslegung als solche, sondern eine Interpretationslehre, die unabhängig von Veränderungen Normen stets nach dem Verständnis anwendet,
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S. unten S. 94–106. S. zur genetischen Auslegung in der Rechtsprechung des BVerfG Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1993. 136 Von einigen werden die historische und die genetische Auslegung unter dem Begriff historische Auslegung zusammengefasst (s. z.B. Bydlinski, Methodenlehre, S. 449; gegen eine Trennung auch Zippelius, Methodenlehre, S. 41–42). Dann ist die hier beschriebene historische Auslegung eine historische Auslegung im engeren Sinne (s. dazu Möllers, Methodenlehre, § 4, Rn. 148; Reimer, Methodenlehre, Rn. 347). 137 Alexy/Dreier, in: Interpreting Statutes, S. 73, 87; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 155–157; Möllers, Methodenlehre, § 4, Rn. 149–151; Reimer, Methodenlehre, Rn. 347–349; Wank, Methodenlehre, § 10, Rn. 25–26. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 780–783, fassen unter historische Auslegung (wohl: im weiteren Sinne) den historischgesellschaftlichen Kontext, den geistes- und dogmengeschichtlichen Kontext und den Regelungswillen der Gesetzgebung. 138 Bydlinski, Methodenlehre, S. 451 (Zwecke und Werte); Larenz, Methodenlehre, S. 330; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 157; Möllers, Methodenlehre, § 4, Rn. 156; Reimer, Methodenlehre, Rn. 350; Zippelius, Methodenlehre, S. 42, stellt entsprechend seinem Verständnis von der Regelungsabsicht des Gesetzgebers (s. oben S. 69) darauf ab, ob sich mehrheitlich konsensfähige Ziele feststellen lassen. 139 Larenz, Methodenlehre, S. 318. 135
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das ihnen entstehungszeitlich zukommt. Eine solche starre Rechtsanwendung wird aber zumindest heutzutage nicht mehr vertreten.140 Zwar sind, wie bereits erwähnt, nach einer Auffassung in der Literatur Anpassungen allein im Wege der Rechtsfortbildung vorzunehmen.141 Auch nach diesem im Vergleich zu Kombinationstheorien engen Verständnis von Auslegung ist aber das Recht nicht zwingend mit dem Ergebnis der Auslegung anzuwenden. Mit welchem Inhalt das Recht angewendet wird, steht erst am Ende des Interpretationsvorgangs fest, der die Rechtsfortbildung einschließt. Soll die genetische Auslegung relevant sein, muss man allerdings erklären können, was unter dem Willen des Gesetzgebers zu verstehen ist. In einer parlamentarischen Demokratie ist, wie bereits erwähnt, der gesetzgeberische Wille im Sinne einer Zurechnung zu verstehen. Das Parlament akzeptiert mit der Abstimmung über das Gesetz das Sinnverständnis der eigentlichen Verfasser.142 Soweit es heißt, konkrete Normvorstellungen seien nur bei den Verfassern des Gesetzentwurfs und bei den beratenden Ausschüssen zu erwarten, die aber nicht „der Gesetzgeber“ seien,143 ist das gerade der Punkt, der durch den Zurechnungsgedanken überwunden wird. Diese sogenannte Paktentheorie trägt der Arbeitsteilung Rechnung, die in der modernen parlamentarischen Demokratie notwendig ist.144 Wer diese Arbeitsteilung nicht akzeptieren will, müsste die Gesetzgebung in einem solchen System für wenig konkret halten. So heißt es denn auch in der Literatur, die Abgeordneten billigten in der Regel nur die Regelungsabsicht und die Zwecke des Gesetzes und vertrauten darauf, dass die Gesetzesanwender die Normen in diesem Sinne auslegen.145 Der Freiraum, der dem Gesetzesanwender damit zugestanden wird, ist unter Gewaltenteilungsaspekten nicht weniger problematisch als die inhaltliche Prägung des Gesetzes durch die Exekutive.146 Maßgeblich ist, wer für das Gesetz die Verantwortung übernimmt. Das sind die Parlamentarier, die über den Entwurf vor dem Hintergrund der Entwürfe, Begründungen und Beratungen abstimmen und damit nicht bloß die grundlegende Regelungsabsicht und die Zwecke des Gesetzes billigen. 140 Dementsprechend wird in der jüngeren Literatur das Versteinerungsargument nicht verwendet, sondern lediglich referiert. 141 Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 210; MüKo-BGB/Säcker, Einleitung, Rn. 124, 135; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 730, 730c–730d, 816–817. 142 S. oben Fn. 62. 143 Larenz, Methodenlehre, S. 329. 144 Zu dieser Begründung der Paktentheorie Fleischer, Gesetzesmaterialien, S. 1, 15; Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 143–145; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 358–359, die sich jeweils auch darauf stützen, dass in der Regel Regierung und Parlamentsmehrheit politisch übereinstimmen. Zum Aspekt der Arbeitsteilung ferner Müller/ Christensen, Methodik, Rn. 361f; Reimer, Methodenlehre, Rn. 352. 145 Larenz, Methodenlehre, S. 329. 146 Zum Aspekt der Gewaltenteilung in diesem Kontext Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 166–168.
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Ein anderes Problem liegt in der Ergiebigkeit der Materialien. Während einige ihren Ertrag für die Auslegung skeptisch betrachten, sind andere positiver gestimmt.147 Es besteht jedenfalls kein Anlass, die Materialien generell abzuwerten.148 Auch andere Auslegungskriterien sind mal mehr, mal weniger ergiebig. Einigkeit besteht schließlich darin, dass die Materialien nicht verbindlich sind, sondern lediglich eines der Mittel, mit deren Hilfe der Gesetzesinhalt geklärt wird.149 Zum Auslegungsmaterial der genetischen Auslegung zählt die Literatur meist die parlamentarischen Materialien, also Gesetzentwürfe mit der amtlichen Begründung, Beschlussempfehlungen und Protokolle von Parlamentsausschüssen, Parlamentsdebatten und Stellungnahmen des Bundesrats.150 Das deckt sich weitestgehend mit den Vorgaben des BVerfG. Das Gericht will die Begründung eines Gesetzentwurfs, der unverändert verabschiedet worden ist, die darauf bezogenen Stellungnahmen von Bundesrat und Bundesregierung sowie die Stellungnahmen, Beschlussempfehlungen und Berichte der Ausschüsse berücksichtigt wissen.151Bydlinski zieht den 147 Kritisch, insbesondere hinsichtlich der Verfassungsauslegung, Heun, AöR 116 (1991), 185, 200–201. Positiver Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 359; Reimer, Methodenlehre, Rn. 355. 148 Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 148–150; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 791. 149 Fleischer, Gesetzesmaterialien, S. 1, 19–20; Kramer, Methodenlehre, S. 162; Reimer, Methodenlehre, Rn. 354; Waldhoff, Gesetzesmaterialien, S. 75, 92. 150 S. die Aufzählungen bei Larenz, Methodenlehre, S. 330; Möllers, Methodenlehre, § 4, Rn. 161–164; Reimer, Methodenlehre, Rn. 350; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 790. Höpfner, RdA 2018, 321, 327, und Wank, Methodenlehre, § 10, Rn. 17, 27, nennen ausdrücklich auch Referentenentwürfe; dagegen Wischmeyer, Zwecke, S. 389–390; ders., JZ 2015, 957, 965. Skeptisch zum Gehalt von Äußerungen der Parlamentsabgeordneten „bei der Beratung und Diskussion“ – und damit wohl auch zu Ausschussmaterial und Stellungnahmen des Bundesrats – Fleischer, Gesetzesmaterialien, S. 1, 14. Wischmeyer, JZ 2015, 957, 965, lehnt den Rückgriff auf Plenar- und Ausschussprotokolle ab, da sie nicht den gesetzgeberischen Willen repräsentieren. Er versteht das parlamentarische Verfahren als Willensbildungsprozess, in dessen Rahmen Material entsteht und verwendet wird, das als Ausdruck der gesetzgeberischen Willensbildung verstanden werden kann. Mit anderer Begründung und geringfügigen Einschränkungen auch Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 207–208. Einschränkend ferner Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 618–620. 151 BVerfG 6.6.2018 DE:BVerfG:2018:ls20180606.1bvl000714 Rn. 74. S. auch BVerfG 13.4.2017 DE:BVerfG:2017:ls20170413.2bvl000613 Rn. 79 (Verwendung der Entwurfsbegründung, der Stellungnahme des Bundesrats und des Berichts des Rechtsausschusses); BVerfG 19.9.2007 DE:BVerfG:2007:fs20070919.2bvf000302 Rn. 12–13 (Verwendung des ursprünglichen Entwurfs, der Stellungnahme des Bundesrats und der Gegenäußerung der Bundesregierung). S. ferner BVerfG 3.7.2012 DE:BVerfG:2012:up20120703.2pbvu000111 Rn. 33–38, wo auch die Protokolle einer gemeinsamen Sitzung des Rechts- und des Innenausschusses in Bezug genommen wurden, da der Rechtsausschuss sich in seinem Bericht auf diese Anhörung gestützt hatte.
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Rahmen noch weiter und sieht als Gesetzgebungsmaterial auch wissenschaftliche Vorarbeiten und private wissenschaftliche Äußerungen der Gesetzesverfasser an.152 Dagegen halten andere außerparlamentarisches Material ausdrücklich nicht für verwertbar.153 Nachträgliche Auskünfte von Verfahrensbeteiligten sind nach allgemeiner Auffassung nicht zu berücksichtigen.154 Welche Äußerungen aus den Materialien bei der Auslegung heranzuziehen sind, wird selten diskutiert. Nach Frieling sind die konkreten Normvorstellungen, Ziele sowie Aufträge an die Wissenschaft und Rechtsprechung relevant. Nicht zu berücksichtigen seien dagegen Beispiele, Rechtsauffassungen und tatsächliche Prämissen.155 Während dem für Rechtsauffassungen und Tatsachenvorstellungen zuzustimmen ist,156 können Beispiele durchaus beachtlich sein. Beispiele sind lediglich eine bestimmte Ausdrucksform, um konkrete Normvorstellungen und Ziele zu transportieren.157 Ein Übergriff in die Kompetenzen der Rechtsprechung ist nicht gegeben, da nicht in die Entscheidung eines Rechtsstreits eingegriffen wird. Mit Blick auf die Praxis wird schließlich festgestellt, dass die Gerichte vor allem bei jüngeren Gesetzen ausdrücklich auf Gesetzgebungsmaterialien zurückgreifen. Bei älteren Gesetzen werde dagegen eher mit Präjudizien und Auffassungen aus der Literatur argumentiert. Am Einfluss der Materialien ändere das aber nichts, da diese in den herangezogenen Urteilen und Stellungnahmen verwertet seien.158 d) Die teleologische Auslegung Berechtigung und Reichweite der teleologischen Auslegung sind in der Literatur umstritten. Das BVerfG spricht in einigen Entscheidungen ausdrücklich von objektiv-teleologischer Auslegung.159 Meist ist aber schlicht von teleologischer Auslegung die Rede, ohne dass deutlich wird, ob das in einem subjektiven oder objektiven Sinn zu verstehen ist.160 In der Literatur heißt es, 152
Bydlinski, Methodenlehre, S. 449. Reimer, Methodenlehre, Rn. 350. 154 Bydlinski, Methodenlehre, S. 449; Fleischer, Gesetzesmaterialien, S. 1, 18; ders., NJW 2012, 2087, 2089–2090; Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 204–205; Möllers, Methodenlehre, § 4, Rn. 168; Reimer, Methodenlehre, Rn. 350. 155 Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 169–173, 213–215. A.A. zu den konkreten Normvorstellungen Larenz, Methodenlehre, S. 329, zu Beispielen Höpfner, RdA 2018, 321, 327. 156 Ausdrücklich gegen ihre Berücksichtigung auch Bydlinski, Methodenlehre, S. 433. 157 In diesem Sinne auch Höpfner, RdA 2018, 321, 327. 158 Bydlinski, Methodenlehre, S. 453. 159 BVerfG 30.3.2004 DE:BVerfG:2004:rs20040330.2bvr152001 Rn. 97; BVerfG 16.1.2003 DE:BVerfG:2003:rs20030116.2bvr071601 Rn. 91; BVerfG 20.3.2002 DE: BVerfG:2002:rs20020320.2bvr079495 Rn. 82; BVerfG 16.8.2001 DE:BVerfG:2001:lk 20010816.1bvl000601 Rn. 22. 160 S. nur BVerfG 12.6.2018 DE:BVerfG:2018:rs20180612.2bvr173812 Rn. 136; BVerfG 153
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das Gericht lege zum einen oft das Ziel der Norm fest, ohne erkennen zu lassen, woraus es den Zweck ableitet, greife aber zum anderen häufig auf die Entstehungsgeschichte zurück, um den Normzweck zu bestimmen.161 In der Literatur wird der Begriff überwiegend im Sinne einer objektivteleologischen Auslegung verwendet. Daneben ist aber auch von subjektivteleologischer Auslegung die Rede. Subjektiv-teleologische Auslegung bezeichnet die Ermittlung des Normzweckes durch historische Auslegung.162 Gemeint sind nicht die Vorstellungen des Gesetzgebers zu der Fallkonstellation, die der Rechtsanwender zu entscheiden hat, sondern die mit dem Gesetz verfolgten Zwecke, anhand derer dann die Norm ausgelegt werden soll.163 Da es um die Zwecke geht, die der historische Gesetzgeber verfolgte, ist die subjektiv-teleologische Auslegung Teil der historischen Auslegung164, wenn nicht die Zwecke ausdrücklich im Gesetz niedergelegt sind, z.B. in einer Präambel oder einleitenden Zweckbestimmung.165 aa) Grundlegende Kritik an der objektiv-teleologischen Auslegung Die objektiv-teleologische Auslegung soll nach verbreiteter Auffassung zum Zuge kommen, wenn die Auslegung nach dem Wortsinn und der Systematik sowie die historische und genetische Auslegung kein klares Ergebnis erbracht haben.166 In dieser Situation sollen „objektive“ Kriterien wie die Natur der Sache und der Gleichbehandlungsgrundsatz Aufschluss über den Norminhalt geben. Ein Teil der Literatur lehnt die objektiv-teleologische Auslegung
7.3.2017 DE:BVerfG:2017:rs20170307.1bvr131412 Rn. 162; BVerfG 12.5.2009 DE: BVerfG:2009:rs20090512.2bvr089006 Rn. 148; BVerfG 29.7.1998 DE:BVerfG:1998: rk19980729.1bvr114390 Rn. 42. 161 Bleckmann, JuS 2002, 942, 945. 162 Bydlinski, Methodenlehre, S. 451, der von historisch-teleologischer Auslegung spricht (s. zu seiner Begrifflichkeit S. 453 (Fn. 98)); Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 620. Allerdings bezeichnet Reimer, Methodenlehre, Rn. 360, die teleologische Methode bei Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 160–161, bei der es nicht um die Ermittlung von Normzwecken aus der Gesetzeshistorie geht, als „subjektiv-teleologische Perspektive“. Looschelders/Roth selbst verwenden die Begriffe subjektiv- und objektiv-teleologisch allein in Zitaten in den Fußnoten und verweisen auf S. 166 (Fn. 55) darauf, dass kein sachlicher Unterschied bestehe zu den Auffassungen, die vom objektiven Zweck des Gesetzes sprechen. Übereinstimmung oder zumindest Nähe zur subjektiv-teleologischen Auslegung weist allerdings ihr Kriterium der inneren Kohärenz auf, s. unten S. 92. 163 Bydlinski, Methodenlehre, S. 450–451. 164 So auch die Einordnung bei Bydlinski, Methodenlehre, S. 449, 451. 165 S. Kamanabrou, Auslegung von Tarifverträgen, S. 48. 166 Bydlinski, Methodenlehre, S. 453–454 („jedenfalls dann“); Engisch, Einführung, S. 144; Hassold, Gesetzesauslegung, S. 211, 229; Larenz, Methodenlehre, S. 333, 344; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 160–161; Reimer, Methodenlehre, Rn. 362. S. auch Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 170.
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grundsätzlich ab. Objektiv richtige Aussagen über Textinhalte seien nicht möglich. Unter Rückgriff auf die Rechtsidee, die Gerechtigkeit und ethische Prinzipien seien in der Vergangenheit Gesetze an den Zeitgeist angepasst worden. Im Rahmen politischer Systemwechsel seien auf diese Weise vorhandene Gesetze uminterpretiert und weiter genutzt worden.167 Die objektive Methode sei keine Auslegung, sondern diene dazu, vom gesetzgeberischen Willen abzuweichen.168 Die vom Rechtsanwender benötigten Antworten auf die Fragen der Jetztzeit habe das Gesetz nicht immer zu bieten. In diesen Fällen helfe auch eine objektive Methode nicht. An diesem Punkt ende die Auslegung, es folge gegebenenfalls die Rechtsfortbildung.169 Nach dieser die objektiv-teleologische Auslegung ablehnenden Auffassung ist nicht etwa das Gesetz stets mit dem Inhalt anzuwenden, den der historische Gesetzgeber mit ihm verbunden hat. Vielmehr geht es um die Abgrenzung der Auslegung von der Rechtsfortbildung.170 Im Anschluss an die Auslegung sei zu prüfen, ob der historische Normzweck im Anwendungszeitpunkt noch verbindlich ist. Unter Umständen sei das Gesetz im Wege der Rechtsfortbildung abweichend vom historischen Norminhalt anzuwenden. In diesen Fällen folge die Entscheidung aber nicht „objektiv“ aus dem Gesetz, sondern sei das Ergebnis einer Lückenfüllung.171 Zuzustimmen ist den Kritikern zunächst darin, dass die Aspekte, die in die objektiv-teleologische Auslegung eingebracht werden, kein objektiv richtiges Auslegungsergebnis gewährleisten, da ein objektives Textverständnis nicht existiert. In der Literatur wird insbesondere im Kontext der Diskussion um das Auslegungsziel das Begriffspaar „objektiv – subjektiv“ mit Bezug auf die Gesetzesauslegung zu Recht als irreführend bezeichnet.172 Da aber hinreichend geklärt ist, dass die objektiv-teleologische Auslegung nicht den gesetzgeberischen Willen verwirklicht und eine Eigenwertung des Interpreten mit
167
Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 807–809. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 807–810. Weniger scharf formuliert, aber ebenfalls mit deutlicher Kritik an einer objektiv-teleologischen Auslegung, die den gesetzgeberischen Willen von vornherein nicht oder wenig beachtet, Zimmermann, RabelsZ 83 (2019), 241, 261–263. 169 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 807–810. S. auch Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 164–166. 170 Daher gehen Argumente ins Leere, die daraus entwickelt werden, dass die Alternative zur objektiv-teleologischen Auslegung eine an den subjektiven Vorstellungen des Richters orientierte Auslegung sei. Zu diesem Argument Bydlinski, Methodenlehre, S. 454. Weitere Alternativen zur objektiv-teleologischen Auslegung, die sie ebenfalls nicht als der Gesetzesbindung besser dienlich einstufen, nennen Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 162. 171 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 788, 817. 172 Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 81; Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 629–631; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 807; Zimmermann, RabelsZ 83 (2019), 241, 263. 168
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sich bringt173, wird auch in diesem Text die eingeführte Begrifflichkeit weiter verwendet.174 Zuzustimmen ist der Kritik auch insofern, als eine vermeintlich objektive Auslegung es nicht rechtfertigt, ein Auslegungsergebnis zu überspielen, das sich aus dem Wortsinn, der Systematik sowie der genetischen und historischen Auslegung ergeben hat. Mit der Anpassung des Norminhalts an gewandelte Verhältnisse weicht der Interpret von dem durch Auslegung ermittelten Norminhalt ab. Er unternimmt damit eine Rechtsfortbildung, die als solche offenzulegen ist. Nach den eingangs erwähnten Aussagen soll aber die objektiv-teleologische Auslegung nicht dazu dienen, den gesetzgeberischen Willen beiseite zu schieben, denn sie soll eingreifen, wenn die Auslegung nach Wortsinn, Systematik und Historie kein klares Ergebnis gegeben hat. Die Kritiker beanstanden, dass über das Bestehen von Auslegungszweifeln – und damit die Eröffnung der objektiv-teleologischen Auslegung – der Interpret selbst entscheide, der so seine Interpretationsmacht erheblich ausweiten könne.175 Das ändert aber nichts daran, dass redliche Rechtsanwender immer wieder vor solchen Zweifelsfällen stehen. Sie sind auch nicht immer – möglicherweise noch nicht einmal in erster Linie – mit Wandel, Zeitgeist und Anpassung verbunden. So verweist Bydlinski zu Recht auf Sachverhalte, in denen keine (ergiebigen) Hinweise auf die Wertungen des historischen Gesetzgebers gegeben sind.176 In einigen Fällen werden schon direkt nach Erlass des Gesetzes Auslegungszweifel bestehen. Das galt z.B. für den Streit darum, ob Bürgschaften als entgeltliche Verträge im Sinne des HWiG einzuordnen waren, gilt ebenso aber auch für die Frage, ob § 48 Abs. 4 VwVfG eine Bearbeitungsoder eine Entscheidungsfrist aufstellt.177 Ein non liquet bei der Auslegung, also eine Situation, in der die Auslegung nach Wortsinn, Systematik und Historie kein klares Ergebnis ergeben hat, unterscheidet sich auch wesentlich von den Konstellationen, in denen sich der Norminhalt mit diesen Mitteln ermitteln ließ. Wenn der Rechtsanwender die Regelung nicht mit dem so gewonnenen Inhalt anwenden will oder feststellt, dass der Gesetzgeber die Fallkonstellation oder eine Ausnahme nicht geregelt hat, geht es um eine Korrektur oder Ergänzung des Gesetzes. Die einschlägige Norm wird nicht mit dem Inhalt angewendet, den der Gesetzgeber ihr gegeben hat und den der
173 Deutlich Kramer, Methodenlehre, S. 177. S. auch Möllers, Methodenlehre, § 5, Rn. 8. Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 164, betonen, dass sich der Richter dabei in die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzgebers hineinzudenken habe. 174 S. zu dem Aspekt, die Diskussion nicht durch neue Begrifflichkeiten zu verkomplizieren, Frieling, Gesetzesmaterialien, S. 81. 175 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 810–811. 176 Bydlinski, Lex-lata-Grenze, S. 27, 61. 177 Beispiele nach Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 175–176, 186–188.
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Rechtsanwender ermitteln konnte. Im Fall des non liquet ist dagegen nicht klar, ob die Norm einen bestimmten Fall erfasst oder nicht. Eine Abweichung vom gesetzgeberischen Willen steht dann nicht im Raum. Auch von einer Lücke kann in solchen Fällen nur sprechen, wer einen weiten Lückenbegriff zugrunde legt.178 Zwar geht es in dieser Situation bei der weiteren Interpretation nicht mehr um Auslegung im Sinne einer Feststellung des gesetzgeberischen Willens. Es ist aber nicht zwingend, jeden weiteren Schritt auf der Suche nach dem Inhalt, mit dem die Norm angewendet werden soll, als Rechtsfortbildung einzuordnen. Die Zuweisung zur Rechtsfortbildung ist auch keine bessere Lösung als die Einordnung als Auslegung, weil dann die Begründung der Rechtsfortbildung stärker auszudifferenzieren wäre.179 Da diese ein normaler Schritt im Rahmen der Rechtsanwendung ist, wird durch eine solche Zuordnung nichts erleichtert. Die Auflösung des non liquet als Rechtsfortbildung zu verstehen, ist schließlich nicht methodenehrlicher, da es lediglich um die begriffliche Zuordnung zu einer Interpretationsstufe geht. Hinsichtlich der Methodenehrlichkeit reicht es aus, deutlich zu machen, dass es bei der objektiv-telelogischen Auslegung nicht mehr um die Ermittlung des gesetzgeberischen Willens geht. Damit verändert die Suche nach dem Inhalt, mit dem die Norm anzuwenden ist, ihren Charakter erheblich. Ab diesem Moment im Interpretationsprozess muss der Rechtsanwender begründen, wie er zu einem Ergebnis gelangt, das sich nicht durch Auslegung als gesetzgeberischer Wille hat ermitteln lassen. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die objektiv-teleologische Auslegung nicht dazu dienen kann, ein vom gesetzgeberischen Willen abweichendes Auslegungsergebnis zu begründen.180 Die „Einbettung des Rechts in die Zeit“181 kann sie nur in dem so vorgegebenen Rahmen bewirken. Daher ist darauf zu achten, dass die objektiv-teleologische Auslegung nicht zur Korrektur des Gesetzes verwendet wird. Soweit in der Literatur Beispiele angeführt werden, bei denen der gesetzgeberische Wille erkennbar war, aber durch „Auslegung“ beiseitegeschoben wurde, sind das keine Beispiele für
178
Es mag im Einzelfall schwierig sein, zu bestimmen, ob ein Fall (oder eine Ausnahme) nicht geregelt ist oder die Auslegung zu einem unklaren Ergebnis führt. Das spricht aber nicht grundsätzlich gegen die Unterscheidung von non liquet und Lücke. 179 S. Kamanabrou, Auslegung von Tarifverträgen, S. 53–54, dazu, dass bei der Fortsetzung der Auslegung mit objektiv-teleologischen Mitteln (nur) die Kompetenzfrage Richter – aktueller Gesetzgeber zu entscheiden ist, während bei der Rechtsfortbildung zusätzlich die Abweichung vom gesetzgeberischen Willen zu begründen ist. Weist man beide Interpretationsstufen der Rechtsfortbildung zu, beseitigt das nicht die inhaltlichen Unterschiede. 180 Ausdrücklich bereits Reimer, Methodenlehre, Rn. 362. Deutlich auch Hassold, Gesetzesauslegung, S. 211, 232. 181 Möllers, Methodenlehre, § 5, Rn. 10.
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eine methodengerechte objektiv-teleologische Auslegung.182 Das gewünschte Ergebnis hätte in derartigen Fällen gegebenenfalls durch Rechtsfortbildung erzielt werden können, nicht aber im Wege der Auslegung.183 bb) Aspekte der objektiv-teleologischen Auslegung in der Literatur Ist die objektiv-teleologische Auslegung in diesem begrenzten Anwendungsbereich zulässig, so stellt sich die Frage nach den Gesichtspunkten, die im Rahmen dieses Auslegungsschritts eine Rolle spielen. Die objektiv-teleologische Auslegung wird in der Literatur nicht einheitlich beschrieben. Nach einer Ansicht zählen zu den objektiv-teleologischen Kriterien die Natur der Sache, die der Rechtsordnung immanente Prinzipien, der Gleichheitssatz und die verfassungskonforme Auslegung.184 Recht ähnlich ist die Auffassung, die auf teleologisch-systematische Kriterien, und die Natur der Sache abstellt und ferner das argumentum ad absurdum verwenden, also eine Folgenbetrachtung vornehmen will.185 Bei der teleologisch-systematischen Auslegung sollen dabei die in der Norm möglicherweise verwirklichten Wertund Zweckvorstellungen mit denjenigen verglichen werden, die in anderen Vorschriften zum Ausdruck kommen. Das diene dazu, Wertungswidersprüche zu vermeiden.186 Nach einer weiteren Ansicht kommt es auf die Strukturen des geregelten Sachbereichs und auf rechtsethische Prinzipien an.187 Die Strukturen des Sachbereichs seien dabei nicht mit der Natur der Sache gleichzusetzen. Bei Letzterer gehe es darum, ob und inwieweit eine Regelung durch die Struktur der Sache bereits vorgezeichnet sei, dahinter bleibe der Gesichtspunkt der Strukturen des Sachbereichs zurück.188 Unter den rechtsethischen Prinzipien sei vor allem der Gleichbehandlungsgrundsatz relevant. Wertungswidersprüche, die durch die unterschiedliche Behandlung wertungsmäßig vergleichbarer Tatbestände entstünden, seien zu vermeiden.189
182 S. die Beispiele zur Haftung der Eisenbahn und zur Bedeutung des Begriffs Bergwerksbesitzer in § 148 PrBergG bei Larenz, Methodenlehre, S. 337–339. 183 Die gewandelte Interpretation des Begriffs Bergwerksbesitzer bezeichnet auch Larenz, Methodenlehre, S. 339, als Rechtsfortbildung. 184 Hassold, Gesetzesauslegung, S. 211, 228. S. zu diesen Aspekten auch Zippelius, Methodenlehre, S. 44, 46–47, der allerdings die Natur der Sache nicht erwähnt und die verfassungskonforme Auslegung nicht bei den teleologischen Erwägungen behandelt. 185 Bydlinski, Methodenlehre, S. 454. 186 Bydlinski, Methodenlehre, S. 454. Dazu, dass Wertungswidersprüche sich oft nicht im Wege der Auslegung auflösen lassen Kramer, Methodenlehre, S. 179–182. 187 Larenz, Methodenlehre, S. 333. 188 Larenz, Methodenlehre, S. 334. 189 Larenz, Methodenlehre, S. 334–335. Die dort nachfolgend auf S. 337–338 behandelten Bespiele sind allerdings nicht mehr der Auslegung zuzuordnen, s. oben S. 90–91.
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Eine weitere Auffassung verknüpft die teleologische Auslegung mit dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers.190 Inhaltliche Unterschiede zu den vorstehend genannten Auffassungen sind damit letztlich nicht verbunden. So heißt es, bei der teleologischen Auslegung würden die denkbaren Zwecke der Norm samt der dazugehörigen Wertentscheidungen an den Wertentscheidungen, Prinzipien und Ordnungsvorstellungen dieser oder anderer Normen oder der Gesamtrechtsordnung gemessen.191 Das entspricht im Wesentlichen der zuvor beschriebenen systematisch-teleologischen Auslegung. Auch nach dieser Auffassung ist unter möglichen Auslegungsvarianten diejenige zu wählen, die in Verbindung mit sonstigen Wertungen das sinnvollste und vernünftigste Ganze ergibt. Leichter als die positive Auswahl unter den denkbaren Auslegungsvarianten falle dabei oft die Entscheidung, welche mit den sonstigen Wertungen des Gesetzgebers nicht in Einklang stehen.192 Damit ist der Aspekt der Vermeidung von Wertungswidersprüchen angesprochen. Dabei soll zum einen auf innere Kohärenz geachtet werden, zum andern auf äußere. Die innere Kohärenz betrifft die innere Stimmigkeit der Wertentscheidung. Maßgeblich sollen insoweit Feststellungen über den Inhalt der Norm sein, die sich aus den vorherigen Auslegungsmitteln ergeben haben.193 Das dürfte der subjektiv-teleologischen Auslegung im Sinne Bydlinskis entsprechen.194 Bei der äußeren Kohärenz geht es um den wertungsmäßigen Einklang mit anderen Normen und der Rechtsordnung insgesamt. Hier soll vor allem die verfassungskonforme Auslegung eine Rolle spielen.195 Mit Blick auf ranggleiche Regelungen sollen die Einheit und Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung, Systemgerechtigkeit und die Natur der Sache zu beachten sein. Ob eine derartige Kohärenz gegeben sei, sei jeweils für den Einzelfall zu ermitteln.196 Sei mithilfe der Kohärenzerwägungen kein Ergebnis zu erzielen, komme es zu einer Interessenabwägung, bei der der Rechtsanwender die Perspektive des Gesetzgebers einnehmen soll. Zu berücksichtigen seien u.a. Einzelfallgerechtigkeit, Gemeinwohlverträglichkeit, Rechtssicherheit und Praktikabilität der Regelung.197
190
Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 160–161. Weniger pointiert zieht diese Verbindung auch Larenz, Methodenlehre, S. 347. 191 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 161. 192 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 171–172. Auf den vernünftigen Sinn der Norm stellt auch Engisch, Einführung, S. 144, ab. 193 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 174. 194 S. oben S. 87. 195 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 176–178. 196 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 180–181. 197 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 181–188.
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cc) Eigene Auffassung zu den Auslegungsaspekten und Fazit zur objektiv-teleologischen Auslegung Die Natur der Sache ist mangels hinreichend konkreter Inhalte nicht zur Auslegung heranzuziehen. Die Natur einer Sache ist zu wenig fassbar, um einer Norm Inhalt zu geben. Sie ist so stark von den Vorstellungen des Rechtsanwenders abhängig, dass Argumente unter Berufung auf die Natur der Sache von einer reinen Eigenwertung nicht zu unterscheiden sind. So gibt es z.B. unterschiedliche Auffassungen zur Natur der Ehe oder Familie, sodass sich keine einheitlichen Vorstellungen dazu finden, welche Ordnung dieser Institute bereits in ihrer Natur angelegt ist. Jedenfalls sind Erwägungen zur Natur der Sache aber zu allgemein, um bei Auslegungsproblemen hilfreich zu sein. Selbst wenn man beispielsweise annimmt, dass Ehe und Familie von Einstandspflichten geprägt sind, hilft das bei Detailfragen zum Unterhalt nicht weiter. Objektiv-teleologische Kriterien kommen erst zum Tragen, wenn die Auslegung nach Wortsinn, Systematik und Historie unergiebig ist. Wenn es z.B. um eine Detailfrage des Unterhalts im Familienrecht geht, wird der Rechtsanwender, der die Antwort nicht in der auszulegenden Norm und ihrem Regelungsumfeld gefunden hat, sie kaum aus der Natur der Familie ableiten können. Andere Gesichtspunkte der objektiv-teleologischen Auslegung zielen – wenn auch mit unterschiedlicher Terminologie – auf die Gleichbehandlung vergleichbarer Tatbestände und das Vermeiden von Wertungswidersprüchen. Derartige Überlegungen sind weniger vage als der Rückgriff auf die Natur der Sache, da mit ihnen auf konkrete, in der Rechtsordnung vorhandene Wertungen zurückgegriffen wird. Zudem ist das Vermeiden von Wertungswidersprüchen bereits Teil der systematischen Auslegung, wenn der Gesetzgeber die Regelungen, die den möglichen Widerspruch auslösen, bei Erlass der Norm berücksichtigten konnte.198 Konnte er das nicht, ist das Vermeiden von Widersprüchen im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung nur die Fortsetzung des Gedankens, dass widersprüchliche Regelungen in einer Rechtsordnung vom Gesetzgeber generell nicht gewünscht sind. Die Schwierigkeit liegt bei diesen Kriterien darin, die entscheidenden Wertungen herauszuarbeiten und festzustellen, ob und in welcher Weise sie die Auslegung der Norm beeinflussen, die der Rechtsanwender zu interpretieren hat. Des Weiteren ist zu bedenken, dass nicht jeder Widerspruch durch Auslegung „wegharmonisiert“ werden kann.199 Auch beim Rückgriff auf rechtsethische Prinzipien wie Rechtssicherheit und Vertrauensschutz200 ist Zurückhaltung ange-
198
S. dazu oben S. 81. So deutlich Kramer, Methodenlehre, S. 181–182. S. auch Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 180–181. 200 Diese Prinzipien erwähnen z.B. Bydlinski, Methodenlehre, S. 454 (Rechtssicherheit); 199
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bracht, zumal sie unter Umständen gegenläufige Argumente liefern201. Die verfassungskonforme Auslegung, die Teil der objektiv-teleologischen Auslegung ist, wird nachfolgend gesondert behandelt.202 Die Schwierigkeiten der objektiv-teleologischen Auslegung führen aber nicht dazu, sie generell zu verwerfen. Soweit sie in ihrem ohnehin begrenzten Anwendungsbereich Anhaltspunkte für das Verständnis einer Norm liefern kann, bewirkt sie eine Rückbindung an bereits Vorhandenes. Der Rechtsanwender legt offen, auf welche Wertungen er sich stützt und woraus er sie ableitet. Die Argumentation kann so besser nachvollzogen und kritisiert werden als bei einer freien Bewertung nach den Vorstellungen des einzelnen Rechtsanwenders. Da die Frage durch die Auslegung nach Wortsinn, Systematik und Historie nicht geklärt ist, kann es nur noch um eine möglichst offene, nachvollziehbare und an bereits vorhandenen Wertungen orientierte Entscheidung gehen. Diese Entscheidung muss sich im Rahmen dessen halten, was die Auslegung nach Wortsinn, Systematik und Historie ergeben hat. Wie aufwendig und fehleranfällig die objektiv-teleologische Auslegung ist, wurde in der Literatur bereits erörtert.203 Zu den Beispielen, die zur objektivteleologischen Auslegung gebildet werden, lässt sich in der Regel auch das Gegenteil vertreten, wenn man die maßgeblichen Zwecke anders bestimmt oder gewichtet. Das zeigt aber gerade, dass es in diesem Stadium der Auslegung nicht um ein „zutreffendes“ Ergebnis geht, sondern lediglich um eine möglichst systemgerechte, nachvollziehbare Begründung in einem Bereich, in dem die gesetzgeberische Entscheidung unklar ist. e) Die verfassungskonforme Auslegung Die verfassungskonforme Auslegung wird beschrieben als Auswahl zwischen Auslegungsmöglichkeiten, die nach den übrigen Auslegungskriterien ermittelt wurden. Aus der Gruppe dieser Auslegungsvarianten sei diejenige auszuwählen, die der Verfassung nicht widerspricht.204 Eine Korrektur des
Larenz, Methodenlehre, S. 336 (Vertrauensschutz) sowie Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 188. 201 Im Kontext der Interessenabwägung Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 185–186. 202 S. unten S. 94–106. 203 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 165–173; Reimer, Methodenlehre, Rn. 363–369. 204 BVerfG 31.10.2016 DE:BVerfG:2016:rk20161031.1bvr087113 Rn. 34; BVerfG 19.9.2007 DE:BVerfG:2007:fs20070919.2bvf000302 Rn. 92; BVerfG 22.6.1995 – 2 BvL 37/91 – BVerfGE 93, 37, 81; Larenz, Methodenlehre, S. 339; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 177; Möllers, Methodenlehre, § 11, Rn. 47; Müller/Christensen, Methodik, Rn. 100, 102. Einen deutlich weiteren Begriff verwendet Göldner, Verfassungsprinzip, S. 47.
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Gesetzes unter Berufung auf die Verfassung sei nicht zulässig. Die verfassungskonforme Auslegung komme nur in Betracht, wenn ein Entscheidungsspielraum verbleibt.205 Diese Variante der verfassungskonformen Auslegung wird nachfolgend als verfassungskonforme Auslegung i.e.S. bezeichnet. Darüber hinaus heißt es gelegentlich, es sei die Auslegung vorzuziehen, die mit den Wertmaßstäben der Verfassung am besten übereinstimmt.206 Bei dieser Formulierung geht es um eine Optimierung des Auslegungsergebnisses unter verfassungsrechtlichen Aspekten. Dieser Punkt wird nachfolgend gemeinsam mit der verfassungsorientierten Auslegung behandelt.207 Zudem findet sich die Aussage, durch die verfassungskonforme Auslegung solle die Regelungsabsicht des Gesetzgebers so weit wie möglich aufrechterhalten werden.208 Damit ist die verfassungskonforme Rechtsfortbildung angesprochen. Sie ist ebenfalls von der verfassungskonformen Auslegung i.e.S. zu unterscheiden.209 aa) Die verfassungskonforme Auslegung i.e.S. Bei der verfassungskonformen Auslegung i.e.S. wird unter mehreren denkbaren Auslegungsvarianten einer Norm, von denen eine verfassungskonform ist und die andere nicht, die verfassungskonforme Lesart ausgewählt. Verworfen wird die Variante, die nicht der Verfassung entspricht. Wenn mehr als zwei Auslegungsvarianten in Betracht kommen, unter denen mehrere verfassungskonform sind, trägt die verfassungskonforme Auslegung zur Auswahl unter ihnen nicht bei. Sie dient allein dazu, verfassungswidrige Auslegungsvarianten auszuscheiden.210 In diesem Sinne wird nachfolgend der Begriff der verfassungskonformen Auslegung verwendet. 205
Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 266–267; Neuner, Contra legem, S. 130; Reimer, Methodenlehre, Rn. 636 (der allerdings die verfassungskonforme Auslegung als Korrektur einordnet, Rn. 401 – wohl vor dem Hintergrund seiner Annahme, dass der Rechtsanwender in der Regel ein überzeugendes Ergebnis findet und nur selten von gleichwertigen Auslegungsmöglichkeiten ausgeht); Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 763–764. S. auch Larenz, Methodenlehre, S. 339–340 (allerdings nicht eindeutig hinsichtlich dieser Voraussetzung, da er S. 339 zur Begrenzung auf die nach den übrigen Kriterien mögliche Auslegung abstellt und S. 340 (nur) auf Wortsinn und Bedeutungszusammenhang). 206 BVerfG 23.10.1958 – 1 BvL 45/56 – BVerfGE 8, 210, 221; Larenz, Methodenlehre, S. 339; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 763. 207 S. unten S. 100–102. 208 S. nur BVerfG 22.3.2018 DE:BVerfG:2018:rs20180322.2bvr078016 Rn. 150; BVerfG 19.9.2007 DE:BVerfG:2007:fs20070919.2bvf000302 Rn. 93; BVerfG 26.4.1994 – 1 BvR 1299/89, 1 BvL 6/90 – BVerfGE 90, 263, 274–275; BVerfG 17.3.1959 – 1 BvL 5/57 – BVerfGE 9, 194, 200; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 763. 209 Vgl. Möllers, Methodenlehre, § 11, Rn. 37. S. dazu unten S. 103–106. 210 Höpfner, RdA 2018, 321, 329. Allgemein für die systemkonforme Auslegung Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 153.
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Die verfassungskonforme Auslegung lässt sich auf den Gedanken der Normerhaltung stützen.211 Die Einheit der Rechtsordnung trägt die verfassungskonforme Auslegung nicht, da ihr auch durch die Verwerfung der Norm Genüge getan wäre.212 Auch eine Vermutung für die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, wie sie das BVerfG in einigen Entscheidungen annimmt,213 wird in der Literatur zu Recht als nicht tragfähige Begründung abgelehnt.214 (1) Die Doppelrolle der Verfassung bei der Auslegung Die Verfassung kann die Auslegung einer Norm in unterschiedlicher Art und Weise beeinflussen. Ihr kommt, wie sogleich zu zeigen ist, bei der Auslegung eine Doppelrolle zu. Sie kann dazu beitragen, Bedeutungsvarianten zu ermitteln, aber auch als Kontrollinstrument zum Tragen kommen.215 Die Ermittlung von Auslegungsmöglichkeiten ist von Normenkontrollerwägungen gedanklich zu trennen. Als verfassungskonforme Auslegung wird in diesem
211 BVerfG 22.3.2018 DE:BVerfG:2018:rs20180322.2bvr078016 Rn. 150; BVerfG 26.4.1994 – 1 BvR 1299/89, 1 BvL 6/90 – BVerfGE 90, 263, 274–275; BVerfG 24.4.1985 – 2 BvF 2/83 u.a. – BVerfGE 69, 1, 55; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 BVerfGG, Rn. 263; Canaris, Verfassungskonforme Auslegung, S. 141, 148–153; Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177, 183. S. auch Gusy, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 219–220. Für die verfassungskonforme Auslegung trotz kritischer Überlegungen zur Tragfähigkeit in anderen Kollisionskonstellationen Auer, Primärrechtskonforme Auslegung, S. 27, 39–41. Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 187–197; Möllers, Methodenlehre, § 11, Rn. 35; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 763, und Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, S. 108, 109–111, verknüpfen den Gedanken der Normerhaltung mit dem der Einheit der Rechtsordnung. 212 Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 25–26; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 99–101; Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177, 183; Wank, Rechtsfortbildung, S. 106. Auf die Einheit der Rechtsordnung stützt sich dagegen Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 22–23. 213 BVerfG 22.3.2018 DE:BVerfG:2018:rs20180322.2bvr078016 Rn. 150; BVerfG 14.10.2008 DE:BVerfG:2008:rs20081014.1bvr231006 Rn. 57; BVerfG 7.5.1953 – 1 BvL 104/52 – BVerfGE 2, 266, 282. 214 Auer, Primärrechtskonforme Auslegung, S. 27, 32; Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 24–25; Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 21–22; Göldner, Verfassungsprinzip, S. 45; Gusy, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 218; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 185; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 98; Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177, 182–183; Wank, Rechtsfortbildung, S. 106–107. Zurückhaltend auch Burmeister, Verfassungsorientierung, S. 102–107. 215 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 325–327; Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177, 181. Wank, Rechtsfortbildung, S. 97–112, spricht von verfassungskonformer Auslegung als Inhaltsbestimmung einerseits und als Inhaltskontrolle andererseits.
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Text nur der zuletzt genannte Normenkontrollaspekt bezeichnet, der bei der objektiv-teleologischen Auslegung anzusiedeln ist.216 Bei nachkonstitutionellem Recht kann die Verfassung unter Umständen Aufschluss über den gesetzgeberischen Regelungswillen geben. Insoweit geht es nicht um die Kontrollfunktion der Verfassung, sondern darum, Normen und Werte zu berücksichtigen, die dem Gesetzgeber bei Schaffung seiner Regelung bekannt waren. Für den nachkonstitutionellen Gesetzgeber gehört die Verfassung zum rechtlichen Kontext, in den seine Norm eingebettet wird, sodass verfassungsrechtliche Erwägungen Teil der systematischen Auslegung sind.217 Bei vorkonstitutionellem Recht kann die Verfassung keinen Aufschluss über den Willen des Gesetzgebers geben. Sie kann bei solchen Gesetzen aber ebenfalls unabhängig von Kontrollerwägungen eine Rolle spielen. Das ist der Fall, wenn der Wille des Gesetzgebers sich nicht ermitteln lässt und eine objektiv-teleologische Auslegung erforderlich ist. Die Verfassung fließt bei vorkonstitutionellem Recht zwar nicht in die systematische Auslegung ein. Das Vermeiden von Wertungswidersprüchen – auch zur Verfassung – ist aber ein Teilaspekt der objektiv-teleologischen Auslegung.218 Bei der verfassungskonformen Auslegung dient die Verfassung dagegen nicht dazu, Bedeutungsvarianten zu ermitteln. Sie wird vielmehr als Kontrollinstrument eingesetzt und bestimmt die Auswahl zwischen mehreren Auslegungsvarianten. Argumente aus der Verfassung haben bei dieser Auswahl ein größeres Gewicht als andere Argumente. Auslegungsergebnisse, die sich nicht mit der Verfassung vereinbaren lassen, werden ausgeschieden. Dieser Aspekt des Einflusses der Verfassung auf die Auslegung ist die eigentliche verfassungskonforme Auslegung. Sie dient dazu, die Verfassungswidrigkeit der auszulegenden Norm zu vermeiden, die Regelung also nach Möglichkeit zu erhalten.219 Lässt sich der Wille des Gesetzgebers – beim nachkonstitutionellen Gesetzgeber unter Berücksichtigung der Verfassung bei der systematischen Auslegung – ermitteln, kommt ein abweichendes Ergebnis im Wege der verfassungskonformen Auslegung nicht in Betracht. In diesem Fall sind nicht mehrere Auslegungsvarianten gegeben, zwischen denen auszuwählen ist, sondern
216
S. zu den verschiedenen Auffassungen in der Literatur oben S. 82. S. oben S. 81. 218 S. oben S. 97. 219 S. zur Erhaltungsfunktion der verfassungskonformen Auslegung nur Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 22; Canaris, Verfassungskonforme Auslegung, S. 141, 153 (der die verfassungskonforme Auslegung als systematische und teleologische Auslegung, der Vorrang vor anderen Kriterien zukommt, einordnet, s. dort S. 154); Reimer, Methodenlehre, Rn. 630; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 104–105. Allgemein für die systemkonforme Auslegung Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 157–158. 217
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lediglich ein Auslegungsergebnis, das entweder verfassungskonform ist oder nicht. Die Frage der Auswahl stellt sich nur, wenn die gesetzgeberische Regelungsabsicht nicht (abschließend) ermittelt werden kann, sodass der Inhalt der Norm durch objektiv-teleologische Auslegung zu bestimmen ist, in deren Rahmen die Verfassung dann unter Kontrollgesichtspunkten berücksichtigt werden kann. Der Einfluss der Verfassung unter dem Aspekt der verfassungskonformen Auslegung nimmt damit im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung eine besondere Position ein, weil es insoweit nicht um mögliche Auslegungsergebnisse, sondern um den Vorrang der zuvor aus der Verfassung gewonnenen Argumente geht.220 Das ist im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung aber auch nicht problematisch. Sie kommt, wie bereits ausgeführt, zum Einsatz, wenn Wortsinn, Systematik und Historie kein klares Auslegungsergebnis ergeben haben. Es geht bei der objektiv-teleologischen Auslegung um eine möglichst offene, nachvollziehbare und an bereits vorhandenen Wertungen orientierte Entscheidung. Dabei können Argumente unterschiedliches Gewicht haben, sodass sich die verfassungskonforme Auslegungsvariante durchsetzen kann. (2) Keine Teilnichtigerklärung durch verfassungskonforme Auslegung Ein Teil der Literatur versteht die verfassungskonforme Auslegung als Teilnichtigerklärung. Mit ihr werde eine methodisch zulässige Auslegungsvariante verworfen und so der Norminhalt eingeschränkt.221 Auf Basis dieser Einschätzung wird von einigen Autoren allein dem BVerfG die Kompetenz zur verfassungskonformen Auslegung zugesprochen.222 Andere fordern Zurückhaltung bei den Fachgerichten und eine Lockerung der Zulässigkeit von
220 Canaris, Verfassungskonforme Auslegung, S. 141, 154, der sie allerdings nicht allein der objektiv-teleologischen Auslegung, sondern auch der systematischen Auslegung zuordnet. 221 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 BVerfGG, Rn. 258; Burmeister, Verfassungsorientierung, S. 121; v. Mangoldt/Klein/Starck/Voßkuhle, Art. 93 GG, Rn. 52; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 177; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 108–109; Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177, 181–182. 222 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 198–216; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 113. Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 32, 100, und Schlaich, in: Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 446–447, beschränken die Gleichsetzung von verfassungskonformer Auslegung und Teilnichtigerklärung auf das Normenkontrollgericht und sprechen auch den Fachgerichten die Kompetenz zur verfassungskonformen Auslegung zu. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass die Charakterisierung als faktische Teilnichtigerklärung nicht davon abhängt, ob das jeweilige Gericht eine Teilnichtigerklärung vornehmen könnte, Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 199 (Fn. 294); Kamanabrou, JZ 2018, 879, 887 (Fn. 17).
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Richtervorlagen.223 Nach anderer Auffassung liegt in der verfassungskonformen Auslegung keine qualitative Teilnichtigerklärung.224 Dagegen spreche, dass die Norm dann mindestens zwei unterschiedliche Inhalte haben müsste – einen verfassungswidrigen und einen verfassungsmäßigen.225 Ferner heißt es, die Normenkontrolle sei dem Verfassungsgericht zugewiesen, um den Gesetzgeber vor einer Verwerfung seiner Regelungen durch die Fachgerichte zu schützen. Bei der verfassungskonformen Auslegung werde aber nicht in diesem Sinne gegen den Gesetzgeber entschieden, da dieser gerade keine eindeutige Regelung getroffen habe.226 Die verfassungskonforme Auslegung ist nicht als (faktische) Teilnichtigerklärung einzuordnen. Sie verdrängt zwar Argumente, die ohne den Vorrang der Verfassung ein mögliches (verfassungswidriges) Normverständnis begründen könnten. Die Frage der Verwerfung einer Norm stellt sich aber erst nach Abschluss des Auslegungsprozesses, zu dem auch der Vorrang verfassungsrechtlicher Argumente im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung zählt. Zwar handelt es sich bei dieser Vorrangwirkung um eine Auswirkung der Verfassung als Normenkontrollinstrument. Die Verfassung ist bei der verfassungskonformen Auslegung nicht Erkenntnis-, sondern Auswahlmittel. Die Auswahl unter mehreren denkbaren Auslegungsvarianten ist aber bei Normen, die mehr als eine Auslegung zulassen, Teil der Auslegungsarbeit. Die Auslegung ist nicht mit dem Aufzeigen mehrerer Auslegungsmöglichkeiten beendet, sondern erst mit der Bestimmung der Variante, die letztlich der Normanwendung zugrunde gelegt wird. Das gilt auch, wenn die Auswahlüberlegungen auf verfassungsrechtliche Erwägungen gestützt werden. Erst wenn geklärt ist, dass ein verfassungskonformes Verständnis der Norm nicht möglich ist, stellt sich die Frage der Verwerfung.227 bb) Die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung Die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung werden in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich umschrieben. So heißt es, die Auslegung dürfe nicht dem Wortsinn der Norm und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers widersprechen.228 Etwas offener ist die Formulierung, die 223
Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177, 195, 199–200. Kritisch zur Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung durch die Fachgerichte auch Ossenbühl, Richterrecht, S. 10–11. 224 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 410; Eckardt, Gesetzesauslegung, S. 60–61; Koch/ Rüßmann, Begründungslehre, S. 268; Neuner, Contra legem, S. 128; Roth, NVwZ 1998, 563, 564 (Fn. 11); Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, S. 108, 111. 225 Roth, NVwZ 1998, 563, 564 (Fn. 11). 226 Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 268; Neuner, Contra legem, S. 128. 227 Vgl. Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, S. 108, 111. 228 BVerfG 27.1.2015 DE:BVerfG:2015:rs20150127.1bvr047110 Rn. 135; BVerfG
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verfassungskonforme Auslegung werde durch die allgemein anerkannten Auslegungsmethoden begrenzt.229 Daneben findet sich die Aussage, das gesetzgeberische Ziel dürfe nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht, der Vorschrift kein anderer Inhalt gegeben werden.230 Am treffendsten ist die Formulierung, die verfassungskonforme Auslegung werde durch die allgemein anerkannten Auslegungsmethoden begrenzt. Die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung werden letztlich durch ihre Anwendungsvoraussetzungen bestimmt. Sie kommt erst auf der Ebene der objektiv-teleologischen Auslegung zum Tragen. Diese dient der Inhaltsbestimmung, wenn und soweit Wortsinn, Historie und Systematik nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führen. Die verfassungskonforme Auslegung verdrängt dabei nicht-verfassungsgestützte Argumente. Den Rahmen, der sich bei der Suche nach dem gesetzgeberischen Willen ergeben hat, kann sie nicht überschreiten. Die verfassungskonforme Auslegung ersetzt nicht die Anwendung der „allgemein anerkannten Auslegungsmethoden“, sondern ist ein Teil davon. cc) Die verfassungskonforme Auslegung als Optimierung und die verfassungsorientierte Auslegung Wie bereits erwähnt, soll nach einer Auffassung unter mehreren Auslegungsvarianten diejenige vorzuziehen sein, die mit den Wertmaßstäben der Verfassung am besten übereinstimmt.231 Damit wird die Auswahl unter den Ausle30.3.2004 DE:BVerfG:2004:rs20040330.2bvr152001 Rn. 145; BVerfG 26.4.1994 – 1 BvR 1299/89, 1 BvL 6/90 – BVerfGE 90, 263, 275; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, § 31 BVerfGG, Rn. 265. S. auch Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 179 (ohne Bezugnahme auf den Wortsinn). 229 BVerfG 22.3.2018 DE:BVerfG:2018:rs20180322.2bvr078016 Rn. 150; BVerfG 31.10.2016 DE:BVerfG:2016:rk20161031.1bvr087113 Rn. 34, 619; BVerfG 16.12.2014 DE:BVerfG:2014:rs20141216.1bvr214211 Rn. 86; BVerfG 19.9.2007 DE:BVerfG:2007: fs20070919.2bvf000302 Rn. 93; Reimer, Methodenlehre, Rn. 636. So lässt sich auch die Auffassung von Höpfner, RdA 2018, 321, 330, einordnen, der darauf abstellt, ob die Zielsetzung und die konkreten Normvorstellungen des Gesetzgebers ein verfassungskonformes Normverständnis tragen. Da Höpfner die Grenze zur Rechtsfortbildung im Abweichen vom historischen Normzweck sieht, Höpfner, RdA 2018, 321, 328–329, geht es ihm ebenfalls um die gängigen Auslegungsmethoden, auch wenn er diese anders versteht als das BVerfG. 230 BVerfG 19.12.2017 DE:BVerfG:2017:ls20171219.1bvl000314 Rn. 151; BVerfG 27.1.2015 DE:BVerfG:2015:rs20150127.1bvr047110 Rn. 135; BVerfG 26.4.1994 – 1 BvR 1299/89, 1 BvL 6/90 – BVerfGE 90, 263, 275; Schlaich, in: Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 449 (zugleich unter Bezugnahme auf die Grenze, die durch den Wortsinn vorgegeben wird). S. auch die Zusammenfassung von Formulierungen bei Dreier/ Schulze-Fielitz, Art. 20 GG, Rn. 87. 231 BVerfG 23.10.1958 – 1 BvL 45/56 – BVerfGE 8, 210, 220; Larenz, Methodenlehre, S. 339; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 763.
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gungsvarianten noch einmal eingeschränkt. Es genügt nicht, dass ein mögliches Normverständnis verfassungskonform ist, es muss unter den übrigen Auslegungsvarianten dasjenige sein, das der Verfassung am besten entspricht, um zur Anwendung zu gelangen. Abgesehen davon, dass sich der Rechtsanwender nicht allzu häufig in der Situation befinden dürfte, zwischen mehreren Auslegungsvarianten zu wählen, die verfassungskonform sind, der Verfassung aber unterschiedlich stark Rechnung tragen, fehlt es für eine derartige Optimierung an einer Grundlage. Die verfassungskonforme Auslegung stützt sich auf den Gedanken der Normerhaltung.232 Dieser trägt zwar das Ausscheiden verfassungswidriger Auslegungsvarianten, nicht aber den Vorrang der Auslegung, die der Verfassung am besten entspricht, denn auch diese ist ausreichend, um die Norm als verfassungsgemäß zu erhalten. Daher kann die aus verfassungsrechtlicher Perspektive optimale Auslegungsvariante von anderen Gesichtspunkten überspielt werden. Von der verfassungskonformen Auslegung abzugrenzen ist ferner die verfassungsorientierte Auslegung.233 Nach überwiegender Auffassung ist für die Abgrenzung die Art und Weise maßgeblich, in der die Verfassung bei der Interpretation auf das einfache Recht einwirkt. So heißt es, bei der Verfassungsorientierung gehe es um die Auslegung der Norm zur Entscheidung von Einzelfällen, während bei der verfassungskonformen Auslegung die Gültigkeit der Norm zur Diskussion stehe.234 Die Konsequenzen, die die Verfassung bei der Interpretation entfaltet, stellen auch die Autoren in den Mittelpunkt, nach deren Auffassung bei der verfassungsorientierten Auslegung Argumente aus der Verfassung eine gegenüber anderen Auslegungskriterien gleichrangige Argumentationsfigur sind, während sie bei der verfassungskonformen Auslegung dazu führen, dass unter mehreren Auslegungsergebnissen einem der Vorrang zu geben ist.235 Im Vergleich zu der zuvor genannten 232
S. oben S. 96. Möllers, Methodenlehre, § 11, Rn. 37; Wank, Rechtsfortbildung, S. 97–112, unterscheidet in der Sache ebenso, verwendet aber die Begriffe „verfassungskonforme Auslegung als Inhaltsbestimmung“ und „verfassungskonforme Auslegung als Inhaltskontrolle“, s. auch ders., Methodenlehre, § 9, Rn. 143–154. 234 Simon, EuGRZ 1974, 85, 87–88, 91 (die „Empfehlung“ auf S. 91 erklärt sich dadurch, dass die Zusammenfassung sich nicht allein auf die Rechtslage in Deutschland bezieht). In diesem Sinne auch Schlaich, in: Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 448; Stern, Staatsrecht, S. 136; Wank, Rechtsfortbildung, S. 104–105. Lembke, Einheit, S. 25, spricht nur im Zusammenhang mit Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen von verfassungsorientierter Auslegung. Den Einfluss der Verfassung bei der Auslegung sonstigen einfachen Rechts bezeichnet sie wohl als „verfassungskonforme Inhaltsbestimmung“, s. ebenda S. 48. Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177, 180, versteht die verfassungsorientierte Auslegung als Oberbegriff. 235 Canaris, Verfassungskonforme Auslegung, S. 141, 146 (der den Begriff allerdings für entbehrlich hält, s. dort S. 154); Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 179–181; Möllers, Methodenlehre, § 11, Rn. 39–41. 233
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Meinung betonen sie das jeweilige Verhältnis zu anderen Auslegungsschritten. In der Sache ergibt sich daraus kein Unterschied, auch nach dieser Ansicht geht es nur bei der verfassungskonformen Auslegung um den Erhalt der Norm.236 Eine weitere Auffassung hebt sich dagegen deutlich von den vorstehenden Ansichten ab, indem sie auch bei der verfassungsorientierten Auslegung den Vorrang der Auslegungsvariante annimmt, die der Verfassung am nächsten ist, ohne dass die übrigen Auslegungsvarianten verfassungswidrig wären. Inhalte, die durch die verfassungskonforme Auslegung ausgeschieden werden, könnten auch vom Gesetzgeber nicht zum Norminhalt gemacht werden, bei Auslegungsvarianten, die durch die verfassungsorientierte Auslegung ausscheiden, sei das dagegen möglich.237 Damit bekommt die Verfassungsorientierung einen deutlich anderen Inhalt, indem sie ebenfalls als Auswahlregel beschrieben wird. Letztlich entspricht diese Auffassung der soeben abgelehnten Pflicht, das der Verfassung am besten entsprechende Auslegungsergebnis zu wählen. In der zuerst genannten Variante, nach der es darauf ankommt, ob das Argument aus der Verfassung eine oder mehrere Auslegungsvarianten ausschließt oder nicht, ist die Differenzierung zwischen verfassungskonformer und verfassungsorientierter Auslegung sinnvoll, weil sie den unterschiedlichen Einfluss der Verfassung bei der Interpretation von Normen sichtbar macht. Allerdings lässt sich der Unterschied zwischen verfassungsorientierter und verfassungskonformer Auslegung noch schärfer herausarbeiten. Die verfassungsorientierte Auslegung bezeichnet den oben beschriebenen Einfluss der Verfassung bei der Ermittlung möglicher Auslegungsvarianten im Rahmen der systematischen oder objektiv-teleologischen Auslegung.238 Argumente aus der Verfassung dienen bei der verfassungsorientierten Auslegung also (allein) dazu, Auslegungsvarianten zu ermitteln. Bei der verfassungskonformen Auslegung dienen sie dazu, unter den zuvor herausgearbeiteten Auslegungsvarianten auszuwählen. Das ist der Kontrollaspekt, der der Verfassung im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung zukommt, also das, was oben als „eigentliche verfassungskonforme Auslegung“ bezeichnet wurde.239 Durch die begriffliche Unterscheidung der verfassungsorientierten und der verfassungskonformen Auslegung werden diese unterschiedlichen Arten des Einflusses der Verfassung voneinander abgegrenzt.240
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Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 180; Möllers, Methodenlehre, § 11, Rn. 47. Wendt, Verfassungsorientierte Gesetzesauslegung, S. 123, 130. 238 S. oben S. 97. 239 S. oben S. 97. 240 Den Begriff der verfassungsorientierten Auslegung ablehnend Canaris, Verfassungskonforme Auslegung, S. 141, 154, unter Hinweis darauf, dass die Verfassung bei der verfassungsorientierten Auslegung keinen stärkeren Einfluss habe als andere Auslegungselemente, sodass der Begriff zu Unrecht eine Sonderstellung suggeriere. Diese Suggestiv237
II. Die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen
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dd) Die verfassungskonforme Rechtsfortbildung Die verfassungskonforme Auslegung soll ferner dazu dienen, die Regelungsabsicht des Gesetzgebers so weit wie möglich aufrechtzuerhalten.241 Gehe der Wille des Gesetzgebers über das hinaus, was verfassungskonform ist, hindere das eine einschränkende Auslegung nicht. Maßgeblich sei, dass die verfassungskonforme Auslegung dem gesetzgeberischen Willen nicht zuwiderläuft.242 Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt,243 ist eine derartige „einschränkende Auslegung“ keine Auslegung i.e.S., sondern Rechtsfortbildung.244 Als Auslegung lässt sich eine solche Interpretation nur einordnen, wenn man den Begriff der Auslegung weit versteht und ihn als Oberbegriff für die Auslegung i.e.S. und die Rechtsfortbildung verwendet. Da die deutsche Methodenlehre diese Interpretationsstufen unterscheidet, ist eine solche Begriffsverwendung jedoch nicht sinnvoll, da sie die Unterschiede zwischen Auslegung (i.e.S.) und Rechtsfortbildung verwischt.245 Um den Übergang zur Rechtsfortbildung kenntlich zu machen, wird hier im Folgenden von verfassungskonformer Reduktion gesprochen. Unabhängig von dieser terminologischen Frage ist die verfassungskonforme Reduktion als Interpretationsmittel abzulehnen.246 Ein Teil der Literatur hält die verfassungskonforme Rechtsfortbildung für zulässig.247 Dabei wirkung ist nach hier vertretener Auffassung jedoch allenfalls marginal, da der Begriff meist in Abgrenzung zur verfassungskonformen Auslegung verwendet wird. In diesem Kontext hat er einen sinnvollen Aussagegehalt. 241 BVerfG 22.3.2018 DE:BVerfG:2018:rs20180322.2bvr078016 Rn. 150; BVerfG 19.9.2007 DE:BVerfG:2007:fs20070919.2bvf000302 Rn. 93; BVerfG 26.4.1994 – 1 BvR 1299/89, 1 BvL 6/90 – BVerfGE 90, 263, 274–275; BVerfG 17.3.1959 – 1 BvL 5/57 – BVerfGE 9, 194, 200; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 763. 242 BVerfG 24.4.1985 – 2 BvF 2/83 u.a. – BVerfGE 69, 1, 55; BVerfG 24.5.1995 – 2 BvF 1/92 – BVerfGE 93, 37, 81; BVerfG 9.2.1982 – 1 BvR 845/79 – BVerfGE 59, 360, 387; BVerfG 1.3.1978 – 1 BvR 333/75 u.a. – BVerfGE 47, 327, 380; BVerfG 17.3.1959 – 1 BvL 5/57 – BVerfGE 9, 194, 200. 243 Kamanabrou, JZ 2018, 879, 887–888. 244 Larenz, Methodenlehre, S. 340. 245 Kamanabrou, JZ 2018, 879, 888. Vgl. auch Göldner, Verfassungsprinzip, S. 215–216. 246 S. dazu bereits Kamanabrou, JZ 2018, 879, 888–889. Eine Rechtsnorm ist also unter Rückgriff auf die Verfassung nicht soweit wie möglich, sondern wenn möglich aufrechtzuerhalten. 247 Canaris, Verfassungskonforme Auslegung, S. 141, 155; Göldner, Verfassungsprinzip, S. 73–83; Herresthal, JuS 2014, 289, 297 (differenzierend für die Einschränkung oder Erweiterung der Norm); Möllers, Methodenlehre, § 11, Rn. 68–78; Neuner, Contra legem, S. 130–131 (nur, wenn keine konkrete Regelungsabsicht des Gesetzgebers feststellbar ist, nicht aber, wenn der Norm ein engerer Inhalt zugesprochen werden soll als vom Gesetzgeber vorgesehen); Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, S. 108, 121–124. Siehe auch Larenz, Methodenlehre, S. 340–341.
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weisen die Befürworter die Rechtsfortbildungskompetenz meist den Fachgerichten zu.248 Andere lehnen eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung ab, wobei diese Aussagen auf die Fortbildung durch das BVerfG bezogen sind. Mit der Rechtsfortbildung werde das BVerfG als Ersatzgesetzgeber tätig, Rechtssetzung zähle nicht zu seinem Aufgabenbereich.249 Eine mittlere Position nehmen diejenigen ein, die das Interesse des Gesetzgebers am möglichst weitgehenden Erhalt seiner Regelung betonen und deshalb auch eine Reduktion für zulässig halten. Voraussetzung ist nach dieser Auffassung, dass die Reduktion sich im Rahmen der gesetzgeberischen Wertentscheidung hält.250 Gegen die verfassungskonforme Reduktion nachkonstitutionellen Rechts sprechen folgende Erwägungen: Im Fall der verfassungskonformen Reduktion ist das, was der Gesetzgeber regeln wollte, nicht in vollem Umfang verfassungskonform. Reduziert kann die Norm jedoch aufrechterhalten werden, weil sie in reduziertem Umfang der Verfassung entspricht. Die Norm wird also bei verfassungskonformer Reduktion mit einem engeren Inhalt angewendet als vom Gesetzgeber vorgesehen. Damit hat die verfassungskonforme Reduktion dieselbe Wirkung wie eine Teilnichtigerklärung. Da die Kompetenz zur (Teil-)Nichtigerklärung für nachkonstitutionelle Gesetze allein beim BVerfG liegt, können die Fachgerichte eine solche Reduktion nicht vornehmen. Andernfalls könnten sie im Wege der Interpretation Normen teilweise verwerfen und damit gerade das erreichen, wofür ihnen die Kompetenz fehlt. Das BVerfG, das die Verwerfungskompetenz hat, kann zwar statt einer Teilnichtigerklärung ebenso gut eine verfassungskonforme Reduktion einer Norm vornehmen. Vorzugswürdig ist aber die Teilnichtigerklärung als offene Korrektur des Gesetzes. Durch sie wird deutlich, dass die Norm teilweise verworfen wird. Da die Teilnichtigerklärung als Korrekturinstrument zur Verfügung steht, besteht kein Bedarf an einer besonderen Rechtsfortbildungskompetenz gleicher Wirkung.
248 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 BVerfGG, Rn. 265 (Kompetenz liegt bei den Fachgerichten). Prümm, Verfassung, S. 213–217, 217–227, 250, 260–265 (Kompetenz zur verfassungskonformen Lückenfüllung liegt bei den Fachgerichten, eine verfassungskonforme Gesetzeskorrektur darf nur das BVerfG durchführen); Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 266–270 (die verfassungskonforme Rechtsfortbildung erfolgt durch die Fachgerichte, eine Korrektur des Gesetzes ist unzulässig). 249 Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177, 197–198. Offener, aber in der Grundtendenz ablehnend, Geis, NVwZ 1992, 1025, 1027 („unterliegt […] engen Grenzen“); Stern, NJW 1958, 1435 („Die Freiheit zu verfassungskonformer Auslegung berechtigt nicht auch zu verfassungskonformer Rechtsfortbildung.“). Kritisch zu einer verfassungskonformen Auslegung, die über das mit den klassischen Methoden erreichbare Auslegungsergebnis hinausgeht Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 624–625. 250 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 242–243, 246–248.
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Vorkonstitutionelle Normen, die nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, unterliegen nicht dem Verwerfungsmonopol des BVerfG. Auch hier gilt aber, dass die Teilnichtigerklärung als offene Korrektur des Gesetzes einer Reduktion gleichen Inhalts vorzuziehen ist. Eine Rechtsfortbildung würde nicht dazu dienen, den gesetzgeberischen Regelungswillen durchzusetzen, sondern das Gesetz so weit aufrechtzuerhalten, wie es möglich ist. Die damit verbundene Teilverwerfung sollte auch bei vorkonstitutionellem Recht offen erfolgen. Für die vorliegende Untersuchung braucht freilich nicht abschließend geklärt zu werden, ob und auf welchem Weg eine verfassungswidrige Norm in reduziertem Umfang aufrechterhalten werden kann. Denn für die methodische Einbettung der richtlinienkonformen Auslegung und Fortbildung, der die Ausführungen zur Methodenlehre in dieser Untersuchung dienen, spielt diese Frage letztlich keine Rolle. Während die Alternative bei der Teilnichtigerklärung oder der hier abgelehnten verfassungskonformen Reduktion die Vollnichtigkeit der Norm ist, führt ein Richtlinienverstoß nicht zu dieser Konsequenz. Die Lösung der Reduktionsfrage im verfassungsrechtlichen Kontext ist daher nicht ohne Weiteres Vorbild für Interpretationsfragen im Richtlinienkontext. Weniger stark wird diskutiert, ob eine Norm im Wege der verfassungskonformen Rechtsfortbildung auf Fälle ausgedehnt werden kann, die der Gesetzgeber nicht erfasst hat.251 Soll eine verfassungskonforme Analogie als eigener Begriff Sinn ergeben, muss es in Abgrenzung zu anderen Fällen der Analogie um Situationen gehen, in denen die Verfassung selbst eine weitere Fassung der Norm gebietet. Der in jeder Analogie enthaltene Rückgriff auf das Gleichbehandlungsgebot führt nicht zur Einordnung als „verfassungskonforme Analogie“.252 Nur so ist auch gewährleistet, dass die verfassungskonforme Analogie begrifflich die verfassungskonforme Auslegung sinnvoll ergänzt. Bei dieser ist die Verfassung entscheidender Faktor bei der Auswahl unter mehreren Auslegungsmöglichkeiten, bei der verfassungskonformen Analogie wäre sie entscheidender Faktor für das Ausdehnen einer vorhandenen Regelung. Bei diesen Vorgaben ist die verfassungskonforme Analogie wohl der Theorie vorbehalten. Sie käme nur in Betracht, wenn der Gesetzgeber eine Regelung getroffen hat, die aus verfassungsrechtlichen Gründen,
251 Bejahend Canaris, Verfassungskonforme Auslegung, S. 141, 155–156. Vorsichtiger Herresthal, JuS 2014, 289, 297 („nur ausnahmsweise“); Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, S. 108, 121–122 („unter wichtigen Vorbehalten“). In der Literatur wird bei der verfassungskonformen Rechtsfortbildung oft nicht nach Ausweitung oder Reduktion differenziert. So sprechen Göldner, Verfassungsprinzip, S. 73–83, und Neuner, Contra legem, S. 130, allgemein von „verfassungskonformer Rechtsfortbildung“, Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 242–243, allgemein von „Korrektur“. 252 Offen gelassen von Canaris, Verfassungskonforme Auslegung, S. 141, 156.
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die nicht allein in der Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle liegen, auf nicht erfasste Konstellationen ausgedehnt werden muss. Da aber der Gleichbehandlungsgedanke wesentlicher Aspekt bei der Ausdehnung von Normen über ihren eigentlichen Anwendungsbereich hinaus ist, sind solche Fälle schwer vorstellbar. Eine erweiternde Rechtsfortbildung ist zudem unter dem Aspekt der Gewaltenteilung kritisch zu sehen, weil der Richter mit ihr in den Aufgabenbereich des Gesetzgebers eingreift, der in der Regel mehrere Möglichkeiten haben wird, eine verfassungskonforme Ersatzregelung zu treffen.253 Die Ausdehnung einer vorhandenen Regelung ist stärker gestaltend als die Einschränkung einer Norm, auch wenn nicht zu verkennen ist, dass die Reduktion – oder die hier bevorzugte Teilnichtigerklärung – die Norm gegenüber der gesetzgeberischen Regelungsabsicht auch deutlich verändert. f) Rangfragen Die Literatur äußert sich zum Rangverhältnis der Auslegungskriterien unterschiedlich.254 Nach einer Auffassung sind stets alle Auslegungskriterien anzuwenden und die Ergebnisse zu gewichten.255 Nach anderer Auffassung werden nicht unbedingt alle Auslegungskriterien angewendet.256 Nach einer dritten Ansicht werden sie zwar vorsichtshalber sämtlich zur Auslegung herangezogen, unterliegen dabei aber einer Stufenfolge, nach der Erkenntnisse früherer Stufen den Einfluss nachrangiger Auslegungskriterien auf das Auslegungsergebnis begrenzen. Feststellungen auf späteren Stufen sollen nur insoweit in die Auslegung einfließen, als sie mit Erkenntnissen früherer Stufen vereinbar sind.257 Für die beiden zuletzt genannten Ansichten stellt sich die Frage, in welcher Reihenfolge die Kriterien zu prüfen sind. Nach einer Auffassung folgt, wenn erforderlich, auf die Auslegung nach dem Wortsinn die Suche nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers und daraufhin der Blick auf den „weiteren Kontext des Rechtssystems“.258 Nach anderer Ansicht ist mit Wortsinn und Systematik zu beginnen. Sei danach noch Raum für verschiedene Auslegungsergebnisse, seien die Regelungsabsicht des Gesetzgebers und schließlich, wenn das nicht ausreiche, objektiv-teleologische Kriterien heranzuzie-
253 Herresthal, JuS 2014, 289, 297; Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, S. 108, 121–122. 254 S. zur Gewichtung der Auslegungskriterien in der Rechtsprechung Vogenauer, Auslegung, S. 51–155, inbes. 151–155. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Rechtsprechung keine absoluten Vorrangregeln anwendet. 255 Kramer, Methodenlehre, S. 203; Wank, Methodenlehre, § 11, Rn. 124, 126. 256 Bydlinski, Methodenlehre, S. 558–559. 257 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 193–197. 258 Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 632.
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hen.259 Allerdings wird diese Aussage mit Blick auf den Nachrang der objektiv-teleologischen Auslegung von einigen wieder zurückgenommen, wenn es heißt, dass unter Umständen ein Argument aus der Entstehungsgeschichte hinter die objektiv-teleologischen Kriterien zurücktreten oder eine ursprünglich berechtigte Auslegung einer an den gegenwärtigen Maßstäben orientierten Interpretation weichen muss.260 Zumindest das letztgenannte Problem kann sich nur stellen, wenn man die objektiv-teleologischen Kriterien stets berücksichtigt, nicht nur bei Auslegungszweifeln nach Anwendung der übrigen Kriterien. Objektiv teleologische Kriterien stets im Wege einer „Begleitkontrolle“ zu berücksichtigten, befürwortet ausdrücklich Bydlinski. Er räumt einfachen Methoden den Vorrang ein. Aufwendige oder unsichere Methoden seien nur anzuwenden, wenn das Problem mithilfe der anderen Kriterien nicht bereits gelöst sei. Die Prüfung sei fortzusetzen, wenn noch kein Ergebnis gefunden wurde oder das Ergebnis „erkennbar im Widerspruch zu den ,objektiv-teleologischen‘ Kriterien der Rechtsidee“ stehe, also z.B. nicht zweckmäßig sei oder keine hinreichende Rechtssicherheit biete. Da damit eine „,Begleitkontrolle‘ unter den Gesichtspunkten der Rechtsidee“ stets erforderlich ist, sind danach im Ergebnis (nur) historische und „eindringliche[n] systematische[n] Überlegungen“ nachrangig.261 In welcher Reihenfolge Auslegungskriterien anzuwenden sind, wenn einige nur nachrangig zu berücksichtigen sind, ist deshalb von Bedeutung, weil sich aus einer unterschiedlichen Reihenfolge unterschiedliche Spielräume für die weitere Auslegung ergeben können. So misst eine Ansicht dem Wortsinn und dem Kontext eingrenzende Funktion zu. Innerhalb dieser Grenzen gäben teleologische Kriterien den Ausschlag.262 Nach anderer Auffassung kommt es darauf an, welche Auslegungsspielräume der Wortsinn und die erkennbaren Absichten des Gesetzgebers lassen.263 Wenn die angewendeten Auslegungskriterien nicht sämtlich in eine Richtung deuten, soll es bei ihrer Gewichtung unabhängig von den zuvor erörterten Fragen des Vor- oder Nachrangs entscheidend darauf ankommen, welche Stärke die jeweils gewonnenen Argumente für oder gegen ein be-
259 Larenz, Methodenlehre, S. 343–344; mit etwas anderer Terminologie inhaltlich entsprechend Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 193–195. 260 Larenz, Methodenlehre, S. 345. 261 Bydlinski, Methodenlehre, S. 558–559, 561–562. 262 Larenz, Methodenlehre, S. 345; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 193–197, die entsprechend ihrer Terminologie eine dreistufige Prüfung vorsehen, bei der auf die grammatische und systematische die historische und genetische Interpretation folgt und abschließend die teleologische Interpretation. 263 Zippelius, Methodenlehre, S. 50. S. auch Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 632 (allerdings mit dem Zusatz, die teleologische Auslegung könne auf allen drei Stufen – Wortsinn, Regelungsabsicht, Kontext – zum Einsatz kommen).
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stimmtes Verständnis haben. Das hänge davon ab, wie ergiebig die einzelnen Kriterien für das konkrete Einzelproblem seien und lasse sich nicht allgemeingültig festlegen.264 Zudem findet sich die Aussage, Sinn und Zweck des Gesetzes seien bei divergierenden Auslegungskriterien am stärksten zu gewichten.265 Das BVerfG hat zum Stellenwert und Rang der Auslegungskriterien zwei Aussagen getroffen, die sich nicht ganz bruchlos zueinander verhalten. In jüngerer Zeit ist in einigen Entscheidungen zu lesen, dass alle Auslegungskriterien zur Auslegung heranzuziehen sind, sich ergänzen und kein Kriterium unbedingten Vorrang vor anderen habe.266 Aus älteren Entscheidungen stammt eine Formulierung, die Argumenten aus der Entstehungsgeschichte Grenzen setzt. Sie seien nur unterstützend zu verwenden und könnten die Auslegung nach Wortsinn und Systematik bestätigen oder bei Auslegungszweifeln eine Rolle spielen.267 Da der genetischen Auslegung eine solche Ergänzungsfunktion nicht ausschließlich in älteren Entscheidungen zugewiesen wird, sondern das BVerfG sie in den letzten Jahren wieder aufgegriffen hat,268 lassen sich diese beiden Aussagen zum Rang nicht mit einer Rechtsprechungsentwicklung erklären. Eine Untersuchung aus den 90er Jahren hat freilich ergeben, dass das BVerfG bis dahin die genetische Auslegung tatsächlich nicht subsidiär verwendet hat.269 In zwei Entscheidungen aus den Jahren 264 Bydlinski, Methodenlehre, S. 555–556; Larenz, Methodenlehre, S. 345; Looschelders/ Roth, Juristische Methodik, S. 194; Wank, Methodenlehre, § 11, Rn. 136; Zippelius, Methodenlehre, S. 50–51. Aus der Rechtsprechung des BAG 20.3.1996 – 7 ABR 46/95 – NZA 1997, 326, 327. Dagegen will Neuner, Contra legem, S. 112–115, bei eindeutigem Wortsinn diesem den Vorrang geben, wenn nicht die gesetzgeberische Regelungsabsicht und objektiv-teleologische Kriterien diesem Ergebnis entgegenstehen. Bei unbestimmtem Wortsinn soll es entscheidend auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers ankommen. 265 Hassold, Gesetzesauslegung, S. 211, 231–233 (dass teleologisch dort sowohl subjektiv- als auch objektiv-teleologisch meint, ergibt sich aus den Ausführungen S. 228–229, 233); Wank, Methodenlehre, § 11, Rn. 132, 135. Erhebliches Gewicht misst auch Möllers, Methodenlehre, § 14, Rn. 113, der teleologischen Auslegung zu. 266 BVerfG 17.1.2017 DE:BVerfG:2017:bs20170117.2bvb000113 Rn. 555; BVerfG 31.3.2016 DE:BVerfG:2016:rk20160331.2bvr157613 Rn. 63; BVerfG 26.8.2014 DE: BVerfG:2014:rk20140826.2bvr217213 Rn. 16; BVerfG 19.3.2013 DE:BVerfG:2013: rs20130319.2bvr262810 Rn. 66; BVerfG 19.6.2007 DE:BVerfG:2007:rk20070619.1bvr 129005 Rn. 60; BVerfG 20.3.2002 DE:BVerfG:2002:rs20020320.2bvr079495 Rn. 79. Im Sinne eines Nebeneinanders auch BVerfG 6.6.2018 DE:BVerfG:2018:ls20180606. 1bvl000714 Rn. 74. 267 BVerfG 17.5.1960 – 2 BvL 11/59, 2 BvL 11/60 – BVerfGE 11, 126, 130; BVerfG 21.5.1952 – 2 BvH 2/52 – BVerfGE 1, 299, 312. Gegen einen solchen Nachrang entstehungsgeschichtlicher Argumente BGH 2.4.2008 – 1 ARs 3/08 – JR 2008, 255. 268 BVerfG 17.1.2017 DE:BVerfG:2017:bs20170117.2bvb000113 Rn. 555; BVerfG 31.3.2016 DE:BVerfG:2016:rk20160331.2bvr157613 Rn. 63; BVerfG 9.7.2007 DE: BVerfG:2007:fs20070709.2bvf000104 Rn. 219. 269 Übelacker, Genetische Auslegung, 57–197, zusammenfassend S. 198. S. zur häufigen
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2016 und 2017 hat das BVerfG beide Aussagen miteinander kombiniert und dabei die einschränkende Bemerkung zur genetischen Auslegung ein wenig abgeschwächt, indem es heißt, Materialien seien „regelmäßig“ nur unterstützend zu verwenden.270 Das mag dafür sprechen, dass es zumindest in der jüngeren Rechtsprechung bei den einschränkenden Formulierungen zur Verwendung der Materialien in erster Linie darum geht, Argumente aus der Entstehungsgeschichte nicht als „Wille des Gesetzgebers“ zu verabsolutieren, sodass der Schwerpunkt der Aussage darauf liegt, den Auslegungskriterien gleichen Rang zuzusprechen. Nach der hier vertretenen Auffassung geht es bei der Auslegung zunächst darum, das Normverständnis des Gesetzgebers zu ermitteln. Dazu dienen der Wortsinn, die Systematik sowie die historische und die genetische Auslegung. Wenn und soweit der gesetzgeberische Regelungswille nicht bestimmt werden kann, können objektiv-teleologische Kriterien zur Auslegung herangezogen werden. Die Auslegung ändert dabei ihre Zielrichtung: Es geht zwar weiterhin darum, wie die Norm zu verstehen ist. Während aber zunächst das Normverständnis des historischen Gesetzgebers ermittelt werden soll, dient im Fall des non liquet die objektiv-teleologische Auslegung dazu, den Inhalt, mit dem die Norm anzuwenden ist, anderweitig zu bestimmen. Daraus ergibt sich, dass eine objektiv-teleologische Auslegung nur in Betracht kommt, wenn sich mit Wortsinn, Systematik und Historie kein Auslegungsergebnis ermitteln lässt. Sie ist nachrangig, weil sich mit ihr nur ein Ergebnis erreichen lässt, das als Auslegungsergebnis erst in Betracht kommt, wenn sich die Bedeutung, die der Gesetzgeber mit der Norm verbunden hat, nicht ermitteln lässt. Zudem muss das Ergebnis sich im Rahmen dessen halten, was die Auslegung nach Wortsinn, Systematik und Historie ergeben hat. Wenn unter Berücksichtigung dieser Vorgaben eine objektiv-teleologische Auslegung stattfindet, haben in ihrem Rahmen Argumente aus der Verfassung infolge der verfassungskonformen Auslegung größeres Gewicht als andere Argumente. Kein Rangverhältnis besteht zwischen den Kriterien Wortsinn, Systematik und Historie. Sie sind sämtlich auf die Ermittlung des Normverständnisses des Gesetzgebers gerichtet und dabei als Kriterien gleichberechtigt. Welches Gewicht sie bei der Auslegung haben, hängt im Einzelfall davon ab, wie aussagekräftig sie jeweils sind. Falls die genetische Auslegung ergiebig ist, wird ihr allerdings erhebliches Gewicht zukommen, da es ja letztlich darum geht, das gesetzgeberische Normverständnis zu ermitteln. Hinweise aus der Entstehungsgeschichte geben – sofern vorhanden – Aufschluss darüber, was Verwendung der Gesetzesmaterialien durch das BVerfG auch Bleckmann, JuS 2002, 942, 945. 270 BVerfG 17.1.2017 DE:BVerfG:2017:bs20170117.2bvb000113 Rn. 555; BVerfG 31.3.2016 DE:BVerfG:2016:rk20160331.2bvr157613 Rn. 63.
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der Gesetzgeber mit dem Wortsinn verbunden hat und ob sich seine Vorstellungen in das System einpassen. Die Systematik kann zwar ihrerseits Anhaltspunkte für das Normverständnis des Gesetzgebers bieten, weil man ihm den Willen zu einer systemgerechten, widerspruchsfreien Regelung unterstellen kann. Da er aber auch eine nicht oder weniger systemgerechte Regelung treffen kann, begrenzt die Systematik nicht die Berücksichtigung des Willens des Gesetzgebers. Vielmehr kann dieser zeigen, dass die systematische Betrachtung im Rahmen des konkreten Auslegungsproblems zurückzutreten hat. Wie bereits erwähnt, begrenzt der „mögliche Wortsinn“ die Auslegung nicht, auch wenn das übliche fachsprachliche oder – falls keine spezifisch fachsprachliche Bedeutung gegeben ist – umgangssprachliche Wortverständnis mangels anderer Anhaltspunkte als einschlägig anzusehen ist.271
3. Die Rechtsfortbildung Mit der Rechtsfortbildung weicht der Rechtsanwender von dem ab, was er zuvor durch die Auslegung i.e.S. als Gesetzesinhalt ermittelt hat. Dieser Schritt ist zu legitimieren, da es in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers ist, den Inhalt von Rechtsnormen zu bestimmen. Dennoch gehört die Rechtsfortbildung zu den Aufgaben der Rechtsprechung. Das zeigen bereits Vorschriften wie § 132 Abs. 4 GVG, § 511 Abs. 4 Nr. 1 ZPO, § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO und § 45 Abs. 4 ArbGG. Zudem vertritt das BVerfG in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass die richterliche Rechtsfortbildung zulässig ist, wenn dabei nicht der erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseitegeschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen ersetzt wird.272 Die Gerichte dürften nicht ihre eigenen materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen, sondern müssten vielmehr den vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen oder eine planwidrige Regelungslücke mit den anerkannten Auslegungsmethoden füllen.273 Nicht zulässig sei eine richterliche Rechtsfortbildung, die den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – 271
S. oben S. 79–80. BVerfG 23.5.2016 DE:BVerfG:2016:rk20160523.1bvr223015 Rn. 38; BVerfG 11.7.2012 DE:BVerfG:2012:rs20120711.1bvr314207 Rn. 74; BVerfG 15.1.2009 DE: BVerfG:2009:rs20090115.2bvr204407 Rn. 103. S. auch BVerfG 6.6.2018 DE:BVerfG: 2018:ls20180606.1bvl000714 Rn. 73. Eine Zusammenfassung der Rechtsprechung des BVerfG findet sich bei Ulber, EuGRZ 2012, 365. 273 BVerfG 11.7.2012 DE:BVerfG:2012:rs20120711.1bvr314207 Rn. 75. S. auch BVerfG 12.11.1997 DE:BVerfG:1997:rs19971112.1bvr047992 Rn. 54. 272
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bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt werde.274 Das Bedürfnis, das Recht fortzubilden, kann aus verschiedenen Gründen entstehen, die eine unterschiedliche Legitimation verlangen. Die Rechtsfortbildung wird hier nur insoweit betrachtet, als sie im Fall der nicht (vollständig) gelungenen Richtlinienumsetzung eine Rolle spielen kann. In diesem Kontext kommen in erster Linie die Aspekte der Regelungslücke und der Kollision von Rechtsnormen zur Rechtfertigung einer Rechtsfortbildung in Betracht. Außerdem kann eine nachträgliche Rechtsänderung unter Umständen auch dann eine Rechtsfortbildung tragen, wenn sie nicht zu einer Regelungslücke führt. a) Die Rechtsfortbildung zur Lückenfüllung In den meisten Fällen dient die Rechtsfortbildung dazu, eine Regelungslücke zu füllen.275 Voraussetzung für die so begründete Rechtsfortbildung ist eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes.276 Dabei ist ein enger Lückenbegriff vorzuziehen. Danach ist eine Lücke gegeben, wenn das Gesetz gemessen an der Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.w.S. unvollständig ist.277 274
BVerfG 31.10.2016 DE:BVerfG:2016:rk20161031.1bvr087113 Rn. 23; BVerfG 17.9.2013 DE:BVerfG:2013:rk20130917.1bvr192812 Rn. 33; BVerfG 25.1.2011 DE: BVerfG:2011:rs20110125.1bvr09181 Rn. 53. S. auch BVerfG 23.5.2016 DE:BVerfG: 2016:rk20160523.1bvr223015 Rn. 39. 275 Der Großteil der Literatur verwendet den Lückenbegriff. Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 254–257, greifen nicht auf den aus ihrer Sicht überflüssigen Lückenbegriff zurück, sondern gehen unmittelbar darauf ein, ob dem Gewollten gegenüber dem Gesagten zur Durchsetzung verholfen werden soll oder Ziele verwirklicht werden sollen, die über den Plan des Gesetzes hinausgehen. Ihnen ist insofern zuzustimmen, als aus der Bezeichnung einer Konstellation als Lücke nicht per se folgt, dass eine Rechtsfortbildung zulässig ist. Wie Canaris, Lücken, S. 35, festgestellt hat, geht es bei den begrifflichen Fragen um terminologische Zweckmäßigkeit. Wesentlich ist, welche Regeln jeweils für die Rechtsfortbildung gelten. Darum geht es auch Koch/Rüßmann. 276 S. aus der Rechtsprechung nur BGH 12.1.2016 DE:BGH:2016:120116BXIZR 366.15.0 Rn. 20; BGH 14.12.2006 – IX ZR 92/05 – NJW 2007, 992, 993; BGH 13.11.2001 – X ZR 134/00 – BGHZ 149, 165, 174. 277 Kamanabrou, Auslegung von Tarifverträgen, S. 82–84. Auch der BGH und das BAG stellen in mehreren Urteilen auf die eigene Regelungsabsicht des Gesetzgebers ab, BGH 14.12.2006 – IX ZR 92/05 – NJW 2007, 992, 993; BGH 13.11.2001 – X ZR 134/00 – BGHZ 149, 165, 174; BAG 23.7.2015 DE:BAG:2015:230715.U.6AZR490.14.0 Rn. 37; BAG 27.1.2010 – 4 AZR 549/08 (A) – NZA 2010, 645, 651. In der Literatur finden sich ähnliche Ansätze. So verwenden zwar Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 257, nicht den Lückenbegriff, halten die Rechtsfortbildung aber für leicht begründbar, wenn das vom Gesetzgeber Gewollte gegenüber dem Gesagten durchgesetzt wird. (Auch wenn es nach der hier vertretenen Auffassung nicht auf die Wortsinngrenze ankommt, sondern auf die Abweichung von dem durch Auslegung ermittelten Regelungsgehalt der Norm.) Nach Loo-
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Die Regelungsabsicht i.w.S. umfasst die Erwägungen, die den Gesetzgeber veranlasst haben, die Regelung mit dem Inhalt zu treffen, der sich durch ihre Auslegung ergibt. Dazu zählen Überlegungen zu der regelungsbedürftigen Situation, den zu berücksichtigenden Interessen und dazu, wie die Regelung sachgerecht zu fassen ist.278 All das mündet in eine konkrete Regelung, also in die Norm in der Gestalt, in der sie erlassen wurde und die die Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.e.S. ausdrückt. Bei einem engen Lückenbegriff verhilft die Rechtsfortbildung den gesetzgeberischen Absichten i.w.S. zur Geltung, sodass sie in diesen Fällen leicht zu legitimieren ist. Der Eingriff in die Domäne des Gesetzgebers ist gering.279 Oft wird der Lückenbegriff weiter gefasst. So ist nach einer Auffassung nicht allein nach den Absichten und Entscheidungen des Gesetzgebers zu beurteilen, ob das Gesetz lückenhaft ist. Vielmehr seien auch objektive Rechtszwecke und Rechtsprinzipien zu berücksichtigen, soweit sie in das Gesetz eingeflossen sind. Dabei bleibt offen, wie festzustellen ist, ob und welche objektiven Rechtszwecke und Rechtsprinzipien in das Gesetz Eingang gefunden haben.280 Eine weitere Auffassung zieht den Lückenbegriff noch weiter und unterscheidet nach Lücken i.e.S. und i.w.S., wobei eine Lücke i.w.S. gegeben sei, wenn das Gesetz nach den Erfordernissen der Gesamtrechtsordnung unvollständig ist.281 Die Ergänzung dieser Lücken dürfe dem
schelders/Roth, Juristische Methodik, S. 225–227, ergibt sich das Bedürfnis für Gesetzeskorrekturen bei der „abändernden Rechtsfortbildung“ aus einer Abweichung zwischen dem Gesetz und der dahinterliegenden Wertentscheidung. Maßstab für die Korrektur sei der – unter bestimmten Umständen dynamisch fortzuentwickelnde – Wille des Gesetzgebers (s. dort S. 233–234). S. auch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 822–935 und 936–982, die bei der Rechtsfortbildung danach unterscheiden, ob der nicht korrekt ausgedrückte Regelungswille des Gesetzgebers vollzogen wird oder der Rechtsanwender nicht nur vom Wortlaut, sondern auch vom erkannten Normzweck gesetzlicher Regelungen abweicht, wobei sie die zweite Fallgruppe nicht als Lückenfüllung verstehen. 278 Kamanabrou, Auslegung von Tarifverträgen, S. 85. S. dort S. 85–86 zu einem Beispiel. 279 Kamanabrou, Auslegung von Tarifverträgen, S. 94–95. 280 Larenz, Methodenlehre, S. 374. Als Prinzip, das jedem Gesetz innewohnt, nennt Larenz den Gleichbehandlungsgrundsatz. S. in diese Richtung auch Reimer, Methodenlehre, Rn. 568, der eine Lücke als Nichtregelung trotz Regelungsbedarfs definiert. Der Regelungsbedarf könne auf höherrangigem Recht, der Regelungsabsicht des Normsetzers sowie Erwägungen wie Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit beruhen. 281 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 246. S. auch Möllers, Methodenlehre, § 6, Rn. 100, der zwar nicht nach Lücken i.e.S. und i.w.S. differenziert, die Planwidrigkeit der Lücke aber „durch eine wertende Gesamtbetrachtung der Rechtsnorm und ggf. der gesamten Rechtsordnung“ beurteilen möchte, was in der Sache den von Canaris genannten „Erfordernissen der Gesamtrechtsordnung“ entsprechen dürfte. Ähnlich Bydlinski, Methodenlehre, S. 472–473, nach dessen Auffassung eine Lücke nach dem Maßstab des gesamten Rechts zu bestimmen ist, worunter er die Rechtsordnung einschließlich der dem
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Plan des Gesetzes nicht widersprechen und müsse durch rechtliche Kriterien, insbesondere durch allgemeine Rechtsprinzipien oder -werte, gerechtfertigt sein.282 Die Lücke i.w.S. ist nach dieser Ansicht dem Bereich der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung zuzuordnen, für die als Voraussetzung genannt wird, dass einem unabweisbaren Bedürfnis des Rechtsverkehrs, der Forderung nach Praktikabilität der Rechtsnormen, der Natur der Sache oder den der gesamten Rechtsordnung zugrundeliegenden Prinzipien nicht durch Auslegung oder gesetzesimmanente Rechtsfortbildung Genüge getan werden kann.283 Wie eingangs erwähnt, wird hier ein enger Lückenbegriff zugrunde gelegt. Die Rechtsfortbildung in anderen Fällen bedarf einer anderen Legitimation.284 Es wird also später zu klären sein, ob ein Richtlinienverstoß eine Lücke i.S.d. engen Lückenbegriffs bewirken kann.285 Von der Weite des Lückenbegriffs hängt allerdings nicht ab, ob bei rechtlichen Veränderungen eine Rechtsfortbildung legitimiert werden kann oder nicht, da Rechtsfortbildung sich nicht auf die Lückenfüllung beschränkt. Eine Rechtsfortbildung kommt z.B. auch in Betracht, wenn der nationale Gesetzgeber ein Gesetz erlassen hat, dabei aber nicht bemerkt hat, dass es aufgrund von bereits bestehendem nationalen Recht nicht effektiv zur Geltung kommt. In einem solchen Fall ist eventuell eine Rechtsfortbildung des Altrechts vorzunehmen.286 Das führt zu dem nachfolgend behandelten Aspekt der Normkollision.
Gesetz zugrunde liegenden Wertungen und Zwecke sowie der Rechtsprinzipien versteht. Weit ist auch der Lückenbegriff von Zippelius, Methodenlehre, S. 52–54, der darauf abstellt, ob das Prinzip der Gleichbehandlung oder die Bedürfnisse und Gegebenheiten des Rechtsverkehrs eine Ergänzung des Rechts verlangen. Letztlich komme es darauf an, ob das Gesetz aus Gründen der Gerechtigkeit ergänzungsbedürftig sei. Allerdings seien bei der Lückenfeststellung auch Gewaltenteilung und Rechtssicherheit zu berücksichtigen, was dazu führen könne, dass die Ergänzung nur rechtspolitisch zu fordern sei. 282 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 246. Darin, dass es insoweit um gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung geht, sind sich Larenz und Canaris einig, s. Larenz, Methodenlehre, S. 426; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245. 283 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245 (in den Voraussetzungen übereinstimmend mit Larenz, Methodenlehre, S. 426). 284 Kamanabrou, Auslegung von Tarifverträgen, S. 82–84. 285 S. unten S. 139–140. 286 S. zu dieser Fallgruppe der Rechtsfortbildung, die nicht auf den Willen des Gesetzgebers des fortzubildenden Gesetzes gestützt ist und damit keinen Fall der Lückenfüllung bildet, Kamanabrou, Auslegung von Tarifverträgen, S. 97–99. So musste z.B. nach Einführung des Kündigungsschutzes § 620 Abs. 1 BGB, der sich bis zum 31.12.2000 auch auf Arbeitsverträge bezog, korrigiert werden, um dem Kündigungsschutz zur Durchsetzung zu verhelfen.
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b) Die Rechtsfortbildung bei Normkollisionen Der EuGH verlangt von den Mitgliedstaaten, bei der Auslegung auch Methoden anzuwenden, die im nationalen Recht Normkollisionen vermeiden oder die Reichweite einer Regelung einschränken, soweit sie mit einer anderen nicht vereinbar ist.287 Für das deutsche Recht sind damit zwei unterschiedliche Konstellationen angesprochen: Konflikte auf gleicher Ebene und Konflikte rangverschiedener Normen. Die Kollision gleichrangiger nationaler Rechtsnormen kann Rechtsfortbildungsbedarf auslösen.288 Die Rechtsfortbildungsbefugnis ergibt sich in solchen Fällen ähnlich wie bei der Lückenfüllung daraus, dass gesetzgeberische Ziele durchgesetzt werden. Obwohl – anders als bei der Lückenfüllung – gleichzeitig andere gesetzgeberische Ziele zurückgedrängt werden, weil eine der kollidierenden Normen eine Einschränkung erfährt, lässt sich die Fortbildung auf gesetzgeberische Vorstellungen zurückführen.289 Dass dieser Rechtsfortbildungsbedarf von einigen Autoren unter dem Aspekt der Lückenfüllung behandelt wird, hängt mit dem jeweils verwendeten Lückenbegriff zusammen und bewirkt keinen Unterschied in der Sache.290 Allerdings umfasst die mit einer Kollision begründete Rechtsfortbildung nach der hier vertretenen Auffassung allein solche Fälle, in denen Normen gleichen Ranges, deren Anordnungen sich nicht vereinbaren lassen, auf ein Rechtsverhältnis einwirken. Fragen der Inhaltskontrolle, also des Verstoßes einer Norm gegen höherrangiges Recht, sind nicht erfasst, sondern werden – auch ansonsten in der Literatur – eigenständig diskutiert, wobei der Hauptanwendungsfall der Konflikt mit Verfassungsrecht ist. Diese Unterscheidung ist bei der Diskussion der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung zu berücksichtigen.291
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EuGH 16.7.2009 EU:C:2009:466 (Mono Car Styling) Rn. 63; EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 116. S. dazu oben S. 49–50. 288 Eine solche Kollision kann u.U. eine Lücke i.S.d. engen Lückenbegriffs bewirken. Das ist aber nicht der Fall, wenn eine Norm eingeschränkt wird, um einer anderen Regelung zur Durchsetzung zu verhelfen. S. dazu Kamanabrou, Auslegung von Tarifverträgen, S. 86–88, 97–101, jeweils mit Beispielen. 289 Kamanabrou, Auslegung von Tarifverträgen, S. 98, 100. 290 Von einer nachträglichen Lücke durch Geltung eines neuen Gesetzes spricht z.B. Bydlinski, Methodenlehre, S. 585. 291 S. unten S. 138–144.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung
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III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung Nachfolgend wird zunächst erläutert, wie Rechtsprechung und Literatur die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung nationalen Rechts beurteilen, wobei es insbesondere um die methodische Einordnung geht. Auf die anschließende eigene Stellungnahme folgt abschließend der Blick auf die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung und Fortbildung.
1. Die Rechtsprechung und Literatur zur richtlinienkonformen Auslegung und Fortbildung Die richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Rechts wird in der Rechtsprechung in einschlägigen Verfahren ausgiebig thematisiert und in der Literatur umfassend diskutiert. a) Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung in der Rechtsprechung Die (jüngere) deutsche Rechtsprechung knüpft die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung an das Umsetzungsgebot aus Art. 288 Abs. 3 AEUV und den in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der Gemeinschaftstreue an.292 Ob eine richtlinienkonforme Auslegung möglich ist, sei durch die nationalen Gerichte zu beurteilen.293 aa) Die Rechtsprechung des BGH und des BAG Nach der Rechtsprechung ist eine richtlinienkonforme Auslegung gegen den Wortlaut und den erklärten Willen des Gesetzgebers nicht zulässig.294 Die europarechtskonforme Auslegung dürfe nicht Grundlage einer Auslegung 292 BVerfG 17.11.2017 DE:BVerfG:2017:rk20171117.2bvr113116 Rn. 36; BVerfG 10.12.2014 DE:BVerfG:2014:rk20141210.2bvr154907 Rn. 30; BGH 26.7.2018 DE: BGH:2018:260718UIZR64.17.0 Rn. 48; BGH 21.12.2011 – VIII ZR 70/08 – NJW 2012, 1073 Rn. 24. Das BAG greift gelegentlich auf die Formulierung des EuGH zurück, nach der die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung dem AEUV immanent sei, so BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 12; BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 58. 293 BVerfG 17.11.2017 DE:BVerfG:2017:rk20171117.2bvr113116 Rn. 38; BVerfG 23.5.2016 DE:BVerfG:2016:rk20160523.1bvr223015 Rn. 41; BAG 22.1.2019 DE:BAG: 2019:220119.U.9AZR10.17.0 Rn. 19; BAG 21.2.2017 DE:BAG:2017:210217.B.1ABR 62.12.0 Rn. 29; BGH 28.10.2015 – VIII ZR 158/11 – NJW 2016, 1718 Rn. 42. 294 BGH 26.3.2019 DE:BGH:2019:260319UIIZR244.17.0 Rn. 21; BAG 22.1.2019 DE:BAG:2019:220119.U.9AZR45.16.0 Rn. 18; BGH 3.7.2018 DE:BGH:2018:03 0718UXIZR702.16.0 Rn. 13; BAG 23.5.2018 DE:BAG:2018:230518.U.5AZR263.17.0 Rn. 33; BAG 21.2.2017 DE:BAG:2017:210217.B.1ABR62.12.0 Rn. 29; BGH 7.5.2014 – IV ZR 76/11 – NJW 2014, 2646 Rn. 20–21; BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 31; BGH 26.11.2008 – VIII ZR 200/05 – NJW 2009, 427 Rn. 21.
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contra legem sein. Das nach nationaler Methode Erlaubte begrenze die richtlinienkonforme Auslegung.295 Zum Willen des Gesetzgebers und seiner begrenzenden Wirkung äußert sich die Rechtsprechung nicht ganz einheitlich. Der Achte Senat des BGH stellt in einer Entscheidung darauf ab, dass der Wortlaut des Gesetzes die richtlinienkonforme Auslegung gestattet und kein entgegenstehender Wille des Gesetzgebers erkennbar ist, sondern Anhaltspunkte aus den Materialien für einen Umsetzungswillen sprechen.296 Weiter sind demgegenüber die Formulierungen im Kontext der Lückenfeststellung. So verweist das BAG in einer Entscheidung für die Lückenfeststellung darauf, dass die Materialien keinen Anhaltspunkt für eine den Richtlinienzielen widersprechende Zielsetzung des deutschen Gesetzgebers enthalten.297 Der Vierte Senat des BGH führte im Rahmen einer teleologischen Reduktion aus, dass der Normzweck mit Blick auf den Umsetzungswillen des Gesetzgebers zu bestimmen sei. Dabei sei außer im Fall der ausdrücklichen Umsetzungsverweigerung von einem Umsetzungswillen auszugehen.298 Positive Anhaltspunkte aus den Materialien sind nach diesen Formulierungen nicht erforderlich. Die richtlinienkonforme Auslegung i.e.S. sieht der BGH durch den Wortlaut der nationalen Norm begrenzt.299 In einigen Urteilen stellen die Gerichte ausdrücklich darauf ab, dass ein richtlinienkonformes Normverständnis mit dem Wortlaut der Regelung und dem Willen des Gesetzgebers vereinbar ist.300 Das BAG geht in manchen Fällen zusätzlich auf die Systematik ein301 und hebt die Bedeutung der Materialien hervor302. In den letzten Jahren hat sich die Rechtsprechung vermehrt mit der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung befasst. Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung verlange mehr als die bloße Auslegung innerhalb des
295 BGH 26.3.2019 DE:BGH:2019:260319UIIZR244.17.0 Rn. 21; BGH 3.7.2018 DE:BGH:2018:030718UXIZR702.16.0 Rn. 13; BGH 7.5.2014 – IV ZR 76/11 – NJW 2014, 2646 Rn. 20–21; BGH 26.11.2008 – VIII ZR 200/05 – NJW 2009, 427 Rn. 21. 296 BGH 12.10.2016 – VIII ZR 103/15 – NJW 2017, 1093 Rn. 40–41, 44–45, 50–51. 297 BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 67. S. auch BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 33. 298 BGH 7.5.2014 – IV ZR 76/11 – NJW 2014, 2646 Rn. 23. 299 BGH 7.7.2014 – IV ZR 76/11 – NJW 2014, 2646 Rn. 21; BGH 26.11.2008 – VIII ZR 200/05 – NJW 2009, 427 Rn. 20. 300 BAG 22.1.2019 DE:BAG:2019:220119.U.9AZR10.17.0 Rn. 21–24; BGH 3.7.2018 DE:BGH:2018:030718BVIIIZR229.17.0; BGH 12.10.2016 – VIII ZR 103/15 – NJW 2017, 1093 Rn. 40–45, 50–52. 301 BAG 21.2.2017 DE:BAG:2017:210217.B.1ABR62.12.0 Rn. 31–35; BAG 23.3.2006 – 2 AZR 343/05 – NZA 2006, 971 Rn. 26–31. S. auch BAG 25.10.2018 DE:BAG:2018:251018.U.8AZR501.14.0 Rn. 40; BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 59. 302 BAG 25.10.2018 DE:BAG:2018:251018.U.8AZR501.14.0 Rn. 40.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung
117
Gesetzeswortlauts. Die Grenze sei erst erreicht, wenn eine Rechtsfortbildung nach der nationalen Methode unzulässig sei. Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung sei daher vom Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung umfasst, soweit sie nötig und möglich sei.303 Sei aus den Gesetzgebungsmaterialien die Absicht des Gesetzgebers erkennbar, eine richtlinienkonforme Regelung zu treffen, so sei vor dem Hintergrund der Vorgaben der jeweiligen Richtlinie im Fall eines Umsetzungsfehlers eine planwidrige Regelungslücke anzunehmen, die die Rechtsfortbildung eröffnet.304 Eine verdeckte Regelungslücke nimmt der BGH dementsprechend an, wenn das ausdrücklich angestrebte Ziel einer richtlinienkonformen Regelung nicht erreicht wurde und der Gesetzgeber die Regelung so nicht erlassen hätte, wenn ihm bewusst gewesen wäre, dass sie richtlinienwidrig ist.305 Für die Reichweite der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung sind dabei die folgenden Aussagen von Bedeutung: Der Normzweck sei mit Blick auf den Umsetzungswillen des Gesetzgebers, von dem außer im Fall der ausdrücklichen Umsetzungsverweigerung auszugehen sei, zu bestimmen. Die Richtlinie sei zugleich Maßstab der Lückenfeststellung und der Lückenschließung.306 Dabei soll der Umsetzungswille Vorrang vor dem konkreten Regelungswillen für die einzelne Norm haben.307 Allerdings folgt die höchstrichterliche Rechtsprechung dieser Linie nicht durchgängig. So hat das BAG in einer Entscheidung zu § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG eine richtlinienkonforme Auslegung oder Fortbildung trotz eines Irrtums des Gesetzgebers über die Freiräume bei der Umsetzung abgelehnt. Der Gesetzgeber habe zwar – insoweit erfolglos – mit dieser Norm die Richtlinie 2000/78/EG umsetzen wollen und dabei deren Inhalt missverstanden. Angesichts des klaren und bewussten gesetzgeberischen Willens, der sich auch im Wortlaut und der Systematik der Norm widerspiegele, sei eine richtlinien-
303 BAG 25.10.2018 DE:BAG:2018:251018.U.8AZR501.14.0 Rn. 39; BGH 26.7.2018 DE:BGH:2018:260718UIZR64.17.0 Rn. 48; BGH 28.10.2015 – VIII ZR 158/11 – NJW 2016, 1718 Rn. 37; BGH 7.5.2014 – IV ZR 76/11 – NJW 2014, 2646 Rn. 20; BGH 21.12.2011 – VIII ZR 70/08 – NJW 2012, 1073 Rn. 30; BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 65; BGH 26.11.2008 – VIII ZR 200/05 – NJW 2009, 427 Rn. 21. 304 BGH 26.7.2018 DE:BGH:2018:260718UIZR64.17.0 Rn. 49; BGH 26.11.2008 – VIII ZR 200/05 – NJW 2009, 427 Rn. 25. 305 BGH 7.5.2014 – IV ZR 76/11 – NJW 2014, 2646 Rn. 22–23; BGH 21.12.2011 – VIII ZR 70/08 – NJW 2012, 1073 Rn. 34; BGH 26.11.2008 – VIII ZR 200/05 – NJW 2009, 427 Rn. 25. 306 BGH 7.5.2014 – IV ZR 76/11 – NJW 2014, 2646 Rn. 23. Das BAG spricht auch im Fall des BUrlG, das vor Erlass der einschlägigen Richtlinie erlassen wurde, vom regelmäßig anzunehmenden Willen des Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Umsetzung, BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 33; BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 59. 307 BGH 7.5.2014 – IV ZR 76/11 – NJW 2014, 2646 Rn. 26.
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Kapitel 4: Deutschland
konforme Auslegung oder Fortbildung aber nicht möglich.308 Damit gibt das BAG in dieser Entscheidung dem konkreten Regelungswillen des Gesetzgebers Vorrang vor dem generellen Umsetzungswillen. Soweit die Rechtsprechung bereit ist, aus dem generellen Umsetzungswillen und dem Fehlen einer richtlinienkonformen Regelung eine Lücke abzuleiten, ist ihr Spielraum für eine richtlinienkonforme Rechtsanwendung von Umsetzungsrecht sehr groß. Denn zum einen liegt Umsetzungsgesetzen grundsätzlich der Wille des Gesetzgebers zugrunde, die Rechtslage richtlinienkonform zu gestalten.309 Zum anderen wird dieser Wille aufgrund des in Richtlinien enthaltenen Zitiergebots auch durchgängig ausgesprochen. In manchen Fällen hat der BGH aber auch eine planwidrige Lücke abgelehnt, weil das Regelungskonzept des Gesetzgebers einer richtlinienkonformen Lösung klar entgegenstand.310 bb) Die Besonderheiten der urlaubsrechtlichen Rechtsprechung In den hier einschlägigen urlaubsrechtlichen Urteilen ging es um die Auslegung von Altrecht. Der Neunte Senat stellt dennoch auf die Umsetzungsvermutung ab und lässt es für eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung genügen, dass keine Anhaltspunkte für eine den Richtlinienzielen widersprechende Zielsetzung des Gesetzgebers gegeben sind.311 Das ist auch der entscheidende Gesichtspunkt in der späteren Entscheidung, in der der Neunte Senat offen lässt, ob seine Interpretation Auslegung oder Rechtsfortbildung ist.312 Weshalb bei Altrecht von einem Umsetzungswillen des Gesetzgebers auszugehen sein soll, wird nicht erläutert. Soweit nicht das Altrecht nach Erlass der Richtlinie ausdrücklich in seiner ursprünglichen Gestalt aufrechterhalten wird – was völlig unrealistisch ist – genügen nach diesen Entscheidungen das Ziel der Richtlinie und das Fehlen von Anhaltspunkten, dass das Gesetz definitiv nicht im Sinne dieser Zielsetzung zu verstehen sein soll, für eine richtlinienkonforme Interpretation. Sie ist damit praktisch entgrenzt.
308
BAG 25.10.2018 DE:BAG:2018:251018.U.8AZR501.14.0 Rn. 41. Der Fall, dass der Gesetzgeber den Vorgaben der Richtlinie nicht Folge leisten will und bewusst eine richtlinienwidrige Regelung trifft, ist wohl nur theoretischer Natur und deshalb hier nicht weiter von Interesse. S. zum Umsetzungswillen unten S. 133–138. 310 BGH 26.3.2019 DE:BGH:2019:260319UIIZR244.17.0 Rn. 21 (allerdings führt der BGH in dieser Entscheidung durch die richtlinienkonforme Auslegung einer anderen Norm ein richtlinienkonformes Ergebnis herbei); BGH 3.7.2018 DE:BGH:2018:030718 UXIZR702.16.0 Rn. 14. S. auch BGH 28.10.2015 – VIII ZR 158/11 – NJW 2016, 1718 Rn. 44 (keine richtlinienkonforme Interpretation einer Verordnung, wenn kein Umsetzungswille des Gesetz- oder Verordnungsgebers ersichtlich ist). 311 BAG 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 Rn. 58–59, 67. 312 BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 33. 309
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung
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Im Rahmen der Entscheidungen zur Übertragbarkeit von Urlaub bei Langzeiterkrankung stellte sich ferner die Frage, ob nationales Recht nur soweit wie unbedingt nötig richtlinienkonform zu interpretieren ist. Wie bereits ausgeführt, entschied das BAG in diesem Sinne. Eine erneute Privilegierung des einmal übertragenen Urlaubs sei europarechtlich nicht geboten.313 Dem liegt der Gedanke zugrunde, nationales Recht nur so weit zu korrigieren, wie es europarechtlich erforderlich ist.314 cc) Die Rechtsprechung des BVerfG Das BVerfG greift ebenfalls die Contra-legem-Grenze auf. Das nach nationalen Methoden Erlaubte begrenze die richtlinienkonforme Auslegung.315 Soweit das Gericht mit Fragen zur Reichweite der richtlinienkonformen Interpretation durch den BGH befasst war, hat es die Entscheidungen nicht beanstandet. Das BVerfG erinnert daran, dass zur Interpretation auch die Rechtsfortbildung zählt.316 Der Richter überschreite die verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung, wenn er deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft.317 Die Gerichte seien an die maßgeblichen gesetzgeberischen Grundentscheidungen gebunden, die der nationale Gesetzgeber treffe. Diese Grundentscheidungen ließen sich u.a. aus den Gesetzesmaterialien erschließen. Dabei sei angesichts des unionsrechtlichen Hintergrunds bei Umsetzungsrecht davon auszugehen, dass der nationale Gesetzgeber im Zweifel nicht gegen seine Umsetzungspflicht verstoßen wollte.318 Auch in einem Fall, in dem der BGH unter Berufung auf den entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers keinen Spielraum für eine richtlinienkonforme Interpretation sah, hatte das BVerfG keine verfassungsrechtlichen Einwände.319
313
BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 Rn. 40. S. zur Kritik oben S. 66. 315 BVerfG 17.11.2017 DE:BVerfG:2017:rk20171117.2bvr113116 Rn. 37; BVerfG 23.5.2016 DE:BVerfG:2016:rk20160523.1bvr223015 Rn. 41; BVerfG 10.12.2014 DE: BVerfG:2014:rk20141210.2bvr154907 Rn. 31; BVerfG 26.9.2011 DE:BVerfG:2011: rk20110926.2bvr221606 Rn. 47. 316 BVerfG 26.9.2011 DE:BVerfG:2011:rk20110926.2bvr221606 Rn. 44–45. 317 BVerfG 23.5.2016 DE:BVerfG:2016:rk20160523.1bvr223015 Rn. 49; BVerfG 26.9.2011 DE:BVerfG:2011:rk20110926.2bvr221606 Rn. 56. 318 BVerfG 23.5.2016 DE:BVerfG:2016:rk20160523.1bvr223015 Rn. 44; BVerfG 26.9.2011 DE:BVerfG:2011:rk20110926.2bvr221606 Rn. 51. 319 BVerfG 17.11.2017 DE:BVerfG:2017:rk20171117.2bvr113116 Rn. 38. 314
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Kapitel 4: Deutschland
b) Die Einordnung der richtlinienkonformen Auslegung in der Literatur Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung wurde in der älteren Literatur zum Teil aus dem inzwischen in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der Gemeinschaftstreue abgeleitet.320 Wesentlich häufiger wurde und wird allerdings Art. 288 Abs. 3 AEUV als Grundlage dieser Verpflichtung genannt. Während einige der Autoren, die sich auf diese Norm stützen, daneben nicht auf Art. 4 Abs. 3 EUV zurückgreifen, weil sie Art. 288 Abs. 3 AEUV als die speziellere Regelung ansehen,321 stellen andere zumindest hilfsweise auch auf Art. 4 Abs. 3 EUV ab oder lassen die Bedeutung dieser Regelung für die richtlinienkonforme Auslegung offen322. Einigkeit besteht inzwischen darüber, dass der Umsetzungswille des nationalen Gesetzgebers oder eine entsprechende Vermutung (allein) die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nicht begründet.323
320 Everling, ZGR 1992, 376, 380; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 268 (der allerdings in Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, Art. 288 AEUV, Rn. 135, Art. 288 AEUV i.V.m. Art. 4 Abs. 3 EUV heranzieht). 321 EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 42; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 297–298; ders., JZ 2003, 321, 327; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 109–110; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 270–271; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 25; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV, Rn. 110. In diesem Sinne auch Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 60–61, 256–258 (höchstens hilfsweise). S. ferner Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 288 AEUV, Rn. 79. 322 So nennen Pfeiffer, StudZR 2004, 171, 182, und Reimer, Methodenlehre, Rn. 657, beide Normen, während Auer, Primärrechtskonforme Auslegung, S. 27, 49 (Fn. 91); Gebauer, Europäische Auslegung, Rn. 32, und Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 4, von einer Hilfserwägung sprechen. Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 55, 62, will den Grundsatz der Gemeinschaftstreue nur ergänzend heranziehen und lässt die Frage der Spezialität ausdrücklich offen. Weber, Grenzen, S. 91–92, zieht neben Art. 288 Abs. 3 AEUV Art. 291 Abs. 2 AEUV heran. Einige Autoren sprechen zudem die Frage der innerstaatlichen Verbindlichkeit an, die sich für Deutschland aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ergibt, Herdegen, WM 2005, 1921, 1925–1926 (der außerdem die gesetzliche Zustimmung zum EG-Vertrag erwähnt); Weber, Grenzen, S. 126 (im Kontext mit der Vorrangstellung). Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 314–320, stützt sich auf eine Analogie zu dem inzwischen aufgehobenen Art. 36 EGBGB. Sieht man Art. 288 Abs. 3 AEUV als Rechtsgrundlage für die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung, fehlt es aber an einer Regelungslücke für eine solche Analogie, s. Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 112; Weber, Grenzen, S. 90. Weitere Kritik zu diesem Ansatz bei Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 62–64. 323 Auer, Primärrechtskonforme Auslegung, S. 27, 48–49; Canaris, Gemeinsamkeiten, S. 41, 43; Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 149; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 254–259; Jarass, Europarecht 1991, 211, 217; Weber, Grenzen, S. 88–89. Nachweise zu älterer Literatur, die sich maßgeblich auf den Umsetzungswillen stützt, bei Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 254 (Fn. 589); Weber, Grenzen, S. 89.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung
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aa) Die richtlinienkonforme Auslegung im Rechtsfindungsprozess Besonders intensiv wird in der deutschen Literatur die Einbindung der richtlinienkonformen Auslegung in den Prozess der Rechtsfindung diskutiert.324 Nach einer Auffassung ist die richtlinienkonforme Auslegung kein Aspekt der Inhaltsbestimmung. Sie diene der Harmonisierung, nicht der Inhaltserforschung.325 Danach ist Richtlinienkonformität weder das Ziel der Auslegung noch ein Auslegungskriterium. Ziel der Auslegung sei es, den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln. Zu diesem Ziel trägt die richtlinienkonforme Auslegung nicht bei, weshalb die Vertreter dieser Ansicht sie nicht zur Inhaltsermittlung zählen. Die richtlinienkonforme Auslegung diene vielmehr dem davon zu unterscheidenden Ziel, zu prüfen, ob mit der nationalen Norm der Umsetzungspflicht Genüge getan wurde.326 Nach diesem Ansatz ist die nationale Norm zunächst unabhängig von der Richtlinie auszulegen. In einem zweiten Schritt wird geprüft, ob (mindestens) eines der so gewonnenen Auslegungsergebnisse mit den Vorgaben der Richtlinie vereinbar ist.327 Den eigentlichen Auslegungsakt beeinflusse die Richtlinie nur im Wege der richtlinienorientierten Auslegung, die Teil der historisch-systematischen Auslegung sei, vom Erfordernis der Richtlinienkonformität bleibe er unberührt.328 Andere Autoren sehen die Übereinstimmung mit der Richtlinie als Auslegungsziel oder Ergebnisvorgabe.329 Zurückhaltender heißt es zum Teil, das
324
Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 132, wertet die Vorschläge im Rahmen der deutschen Diskussion zur richtlinienkonformen Auslegung als Entwürfe, die „aus einer gewissen Abwehrhaltung gegen das europäische Recht formuliert“ sind. Für diese Einschätzung gibt es aber keine tragfähige Grundlage. Die deutsche Literatur ist in Sachund Methodenfragen diskussionsfreudig und meist um systemgerechte Lösungen bemüht. Was die einen als „komplizierte Überlegungen“ einordnen, Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 129, ist für andere ein normaler Vorgang der Einbindung neuer Fragestellungen in bereits vorhandene Lösungsansätze. Mit einer kritischen oder ablehnenden Haltung ist das nicht notwendigerweise verbunden. 325 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 22. Allgemein für die systemkonforme Auslegung Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 157. S. auch Reimer, Methodenlehre, Rn. 644. 326 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 21–22. Allgemein für die systemkonforme Auslegung Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 159. 327 EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 43–45; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 272, 274. 328 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 257, 283 (s. dort auch S. 162). Zu einem abweichenden Verständnis des Begriffs der richtlinienorientierten Auslegung s. die Nachweise in Fn. 383. 329 Hager, Rechtsmethoden, 6. Kap., Rn. 50; Möllers, Methodenlehre, § 12, Rn. 65; Schroeder, Europarecht, § 6, Rn. 64; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV, Rn. 111. Ferner Wietfeld, JZ 2020, 485, 490–491 (unter Hinweis darauf, dass die Frage der Verbindlichkeit dieser Zielsetzung damit nicht beantwortet ist).
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Kapitel 4: Deutschland
gelte nach der EuGH-Rechtsprechung zumindest in den Fällen, in denen Anhaltspunkte bestehen, dass der Gesetzgeber sich richtlinienkonform verhalten wollte.330 Mit dem Verständnis der richtlinienkonformen Auslegung als Auslegungsziel ist meist der Ansatz verbunden, die Richtlinie bereits bei der Bestimmung des Inhalts der nationalen Norm zu berücksichtigen.331 Die Einordnung als Ziel bedeutet also nicht, dass die Richtlinie (oder der Aspekt der Richtlinienkonformität) nicht zugleich den Prozess der Inhaltsbestimmung beeinflussen kann. Eine weitere Auffassung betrachtet die richtlinienkonforme Auslegung als Auslegungskriterium.332 Zur Frage, ob sie auch Auslegungsziel ist, äußern sich die Vertreter dieser Ansicht in der Regel nicht.333 Wie sich die richtlinienkonforme Auslegung zu den herkömmlichen Interpretationskriterien verhält, ist innerhalb dieser Auffassung umstritten. Einige Autoren sehen sie nicht als eigenständige Methode, vielmehr beeinflusse sie die übrigen Auslegungsmethoden.334 Andere ordnen die richtlinienkonforme Auslegung dagegen als eigenständige Methode ein.335 Dabei wird ihr oft eine Doppelrolle 330
Grundmann, ZEuP 1996, 399, 414. Hager, Rechtsmethoden, 6. Kap., Rn. 50; Möllers, Methodenlehre, § 12, Rn. 65; Wietfeld, JZ 2020, 485, 490–491. Dafür, die Richtlinie von vornherein bei der Auslegung zu berücksichtigen, sprechen sich ferner aus Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 132–134; Pfeiffer, StudZR 2004, 171, 188; Schlachter, EuZA 2015, 1, 10. 332 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 79; Gebauer, Europäische Auslegung, Rn. 33; Klamert, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 182–184; wohl auch Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 242, 259, und Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, § 1, Rn. 1.150, der davon spricht, dass die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung unmittelbar in den Auslegungsvorgang eingreift, ohne näher auf die Art und Weise des Einflusses einzugehen. Möllers, Methodenlehre, § 12, Rn. 46, spricht von einer eigenen „Auslegungsfigur“, sieht aber, wie bereits erwähnt, die Übereinstimmung von nationaler Norm und Richtlinie als Auslegungsziel (Möllers, Methodenlehre, § 12, Rn. 65). S. auch die Nachweise in Fn. 334 und 335. 333 S. aber Möllers, Methodenlehre, der in § 12, Rn. 46, von einer „Auslegungsfigur“ spricht und in § 12, Rn. 65 die Übereinstimmung von nationaler Norm und Richtlinie als Auslegungsziel bezeichnet. 334 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 344, 347; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 133 (grammatische und objektiv-teleologische Auslegung); Hommelhoff, Rolle der nationalen Gerichte, S. 889, 891; ders., AcP 192 (1992), 71, 96; Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 41 („zumindest auch […] in die […] Auslegungscanones des deutschen Rechts integriert“). Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 41 (Fn. 176), versteht auch Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 79–81, in diesem Sinne, der an der von ihr zitierten Stelle zwar von einem Hin-und-Herwandern des Blickes spricht, allerdings gerade betont, dass vor dem Vergleich mit den Anforderungen der Richtlinie zunächst ein Auslegungsspielraum im nationalen Recht festzustellen ist, der nicht vorschnell unter Rückgriff auf die Richtlinie anzunehmen sei. 335 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 79; Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 159–160; Leenen, JURA 2012, 753, 754; Möllers, Methodenlehre, § 12, 331
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung
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zugewiesen: Sie sei ein eigenständiges Auslegungskriterium, beeinflusse aber auch die Anwendung der übrigen Auslegungskriterien.336 Die meisten der Autoren, die die richtlinienkonforme Auslegung als Auslegungskriterium bezeichnen, verstehen sie zugleich als Vorrangregel. Die Formulierungen sind unterschiedlich. Einige sehen die richtlinienkonforme Auslegung als Regel zur Gewichtung der üblichen Kriterien. Diese führe zum Vorrang der Kriterien, die ein richtlinienkonformes Ergebnis tragen.337 Andere sprechen schlicht vom Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung.338 Als Vorrangregel bezeichnen die richtlinienkonforme Auslegung – ausdrücklich oder der Sache nach – ferner Autoren, die sich nicht dazu äußern, ob sie ein Auslegungsmittel ist339 oder das ausdrücklich ablehnen340. Einige von ihnen nehmen den Vorrang der Auslegungskriterien an, die das richtlinienkonforme Ergebnis bewirken,341 andere sprechen (sinngemäß) vom Vorrang des richtlinienkonformen Ergebnisses342. bb) Das Vorgehen bei der richtlinienkonformen Auslegung Die richtlinienkonforme Auslegung einer nationalen Regelung wird meist als zweistufiger Prozess beschrieben. Eine von der Inhaltsbestimmung zu trennende Stufe des Interpretationsprozesses ist sie nach der Ansicht, die die richtlinienkonforme Auslegung als Normenkontrollvorgang an die Inhalts-
Rn. 46; Weber, Grenzen, S. 124–126. Wohl auch Kainer, GPR 2016, 262, 266; Langenbucher, § 1 Europarechtliche Methodenlehre, Rn. 85. Offen gelassen von Lutter, JZ 1992, 593, 604 (Fn. 133). 336 Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 160, 141–142; Leenen, JURA 2012, 753, 754; Weber, Grenzen, S. 123. In den Details bestehen einige Unterschiede: Während Drexler dabei die systematische und teleologische Auslegung im Blick hat, bezieht Weber sich zusätzlich auf die historische Auslegung. Leenen sieht dagegen einen Einfluss auf die grammatische, historische und teleologische Methode, Klamert, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 178, 196, „vor allem“ auf die historische und telelogische Interpretation. 337 Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 153–154, 158; Gebauer, Europäische Auslegung, Rn. 33; Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 42. 338 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 70, 72; Kainer, GPR 2016, 262, 266; Langenbucher, § 1 Europarechtliche Methodenlehre, Rn. 85; Leenen, JURA 2012, 753, 756; Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, § 1, Rn. 1.150; Weber, Grenzen, S. 125. 339 Auer, NJW 2007, 1106; dies., Primärrechtskonforme Auslegung, S. 27, 45 (die dort allerdings von einer „den anderen Kriterien übergeordnete[n]“ Auslegungsregel spricht, was suggeriert, dass die richtlinienkonforme Auslegung ebenfalls ein Auslegungskriterium ist); Gebauer/Teichmann, in: Gebauer/Teichmann, EnzEuR 6, § 1, Rn. 84; Herresthal, JuS 2014, 289, 291–292; Schürnbrand, JZ 2007, 910; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 275–277. 340 Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 590. 341 Herresthal, JuS 2014, 289, 291; Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 591. 342 Schürnbrand, JZ 2007, 910, 911; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 276.
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Kapitel 4: Deutschland
bestimmung anschließt. Soweit nach den gängigen Regeln mehrere Auslegungsmöglichkeiten in Betracht kommen, ist die richtlinienkonforme Variante zu wählen.343 In der gleichen Weise wird das Vorgehen bei der richtlinienkonformen Auslegung freilich von denjenigen beschrieben, die sie als Auslegungskriterium einordnen: Zunächst sei anhand der nationalen Kriterien der Auslegungsspielraum zu ermitteln. Soweit sich daraus ein Spielraum ergebe, sei das richtlinienkonforme Ergebnis anderen Ergebnissen vorzuziehen.344 Zudem verstehen diejenigen, die die richtlinienkonforme Auslegung als Auslegungskriterium ansehen, den Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung durchaus unterschiedlich. Die Zweistufigkeit des Vorgehens als Gemeinsamkeit verschiedener Ansätze ist also letztlich ohne Wert. Maßgeblich ist, wie der Spielraum bestimmt wird, der für die richtlinienkonforme Auslegung besteht. Wer der richtlinienkonformen Auslegung Einfluss auf die Gewichtung der Auslegungskriterien einräumt oder sie als Instrument sieht, diejenigen Auslegungsmittel zu verdrängen, die ein richtlinienkonformes Ergebnis nicht gewährleisten, hat recht weitgehende Möglichkeiten, ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erzielen. Wer dagegen die Normvorstellungen des historischen Gesetzgebers als Auslegungsziel ansieht und zwar der Richtlinie, nicht aber der richtlinienkonformen Auslegung als Kontrollinstrument einen Platz bei der Inhaltsbestimmung einräumt, bestimmt die möglichen Auslegungsergebnisse vergleichsweise unabhängig von der Richtlinie und hat weniger Spielraum für ein richtlinienkonformes Normverständnis. Enger als die Auffassung, nach der die richtlinienkonforme Auslegung ein Übergewicht derjenigen Kriterien bewirkt, die ein richtlinienkonformes Ergebnis tragen, können die Möglichkeiten zur richtlinienkonformen Auslegung auch nach der Ansicht ausfallen, nach der „die richtlinienkonforme Auslegung“ nach Ermittlung des Auslegungsspielraums anhand der natio343
Siehe oben S. 121. Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 80–81, nach dessen Auffassung diese Schritte in einfachen Fällen kombiniert werden können; Langenbucher, § 1 Europarechtliche Methodenlehre, Rn. 89; Leenen, JURA 2012, 753, 755–156; Weber, Grenzen, S. 127. S. aus dem Kreise derjenigen, die sich zur Einordnung als Auslegungskriterium nicht äußern, auch Herresthal, JuS 2014, 289, 291 (der dann allerdings den Spielraum sehr weit zieht, indem er die möglichen Auslegungsergebnisse im Regelfall anhand des Wortsinns bestimmt). Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 259, und Reimer, Methodenlehre, Rn. 658, sprechen von einem doppelten Auslegungsverfahren und meinen damit einerseits die Auslegung der nationalen Norm, andererseits die der Richtlinie, um die nationalen Lösungsmöglichkeiten auf ihre Richtlinienkonformität zu überprüfen. Das meint aber im Ergebnis nichts anderes, sondern bezieht lediglich das Erfordernis der Auslegung der Richtlinie mit ein. Mit Blick auf das nationale Recht gehen auch sie von zwei Schritten aus: Ermittlung des Auslegungsspielraums und Auswahl der richtlinienkonformen Auslegungsmöglichkeit. 344
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung
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nalen Kriterien Vorrang hat. Ob sie enger ausfällt oder nicht, hängt davon ab, wie man den Auslegungsspielraum ermittelt, ob also dabei sämtliche Auslegungskriterien zu berücksichtigen sind und einzelne oder mehrere der Auslegung Grenzen setzen. Unter denjenigen, die „der richtlinienkonformen Auslegung“ Vorrang einräumen, haben sich Canaris und Langenbucher näher zum konkreten Vorgehen bei der Auslegung geäußert. Ihrer Auffassung nach ist zunächst ohne Berücksichtigung der Richtlinie zu ermitteln, welchen Auslegungsspielraum die gängigen Auslegungskriterien ergeben. Sie stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen sich die richtlinienkonforme Auslegung dann ohne Weiteres – also ohne Gesamtabwägung – durchsetzen soll. Was interpretatorisch nicht zulässig sei, könne kein Auslegungsergebnis sein.345 Es genügt also nicht, dass irgendein Auslegungskriterium das richtlinienkonforme Auslegungsergebnis trägt.346 Das Ergebnis muss sich außerdem im Rahmen des Zulässigen halten, der auch durch die übrigen Kriterien bestimmt wird.347 Allerdings gestattet Canaris einen erneuten Blick auf die üblichen Auslegungskriterien, wenn sich im ersten Durchgang kein Spielraum für eine richtlinienkonforme Auslegung ergibt.348 Obwohl dieser Ansatz sich hinsichtlich der Einordnung der richtlinienkonformen Auslegung deutlich von der Auffassung unterscheidet, nach der die richtlinienkonforme Auslegung nicht zur Inhaltsbestimmung zählt, hat er mit ihr auch eine wichtige Übereinstimmung. Nach beiden Ansätzen ist – im Unterschied zu der Auffassung, nach der die richtlinienkonforme Auslegung Einfluss auf die Gewichtung der übrigen Auslegungskriterien hat – die Norm zunächst nach den nationalen Kriterien auszulegen und nur im Rahmen des so ermittelten Auslegungsspielraums eine richtlinienkonforme Auslegung vorzunehmen. Sehr unterschiedliche Ergebnisse ergeben sich allerdings daraus, dass der Spielraum, der sich aus den nationalen Auslegungskriterien ergibt, unterschiedlich bestimmt wird. 345
Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 80; ders., Gemeinsamkeiten, S. 41, 45; Langenbucher, § 1 Europarechtliche Methodenlehre, Rn. 89. 346 So aber Herresthal, JuS 2014, 289, 291, der zwar auch die möglichen Auslegungsergebnisse unter Heranziehung aller Auslegungskriterien bestimmen will, zugleich aber annimmt, dass der mögliche Wortsinn im Regelfall den Kreis der möglichen Auslegungsergebnisse bestimmt. Nach Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 275, kommt es allein darauf an, ob der Wortsinn das richtlinienkonforme Normverständnis zulässt. 347 Jeweils dem Kriterium Vorrang zu geben, das das richtlinienkonforme Ergebnis trägt, wäre auch keine Auslegung nach den nationalen methodischen Regeln. Die nationale Methode sieht es nicht vor, sich ungeachtet anderer Auslegungskriterien auf ein Kriterium zu stützen, das ein bestimmtes erwünschtes Ergebnis trägt. Eine Modifikation der Methoden verlangt auch der EuGH nicht. 348 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 80–81. Ablehnend Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 169, weil nach diesem Ansatz so lange systemkonform interpretiert werden könne, bis das gewünschte Auslegungsergebnis erreicht ist.
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Kapitel 4: Deutschland
c) Die Diskussion der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung in der Literatur Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung bezieht sich nicht allein auf die Auslegung i.e.S., sondern schließt die Rechtsfortbildung ein.349 Für das nationale Recht sind beide Interpretationsstufen dennoch zu unterscheiden, weil sie unterschiedlichen methodischen Regeln folgen.350 Unter welchen Umständen eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung in Betracht kommt, wird unterschiedlich beurteilt. aa) Anknüpfung an den Lückenbegriff Ein Teil der Literatur verlangt bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung wie bei einer nicht richtlinienindizierten Rechtsfortbildung eine planwidrige Regelungslücke.351 Wie weit eine solche Rechtsfortbildung reichen kann, hängt dann von der Weite des Lückenbegriffs ab.352 Unvollständig ist das Gesetz im Kontext der richtlinienkonformen Interpretation, wenn eine richtlinienkonforme Regelung fehlt.353 Entscheidend ist, ob diese Unvollständigkeit planwidrig ist, sodass eine Lücke gegeben ist. Einen weiten Lückenbegriff verwendet Canaris. Der weite Lückenbegriff soll alles erfassen, was einerseits über die Auslegung hinausgeht und andererseits nicht die Contra-legem-Grenze überschreitet. Zwar könne innerhalb dieses Bereichs weiter nach einer Rechtsfortbildung praeter legem (die Lücke ergibt sich aus der gesetzlichen Wertung) und einer Fortbildung extra legem (die Lücke ergibt sich nicht aus dem Gesetz, wohl aber aus dem Recht) un349 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 81–82; Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 83–88; EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 76; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 358; Gebauer, Europäische Auslegung, Rn. 38; Gebauer/Teichmann, in: Gebauer/Teichmann, EnzEuR 6, § 1, Rn. 85; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, Art. 288 AEUV, Rn. 134; Herresthal, JuS 2014, 289, 290; Leenen, JURA 2012, 753, 753; Michael/Payandeh, NJW 2015, 2392, 2395; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 50; Schlachter, EuZA 2015, 1, 7; Weber, Grenzen, S. 132–133; Wietfeld, JZ 2020, 485, 489. 350 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 359. S. auch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 4–6, die diese Unterscheidung darüber hinaus für das Unionsrecht befürworten. 351 Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 173–183; Hellert, Einfluss des EGRechts, S. 115, 117; Weber, Grenzen, S. 133. Offen gelassen bei Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 51–53, nach deren Auffassung sich bei richtlinienwidrigem (nicht)-Umsetzungsrecht eine Lücke begründen lässt und bei Untätigkeit des Gesetzgebers die Änderung des rechtlichen Umfelds durch die Richtlinie die Rechtsfortbildung trägt. 352 Gebauer, Europäische Auslegung, Rn. 42. 353 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 85; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 416, 419. S. auch Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 45–46, die in diesem Fall ohne Weiteres von der Rechtsfortbildungsbefugnis ausgeht, ohne auf die Frage der Planwidrigkeit einzugehen. Das mag darin begründet sein, dass sie davon ausgeht, dass der Gesetzgeber, der sich nicht klar anderweitig äußert, die Richtlinie korrekt umsetzen möchte (ebda.).
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung
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terschieden werden. Das sei aber nicht zielführend, weil es letztlich nur darauf ankomme, ob eine Rechtsfortbildung zulässig sei, weshalb sich die weitere Abgrenzung erübrige. Maßgeblich für die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung seien die Wertungen der Gesamtrechtsordnung.354 Bei unbewusst fehlerhaften Umsetzungsgesetzen ergebe sich die Planwidrigkeit der Lücke daraus, dass der Gesetzgeber die Richtlinie grundsätzlich in seinen Willen aufgenommen und in das nationale Recht integriert habe, sodass man sie als Bestandteil der Gesamtrechtsordnung ansehen könne.355 Bei fehlender Umsetzung sei nach Ablauf der Umsetzungsfrist ebenfalls von einer Lücke auszugehen, da die Richtlinie mit Ablauf der Umsetzungsfrist Teil der Gesamtrechtsordnung geworden sei. Es sei sachgemäß, die Richtlinie unter Fortentwicklung der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung als bindendes objektiv-teleologisches Kriterium anzuerkennen. Auch sei es zweckmäßiger, eine Rechtsfortbildung zuzulassen, als ein Vertragsverletzungsverfahren in Kauf zu nehmen.356 Damit sei die Rechtsfortbildung nach Ablauf der Umsetzungsfrist bereits aufgrund des bloßen Fehlens einer richtlinienkonformen Regelung zulässig, wenn sie ohne die Änderung vorhandener Normen möglich sei.357Canaris stellt allerdings die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung als Teil der richtlinienkonformen Rechtsfindung unter den Vorbehalt, dass sie nicht die Contra-legem-Grenze überschreitet.358 Da, wie soeben dargelegt, der weite Lückenbegriff alles abdecken soll, was zwar über die Auslegung hinausgeht, die Contra-legem-Grenze aber nicht überschreitet,359 ist noch zu klären, welche Bedeutung die Contra-legem-Grenze nach dieser Auffassung für die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung hat.360
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Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 84. Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 85; ders., Gemeinsamkeiten, S. 41, 53–54. Ähnlich Schnorbus, AcP 201 (2001), 860, 891–892, 894. S. auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 415–416, der zwar von voneinander unabhängigen Rechtsordnungen ausgeht, die aber so miteinander verwoben seien, dass die Unvollständigkeit der innerstaatlichen Rechtsordnung unter Berücksichtigung der Gemeinschaftsrechtsordnung zu bestimmen sei. Allerdings soll eine Rechtsfortbildung nicht in Betracht kommen, wenn der Gesetzgeber erkennbar gegenläufige Absichten verfolgt hat, Franzen, JZ 2003, 321, 328. Nach Jud, ÖJZ 2003, 521, 524, ist das nationale Recht bei fehlerhafter Umsetzung zwar lückenhaft, eine Rechtsfortbildung aber nicht möglich, weil die Richtlinie nicht als Maßstab der Lückenfüllung herangezogen werden könne. 356 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 87; ders., Gemeinsamkeiten, S. 41, 54. 357 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 88–89. A.A. jedenfalls für die Analogie Schlachter, ZfA 2007, 249, 261. Gegen die Annahme einer Lücke allein aufgrund eines Richtlinienverstoßes ausdrücklich auch Herdegen, WM 2005, 1921, 1929. 358 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 91 (mit Fn. 193), 95. 359 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 84. 360 S. unten S. 145–148. 355
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Kapitel 4: Deutschland
Der Auffassung von Canaris dürfte diejenige entsprechen, nach der unter Berücksichtigung des erklärten oder generellen Umsetzungswillens des Gesetzgebers sowie der Richtlinie als Teil der Gesamtrechtsordnung zu klären ist, ob das nationale Recht eine Lücke enthält.361 Auch die Ansicht, nach der maßgeblich ist, ob sich die Wertentscheidung der Richtlinie in unvollkommener Form auch in der nationalen Rechtsordnung wiederfindet, dürfte zu denselben Ergebnissen führen.362 Maßgeblich dafür sei der geäußerte Wille, mit einer bestimmten Rechtsnorm die Richtlinie korrekt umsetzen zu wollen. Fehle ein solcher Wille, habe der generelle Umsetzungswille Vorrang vor der konkreten Regelungsabsicht des Gesetzgebers, wenn dieser die Richtlinie fehlerhaft umgesetzt habe, weil er sie falsch verstanden hat.363 Nach einer weiteren Auffassung hat der Begriff der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung keine eigenständige Bedeutung. Richtlinien könnten mangels unmittelbarer Anwendbarkeit keine Lücke im nationalen Recht begründen. Ob eine Lücke gegeben sei, sei allein nach dem Plan des nationalen Gesetzgebers zu bestimmen.364 Nähme man eine planwidrige Regelungslücke allein aufgrund des Richtlinienverstoßes an, würde das praktisch zur Horizontalwirkung von Richtlinien führen.365 Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung bedeute nur, dass die nach nationalem Recht bestimmte Lücke richtlinienkonform zu füllen sei.366 Es treffe nicht zu, dass sich die Wertungen der Richtlinie in (fehlerhaften) Umsetzungsnormen stets wiederfinden. Ein entsprechender Umsetzungswille des Gesetzgebers sei eine bloße Fiktion.367 Ab361 Gebauer, GPR 2009, 82, 86. In diesem Sinne auch Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 52–53; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 286–288. Zu denselben Ergebnissen dürfte ferner die Auffassung führen, nach der eine Lücke gegeben ist, wenn der Gesetzgeber die Ablehnung der Umsetzung nicht offenlegt, so Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 181–183. S. außerdem Leenen, JURA 2012, 753, 760, der hinsichtlich der Planwidrigkeit der Lücke zwar nicht auf die Richtlinie als Teil der Gesamtrechtsordnung, wohl aber auf die Umsetzungsverpflichtung abstellt. 362 Möllers, Methodenlehre, § 12, Rn. 63–71. Möllers knüpft zwar nicht ausdrücklich an den Lückenbegriff an, lässt aber z.B. in Rn. 71 erkennen, dass es ihm um Lückenschließung geht. 363 Möllers, Methodenlehre, § 12, Rn. 68. S. auch Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922, 923–924. 364 EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 86–87; Gsell, JZ 2009, 522, 524–525; Höpfner, JZ 2009, 403, 404; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 34; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 912d–912e; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 914; Weber, Grenzen, S. 135–136. Ferner Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 112–113, 206–225, die andere Ansätze als den von ihr so genannten Ergebnisvorrang als unzulässige Verschiebung der Contralegem-Grenze ansieht. 365 EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 79. 366 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 35; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 912d–912e. 367 EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 83; Weber, Grenzen, S. 134–135.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung
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zulehnen sei daher auch der Ansatz, der die Rechtsfortbildung nur dann ausschließt, wenn der Gesetzgeber in den Materialien zu erkennen gibt, dass er seine Regelung unabhängig von der Auffassung des EuGH und gegebenenfalls unter Hinnahme ihrer Richtlinienwidrigkeit mit einem bestimmten Inhalt treffen will. Diese Lösung führe ebenfalls zur generellen unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien im Privatrechtsverkehr.368 bb) Rechtsfortbildung unter dem Aspekt der Normkollision Eine weitere Ansicht behandelt die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, ohne sich mit dem Lückenbegriff auseinanderzusetzen. Sie unterscheidet die Rechtsfortbildung intra, praeter, extra und contra legem.369 Contra legem ist nach dieser Auffassung eine Rechtsfortbildung, die über die durch Wortsinn und Zweck gebildete Grenze der Interpretation hinausgeht. Sie sei grundsätzlich unzulässig, in Ausnahmefällen aber doch gestattet, so z.B. zur Auflösung von Normwidersprüchen. Ein solcher Normwiderspruch sei gegeben, wenn die Umsetzungsnorm der Richtlinie nicht entspricht. Dass ein solcher Widerspruch wie ein Widerspruch im nationalen Recht zu behandeln sei, ergebe sich aus der Rechtsprechung des EuGH.370 Führe weder die Auslegung noch die Rechtsfortbildung intra, praeter oder extra legem zum Erfolg, sei eine Rechtsfortbildung contra legem bei unbewusst fehlerhafter Umsetzung als letzte Möglichkeit der richtlinienkonformen Interpretation zulässig.371 Die Reichweite der Rechtsfortbildung nach diesem Ansatz unterscheidet sich im Ergebnis nicht von den Möglichkeiten, die sich aus einem weiten Lückenbegriff ergeben. Diese Auffassung sieht aber die Richtlinie nicht als Teil der nationalen Rechtsordnung, sondern stützt sich wesentlich auf die Aussage des EuGH zur Anwendung von Kollisionsregeln. cc) Modifizierter Lückenbegriff Eine weitere Auffassung verwendet zwar den Lückenbegriff, will aber zur Lückenfeststellung nicht darauf abstellen, ob die Unvollständigkeit planwidrig ist. Die Abweichung von einem Regelungsplan sei kein geeigneter Maßstab für die Lückenfeststellung, da die nationale Gesamtrechtsordnung aus nationalen Normen und Regelungen des Unionsgesetzgebers bestehe, für die es an einem Gesamtplan fehle.372 Ob eine Lücke gegeben sei, bestimme sich 368
EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 84. Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 52–53. 370 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51–52. 371 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 52–53. 372 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 221–224; ders., JuS 2014, 289, 292. Die diesem Ansatz zugrundeliegende Annahme, der verfassungsändernde Gesetzgeber habe mit Art. 23 GG ein Staatsstrukturprinzip der integrierten 369
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Kapitel 4: Deutschland
bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung vielmehr danach, ob ein systemwidriges Regelungsdefizit gegeben sei. Das systemwidrige Regelungsdefizit ergebe sich aus der Gesamtrechtsordnung, die die Richtlinie einschließe. Wenn eine Richtlinie ein bestimmtes Ergebnis vorschreibe, das nicht durch Auslegung erzielt werden könne, bestehe Bedarf für eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung.373 Die Rechtsfortbildungsinstrumente seien vor diesem Hintergrund zu modifizieren, die Grenzen neu zu ziehen. Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung ergäben sich aus dem nationalen Recht, u.a. aus der weiterhin aktuellen Wertungsentscheidung des nationalen Gesetzgebers und der Unzulässigkeit einer Fortbildung, die zu einer Umgestaltung der nationalen Norm führe.374 Bei Umsetzungsnormen sei die Wertungsentscheidung des Gesetzgebers nicht aktuell, wenn sie – ausweislich einer Entscheidung des EuGH zum Inhalt der Richtlinie – auf einem nicht (mehr) zutreffenden Verständnis der Richtlinie beruht.375 Bei unbewusst fehlerhafter Umsetzung greift also nach dieser Ansicht diese aus der Gewaltenteilung abgeleitete Grenze nicht. Insoweit entspricht die Reichweite der Rechtsfortbildung nach dieser Auffassung ebenfalls der, die sich aus einem weiten Lückenbegriff ergibt. dd) Zusammenfassung Die Literatur ist zur Frage der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung gespalten. Einige Autoren knüpfen an den nationalen Lückenbegriff an und leiten aus der Richtlinienwidrigkeit einer Regelung allein keine Lücke ab. Eine richtlinienwidrige Regelung kann danach nur dann durch Rechtsfortbildung korrigiert werden, wenn sich die Rechtsfortbildung anderweitig begründen lässt. Nach anderer Auffassung ergibt sich eine Regelungslücke bereits aus dem Richtlinienverstoß. Auch der Gedanke des Normwiderspruchs wird zur Rechtsfortbildung herangezogen. Staatlichkeit eingeführt, was Kompetenzverschiebungen nach sich ziehe (Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 123–137, 143–147), ist in der Literatur zu Recht auf Ablehnung gestoßen. Art. 23 GG ist mit der h.M. als Staatszielbestimmung einzuordnen. S. ausführlich Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 221–225; Weber, Grenzen, S. 108–120 (m.w.N. zur h.M. in Fn. 574); s. ferner Hager, Rechtsmethoden, 7. Kap., Rn. 114; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 917. 373 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 224–225; ders., JuS 2014, 289, 292. In diesem Sinne im Anschluss an Herresthal auch Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, § 1, Rn. 1.154, der allerdings den Begriff der Planwidrigkeit nicht ganz fallen lässt. 374 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 239–246, 325–344; ders., JuS 2014, 289, 292–293. Ihm folgend Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, § 1, Rn. 1.154. S. zu Grenzen aus dem Unionsrecht Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 301–309. 375 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 330–331. Im Kontext der richtlinienkonformen Auslegung Herresthal, JuS 2014, 289, 292.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung
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2. Stellungnahme zur richtlinienkonformen Auslegung und Fortbildung Wie nachfolgend zu zeigen ist, verändert die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung nicht das Ziel der Auslegung nationaler Normen. Diskutiert wird ferner, wie Richtlinien in den Auslegungsprozess einfließen. Dabei werden sich Parallelen zur verfassungskonformen Auslegung zeigen. Schließlich wird erläutert, dass Richtlinienverstöße für sich betrachtet eine Rechtsfortbildung nicht tragen. a) Keine Modifikation des Auslegungsziels Nach der hier vertretenen Auffassung liegt das Auslegungsziel in erster Linie darin, den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln. Die Verpflichtung, nationales Recht richtlinienkonform auszulegen, modifiziert dieses Ziel nicht. Sie besteht nur im Rahmen des nach nationaler Methode Möglichen. Die nationale Methode bestimmt aber nicht nur die Auslegungskriterien, sondern auch das Auslegungsziel, das daher nicht ohne Weiteres ausgetauscht werden kann. Das Ziel der Auslegung ist auch nicht infolge der europarechtlichen Umsetzungsverpflichtung und/oder aufgrund von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG dahingehend zu verändern, dass die Richtlinienkonformität des Auslegungsergebnisses stets maßgebliches Ziel des Interpretationsvorgangs ist. Dagegen spricht nicht nur, dass die Verpflichtung nur im Rahmen des nach nationaler Methode Möglichen besteht, sondern auch das Charakteristikum der Richtlinie als Rechtsetzungsinstrument. Sie ist auf Umsetzung durch die Mitgliedstaaten angelegt, trägt also die Gefahr der nicht rechtzeitigen und/oder nicht korrekten Umsetzung in sich. Will der Unionsgesetzgeber diese Risiken vermeiden, muss er – soweit das im konkreten Fall eine zulässige Handlungsform ist376 – auf die Verordnung zurückgreifen. Die dadurch bedingten Verzögerungen bei der Rechtsangleichung sind nicht zuletzt deshalb erträglich, weil es bei Umsetzungsfehlern oft um Punkte geht, zu denen die Richtlinie selbst auslegungsbedürftig ist. In solchen Fällen ist der Inhalt der Richtlinie, wie er letztlich vom EuGH erkannt wird, für den Gesetzgeber bei der Umsetzung nicht klar erkennbar, sodass die Verzögerung bei der Rechtsangleichung zumindest auch auf der Vagheit der europäischen Vorgaben beruht. Das bedeutet nicht, dass die Richtlinie keinen Einfluss auf die Auslegung hat.377 Ein richtlinienkonformes Auslegungsergebnis zu erreichen, ist aber jedenfalls dann nicht das Auslegungsziel, wenn die gesetzgeberische Regelungsabsicht erkennbar ist. So wie durch verfassungskonforme
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Selbst wenn der AEUV die Handlungsform nicht festlegt, kann die Richtlinie der Verordnung nach dem in Art. 5 Abs. 4 EUV verankerten Verhältnismäßigkeitsprinzip vorzuziehen sein, s. nur Streinz/Streinz, Art. 5 EUV, Rn. 16. 377 S. dazu S. 132–138.
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Kapitel 4: Deutschland
Auslegung die gesetzliche Regelungsabsicht nicht zurückgedrängt werden kann,378 kann Richtlinienkonformität als Zielvorgabe den konkreten gesetzgeberischen Regelungswillen nicht überspielen379. In diesem Fall steht das Auslegungsergebnis fest, das entweder richtlinienkonform ist oder nicht. Einfluss auf das Auslegungsergebnis kann der Aspekt der Richtlinienkonformität haben, wenn die Regelungsabsicht des Gesetzgebers nicht erkennbar ist oder Spielräume offenlässt und deshalb eine objektiv-teleologische Auslegung mit entsprechend geänderter Zielsetzung stattfindet. Im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung ist es nicht ausgeschlossen, Richtlinienkonformität als maßgeblichen Faktor bei der Auslegung zu sehen. Auf dieser Stufe der Auslegung ist das möglich, weil es nun nicht mehr um den gesetzgeberischen Willen geht, sondern vielmehr um ein möglichst gut begründbares Normverständnis. Daher wird auch das Auslegungsziel nicht verändert, wenn sich die Richtlinie auf diesem Weg bei der objektiv-teleologischen Auslegung berücksichtigen lässt. Ob Richtlinienkonformität bei der objektiv-teleologischen Auslegung tatsächlich das ausschlaggebende Kriterium ist, ist noch zu untersuchen.380 b) Der Einfluss der Richtlinie im Auslegungsprozess Der Einfluss der Richtlinie im Auslegungsprozess ist unterschiedlich, je nachdem ob die Auslegung (noch) darauf gerichtet ist, den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln, oder ob es um eine objektiv-teleologische Auslegung der Norm geht. aa) Der Einfluss bei der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens Solange die Auslegung darauf gerichtet ist, den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln, kann die Frage, ob das Auslegungsergebnis richtlinienkonform ist, das Ergebnis nicht beeinflussen. Dennoch hat der Richtlinieninhalt Einfluss auf den Auslegungsvorgang. Sie ist zum einen bei der systematischen Auslegung zu berücksichtigen, zum anderen bei der historischen Auslegung. Vorrang kommt der Richtlinie bei diesen Auslegungsschritten nicht zu. Sie ist ein Teilaspekt bei der Ermittlung der Regelungsabsicht des Gesetzgebers. (1) Systematische Auslegung Richtlinien sind bei Normen, die nach Erlass der Richtlinie geschaffen wurden, bei der systematischen Auslegung zu berücksichtigen. Sie sind zwar
378
S. oben S. 97–98. S. zum generellen Umsetzungswillen des Gesetzgebers und seinem Verhältnis zum konkreten Regelungswillen unten S. 133–136. 380 S. dazu unten S. 136–138. 379
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung
133
entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung nicht Teil der nationalen Rechtsordnung.381 Denn obwohl sie umzusetzen sind und insoweit alle staatlichen Stellen verpflichten, werden sie selbst nicht Bestandteil der nationalen Rechtsordnung. Das ist aber auch nicht erforderlich, um die Richtlinie bei der systematischen Auslegung von Normen, die nach Erlass der Richtlinie geschaffen wurden, heranziehen zu können. Bei solchen Normen ist die Richtlinie Teil des rechtlichen Kontextes, den der Gesetzgeber bei Schaffung seiner Regelung vorfindet. Die Bindung des Gesetzgebers an die Umsetzungsverpflichtung ist ausreichend, um den systematischen Zusammenhang zur Richtlinie herzustellen.382 Die als Primärrecht unmittelbar geltende Umsetzungsverpflichtung ist das Bindeglied zu der außerhalb der nationalen Rechtsordnung liegenden Richtlinie. In Anlehnung an die Terminologie zur Berücksichtigung der Verfassung bei der Auslegung kann diese Art der Berücksichtigung der Richtlinie als richtlinienorientierte Auslegung bezeichnet werden.383 (2) Historische Auslegung Die Richtlinie spielt bei Umsetzungsrecht ferner bei der historischen Auslegung eine Rolle. Bei Umsetzungsrecht ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber seiner Umsetzungsverpflichtung vollständig nachkommen wollte.384 Das gilt zumindest in den Fällen, in denen er keinen abweichenden 381
So auch Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 32–33; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 329; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 262–263; Weber, Grenzen, S. 135–136. Als Bestandteil der nationalen Rechtsordnung sehen Richtlinien Auer, NJW 2007, 1106, 1108; dies., Primärrechtskonforme Auslegung, S. 27, 50–51; Gebauer, GPR 2009, 82, 86; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 191–193 (ausdrücklich auf die Bindung der Judikative abstellend); ders., JuS 2014, 289, 292; Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922, 923; Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 39, 50. Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 85, stellt bei Umsetzungsrecht darauf ab, dass der Gesetzgeber die Richtlinie durch die Umsetzung in seinen Willen aufgenommen und in das nationale Recht integriert hat. 382 A.A. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 260, nach dessen Auffassung die systematische Auslegung nur dazu dient, den Zusammenhang der auszulegenden Norm mit anderen nationalen Normen zu betrachten. Es besteht aber kein Anlass, die systematische Auslegung so eng zu verstehen. Zum Verständnis der nationalen Norm trägt es auch bei, Umsetzungsverpflichtungen zu berücksichtigen. 383 S. oben S. 101–102. S. auch Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 256. Dagegen verstehen Herresthal, JuS 2014, 289, 292, und Weber, Grenzen, S. 127–132, unter richtlinienorientierter Auslegung die Berücksichtigung der Richtlinie außerhalb ihres sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereichs. 384 Einen generellen Umsetzungswillen befürworten Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 303; Gebauer, Europäische Auslegung, Rn. 30; Hellert, Einfluss des EG-Rechts, S. 88–90; Jarass, Europarecht 1991, 211, 217; Klamert, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 167; Schlachter, EuZA 2015, 1, 12; Schnorbus, AcP 201 (2001), 860, 880–881. S. auch
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Willen kundtut. Die Regelung ist gerade dafür vorgesehen, den Inhalten der Richtlinie im nationalen Recht Geltung zu verschaffen. Dabei ist die Grundannahme sinnvoll, dass das vollständig und ordnungsgemäß geschehen soll.385 Diese Annahme ist unabhängig von der entsprechenden Auffassung des EuGH bereits aus der nationalen Perspektive gerechtfertigt. Der Umsetzungswille an sich geht zudem aus Umsetzungsgesetzen jüngeren Datums hinreichend klar hervor, da jüngere Richtlinien in den Schlussbestimmungen fordern, dass bei der Umsetzung auf die Richtlinie Bezug zu nehmen ist. Diese Annahme kann der Auslegung aber nur dann eine Richtung geben, wenn keine abweichende konkrete Regelungsabsicht des Gesetzgebers erkennbar ist.386 Auch wenn der Gesetzgeber die besten Absichten hat, die Richtlinie korrekt umzusetzen, sagt das nichts darüber aus, ob ihm das gelingt. Um die gesetzliche Regelung zu gestalten, bildet er eine konkrete Regelungsabsicht, die den Inhalt der Norm bestimmt. Wenn eine solche konkrete Regelungsabsicht des Gesetzgebers erkennbar ist, kann sie zu einem richtlinienwidrigen Norminhalt führen. Wohl nur theoretischer Natur – und deshalb hier nicht weiter von Interesse – ist der Fall, dass der Gesetzgeber den Vorgaben der Richtlinie nicht Folge leisten will und bewusst eine richtlinienwidrige Regelung trifft.387 Nicht selten versteht der Gesetzgeber die AnforBabusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 45, die den Umsetzungswillen allerdings daraus ableitet, dass – ihrer Auffassung nach – in Deutschland die Richtlinie auf die üblichen Auslegungskriterien einwirkt. Dieser Prämisse kann aber angesichts der sehr differenzierten Auffassungen zur Einwirkung der Richtlinie auf den Auslegungsvorgang nicht gefolgt werden. Gegen einen generellen Umsetzungswillen sprechen sich Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 315, und Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 267, aus. Soweit die Literatur sich kritisch zu den Ausführungen des EuGH zum Umsetzungswillen des nationalen Gesetzgebers äußert (so Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 99; Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 30; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916), spielt dieser Aspekt hier keine Rolle. Es geht nicht um die Umsetzung einer Vorgabe des EuGH, sondern um die aus nationaler Perspektive gebotene Annahme, dass der Gesetzgeber sich rechtskonform verhalten möchte, was das Einhalten seiner Umsetzungsverpflichtung einschließt. 385 S. auch Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 256, der sich zwar nicht dazu äußert, ob generell von einem Umsetzungswillen des Gesetzgebers auszugehen ist, den Umsetzungswillen aber im Rahmen der historisch-systematischen Auslegung berücksichtigen will. Für die weitergehende Vermutung, dass das Umsetzungsgesetz mit der Richtlinie tatsächlich in Einklang steht, bestehe dagegen keine Grundlage, Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 255. Von ihr ist in Rechtsprechung und Literatur aber in aller Regel auch nicht die Rede, Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 313, und Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 267, befassen sich an den von Höpfner zitierten Stellen mit der Vermutung, dass der Gesetzgeber die Richtlinie korrekt umsetzen wollte, nicht mit einer Vermutung, dass Umsetzungsrecht richtlinienkonform ist. 386 Frieling, JbJZW 25 (2014), 37, 61–63, ordnet den Umsetzungswillen dagegen von vornherein nicht als gesetzgeberischen Willen ein. 387 In diesem Fall wird die Möglichkeit der richtlinienkonformen Interpretation ein-
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung
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derungen der Richtlinie jedoch nicht von sich aus so, wie sie sich dann später aus der EuGH-Rechtsprechung ergeben. Wenn in solchen Fällen ein konkreter Regelungswille des Gesetzgebers erkennbar ist, trifft der generelle Wille, eine richtlinienkonforme Lösung zu treffen, auf einen konkreten Regelungswillen, der ein richtlinienwidriges Ergebnis bewirkt. Ob der generelle oder der konkrete Regelungswille des Gesetzgebers den Ausschlag gibt, wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung kann der generelle Umsetzungswille den konkreten Regelungswillen bei unbewusst fehlerhafter Umsetzung nicht verdrängen.388 Der abstrakte Regelungswille trete zurück, wenn ein konkreter Regelungswille erkennbar sei.389 Nach anderer Ansicht genügt der generelle Umsetzungswille, um eine richtlinienkonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung zu ermöglichen.390 Die Souveränität des Gesetzgebers sei in diesen Fällen – anders als bei unmittelbarer Wirkung – nicht berührt.391 Wenn sich der Gesetzgeber über die Vorgaben der Richtlinie geirrt habe, sei die gerichtliche Korrektur durch Auslegung in seinem Interesse.392 Die Entscheidung für oder gegen den konkreten Regelungswillen hängt davon ab, wie man das Auslegungsziel bestimmt. Geht es, wie hier angenommen, in erster Linie darum, den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln, hat der konkrete Regelungswille Vorrang vor dem generellen Willen, eine richtlini-
hellig abgelehnt. S. nur Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 164–165; Herresthal, JuS 2014, 289, 291; Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 57; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 277–278. 388 Baldauf, Richtlinienverstoß, S. 215, 221 (die zudem die Vermutung ablehnt, ebda. S. 216–217); Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 313 (die generelle Umsetzungsvermutung gerinne in solchen Fällen zu einer bloßen Fiktion; s. ferner S. 433–444 zum Erfordernis der methodengeleiteten Lückenschließung, das nach seiner Auffassung trotz Vorliegens einer Regelungslücke bei unbewusstem Richtlinienverstoß der Rechtsfortbildung enge Grenzen setzt); ders., JZ 2003, 321, 324, 328; Herdegen, WM 2005, 1921, 1929; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 274; ders., JZ 2009, 403, 404–405. Michael/Payandeh, NJW 2015, 2392, 2395; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916–917; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 278–280 (der allerdings für den Fall, dass der Gesetzgeber nicht nur eine konkrete Regelungsabsicht genannt, sondern sich daneben auch konkret (positiv) zur Richtlinienkonformität seiner Regelung geäußert hat, die subjektiv-historische Auslegung insgesamt für unergiebig erklärt, ebda. S. 281); Weber, Grenzen, S. 134. 389 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 274. 390 Grundmann, ZEuP 1996, 399, 421–422; Hellert, Einfluss des EG-Rechts, S. 119–120; Möllers, Methodenlehre, § 12, Rn. 68; Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922; Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 57; Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, § 1, Rn. 1.154; Schlachter, EuZA 2015, 1, 12–13. S. auch Schnorbus, AcP 201 (2001), 860, 881, 899. Differenzierend Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 165–167. 391 Grundmann, ZEuP 1996, 399, 421–422. Ähnlich Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 57; Schlachter, EuZA 2015, 1, 13. 392 Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 923.
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enkonforme Regelung zu treffen. Der inhaltliche Gestaltungswille überlagert den Willen, bestimmte Vorgaben einzuhalten. Lässt sich der konkrete Regelungswille ermitteln und ist der so bestimmte Norminhalt nicht richtlinienkonform, ist eine richtlinienkonforme Auslegung (i.e.S.) nicht möglich. Das gilt auch, wenn der Gesetzgeber sich damit auseinandergesetzt hat, ob die konkrete Regelung richtlinienkonform ist und das irrtümlich angenommen hat. Zwar ist nicht unwahrscheinlich, dass er seine Regelung anders getroffen hätte, wenn ihm bewusst gewesen wäre, dass der EuGH die Richtlinie anders interpretiert. Das ändert aber nichts an seiner konkreten Regelungsabsicht, die im Rahmen der Willensermittlung relevant ist. Das entspricht auch der Situation bei der verfassungskonformen Auslegung. Wenn die konkrete Regelungsabsicht des Gesetzgebers verfassungswidrig ist, kann eine verfassungskonforme Auslegung nicht darauf gestützt werden, dass der Gesetzgeber grundsätzlich verfassungskonforme Regelungen treffen möchte, obwohl die Grundannahme, der Gesetzgeber wolle verfassungskonform handeln, durchaus angebracht ist. Soweit ersichtlich, wird das in der Literatur auch nicht vertreten. bb) Der Einfluss, wenn ein konkreter Regelungswille nicht feststellbar ist Ist ein konkreter Regelungswille des Gesetzgebers nicht erkennbar, stellt sich die Frage, wie er sich zur generellen Umsetzungsvermutung verhält, nicht. In diesem Fall ist eine objektiv-teleologische Auslegung erforderlich, bei der die Richtlinie eine erhebliche Rolle spielen kann. Da die objektiv-teleologische Auslegung sich an die Auslegung zur Ermittlung des gesetzgeberischen Willens anschließt, baut sie auf den Ergebnissen der systematischen und der historischen Auslegung auf. Bei Normen, die nach Erlass der Richtlinie geschaffen wurden, wurde die Richtlinie also bereits bei der systematischen Auslegung berücksichtigt. Außerdem gilt bei Umsetzungsrecht die – in diesen Fällen nicht durch einen konkreten Regelungswillen verdrängte – Vermutung, dass der Gesetzgeber die Richtlinie vollständig und korrekt umsetzen möchte. Geht es um die Auslegung einer Norm, die vor Erlass der Richtlinie geschaffen wurde, entfaltet die Richtlinie ihren Einfluss erstmals im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung. Bei der Auslegung von Altrecht kann die Richtlinie bei der objektiv-teleologischen Auslegung herangezogen werden, um eine mögliche Bedeutungsvariante der auszulegenden Norm zu ermitteln. Wie bereits ausgeführt, geht es bei der objektiv-teleologischen Auslegung um eine möglichst offene, nachvollziehbare und an bereits vorhandenen Wertungen orientierte Entscheidung.393 Eine „bereits vorhandene Wertung“ in diesem Sinne kann auch eine Richtlinie sein. Zwar ist die Richtlinie, wie soeben erwähnt, nicht Teil der 393
S. oben S. 93–94.
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nationalen Rechtsordnung.394 Wenn nationales Recht ihr nicht entspricht, ist daher kein Wertungswiderspruch gegeben, wie er sich aus Regelungen des nationalen Rechts ergeben kann. Objektiv-teleologische Kriterien sind aber nicht notwendig auf Aspekte aus der nationalen Rechtsordnung begrenzt. Zudem ist die als Primärrecht unmittelbar geltende Umsetzungsverpflichtung ein Bindeglied zu der außerhalb der nationalen Rechtsordnung liegenden Richtlinie. Eine Auslegung, die sich an Umsetzungspflichten orientiert, ist ferner deshalb überzeugend, weil sie Änderungsbedarf im nationalen Recht vermeidet, der sich bei einem Richtlinienverstoß ergäbe. Der Einfluss der Richtlinie bei der Ermittlung von Bedeutungsvarianten im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung kann, ebenso wie ihr Einfluss bei der systematischen Auslegung, in Anlehnung an die Terminologie zur Berücksichtigung der Verfassung bei der Auslegung als richtlinienorientierte Auslegung bezeichnet werden.395 Im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung kann die Richtlinie aber nicht nur eine mögliche Bedeutungsvariante der Norm aufzeigen. Dem Aspekt der Richtlinienkonformität kann darüber hinaus Vorrang vor anderen Argumenten aus dem Auslegungsvorgang zukommen. Ähnlich wie die Verfassung hat auch die Richtlinie bei der Auslegung eine Doppelrolle.396 Sie ist zunächst, wie soeben beschrieben, ein Erkenntnismittel und insoweit ein Unterfall der systematischen, historischen oder objektiv-teleologischen Argumente. Sie hat darüber hinaus im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung bestimmenden Charakter, indem dem richtlinienkonformen Ergebnis Vorrang vor den Ergebnissen zukommt, die sich mithilfe anderer Argumente ergeben. Auslegungsergebnisse, die sich nicht mit der Richtlinie vereinbaren lassen, treten zurück. Allerdings muss sich die richtlinienkonforme Auslegung – wie die objektiv-teleologische Auslegung insgesamt – in dem Rahmen halten, der sich bei der Suche nach dem gesetzgeberischen Willen ergeben hat. Dieser bestimmende Aspekt des Einflusses der Richtlinie auf die Auslegung ist die eigentliche richtlinienkonforme Auslegung. Sie dient dazu, die Richtlinienwidrigkeit der auszulegenden Norm zu vermeiden. Anders als bei der verfassungskonformen Auslegung trägt bei Richtlinien nicht das Argument der Normerhaltung, da ein Richtlinienverstoß Geltung und Anwendbarkeit der nationalen Norm in der Regel unberührt lässt. Hier macht sich aber die Umsetzungsverpflichtung bemerkbar, die dem Argument der Richtlinienkonformität besonderes Gewicht verleiht und zum Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung führt. Von diesem Unterschied in der Begründung abgesehen wirken die Verfassung und Richtlinien in gleicher
394
S. oben S. 133. S. oben S. 101–102, 133. 396 S. zum Einfluss der Verfassung auf die Auslegung oben S. 96–98. 395
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Weise auf die Auslegung ein. Sie können Aufschluss über den gesetzgeberischen Regelungswillen geben und – soweit dieser nicht erkennbar ist – Argumente für die Bestimmung des Norminhalts bei der objektiv-teleologischen Auslegung bieten. Im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung können sie ferner im Wege der Konformauslegung andere Auslegungsvarianten verdrängen. cc) Zwischenergebnis Richtlinien beeinflussen die Auslegung von Normen des deutschen Rechts in ähnlicher Weise wie die Verfassung. Ist die nationale Regelung jünger, sind Richtlinien – ebenso wie die Verfassung – als Kontext der Norm zu berücksichtigen. Bei Umsetzungsrecht ist zudem im Rahmen der historischen Auslegung davon auszugehen, dass die Richtlinie vollständig und korrekt umgesetzt werden sollte, wenn nicht ein abweichender konkreter Regelungswille feststellbar ist. Wenn der gesetzgeberische Wille bei Umsetzungsrecht nicht feststellbar ist oder Spielräume lässt oder Altrecht auszulegen ist, können Richtlinien bei der objektiv-teleologischen Auslegung zur Ermittlung von Bedeutungsvarianten herangezogen werden – wiederum wie die Verfassung. Bei der objektiv-teleologischen Auslegung können sie schließlich – wie die Verfassung – im Rahmen dessen, was sich bei der Suche nach dem gesetzgeberischen Willen ergeben hat, das Auslegungsergebnis bestimmen und dabei andere Argumente verdrängen, auch wenn die Begründung für den richtungsweisenden Einfluss von Richtlinien anders ausfällt als die für den entsprechenden Einfluss der Verfassung. Sollte die Aufforderung des EuGH, nationale Kollisionsregeln oder Möglichkeiten, Normen einschränkend auszulegen, um die Vereinbarkeit mit anderen Normen zu gewährleisten, tatsächlich als Hinweis auf die verfassungskonforme Auslegung zu verstehen sein,397 wäre das für das deutsche Recht also eine treffende Parallele. c) Keine Rechtsfortbildung aufgrund Richtlinienverstoßes Die Frage der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung stellt sich nur, wenn die konkrete Regelungsabsicht des Gesetzgebers einer richtlinienkonformen Auslegung i.e.S. entgegensteht. Andernfalls kann ein richtlinienkonformes Ergebnis bereits im Wege der Auslegung i.e.S. erzielt werden, sei es, weil der konkrete Regelungswille des Gesetzgebers richtlinienkonform war, sei es, weil ein konkreter Regelungswille nicht erkennbar ist und die Richtlinienkonformität im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung das Interpretationsergebnis beeinflusst. Eine Rechtsfortbildung kann unter verschie-
397
EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 116. S. zu dieser Deutung oben S. 49–50.
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denen Aspekten zulässig sein, die Lückenfüllung ist nur die prominenteste Fallgruppe. Wie soeben dargelegt, wird die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung als Fall der Lückenfüllung und als Fall der Normkollision diskutiert.398 Dabei kommt eine Rechtsfortbildung nach allgemeiner Meinung nicht in Betracht, wenn der Gesetzgeber bewusst eine richtlinienwidrige Norm geschaffen hat.399 aa) Die Rechtsfortbildung zur Lückenfüllung Der Gedanke der Lückenfüllung trägt eine Rechtsfortbildung im Fall eines Richtlinienverstoßes nicht. (1) Unbewusst unrichtige Umsetzung Eine Rechtsfortbildung zur Lückenfüllung kann nicht damit begründet werden, dass der Gesetzgeber die Richtlinie unbewusst unrichtig umgesetzt hat. Nach dem hier vertretenen engen Lückenbegriff liegt eine Lücke vor, wenn das Gesetz gemessen an der Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.w.S. unvollständig ist.400 Danach ist im Fall der unbewusst fehlerhaften Umsetzung von Richtlinien keine Lücke gegeben.401 Die Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.w.S. erfasst nicht die Richtlinienkonformität der Regelung. Zwar darf der Interpret davon ausgehen, dass der Gesetzgeber eine richtlinienkonforme Regelung treffen wollte. Bei der Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.w.S. handelt es sich aber um konkretere Erwägungen als nur den Willen, einer Verpflichtung vollumfänglich nachzukommen. Es geht bei der Lückenfüllung um den nicht ganz geglückten Schritt zwischen Vorüberlegungen zu Regelungsbedarf und Gestaltungsmöglichkeiten einerseits und der Formulierung einer Norm mit bestimmten Tatbestandsmerkmalen andererseits. Indem der Richter eine Lücke füllt, trägt er der Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.w.S. Rechnung. Die Lückenfüllung zielt auf das, was der Gesetzgeber regeln wollte, aber nicht vollständig korrekt in seiner Norm ausgedrückt hat. Die Regelungsabsicht i.w.S. ist zwar weniger konkret als die zu ihrer Umsetzung geschaffene Norm. Sie ist aber konkreter als der bloße Wille,
398
S. oben S. 126–129. S. nur Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 85; Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 212–213; Möllers, Methodenlehre, § 8, Rn. 178; Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 66. 400 S. oben S. 111–112. 401 S. für Verfassungsverstöße Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 232, die von einem Rechtsirrtum des Gesetzgebers sprechen, der auf Korrekturebene nicht behebbar ist. Denkbar ist, dass sich eine Lücke aus anderen Gesichtspunkten ergibt. Dann handelt es sich aber nicht um eine Rechtsfortbildung, die durch den Richtlinienverstoß angestoßen wird. 399
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richtlinienkonform zu handeln. Dieser Wille hat für sich betrachtet keine inhaltlichen Aspekte, die in die Rechtsfortbildung einfließen können. Ein weiter Lückenbegriff, nach dem eine Lücke gegeben ist, wenn das Gesetz nach den Erfordernissen der Gesamtrechtsordnung unvollständig ist, führt im Fall der unbewusst unrichtigen Richtlinienumsetzung ebenfalls nicht zu einer Regelungslücke. Die Möglichkeit der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung hängt bei diesem weiten Lückenbegriff davon ab, welche Stellung die Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung einnimmt. Da sie nicht Teil der Gesamtrechtsordnung ist,402 kann sie keine Lücke begründen. (2) Fehlende Umsetzung Wenn der Gesetzgeber zur Umsetzung nicht tätig wird, rechtfertigt der Richtlinienverstoß ebenfalls keine Rechtsfortbildung. Zwar kann eine nachträgliche rechtliche Veränderung unter Umständen zu einer Gesetzeslücke im Altrecht führen. Das setzt aber voraus, dass durch die rechtliche Veränderung die Regelungsabsicht des Gesetzgebers, der das Altrecht erlassen hat, nicht mehr korrekt abgebildet wird.403 Das ist bei nicht richtlinienkonformem Altrecht nicht der Fall. Es geht bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung von Altrecht nicht darum, dass die vom Gesetzgeber mit dem Altrecht verfolgten Ziele durchkreuzt werden und mit der Rechtsfortbildung seiner Regelungsabsicht i.w.S. zur Durchsetzung verholfen wird. Vielmehr liegt das Problem darin, dass die Ziele der Richtlinie nicht erreicht werden, wenn der Gesetzgeber nicht zur Umsetzung tätig wird, obwohl das Altrecht keinen richtlinienkonformen Zustand herstellt. Das nationale Recht ist in diesem Fall nicht richtlinienkonform, dadurch aber nicht zugleich lückenhaft. Daran ändert sich auch nichts, wenn man davon ausgeht, dass der Gesetzgeber nur deshalb nicht gehandelt hat, weil er das Altrecht für richtlinienkonform hielt. Insofern gilt wie bei der unbewusst fehlerhaften Umsetzung, dass der allgemeine Wille, einen richtlinienkonformen Zustand des nationalen Rechts zu gewährleisten, für sich betrachtet keine inhaltlichen Aspekte hat, die in die Rechtsfortbildung einfließen können. Schließlich lässt sich eine Rechtsfortbildung nicht darauf stützen, dass eine Veränderung des nationalen Rechts eingetreten ist, die nicht vollständig greift, wenn das Altrecht nicht angepasst wird.404 Die Richtlinie ist auch nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht Bestandteil des nationalen Rechts. Das nationale Recht ist, wenn das Altrecht keinen richtlinienkonformen Zustand bewirkt, zwar aufgrund der Richtlinie zu ändern, ändert sich aber nicht allein durch Ablauf der Umsetzungsfrist. 402
S. dazu oben S. 132–133. S. dort auch dazu, dass die Richtlinie bei Umsetzungsrecht dennoch im Rahmen der systematischen Auslegung zu berücksichtigen ist. 403 Kamanabrou, Auslegung von Tarifverträgen, S. 87–88. 404 S. zu dieser Fallgruppe der Rechtsfortbildung oben S. 113.
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bb) Die Rechtsfortbildung zur Auflösung von Kollisionen Eine Rechtsfortbildung ist bei richtlinienwidriger Rechtslage auch nicht unter Kollisionsgesichtspunkten gerechtfertigt. Zwar ist, wie bereits erwähnt, eine Rechtsfortbildung möglich, wenn gleichrangige nationale Regelungen kollidieren.405 Ein Richtlinienverstoß begründet aber keine derartige Kollisionslage. Das ändert sich nicht, wenn man diese Fallgruppe der Rechtsfortbildung erweitert und mit Blick auf die Äußerung des EuGH in der Rechtssache Pfeiffer eine Rechtsfortbildung auch dann zulässt, wenn die Kollision sich nicht auf rein nationaler Ebene abspielt.406 Auch nach einer solchen Erweiterung fehlt es an der Kollisionslage, die für die Rechtsfortbildung in dieser Fallgruppe erforderlich ist. Eine solche Kollisionslage ist nur gegeben, wenn unterschiedliche Regelungen, deren Anordnungen unvereinbar sind, auf ein Rechtsverhältnis einwirken. Mangels unmittelbarer Wirkung wirken Richtlinien im Privatrechtsverhältnis aber nicht auf das jeweilige Rechtsverhältnis ein. Der Sachverhalt wird bei fehlerhafter oder fehlender Umsetzung einer Richtlinie daher nicht durch zwei Normen geregelt, deren Anordnungen sich nicht vereinbaren lassen. Vielmehr ist allein nationales Recht anwendbar, das freilich mit der Richtlinie in Konflikt steht. Der Aspekt der Inhaltskontrolle, der in der Passage des EuGH zur Vermeidung oder Auflösung von Normkonflikten ebenfalls angesprochen ist,407 trägt eine Rechtsfortbildung ebenso wenig. In der Regel geht es bei derartigen Überlegungen um eine Reduktion der betroffenen Norm, sodass hier allein diese Art der Rechtsfortbildung betrachtet wird. Das Pendant im nationalen Recht wäre die verfassungskonforme Reduktion.408 Unabhängig davon, dass nach hier vertretener Auffassung bei einem Konflikt mit Verfassungsrecht die Teilnichtigerklärung der betroffenen Norm einer verfassungskonformen Reduktion vorzuziehen ist,409 lässt sich in diesem Punkt die Parallele zwischen richtlinienkonformer und verfassungskonformer Reduktion aber nicht ziehen. Bei einem Konflikt mit Verfassungsrecht ist die Alternative zur Reduktion oder Teilnichtigerklärung nicht die uneinge-
405
S. oben S. 114. EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 116. 407 EuGH 5.10.2004 EU:C:2004:584 (Pfeiffer) Rn. 116. S. zur Einordnung dieser Aussage S. 49–50. 408 Soweit es um Auslegung i.e.S. geht, ist das Pendant die verfassungskonforme Auslegung. Bei der Auslegung i.e.S. hat nach der hier vertretenen Auffassung die Richtlinie über dieselben Auslegungskriterien und in demselben Umfang Einfluss auf die Auslegung wie die Verfassung. Allerdings ist die Begründung desjenigen Parts bei der objektiv-teleologischen Auslegung, der die eigentliche Konformauslegung ausmacht, unterschiedlich (Normerhaltung bei der Verfassung, Umsetzungsverpflichtung bei der Richtlinie), s. oben S. 137–138. 409 S. oben S. 104. 406
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schränkte Weitergeltung der Norm bis zu einer Änderung durch den Gesetzgeber, sondern ihre vollständige Verwerfung. Mit ihrem ursprünglichen Inhalt wird die teilweise verfassungswidrige Norm daher auf keinen Fall aufrechterhalten. Um nicht über das Ziel hinauszuschießen und die Norm vollständig zu verwerfen, wird sie entweder reduziert oder – nach hier bevorzugter Auffassung – teilweise verworfen. Demgegenüber stellt sich die Situation im Fall von richtlinienwidrigem nationalen Recht anders dar, da nationales Recht im Privatrechtsverhältnis im Fall eines Richtlinienverstoßes nicht unangewendet zu lassen ist. Es geht bei Richtlinienverstößen nicht darum, wie die unvermeidliche richterliche Einschränkung der Regelung begründet wird, sondern darum, ob es überhaupt zu einer solchen Einschränkung kommt oder das nationale Recht unverändert bleibt, bis der Gesetzgeber eingreift. Die Wirkung, die Richtlinien im Privatrechtsverhältnis zukommt, lässt sich durch die Fortbildung des nationalen Rechts nicht methodengerecht verstärken. Das ist auch nicht angebracht, da die begrenzte Wirkung für die Richtlinie als Regelungsinstrument charakteristisch ist. Diese Auffassung steht nicht in Widerspruch dazu, dass nach hier vertretener Auffassung bei der richtlinienkonformen Auslegung i.e.S. weitgehende Parallelen zur verfassungskonformen Auslegung bestehen.410 Bei dem Part, der die eigentliche Konformauslegung ausmacht, handelt es sich um einen Aspekt der objektiv-teleologischen Auslegung.411 Objektiv-teleologische Argumente kommen nur zum Tragen, wenn und soweit die Regelungsabsicht des Gesetzgebers sich nicht ermitteln lässt.412 Dagegen wird bei der Rechtsfortbildung die gesetzgeberische Regelungsabsicht i.e.S. zurückgedrängt. Das ist unter Inhaltskontrollgesichtspunkten nur gerechtfertigt, wenn die Alternative die (Teil-)Nichtigkeit der Norm ist. cc) Die Wirkungsweise von Richtlinien Richtlinienwidrigkeit trägt für sich betrachtet die Fortbildung des nationalen Rechts nicht. Wenn das nationale Recht lückenhaft ist, ist die Richtlinie zwar bei der Lückenfüllung zu berücksichtigen. Der Richtlinienverstoß bewirkt aber keine Regelungslücke. Auch Kollisionsgesichtspunkte tragen die Rechtsfortbildung nicht. Dass eine Rechtsfortbildung nicht allein auf einen Richtlinienverstoß gestützt werden kann, entspricht ihrer Wirkungsweise in der nationalen Rechtsordnung. Sie ist auf Umsetzung durch die Mitgliedstaaten angewiesen, wobei Verzögerungen und Fehler auftreten können. Sollte es erforderlich sein, kann der Mitgliedstaat durch ein Vertragsverletzungsverfahren zur 410
S. oben S. 138. S. oben S. 137. 412 S. oben S. 87–90, 94, 136–138. 411
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Umsetzung angehalten werden. Wenn die Voraussetzungen gegeben sind, ist der säumige Mitgliedstaat zudem Staatshaftungsansprüchen der von der Richtlinie begünstigten Personen ausgesetzt. Das mag man als umständlich und unbefriedigend empfinden, spiegelt aber im Bereich des Richtlinienrechts die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten wider, die auch im Bereich der Interpretation des nationalen Rechts zu wahren ist.413 Das nicht zuletzt deshalb, weil der EU die Wahl zwischen Verordnung und Richtlinie oft nicht frei steht. Praktikabilitätserwägungen führen nicht zu einem anderen Ergebnis. Zum einen ist zweifelhaft, ob eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung tatsächlich geeignet ist, ein Vertragsverletzungsverfahren und/oder eine Staatshaftung abzuwenden.414 Mit Blick auf das Transparenzgebot ist eine rein richterrechtliche Lösung nicht ausreichend, um die Richtlinie ordnungsgemäß umzusetzen.415 Dabei spricht für eine transparente Umsetzung von Richtlinienrecht nicht allein die Rechtsprechung des EuGH. Zwar ist die Interpretation ein gewöhnlicher Aspekt der Rechtsanwendung und Aufgabe der Rechtsprechung. Dennoch entspricht es kaum rechtsstaatlichen Anforderungen an eine gesetzliche Regelung, wenn sich in der Rechtsanwendung die Rechte und Pflichten der betroffenen Vertragsparteien ohne Rückbindung an den konkreten Regelungswillen des Gesetzgebers ganz anders darstellen, als es der Normtext vermuten lässt.416 Vermeiden lasse sich, so ein Teil 413 In diesem Sinne auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 360–363; ders., JZ 2003, 321, 327; Gsell, AcP 214 (2014), 99, 138–139; Herdegen, WM 2005, 1921, 1929; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 914. 414 So das Argument von Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 87; ders., Gemeinsamkeiten, S. 41, 54. Ihm folgend für die richtlinienkonforme Auslegung i.e.S. Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 38–39. Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 203–204, und Roth/Jopen, Richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 58, führen ein weiteres Praktikabilitätsargument an. Ihrer Auffassung nach ist die Justiz besser in der Lage, die erforderlichen Korrekturen im nationalen Recht vorzunehmen, der allein mit dieser Aufgabe überforderte Gesetzgeber könne nachsteuern. 415 EuGH 10.7.2014 EU:C:2014:2064 (Kommission/Belgien) Rn. 46; EuGH 10.5.2001 EU:C:2001:257 (Kommission/Niederlande) Rn. 21. S. aus der Literatur dazu Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 212 (Fn. 1029); EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 85; Everling, ZGR 1992, 376, 383; Franzen, JZ 2003, 321, 327–328; Frenz, HdBEuR 5, Rn. 980; Herdegen, WM 2005, 1921, 1926–1927; Jud, ÖJZ 2003, 521, 524; Langenbucher, § 1 Europarechtliche Methodenlehre, Rn. 75 (Fn. 159); Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 921; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 914. S. auch Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 284–285. 416 Das lässt sich am Beispiel des Schicksals des Urlaubsanspruchs bei Langzeiterkrankung gut demonstrieren. Im Sinne der aktuellen BAG-Rechtsprechung aus § 7 Abs. 3 BUrlG abzuleiten, wie lange nach Ablauf des Urlaubsjahres ein erkrankter Arbeitnehmer offene Urlaubsansprüche noch geltend machen kann, ist nicht nur für den Bürger ein Ding der Unmöglichkeit, sondern auch für Juristen, die nicht auf diesem Gebiet spezialisiert sind.
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der Literatur, bei mangelnder Transparenz allein die Staatshaftung.417 Zum anderen rechtfertigen es Praktikabilitätserwägungen nicht, die Belastung durch die fehlerhafte Umsetzung vom Staat auf den bei korrekter Umsetzung Verpflichteten abzuwälzen. So sieht Herdegen den Staat zu Recht auch im Fall einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung, die den Wortsinn und den konkreten Regelungszweck der Norm überschreitet, in der Pflicht. Eine solche – aus seiner Sicht unzulässige – Rechtsfortbildung verschiebe nur den durch die fehlerhafte Umsetzung gegebenen Schaden von dem durch die Richtlinie Begünstigten zum Normadressaten, der sich an das richtlinienwidrige Gesetz gehalten habe.418 Zwar ist Schlachter darin beizupflichten, dass für den begünstigten Bürger, der Vorteile aus einer fehlerhaft umgesetzten Richtlinie nicht geltend machen kann und auf den Staatshaftungsanspruch verwiesen wird, eine Schutzlücke besteht, sodass die Effektivität der Gewährleistungen des Unionsrechts betroffen ist.419 Schutz verdient aber auch derjenige, den die Richtlinie in die Pflicht nehmen will. Beim Regelungsinstrument Richtlinie trifft den Adressaten die Pflicht erst, wenn sie im nationalen Recht geregelt ist. Schutzlücken zulasten des Begünstigten bei fehlerhafter oder unterbliebener Umsetzung beruhen also auf dem Fehler des Mitgliedstaats und der Wirkungsweise der Richtlinie. Beide Aspekte rechtfertigen eine Lösung zulasten des bei korrekter Umsetzung Verpflichteten nur, wenn diese sich nach den methodisch üblichen Regeln erzielen lässt. Andernfalls entzieht sich der Staat zu Lasten des Verpflichteten seiner Verantwortung. dd) Zwischenergebnis Ein Richtlinienverstoß führt nicht zu einer Lücke im deutschen Recht, sodass eine Rechtsfortbildung unter dem Aspekt der Lückenfüllung nicht allein mit dem Richtlinienverstoß begründet werden kann. Er bewirkt ferner keine Kollision, die durch Rechtsfortbildung aufzulösen wäre. Wenn nach den nationalen Regeln eine Lücke oder ein sonstiger Anlass zur Rechtsfortbildung gegeben ist, sind zwar Vorgaben aus Richtlinien zu berücksichtigen. Ein Richtlinienverstoß begründet für sich genommen jedoch keine Rechtsfortbildungsbefugnis.
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Schürnbrand, JZ 2007, 910, 914. Herdegen, WM 2005, 1921, 1927. Wie bereits ausgeführt, kann nach Herdegens Auffassung der generelle Umsetzungswille den konkreten Regelungswillen nicht verdrängen, s. oben Fn. 388. 419 Schlachter, EuZA 2015, 1, 5. 418
III. Die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung
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3. Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung und Fortbildung Bei der Diskussion um die Grenzen der richtlinienkonformen Interpretation wird nicht immer deutlich, ob es um die richtlinienkonforme Auslegung, die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung oder beide Interpretationsstufen geht. Das ist aus zwei Gründen misslich. Zum einen hängt die Reichweite der richtlinienkonformen Interpretation letztlich davon ab, was beide Interpretationsstufen ermöglichen. Daher sollte deutlich werden, ob ein begrenzender Faktor sich auf die Interpretation insgesamt oder allein auf die Auslegung i.e.S. bezieht. Zum anderen unterliegen Auslegung und Rechtsfortbildung unterschiedlichen Regeln, sodass Grenzen nur korrekt bestimmt werden können, wenn klar ist, um welche Interpretationsstufe es bei der begrenzenden Aussage geht. a) Wortsinn und Zweck als Auslegungsschranken Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung werden meist unter Rückgriff auf die nationalen Auslegungsregeln bestimmt. So heißt es, die richtlinienkonforme Auslegung könne nicht zu Ergebnissen führen, die mit dem Wortlaut und dem Zweck der Norm nicht vereinbar seien.420 Andernfalls handele es sich um ein unzulässiges Contra-legem-Judizieren.421 Die richtlinienkonforme Auslegung dürfe den Gehalt der Regelung nicht neu bestimmen und das Ziel der nationalen Regelung nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlen.422 Einige Autoren stellen nicht allgemein auf „den Zweck des Gesetzes“, sondern konkret auf den Willen des Gesetzgebers ab.423 Ferner findet sich die 420 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 92; Herdegen, WM 2005, 1921, 1928; Jarass, Europarecht 1991, 211, 218; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 912; Weber, Grenzen, S. 127. S. auch Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 208, und Herresthal, JuS 2014, 289, 291–292 (Wortsinn und bewusste Wertungsentscheidung des Gesetzgebers). Einige Aussagen zu den Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung beziehen sich nicht allein auf die Auslegung i.e.S., sondern auf die Interpretation einschließlich der Rechtsfortbildung. So sieht z.B. Gebauer, Europäische Auslegung, Rn. 34, 36, 44, Wortsinn und Zweck des Gesetzes als Grenze der richtlinienkonformen Auslegung, stellt nachfolgend aber für die Auslegungsmöglichkeit allein auf den Wortsinn der Norm ab und berücksichtigt einen dem richtlinienkonformen Interpretationsergebnis entgegenstehenden Gesetzeszweck erst im Rahmen der Rechtsfortbildung als begrenzend. Zur Bestimmung der lexlata-Grenze durch die Einheit von Wortlaut und Zweck außerhalb des Kontexts der richtlinienkonformen Auslegung grundlegend Bydlinski, Lex-lata-Grenze, S. 27, 47. 421 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 92. Beschreibend auch Auer, NJW 2007, 1106, 1108; dies., Primärrechtskonforme Auslegung, S. 27, 42–43. 422 Jarass, Europarecht 1991, 211, 218; Weber, Grenzen, S. 170 (der allerdings die Grenzen richtlinienkonformer Auslegung und Rechtsfortbildung gemeinsam behandelt). 423 Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 268; Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 172; Schlachter, RdA 2005, 115, 118.
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Aussage, das Auslegungsergebnis müsse nach den nationalen Methoden vertretbar sein, wenn man die Richtlinie außer Acht lasse.424 Es sei wichtig, diese Grenzen einzuhalten, um nicht die Grenzen zur unmittelbaren Wirkung zu verwischen, die Richtlinien gerade nicht zukommt.425 Vereinzelt wird nach Ablauf der Umsetzungsfrist allein der Wortsinn als Grenze herangezogen.426 Nach anderer Auffassung kommt es auf den Willen des Gesetzgebers nicht an. Dieser habe im Bereich von Richtlinienrecht keine Zielsetzungsbefugnis, weshalb der Rechtsanwender richtlinienwidrige Zwecke nicht beachten müsse. Innerhalb des möglichen Wortsinns habe der gesetzgeberische Wille keine begrenzende Funktion für die richtlinienkonforme Auslegung.427 Diejenigen, die auf Wortsinn und Zweck der Norm als Grenze abstellen, verstehen diese Begriffe nicht unbedingt einheitlich. In der Regel werden sie nicht weiter erläutert, sodass davon auszugehen ist, dass die Autoren darunter den möglichen Wortsinn und – je nach Präferenz bei den Auslegungstheorien – den subjektiven oder objektiven Normzweck verstehen, bei Umsetzungsrecht möglicherweise aber auch den Umsetzungszweck. Dagegen hält Canaris für die Contra-legem-Grenze den ausgelegten Wortsinn für maßgeblich. Als Mittel der Auslegung kämen dabei alle anerkannten Kanones in Betracht. Auch der Zweck sei mithilfe der übrigen Auslegungskriterien zu ermitteln oder zu präzisieren.428 Allerdings bleibt unklar, inwiefern sich der ausgelegte Wortsinn von dem durch Auslegung ermittelten Norminhalt unterscheidet. Der Wortsinn als Auslegungskriterium unterliegt selbst nicht der Auslegung. Wenn man den Normtext als Gegenstand der Auslegung anhand der übrigen Auslegungskriterien auslegt, ist das Ergebnis der durch Auslegung ermittelte Norminhalt, nicht ein präzisierter Wortsinn, der dann mit den übrigen Kriterien (erstmals?) in die Auslegung einfließt.429
424 Jarass, Europarecht 1991, 211, 218. So auch Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 80; ders., Gemeinsamkeiten, S. 41, 45; Langenbucher, § 1 Europarechtliche Methodenlehre, Rn. 89. S. ferner EuArbRK/Höpfner, Art. 288 AEUV, Rn. 46 (der allerdings dem Wortsinn keine Grenzfunktion zumisst, s. ebda. Rn. 49–50). 425 Franzen, JZ 2003, 321, 327; Gebauer, Europäische Auslegung, Rn. 35; Herdegen, WM 2005, 1921, 1927; Jarass, Europarecht 1991, 211, 218; Kainer, GPR 2016, 262, 264; Pötters/Christensen, JZ 2011, 387, 391–392. Vgl. auch Langenbucher, § 1 Europarechtliche Methodenlehre, Rn. 89. 426 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 375–382 (in analoger Anwendung des inzwischen aufgehobenen Art. 36 EGBGB). 427 Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 138–143. 428 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 93. Auch Bydlinski, Lex-lataGrenze, S. 27, 47, scheint für die Grenzziehung nicht auf den (weitest) möglichen Wortsinn abzustellen, da er vom „Wortlaut des (als Einzelnorm und im systematischen Zusammenhang verstandenen) Gesetzes“ spricht. 429 Soweit bei Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 93, von einer Rechtsfortbildung in den Grenzen des möglichen Wortsinns die Rede ist, beruht das auf einem Ver-
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Zu klären ist ferner, wie sich nach der Auffassung von Canaris der weite Lückenbegriff und die Contra-legem-Grenze zueinander verhalten. Wie bereits erwähnt, soll der weite Lückenbegriff alles abdecken, was einerseits über die Auslegung hinausgeht und andererseits nicht die Contra-legem-Grenze überschreitet.430 Dennoch soll die auf den weiten Lückenbegriff gestützte richtlinienkonforme Rechtsfortbildung als Teil der richtlinienkonformen Rechtsfindung nur zulässig sein, wenn sie die Contra-legem-Grenze nicht überschreitet.431 Die Contra-legem-Grenze soll sich wiederum aus Wortsinn und Zweck ergeben. Eine richtlinienkonforme Rechtsfindung sei nicht möglich, wenn beide übereinstimmend dem richtlinienkonformen Ergebnis entgegenstehen.432 Dabei soll der Zweck einer richtlinienkonformen Anpassung zugänglich sein, soweit er nicht durch den Wortlaut in unkorrigierbarer Weise fixiert sei, da die Richtlinie nach ihrer Umsetzung und auch nach Ablauf der Umsetzungsfrist Teil der innerstaatlichen Gesamtrechtsordnung werde.433 Unter welchen Umständen der Zweck „in unkorrigierbarer Weise“ durch den Wortsinn fixiert ist, wird an dieser Stelle nicht erläutert. Da der Wortsinn einer Lückenfüllung nach Canaris gerade nicht entgegensteht, wenn nicht ein Rechtsfortbildungsverbot gilt,434 ist anzunehmen, dass der Zweck (nur) im Fall eines Rechtsfortbildungsverbots in unkorrigierbarer Weise durch den Wortsinn fixiert ist. Im Kontext der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung kann dabei das Verbot, eine Norm so weit zu reduzieren, dass sie ihren Anwendungsbereich (fast) vollständig verliert, relevant werden.435 So verstanden deckt sich die Contra-legem-Grenze bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung mit dem Verbot, eine Norm durch Reduk-
ständnis des Rechtsfortbildungsbegriffs, der nicht allein auf die den Wortsinn übersteigende Interpretation gerichtet ist, sondern auch Fälle der Rechtsfindung innerhalb des Wortsinns erfasst, s. Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 82 (Fn. 154). 430 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 84. 431 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 91 (mit Fn. 193), 95. S. dazu unten S. 145–148. 432 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 96. Der Wortsinn allein begrenze die Rechtsfortbildung, wenn ein Rechtsfortbildungsverbot eingreift, also ein Analogieverbot oder das Verbot, eine Norm so weit zu reduzieren, dass sie ihren Anwendungsbereich (fast) vollständig verliert, Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 94. 433 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 96. 434 Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 94. Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 82 (Fn. 154), versteht unter Rechtsfortbildung nicht nur die den Wortsinn übersteigende Interpretation, sondern auch Fälle der Rechtsfindung innerhalb des Wortsinns. Daher übersteigen zwar nach seiner Terminologie nicht alle Konstellationen der Rechtsfortbildung den Wortsinn, wohl aber die Fälle der Rechtsfortbildung im Wege der Lückenfüllung, s. Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 83, 91. 435 S. Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 94. S. auch die Beispiele bei Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 100–101 und 102–103.
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tion zu derogieren. Die so bestimmte Contra-legem-Grenze entspricht aber nicht der „Verbindung von Wortlaut und Zweck des Gesetzes“ als „Doppelkriterium“ zur Begrenzung der Rechtsfindung.436 Wie bereits ausgeführt, greift nach diesem Ansatz im Falle der Lückenfüllung die Wortsinngrenze nicht, sodass für diese Fälle der Rechtsfindung von dem Doppelkriterium nur eine Hälfte übrig bleibt.437 Ferner ist nach dieser Auffassung der Zweck im Richtlinienkontext variabel, wenn nicht durch die Änderung die zu interpretierende Norm quasi derogiert wird. Ist die Änderung nicht so weitreichend, bildet der Zweck keine Grenze. Wenn aber die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung als Fall der Lückenfüllung nicht durch den Wortsinn und nur in bestimmten Fällen durch den Zweck begrenzt ist, sollte die Kombination aus Wortsinn und Zweck nicht als Contra-legem-Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfindung – die Auslegung und Rechtsfortbildung umfasst – bezeichnet werden. Wenig sinnvoll ist die Doppelgrenze aus Wortsinn und Zweck zudem mit Blick auf Umsetzungsrecht, wenn – wie vielfach vertreten – bei der Zweckbestimmung der generelle Umsetzungswille Vorrang vor dem konkreten Regelungswillen erhält. Da der Wortsinn nicht begrenzend wirkt, sobald es um Lückenfüllung geht und ein genereller Umsetzungswille bei Umsetzungsrecht stets anzunehmen ist, wenn der Gesetzgeber nicht das Gegenteil deutlich macht, bleibt von der durch Wortsinn und Zweck gebildeten Grenze nur etwas übrig, wenn Nicht-Umsetzungsrecht betroffen ist. Auf Umsetzungsrecht wirkt sie sich dagegen nicht aus. Wer dagegen die konkrete Regelungsabsicht nicht durch den generellen Umsetzungswillen zurückdrängt, setzt der richtlinienkonformen Interpretation jedenfalls mit dem Normzweck eine echte Grenze.438 Angesichts dieser Überlegungen stellt Auer im Ergebnis zutreffend die Tragfähigkeit der durch Wortsinn und Zweck bestimmten Contra-legemGrenze infrage. Wenn eine Rechtsfindung nicht nur ganz vereinzelt Wortsinn und Zweck überschreiten kann, wirken diese Kriterien nicht begrenzend.439 Allerdings verwendet Auer in ihrem Beitrag den Contra-legem-Begriff zugleich in einem anderen Sinn, wenn sie als contra legem nur das ansieht, was
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So die Formulierung bei Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 92. Das gilt nicht nur für diesen Ansatz, sondern für alle Aussagen, nach denen Wortsinn und Zweck die Grenze der richtlinienkonformen Auslegung bilden, eine Lückenfüllung, die den Wortsinn überschreitet, aber möglich sein soll. 438 Zu den Autoren, die sowohl die Grenze aus Wortsinn und Normzweck nennen als auch den Vorrang der konkreten Regelungsabsicht befürworten, zählen Herdegen, WM 2005, 1921, 1928, 1929; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 912, 916–917, und Weber, Grenzen, S. 127, 134. S. zur Entwertung des Doppelkriteriums, wenn die Interpretation auf die Umsetzungsvermutung gestützt wird, Brenncke, Judicial Law-Making, S. 352. 439 In diesem Sinne Auer, NJW 2007, 1106, 1108. 437
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gegen die Wertungen der Gesamtrechtsordnung verstößt. Da sie ferner die Richtlinie als Teil der Gesamtrechtsordnung einordnet, ist im Richtlinienkontext tatsächlich wenig contra legem.440 Wenn die richtlinienkonforme Interpretation in dieser Weise auf den Richtlinienverstoß gestützt wird, hebt die Contra-legem-Grenze sich aber nicht etwa selbst auf, wie Auer meint.441 Vielmehr wird der Bereich, in dem die Rechtsfindung zulässig ist, in einer Weise definiert, die mit der zuvor durch Wortsinn und Zweck bestimmten Contralegem-Grenze nicht übereinstimmt. b) Die funktionale Bestimmung der Contra-legem-Grenze Einige Autoren bestimmen die Contra-legem-Grenze nicht (allein) unter Rückgriff auf Rechtsfindungsmethoden, sondern verweisen daneben auf die Kompetenzgrenze zwischen Judikative und Legislative.442 Diese Kompetenzgrenze hindere die Gerichte zwar daran, Vorgaben des Gesetzgebers durch eigene Vorstellungen zu ersetzen. Innerhalb der gesetzgeberischen Vorgaben zu den Umsetzungsmitteln könnten sie aber mithilfe der nationalen Interpretationsmethoden auch Entscheidungen des Gesetzgebers anpassen.443 Bei Umsetzungsgesetzen sei die Richtlinie Ziel und Maßstab für die gesetzgeberische Sachentscheidung. Der Umsetzungswille des Gesetzgebers sei in diesen Fällen anzunehmen. Sei die Regelung nicht richtlinienkonform, so habe der Gesetzgeber sein Ziel verfehlt, das Gesetz werde planwidrig lückenhaft und könne fortgebildet werden. Die Gewaltenteilung sei nicht verletzt, weil
440 Auer, NJW 2007, 1106, 1108, verwendet die Formulierung „praktisch nichts mehr contra legem“. Sie scheint bei diesem Verständnis der Contra-legem-Grenze auch die von ihr ebenfalls angesprochene Grenze der Derogation einer auszulegenden Norm nicht für maßgeblich zu halten. Nur am Rande sei angemerkt, dass Auer nicht problematisiert, ob die Richtlinie tatsächlich in diesem Sinne zur Gesamtrechtsordnung zählt. Nach hier vertretener Auffassung ist das nicht der Fall, s. dazu oben S. 132–133. 441 Auer, NJW 2007, 1106, 1108. 442 Schlachter, EuZA 2015, 1, 9, 13–14. Neben der Grenze aus Wortsinn und Zweck erwähnen die Kompetenzgrenze Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 208; Jarass, Europarecht 1991, 211, 218, und Kainer, GPR 2016, 262, 264. S. auch Schnorbus, AcP 201 (2001), 860, 874–876, 898. Unklar Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, § 1, Rn. 1.151–1.152, der einerseits meint, dass die Contra-legem-Grenze nicht durch den Auslegungsspielraum gezogen werde, andererseits aber betont, dass die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu beachten seien. Er spricht unter Berufung auf Canaris, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47, 70–71, von einer nur mittelbaren Beschränkung der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung durch die nationalen Auslegungsmittel. Canaris weist aber an der zitierten Stelle darauf hin, dass die Auslegungskriterien die Contra-legem-Grenze abstecken. 443 Schlachter, EuZA 2015, 1, 9.
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der Gesetzgeber einen großen Teil seiner Gestaltungsfreiheit an den EUGesetzgeber verloren habe.444 Als funktionaler Ansatz lässt sich auch die Auffassung Hagers einordnen, nach der die richtlinienkonforme Interpretation an ihre Grenzen stößt, wenn das Auslegungsergebnis mit einem wesentlichen Grundzug des Gesetzes nicht vereinbar ist. Hager sieht diese Grenzbestimmung freilich als gleichbedeutend mit der Grenze von Wortlaut und objektivem Zweck an.445 Funktionale Überlegungen zeigen in der deutschen Literatur also eher eine Perspektive auf, aus der die richtlinienkonforme Interpretation betrachtet werden kann, als dass sie zu einer Grenzziehung führen, die sich von dem Rückgriff auf Wortsinn und Zweck unterscheidet. c) Die begrenzende Wirkung allgemeiner Rechtsgrundsätze Die Literatur geht ferner auf die begrenzende Wirkung allgemeiner Rechtsgrundsätze ein. Die einzelnen Aussagen beziehen sich auf unterschiedliche Teilaspekte. Dennoch lässt sich aus ihnen ableiten, dass die Literatur ganz überwiegend allgemeine Rechtsgrundsätze wie die Gebote der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie die Grenzen der Rückwirkung nicht als ernsthafte Hürde der richtlinienkonformen Auslegung im Privatrecht ansieht. Nach vorzugswürdiger Auffassung ergeben sich im Privatrecht aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit keine Auslegungsschranken, wenn und soweit eine richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Rechts nach den methodischen Regeln des Mitgliedstaats zulässig ist.446 Mit dieser Ansicht lassen sich weitere Äußerungen aus der Literatur zumindest im Ergebnis vereinbaren. Nach einer weiteren Ansicht spielen Rechtssicherheit und Vertrauensschutz im Horizontalverhältnis von vornherein keine Rolle, weil beide Seiten Vertrauensaspekte anführen können und dabei gleichermaßen schutzwürdig sind.447 Vertreten wird ferner, dass Rechtssicherheit und Vertrauensschutz nur die Rechtsfortbildung begrenzen, nicht aber die Auslegung, wobei auch die Rechtsfortbildung im Grundsatz möglich sein soll, weil beide Seiten Vertrauensschutz geltend machen können.448 Ein anderer Autor 444
Schlachter, EuZA 2015, 1, 13–14. Hager, Rechtsmethoden, 7. Kap., Rn. 115. Hager stützt sich für die Formulierung der Grenze auf Rechtsprechung des Court of Appeal zu s. 3 HRA. S. zu s. 3 HRA unten S. 293–300. 446 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 371. So auch Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 164. Für den Bereich der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung Brenncke, Judicial Law-Making, S. 394. 447 Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 279. Ablehnend Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 163. 448 Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 100. 445
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spricht im Zusammenhang mit den Grenzen für die Rückwirkung von Gesetzen davon, dass sie besondere Bedeutung im Bereich des Strafrechts haben.449 Strenger scheinen die Vertreter der Auffassung zu sein, die mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz hervorheben, dass den Einzelnen keine Pflichten treffen dürfen, die sich nicht hinreichend klar aus gemeinschaftsrechtlichen oder innerstaatlichen Normen ergeben. Das Gebot klarer und transparenter Richtlinienumsetzung sei verletzt, wenn dem Einzelnen im Wege der Interpretation Pflichten auferlegt werden, die nach dem Gesetzeswortlaut nicht erkennbar und praktisch nicht verlässlich erfüllbar sind.450 Ob sich daraus engere Grenzen ergeben als aus der methodisch zulässigen Interpretation, mag allerdings bezweifelt werden und ist auch nicht Gegenstand der Aussage. d) Die Grenze der methodengerechten Interpretation Nach hier vertretener Auffassung liegen die Grenzen der richtlinienkonformen Interpretation in der methodengerechten Anwendung der Auslegungskriterien – einschließlich der dazugehörigen Rangfragen – und der methodengerechten Rechtsfortbildung. Diese methodengerechte Interpretation im Richtlinienkontext lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ziel der Auslegung bleibt in erster Linie die Ermittlung des gesetzgeberischen Willens. Wenn er nicht ermittelt werden kann, wird der Norminhalt durch objektiv-teleologische Auslegung bestimmt. Das gilt auch für die Auslegung im Kontext von Richtlinien; die richtlinienkonforme Auslegung i.e.S. muss sich in diesem Rahmen halten.451 Die Richtlinie kann bei der Auslegung zum einen dazu beitragen, Bedeutungsvarianten der auszulegenden Norm zu ermitteln. Der Einfluss der Richtlinie ist dabei an unterschiedliche Auslegungskriterien anzuknüpfen, je nachdem ob es um Alt- oder Neurecht geht, wobei bei Letzterem weiter zwischen Umsetzungs- und Nichtumsetzungsrecht zu unterscheiden ist. Bei Neurecht kann die Richtlinie unter systematischen Gesichtspunkten Anhaltspunkte für das Normverständnis des Gesetzgebers bieten. Bei Umset449
Jarass, Europarecht 1991, 211, 223. Herdegen, WM 2005, 1921, 1926–1927 (zu der Rechtsprechung zum Widerruf von Haustür-Kreditgeschäften). Weber, Grenzen, S. 148, meint, dass aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung entfällt, wenn eine auf einer Richtlinie beruhende gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung aus dem nationalen Recht nicht hinreichend klar hervorgeht. Mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Normklarheit soll die richtlinienkonforme Auslegung aber angesichts der verfassungsrechtlichen Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfindung (Gesetzesbindung, methodische Grenzen der Rechtsfortbildung) kaum in Konflikt geraten können, Weber, Grenzen, S. 180. 451 S. oben S. 131–132. 450
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zungsrecht kann sie auch bei der historischen Auslegung eine Rolle spielen, wobei der konkrete Regelungswille des Gesetzgebers nicht durch den generellen Umsetzungswillen überspielt werden kann. Bei Altrecht kann die Richtlinie zwar nicht dazu beitragen, den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln. Sie kann aber im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung ein mögliches Normverständnis aufzeigen.452 Wenn eine objektiv-teleologische Auslegung nötig ist, weil der Wille des Gesetzgebers nicht erkennbar ist, kann die Richtlinie bei der Auslegung allerdings nicht nur herangezogen werden, um Bedeutungsvarianten zu ermitteln. Sie kann auf dieser Auslegungsstufe darüber hinaus den Vorrang des richtlinienkonformen Auslegungsergebnisses bewirken. Das gilt unabhängig davon, ob es sich um Alt- oder Neurecht, um Umsetzungsrecht oder Nichtumsetzungsrecht handelt. Maßgeblich ist allein, dass die Auslegung an einem Punkt angekommen ist, an dem es nicht mehr um die Ermittlung des Willens des Gesetzgebers geht.453 Eine Fortbildung deutschen Rechts lässt sich nicht auf einen Richtlinienverstoß stützen, Richtlinienwidrigkeit begründet für sich genommen keine Rechtsfortbildungsbefugnis.454 Was diesen Vorgaben nicht entspricht, kann als Interpretation contra legem bezeichnet werden. Das ist freilich nur ein Sammelbegriff für die insgesamt geltenden Regeln der Interpretation. Contra legem lässt sich also nicht allein auf ein oder zwei Stichworte reduzieren. So verstanden ist die Contralegem-Grenze im Kontext der richtlinienkonformen Interpretation keine eigenständige Grenze, sondern ein Ausdruck für ein methodengerechtes Vorgehen.455 Das ändert sich auch nicht unter dem funktionalen Gesichtspunkt der Aufgabenteilung zwischen Gesetzgebung und Justiz, da methodische Regeln gerade Ausdruck dieser Kompetenzabgrenzung sind.
452
S. oben S. 136–137. S. oben S. 137–138. 454 S. oben S. 138–144. 455 Nach Bydlinski, Lex-lata-Grenze, S. 27–28, sind eigenständige Überlegungen zur Contra-legem-Grenze nur sinnvoll, wenn diese nicht mit dem korrekten Einsatz der methodischen Mittel zusammenfällt. Das ist zutreffend. Allerdings kommt es in dieser Arbeit nicht darauf an, wie die Contra-legem-Grenze allgemein zu bestimmen ist und ob eigenständige Überlegungen zur Contra-legem-Grenze sinnvoll sind. Das Herstellen von Richtlinienkonformität ist kein Ziel, das eine Rechtsfindung außerhalb der alltäglichen Bahnen von Auslegung und Rechtsfortbildung fordert. Es geht weder darum, Unrecht in Gesetzesform zu verhindern, noch um Rechtsentwicklungen, die mehr oder weniger stark von dem abweichen, was im Gesetz angelegt ist (s. die Beispiele bei Bydlinski, Lex-lata-Grenze, S. 27, 76–86). In anderem Kontext mag es sinnvoll sein, die Contra-legem-Grenze nicht mit methodengerechtem Vorgehen gleichzusetzen. 453
Kapitel 5
Die Niederlande “[…] the question whether the court may reasonably find a way to an harmonious interpretation using the guidelines from the case law of the ECJ and the question whether the court reaches the limits of the obligation are basically interchangeable.”1
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung Nachfolgend werden zunächst die gesetzlichen Regelungen zu den hier untersuchten urlaubsrechtlichen Fragen vorgestellt. Wie anschließend zu zeigen ist, ergab sich in den Niederlanden aus der urlaubsrechtlichen Rechtsprechung des EuGH nur relativ geringer Anpassungsbedarf. Er war allerdings insofern erheblich, als die Rechtsprechung eine richtlinienkonforme Auslegung (überwiegend) ablehnte, sodass die Anpassung dem Gesetzgeber überlassen blieb.
1. Die gesetzliche Regelung im Überblick Der Jahresurlaub ist in den Artt. 7:634 ff. Burgerlijk Wetboek (BW) geregelt. Der niederländische Gesetzgeber hat diese Normen im Jahr 2012 als Reaktion auf die für diese Untersuchung einschlägigen EuGH-Urteile erheblich verändert. Nach Art. 7:634 BW erwirbt der Arbeitnehmer in jedem Jahr, in dem er während der vollen vereinbarten Arbeitsdauer ein Recht auf Lohn erhalten hat, einen Anspruch auf vier Wochen Urlaub. Auf den Gesundheitszustand kommt es für den Erwerb des Urlaubsanspruchs nicht an. Die Verknüpfung mit dem Recht auf Lohn schließt den Erwerb von Urlaubsansprüchen erkrankter Arbeitnehmer daher nicht aus, soweit sie einen Anspruch auf Ent-
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Wissink, in: Influence of EU Law, S. 119, 146 (bezogen auf das niederländische Zivilrecht).
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geltfortzahlung haben. Eine Mindestbeschäftigungszeit als Voraussetzung für den Urlaubserwerb ist nicht vorgesehen. Wenn der Arbeitnehmer erkrankt ist, können gem. Art. 7:637 BW unter bestimmten Umständen Krankheitstage als Urlaubstage angerechnet werden. Das gilt allerdings nur für Mehrurlaubsansprüche, nicht für den Mindesturlaub. Auch wenn der Arbeitnehmer während eines festgesetzten Urlaubs krank ist, können die Krankheitstage unter bestimmten Umständen als Urlaub gelten, Art. 7:638 Abs. 8 BW. Nach Art. 7:640a BW besteht ein Übertragungszeitraum von sechs Monaten nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch erworben wurde. Der Verfall des Anspruchs tritt allerdings nicht ein, wenn der Arbeitnehmer bis zu diesem Zeitpunkt billigerweise nicht im Stande gewesen ist, Urlaub zu nehmen. Diese Ausnahme spielt u.a. für erkrankte Arbeitnehmer eine Rolle. Der übertragene Urlaubsanspruch, der nicht nach Art. 7:640a BW verfallen ist, verjährt gem. Art. 7:642 BW fünf Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch erworben wurde.
2. Die Mindestbeschäftigungszeit Eine Mindestbeschäftigungszeit für den Erwerb von Urlaubsansprüchen war und ist im niederländischen Recht nicht vorgesehen.
3. Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Wie bereits erwähnt, erwirbt der Arbeitnehmer während einer Erkrankung Urlaubsansprüche. Dieser Punkt war ursprünglich im BW anders geregelt. Nach Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. erwarb der Arbeitnehmer nur für die letzten sechs Monate einer Erkrankung Urlaubsansprüche. Diese Regelung erwies sich nach dem Urteil Schultz-Hoff als richtlinienwidrig.2 a) Der Umgang der Rechtsprechung mit Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. Die Rechtbank Utrecht erzielte in einem Urteil aus dem Jahr 2009 ein richtlinienkonformes Ergebnis, indem sie die Norm in Zusammenschau mit Art. 7:638 BW interpretierte und dem Arbeitgeber die Berufung auf Art. 7:635 Abs. 4 BW in seiner damaligen Fassung unter dem Aspekt von Treu und Glauben versagte, weil er für den Arbeitnehmer während dessen Erkrankung Urlaub hätte festsetzen können.3 Der Gerechtshof Amsterdam 2 Gerechtshof Amsterdam 10.11.2009 NL:GHAMS:2009:BK4648 Rn. 3.9.3; Kamerstukken II 2009–2010, 32 465, Nr. 3, S. 1, 3. Aus der Literatur Burger, ArA 2009 (8) 2, 85, 95. 3 Rechtbank Utrecht 14.10.2009 NL:RBUTR:2009:BK0017 Rn. 4.7. Ablehnend Peters/Franssen, TRA 2010, 22, 5, 7.
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
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sah wenige Wochen nach diesem Urteil dagegen keine Möglichkeit, Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. richtlinienkonform zu interpretieren. Die Norm enthalte für erkrankte Arbeitnehmer ausdrücklich eine Ausnahme von der allgemeinen Regel für den Urlaubserwerb. Nach der Gesetzesbegründung solle so das Ansammeln von Urlaubsansprüchen verhindert und die Kosten für die Arbeitgeber überschaubar gehalten werden. Eine richtlinienkonforme Auslegung bedeute unter diesen Umständen eine Auslegung contra legem, die der EuGH nicht verlange. Es sei Sache des Gesetzgebers, seine Rechtsvorschriften in diesem Punkt mit der Richtlinie in Einklang zu bringen.4 Gegenüber einem staatlichen Arbeitgeber hat der Centrale Raad van Beroep Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG unmittelbar angewendet.5 Arbeitnehmern, die bei privaten Arbeitgebern beschäftigt waren, wurde vom Hoge Raad ein Schadensersatzanspruch gegen den Staat wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung zugesprochen.6 b) Die Streichung des Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. zum 1.1.2012 Der niederländische Gesetzgeber sah aufgrund der Urteile Schultz-Hoff und Pereda Anpassungsbedarf im niederländischen Recht und legte 2010 einen Gesetzesentwurf vor, aufgrund dessen zum 1.1.2012 einige urlaubsrechtliche Regelungen des BW geändert wurden. In der Begründung zum Entwurf wird u.a. ausgeführt, dass Art. 7:635 Abs. 4 BW in der zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung hinsichtlich des Erwerbs des Mindesturlaubsanspruchs bei Krankheit nicht mit der RL 2003/88/EG in Einklang stehe.7 Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. wurde gestrichen. Dadurch werden nach der Begründung des Gesetzentwurfs gesunde und erkrankte Arbeitnehmer hinsichtlich des Erwerbs von Mindesturlaubsansprüchen gleichgestellt, weil der Erwerb von Urlaubsansprüchen mit dem Recht auf Lohn verbunden ist, das gem. Art. 7:629 BW auch im Krankheitsfall besteht.8 Wenn der erkrankte Arbeitnehmer seine
4 Gerechtshof Amsterdam 10.11.2009 NL:GHAMS:2009:BK4648 Rn. 3.9.5. unter Berufung auf Kamerstukken II 1985/86, 19 575, Nr. 3, S. 8. Gegen die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung auch Bouwens, Ars Aequi 2012, 385, 391; Peters/Franssen, TRA 2010, 22, 5, 8–9. 5 CRvB 18.7.2011 NL:CRVB:2011:BR0267 Rn. 4.7 (im Kontext einer beamtenrechtlichen Regelung, nach der Urlaub nur bei Arbeitsleistung erworben wird). 6 Hoge Raad 18.9.2015 NL:HR:2015:2722; Hoge Raad 18.9.2015 NL:HR:2015:2723 (in beiden Entscheidungen wird in Rn. 3.3 als unstreitig zugrunde gelegt, dass die Niederlande mit Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. keine richtlinienkonforme Regelung getroffen hatten). Kritisch zur Frage, ob ein hinreichend qualifizierter Verstoß vorliegt, Roozendaal, Annotaties AR; Vegter, TRA 2015, 102, 20. Befürwortend zur vorinstanzlichen Entscheidung Bouwens, Ars Aequi 2012, 385, 392. 7 Kamerstukken II 2009–2010, 32 465, Nr. 3, S. 1. 8 Kamerstukken II 2009–2010, 32 465, Nr. 3, S. 4.
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Wiedereingliederungspflichten nicht erfüllt, erwirbt er für diese Zeit allerdings keine Urlaubsansprüche. Die entsprechende ausdrückliche Regelung wurde gestrichen, weil sich dieses Ergebnis bereits aus Art. 7:629 Abs. 3 i.V.m. Art. 7:634 BW ergibt. Die Änderungen haben keine Rückwirkung.9 c) Die Reaktion der Literatur auf die neuen Regeln Aufmerksamkeit fand in der Literatur vor allem die neue Vorschrift über den Verfall des Urlaubsanspruchs.10 Im Übrigen wurde die (bereits vor dem 1.1.2012 im Gesetz enthaltene) Verknüpfung des Erwerbs von Urlaubsansprüchen mit einem Anspruch auf Lohn in der Literatur unter europarechtlichen Aspekten in Frage gestellt. Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88EG stelle für den Urlaubserwerb allein auf die Arbeitnehmerstellung ab, weshalb die Verknüpfung von Lohnanspruch und Urlaubserwerb möglicherweise nicht richtlinienkonform sei. Die Voraussetzung des Lohnanspruchs erfüllen erkrankte Arbeitnehmer nicht unter allen Umständen. Zum einen ist die Entgeltfortzahlung gem. Art. 7:629 Abs. 1 BW auf zwei Jahre begrenzt, zum anderen entfällt der Entgeltanspruch, wie soeben dargelegt, wenn der erkrankte Arbeitnehmer seine Wiedereingliederungspflichten nicht erfüllt. Letztlich wird aber in der Verknüpfung von Lohnanspruch und Erwerb von Urlaubsansprüchen kein Konflikt mit der RL 2003/88/EG gesehen, weil der erkrankte Arbeitnehmer, der keinen Lohnanspruch hat, gem. Art. 7:635 Abs. 1 lit. d BW dennoch Urlaubsansprüche erwirbt.11 Art. 7:635 BW regelt verschiedene Fälle, in denen ein Arbeitnehmer ohne Lohnanspruch Urlaub erwirbt. Art. 7:635 Abs. 1 lit. d BW wurde mit der Streichung des Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. dahingehend geändert, dass der Fall der Nichtleistung von Arbeit infolge Krankheit erfasst ist.12
4. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen Bis zur Änderung des Urlaubsrechts zum 1.1.2012 war in den Niederlanden die Übertragung des Urlaubs allein durch die fünfjährige Verjährungsfrist in Art. 7:642 BW a.F. zeitlich beschränkt. Zu dieser Verjährungsregelung ist zum 1.1.2012 eine Verfallsregelung hinzugetreten. Gem. Art. 7:640a S. 1 und 2 BW verfällt der Anspruch auf den Mindestjahresurlaub sechs Monate nach
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Gerechtshof Amsterdam 14.8.2012 NL:GHAMS:2012:BX4730 Rn. 2.5; Antwort des Ministers für soziale Angelegenheiten und Beschäftigung, Memorie van antwoord Eerste Kamer, 2010–2011, 32 465, C, S. 9. 10 S. dazu unten S. 156–160. 11 Bouwens/Duk, Arbeidsovereenkomstenrecht, § 11.2; ders., Ars Aequi 2012, 385, 388; Roozendaal, Annotaties AR; Veldman, ArA 2012 (11) 2, 52, 69. 12 Bouwens/Duk, Arbeidsovereenkomstenrecht, § 11.2.
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dem letzten Tag des Kalenderjahres, in welchem der Anspruch erworben wurde.13 Der Verfall tritt nicht ein, wenn der Arbeitnehmer bis dahin billigerweise nicht im Stande gewesen ist, Urlaub zu nehmen. Diese Ausnahme wird unter bestimmten Umständen für erkrankte Arbeitnehmer relevant.14 Der niederländische Gesetzgeber hat also die Regeln zur Übertragbarkeit für Arbeitnehmer, die Urlaub nehmen können, verschärft. Die fünfjährige Verjährungsfrist kommt nur noch den Arbeitnehmern zugute, deren Mindestjahresurlaub nicht nach Art. 7:640a BW verfallen ist. Diese Verschlechterung hat der Gesetzgeber bewusst eingeführt, um Arbeitnehmer im Interesse ihrer Sicherheit und Gesundheit dazu anzuhalten, ihren Urlaub zeitnah zum Urlaubserwerb zu nehmen. Es soll verhindert werden, dass Arbeitnehmer Urlaub ansparen und deshalb aufgrund von Überlastung ausfallen.15 Die Einführung der Verfallfrist wurde teilweise kritisch beurteilt. Sie sei ungerecht und zu rigoros und vertrage sich nicht mit der 2001 vorgenommenen Verlängerung der Verjährungsfrist.16 Mit Blick auf jüngere Rechtsprechung des EuGH zur Initiativlast des Arbeitgebers bei der Urlaubsgewährung wird ferner vertreten, dass der automatische Verfall richtlinienwidrig ist.17 Andere Stimmen aus der Literatur befürworteten im Nachgang zur Schultz-HoffEntscheidung die Einführung einer Verfallfrist für Arbeitnehmer, die in der Lage waren, ihren Urlaub zu nehmen.18 In der Gesetzesbegründung hieß es dazu, der eigentliche Zweck des Mindesturlaubs liege darin, die Erholung der Arbeitnehmer zu gewährleisten und ihre Überlastung zu verhindern. Die damalige Verlängerung der Verjährungsfrist auf fünf Jahre habe dazu gedient, den Arbeitnehmern das Ansparen von Urlaub und damit längere Zeiten der Freistellung zu ermöglichen. Danach seien aber diverse andere Maßnahmen getroffen worden, um Arbeit und Freistellung für Pflege oder aus anderen persönlichen Gründen besser miteinander vereinbar zu machen. Es sei daher inzwischen weniger notwendig, für diese Zwecke Mindesturlaub 13
Der Verfall ist vom Richter von Amts wegen zu berücksichtigen, Heerma van Voss, Arbeidsovereenkomst, Rn. 179. 14 S. dazu unten S. 159–160. 15 Kamerstukken II 2009–2010, 32 465, Nr. 3, S. 6. 16 So die Einwände von Arbeitnehmerorganisationen, wie sie in Kamerstukken II 2009–2010, 32 465, Nr. 3, S. 9, wiedergegeben werden. Kritisch auch van Drongelen/ten Hoor/Rombouts, Vakantieregeling, S. 35–36; dies., ArA 2015 (9) 2, 3, 20; Heerma van Voss, Arbeidsovereenkomst, Rn. 179; Roozendaal, Annotaties AR; Vink, TRA 2010, 99, 18, 20. Verhulp, in: Slooten/Vegter/Verhulp, Arbeidsrecht, Art. 7:640a BW Anm. 1, hält die Vorschrift aufgrund der Kürze der Frist für richtlinienwidrig, ohne allerdings auf die Frage einzugehen, wie sich die Formulierung „billigerweise nicht im Stande, den Urlaub zu nehmen“ auswirkt. 17 van Drongelen, Arbeidsrecht, 7.2.12.1 unter Berufung auf EuGH 6.11.2018 EU:C:2018:874 (MPG). 18 Ponds, NtEr 2009, 246–247, 249–252.
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anzusparen.19 Ziel des Gesetzgebers war es also in diesem Punkt, den Mindesturlaub hinsichtlich der Nutzungsfrist seinem eigentlichen Zweck entsprechend auszugestalten. Eine (tarif-)vertragliche Verlängerung der Frist ist allerdings gem. Art. 7:640a S. 3 BW zulässig.
5. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Angesichts der grundsätzlich geltenden sechsmonatigen Verfallfrist (Art. 7:640a BW) wird diskutiert, ob der Verfall des Urlaubs für erkrankte Arbeitnehmer richtlinienkonform geregelt ist. a) Die Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen Wie soeben dargelegt, verfällt in den Niederlanden nicht genommener Urlaub nicht mit Ablauf des Urlaubsjahres. Das gilt unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer krankheitsbedingt den Urlaub nicht nehmen konnte oder ihn aus anderen Gründen nicht genommen hat. b) Der Übertragungszeitraum Vor diesem Hintergrund ist von Interesse, für welchen Zeitraum nach Ablauf des Urlaubsjahres der krankheitsbedingt nicht genommene Urlaub erhalten bleibt, ob also die fünfjährige Verjährungsfrist gilt oder die sechsmonatige Verfallfrist. aa) Die Verfallfrist bei Wiedereingliederungspflicht Zur Gruppe der Arbeitnehmer, die Urlaub nehmen können (und müssen, um dem Verfall nach Art. 7:640a BW zuvorzukommen), zählen nach der Gesetzesbegründung nicht nur gesunde Arbeitnehmer, sondern auch erkrankte Arbeitnehmer, die sich wiedereingliedern.20 – Bei längerer Erkrankung ist im niederländischen Recht vorgesehen, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Wiedereingliederung des erkrankten Arbeitnehmers zusammenarbeiten, Artt. 7:658a, 660a BW i.V.m. Art. 71a Wet op de arbeidsongeschiktheidsverzekering (WAO).21 – Wie sich aus den weiteren Ausführungen in der Gesetzesbegründung ergibt, geht es nicht darum, ob der erkrankte Arbeitnehmer
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Kamerstukken II 2009–2010, 32 465, Nr. 3, S. 7, 9–10. Kamerstukken II 2009–2010, 32 465, Nr. 3, S. 6. In der Literatur wird Arbeitgebern geraten, solche Arbeitnehmer auf die Verfallfrist hinzuweisen, Schmeitz/Klinckhamers, TRA 2011, 99, 11, 13. 21 Das Verfahren ist durch eine Verordnung geregelt, abrufbar unter http://wetten.overh eid.nl/BWBR0013540/2007-01-01. 20
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seiner Wiedereingliederungspflicht tatsächlich nachkommt, sondern ob er zur Wiedereingliederung verpflichtet ist.22 Der Gesetzgeber ist der Auffassung, dass Urlaub zur Wiedereingliederung grundsätzlich beiträgt.23 Sollte im Einzelfall die Wiedereingliederung durch das Nehmen von Urlaub behindert werden, greife die sogleich zu erläuternde Ausnahme von der Verfallfrist.24 bb) Die Ausnahme von der Verfallfrist Die Ausnahme von der sechsmonatigen Verfallfrist greift ein, wenn der betroffene Arbeitnehmer billigerweise seinen Urlaub nicht rechtzeitig nehmen konnte. Das kann auf medizinischen Gründen oder anderen besonderen Umständen beruhen. Als Beispiel für andere besondere Umstände wird der Fall genannt, dass der Urlaub aus Gründen, die beim Arbeitgeber liegen, nicht genommen werden konnte.25 Für erkrankte Arbeitnehmer greift die Ausnahme, wenn sie für die Dauer der Verfallfrist von der Wiedereingliederungspflicht vollständig freigestellt sind, da bei ihnen nicht die Erholung von einer arbeitsvertraglichen Pflicht ansteht.26 Der Gesetzgeber denkt dabei an Arbeitnehmer, die weder ihre Arbeit verrichten noch tragfähige Möglichkeiten der Wiedereingliederung nutzen können, was auf die wenigsten Arbeitnehmer zutreffe. Nicht wiedereingliederungsfähig seien jedenfalls Arbeitnehmer in den in Art. 2 Abs. 5 des Erlasses zur Beurteilung der Invalidität27 genannten Fällen, also z.B. Arbeitnehmer, die im Krankenhaus oder bettlägerig sind.28
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Kamerstukken II 2009–2010, 32 465, Nr. 3, S. 7–8. Antwort des Ministers für soziale Angelegenheiten und Beschäftigung, Memorie van antwoord Eerste Kamer, 2010–2011, 32 465, C, S. 4. So auch van Drongelen/ten Hoor/ Rombouts, Vakantieregeling, S. 37; dies., ArA 2015 (9) 2, 3, 21. 24 Antwort des Ministers für soziale Angelegenheiten und Beschäftigung, Memorie van antwoord Eerste Kamer, 2010–2011, 32 465, C, S. 4; van Drongelen, Arbeidsrecht, 7.2.12.1. Unter Bestimmtheitsgesichtspunkten zu dieser Ausnahme Franssen/Seghrouchni, Arbeidsrecht 2012/48, 3, 4, die auch weitere Beispiele nennen, aber ebenfalls davon ausgehen, dass der wiedereingliederungsfähige Arbeitnehmer i.d.R. Urlaub nehmen kann. 25 Kamerstukken II 2009–2010, 32 465, Nr. 3, S. 7. 26 Kamerstukken II 2009–2010, 32 465, Nr. 3, S. 7. S. auch Rechtbank Noord-Nederland 4.4.2017 NL:RBNNE:2017:1157 Rn. 5.10. Franssen/Seghrouchni, Arbeidsrecht 2012/48, 3, 5, weisen darauf hin, dass es bei fehlender Wiedereingliederungsfähigkeit nicht darauf ankommt, ob der Arbeitnehmer Urlaub machen könnte. Sie erwägen, ob der Arbeitgeber sich auf Treu und Glauben berufen kann, wenn der Arbeitnehmer in dieser Situation dennoch Urlaub macht, sich die Urlaubstage aber nicht anrechnen lassen will. 27 Schattingsbesluit arbeidsongeschiktheidswetten, abrufbar unter http://wetten.overh eid.nl/BWBR0011478/2017-07-01. 28 Kamerstukken II 2009–2010, 32 465, Nr. 3, S. 8. 23
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cc) Die Rechtsprechung und Literatur zum Verfall bei Krankheit Inzwischen sind erste Urteile zur Frage des Verfalls gem. Art. 7:640a BW ergangen. In einem Fall, in dem für den Arbeitnehmer die Wiedereingliederung zwei Jahre lang nicht in Betracht kam, hat die Rechtbank Limburg die fünfjährige Verjährungsfrist angewendet.29 Der Gerechtshof ’s-Hertogenbosch und die Rechtbank Midden-Nederland wandten die sechsmonatige Verfallfrist in Fällen an, in denen der Arbeitnehmer zur Wiedereingliederung verpflichtet war, die Wiedereingliederung aber zunächst mangels eines passenden Arbeitsplatzes nicht stattfand.30 In der Literatur findet sich vereinzelt Kritik an der Länge des Übertragungszeitraums.31 Stärker diskutiert wird mit Blick auf die Pereda-Entscheidung des EuGH die Verpflichtung von sich wiedereingliedernden Arbeitnehmern, innerhalb der Verfallfrist Urlaub zu nehmen. Nach einer Auffassung ergibt sich aus dieser Entscheidung, dass der kranke Arbeitnehmer die Entscheidungshoheit darüber haben muss, ob er Urlaub nehmen möchte oder nicht. Europarechtskonform sei daher nur ein Verständnis der Formulierung „billigerweise nicht im Stande gewesen ist, Urlaub zu nehmen“, nach der es auf den Wunsch des Arbeitnehmers ankommt, nicht aber auf die tatsächliche Möglichkeit, Urlaub zu nehmen. Die so bestehende Unsicherheit über die Vereinbarkeit der Regelung mit europäischem Recht könne beseitigt werden, indem die Verfallfrist auf fünfzehn Monate festgesetzt würde. Dann wäre die Ausnahmeregelung nicht erforderlich und könnte gestrichen werden.32 Eine andere Autorin sieht ebenfalls ein Problem mit Blick auf die Pereda-Entscheidung. Der Gesetzgeber scheine davon auszugehen, dass der sich wiedereingliedernde Arbeitnehmer sich nicht im Krankheitsurlaub befinde. Diese Auffassung sei aber zweifelhaft, auch wenn das Argument, dass Arbeit ein Erholungsbedürfnis nach sich ziehe, nachvollziehbar sei.33 Ein Problem ergebe sich jedenfalls in den Fällen, in denen der Arbeitnehmer nur mit einer geringeren Stundenzahl als arbeitsvertraglich vereinbart wiedereingegliedert werden kann und im Übrigen von der Wiedereingliederungspflicht freigestellt ist, er aber dennoch volle Urlaubstage nehmen muss.34
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Rechtbank Limburg 11.4.2017 NL:RBLIM:2017:3293 Rn. 4.4.1. Gerechtshof ’s-Hertogenbosch 7.12.2017 ECLI:NL:GHSHE:2017:5399 Rn. 3.8.4.; Rechtbank Midden-Nederland 27.1.2016 NL:RBMNE:2016:434 Rn. 4.5. 31 Bouwens, Ars Aequi 2012, 385, 389. 32 van Drongelen/ten Hoor/Rombouts, Vakantieregeling, S. 37–38; dies., ArA 2015 (9) 2, 3, 22–23. 33 Veldman, ArA 2012 (11) 2, 52, 74. Zweifelnd auch Veldman, TRA 2012, 41, 27, 29. Einen entsprechenden Spielraum des Gesetzgebers nehmen an Franssen/Seghrouchni, Arbeidsrecht 2012/48, 3, 5. 34 Veldman, ArA 2012 (11) 2, 52, 74. 30
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c) Übertragbarkeit und Verfall von Mehrurlaubsansprüchen Art. 7:640a BW sieht die sechsmonatige Verfallfrist allein für Mindesturlaubsansprüche vor. Für Mehrurlaubsansprüche gilt die fünfjährige Verjährungsfrist.
6. Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum Das BW enthielt bereits vor der Änderung zum 1.1.2012 eine Regelung zum Zusammentreffen von Krankheit und bereits festgesetztem Urlaub. Gem. Art. 7:637 Abs. 2 BW a.F. galten Tage, an denen der Mitarbeiter während eines festgelegten Urlaubs erkrankt ist, nicht als Urlaubstage. Die Arbeitsvertragsparteien konnten schriftlich vereinbaren, dass die Tage, an denen der Arbeitnehmer während eines festgesetzten Urlaubs erkrankt ist, als Urlaub gelten, allerdings nur bis zu der Anzahl an Urlaubstagen, die für das Jahr über den Mindesturlaub hinausgehen. Diese Regeln über das Geltenlassen von Urlaubstagen trotz Erkrankung waren vor dem 1.1.2012 im BW im Zusammenhang mit Vorschriften über die Verrechnung von krankheitsbedingten Fehlzeiten mit Urlaubstagen im Fall der Erkrankung außerhalb eines festgesetzten Urlaubs geregelt. Nach Art. 7:636 Abs. 1 BW a.F. konnte der Arbeitnehmer bei Erkrankung im konkreten Fall zustimmen, dass der Arbeitgeber ihm die Krankheitstage als Urlaubstage anrechnet, wobei die Anrechnung auf den ihm insgesamt zustehenden Mehrurlaub begrenzt war. Nach Art. 7:637 Abs. 1 BW a.F. konnte eine Anrechnungsabrede schriftlich im Voraus getroffen werden, allerdings begrenzt auf die Mehrurlaubstage für das laufende Jahr. Der niederländische Gesetzgeber hat diesen Regelungskomplex zum 1.1.2012 umstrukturiert, ohne ihn inhaltlich wesentlich zu verändern. Ihm ging es in diesem Bereich darum, zwei Gruppen von Vorschriften zu trennen: die über das Geltenlassen von Krankheitstagen als Urlaubstage bei festgesetztem Urlaub einerseits und die über das Verrechnen von Urlaubstagen mit Krankheitstagen andererseits.35 Der Fall der Erkrankung während des Urlaubs ist nun in Art. 7:638 Abs. 8 BW geregelt, während die Verrechnung von Urlaub mit Krankheitstagen in Art. 7:636 Abs. 1 BW und Art. 7:637 BW enthalten ist.36
35
Kamerstukken II 2009–2010, 32 465, Nr. 3, S. 1, 5. Art. 7:636 Abs. 1 BW betrifft überwiegend Fehlzeiten, die auf anderen Gründen als einer Erkrankung beruhen, erfasst aber auch Krankheitsfälle, soweit Art. 7:635 lit. d BW Anwendung findet, es sich also um eine krankheitsbedingte Fehlzeit ohne Anspruch auf Lohn handelt (s. zu Art. 7:635 lit. d BW oben S. 156). Bei krankheitsbedingten Fehlzeiten mit Anspruch auf Lohn ist Art. 7:637 BW einschlägig. 36
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Kapitel 5: Die Niederlande
Die Umgestaltung führte zu folgender inhaltlicher Änderung: Während die Möglichkeit der vorherigen schriftlichen Abrede in Art. 7:638 Abs. 8 S. 2 BW unverändert fortbesteht, bestimmt Art. 7:638 Abs. 8 S. 1 BW nun, dass Tage, an denen der Arbeitnehmer während eines festgesetzten Urlaubs krank ist, als Urlaub gelten, wenn im konkreten Fall der Arbeitnehmer zustimmt.37 Das war vor dem 1.1.2012 nicht vorgesehen. In der Literatur wird zu Recht betont, dass für diesen Fall der Zustimmung im konkreten Fall keine Beschränkung auf die Mehrurlaubstage eines Jahres besteht.38 Durch Zustimmung im konkreten Einzelfall kann der Arbeitnehmer also jegliche Urlaubstage bei Erkrankung als Urlaubstage gelten lassen, unabhängig davon, ob es sich um Mindesturlaub, alten Mehrurlaub oder für das Jahr aktuellen Mehrurlaub handelt. Eine vorherige Vereinbarung über das Geltenlassen von Urlaubstagen bei Krankheit nach Art. 7:638 Abs. 8 S. 2 BW kann dagegen nur Mehrurlaub für das aktuelle Urlaubsjahr erfassen. Ein Zusammenhang zwischen den Vorschriften zur Verrechnung von Krankheitstagen als Urlaub und zum Geltenlassen von Krankheitstagen als Urlaub besteht weiterhin: Wie bis zur Gesetzesänderung können gem. Art. 7:637 Abs. 3 BW beim Zusammentreffen beider Fälle in einem Jahr aufgrund von Vorabvereinbarungen der Arbeitsvertragsparteien insgesamt nur die Mehrurlaubstage für das jeweilige Jahr als Urlaub gelten. Durch Art. 7:638 Abs. 8 BW ist also sichergestellt, dass der Arbeitnehmer die dem Mindesturlaub zuzurechnenden Urlaubstage nachholen kann, während derer er erkrankt ist. Insoweit kann er eine Anrechnung mit dem Arbeitgeber erst im konkreten Fall vereinbaren.
7. Zusammenfassung Eine Mindestbeschäftigungszeit war und ist im niederländischen Urlaubsrecht nicht vorgesehen, sodass sich insoweit keine Auslegungsfragen stellen. Die Nachgewährung von Urlaub bei Erkrankung im Urlaub ist auch nach dem 1.1.2012 gesetzlich vorgesehen. Die Möglichkeit der Parteien, abweichend davon Urlaubstage bei Erkrankung als solche stehen zu lassen, wird nicht kritisiert. Kritisch wird die Regelung zum Verfall von Urlaubsansprüchen in Art. 7:640a BW gesehen. Sie kann bei erkrankten Arbeitnehmern Probleme aufwerfen, wenn die Sechs-Monats-Frist anwendbar ist. Das ist nur dann nicht der Fall, wenn der Arbeitnehmer für die Dauer der Verfallfrist 37 Die Rechtbank Gelderland 3.2.2016 NL:RBGEL:2016:1625 Rn. 3.6 hat entschieden, dass diese Zustimmung nicht bereits in dem Urlaubsantrag liegt. 38 van Drongelen, Arbeidsrecht, 7.2.7.2. S. auch Schmeitz/Klinckhamers, TRA 2011, 99, 11, 12. Bouwens/Duk, Arbeidsovereenkomstenrecht, § 11.4, meinen, dass das auch im Fall des Art. 7:637 Abs. 1 BW gelten und die dort vorgesehen Beschränkung auf übergesetzliche Urlaubstage nicht angewendet werden sollte.
II. Die Auslegung von Gesetzen
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von der Wiedereingliederungspflicht vollständig freigestellt ist.39 Die Kritik aus der Literatur40 zielt aber nicht auf eine richtlinienkonforme Interpretation des Art. 7:640a BW, sondern auf eine Gesetzesänderung. Unter Auslegungsgesichtspunkten wird dieser Punkt in den Niederlanden nicht behandelt. Fragen der richtlinienkonformen Auslegung wurden allein im Zusammenhang mit Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. diskutiert, der den Erwerb von Urlaubsansprüchen erkrankter Arbeitnehmer auf die letzten sechs Monate der Erkrankung beschränkte. Dieser Punkt hat sich mit der Streichung der Norm erledigt. Die Diskussion zeigt aber, wie die Rechtsprechung und der Gesetzgeber mit dem Umsetzungsdefizit umgegangen sind. In der Rechtsprechung wurde die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung rasch abgelehnt. Der Gesetzgeber wurde tätig und hat das niederländische Urlaubsrecht angepasst.
II. Die Auslegung von Gesetzen Die Auslegung von Gesetzen wird in den Niederlanden nicht besonders ausführlich diskutiert. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen die Auslegungskriterien Wortsinn und Entstehungsgeschichte. Nachfolgend wird nach einem Blick auf Auslegungsziel und -kriterien kurz erörtert, wir der Hoge Raad methodisch vorgeht.
1. Das Auslegungsziel und die Auslegungskriterien In der niederländischen Literatur wird angeregt, bei der Auslegung von Gesetzen weder allein nach dem Willen des Gesetzgebers zu forschen noch das Gesetz völlig losgelöst davon zu interpretieren. Das Gesetz habe einen Urheber, der ihm Inhalt gegeben hat. Es sei aber auch ein neues Faktum im Rechtsleben, dessen Anwendung und Bestand von seinem Schöpfer unabhängig sei und einen anderen Sinn haben oder mit der Zeit bekommen könne, als von den Verfassern ursprünglich gedacht. Dieser Ansatz sei objektiv und subjektiv zugleich.41 Auslegungskriterien sind der Wortsinn, die Gesetzgebungsgeschichte sowie die Historie im weiteren Sinne, die Systematik sowie der Sinn und Zweck.42 Den Auslegungsmitteln wird meist keine Rangordnung zugewie39
S. oben S. 159. S. oben S. 160. 41 Scholten, Algemeen deel, S. 34. Ähnlich zunächst Zonderland, Methode, S. 163–164, der sich aber letztlich für eine objektive Auslegung ausspricht, indem er dem objektiven Sinn im Zeitpunkt der Auslegung den Vorrang gibt. 42 Brouwer, Recht, S. 601; Chin-Oldenziel/Belkaid-Koubia, in: Wetenschappelijk Bij40
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sen.43 Allerdings will Duk die teleologische Auslegung nur anwenden, wenn der Wille des Gesetzgebers nicht ermittelt werden kann und die Wortsinninterpretation ein unvernünftiges Auslegungsergebnis ergibt. Auch die systematische Auslegung ordnet er als nachrangig gegenüber der Auslegung nach dem Wortsinn und der Entstehungsgeschichte ein.44 Der allgemeine Sprachgebrauch der benutzten Worte sei der Ausgangspunkt der Auslegung,45 letztlich sei aber die Rechtsbedeutung der Worte entscheidend.46 Die übrigen Auslegungskriterien seien indes nicht nur bei zweideutigem Wortsinn anzuwenden.47 Der Wortsinn bildet nach überwiegender Auffassung nicht die Grenze der Auslegung.48 Bildlich formuliert Scholten, der Wortsinn sei kein Grenzstein, der nicht passiert werden kann, sondern eine straff gespannte Schnur, die extremen Widerstand bietet.49 Nach anderer Ansicht steckt allerdings der Wortsinn die Grenzen der Auslegung ab. Die darüber hinausgehende Interpretation sei eine nicht grundsätzlich unzulässige, aber offenzulegende Interpretation contra legem.50 Auch im Übrigen fallen die Einschätzungen zur Wortsinninterpretation unterschiedlich aus. Während Groenewegen sich zum Nutzen der Wortsinnauslegung kritisch äußert, die gerade bei Unklarheiten über den Wortsinn nicht weiterhelfe,51 betont Smith die Bedeutung der grammatikalischen Auslegung für den Normalfall52. Erhebliche Bedeutung spricht die Literatur der Gesetzgebungsgeschichte zu. Sie biete Erkenntnis darüber, wie der Gesetzgeber den Rechtszustand wahrgenommen hat, was er ändern wollte und warum und welche Ziele er mit
dragen, S. 125, 130; Duk, Recht en schlecht, S. 98–101; Groenewegen, Wetsinterpretatie, S. 78; Scholten, Algemeen deel, S. 34–35; Zonderland, Methode, S. 158. S. auch Jansen, RabelsZ 83 (2019), 316, 324. 43 Brouwer, Recht, S. 614; Groenewegen, Wetsinterpretatie, S. 187–190; Scholten, Algemeen deel, S. 36; Smith, in: ‘Alles afwegende…’, S. 255; Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 108–110. Referierend auch Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 229. 44 Duk, Recht en schlecht, S. 109. 45 Scholten, Algemeen deel, S. 36. 46 Scholten, Algemeen deel, S. 37–38. 47 Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 229; Scholten, Algemeen deel, S. 36–37. S. auch Smith, in: ‘Alles afwegende…’, S. 249, 253–254, der gesetzliche Formulierungen unter Einbeziehung der Entstehungsgeschichte und der sozialen Verhältnisse auslegen will. A.A. – mit Einschränkungen – Duk, Recht en schlecht, S. 111 (mit Fn. 24). 48 Groenewegen, Wetsinterpretatie, S. 41 (s. dort auch S. 91–93); Scholten, Algemeen deel, S. 40. 49 Scholten, Algemeen deel, S. 40. 50 Smith, Rechtgeleerd Magazijn Themis 2009, 1, 15–17. 51 Groenewegen, in: ‘Alles afwegende…’, S. 239. 52 Smith, Rechtgeleerd Magazijn Themis 2009, 1, 3. S. dort auch zu den Schwierigkeiten, eine verständliche Gesetzesfassung zu schaffen.
II. Die Auslegung von Gesetzen
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den benutzten Worten verfolgte. Bindend sei sie aber nicht.53 Zu den Gesetzesmaterialien zählen bei formellen Gesetzen verschiedene Parlamentsdokumente wie die Begründung des Gesetzentwurfs, Stellungnahmen, der Abschlussbericht und Niederschriften der Parlamentsdebatten.54 Weniger Beachtung findet die teleologische Interpretation.55 Nach Brouwer ist darunter der Rückgriff auf den Gesetzeszweck zu verstehen. Er spricht in diesem Zusammenhang vom Sinn des Gesetzes, der von dem Sinn, den der Gesetzgeber mit dem Gesetz verbunden hat, zu unterscheiden sei. Letzterer werde mithilfe der Gesetzgebungsgeschichte ermittelt.56Groenewegen versteht dagegen unter teleologischer Auslegung sowohl subjektiv-teleologische als auch objektiv-teleologische Erwägungen.57 Zum Verhältnis der teleologischen Auslegung zu den anderen Auslegungskriterien haben sich Duk und Hartkamp geäußert. Duk will die teleologische Auslegung nur anwenden, wenn der Wille des Gesetzgebers nicht ermittelt werden kann und die Wortsinninterpretation ein unvernünftiges Auslegungsergebnis ergibt.58Hartkamp sieht nach der Neufassung des Vermögensrechts im BW zum 1.1.1992 einige Normen des Gesetzbuchs, die auf die Wahrung von Recht und Billigkeit zwischen den Parteien abzielen, als Anknüpfungspunkt für teleologische Erwägungen, die zu einem anderen Ergebnis als die übrigen Interpretationsmittel führen können. Die Notwendigkeit für solche Erwägungen sei allerdings bei einem jungen Gesetz eher als gering anzusehen.59
2. Das Vorgehen des Hoge Raad Der Hoge Raad stellt in seiner Rechtsprechung maßgeblich auf den Wortsinn und die aus den Gesetzgebungsmaterialien ersichtliche Absicht des Gesetzgebers ab.60 Daneben verwendet er in einigen Fällen systematische Argu53 Chin-Oldenziel/Belkaid-Koubia, in: Wetenschappelijk Bijdragen, S. 125, 131; Groenewegen, Wetsinterpretatie, S. 100–102, 107–108 (s. dort zu Details dieses Auslegungsmittels S. 111–123); Hartkamp, Wetsuitleg, S. 14; Scholten, Algemeen deel, S. 41–44. S. zur Bedeutung der Gesetzgebungsmaterialien auch Duk, Recht en schlecht, S. 105. 54 Brouwer, Recht, S. 602–603. 55 Scholten, Algemeen deel, S. 119–120, erläutert die teleologische Methode allein anhand eines Beispiels aus der Rechtsprechung und stellt dabei u.a. auf die Vorstellungen des Gesetzgebers ab. Sehr zurückhaltend gegenüber der teleologischen Auslegung Duk, Recht en schlecht, S. 109. 56 Brouwer, Recht, S. 608. 57 Groenewegen, Wetsinterpretatie, S. 173–174. 58 Duk, Recht en schlecht, S. 109. 59 Hartkamp, Wetsuitleg, S. 26–29. S. dazu auch Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 109–110. 60 S. z.B. Hoge Raad 29.10.1999 NL:HR:1999:AA1485 Rn. 3.4; Hoge Raad 28.4.2000 NL:HR:2000:AA5634 Rn. 3.4.1; Hoge Raad 8.11.2003 NL:HR:2002:AE8460 Rn. 3.3.3;
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Kapitel 5: Die Niederlande
mente, die die Stellung der auszulegenden Norm innerhalb des jeweiligen Gesetzes betreffen.61 In der Literatur heißt es, der Hoge Raad stütze sich in erster Linie auf den Wortsinn, die Gesetzgebungsgeschichte, den Zweck des Gesetzes und die Konsequenzen, die mit verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten verbunden sind.62 Der Zweck des Gesetzes, auf den sich der Hoge Raad bei dem Blick auf die Folgen der im von Wissink zitierten Fall diskutierten Auslegungsmöglichkeiten stützt, ist allerdings aus der Gesetzgebungsgeschichte abgeleitet.63 Gegenüber den zuvor zitierten Entscheidungen des Hoge Raad ergibt sich also aus diesem Urteil keine abweichende Auslegungsmethode, insbesondere kein Rückgriff auf einen „objektiven“ Gesetzeszweck. Auch Wissink betont, dass Wortsinn und Gesetzgebungsgeschichte in der Auslegungspraxis der Gerichte eine wesentliche Rolle spielen.64 Eine feste Rangordnung unter den Auslegungsmitteln verwendet der Hoge Raad nicht,65 insbesondere ist der Wortsinn einer Norm nicht unbedingt ausschlaggebend für ihre Auslegung66.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung ist in der niederländischen Rechtsprechung und Literatur anerkannt.67 Dabei kritisiert ein Teil der Literatur die Rechtsprechung des Hoge Raad als nicht weitgehend genug.68
Hoge Raad 24.1.2003 NL:HR:2003:AF0189 Rn. 3.3.2; Hoge Raad 11.3.2005 NL:HR:2005:AR6657 4.1.2; Hoge Raad 14.10.2005 NL:HR:2005:AT6856 Rn. 3.5; Hoge Raad 9.7.2010 NL:HR:2010:BM3975 Rn. 3.6.4; Hoge Raad 2.12.2016 NL:HR:2016:2740 Rn. 3.4.4. Nach Jaspers, Rapport Neerlandais, S. 134, 138, berücksichtigen die Gerichte unter den verschiedenen Materialien fast ausschließlich die Stellungnahmen der Minister, die das Gesetzgebungsprojekt vorstellen. 61 Hoge Raad 18.6.2010 NL:HR:2010:BM0893 Rn. 3.6; Hoge Raad 8.10.2010 NL:HR:2010:BM6095 Rn. 4.3.2.; Hoge Raad 1.4.2011 NL:HR:2011:BP4454 Rn. 4.2.2.; Hoge Raad 2.9.2016 NL:HR:2016:2012 Rn. 4.6.3. 62 Wissink, in: Influence of EU Law, S. 119, 147, unter Berufung auf Hoge Raad 9.12.2011 NL:HR:2011:BU7412. 63 Hoge Raad 9.12.2011 NL:HR:2011:BU7412 Rn. 3.7 i.V.m. 3.6.1. 64 Wissink, in: Influence of EU Law, S. 119, 148, 150. 65 Wissink, in: Influence of EU Law, S. 119, 148. 66 Hoge Raad 9.12.2011 NL:HR:2011:BU7412 Rn. 3.5. Im Zusammenhang mit einer richtlinienkonformen Auslegung Hoge Raad 5.4.2013 NL:HR:2013:BZ1780 Rn. 3.7. 67 S. dazu insbesondere Wissink, Richtlijnconforme interpretatie. S. auch Hartkamp, Deel I, Rn. 181–189. 68 Smits/van Schagen, in: Het zwijgen, S. 79, 80–81.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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1. Die richtlinienkonforme Auslegung in der Rechtsprechung In der einschlägigen Rechtsprechung spielen – wie auch bei der Gesetzesauslegung im Allgemeinen – der Wortsinn und die Gesetzgebungsgeschichte der Norm eine wesentliche Rolle für die Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung.69 a) Die begrenzende Wirkung des Wortsinns Die Frage, ob der eindeutige Wortsinn der richtlinienkonformen Auslegung Grenzen setzt, hat der Hoge Raad nicht einheitlich entschieden. Einerseits hat er in mehreren Fällen eine richtlinienkonforme Auslegung unter Berufung auf den entgegenstehenden Wortsinn der betroffenen Norm abgelehnt.70 Dabei hat er gelegentlich auch den Grundsatz der Rechtssicherheit71 oder das Verbot der Auslegung contra legem72 herangezogen. In einem der Fälle hat er neben dem Wortsinn auf die Gesetzesbegründung abgestellt, die in dieselbe Richtung wies wie der Wortsinn.73 Andererseits hat sich der Hoge Raad in zwei weiteren, älteren Entscheidungen gar nicht zur Möglichkeit der Auslegung nationalen Rechts geäußert, sondern sich schlicht auf die Vorgabe des EuGH berufen, um eine richtlinienkonforme Lösung im nationalen Recht zu begründen. Der erste Fall betraf die Sanktion für einen Verstoß gegen das Verbot der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in dem Rechtsstreit, der als Rechtssache Dekker beim EuGH entschieden wurde. Der Hoge Raad hat nach der Entscheidung des EuGH das Rechtsmittel von Frau Dekker als begründet angesehen, weil das Instanzgericht nicht beachtet hat, dass es auf ein Verschulden des Arbeitgebers nach der Rechtsprechung des EuGH nicht ankommt.74 In der Literatur heißt es, der Hoge Raad habe damit zu erkennen 69 Dazu Wissink, in: Influence of EU Law, S. 119, 150. S. zur Herangehensweise des Hoge Raad auch Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 152–154, der dort vor allem darauf Bezug nimmt, dass der Hoge Raad bei Umsetzungsgesetzen auf den Umsetzungswillen abstellt, soweit dieser nicht klar fehlt. 70 Hoge Raad 20.10.1995 NL:HR:1995:ZD0328 Rn. 3.5 (zustimmend Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 158; dagegen hält Swaak, EPL 2 (1996), 219, 223, die einschlägigen Normen für auslegungsfähig); Hoge Raad 25.10.1996 NL:HR:1996:ZC2177 Rn. 3.4 (kritisch Betlem/Nollkaemper, EJIL 2003, 569, 581); Hoge Raad 5.6.2009 NL:HR:2009:BH2815 Rn. 4.7.4 (so bereits Generalanwältin de Vries Lentsch-Kostense in ihrem Gutachten zu dieser Entscheidung, NL:PHR:2009:BH2815 Rn. 6.23); Hoge Raad 13.6.2014 NL:HR:2014:1385 Rn. 3.5.4. Dazu Haket, REALaw 8 (2015), 215, 237–238. 71 Hoge Raad 25.10.1996 NL:HR:1996:ZC2177 Rn. 3.4. Kritisch zu diesem Argument Swaak, EPL 2 (1996), 219, 223. 72 Hoge Raad 13.6.2014 NL:HR:2014:1385 Rn. 3.5.4. 73 Hoge Raad 20.10.1995 NL:HR:1995:ZD0328 Rn. 3.5. 74 Hoge Raad 13.9.1991 NJ 1992, Nr. 225 Rn. 2.1.
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Kapitel 5: Die Niederlande
gegeben, dass das Umsetzungsgesetz im Sinne einer verschuldensunabhängigen Haftung auszulegen ist.75 Im zweiten Fall ging es um die Unwirksamkeit einer Kündigung aufgrund eines Betriebsübergangs und die Frage, ob diese innerhalb einer bestimmten Frist geltend zu machen ist. Obwohl das niederländische Recht eine sechsmonatige Klagefrist vorsah, entschied der Hoge Raad, dass diese Klagefrist keine Anwendung findet, wenn eine Kündigung aufgrund eines Betriebsübergangs unwirksam ist. Er berief sich darauf, dass die niederländische Gesetzgebung zum Betriebsübergangsrecht die Richtlinie umsetzen soll und dass aus der EuGH-Rechtsprechung deutlich werde, dass die Unwirksamkeit der Kündigung ohne weiteres Handeln des Betroffenen eintritt.76 In der Literatur wird dieser Entscheidung in zweierlei Hinsicht Bedeutung zugemessen. Zum einen zeige sie, welchen Stellenwert der Hoge Raad dem Umsetzungswillen des Gesetzgebers einräume. Zum anderen werde deutlich, dass das Gericht eine restriktive Interpretation des nationalen Rechts nicht scheut, wenn es darum geht, das Ziel einer Richtlinie zu erreichen. Die Abgrenzung zwischen der – zulässigen – einschränkenden Interpretation und der – unzulässigen – Auslegung contra legem sei hier zugunsten ersterer gelöst.77 Offen bleibt bei dieser Bewertung, inwiefern es sich bei dieser Entscheidung um eine einschränkende Auslegung und nicht um eine teilweise Nichtanwendung der Norm handelt. Dasselbe gilt für die zuvor erwähnte Entscheidung zur verschuldensunabhängigen Haftung bei Geschlechtsdiskriminierung. Zwar kann man sagen, dass der Hoge Raad zu einem methodengerechten Ergebnis nur im Wege der richtlinienkonformen Auslegung gelangen konnte. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass den Entscheidungen jeweils eine ihrerseits regelgerechte richtlinienkonforme Auslegung zugrunde liegt. In einem weiteren Fall ging der Hoge Raad auf den Wortsinn der Norm ein, hielt ihn aber nicht für ausschlaggebend. Eine richtlinienkonforme Auslegung sei möglich, wenn der Gesetzgeber den Willen zur Umsetzung gehabt und den nun problematischen Fall nicht ins Auge gefasst habe. Weder der Wortsinn noch Erwägungen zur Rechtssicherheit oder zum Verbot der Auslegung des nationalen Rechts contra legem stünden in einem solchen Fall der richtlinienkonformen Auslegung entgegen.78 Schließlich hat der Hoge Raad
75
Hartkamp, Deel I, Rn. 186. Hoge Raad 29.12.1995 NL:HR:1995:ZC1943 Rn. 3.4. Stein, Anm. zu Hoge Raad 29.12.1995, NJ 1996, 418, spricht von einer Lückenfüllung durch den Hoge Raad. 77 Hartkamp, Deel I, Rn. 185. 78 Hoge Raad 5.4.2013 NL:HR:2013:BZ1780 Rn. 3.7. So bereits mit ausführlicher Begründung Generalanwalt Wissink in seinem Gutachten zu dieser Entscheidung, NL:PHR:2013:BZ1780 Rn. 2.39–2.74. Zustimmend – allerdings kritisch zu der dahinterstehenden Entscheidung des EuGH vom 21.10.2010 EU:C:2010:625 (Albron Catering) – Bouwens, JOR 2013, 125, 2002, 2004. 76
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
169
in einem Urteil aus dem Jahr 2017 entschieden, dass eine Norm aus dem Gesetz zur Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie die Formulierung „keine Hindernisse … für den Abschluss eines Arbeitsvertrags“ angesichts des Umsetzungswillens des Gesetzgebers richtlinienkonform als „keine Hindernisse … für den Abschluss eines Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses“ auszulegen ist, ohne diese Ergänzung des Normtextes zu problematisieren.79 Nach Wissink hat der Hoge Raad auch in einem weiteren Urteil eine richtlinienkonforme Auslegung in einem Fall vorgenommen, in dem der Wortsinn der Norm dieser auf den ersten Blick entgegenstand.80 Bei dieser Entscheidung ging es jedoch nicht um einen Fall der richtlinienkonformen Auslegung im eigentlichen Sinne. Gegenstand der Entscheidung war die Anwendbarkeit des Betriebsübergangsrechts im Konkurs. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Betriebsübergangsrichtlinie in diesen Fällen nicht anwendbar. Die Mitgliedstaaten können aber eine Anwendung des Betriebsübergangsrechts im Konkurs vorsehen.81 Die Umsetzungsnorm, Art. 1639aa BW a.F., enthielt keine ausdrückliche Beschränkung ihres Anwendungsbereichs auf Fälle außerhalb des Konkurses. Der Hoge Raad entschied, dass sie trotz ihrer allgemeinen Fassung im Fall des Konkurses nicht anwendbar ist. Es gebe keinen Grund zu der Annahme, dass die Norm einen weiteren Anwendungsbereich haben sollte als nach dem Urteil des EuGH erforderlich. Die weite Formulierung allein spreche nicht für eine überschießende Umsetzung, für die sich in den Gesetzgebungsmaterialien keine Stütze finde.82 In diesem Fall ging es also nicht um Auslegungsbemühungen, um der Richtlinie gerecht zu werden, sondern allein um die Frage, ob der Gesetzgeber mit dem Umsetzungsgesetz eine Regelung geschaffen hat, die über das hinausgeht, was die Richtlinie verlangt. Wenig Schwierigkeiten bereiten Umsetzungsregelungen mit Formulierungen, die deutlich Interpretationsspielraum bieten. Das zeigt ein Urteil des Hoge Raad aus dem Jahr 1997 zur Auslegung des Begriffs der nach Art. 6:231 BW von der AGB-Kontrolle ausgenommenen „Kernbestimmungen“ eines Vertrags. Das Gericht sprach sich gestützt auf die Vorgaben der RL 93/13/EWG und den Umsetzungswillen des Gesetzgebers für eine enge Aus-
79
Hoge Raad 14.4.2017 NL:HR:2017:689 Rn. 3.3.7., Übersetzung d. Verf. Für eine derartige richtlinienkonforme Interpretation bereits Generalanwältin de Bock in ihrem Gutachten zu dieser Entscheidung, NL:PHR:2017:46 Rn. 10.2–10.5, die in Rn. 9.5–9.6 ihres Gutachtens zwar die Frage der begrenzenden Wirkung des Wortsinns anspricht, sich dann aber, ohne weiter darauf einzugehen, in Rn. 10.5 maßgeblich auf die Entstehungsgeschichte stützt. 80 Wissink, in: Influence of EU Law, S. 119, 150 (Fn. 94), Bezug nehmend auf Hoge Raad 30.10.1987 NL:HR:1987:AD0033. 81 EuGH 7.2.1985 EU:C:1985:55 (Abels) Rn. 24. 82 Hoge Raad 30.10.1987 NL:HR:1987:AD0033 Rn. 3.1.
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Kapitel 5: Die Niederlande
legung des Begriffs aus. Die niederländischen Regelungen über die AGBKontrolle seien so auszulegen, dass sie dem Verbraucher zumindest das Schutzniveau bieten, das die Richtlinie vorsieht. Entscheidend sei, ob der Punkt von so wesentlicher Bedeutung ist, dass der Vertrag ohne diese Klausel nicht abgeschlossen worden wäre. Die Bestimmungen des Lotto-Anbieters, die dem Rechtsstreit zugrunde lagen, betrafen lediglich die Modalitäten des Lottospiels, sodass der Hoge Raad diese Regelungen nicht als Kernbestimmungen i.S.d. Art. 6:231 BW einordnete.83 b) Der Umsetzungswille Ist der Wortsinn für ein richtlinienkonformes Verständnis der Norm offen, kann der Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte Schwierigkeiten bei der richtlinienkonformen Interpretation bereiten, die der Hoge Raad aber soweit wie möglich ausräumt. So soll es bei offenem Wortsinn nicht auf konkrete richtlinienwidrige Vorstellungen des Gesetzgebers vom Inhalt der Norm ankommen, wenn aus der Gesetzgebungsgeschichte ersichtlich ist, dass er die Richtlinie korrekt umsetzen wollte.84 Ferner heißt es in einer weiteren Entscheidung, in der der Wortsinn für die richtlinienkonforme Auslegung offen war, dass der Wille zur Schaffung einer richtlinienkonformen Regelung zu vermuten ist. Der Gesetzgeber müsse einen entgegenstehenden Willen deutlich zum Ausdruck bringen. Nur dann stehe der richtlinienkonformen Interpretation der Grundsatz der Rechtssicherheit entgegen.85 c) Die richtlinienkonforme Auslegung von Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. Die Zweifel im Umgang mit den Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung haben sich auch bei der Diskussion um die richtlinienkonforme Auslegung von Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. bemerkbar gemacht. Der Gesetzgeber hat das Problem zum 1.1.2012 beseitigt, indem er die Regelung gestrichen hat. Zuvor wurde die Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung der Norm aber nicht einheitlich beurteilt. Während die Rechtbank Utrecht 2009 eine richtlinienkonforme Auslegung vornahm, folgte der Gerechtshof Ams-
83
Hoge Raad 19.9.1997, Nr. 16382, RvdW 1997, 177 Rn. 3.4.2. Hoge Raad 21.9.2012 NL:HR:2012:BW5879 Rn. 5.1.3. Befürwortend Wissink, in: Influence of EU Law, S. 119, 151–152, unter Berufung auf EuGH 29.4.2004 EU:C:2004:275 (Björnekulla Fruktindustrier) und Widdershoven, AB Rechtspraak Bestuursrecht, 2012, 367, 2158, 2159. 85 Hoge Raad 10.8.2007 NL:HR:2007:AZ3758 Rn. 3.4. In dem Urteil, das einen steuerrechtlichen Kontext hat, ging der Hoge Raad in Rn. 3.5 letztlich davon aus, dass der Umsetzungswille klar zu Tage getreten ist. Entscheidungen aus dem Bereich des Verwaltungsrechts zeigen, dass die richtlinienkonforme Auslegung nicht auf Umsetzungsnormen beschränkt ist, s. Haket, REALaw 8 (2015), 215, 233–234. 84
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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terdam der engeren Linie des Hoge Raad, indem er auf den Wortsinn und die Gesetzesmaterialien abstellte und einen Auslegungsspielraum verneinte.86 Nach Auffassung des Gerechtshofs Amsterdam enthält Art. 7:635 Abs. 4 S. 1 BW a.F. eine ausdrückliche Ausnahme vom Anspruch auf den Mindestjahresurlaub, die vom Gesetzgeber bewusst aufgenommen worden sei, um das Ansammeln von Urlaub zu vermeiden und die Kosten der Erkrankung von Arbeitnehmern für die Arbeitgeber überschaubar zu halten. Eine richtlinienkonforme Auslegung sei unter diesen Umständen aufgrund des Verbots des Contra-legem-Judizierens nicht möglich.87 Möglicherweise wäre die Entscheidung anders ausgefallen, wenn der Gerechtshof erst nach der Entscheidung des Hoge Raad aus dem Jahr 2013, in der dieser sich angesichts des Umsetzungswillens des Gesetzgebers entgegen dem Wortsinn der dort betroffenen Norm für eine richtlinienkonforme Auslegung ausgesprochen hat, mit der Auslegung des Art. 7:635 Abs. 4 S. 1 BW a.F. befasst gewesen wäre. Allerdings unterscheidet sich die Sachlage in den beiden Rechtsstreitigkeiten in einem entscheidenden Punkt. Der Hoge Raad stellte darauf ab, dass der Gesetzgeber die Betriebsübergangsrichtlinie korrekt in nationales Recht umsetzen wollte und dabei den Fall des Auseinanderfallens von Anstellung und tatsächlicher Beschäftigung im Konzern nicht vor Augen hatte.88 Dagegen stellte der Gerechtshof Amsterdam fest, dass der Gesetzgeber bewusst eine ausdrückliche Ausnahme vom Anspruch auf den Mindestjahresurlaub geschaffen hat.89 Er konnte sich also nicht darauf stützen, dass der Gesetzgeber bei generellem Umsetzungswillen den streitigen Punkt nicht vor Augen hatte. Vor diesem Hintergrund ist die Argumentation des Hoge Raad auf die Frage der Auslegungsfähigkeit des Art. 7:635 Abs. 4 S. 1 BW a.F. nicht übertragbar. Auch die Vorgabe des Hoge Raad, dass bei offenem Wortsinn der allgemeine Umsetzungswille des Gesetzgebers Vorrang vor seinen richtlinienwidrigen Einzelvorstellungen hat,90 führt hier zu keinem anderen Ergebnis. Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. enthielt eine Ausnahme von der allgemeinen Regel zum Aufbau von Urlaubsansprüchen für erkrankte Arbeitnehmer. Die Norm ließ sich nicht sinnvoll so verstehen, dass sie für erkrankte Arbeitnehmer nicht gelten sollte. Sie wäre bei dieser Lesart inhaltslos.
86 Rechtbank Utrecht 14.10.2009 NL:RBUTR:2009:BK0017; Gerechtshof Amsterdam 10.11.2009 NL:GHAMS:2009:BK4648. 87 Gerechtshof Amsterdam 10.11.2009 NL:GHAMS:2009:BK4648 Rn. 3.9.5. unter Berufung auf Kamerstukken II 1985/86, 19 575, Nr. 3, S. 8. 88 Hoge Raad 5.4.2013 NL:HR:2013:BZ1780 Rn. 3.7. 89 Gerechtshof Amsterdam 10.11.2009 NL:GHAMS:2009:BK4648 Rn. 3.9.5. unter Berufung auf Kamerstukken II 1985/86, 19 575, Nr. 3, S. 8. 90 Hoge Raad 21.9.2012 NL:HR:2012:BW5879 Rn. 5.1.3.
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Kapitel 5: Die Niederlande
Die Argumentation der Rechtbank Utrecht, die im Jahr 2009 ein richtlinienkonformes Ergebnis erzielte, indem sie Art. 7:635 Abs. 4 BW in Zusammenschau mit Art. 7:638 BW interpretierte, wird in der Literatur zu Recht abgelehnt. Das Gericht stellte auf die Verpflichtung des Arbeitgebers aus Art. 7:638 BW ab. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer in jedem Jahr die Inanspruchnahme des Mindesturlaubs ermöglichen. An dieser Verpflichtung ändere die Begrenzung des Aufbaus von Urlaubstagen nach Art. 7:635 Abs. 4 BW nichts.91 Diese Auslegung beachtet nicht ausreichend, dass der Umfang des Mindesturlaubsanspruchs erkrankter Arbeitnehmer nach Art. 7:635 Abs. 4 BW a.F. beschränkt sein konnte. Art. 7:638 BW betrifft lediglich die Gewährung anderweitig festgestellter Urlaubsansprüche. Die Norm bewirkt nicht, dass dem Arbeitnehmer unabhängig von Regeln außerhalb des Art. 7:634 BW, die den Aufbau des Urlaubsanspruchs beschränken, stets der Mindesturlaub zu gewähren ist.92
2. Die richtlinienkonforme Auslegung im Spiegel der Literatur Die niederländische Literatur sieht die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung nicht als Ergebnispflicht. Die Entscheidung darüber, ob eine richtlinienkonforme Auslegung im Einzelfall möglich ist, liege letztlich in der Hand des nationalen Richters.93 a) (Kein) Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung Im Verhältnis zu anderen Interpretationsmethoden geben einige Autoren der richtlinienkonformen Auslegung Vorrang.94 Dieser Vorrang ergebe sich zwar weder aus dem europäischen noch aus dem niederländischen Recht. Er sei aber aus drei Gründen zu befürworten. Zunächst stehe ein solcher Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung mit dem Vorrang des Unionsrechts im Einklang. Wenn die einschlägige Richtlinienvorschrift Direktwirkung habe, verhindere die Auslegung außerdem die Nichtanwendung der ohne diese Auslegung nicht richtlinienkonformen nationalen Norm. Schließlich vermeide die richtlinienkonforme Auslegung auch Ansprüche gegen den Staat wegen der nicht korrekten Umsetzung der Richtlinie.95 Nach anderer Auf91
Rechtbank Utrecht 14.10.2009 NL:RBUTR:2009:BK0017 Rn. 4.7. Peters/Franssen, TRA 2010, 22, 5, 7. 93 Prinssen, Doorwerking, S. 208–209; Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 105–107. 94 Hartkamp, Deel I, Rn. 184; Prechal, C.M.L. Rev. 42 (2005), 1445, 1459. 95 Hartkamp, Deel I, Rn. 184. Der von Hartkamp an dieser Stelle zitierte Keus äußert sich in Europees privaatrecht, 2010, 12.5, S. 53 (diese Auflage wird von Hartkamp zitiert), in erster Linie zum Verhältnis der richtlinienkonformen Auslegung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien. Er spricht sich außerdem dafür aus, die richtlinienkonforme Aus92
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
173
fassung ist ein solcher Vorrang mit Vorsicht zu betrachten, weil er schnell zu Ergebnissen führen kann, die als contra legem einzustufen sind. Weiter heißt es, der Vorrang des Unionsrechts sei nicht geeignet, die richtlinienkonforme Auslegung zu erklären. Der Vorrang des Unionsrechts könne nicht den Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung vor anderen Auslegungsmethoden begründen.96 Die richtlinienkonforme Auslegung sei vielmehr ranggleich mit den übrigen nationalen Auslegungskriterien zu verwenden. Sie habe allerdings unter den Auslegungsmitteln erhebliches Gewicht. Um diesem Gewicht Rechnung zu tragen, sei die Richtlinienkonformität der auszulegenden nationalen Regelung zu vermuten. Zu begründen sei nicht, warum eine richtlinienkonforme Auslegung möglich sei, sondern warum sie nicht möglich sei.97 Vertreten wird ferner, dass die nationalen Methoden soweit nötig und möglich angepasst werden müssten, um eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts zu gewährleisten. Dass unterschiedliche nationale Methoden unterschiedliche Auslegungsergebnisse nach sich ziehen können, ist nach dieser Auffassung ein Nachteil des Rückgriffs auf die jeweiligen Regeln des nationalen Rechts.98 Andere Autoren bewerten diese Unterschiede nicht negativ oder befürworten sie sogar als Ausfluss der Pluralität in der EU.99 b) Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung Die niederländische Literatur befasst sich auch mit den Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung. Der Wortsinn scheint von einigen als auslegungsbegrenzend angesehen zu werden. Das wird zwar nicht immer ausdrücklich und mit Bestimmtheit ausgesprochen, lässt sich aber aus einigen Ausführungen ableiten.100Prechal schreibt, der Ausdruck contra legem scheine eine Auslegung zu bezeichnen, die eindeutig vom Ergebnis eines ersten, wörtlichen Verständnisses der Norm abweicht. Es gehe in solchen Fällen in der Regel
legung als festes, normales, aber nicht von vornherein ausschlaggebendes Auslegungskriterium zu verwenden. So auch weiterhin (in der aktuellen Auflage) Keus, Europees privaatrecht, S. 73. 96 Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 130–131; ders., in: Influence of EU Law, S. 119, 146. Gegen einen generellen Vorrang, wie bereits erwähnt, auch Keus, Europees privaatrecht, S. 73. 97 Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 143–145, 150. 98 Prechal, C.M.L. Rev. 42 (2005), 1445, 1459. 99 Neutral Kapteyn, in: European Union, S. 511, 531; Wissink, in: Influence of EU Law, S. 119, 124. Befürwortend Haket, REALaw 8 (2015), 215, 221. 100 Ausdrücklich in diesem Sinne Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 259; Prinssen, Doorwerking, S. 48, 209. S. ferner Betlem/Nollkaemper, EJIL 2003, 569, 576–577, die zwar feststellen, dass gelegentlich der Normtext überschritten wird, die Textgrenze aber unter verschiedenen Aspekten für maßgeblich halten.
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Kapitel 5: Die Niederlande
darum, eine bestimmte Auslegung zu wählen, obwohl der Wortsinn nicht entsprechend gedehnt werden könne. Kategorisch will sie diese Grenze jedoch nicht gelten lassen, da sie im nationalen Recht ebenfalls nicht unumstößlich sei.101 Nach einer weiteren Auffassung ist Raum für eine richtlinienkonforme Interpretation gegeben, wenn der Normtext mehrdeutig ist.102 Das bedeutet umgekehrt, dass eine Entscheidung, die sich mit dem Gesetzestext nicht vereinbaren lässt, eine Auslegung contra legem ist. Auch Überlegungen, in denen es um die Möglichkeit einer vom Wortsinn abweichenden Auslegung geht,103 weisen in diese Richtung. Nach einer Auffassung in der Literatur relativiert das Gebot, alle Auslegungskriterien zu verwenden, um ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erzielen, die Contra-legem-Grenze. Bei diesen Auslegungsbemühungen seien nach der Rechtsprechung des EuGH auch nationale Regeln zur Auflösung einer Kollision rangverschiedener Normen anzuwenden. Mit dieser Überlegung knüpfe der EuGH wohl an die verfassungs- oder primärrechtskonforme Auslegung an. Zu berücksichtigen sei, dass der niederländische Richter auch außerhalb dieser Konstellationen einen weiten Spielraum habe, vom Wortsinn der Norm abzuweichen.104 Da, wie soeben dargelegt, der Hoge Raad zumindest in einigen Fällen eine dem Wortsinn nicht entsprechende Entscheidung getroffen hat, um der einschlägigen Richtlinie zu entsprechen, ist der Wortsinn in den Niederlanden jedenfalls in der Praxis dieses obersten Gerichts keine unumstößliche Grenze der richtlinienkonformen Auslegung. Während die vorstehenden Aussagen auf der Prämisse beruhen, dass der Wortsinn die Contra-legem-Grenze markiert, sind nach Wissink bei der Frage, ob eine richtlinienkonforme Auslegung möglich ist, alle Auslegungsmittel zu beachten. Die Fragen nach den Auslegungsmöglichkeiten und den Grenzen der Auslegung fielen zusammen. Sei unter Berücksichtigung der Zielsetzung der Richtlinie eine ihr entsprechende Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich, dann sei eine solche Auslegung als contra legem anzusehen.105 Nach seiner Auffassung bilden also die nationalen Auslegungsmethoden insgesamt die Contra-legem-Grenze.106
101
Prechal, Directives, S. 207. S. auch dies., Weekblad 1991, 1596, 1597, wo es heißt, die Norm müsse auslegungsfähig sein, auch der Richter könne aus einer Kuh keinen Hund machen. 102 Swaak, EPL 2 (1996), 219, 223. 103 Hartkamp, Deel I, Rn. 183. 104 Hartkamp, Deel I, Rn. 183. 105 Wissink, in: Influence of EU Law, S. 119, 146–147. S. auch ders., Richtlijnconforme interpretatie, S. 202–203. 106 Das entspricht der hier für die deutsche Methodik vertretene Auffassung, s. oben S. 151–152.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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In Anlehnung an die Ausführungen des Generalanwalts in der Rechtssache Dansk Industri wird ferner vertreten, dass eine richtlinienkonforme Auslegung möglich ist, wenn der Wortsinn der Norm sie zulässt. Der Wortsinn begrenze die Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung aber nicht. Wenn die wörtliche Bedeutung der Norm richtlinienwidrig sei, aber Anhaltspunkte für ein abweichendes Normverständnis bestehen – z.B. aufgrund von Äußerungen im parlamentarischen Verfahren – müsse der Richter diese Gelegenheit zur richtlinienkonformen Auslegung ergreifen.107 Das bedeutet, dass sich letztlich das Auslegungskriterium durchsetzt, das zu einem richtlinienkonformen Ergebnis führt. Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung werden von einigen Autoren auch unter funktionalen Gesichtspunkten betrachtet, indem an die Position des Richters im Staatsgefüge erinnert wird.108 Bei gravierenden Umsetzungsfehlern stoße er an die Grenzen seiner Befugnisse.109 Der Grundsatz der Gewaltenteilung werfe verhältnismäßig wenig Probleme auf, wenn Umsetzungsrecht vorhanden ist, weil in diesen Fällen die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung und der zumindest vermutete Wille des Gesetzgebers, die Richtlinie korrekt umzusetzen, in dieselbe Richtung weisen. Schwierigkeiten träten auf, wenn aus den Materialien ersichtlich ist, dass der Wille des Gesetzgebers nicht den Vorgaben der Richtlinie entspricht und das auch Niederschlag im Normtext gefunden hat. In diesem Zusammenhang sei der Hinweis des EuGH zu beachten, wonach die Auslegungsverpflichtung auch dann besteht, wenn sich aus den vorbereitenden Arbeiten zur nationalen Regelung entgegenstehende Auslegungshinweise ergeben.110 Mit Blick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung sei die entscheidende Frage, ob der nationale Richter im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung über das hinausgehen kann, was nach nationalem Recht seine anerkannte Rolle ist. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergebe sich allerdings keine Antwort auf diese Frage. „Soweit möglich“ lasse sich zwar verstehen als „soweit der Richter keine gesetzgeberischen Aufgaben übernimmt“, aber das kläre nicht, nach welchen Maßstäben die richterliche Funktion zu bestimmen sei. Auch der Rückgriff auf die Formulierung „im Rahmen ihrer Zuständigkeiten“ aus der von Colson Entscheidung trage nicht zur Klärung dieser Frage bei, da diese Formulierung eng oder weit verstanden werden könne. Letztlich sei eine Erweiterung der Befugnisse des Richters im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung jedoch abzulehnen. Dafür wird u.a. angeführt, dass es sich letztlich um die Anwendung nationalen Rechts, nicht dagegen um die 107
Vas Nunes, ArA 2016, 54, 64. S. neben der nachfolgend zitierten Literatur auch Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 245–253. 109 van Harten/Jans in: Eijsbouts/Jans, Europees Recht, S. 330–331. 110 Prechal, Directives, S. 201. 108
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Kapitel 5: Die Niederlande
direkte Anwendung einer Richtlinie handele und die Rechtsgrundlage für eine derartige Ausweitung der richterlichen Funktion zweifelhaft sei.111 c) Die begrenzende Wirkung allgemeiner Rechtsgrundsätze Außerdem greift die Literatur die Rechtsprechung des EuGH zur begrenzenden Funktion der allgemeinen Rechtsgrundsätze auf.112 Unter Berufung auf diese Rechtsprechung wird dargelegt, dass das Rechtssicherheitsprinzip und das Rückwirkungsverbot die richtlinienkonforme Auslegung begrenzen.113 Einige Autoren weisen darauf hin, dass diese Grundsätze vor allem im Strafrecht eine Rolle spielen. Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung seien rechtsgebietsbezogen zu bestimmen, die Aussagen des EuGH aus Verfahren mit strafrechtlichem Hintergrund seien für das Zivilrecht nicht ohne Weiteres passend.114 In der niederländischen Literatur wird das Verbot des Contra-legem-Judizierens nicht selten mit dem Rechtssicherheitsgrundsatz verknüpft.115 Das Verbot, contra legem zu entscheiden, könne als Ausprägung des Rechtssicherheitsprinzips betrachtet werden. Es gehe dabei um die Rechtssicherheit in der Variante der Vorhersehbarkeit des Rechts.116 Allerdings werde im nationalen Recht gelegentlich contra legem entschieden. Zudem sei Rechtssicherheit ein flexibles Prinzip, das verschiedene Auslegungen zulasse und nicht um jeden Preis zu gewährleisten sei. Daher sollte nicht ausgeschlossen werden, dass die richtlinienkonforme Auslegung gelegentlich
111
Prechal, Directives, S. 201–203. S. die in Kapitel 3 Fn. 26 und 27 zitierten Urteile. 113 Betlem, in: Europese recht, S. 97, 125–126; Hartkamp, Deel I, Rn. 183. Ausführlich zu den Grenzen, die sich aus dem Rechtssicherheitsprinzip ergeben, Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 175–207. 114 Prechal, Directives, S. 204–205, 213–214; Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 184–185. Wissink sieht z.B. eine Rückwirkung im Zivilrecht nicht grundsätzlich als problematisch an (ebda. S. 198–201). Prinssen, Doorwerking, S. 52, verweist zwar nicht in erster Linie auf das Strafrecht, betont aber, dass der Rechtssicherheitsgrundsatz sich in unterschiedlichen Rechtsgebieten unterschiedlich auswirkt. S. auch Betlem, in: Europese recht, S. 97, 125–126. 115 van Harten/Jans, in: Eijsbouts/Jans, Europees Recht, S. 331; Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 61–63; Prechal, Directives, S. 207; Prinssen, Doorwerking, S. 52 (nach der das Rechtssicherheitsprinzip den Kern der Grenzziehung bei der richtlinienkonformen Auslegung bildet, mit dessen Anwendung zugleich die Contra-legem-Grenze und die Grenzen der richterlichen Befugnisse gewahrt werden); Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 201 (s. dort auch S. 187–188: Der Grundsatz der Rechtssicherheit sei mitentscheidend bei der Frage, inwieweit ein richtlinienkonformes Verständnis des nationalen Rechts möglich ist). 116 Prechal, Directives, S. 207. S. auch Prinssen, Doorwerking, S. 52, die den Rechtssicherheitsgrundsatz durch richtlinienkonforme Auslegung u.a. dann verletzt sieht, wenn das nationale Recht keine ausreichende Stütze für Gemeinschaftskonformität bietet. 112
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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eine Auslegung contra legem verlangt oder zu ihr führt.117 Das Rechtssicherheitsprinzip komme vor allem zum Tragen, wenn die nationale Regelung klar formuliert ist. Regeln, die in klarer Sprache aufgestellt sind, könnten nicht in einem Sinne verstanden werden, den der Normtext nicht trägt. In diesen Fällen hätten sprachliche Argumente wahrscheinlich Vorrang vor richtlinienbezogenen Argumenten. Sei eine Norm nicht in diesem Sinne unzweideutig, seien unter dem Aspekt der Rechtssicherheit dennoch Argumente wie die Absicht des Gesetzgebers und der Kontext der Norm bei der Auslegung zu berücksichtigen.118 Nicht ganz deutlich wird dabei, wie sich die Aussage, dass bei einem klaren Wortsinn eine richtlinienkonforme Auslegung wohl nicht in Betracht kommt, zu der vorherigen Aussage verhält, nach der eine Auslegung contra legem – die als Auslegung über die Grenzen der möglichen Wortbedeutung hinaus verstanden wird – nicht generell auszuschließen ist. Möglicherweise ist in beiden Passagen der Blick auf die relativierenden Worte (wohl, wahrscheinlich) zu richten. Dann lassen sich die Aussagen bruchfrei dahingehend verstehen, dass (nur) unter besonderen Umständen eine richtlinienkonforme Auslegung möglich ist, die den möglichen Wortsinn überschreitet.
117 Prechal, Directives, S. 207. Ohne Hinweis auf die Flexibilität des Rechtssicherheitsgrundsatzes auch Wissink, Richtlijnconforme interpretatie, S. 204–206. 118 Prechal, Directives, S. 209–210.
Kapitel 6
Frankreich „L’interpre´tation est la forme intellectuelle de la de´sobe´issance.“1
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung Nach einem Überblick über die gesetzliche Regelung zu den hier untersuchten urlaubsrechtlichen Fragen wird dargelegt, in welchen Punkten in Frankreich Anpassungsbedarf bestand. Wie zu zeigen ist, hat die Rechtsprechung ihn nicht in vollem Umfang bewältigen können.
1. Die gesetzliche Regelung im Überblick Der Jahresurlaub ist in den Art. L3141-1 ff. Code du travail (C. trav.) geregelt. Die Regelungen sind infolge der für diese Untersuchung einschlägigen EuGH-Urteile nur geringfügig verändert worden. Der Gesetzgeber hat 2012 das Erfordernis einer Mindestarbeitsleistung als Voraussetzung für den Erwerb von Urlaubsansprüchen gestrichen. Nach Art. L3141-12 C. trav. kann der Arbeitnehmer den Urlaub unbeschadet der Regeln für die Festlegung der Urlaubszeit unmittelbar nach der Einstellung nehmen. Gem. Art. L3141-3 Abs. 1 C. trav. hat der Arbeitnehmer für jeden Monat, den er bei dem Arbeitgeber tatsächlich gearbeitet hat (travail effectif), einen Anspruch auf einen Urlaub von zweieinhalb Arbeitstagen. Diese Urlaubsdauer bezieht sich auf eine Sechs-Tage-Woche.2 Art. L3121-1 C. trav. definiert die Dauer der tatsächlichen Arbeit als die Zeit, in der der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Anweisungen befolgt, ohne dass er in der Lage wäre, persönliche Aktivitäten zu entfalten. Für die Berechnung der Urlaubsdauer stellt Art. L3141-5 C. trav. bestimmte Fehlzeiten der tatsächlichen Arbeit gleich. Gleichgestellt sind z.B. Zeiten des Erholungsund des Mutterschaftsurlaubs, Art. L3141-5 Nrn. 1, 2 C. trav. Ob und in-
1 2
Carbonnier, Introduction, Rn. 158. Auzero/Baugard/Docke`s, Droit du travail, Rn. 910.
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Kapitel 6: Frankreich
wieweit Krankheitstage in die Berechnung des Urlaubs einfließen, regelt Art. L3141-5 Nr. 5 C. trav. Nach dieser Vorschrift sind Zeiten, während derer die Erfüllung des Arbeitsvertrags aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ausgesetzt wird, der tatsächlichen Arbeit gleichgestellt. Die Anrechnung dieser berufsbezogenen Fehltage ist allerdings auf die Dauer eines Jahres begrenzt. Krankheitstage, die nicht berufsbezogen sind, also nicht auf einer Berufserkrankung oder einem Arbeitsunfall beruhen, sind nicht genannt. Der Arbeitnehmer erwirbt daher für diese Zeiten der Krankheit keine Urlaubsansprüche. Der Bezugszeitraum für den Jahresurlaub wird nach Art. L3141-10 C. trav. kollektivvertraglich festgesetzt. Wenn keine kollektivvertragliche Regelung einschlägig ist, ist gem. Art. R3141-4 Abs. 1 C. trav. die Zeit vom 1.6. eines Jahres bis zum 31.5. des Folgejahres der Bezugszeitraum. Der Urlaub ist grundsätzlich nicht übertragbar.3 Für den Fall der Erkrankung des Arbeitnehmers ist keine Ausnahme vorgesehen. Der C. trav. enthält ferner keine Regelung dazu, ob der Arbeitnehmer den Urlaub nachholen kann, wenn er während des Urlaubs erkrankt.
2. Die Mindestbeschäftigungszeit Wie bereits erwähnt, ist eine Mindestbeschäftigungszeit für den Erwerb von Urlaubsansprüchen inzwischen nicht mehr vorgesehen. Ursprünglich war nach Art. L3141-3 Abs. 1 C. trav. eine Mindestarbeitsleistung von einem Monat Anspruchsvoraussetzung. Diese Anforderung galt nicht nur bei neu begründeten Arbeitsverhältnissen, sondern bezog sich auf den jeweiligen Bezugszeitraum, sodass sie jedes Jahr zu erfüllen war. Das Erfordernis einer Mindestarbeitsleistung von einem Monat im Bezugszeitraum wurde durch Art. 22 des Gesetzes Nr. 2008-789 vom 20.8.2008 aufgrund des BECTU-Urteils des EuGH zunächst auf zehn Tage herabgesetzt und durch Art. 50 des Gesetzes Nr. 2012-387 vom 22.3.2012 vollständig gestrichen.4 Die C. cass. hatte noch im Jahr 2007 eine Mindestarbeitsleistung im laufenden Arbeitsverhältnis für richtlinienkonform erachtet, weil die Arbeits-
3
Auzero/Baugard/Docke`s, Droit du travail, Rn. 915. S. auch Favennec-He´ry/Verkindt, Droit du travail, Rn. 866. 4 Die Herabsetzung auf zehn Tage geht auf einen Vorschlag der Kommission für Arbeit und Soziales des französischen Senats (Commission des Affaires sociales) zurück, die so den Vorgaben des BECTU-Urteils entsprechen wollte. Die Anknüpfung an zehn Tage ist darauf zurückzuführen, dass nach dem C. trav. jeder Arbeitnehmer Anspruch auf zweieinhalb Tage Urlaub pro Monat hat, zehn Tage den Arbeitnehmer also zu einem vollen Urlaubstag berechtigen (Bericht Nr. 470 der Kommission für Arbeit und Soziales, 15.7.2008, S. 107). Kritisch zur Europarechtskonformität der Fassung vom 20.8.2008 Andreo, JCP S 2009, no 1152, 33, 35.
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
181
zeitrichtlinie Mindestanforderungen an eine tatsächliche Arbeitsleistung im Bezugszeitraum nicht verbiete.5 Die BECTU-Entscheidung erwähnte sie nicht, hielt sie also wohl nicht für einschlägig. Aufgrund des Schultz-HoffUrteils des EuGH änderte die C. cass. ihre Einschätzung und regte in ihren Jahresberichten für 2009–2011 eine Anpassung der Norm an, um einen europarechtskonformen Rechtszustand herzustellen.6 Auch in der Literatur wurde auf den Konflikt mit der RL 2003/88/EG hingewiesen.7 Vor der endgültigen Streichung legte die C. cass. im Zusammenhang mit Fehlzeiten aufgrund eines Wegeunfalls dem EuGH die Frage vor, ob Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG dahin auszulegen ist, dass er nationalen Vorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, die vorsehen, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von einem Minimum von 10 Tagen (oder einem Monat) tatsächlicher Arbeit während des Bezugszeitraums abhängig gemacht wird.8 Der EuGH bejahte diese Frage.9 In der auf dieses Urteil des EuGH folgenden Entscheidung beachtet die C. cass. zwar das in Art. L3141-3 Abs. 1 C. trav. vorgesehene Erfordernis der Mindestarbeitsleistung. Sie erweitert aber den Kreis der Krankheitstage, die für die Berechnung der Dauer des Urlaubsanspruchs in gewissem Umfang zu berücksichtigen sind, indem sie über den Wortsinn des Art. L3141-5 Nr. 5 C. trav. hinaus Fehlzeiten nach einem Wegeunfall bis zur Dauer von einem Jahr der Arbeitszeit gleichstellt. Sie berücksichtigt diese Fehlzeiten außerdem für die Mindestarbeitsleistung.10
3. Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Wie bereits erwähnt, hängt die Dauer des Urlaubs von der tatsächlichen Arbeit im Bezugszeitraum ab. In der Literatur wird kritisiert, dass der Gesetzgeber zwar das Erfordernis der Mindestarbeitsleistung abgeschafft hat, nicht aber die Voraussetzung der tatsächlichen Arbeitsleistung.11 Nur Krankheitstage, die auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen sind, zählen gem. Art. L3141-5 Nr. 5 C. trav. zu den Zeiten, die der 5
Cass. soc. 7.3.2007 no 05-46025 P. S. nur C. cass., Rapport annuel 2011, S. 16. 7 Lhernould, RJS 2009, 263, 265–267, regt (zumindest für den Fall der Krankheit) eine Gesetzesänderung oder zumindest eine Vorlage an den EuGH an (die dann durch die Vorlage in der Rechtssache Dominguez erfolgt ist). 8 Cass. soc. 2.6.2010 no 08-44834 Ine´dit. 9 EuGH 24.1.2012 EU:C:2012:33 (Dominguez). 10 Cass. soc. 3.7.2012 no 08-44834 P. Lhernould, Droit social 2010, 893, 896, weist darauf hin, dass angesichts des klaren Widerspruchs des Art. L3141–3 C. trav. zur RL 2003/88/EG eine richtlinienkonforme Auslegung dieser Norm „schwierig erscheint“. Das scheint die C. cass., die an eine derartige richtlinienkonforme Auslegung nicht anknüpft, ebenso einzuschätzen. 11 Boutayeb/Ce´lestine, RDT 2012, 578, 580. 6
182
Kapitel 6: Frankreich
tatsächlichen Arbeit gleichgestellt sind. Diese Gleichstellung ist außerdem auf die Dauer von einem Jahr begrenzt. Für Zeiten der Erkrankung, die nicht unter diesen Ausnahmetatbestand fallen, erwirbt der Arbeitnehmer nur dann Urlaubsansprüche, wenn eine günstigere kollektivvertragliche Abrede besteht.12 Seit Erlass der einschlägigen Urteile durch den EuGH hatte die C. cass. verschiedene Konstellationen zu entscheiden, in denen nach dem Wortsinn des Art. L3141-5 Nr. 5 C. trav. krankheitsbedingte Fehlzeiten nicht für die Berechnung der Dauer des Urlaubsanspruchs zu berücksichtigen waren. Sie hat entschieden, Krankheitstage aufgrund von Wegeunfällen in gleicher Weise zu berücksichtigen wie Krankheitstage aufgrund von Arbeitsunfällen. Die C. cass. lehnt es dagegen ab, im Rechtsverhältnis zwischen Privaten nicht berufsbezogene Krankheitstage oder berufsbezogene Krankheitstage, die über die Dauer eines Jahres hinausgehen, für den Urlaubserwerb zu berücksichtigen (dazu a)). Die entsprechenden Entscheidungen der C. cass. sind in der Literatur teils kritisch aufgenommen worden (dazu b)). Sowohl die C. cass. als auch die Literatur sehen im Urlaubsrecht mit Blick auf die europarechtlichen Vorgaben Reformbedarf (dazu c)). a) Der Umgang der C. cass. mit den nicht erfassten Krankheitszeiten Nach Auffassung der C. cass. sind vor dem Hintergrund der RL 2003/88/EG Krankheitszeiten aufgrund von Wegeunfällen für den Anspruch auf Jahresurlaub wie solche aufgrund von Arbeitsunfällen zu behandeln.13 Selbstverständlich ist diese Auslegung des Urlaubsrechts nicht.14 Zum einen gilt Art. L3141-5 C. trav. dem Wortsinn nach nur für die Berechnung der Dauer des Urlaubs, legt aber nicht für alle urlaubsrechtlichen Regelungen fest, welche Zeiten als Arbeitszeit zählen.15 Indem die C. cass. die Regelung im Zusammenhang mit Art. L3141-3 C. trav. anwendet, der die Frage betrifft, ob ein Urlaubsanspruch überhaupt gegeben ist, gibt sie der Norm einen weiten Anwendungsbereich. Zum anderen nennt die Norm den Wegeunfall gerade nicht, sodass eine wortsinnbezogene Auslegung eher zu dem Ergebnis führt, dass Krankheiten infolge eines Wegeunfalls nicht berücksichtigungsfähig sind. Die C. cass. geht in ihrem Urteil nicht ausdrücklich darauf ein, dass es sich um eine richtlinienkonforme Auslegung handelt. Das ergibt sich lediglich aus dem Kontext und aus der Eigendarstellung des Gerichts im Jahres-
´ tude, S. 43, 154. C. cass., Rapport annuel 2007, E Cass. soc. 3.7.2012 no 08-44834 P. 14 So ohne weitere Erläuterung auch Boutayeb/Ce´lestine, RDT 2012, 578, 579. 15 Darauf stützte sich die C. cass. noch in Cass. soc. 7.3.2007 no 05-46025 P. Unter Berufung auf diesen Aspekt hält Driguez, Europe 2012, no 127, 23, 24, die Angleichung für übereilt. 12
13
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
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bericht für 2013.16 Auch in der Literatur wird diese Interpretation als richtlinienkonforme Auslegung bezeichnet.17 Für nicht berufsbezogene Krankheitstage greift die C. cass. im Vertikalverhältnis unmittelbar auf Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG zurück.18 Dagegen lehnt sie eine Horizontalwirkung dieser Richtlinienbestimmung ab. Die Richtlinie beseitige im Rechtsstreit zwischen Privaten nicht eine ihr zuwiderlaufende Norm des nationalen Rechts. Im Rechtsstreit zwischen Privaten sei daher gem. Art. L3141-3 und Art. L3141-5 C. trav. dem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis beendet wurde, keine Urlaubsabgeltung für solche Krankheitstage zu gewähren, die nicht unter diese Normen fallen.19 Das bedeutet, dass für nicht berufsbezogene Krankheitstage kein Urlaub zu gewähren ist. Auch wenn die C. cass. nicht ausdrücklich auf die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung eingeht, zeigen die Entscheidungen, dass das Gericht eine solche Auslegung in diesem Punkt nicht für möglich hält.20 Die C. cass. hat es ferner abgelehnt, Krankheitszeiten infolge eines Arbeitsunfalls, die über die Dauer eines Jahres hinausgehen, im Rechtsverhältnis zwischen Privaten zu berücksichtigen. Die RL 2003/88/EG ermögliche es nicht, eine entgegenstehende Norm des nationalen Rechts in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet zu lassen.21 Auch in diesem Punkt spricht die C. cass. die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung nicht an, hält sie also wohl nicht für möglich. b) Reaktionen aus der Literatur Die Literatur sieht die Urteile zu den nicht berufsbezogenen Erkrankungen z.T. kritisch. Es wird in Frage gestellt, ob es wirklich unmöglich war, den Fall der gewöhnlichen Erkrankung dem Arbeitsunfall gleichzustellen. Art. L3141-5 C. trav. schließe Krankheitsfälle nicht ausdrücklich aus. Ange16
C. cass., Rapport annuel 2013, S. 65. Cavallini, SCP S 2016, no 1276, 31; Boutayeb/Ce´lestine, RDT 2012, 578, 583, weisen darauf hin, dass Art. L411-2 des Code de la se´curite´ sociale den Wegeunfall dem Arbeitsunfall gleichstellt, so dass sich diese Interpretation zwar nicht aus dem C. trav., aber mit Blick auf anderes nationales Recht ergibt. Laulom, Droit social 2013, 1, 3, ordnet die Entscheidung als Auslegung contra legem ein. Zurückhaltender Smaili, Dr. Ouvr. 2013, 688, 691, der meint, die Entscheidung gehe deutlich über den Wortsinn des Art. L3141-5 C. trav. hinaus. 18 Cass. soc. 22.6.2016 FR:CCASS:2016:SO01289 no 15-20111 P. 19 Cass. soc. 4.5.2017 FR:CCASS:2017:SO00782 no 16-10040; Cass. soc. 13.3.2013 FR:CCASS:2013:SO00466 no 11-22285. Kritisch zur zurückhaltenden Haltung der Cass. soc. in dieser Entscheidung Kilgus, Dalloz actualite´, 27 Mai 2015. 20 In diesem Sinne – und zustimmend – Chavrier/Chabaud, JCP S 2015, no 1359, 13, 16. Gegen die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung auch Andreo, JCP S 2012, no 1135, 30, 32; Cavallini, SCP S 2016, no 1276, 31. 21 Cass. soc. 2.6.2016 FR:CCASS:2016:SO01053 no 15-11422. 17
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Kapitel 6: Frankreich
sichts des Urlaubszwecks nach der Definition des EuGH sollte die Liste der als Arbeitszeit zu berücksichtigenden Zeiten als offen angesehen werden.22 Auch heißt es, dass zwar tatsächlich der Wegeunfall dem Arbeitsunfall näher steht als eine Krankheit, die keine Berufskrankheit ist. Die Natur des Urlaubs, seine Bedeutung für die Gesundheit des Arbeitnehmers und der Geist der Regeln zum Urlaubserwerb hätten es jedoch logisch erscheinen lassen können, Krankheit und Unfall dem Arbeitsunfall und der Berufskrankheit gleichzustellen. Die C. cass. folge dieser Logik nicht und halte stattdessen die Unterscheidung zwischen berufsbezogenen und nicht berufsbezogenen Ausfallgründen aufrecht.23 Die Auslegungsfrage unterscheide sich von der, die sich zum Erfordernis der Mindestarbeitszeit nach Art. L3141-3 C. trav. stellte. Art. L3141-3 C. trav. habe den Urlaubsanspruch ausdrücklich an eine Mindestarbeitsleistung im Bezugszeitraum geknüpft. Das unberücksichtigt zu lassen, wäre eine Interpretation contra legem gewesen. Im Rahmen des Art. L3141-5 C. trav. könne man dagegen vertreten, dass eine richtlinienkonforme Interpretation möglich ist, weil das Gesetz es nicht ausdrücklich ausschließt, krankheitsbedingte Fehlzeiten zu berücksichtigen. Der EuGH verlange, dass der Richter im Rahmen seiner Möglichkeiten alles dafür tut, das nationale Recht richtlinienkonform zu interpretieren. Es sei zweifelhaft, ob die C. cass. dieser Verpflichtung hier vollständig nachgekommen ist.24 Andere Äußerungen sind insofern zurückhaltender. So heißt es, das europarechtliche Verständnis des bezahlten Urlaubs ermögliche es, der besonderen Bedeutung dieses Rechts den Vorrang vor der Unterscheidung zwischen tatsächlicher Arbeit und Assimilationsperioden einerseits und Zeiten gewöhnlicher Krankheit andererseits zu geben. Die fehlende Horizontalwirkung von Richtlinien hindere aber die direkte Anwendung von Art. 7 RL 2003/88/EG im Rechtsstreit zwischen Privaten.25 c) Reformbedarf aus Sicht der C. cass. und der Literatur Die C. cass. sieht im französischen Urlaubsrecht Reformbedarf, den sie in ihrem Jahresbericht für 2013 erläutert hat.26 Sie spricht dabei verschiedene 22 Laulom, Droit social 2013, 1, 3. Kritisch auch Driguez, CSBP 2014, 325, 327, die von einer unerwarteten Entscheidung spricht. 23 Ve´ricel, RDT 2013, 341, 342. Ve´ricel, RDT 2012/2, 1, 3, ging vor der Entscheidung der C. cass. 13.3.2013 (Cass. soc. 13.3.2013 FR:CCASS:2013:SO00466 no 11-22285 P) davon aus, dass die C. cass. die Gleichsetzung von Wegeunfall und Arbeitsunfall auf die gewöhnliche Erkrankung erstrecken müsste, da der EuGH in der Rechtssache Dominguez nicht nach der Ursache der Krankheit unterscheidet. In diesem Sinne auch Smaili, Dr. Ouvr. 2013, 688, 691. 24 Laulom, Droit social 2013, 1, 3. 25 Ve´ricel, RDT 2013, 341, 342. 26 C. cass., Rapport annuel 2013, S. 65–66. Auch die Literatur sieht Reformbedarf:
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Punkte an. Zum Urlaubserwerb bei einer Erkrankung, die nicht auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufserkrankung zurückzuführen ist, führt sie aus, dass der EuGH hinsichtlich des Jahresurlaubs keine Unterscheidung zwischen kranken und gesunden Arbeitnehmern zulässt und auch der Grund für die Erkrankung keine Rolle spielt. Das Gericht habe im Wege der richtlinienkonformen Auslegung bestimmte scheinbar ausgeschlossene Fälle in den Regelungsbereich des Art. L3141-5 C. trav. einbezogen, so den Fall des Wegeunfalls. Für Fälle der nicht berufsbezogenen Erkrankung sei jedoch die Grenze der richtlinienkonformen Auslegung erreicht. Um Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich und Haftungsklagen gegen den Staat wegen mangelhafter Umsetzung der Richtlinie zu vermeiden, regt die C. cass. daher an, Art. L3141-5 C. trav. zu ändern.27 Dabei sei auch zu klären, wie mit Urlaub umzugehen ist, der über die in der Richtlinie garantierten vier Wochen hinausgeht.28 Die C. cass. schlägt im Jahresbericht für 2013 eine weitere Änderung des Art. L3141-5 C. trav. vor. Für Fehlzeiten, die auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen sind, ist die Aufrechterhaltung des Urlaubsanspruchs auf ein Jahr beschränkt. Das scheine in Konflikt mit der RL 2003/88/EG zu stehen, die den Anspruch bedingungslos gewähre.29 Darüber hinaus erkenne der EuGH eindeutig die Möglichkeit an, dass ein erkrankter Arbeitnehmer Jahresurlaubsansprüche über mehrere Jahre ansammeln kann. Seine Lösung liege nicht darin, die Unverfallbarkeit von Urlaubsansprüchen zu begrenzen. Vielmehr erlaube er den Verlust von Ansprüchen, die erworben wurden, wenn sie nicht innerhalb eines Übertragungszeitraums ausgeübt werden, wobei dieser den Bezugszeitraum deutlich übersteigen muss.30 Nachdem die C. cass. im Jahr 2016 aufgrund der vertikalen Wirkung des Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG zugunsten eines Arbeitnehmers, dessen Arbeitsunfähigkeit infolge eines Arbeitsunfalls die Dauer von Chavrier/Chabaud, JCP S 2015, no 1359, 13, 16; Coursier, JCP S 2017, no 752, 24, 26; Durand, Dr. Ouvr. 2012, 720, 721; Laulom, Droit social 2013, 1, 4; Lhernould, JCP S 2016, no 1195, 27, 29; Mouly, Droit social 2016, 782, 783–784. 27 C. cass., Rapport annuel 2013, S. 65–66. Für eine Änderung der Norm aus der Literatur Andreo, JCP S 2012, no 1135, 30, 32; Chenu/Combeaud/Da Silva, CSBP 2016, 292, 293; Ferrer, Dr. Ouvr. 2015, 621, 622; Lhernould, RJS 2009, 263, 266; Vachet, CSBP 2016, 634; Ve´ricel, RDT 2012/1, 1, 2. 28 C. cass., Rapport annuel 2013, S. 65–66. Im Bericht von 2016 wird auf eine erfolgreiche Staatshaftungsklage verwiesen, C. cass., Rapport annuel 2016, S. 34 (unter Bezugnahme auf ein Urteil des Tribunal administratif de Clermont-Ferrand, 6.4.2016 no 1500608). 29 C. cass., Rapport annuel 2013, S. 66. In diesem Sinne aus der Literatur Cavallini, SCP S 2016, no 1276, 31; Durand, Dr. Ouvr. 2012, 720, 721; Ferrer, Dr. Ouvr. 2015, 621, 622; Lhernould, RJS 2009, 263, 266. 30 C. cass., Rapport annuel 2013, S. 66.
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einem Jahr überschritten hatte, gegenüber seinem als staatliche Stelle einzuordnenden Arbeitgeber die volle Übertragung der Urlaubsansprüche bejaht hat,31 weist sie in ihrem Bericht aus dem Jahr 2016 erneut auf die Notwendigkeit einer Reform von Art. L3141-5 C. trav. hin. Nach der aktuellen Rechtslage seien die Regeln für den Erwerb von Ansprüchen auf bezahlten Urlaub für Arbeitnehmer je nach dem Status ihres Arbeitgebers unterschiedlich.32 In einer erläuternden Anmerkung der C. Cass.33 zu dem zuletzt genannten Urteil heißt es, die Chambre sociale lege das nationale Recht soweit wie möglich richtlinienkonform aus, um einen europarechtskonformen Zustand zu gewährleisten. Es gebe dabei aber eine unumgängliche Grenze: In einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen könne nicht unter Rückgriff auf eine Richtlinie entgegenstehendes nationales Recht unbeachtet bleiben. Der Richter könne das Hindernis, das sich aus den Buchstaben des nationalen Gesetzes ergebe, nicht überwinden, wenn dieses in klarem Widerspruch zur Richtlinie stehe. So habe sich die Situation in dem entschiedenen Fall dargestellt. Da sich der Staat aber nicht auf die fehlerhafte Umsetzung der Richtlinie berufen könne und der Arbeitgeber als staatliche Einrichtung einzuordnen sei, konnte der Arbeitnehmer unter Berufung auf die Richtlinie eine Entschädigung für den verweigerten Urlaub verlangen.34
4. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen Wie bereits erwähnt, verfällt nicht genommener Urlaub grundsätzlich am Ende des Kalenderjahres. Kollektivvertragliche Übertragungsregeln sind nach Art. L3141-22 C. trav. zulässig, wenn für den Arbeitnehmer eine Jahresarbeitszeit gilt.
31
Cass. soc. 22.6.2016 FR:CCASS:2016:SO01289 no 15-20111 P. C. cass., Rapport annuel 2016, S. 34. Kritisch zu solchen gespaltenen Lösungen Cavallini, SCP S 2016, no 1276, 31, 32; Ferrer, Dr. Ouvr. 2015, 621, 622, 623; Mouly, Droit social 2016, 782, 784. 33 Im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit veröffentlicht die C. cass. zu einigen Urteilen „notes explicatives“. Sie dienen dazu, fachliche Informationen zu der Entscheidung zu vermitteln. 34 Note explicative zum Urteil Cass. soc. 22.6.2016 FR:CCASS:2016:SO01289 no 15-20111 P. Gegen die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung auch Cavallini, SCP S 2016, no 1276, 31. 32
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5. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Angesichts der grundsätzlich geltenden Bindung des Urlaubs an das Kalenderjahr stellte sich die Frage, ob und gegebenenfalls für welche Dauer die Rechtsprechung die Übertragung im Krankheitsfall ermöglichen würde. a) Die Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen Erkrankte Arbeitnehmer konnten nach der ursprünglichen Rechtsprechung der C. cass. nicht verlangen, dass Urlaub, den sie im dafür vorgesehenen Zeitraum krankheitsbedingt nicht nehmen konnten, ihnen später gewährt wird.35 Im Jahr 2007 lockerte das Gericht diese Rechtsprechung, indem es entschied, dass für den Fall der Nichtinanspruchnahme des Urlaubs aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit der Urlaub auf die Zeit nach Wiederaufnahme der Arbeit zu verschieben ist.36 Im Februar 2009 entschied die C. cass. einen Fall, in dem die Erkrankung nicht auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen war. Sie erklärte, dass der Urlaub mit Blick auf den Zweck, der ihm nach der RL 2003/88/EG zukommt, zu übertragen ist, wenn er infolge einer Erkrankung nicht genommen werden konnte.37 Später formulierte das Gericht noch deutlicher, der Urlaub sei auf die Zeit nach der Rückkehr ins Erwerbsleben zu übertragen. Er sei außerdem erneut zu übertragen, wenn der Arbeitnehmer aufgrund eines Rückfalls den Urlaub nicht vollständig in Anspruch nehmen konnte.38 Weitere Urteile beziehen sich ausdrücklich auf den Fall der Übertragung im fortbestehenden Arbeitsverhältnis und der Abgeltung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Der Urlaub sei auf die Zeit nach Beendigung der Krankheit zu verschieben oder im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzugelten.39 Der Urlaubsanspruch des erkrankten Arbeitnehmers ist so nicht mehr an den jeweiligen Urlaubszeitraum gebunden. In der Literatur wurde diese Änderung der Rechtsprechung – zumindest ab der Entscheidung aus dem Jahr 2007 – als vorhersehbar bezeichnet. Es gebe im Richtlinientext keinen Anhaltspunkt für die Unterscheidung nach der Einordnung der Erkrankung als Berufskrankheit oder sonstige Krankheit.40 35
S. Cass. soc. 9.6.2004 no 02-43910. Cass. soc. 27.9.2007 no 05-42293 P. 37 Cass. soc. 24.2.2009 no 07-44488 P. 38 Cass. soc. 16.2.2012 no 10-21300 P. 39 Cass. soc. 21.9.2017 FR:CCASS:2017:SO02067 no 16-24022 P; Cass. soc. 28.5.2014 FR:CCASS:2014:SO01070 no 12-28082 P. 40 Andreo, JCP S 2009, no 1152, 33, 34. S. auch Lhernould, RJS 2009, 263, 265; Ve´ricel, RDT 2009, 170, 172. 36
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b) Der Übertragungszeitraum Da nach dem C. trav. die Übertragung von Urlaub nicht vorgesehen ist, enthält er auch keine Regelung zum Übertragungszeitraum. Die Literatur äußert sich zu dieser Frage nur beiläufig und sieht Probleme der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit der Richtlinie eher bei der Frage der Übertragbarkeit an sich.41 Die C. cass. hat im Jahr 2017 entschieden, dass der EuGH zwar einen Übertragungszeitraum unter bestimmten Voraussetzungen zulässt, die Richtlinie die Mitgliedstaaten aber nicht verpflichtet, einen Übertragungszeitraum vorzusehen.42 Das Urteil dreht sich um zwei Regelungen aus den Dienstvorschriften für die Bediensteten des ÖPNV Paris, aufgrund derer Urlaub grundsätzlich im Kalenderjahr zu nehmen ist, Jahresurlaub, der wegen Krankheit nicht genommen werden konnte, aber (nur) auf das folgende Jahr übertragen wird.43 In der erläuternden Anmerkung zu dem Urteil heißt es, es sei Sache der Mitgliedstaaten, im Rahmen der Vorgaben des EuGH über die Frist für die Übertragung von bezahltem Urlaub zu entscheiden. Der Übertragungszeitraum könne auf fünfzehn Monate festgesetzt werden, aber auch länger gestaltet werden, z.B. mit einer Dauer von 16 oder 18 Monaten. Das französische Recht sehe keine Begrenzung der Übertragung vor und es seien keine Konsequenzen daraus zu ziehen, dass der Gesetzgeber bisher davon abgesehen hat, eine Grenze festzusetzen. Da der in den Dienstvorschriften vorgesehene einjährige Übertragungszeitraum der Richtlinie nicht entsprochen habe und unanwendbar sei – es handelt sich bei der RATP um eine staatliche Arbeitgeberin –, unterliege die Übertragung des Urlaubs keiner zeitlichen Grenze.44 Der C. E. hat dagegen im beamtenrechtlichen Kontext entschieden, dass die Übertragung von Urlaub im Krankheitsfall auf einen Zeitraum von fünfzehn Monaten begrenzt ist.45 Die einschlägigen Regelungen sahen vor, dass 41 Ve´ricel, RDT 2012/2, 1, 3–4. S. auch Carles, RPDS 2016, 301, 314, die unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH meint, dass für den Fall der Regelung der Übertragung der Übertragungszeitraum zwölf Monate übersteigen müsse. Ob die Übertragung überhaupt zeitlich begrenzt sein muss oder soll, spricht sie nicht an. Lacoste-Mary, Dr. Ouvr. 2012, 304, 306, hält nach den Aussagen des EuGH zum doppelten Urlaubszweck eine zeitliche Begrenzung für erforderlich. 42 Cass. soc. 21.9.2017 FR:CCASS:2017:SO02067 no 16-24022 P. Zustimmend Coursier, JCP S 2017, no 752, 24; Ve´ricel, RDT 2018, 63, 65. 43 Artt. 58, 71 Abs. 3 des statut du personnel RATP. Die Vorschriften sind abrufbar unter sgpg-ratp.com/TR/Statut personnel RATP.pdf, sie sind außerdem zitiert in der Entscheidung CA Paris 30.6.2016 no 15/14434, abrufbar unter http://web.lexisnexis.fr/Lex isActu/CAParis 30juin2016 1514434.pdf. 44 Note explicative zum Urteil Cass. soc. 21.9.2017 FR:CCASS:2017:SO02067 o n 16-24022 P. 45 C. E. 14.6.2017 FR:CECHR:2017:391131.20170614 no 391131; C. E. 26.4.2017 FR:CECHR:2017:406009.20170426 no 406009.
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der Urlaub für Staatsbeamte bzw. Kommunalbeamte am Jahresende verfällt, wenn nicht der Dienststellenleiter bzw. die Gebietskörperschaft der Übertragung zustimmt.46 In beiden Entscheidungen führt der C. E. aus, dass für den Fall der Erkrankung der Jahresurlaub übertragbar sein muss. Das Recht auf Übertragung sei jedoch nicht unbegrenzt. Zwar müsse die Dauer des Übertragungszeitraums die des Bezugszeitraums deutlich übersteigen. Der Zweck des Jahresurlaubs stehe aber einer Lösung entgegen, nach der ein über mehrere Jahre hinweg erkrankter Arbeitnehmer unbegrenzt Urlaubsansprüche ansammeln kann. Ein Übertragungszeitraum von fünfzehn Monaten sei nach der Rechtsprechung des EuGH richtlinienkonform.47 Die Anknüpfung des Übertragungszeitraums im nationalen Recht erfolgt in den beiden Entscheidungen nicht einheitlich. In der Entscheidung vom 26.4.2017 heißt es, dass der Richter mangels Vorschriften zum Übertragungszeitraum zur Sicherstellung der Einhaltung der Bestimmungen der RL 2003/88/EG davon ausgehen könne, dass dieser Urlaub während eines Zeitraums von fünfzehn Monaten nach Ablauf dieses Jahres in Anspruch genommen werden kann.48 Dagegen stützt sich der C. E. in der Entscheidung vom 14.6.2017 auf die nationale Regelung, die den Verfall des Urlaubs vorsieht. Diese sei zwar rechtswidrig, insofern sie keinen Übertragungszeitraum vorsehe, gestatte aber die Zurückweisung von Urlaubsansprüchen, wenn nach Ablauf des Urlaubsjahres fünfzehn Monate vergangen sind.49 Der C. E. übernimmt damit einen Vorschlag des Berichterstatters. Dieser führt in seiner Stellungnahme aus, der EuGH habe nie behauptet, dass die Richtlinie einen Übertragungszeitraum von höchstens fünfzehn Monaten enthält. Er sei lediglich der Auffassung, dass ein Mitgliedstaat eine solche Frist vorsehen kann, ohne gegen die Anforderungen der Richtlinie zu verstoßen.50 Eine Grundlage für
46 Für die Staatsbediensteten: Art. 5 du de´cret n°84-972 du 26 octobre 1984 relatif aux conge´s annuels des fonctionnaires de l’E´tat. Für die Kommunalbeamten: Art. 5 du de´cret n°85-1250 du 26 novembre 1985 relatif aux conge´s annuels des fonctionnaires territoriaux. Die Dekrete sind abrufbar unter http://www.legifrance.gouv.fr/, die einschlägigen Vorschriften sind in den beiden zitierten Entscheidungen des C. E. wiedergegeben. 47 C. E. 14.6.2017 FR:CECHR:2017:391131.20170614 no 391131; C. E. 26.4.2017 FR:CECHR:2017:406009.20170426 no 406009. Als die Entscheidungen gefällt wurden, hatte der EuGH noch nicht klargestellt, dass ein Verfall nach der Richtlinie nicht erforderlich ist, s. dazu oben S. 19. Auch in der Literatur wurde aufgrund des Urteils in der Rechtssache KHS vertreten, dass die Richtlinie eine Begrenzung erfordert, Lacoste-Mary, Dr. Ouvr. 2012, 304, 306. 48 C. E. 26.4.2017 FR:CECHR:2017:406009.20170426 no 406009. 49 C. E. 14.6.2017 FR:CECHR:2017:391131.20170614 no 391131. 50 Daumas, Conclusions, 14.6.2017 no 391131, unter 2.1.2. Dass ein Übertragungszeitraum nach der RL 2003/88/EG tatsächlich nicht zwingend vorzusehen ist, hat der EuGH einige Monate nach der Entscheidung des C. E. vom 14.6.2017 in der Rechtssache King klargestellt, s. dazu oben S. 19.
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die Fünfzehn-Monats-Frist finde sich in den Bestimmungen der jeweiligen Jahresurlaubsdekrete. Sie seien nur teilweise mit Unionsrecht unvereinbar. Die Nichtübertragbarkeit von Urlaub sei grundsätzlich richtlinienkonform, sie sollte nur insoweit verworfen werden, als sie keine Ausnahme für den Fall der Erkrankung macht. Die Vorschriften blieben indes mit der Richtlinie insofern vereinbar, als sie so verstanden werden können, dass sie im Krankheitsfall eine Übertragung des nicht in Anspruch genommenen Jahresurlaubs nur für einen Zeitraum von fünfzehn Monaten nach dem Jahr, für das das Recht auf Urlaub entstanden ist, gestatten und das auch nur für eine Urlaubsdauer von vier Wochen. So werde die nationale Regelung nur soweit wie erforderlich verworfen und soweit wie möglich richtlinienkonform interpretiert. Diese Kombination aus Nichtanwendung und richtlinienkonformer Interpretation führe praktisch zu einer Neufassung der nationalen Regelung. Der Ansatz sei aber keineswegs neu.51 c) Die Übertragbarkeit von Mehrurlaubsansprüchen Die C. cass. fordert in ihrem Jahresbericht für 2013 in der Rubrik „Vorschläge für gesetzliche Änderungen“ den Gesetzgeber auf, die Frage der Übertragbarkeit des Mehrurlaubs im Krankheitsfall zu regeln. Sie weist darauf hin, dass sie die Vorgaben des EuGH zur Übertragung des Urlaubs bei Krankheit aufgegriffen hat, aber noch nicht zu entscheiden gewesen sei, ob die gemeinschaftsrechtlichen Regeln auch für Ansprüche auf Mehrurlaub gelten sollen. Eine Differenzierung sei in Ermangelung von Texten, in denen die Folgen einer solchen Unterscheidung definiert sind, schwierig, zumal bezahlte Urlaubstage, gleichgültig, ob sie nun auf Gemeinschaftsrecht oder nationalem Recht beruhen, denselben Zweck verfolgen. Würde eine Unterscheidung getroffen, so sei zugleich zu klären, wie festgestellt wird, welcher Kategorie genommene Urlaubstage zuzuordnen sind. Das Eingreifen des Gesetzgebers würde Unsicherheiten darüber beseitigen, ob Urlaubsansprüche nach nationalem Recht dem Schicksal von Urlaubsansprüchen nach dem Gemeinschaftsrecht folgen sollen.52 Inzwischen sind auch höchstrichterliche Entscheidungen zur Übertragbarkeit von Mehrurlaubsansprüchen ergangen. Sowohl die C. cass. als auch der C. E. haben Übertragungsansprüche auf die von der Richtlinie gewährleistete Urlaubsdauer von vier Wochen pro Jahr beschränkt. Die C. cass. sprach in der bereits erwähnten Entscheidung vom 22.6.2016 im Vertikalverhältnis einem Arbeitnehmer unter Rückgriff auf die RL 2003/88/EG eine Entschädigung für krankheitsbedingt nicht genommenen Urlaub zu. Sie be51
Daumas, Conclusions, 14.6.2017 no 391131, unter 2.1.2. C. cass., Rapport annuel 2013, S. 65. Die Empfehlung wurde in den Berichten der Folgejahre aufgegriffen. S. auch Mouly, Droit social 2016, 782, 784. 52
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schränkte dabei den Anspruch auf eine Entschädigung für Urlaub im Umfang von vier Wochen jährlich, da die Richtlinie den Urlaubsanspruch nur in diesem Umfang regelt.53 Der C. E. beschränkte in einer seiner Entscheidungen zur Begrenzung des Übertragungszeitraums ebenfalls den Übertragungsanspruch auf den durch die Richtlinie garantierten Mindesturlaub.54
6. Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum Ist der Arbeitnehmer innerhalb des für ihn festgesetzten Urlaubszeitraums erkrankt, hängt nach der derzeit noch aktuellen Rechtsprechung der C. cass. die Nachholbarkeit des Urlaubs davon ab, ob die Erkrankung vor Urlaubsantritt aufgetreten ist oder erst während des Urlaubs. Wenn der Arbeitnehmer vor Urlaubsantritt erkrankt und die Erkrankung fortbesteht, hatte er bereits nach der älteren Rechtsprechung der C. cass. einen Anspruch auf Neufestsetzung seines Urlaubs, wenn die Krankheit vor Ablauf der Zeit endete, innerhalb derer im Betrieb der Urlaub gewährt wird.55 Allerdings lehnte das Gericht eine Neufestsetzung oder Entschädigung ab, wenn festgesetzter Urlaub krankheitsbedingt nicht angetreten und auch nicht mehr im vorgesehenen Urlaubszeitraum genommen werden konnte.56 Diese zeitliche Beschränkung dürfte sich mit den Entscheidungen zur Übertragbarkeit des Urlaubs bei Krankheit erledigt haben, auch wenn sie durchweg Fälle betrafen, in denen aufgrund der Erkrankung bereits kein Urlaub festgesetzt wurde.57 Geht man davon aus, dass bereits festgesetzter Urlaub bei Erkrankung vor Urlaubsantritt noch nach Ablauf des jeweiligen Urlaubszeitraums nachgeholt werden kann, besteht für diesen Fall eine richtlinienkonforme Lösung. Erkrankt der Arbeitnehmer dagegen erst während des Urlaubs, kann er nach der bisherigen Rechtsprechung der C. cass. keine Nachgewährung des Urlaubs verlangen. Der Arbeitgeber habe mit der Urlaubsgewährung seine Pflichten erfüllt. Unterschiedliche Ereignisse, wie z.B. Krankheit des Arbeit-
53 Cass. soc. 22.6.2016 FR:CCASS:2016:SO01289 no 15-20111 P. S. auch die Note explicative zum Urteil Cass. soc. 22.6.2016 FR:CCASS:2016:SO01289 no 15-20111 P. 54 C. E. 26.4.2017 FR:CECHR:2017:406009.20170426 no 406009. Zustimmend Cavallini, SCP S 2016, no 1276, 31; Mouly, Droit social 2016, 782, 784. 55 Cass. soc. 16.2.1999 no 96-45364 P. 56 ´ tude, S. 43, Cass. soc. 2.7.1996 no 93-44307. S. auch C. Cass., Rapport annuel 2007, E 155, wo es heißt, der Arbeitgeber sei gesetzlich nicht verpflichtet, Urlaub außerhalb des für den Urlaub vorgesehenen Zeitraums zu gewähren. 57 Davon scheint auch die französische Literatur auszugehen, die angesichts der in Fn. 58 angeführten Rechtsprechung die – aufzugebende – Trennlinie im Zeitpunkt der Erkrankung (vor oder nach Urlaubsantritt) sieht, s. dazu die Nachweise in Fn. 60.
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nehmers, die während dieses Urlaubs auftreten, änderten nicht nachträglich das Ausmaß seiner gesetzlichen Verpflichtung.58 Die C. cass. hatte allerdings noch keine Gelegenheit, nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ANGED erneut zu dieser Frage Stellung zu nehmen.59 Die Literatur ist einhellig der Meinung, dass die bisherige Differenzierung, nach der es darauf ankommt, ob die Erkrankung vor oder nach Beginn des Urlaubs auftritt, nicht aufrechterhalten werden kann.60 Dafür werden die unterschiedlichen Zwecke des Krankheits- und des Erholungsurlaubs ins Feld geführt. Für die Möglichkeit, sich zu erholen und Freizeit zu genießen, sei es unerheblich, ob die Erkrankung vor dem Urlaub oder während des Urlaubs auftritt.61 Da die Regeln zur Übertragung richterrechtlich sind und keine gesetzliche Regelung entgegensteht, sei die C. cass. nicht an einer richtlinienkonformen Interpretation gehindert.62 Unabhängig davon wird ein Eingreifen des Gesetzgebers befürwortet.63
7. Zusammenfassung Da das Erfordernis einer Mindestarbeitszeit vom Gesetzgeber gestrichen wurde, stellen sich insoweit keine Auslegungsfragen. Anpassungsbedarf besteht dagegen mit Blick auf den Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit. Nach Art. L3141-5 Nr. 5 C. trav. zählen zu den Zeiten, die der tatsächlichen Arbeit gleichgestellt sind, nur solche Krankheitstage, die auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen sind. Die Gleichstellung gilt außerdem nur bis zur Dauer von einem Jahr. Die C. cass. sah sich nur für Wegeunfälle, nicht aber für sonstige Erkrankungen zur richtlinienkonformen Auslegung in der Lage, was von Teilen der Literatur kritisch
58 Cass. soc. 4.12.1996 no 93-44907 P; Cass. soc. 18.3.1975 no 73-40824 P. Günstigere kollektivvertragliche Regelungen können zu einem anderen Ergebnis führen, s. Cass. soc. 13.3.1991 no 87-41918 P. 59 Nach Driguez, CSBP 2014, 325, 328, gab es bis dahin keine – also auch keine instanzgerichtliche – französische Entscheidung, die die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ANGED rezipiert hat. Andreo, JCP S 2012, no 1359, 30, 32, hält es für sicher, dass die C. cass. ihre Rechtsprechung bei erster Gelegenheit anpassen wird. Auzero/Baugard/Docke`s, Droit du travail, Rn. 918, äußern sich etwas vorsichtiger in dieselbe Richtung. Favennec-He´ry/Verkindt, Droit du travail, Rn. 866, bezeichnen diesen Punkt im nationalen Recht als offen, ohne sich zur Wahrscheinlichkeit der Anpassung zu äußern. 60 S. neben der nachfolgend zitierten Literatur Andreo, JCP S 2012, no 1359, 30, 32; Laulom, Droit social 2013, 1, 4; Ve´ricel, RDT 2012/2, 1, 4. Auf die Richtlinienwidrigkeit weisen ferner Carles, RPDS 2016, 301, 313, und Driguez, Europe 2009, no 416, 27, 28, hin. 61 Lhernould, RJS 2009, 263, 265. 62 Chavrier/Chabaud, JCP S 2015, no 1359, 13, 16; Lhernould, Droit social 2010, 893, 896. S. auch Ve´ricel, RDT 2009, 725, 726. 63 Ve´ricel, RDT 2012/1, 1, 4.
II. Die Auslegung von Gesetzen
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aufgenommen wurde.64 Im Rechtsverhältnis zwischen Privaten sieht sie zudem keine Möglichkeit, Krankheitstage infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit über die in Art. L3141-5 Nr. 5 C. trav. als Höchstgrenze genannte Dauer von einem Jahr hinaus zu berücksichtigen.65 Dagegen änderte die C. cass. ihre bisherige Rechtsprechung zur Frage der Übertragbarkeit von Urlaub bei Erkrankung. Der Urlaub ist auf die Zeit nach der Rückkehr ins Erwerbsleben zu übertragen, wenn der Arbeitnehmer ihn krankheitsbedingt nicht nehmen konnte.66 Ob ein Übertragungszeitraum gilt, beantworten C. cass. und C. E. unterschiedlich.67 Für den Fall, dass eine Erkrankung mit einem bereits festgesetzten Urlaub zusammenfällt, gilt derzeit noch eine gespaltene Lösung. Während Nachholbarkeit gegeben ist, wenn die Erkrankung vor Urlaubsantritt auftritt, steht eine entsprechende Entscheidung der C. cass. zur Erkrankung im Urlaub noch aus.68
II. Die Auslegung von Gesetzen Das französische Recht enthält keine gesetzliche Regelung zur Interpretation von Gesetzen. Art. 5 C. c. macht lediglich eine negative Vorgabe dahingehend, dass der Richter bei seinen Entscheidungen keine allgemeinen und regulativen Aussagen machen darf. Die Norm gibt aber keine Handlungsanleitung.69 Art. 4 C. c. besagt, dass der Richter gegen das Rechtsverweigerungsverbot verstößt, wenn er unter dem Vorwand des Schweigens, der Unklarheit oder der Unzulänglichkeit des Gesetzes das Urteil verweigert, enthält jedoch ebenfalls keine Vorgaben zur Interpretation. Gelegentlich wird mit Blick auf diese Norm die Notwendigkeit der richterlichen Interpretation, die Pflicht zur Auslegung, begründet.70 In der Literatur heißt es in diesem Zusammenhang, dass die traditionelle französische Lehre keine Lücken im formellen Sinne anerkennt, das System also als geschlossen ansieht. Das schließe aber Lücken im materiellen Sinne nicht aus, wobei mit Lücken im materiellen Sinne gemeint ist, dass es an einer konkreten Regelung für einen bestimmten Fall fehlt. Von Lücken werde selten gesprochen, eher von neuen Fällen, neuen Problemen oder vom Gesetzgeber nicht vorhergesehenen Fäl64
S. oben S. 182–184. S. oben S. 183. 66 S. oben S. 187. 67 S. oben S. 188–190. 68 S. oben S. 192. 69 Gutmann, Le juge, S. 109–110, der deshalb anregt, die Orientierung am inhaltlichen, durch Werte gespeisten Zusammenhang des Rechts als positive Regel aufzunehmen. 70 Aubry et Rau, Droit civil, § 40, Rn. 166; Chevalier, L’interpre´tation, S. 125. 65
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len. Wenn von einer Lücke gesprochen werde, sei das eher eine Äußerung de lege ferenda, das Konzept der Lücke in diesem Sinne sei ein theoretisches, kein richterliches. Richter neigten dazu, Lückenfüllung als Auslegung zu kaschieren.71 Im Folgenden wird zunächst dargelegt, wie die französische Literatur den Umgang der Rechtsprechung mit Methodenfragen wahrnimmt. Anschließend geht es um die Auffassungen zum Auslegungsziel und zu den Auslegungskriterien in Rechtsprechung und Literatur, wobei sich die Diskussion angesichts der Schweigsamkeit französischer Gerichte zu methodischen Fragen im Wesentlichen in der Literatur abspielt.72
1. Der Umgang mit Methodenfragen in der Rechtsprechung Wie die Literatur feststellt, befasst die Rechtsprechung sich nicht ausdrücklich mit methodischen Problemen. Auslegungsmethoden werden zwar angewendet, nicht aber diskutiert oder offengelegt.73 Nachfolgend wird dargestellt, wie die französische Literatur das methodische Vorgehen der Rechtsprechung zusammenfassend einschätzt.74 Ein fester Auslegungskanon besteht nach Auffassung der Literatur in der Rechtsprechung nicht. Die C. cass. habe nie festgelegt, welche Kriterien anzuwenden sind, um den Sinn eines Textes zu ermitteln, und welche Rangfolge unter ihnen besteht. Man habe den Eindruck, dass die Wahl der Methode vom gewünschten Ergebnis abhängt. Diese Aussage lasse sich zwar nicht beweisen, sei aber in vielen Fällen die einzige Erklärung für die gewählte
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Troper/Grzegorczyk/Gardies, in: Interpreting Statutes, S. 171, 176–177. Im Jahr 2019 hat die C. cass. den Stil ihrer Urteile verändert. Das betrifft nicht allein Fragen der Struktur von Entscheidungen. Vielmehr soll bei Entscheidungen, die als wichtig erachtet werden, eine ausführlichere Begründung erfolgen. Das gilt u.a. für Urteile, in denen die bisherige Rechtsprechung geändert, ein neuer Text ausgelegt oder über eine Grundsatzfrage entschieden wird. Die Kommission, die die neuen Grundsätze erarbeitet hat, hält es für wichtig, dass die C. cass., wenn sie die Interpretation einer Norm bestimmt, im Urteil angibt, welche Auslegungsmethode sie angewandt hat. S. zur Reform die Note motivation 18.12.2018, insbes. S. 8–10 und 22–24. Die in dieser Untersuchung zitierten Urteile sind sämtlich noch im alten Stil verfasst. 73 Battifol, APhD 1972, 2, 15–16; Champeil-Desplats, Me´thodologies, Rn. 664; Ferrand, Cassation, Rn. 301, 304; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 72; Vogenauer, Auslegung, S. 232. S. auch Troper/Grzegorczyk/Gardies, in: Interpreting Statutes, S. 171, 184, 197. Nach Champeil-Desplats, Me´thodologies, Rn. 669, werden die Methoden von den Richtern nicht angewendet, um ein Ergebnis zu ermitteln, sondern um ein vorgefasstes Ergebnis zu begründen. S. zur Auslegung von Gesetzen durch den C. E. Genevois, RFDA 2002, 877. 74 S. aus dem deutschen Schrifttum dazu Vogenauer, Auslegung, S. 234–247, der sich in erster Linie auf Urteile und außergerichtliche Aussagen von Richtern stützt. 72
II. Die Auslegung von Gesetzen
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Interpretation.75 Als dominierende Faktoren ließen sich der Text und der Zweck einer Norm ausmachen.76 Die Methodenvielfalt in der Rechtsprechung wird als taktischer Eklektizismus bezeichnet.77 Die grammatikalische Auslegung sei stets der Ausgangspunkt der Interpretation. Wenn sich aber Probleme ergeben oder die so erzielte Auslegung schlicht gestützt werden soll, werde auch logisch interpretiert oder nach der Absicht des Gesetzgebers gesucht.78 Die teleologische oder evolutive Methode werde von der Rechtsprechung nur bei älteren Gesetzen angewendet.79 Grundsätzlich setze sich der Normtext durch, die Gerichte seien aber unter Umständen zu einer Anpassung bereit, um soziale oder wirtschaftliche Entwicklungen aufzugreifen, die der Gesetzgeber nicht vorhersehen konnte.80 Zu den Materialien äußere sich die ständige Rechtsprechung dahingehend, dass sie bei klaren Gesetzen nicht heranzuziehen sind.81 Materialien dienten dazu, den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln, der am besten im Wortsinn zum Ausdruck komme. Allerdings sei das Interesse an den Materialien angesichts der Reformgesetzgebung der 60er Jahre wieder gestiegen.82 Andere formulieren allgemeiner und meinen, dass die Rechtsprechung Materialien vor allem bei jüngeren Gesetzen zur Auslegung heranzieht.83 Ob die Materialien von den Gerichten häufig benutzt werden, ist
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Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 85. In diesem Sinne auch Ferrand, Cassation, Rn. 391. Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 79. 77 Carbonnier, Introduction, Rn. 160; Cornu, Introduction, Rn. 407; Ferrand, Cassation, Rn. 389; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 84. Champeil-Desplats, Me´thodologies, Rn. 665–668, sieht auch in der Literatur einen pragmatischen Einsatz der unterschiedlichen Methoden (im Gegensatz zu früheren Ansätzen, die eine Methode bevorzugten). 78 Ferrand, Cassation, Rn. 389–390; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 84–85. Simon, Methods of Interpretation, S. 55, 66–67, nennt die Suche nach dem Willen des Gesetzgebers nicht als Auslegungsmittel, sondern als Auslegungsziel, das bei unklarem Wortsinn den Kontext der Regelung berücksichtigt. Er spricht aber davon, den Zweck der Regelung zu berücksichtigen. 79 Ferrand, Cassation, Rn. 390; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 84–85. Eine unterschiedliche Behandlung jüngerer und älterer Gesetze stellt auch Carbonnier, Introduction, Rn. 160, fest. 80 Simon, Methods of Interpretation, S. 55, 69. 81 Capitant, Travaux pre´paratoires, 204, 208; Carbonnier, Introduction, Rn. 160. Simon, Methods of Interpretation, S. 55, 64–65, benennt zwar den Grundsatz, dass bei klarer Regelung keine Auslegung stattfindet, als noch gültiges Prinzip, meint aber, dass das TC in einer Entscheidung aus dem Jahr 1965 diesen Grundsatz nicht beachtet hat (TC 22.11.1965, D. 1966, 195). Aus den mit der Entscheidung abgedruckten Ausführungen des Berichterstatters geht aber hervor, dass die Wortsinnauslegung kein klares Ergebnis gebracht hatte (Lindon, Conlusion, D. 1966, 195, 198). 82 Bergel, Me´thodologie, Rn. 172; Carbonnier, Introduction, Rn. 160; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 82; Terre´, Introduction, Rn. 558. 83 Troper/Grzegorczyk/Gardies, in: Interpreting Statutes, S. 171, 186. Ähnlich Ghestin/ 76
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umstritten.84 Nach Ansicht einiger Autoren greift die Rechtsprechung oft auf die Materialien zurück.85 Nach anderer Auffassung nehmen französische Richter dagegen eine reservierte Haltung gegenüber den Materialien ein und vermeiden es möglichst, sie zur Auslegung heranzuziehen.86 Soweit für diese Aussagen Belege aus der Rechtsprechung angeführt werden, stammen sie überwiegend aus der Zeit vor 1950. Angesichts des knappen Urteilsstils der C. cass. sind verwertbare Aussagen selten, vieles lässt sich nur mit vereinzelten Urteilen belegen. Die Berücksichtigung jüngerer Urteile ergibt kein klareres Bild, da die Rechtsprechung weiterhin methodische Fragen nicht diskutiert. Wie „die französische Rechtsprechung“ vorgeht, lässt sich daher nur mit Vorsicht bestimmen.87
2. Das Auslegungsziel In der französischen Literatur werden die Ausführungen zum Auslegungsziel und den Auslegungsmitteln oft miteinander verwoben. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Darstellung die Entwicklung der Auslegungsmethoden seit Schaffung des C. c. nachzeichnet und zunächst die lange Zeit vorherrschende exegetische Methode vorstellt, um anschließend auf die jüngeren, als modern bezeichneten Methoden88 einzugehen.89 Darstellung und Diskussion dieser Strömungen prägen oft die Ausführungen. Hinsichtlich des Auslegungsziels werden zum einen die Absicht des Gesetzgebers und zum anderen eine davon unabhängige, objektive Bedeutung als mögliche Ziele genannt.90 Die Wahl zwischen diesen Zielen wird oft mit der Frage verknüpft, ob der Interpret allein den Willen des Autors herausarbeitet oder mit der
Barbier, Introduction ge´ne´rale, Rn. 245, nach deren Auffassung die C. cass. den Materialien nur bei jüngeren Gesetzen wirklich Bedeutung zumisst. 84 S. zur Nutzung der Materialien durch den CC Josse, Travaux pre´paratoires, S. 73–93, der feststellt, dass das Gericht sie nicht lediglich als begleitendes Auslegungsmittel benutzt. 85 David, Droit franc¸ais, S. 143, und Roland/Boyer, Introduction, Rn. 363. 86 Paclot, L’interpre´tation juridique, Rn. 198; Simon, Methods of Interpretation, S. 55, 69. 87 S. zur fehlenden Basis für Aussagen, die über eine Tendenz hinausgehen, Josse, Travaux pre´paratoires, S. 73 (im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des CC). 88 Kritisch zu dieser Bezeichnung Troper/Grzegorczyk/Gardies, in: Interpreting Statutes, S. 171, 179. 89 So Carbonnier, Introduction, Rn. 154–155; Cornu, Introduction, Rn. 389–405; Roland/Boyer, Introduction, Rn. 346–364; Terre´/Molfessis, Introduction, Rn. 605–608. S. zu diesem Vorgehen Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 28, der vor diesem Hintergrund zu Recht von einer „wenig systematischen“ Darstellung der Methoden spricht. 90 Chevalier, L’interpre´tation, S. 125, 127–128; Dye`vre, RRJ 2006, 1247, 1264; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 82–83; Troper/Grzegorczyk/Gardies, in: Interpreting Statutes, S. 171, 179.
II. Die Auslegung von Gesetzen
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Auswahl aus unterschiedlichen Bedeutungsvarianten selbst schöpferisch tätig wird.91 Das ist wiederum eine Frage, die der Unterscheidung nach der exegetischen Methode einerseits und den jüngeren Methoden andererseits zugrunde liegt. a) Die exegetische Methode und ihre Kritik durch Ge´ny Während nach der exegetischen Methode lediglich der Sinn zu ermitteln ist, den der Gesetzgeber dem Text beigemessen hat, ohne dass der Richter schöpferisch tätig wird, geht es nach den jüngeren Methoden nicht allein darum, das Textverständnis des historischen Gesetzgebers herauszuarbeiten.92 Bei dem Methodenstreit ist zu berücksichtigen, dass nach der französischen Revolution die Bedeutung des Gesetzes als einzige Rechtsquelle hervorgehoben und eine schöpferische Tätigkeit des Richters ablehnend betrachtet wurde.93 Diese Sichtweise wird auf den Grundsatz der Gewaltenteilung zurückgeführt. Wenn die Freiheit des Individuums nur durch das Gesetz beschränkt werden kann,94 das Ausdruck des Gemeinwillens des Volkes ist, kann der Richter nicht rechtsschöpferisch tätig werden, ohne eine Aufgabe an sich zu reißen, die nur den gewählten Volksvertretern zukommt.95 Die exegetische Methode in der Ausprägung, die sie im 19. Jahrhundert hatte, ist vor dem Hintergrund dieser Zeitströmung zu sehen, nach der das Gesetz als vollständig angesehen wurde und die Antwort auf sämtliche Rechtsfragen aus dem geschriebenen Recht abzuleiten war.96 Ausgehend vom Text wurde der Wille des Gesetzgebers ermittelt, gegebenenfalls unter Rückgriff auf die Gesetzgebungsmaterialien und die Umstände bei Erlass der Norm. Stieß man auf ein Problem, das der Gesetzgeber noch nicht geregelt haben konnte, wurde 91
Chevalier, L’interpre´tation, S. 125, 128. Chevalier, L’interpre´tation, S. 125, 128. S. auch Aubry et Rau, Droit civil, § 40, Rn. 171; David, Droit franc¸ais, S. 144–146; Terre´/Molfessis, Introduction, Rn. 605–608. S. aus der deutschsprachigen Literatur dazu Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 273–289. 93 Gaudemet, L’interpre´tation depuis 1804, S. 11–13; Ghestin/Barbier, Introduction ge´ne´rale, Rn. 237; Husson, APhD 1972, 115, 120–122; Terre´/Molfessis, Introduction, Rn. 605. S. auch David, Droit franc¸ais, S. 145, der auf den Wandel der Sichtweise um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert hinweist. S. zum Wandel des Verhältnisses von Rechtsprechung und Gesetz während der V. Republik Molfessis, Pouvoirs 2008, 87. 94 S. Art. 4 der De´claration des Droits de l’Homme et du Citoyen de 1789. 95 Husson, APhD 1972, 115, 122. 96 Zu dieser Grundannahme als Basis der exegetischen Auslegung im 19. Jahrhundert Aubry et Rau, Droit civil, § 40, Rn. 171; Bergel, Me´thodologie, Rn. 148; Cornu, Introduction, Rn. 399; Gaudemet, L’interpre´tation depuis 1804, S. 9–10; Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 12; Husson, APhD 1972, 115, 116–117; Paclot, ARSP 1992, 51, 55; Roland/Boyer, Introduction, Rn. 348; Terre´/Molfessis, Introduction, Rn. 605–606; Troper/Grzegorczyk/ Gardies, in: Interpreting Statutes, S. 171, 179. 92
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mithilfe der Regeln der Logik eine Lösung aus dem Gesetz abgeleitet.97 Im Ergebnis hatte der Interpret bei dieser Spielart der exegetischen Auslegung einen nicht unerheblichen Spielraum.98 Als problematisch erwies sich nicht die Reichweite dieser Auslegungsmethode, sondern die Fiktion, die mit dem Ansatz verbunden ist, sämtliche Rechtsfragen allein aus dem Gesetz heraus zu lösen. Die exegetische Methode wurde ab dem Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in Frage gestellt. Unter den Kritikern spielte Ge´ny eine besondere Rolle, der die exegetische Methode in ihrer in dieser Zeit gepflegten Anwendung99 detailliert kritisierte.100Ge´ny wandte sich gegen zwei Grundannahmen, die im 19. Jahrhundert in Frankreich vorherrschten: Jede Lösung ist an das geschriebene Recht anzubinden, und ein System logischer Konstruktionen erschließt den Gesetzesinhalt.101 Beide Annahmen seien zu verwerfen. Zunächst sei nicht jede rechtliche Lösung an das geschriebene Recht anzuknüpfen. Zwar sei das Gesetz bindend und die ranghöchste Rechtsquelle, die exegetische Methode betreibe aber geradezu einen Textfetischismus.102 Das geschriebene Recht sei keine vollständige Quelle, die ausreicht, um alle 97
Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 14–16; Ghestin/Barbier, Introduction ge´ne´rale, Rn. 238; Husson, APhD 1972, 115, 118. Aus der deutschsprachigen Literatur dazu Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 274–275. 98 Husson, APhD 1972, 115, 118. 99 Paclot, ARSP 1992, 51, 54–55, weist darauf hin, dass diese Methode verschiedene Spielarten kannte, sodass sich schlecht einheitlich von „der“ exegetischen Methode sprechen lässt. Dennoch versucht auch er, die Methode zu charakterisieren. Der Vorwurf einer zu schematischen Betrachtung wurde nach Husson, APhD 1972, 115, gegen die Untersu´ cole de l’exe´ge`se, erhoben (s. dort chung der exegetischen Methode durch Bonnecase, L’E ´ S. 126–181 zu wesentlichen Merkmalen der Ecole de l’exe´ge`se). In diesem Sinne auch ´ cole de l’exe´ge`se durchlief, GaudePaclot, ARSP 1992, 51, 54. S. zu den Phasen, die die E met, L’interpre´tation depuis 1804, S. 9–70 (Gaudemet unterscheidet vier Phasen); aus der deutschen Literatur Fikentscher, Methoden I, S. 433–446, der sich auf die Ausführungen Gaudemets in L’interpre´tation du Code civil en France depuis 1804, stützt. 100 Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 35–82. Eine Verteidigung der Exe´ge`se findet sich bei Re´my, Droits 1985, 115. 101 Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 34 (die Kritik zu beiden Punkten wird in Rn. 35–59 und 60–81 ausgeführt und in Rn. 82 zusammengefasst). S. zu dieser Grundannahme als Basis der exegetischen Auslegung die Nachweise in Fn. 96. 102 Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 35. Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 13, erwähnt als Beispiel für die Textorientierung der Auslegung im 19. Jahrhundert den Bugnet zugeschriebenen Ausspruch „Ich kenne kein Zivilrecht, ich lehre den Code Napole´on.“ („Je ne connais pas le droit civil, j’enseigne le Code Napole´on“. Bugnet war in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris Professor an der Juristischen Fakultät. Ein Nachweis für diese Aussage ist, soweit ersichtlich, nicht vorhanden. Nach Husson, APhD 1972, 115, 116, gibt sie unabhängig davon, ob und von wem sie tatsächlich so getroffen wurde, jedenfalls einen zu dieser Zeit geläufigen Gedanken wieder. Bonnecase, L’E´cole de l’exe´ge`se, S. 128–130, zitiert denselben Ausspruch und spricht von einem Kult um den Gesetzestext.
II. Die Auslegung von Gesetzen
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Rechtsprobleme zu lösen.103 Auch die Anwendung vorgegebener logischer Strukturen reiche nicht aus, um dem Gesetz Antworten auf alle Rechtsfragen der Gegenwart zu entnehmen. Ein abstraktes System logischer Konstruktionen könne zwar Lösungen suggerieren, sei aber nicht in der Lage, ihre Richtigkeit zu beweisen.104 Allein mit dem Rückgriff auf den Text und die Logik werde man den Bedürfnissen nicht gerecht, auf die der Kerngedanke des Rechts reagiert.105Ge´ny verwirft bei aller Kritik die zu seiner Zeit geläufige Auslegungsmethode nicht vollständig. Er bemängelt vor allem, dass Lösungen für Rechtsfragen, die im Gesetz nicht enthalten sind, von dieser Methode stets in den Rahmen des Gesetzes gezwungen wurden. Obwohl die Methode vermeintlich eng an das Gesetz angebunden sei, biete sie Raum für ungeregelten Subjektivismus. Da dem Gesetzgeber unbedingt ein Wille zugewiesen werden müsse, den dieser nicht kundgetan hat, den er möglicherweise nie hatte und oft sogar gar nicht haben konnte, müsse der Interpret seine eigenen Vorstellungen einbringen. Das wäre zwar in einer offenen Form akzeptabel, sei aber unter dem Deckmantel der bloßen Ermittlung des Gesetzesinhalts bedenklich.106 Ge´ny plädiert demgegenüber dafür, das Gesetz als menschlichen Willensakt zu verstehen, nicht als perfektes Werk. Als menschliche Kreation sei das Gesetz notwendig unvollständig, denn selbst wenn der Gesetzgeber die Verhältnisse seiner Zeit umfassend geregelt haben sollte, habe er doch nicht alle zukünftigen Gegebenheiten erfassen können.107 Das bedeutet nicht, dass Fragen der Gegenwart vom Richter nicht nach den Bedürfnissen der Zeit beantwortet werden können. Ge´ny sieht das Gesetz nicht als einziges Element der juristischen Interpretation. Daneben treten nach seiner Auffassung andere Quellen des positiven Rechts – wobei Ge´ny insofern letztlich nur auf Bräuche zurückgreifen will – und die freie wissenschaftliche Recherche. Die Auslegung des Gesetzes diene allein dazu, den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln. Die gesetzgeberische Absicht sei das Ziel der Gesetzesauslegung. Diese Sichtweise sei unproblematisch, wenn man das Gesetz nicht als einzige Quelle für die Lösung aller Rechtsfragen ansehe.108 Unvorhergesehene Fragen seien anders als durch Gesetzesauslegung zu lösen. Neben dem Rückgriff auf Bräuche, der allerdings nur in begrenztem Umfang in Betracht komme, sei dafür die freie wissenschaftliche Recherche (libre recherche scientifique) anzuwenden, die wissenschaftlichen Leitlinien folgt. Mit dieser Methode der Rechtsfindung will Ge´ny die Gesetzesauslegung und die Anwendung von 103
Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 82, Tome II, Rn. 183, 223 (I.). Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 61, 82. 105 Ge´ny, Me´thode, Tome II, Rn. 183, 223 (I.). 106 Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 33. In diesem Sinne auch Saleilles, Pre´face, S. XIII, XV. 107 Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 56–57. 108 Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 98. 104
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Bräuchen ergänzen.109 Das Recht müsse lebendig bleiben und dürfe nicht auf dem Zustand des Erlasses des jeweiligen Gesetzes verharren. In Anlehnung an Ihering formulierte er, die Interpretation müsse durch den Code civil, aber über den Code civil hinaus erfolgen.110 b) Jüngere Auslegungslehren Der Vorschlag Ge´nys, die Gesetzesauslegung um die freie wissenschaftliche Recherche zu ergänzen, wenn eine Lösung weder dem Gesetz noch dem Brauch zu entnehmen ist, wurde von der Rechtsprechung nicht aufgegriffen und hat sich auch in der Literatur nicht durchgesetzt.111 Die jüngere Literatur erkennt zwar Teile der Kritik als berechtigt an. So besteht Einigkeit darüber, dass sich nicht alle Antworten schlicht durch logische Konstruktion aus dem Gesetz ableiten lassen.112 Auch sei es künstlich, dem Gesetzgeber einen Willen zuzuschreiben, den er nie hatte und dem Text einen Sinn zu entnehmen, der ihm nicht gegeben wurde.113 Die exegetische Methode sei aber nicht vollständig zu verwerfen. Problematisch sei nicht die Methode selbst, sondern allein die Variante, die im 19. Jahrhundert vorherrschte, bei der man auf Basis einer inzwischen nicht mehr vertretenen Rechtsquellenlehre von der Vollständigkeit des Gesetzes ausging.114 Die Orientierung am gesetzgeberischen Willen
109
Ge´ny, Me´thode, Tome II, Rn. 155, 183, 223 (II., III., VI.–VIII.). Die libre recherche scientifique, auf die es hier nicht weiter ankommt, wird näher erläutert in Rn. 155–176bis. 110 Ge´ny, Me´thode, Tome II, Rn. 185: „Par le code civil, mais au-dela` du code civil.“, unter Bezugnahme auf Jhering, Geist des römischen Rechts, Erster Theil, 5. Aufl. 1891, S. 14 „Durch das römische Recht, aber über dasselbe hinaus!“. 111 Bergel, Me´thodologie, Rn. 165; Malaurie/Morvan, Introduction, Rn. 460; Terre´/ Molfessis, Introduction, Rn. 607; Troper/Grzegorczyk/Gardies, in: Interpreting Statutes, S. 171, 179, 191. Befürwortend aber Aubry et Rau, Droit civil, § 40, Rn. 171. Ferner spricht Simon, Methods of Interpretation, S. 55, 59–60, Ge´nys Theorie starken Einfluss auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit und auch auf die Praxis anderer Gerichte zu. Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 27, bezeichnet die libre recherche scientifique als herrschend, ohne allerdings Nachweise anzugeben. S. aus der deutschsprachigen Literatur ferner Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 278 („weder in Lehre noch Rechtsprechung umfassend übernommen“); Vogenauer, Auslegung, S. 332–333 („Überwiegend herrscht jedoch die Ansicht vor, sie habe die Gerichte zumindest indirekt beeinflusst.“). 112 Aubry et Rau, Droit civil, § 40, Rn. 171; Bergel, Me´thodologie, Rn. 171; Cornu, Introduction, Rn. 399, 407; Paclot, ARSP 1992, 51, 57; Terre´/Molfessis, Introduction, Rn. 606. 113 Aubry et Rau, Droit civil, § 40, Rn. 171; Bergel, Me´thodologie, Rn. 152; ders., ARSP 1992, 67, 70; Ghestin/Barbier, Introduction ge´ne´rale, Rn. 238. 114 Cornu, Introduction, Rn. 403. In diesem Sinne auch Roland/Boyer, Introduction, Rn. 352. S. auch Bergel, Me´thodologie, Rn. 172, der von einer Ergänzung der exegetischen Methode durch andere Methoden spricht.
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sei bei neuen Gesetzen stets angebracht.115 Weniger Gewicht komme der Absicht des Gesetzgebers bei älteren Gesetzen zu.116 Bis zu diesem Punkt ist die Abweichung zu Ge´nys Auffassung noch gering, da für ihn Auslegung bedeutet, den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln, er sich also nicht generell gegen die Ermittlung des Willens des Gesetzgebers wendet.117 Wie ein zeitgenössischer Autor betont, gehen die exegetische Methode und die der freien wissenschaftlichen Recherche ein langes Stück Weg gemeinsam, bevor sich die Frage der Wahl zwischen den beiden Methoden stellt.118 Differenzen ergeben sich bei der Behandlung der Fälle, für die das Gesetz – insbesondere mangels Vorhersehbarkeit der Rechtsfrage – keine (befriedigende) Lösung enthält und bei denen es Ge´ny nicht allein um einen bestimmten Lösungsansatz geht, sondern auch darum, die Lösung nicht als Gesetzesauslegung zu deklarieren. Gegen die freie wissenschaftliche Recherche wird eingewendet, dass heutzutage die herrschenden Gedanken und Bedürfnisse schwer zu ermitteln seien, sodass stets die Gefahr bestehe, dass der Richter seine eigenen Wertungen ins Spiel bringe.119 Nach einer Auffassung ist zwar ein Entscheidungsspielraum des Richters anzuerkennen, bei der Interpretation aber auf eine Rückanbindung an den Normtext zu achten.120 Die Auslegungsmethode wird als Textflexibilität (assouplissement des textes)121 oder metatextuelle Interpretation122 bezeichnet. Einige sprechen in diesem Zusammenhang auch von der Methode der geschichtlichen Entwicklung123 oder der evolutiven Methode124, wobei der zuletzt genannte Begriff nicht eindeutig belegt ist, weil er auch für die im nächsten Absatz beschriebene Methode verwendet wird. Dieser Ansatz der Textflexibilität soll nach Troper der von der Rechtsprechung präferierte Ansatz sein.125 Die Methode wird auf Saleilles zurückgeführt, der 115
Bergel, Me´thodologie, Rn. 152, 171; Cornu, Introduction, Rn. 406; Couderc, D. 1975, Chr. 249, 253; David, Droit franc¸ais, S. 147; Ferrand, Cassation, Rn. 386; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 82. 116 Bergel, Me´thodologie, Rn. 152; David, Droit franc¸ais, S. 147; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 83; Troper/Grzegorczyk/Gardies, in: Interpreting Statutes, S. 171, 202. 117 Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 98. 118 Cornu, Introduction, Rn. 403. 119 Bergel, Me´thodologie, Rn. 165. S. auch Roland/Boyer, Introduction, Rn. 361. 120 Bergel, Me´thodologie, Rn. 165; Roland/Boyer, Introduction, Rn. 362–364. 121 Ge´ny, Me´thode, Tome II, Rn. 190; Husson, APhD 1972, 115, 129. 122 Roland/Boyer, Introduction, Rn. 362. 123 Couderc, D. 1975, Chr. 249, 251 (der sie auch als Methode der Textflexibilität bezeichnet); Saleilles, Pre´face, S. XIII, XIX. 124 Ghestin/Barbier, Introduction ge´ne´rale, Rn. 245 (die synonym von der historischen Methode sprechen); Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 279 („me´thode e´volutive historique“); Vogenauer, Auslegung, S. 333. 125 Troper/Grzegorczyk/Gardies, in: Interpreting Statutes, S. 171, 191. So auch Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 279; Vogenauer, Auslegung, S. 333, 335–336.
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die Notwendigkeit der Anpassung der Gesetze an die Bedürfnisse der Gegenwart betont, sich aber zugleich vorsichtig dafür ausspricht, Ge´nys „Par le Code civil, mais au-dela` du Code civil!“ umzudrehen zur Parole „Au-dela` du Code civil, mais par le Code civil!“.126 Nach einem anderen Ansatz ist zu fragen, wie der Gesetzgeber die Frage geregelt hätte, wenn er heute vor der Regelungsaufgabe stünde. Es sei auf den Willen des hypothetischen Gesetzgebers der Gegenwart abzustellen. Diese Methode wird von einigen als teleologische Methode bezeichnet,127 von anderen als evolutive Methode128; hier wird sie im Folgenden evolutive Methode genannt. Zu ihr bekannte sich im Jahr 1904 u.a. Ballot-Beaupre´, der damalige Präsident der C. cass., in einer Rede zum 100-jährigen Bestehen des Code civil.129 Diese Lösung wird von einigen als künstliche Konstruktion zurückgewiesen. Es handele sich eher um Wahrsagerei als um Auslegung.130Ge´ny hält außerdem diesem sowie allen Ansätzen, die diese Stufe der Interpretation an das Gesetz anbinden wollen, entgegen, dass so der Charakter des Gesetzes als menschlicher Willensakt missachtet würde. Da das Gesetz ein solcher Willensakt sei, müsse die Auslegung stets darauf gerichtet sein, diesen Willen zu rekonstruieren. Das geschriebene Recht verliere sonst seinen Wert.131 Eine weitere Auffassung stellt auf den sozialen Zweck der Norm ab. Das Gesetz löse sich vom Willen seines Schöpfers, um den Bedürfnissen der Gegenwart gerecht zu werden.132 Nicht immer wird deutlich, wie frei der Richter bei der Berücksichtigung des sozialen Zwecks sein soll, und ob er sich in die Rolle des Gesetzgebers hineinversetzen soll oder nicht.133 Dieser Ansatz, der ebenfalls als teleologische Methode bezeichnet wird, wird als Entscheidung dafür gesehen, den Geist des Gesetzes über das Wort zu setzen.134
126
Saleilles, Pre´face, S. XIII, XIX–XXV, der Ausspruch findet sich auf S. XXV. David, Droit franc¸ais, S. 144. Hager, Rechtsmethoden, 2. Kap. Rn. 53, bezeichnet sie als Pendant zur objektiven Interpretation. 128 Carbonnier, Introduction, Rn. 155 (auch: historisch); Cornu, Introduction, Rn. 405. 129 Ballot-Beaupre´, Discours, S. 23, 27. 130 Bergel, ARSP 1992, 67, 71; Roland/Boyer, Introduction, Rn. 356; Saleilles, Pre´face, S. XIII, XV–XVI bezeichnet den hypothetischen Gesetzgeber als fiktive, mythische Person. S. auch Aubry et Rau, Droit civil, § 40, Rn. 171, sowohl zu Saleilles als auch zu BallotBeaupre´s Methode. 131 Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 97, Tome II, Rn. 190, 223 (IV.). Zustimmend Capitant, Travaux pre´paratoires, 204, 207. 132 Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 83–84. S. auch die Beschreibungen dieses Ansatzes bei Bergel, Me´thodologie, Rn. 170; Cornu, Introduction, Rn. 404; Terre´/Molfessis, Introduction, Rn. 608, die ihn allerdings nur wiedergeben. 133 Das lässt z.B. Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 83–84, nicht erkennen. 134 Bergel, Me´thodologie, Rn. 172; ders., ARSP 1992, 67, 77. 127
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Zu berücksichtigen ist bei diesen Kategorisierungsversuchen, dass die Terminologie nicht einheitlich ist und darüber hinaus die verschiedenen Ansätze in der Literatur nicht immer in gleicher Weise oder überhaupt gegeneinander abgegrenzt werden.135 So sieht Husson die von Saleilles propagierte Methode der Textflexibilität als Methode, bei der der Text sich von der Intention des Schöpfers löst, um ein Eigenleben zu entwickeln, damit er für die Bedürfnisse der Zeit Lösungen bieten kann.136 So beschrieben besteht kein Unterschied zum zuletzt genannten Ansatz, nach dem auf den sozialen Zweck abzustellen ist. Da nach Husson ferner Ballot-Beaupre´, der sich im Sinne der evolutiven Methode geäußert hat, den Gedanken Saleilles übernommen hat,137 unterscheidet Husson auch nicht zwischen der evolutiven Methode im engeren Sinne und dem Ansatz, der auf den sozialen Zweck der Norm zurückgreift. Er stellt allein darauf ab, dass die sozialen Bedürfnisse der Gegenwart unter Anknüpfung an den Normtext eingebracht werden. Husson sieht diese Methode als Variante der exegetischen Auslegung, weil auch bei ihr an der Idee festgehalten werde, dass das Gesetz zumindest im Ansatz die Lösung des Problems enthält, obwohl man eigentlich eine neue Regel kreiert.138 Auch Ge´ny behandelt die Methoden, nach denen die sozialen Bedürfnisse der Gegenwart mithilfe des Gesetzestextes zur Geltung gebracht werden sollen, einheitlich.139 Das erklärt sich daraus, dass es ihm darum geht, diesen Bereich der Interpretation von der Gesetzesauslegung zu trennen. Unter diesem Blickwinkel kommt es nicht darauf an, wie andere Ansätze diese Stufe der Interpretation, die Ge´ny nicht mehr als Auslegung des Gesetzes ansieht, im Detail als Gesetzesauslegung konstruieren. Zusammenfassend zeigt sich in der neueren Literatur eine Tendenz, bei jüngeren Gesetzen den Willen des Gesetzgebers als für die Auslegung maß-
135 S. z.B. die unterschiedlichen Darstellungen bei Bergel, Me´thodologie, Rn. 148–170; Carbonnier, Introduction, Rn. 155. Zur fehlenden Trennschärfe hinsichtlich der historischevolutiven Methode einerseits und der teleologischen Methode andererseits Henninger, Europäisches Privatrecht, S. 136. Fikentscher, Methoden I, unterscheidet die historischevolutive Methode, für die er Ballot-Beaupre´ benennt, und die objektive Methode, für die er Saleilles, Pre´face, S. XVI f. zitiert. 136 Husson, APhD 1972, 115, 129. 137 Husson, APhD 1972, 115, 130. So auch Paclot, L’interpre´tation juridique, Rn. 24, der unter den „modernen“ Auslegungsmethoden allerdings auch nur zwischen Saleilles und Ge´nys Ansatz unterscheidet. 138 Husson, APhD 1972, 115, 131–132. 139 Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 97, Tome II, Rn. 190, 223 (IV.). So schreibt er, BallotBeaupre´ habe aus der Methode der Textflexibilität Leitlinien für die Rechtsprechung abgeleitet. Zu weitgehend wohl Vogenauer, Auslegung, S. 335, der aus der Darstellung Ge´nys ableitet, Ballot-Beaupre´ habe den Ansatz Saleilles übernommen. Die Auffassungen unterscheiden sich aber hinsichtlich des Rückgriffs auf den hypothetischen Gesetzgeber, den Saleilles ablehnt (Saleilles, Pre´face, S. XIII, XV–XVI).
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Kapitel 6: Frankreich
geblich anzusehen, während bei älteren Vorschriften Spielraum für ein abweichendes Normverständnis besteht.140 Letzteres bestimmt sich – je nach Ausprägung der Methode – nach dem sozialen Zweck der Norm, den sozialen Bedürfnissen der Gegenwart oder den hypothetischen Vorstellungen des heutigen Gesetzgebers. Die Erforschung des Willens des Gesetzgebers und die freie Interpretation, die auch Normkreation ist, werden nicht als Gegensätze gesehen. Sowohl Beschränkung als auch Freiheit seien der Auslegung immanent, Strenge, Offenheit und Pragmatismus seien miteinander in Einklang zu bringen.141 Die damit verbundene Methodenvielfalt wird ausdrücklich anerkannt.142 Der Richter habe die Wahl zwischen zwei Gruppen von Argumenten. Er wäge ab zwischen den Argumenten, die ihm das Textverständnis des Gesetzgebers verdeutlichen, und denjenigen, nach denen eine anderweitige Auslegung dem sozialen Zweck und der Gerechtigkeit besser dient. Genauer lasse sich Auslegung nicht erfassen.143 Das Auslegungsziel ist so weder auf einen subjektiven noch auf einen objektiven Sinn des Gesetzes festgelegt. Allerdings unterscheiden nicht alle Autoren nach jüngeren und älteren Gesetzen. So differenziert Paclot unabhängig vom Alter der Regelung zwischen einer ersten Stufe, auf der der Wille des Gesetzgebers ermittelt wird, und einer zweiten Stufe, auf der der Gesetzesinhalt vom Interpreten konstruiert wird. Die zweite Stufe werde relevant, wenn das Gesetz die streitige Frage nicht regelt oder der Wille des Gesetzgebers nicht ermittelt werden kann.144 Der Unterschied zu den Auffassungen, die dem Alter des Gesetzes Gewicht für die Art der Interpretation beimessen, mag allein in der Perspektive liegen: Bei älteren Gesetzen ist häufiger als bei jüngeren zu erwarten, dass das Gesetz die streitige Frage nicht geregelt hat, weil die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Fälle auftreten, die dem Gesetzgeber fremd waren.
3. Die Auslegungskriterien Zu den Auslegungskriterien zählen die grammatikalische, die logische und die historische Auslegung ebenso wie die Berücksichtigung des Kontexts.
140
Bergel, Me´thodologie, Rn. 172; Cornu, Introduction, Rn. 406; David, Droit franc¸ais, S. 147; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 83. Gegen die unterschiedliche Behandlung von Normen nach ihrem Alter aber Capitant, Travaux pre´paratoires, 204, 208. 141 Bergel, Me´thodologie, Rn. 171–172; Chevalier, L’interpre´tation, S. 125, 127. 142 Bergel, Me´thodologie, Rn. 171–172; Terre´/Molfessis, Introduction, Rn. 608. Zur Kombination verschiedener Methoden aus dem deutschen Schrifttum Henninger, Europäisches Privatrecht, S. 126–127. 143 David, Droit franc¸ais, S. 147–148. 144 Paclot, L’interpre´tation juridique, Rn. 439, 446. Das entspricht der hier für die deutsche Methodik vertretenen Auffassung,s. oben S. 75–76, 109.
II. Die Auslegung von Gesetzen
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Von einer teleologischen Methode wird eher im Zusammenhang mit dem Ziel der Auslegung als mit Auslegungsmitteln gesprochen. a) Aspekte der Wortsinnauslegung Der Wortsinn der Norm ist der Ausgangspunkt der Auslegung.145 Die Literatur diskutiert, ob nur bei unklarem Wortsinn auszulegen ist und erörtert die grammatikalische Auslegung. Die Frage der Wortsinngrenze spielt dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Nicht unumstritten ist, ob bei klarem Wortsinn keine Auslegung stattfindet. Die überwiegende Literatur lehnt eine solche Einschränkung ab.146 Einzelne Autoren wollen die Auslegung dagegen auf Fälle beschränken, in denen der Wortsinn unklar ist, das Gesetz dem Wortsinn nach nicht anwendbar ist oder ein redaktioneller Fehler vorliegt.147 Die C. cass. hat sich gelegentlich in dem Sinne geäußert, dass der Rückgriff auf die Materialien nur bei unklaren und mehrdeutigen Gesetzen zulässig ist.148 Eine Ausnahme gelte, wenn die Anwendung des Textes zu einem absurden Ergebnis führe.149 Allerdings finden sich auch Entscheidungen, in denen die Materialien unterstützend herangezogen werden, ohne dass eine solche Unklarheit ersichtlich ist.150 In der 145
Aubry et Rau, Droit civil, § 40, Rn. 170; Bergel, Me´thodologie, Rn. 149; Carbonnier, Introduction, Rn. 154; Cornu, Introduction, Rn. 391; David, Droit franc¸ais, S. 140, 148; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 79. 146 Bergel, Me´thodologie, Rn. 145; Champeil-Desplats, Me´thodologies, Rn. 637; Malaurie/Morvan, Introduction, Rn. 448; Paclot, L’interpre´tation juridique, Rn. 419–420; wohl auch Ferrand, Cassation, Rn. 382, der die Zahl der wirklich klaren Normen für sehr gering hält. 147 Aubry et Rau, Droit civil, § 40, Rn. 169. 148 Cass. civ. 1 11.5.2017 FR:CCASS:2017:C100567 no 16-15549 16-60115; Cass. ass. ple`n. 2.2.1996 n° 91–21373; Cass. soc. 16.3.1972 no 70-12751. Carbonnier, Introduction, Rn. 160, spricht unter Berufung auf einige weitere Urteile von einer ständigen Rechtsprechung. Er nennt dabei zwei weitere Urteile der C. cass. von 1934 und 1949 sowie zwei instanzgerichtliche Urteile von 1947 und 1988. Mehrere ältere Urteile nennt Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 104 (Fn. 2 auf S. 296). S. auch Capitant, Travaux pre´paratoires, 204, 208–210, der diese Haltung der Rechtsprechung befürwortet; Couderc, D. 1975, Chr. 249, 250 (Fn. 10). S. zu entsprechenden Aussagen aus der Rechtsprechung des CC Josse, Travaux pre´paratoires, S. 73–75. 149 Cass. civ. 1 11.5.2017 FR:CCASS:2017:C100567 no 16-15549 16-60115. 150 Cas. civ. 2 18.4.2019 FR:CCASS:2019:C200588 no 18-13371; Cass. civ. 1 15.6.2017 FR:CCASS:2017:C100748 no 15-23066; C. E. 22.2.2007 no 264541; Cass. civ. 1 28.1.2010 n° 08-70026; Cass. com. 7.6.2006 no 02-21331; Cass. soc. 10.2.2004 no 01-45089 01-45090. Cass. civ. 1 12.5.2011 no 08-20651, hat mithilfe der Materialien die Absicht des Gesetzgebers belegt, eine Richtlinie umzusetzen. Vogenauer, Auslegung, S. 249–272, beschreibt den Umgang mit der acte-clair-Theorie in unterschiedlichen Konstellationen und zeigt dabei zahlreiche Fälle auf, in denen der Grundsatz das Interpretationsergebnis nicht begrenzt hat.
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Kapitel 6: Frankreich
Literatur wird gegen die Beschränkung der Auslegung auf Fälle unklarer oder mehrdeutiger Normen eingewendet, dass schwierig zu bestimmen ist, ob ein Text klar ist und sich das letztlich nach der Einschätzung des jeweiligen Richters richtet.151 Hinzu komme, dass der Grundsatz nicht selten missachtet werde, indem einem klaren Text ein anderer Sinn zugewiesen werde als vom Gesetzgeber vorgesehen. Hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Auslegung bestehe daher eine gewisse Unsicherheit.152 Mit Blick auf diese kritische Literatur und (jüngere) Urteile, die eine Auslegung nicht von Unklarheiten des Normtextes abhängig machen, lässt sich nicht ohne Weiteres sagen, dass in Frankreich die acte-clair-Theorie vorherrscht.153 Ein Teil der deutschsprachigen Literatur versteht sie so, dass der klare Wortsinn andere Auslegungsmethoden nicht ausschließt, sondern lediglich einer permanenten und sofort einsetzenden Auslegung entgegensteht. Der Normtext müsse sich zunächst als unzulänglich erweisen.154 In dieser abgeschwächten Form mag die Theorie mehr Anhänger finden. Ob es sinnvoll ist, sie in dieser Variante noch als „the´orie du texte clair“ zu bezeichnen, ist zweifelhaft. Passender scheint die Terminologie Vogenauers, der unter Rangaspekten von einem prima facie Vorrang des grammatikalischen Elements bei eindeutigem Wortsinn spricht.155 Recht einheitlich ist das Bild zur grammatikalischen Auslegung. Dabei soll es zunächst um den Sinn der Worte für sich betrachtet gehen.156 Es wird auf den Sprachgebrauch, die Satzstruktur und Zeichensetzung geachtet.157 Die Wortsinnauslegung könne oft den Schlüssel zum Textverständnis bieten, reiche aber allein nicht aus, wenn die verwendeten Begriffe mehrdeutig sind.158 Hinsichtlich des Sprachgebrauchs wird nach dem gewöhnlichen und dem juristischen Sprachgebrauch unterschieden. Maßgeblich sei die fachsprachliche Bedeutung von Worten, denn auch wenn der Gesetzgeber Be-
151
Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 74–76. Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 77–78. S. auch Ferrand, Cassation, Rn. 386. 153 Dagegen bestimmt nach Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 27, 57 (mit Fn. 270), 62, die acte-clair-Theorie in Frankreich die Auslegungsfähigkeit der Norm. Entscheidungen, in denen eine scheinbar klare Regelung ausgelegt werde, sprächen nicht gegen die grundsätzliche Geltung der Theorie. Damit bleibt freilich offen, unter welchen Umständen anzunehmen wäre, dass sie nicht mehr gilt. Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 136, regt allerdings im Interesse einer stärkeren Konvergenz der Methoden an, diese Theorie aufzugeben, die sie an dieser Stelle auch als nicht unumstritten bezeichnet. Von der Anwendung der acte-clair-Theorie in Frankreich geht ferner Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 286–287, aus, der sie selbst ablehnt. 154 Hahn, ZfRV 2003, 163, 165–166. 155 Vogenauer, Auslegung, S. 295. 156 David, Droit franc¸ais, S. 140; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 79. 157 Bergel, Me´thodologie, Rn. 149; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 79. 158 Bergel, Me´thodologie, Rn. 149; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 79–80. 152
II. Die Auslegung von Gesetzen
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griffe möglichst in ihrem gewöhnlichen Sinne verwenden solle, sei das mit Blick auf Präzision und Sicherheit nicht stets möglich.159 Ferner sei zu berücksichtigen, dass der sprachliche und der juristische Kontext Einfluss auf die Wortbedeutung haben. Bei der Ermittlung des Wortsinns seien daher – über die reine Textbetrachtung hinausgehend – stets die geregelte Materie und die Stellung der Regelung in ihrem gesetzlichen Umfeld zu beachten.160 Ob der Wortsinn die Grenze der Auslegung bildet, wird nur selten thematisiert. In Hinblick auf die exegetische Methode wird oft betont, dass sie nicht so sehr wortsinnbezogen, sondern vor allem am Willen des Gesetzgebers orientiert ist.161 Allerdings ist diese Aussage nicht unbedingt als Ablehnung einer Wortsinngrenze zu verstehen. Sie lässt sich auch so deuten, dass die Auslegung sich nicht in der Lektüre des Normtextes und seiner grammatikalischen Interpretation erschöpft.162 Wie viel Spielraum der Interpret mit Bezug auf den Wortsinn hat, ist damit noch nicht gesagt. In gewisser Weise liegt der Gedanke der Wortsinngrenze der Methode der Textflexibilität zugrunde, die auf eine Rückanbindung des Auslegungsergebnisses an den Text Wert legt. Ferner heißt es vereinzelt, eine teleologische Interpretation müsse mit der grammatikalischen Auslegung des Gesetzes vereinbar sein.163 Insgesamt wird die Frage der Wortsinngrenze aber kaum diskutiert. Im Vordergrund stehen Überlegungen dazu, mit welchen Mitteln der Wille des Gesetzgebers ermittelt wird und wie mit sozialem und wirtschaftlichem Wandel umzugehen ist. b) Logische Interpretation, Gesamtzusammenhang Die grammatikalische Auslegung wird als nicht ausreichend angesehen und um die logische Auslegung ergänzt.164 Dieser Begriff wird in der französischen Literatur nicht einheitlich verwendet. Für einige bedeutet logische
159
Bergel, Me´thodologie, Rn. 150. S. zum Vorrang der fachsprachlichen Bedeutung auch Aubry et Rau, Droit civil, § 40, Rn. 170; Simon, Methods of Interpretation, S. 55, 67; Troper/Grzegorczyk/Gardies, in: Interpreting Statutes, S. 171, 182. 160 Bergel, Me´thodologie, Rn. 149–150; Paclot, L’interpre´tation juridique, Rn. 442, 443. 161 Carbonnier, Introduction, Rn. 154; Roland/Boyer, Introduction, Rn. 349. 162 In diesem Sinne recht deutlich Bergel, Me´thodologie, Rn. 148; Cornu, Introduction, Rn. 392. 163 David, Droit franc¸ais, S. 144, 146. 164 Cornu, Introduction, Rn. 394, spricht nicht von logischer Auslegung, sondern (allein) von der Betrachtung der Norm im Kontext. Paclot, L’interpre´tation juridique, Rn. 448, sieht die Anwendung dieser Techniken als Konstruktion des Norminhalts, nicht als Ermittlung des gesetzgeberischen Willens. Die logische Argumentation gehe von einer vernünftigen Regelung aus, weise diese Vernunft aber nicht dem historischen Gesetzgeber, sondern einem imaginären Gesetzgeber zu.
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Auslegung, juristische Argumentationstechniken auf den Text anzuwenden. Dazu zählt z.B. die Argumentation a contrario oder a fortiori.165 Andere fassen unter logische Auslegung daneben auch Überlegungen, die auf den Zusammenhang der Vorschrift zu anderen Normen abstellen oder sie zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen in Beziehung setzen.166 Wieder andere verstehen unter logischer Auslegung die Betrachtung der Norm im Gesamtzusammenhang und sehen die Anwendung von Argumentationstechniken als eine Spielart der so verstandenen logischen Auslegung an.167 Der Unterschied zur zweiten Auffassung liegt darin, dass diese die logische Auslegung als Oberbegriff für die Anwendung von Argumentationstechniken einerseits und die Beachtung des Gesamtzusammenhangs andererseits sieht, während die zuletzt genannte Auffassung die logische Auslegung mit dem Blick auf den Gesamtzusammenhang gleichsetzt und die Anwendung von Argumentationstechniken als Variante dieser Auslegung sieht. Gelegentlich wird ein sehr weiter Begriff benutzt, der alle Auslegungsmittel erfasst, die nicht zur grammatikalischen Auslegung zählen. Im Einzelnen werden dann die Beachtung des Gesamtzusammenhangs, die Suche nach dem Zweck der Norm und die Folgenbetrachtung genannt. Unter diesen Vorgehensweisen liefere die erste die besten Ergebnisse, während die Folgenbetrachtung nur mit Vorsicht anzuwenden sei.168 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Stellung der Norm im Gesamtgefüge des Rechts beachtet und bestimmte Argumentationstechniken, die sich gerade diese Perspektive zunutze machen, angewendet werden sollen.
165
Bergel, Me´thodologie, Rn. 153 (s. dort Rn. 154–160 zu den einzelnen Argumenten); Roland/Boyer, Introduction, Rn. 351, 363 (s. dort Rn. 366–377 zu den einzelnen Argumenten). Bergel, Me´thodologie, Rn. 166–168, behandelt die systematische Methode neben der libre recherche scientifique und der evolutiven Interpretation als eigenständige extrinsische Auslegungsmethode (im Gegensatz zur intrinsischen Methode, die nach Bergel, Me´thodologie, Rn. 147, nicht auf Elemente außerhalb des zu interpretierenden Textes zurückgreift). So auch Carbonnier, Introduction, Rn. 155. 166 Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 80–82. 167 David, Droit franc¸ais, S. 140–141; Troper/Grzegorczyk/Gardies, in: Interpreting Statutes, S. 171, 182–183. So ließe sich auch Bergel, Me´thodologie, Rn. 171, verstehen, der erwähnt, dass bei der logischen Auslegung die Norm im Kontext gesehen wird. Allerdings geht er bei der Beschreibung der logischen Interpretation allein auf Argumentationstechniken ein (Bergel, Me´thodologie, Rn. 153–160), was nicht dafür spricht, ihn bei der hier genannten Auffassung einzuordnen. 168 Aubry et Rau, Droit civil, § 40, Rn. 170. Vogenauer, Auslegung, S. 234, sieht ein derart umfassendes Verständnis von logischer Interpretation seitens der französischen Gerichte als gegeben an. Einen ebenfalls weiten Begriff der logischen Auslegung verwendet Henninger, Europäisches Privatrecht, S. 129–134.
II. Die Auslegung von Gesetzen
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c) Die Gesetzgebungsmaterialien Ein Teil der Literatur spricht sich dafür aus, den Willen des Gesetzgebers mithilfe der Gesetzgebungsmaterialien zu erforschen,169 während andere den Rückgriff auf die Materialien ablehnen170. Die Befürworter sehen durchaus Grenzen, was den Nutzen dieses Auslegungsmittels angeht. Zum einen gebe es solche Materialien nur bei formellen Gesetzen, zum anderen könnten sie unergiebig sein, da sich aus widersprüchlichen Parlamentsdebatten nicht unbedingt die der Norm zugrundeliegende Absicht ablesen lasse.171 Deshalb ist aber nach Auffassung der Befürworter die Nutzung der Materialien nicht grundsätzlich zu verwerfen.172 Wie bereits erwähnt, wird die Auslegung anhand der Materialien oft bei jüngeren Gesetzen für sinnvoller gehalten als bei älteren.173 Diejenigen, die den Rückgriff auf die Gesetzgebungsmaterialien grundsätzlich ablehnen, zweifeln ihren Aussagegehalt auf einer grundlegenden Ebene an. Die Kritiker verweisen darauf, dass sich nicht unbedingt feststellen lässt, ob die Verfasser des Gesetzes und die Parlamentarier sich über den Inhalt der Regelungen einig gewesen sind. Die Debatten seien oft eine Ansammlung gegenläufiger Erklärungen, die nicht mehr als individuelle Ansichten seien und dem Grundgedanken des Gesetzes zuwiderlaufen könnten. Auch bleibe die Suche nach dem Willen des Gesetzgebers in den Materialien ergebnislos, wenn dieser die Frage gar nicht geregelt habe.174 Aus den Reihen der Kritiker heißt es, es sei sinnvoller, wie bei der Auslegung von Rechtsgeschäften den Willen des Schöpfers des Textes im Text selbst zu suchen.175 Dafür wird u.a. Art. 1156 C. c. in der bis zum 30.9.2016 geltenden Fassung angeführt, wonach die Vertragsauslegung sich am gemeinsamen Parteiwillen und nicht am Buchstaben der Vereinbarung orientieren sollte.176 Auf diese Norm stützen sich allerdings auch Vertreter der Auffassung, nach der die 169 Bergel, Me´thodologie, Rn. 152; ders., ARSP 1992, 67, 73–74; Paclot, L’interpre´tation juridique, Rn. 197; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 83. 170 Battifol, APhD 1972, 2, 17; Capitant, Travaux pre´paratoires, 204, 211–214. 171 Paclot, L’interpre´tation juridique, Rn. 196 (Fn. 1), 197, 445; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 83. S. auch Bergel, Me´thodologie, Rn. 152; Couderc, D. 1975, Chr. 249, 256. 172 Couderc, D. 1975, Chr. 249, 251. 173 Bergel, ARSP 1992, 67, 74, meint, die Bedeutung der Materialien verblasse mit der Zeit, ebenso wie die Bedeutung des gesetzgeberischen Willens. Ähnlich ders., Me´thodologie, Rn. 171. Schärfer formuliert Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 83, der die Suche nach der gesetzgeberischen Absicht – und damit die Nutzung der Materialien – nur bei jüngeren Gesetzen für sinnvoll hält. 174 Battifol, APhD 1972, 2, 16; Capitant, Travaux pre´paratoires, 204, 213; Roland/Boyer, Introduction, Rn. 353–354. 175 Capitant, Travaux pre´paratoires, 204, 211–212, 214. 176 Nach Art. 1888 Abs. 1 C. c., der seit dem 1.1.2016 die Grundregel der Vertragsauslegung enthält, ist ein Vertrag nach dem gemeinsamen Willen der Parteien und nicht im wörtlichen Sinne zu interpretieren.
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Kapitel 6: Frankreich
Materialien zu benutzen sind, um den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln. In diesen Materialien sei die zu erforschende Absicht des Gesetzgebers am ehesten zu finden.177 Ein Teil der Kritik richtet sich schließlich eher gegen eine zu starre Bindung an den Willen des historischen Gesetzgebers als gegen die Nutzung der Materialien an sich. So heißt es, es drohe Stillstand im Recht, wenn man sich bei der Gesetzesauslegung allein auf die Absichten des Gesetzgebers stütze.178 Eine ähnliche Stoßrichtung hat die Argumentation, nach der der gesetzgeberische Wille nicht das ist, was der Interpret eigentlich im Recht sucht. Es gehe vielmehr darum, eine Regel zu finden, mit deren Hilfe das ihm vorliegende Problem zu lösen sei. Die Suche nach dem Willen des Gesetzgebers beantworte dagegen eine andere Frage, nämlich die nach der historischen Wahrheit. Der Wille des Gesetzgebers sei zwar zu berücksichtigen, enthalte aber nicht die wahre, einzige Antwort auf die gestellte Frage.179 Dem wird entgegengehalten, dass zumindest bei zeitgenössischen Gesetzen zu erwarten ist, dass die Materialien Aufschluss über die Lösung des praktischen Problems geben. Bei solchen Gesetzen lasse sich wahrscheinlich mit dem gesetzgeberischen Willen zugleich die Lösung des praktischen Problems ermitteln.180 Zudem halten auch Autoren, die die Materialien berücksichtigen, den Willen des Gesetzgebers nicht unbedingt für maßgeblich. So zeigen sich laut Deumier gelegentlich durch Zeitablauf oder unterschiedliche Regelungen auf einem bestimmten Sachgebiet Widersprüche, die der Richter aufzulösen habe.181 Diese Diskussion betrifft letztlich das Ausmaß der Bindung an erkennbare gesetzgeberische Absichten und die Möglichkeiten der Reaktion auf sozialen und wirtschaftlichen Wandel im Wege der Auslegung, nicht dagegen die Frage, wie der Wille des Gesetzgebers zu ermitteln ist. Abgesehen von dem Streit darum, ob Gesetzgebungsmaterial überhaupt zur Auslegung heranzuziehen ist, herrscht keine Einigkeit darüber, was unter den Materialien zu verstehen ist. Darüber hinaus ist nicht immer klar ersichtlich, welche Elemente der einzelne Autor zu den Materialien zählt. Einige Aussagen lassen sich nur aus dem Kontext ableiten, insbesondere daraus, was im Text nicht erwähnt wird. Einige beziehen sich auf die Parlamentsdebatten.182 Andere nennen daneben weitere Erkenntnismittel wie Präambeln, Kommissionsberichte und die Begründungserwägungen (expose´ des mo-
177
Couderc, D. 1975, Chr. 249, 251. Bergel, Me´thodologie, Rn. 171; Ge´ny, Me´thode, Tome I, Rn. 33; Roland/Boyer, Introduction, Rn. 353. 179 Battifol, APhD 1972, 2, 17. 180 Couderc, D. 1975, Chr. 249, 251. 181 Deumier, Re´pertoire de droit civil, Rn. 49. 182 Capitant, Travaux pre´paratoires, 204, 213; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 83. 178
II. Die Auslegung von Gesetzen
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tifs).183 Diskutiert wird ferner, welche Rolle die Antwort eines Ministers auf eine schriftliche Anfrage des Parlaments bei der Auslegung einer Norm spielt.184 Zielvorstellungen, die in das Gesetz aufgenommen wurden, werden nach Angaben der Literatur als Interpretationsmittel kaum beachtet. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass sie, wie Morand schreibt, oft so abstrakt formuliert sind, dass sie die konkreten Ziele verbergen, die durch die Anwendung der traditionellen Auslegungsmethoden festgelegt werden sollen.185 Vereinzelt finden sich Aussagen dazu, welche der diversen Materialien heranzuziehen sind. So sollen die Begründungserwägungen und Kommissionsberichte den Willen des Gesetzgebers widerspiegeln, während die widersprüchlichen und unscharfen Parlamentsdebatten als wenig hilfreich angesehen werden.186 Zu berücksichtigen sei dabei nur veröffentlichtes Material.187 Nach anderer Auffassung ist das Gesetzgebungsverfahren als Prozess zu berücksichtigen.188 Der Vergleich zwischen dem ursprünglichen Entwurf und der verabschiedeten Fassung zeige den kreativen Impuls des Parlaments in diesem Verfahren. Durch entsprechende Analyse könne ermittelt werden, welche Meinungen und Lösungen verworfen wurden. Alle Bestandteile der Materialien könnten herangezogen werden, um zu erklären, wieso die Gesetz gewordene Fassung sich durchgesetzt hat. Sei dieses Vorgehen nicht ergiebig, könne eine Analyse der verworfenen Lösungen dazu dienen, die Bedeutung des Textes zu erhellen.189 Dass die Begründungserwägungen und Berichte von der Regierung und den Kommissionen stammen, soll ihrer Berücksichtigung nicht entgegenstehen. Wenn diese Vorschläge aufgegriffen und verabschiedet würden, seien sie nicht anders zu bewerten als solche aus den Reihen der Abgeordneten.190
183 Bergel, Me´thodologie, Rn. 152; ders., ARSP 1992, 67, 73; Cornu, Introduction, Rn. 393; Roland/Boyer, Introduction, Rn. 349; Paclot, L’interpre´tation juridique, Rn. 444–445. S. auch Champeil-Desplats, Me´thodologies, Rn. 645. 184 S. dazu Ghestin/Barbier, Introduction ge´ne´rale, Rn. 630, und ausführlich Oppetit, D. Chr. 1974, 107, der dieses Instrument kritisch betrachtet, da es seiner Auffassung nach in einigen Fällen von der Verwaltung benutzt wird, um dem Gesetz einen vom gesetzgeberischen Willen abweichenden Inhalt zu geben (ihm folgend Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 83). 185 Morand, RRJ 1989, 853, 870. 186 Bergel, ARSP 1992, 67, 74. Ohne den geringeren Nutzen der Parlamentsdebatten zu erwähnen auch ders., Me´thodologie, Rn. 172. 187 Bergel, Me´thodologie, Rn. 152; ders., ARSP 1992, 67, 74. 188 Couderc, D. 1975, Chr. 249, 252–255. 189 Couderc, D. 1975, Chr. 249, 255–256. Dabei erkennt Couderc durchaus an, dass die Praxis des Gesetzgebungsverfahrens oft zu unbefriedigendem Material führt. 190 Couderc, D. 1975, Chr. 249, 252.
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Kapitel 6: Frankreich
d) Die teleologische Interpretation Mit dem Begriff der teleologischen Interpretation wird in der französischen Literatur eher die Zielrichtung der Auslegung als ein Auslegungsmittel beschrieben.191 Nur einzelne Autoren verstehen die teleologische Auslegung als subjektive Auslegung, als Suche nach dem Willen des Gesetzgebers.192 Die meisten Stellungnahmen verbinden sie mit einer objektiven Zielsetzung, die Rede ist vom sozialen Zweck der Regelung oder ihrem rechtspolitischen Ziel.193 Es geht darum, eine Anpassung des geschriebenen Rechts an die Bedürfnisse der Gegenwart zu ermöglichen.194 e) Rangfragen Eine Rangfolge der Auslegungskriterien wird weder in der Literatur diskutiert noch lässt sie sich aus der Rechtsprechung ableiten. Allerdings nehmen einige Autoren mit Blick auf die acte-clair-Theorie einen (prima facie) Vorrang der Wortsinninterpretation an.195 Wie bereits ausgeführt, ist zweifelhaft, ob diese Theorie in Frankreich tatsächlich im Sinne einer ernsthaften Begrenzung der Auslegung Anwendung findet.196 Wird sie lediglich im Sinne einer Schwelle für eine weitergehende Auslegung verstanden,197 ist damit letztlich nicht mehr gesagt, als dass eine Auslegung einer Norm über das unmittelbare Textverständnis hinaus in der Praxis nur stattfindet, wenn Anlass besteht, von diesem Normverständnis abzuweichen. In diesem Sinne werden Rechtsnormen häufig schlicht ihrem Wortsinn nach angewendet. Unter welchen Umständen Anlass besteht, über dieses Textverständnis hinauszugehen, ist damit aber nicht gesagt.
191 S. dazu oben S. 202. S. auch Henninger, Europäisches Privatrecht, S. 137, 147, der bei der Zusammenfassung der Auslegungskriterien die teleologische Auslegung nicht nennt. 192 Malaurie/Morvan, Introduction, Rn. 460. 193 Bergel, Me´thodologie, Rn. 172; Carbonnier, Introduction, Rn. 155; Cornu, Introduction, Rn. 404; David, Droit franc¸ais, S. 144; Ferrand, Cassation, Rn. 387; Terre´/Molfessis, Introduction, Rn. 608. S. zur Suche nach der subjektiven oder objektiven Bedeutung eines Textes auch Troper/Grzegorczyk/Gardies, in: Interpreting Statutes, S. 171, 179, 181. 194 Cornu, Introduction, Rn. 404; David, Droit franc¸ais, S. 144, 147; Rieg, Rapport franc¸ais, S. 70, 83. 195 Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 27; Vogenauer, Auslegung, S. 295. Referierend auch Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 285–287, der einen solchen Vorrang allerdings ablehnt. 196 S. oben S. 205–206. 197 Vogenauer, Auslegung, S. 295.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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III. Die richtlinienkonforme Auslegung Die Literatur, die sich vergleichend mit der richtlinienkonformen Auslegung in Deutschland und Frankreich befasst, weist oft darauf hin, dass die richtlinienkonforme Auslegung in Frankreich nicht als Methodenproblem, sondern als Aspekt der Rechtsquellenlehre behandelt wird. Diskutiert werde das Verhältnis der Richtlinie als Rechtsquelle zu anderen im französischen Recht zu beachtenden Rechtsquellen.198 Methodische Stellungnahmen zur richtlinienkonformen Auslegung gebe es nicht.199 Dieser Befund hat sich in dieser Untersuchung bestätigt. Die französische Literatur diskutiert die Einbindung der richtlinienkonformen Auslegung in den Auslegungsprozess nicht und geht nur wenig auf die Contra-legem-Grenze ein.200 Auch die Rechtsprechung äußert sich – angesichts des ohnehin knappen Urteilsstils erwartungsgemäß – kaum zur richtlinienkonformen Auslegung, was aber nicht bedeutet, dass Richtlinien bei der Anwendung des nationalen Rechts nicht ausreichend berücksichtigt werden.201 Nachfolgend wird zunächst die Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung untersucht, anschließend die Äußerungen aus der Literatur.
1. Die richtlinienkonforme Auslegung in der Rechtsprechung Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung ist in der französischen Rechtsprechung anerkannt.202 Das zeigt sich z.B. am Jahresbericht der C. cass. für 2006, der u.a. eine Studie zum Umgang der C. cass. mit europäischem Recht enthält. In dieser Studie wurde vor allem auf zu diesem Zeitpunkt aktuelle Urteile aus dem Bereich der Produkthaftung hingewiesen.203 198 Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 19; Drexler, Richtlinienkonforme Interpretation, S. 216, 289; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 171. 199 Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 36. 200 S. unten S. 220–222. 201 Nach Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 171, 187–206, sind Fälle, in denen die französische Rechtsprechung richtlinienkonfom auslegt, selten. Die nachstehend auf S. 214 zitierten Urteile zeigen allerdings, dass das Thema richtlinienkonforme Auslegung zumindest in der jüngeren Rechtsprechung präsent ist (ein erheblicher Teil der genannten Entscheidungen erging nach der Veröffentlichung der Arbeit von Suhr) – womit noch nichts darüber gesagt ist, wie häufig eine richtlinienkonforme Interpretation gelingt. 202 Die Rechtsprechung der Sozialkammer der C. cass. wird als sehr unionsrechtsfreundlich eingestuft, Re´my/Tissandier, D. 2010, 1266, 1268. 203 C. cass., Rapport annuel 2006, E´tude, S. 77, 137–138. Die Umsetzung der RL 85/374/EWG erfolgte erst mit erheblicher Verspätung. Die C. cass. hat mehrfach Vorschriften des C. c. im Lichte der Richtlinie interpretiert und so ihre Vorgaben im französischen Recht zur Geltung gebracht. Jourdain, Resp. civ. et assur. 1998, chr. 16, 4, äußerte sich dahingehend, dass angesichts dieser Rechtsprechung das Umsetzungsgesetz letztlich
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Kapitel 6: Frankreich
Urteile aus den letzten Jahren befassen sich u.a. mit der RL 93/13/EWG (Klauselrichtlinie)204, der RL 2005/29/EG (UGP-Richtlinie)205, der RL 2001/29/EG (Urheberrechtsrichtlinie)206, der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie207 und verschiedenen arbeitsrechtlichen Richtlinien208. Die C. cass. äußert sich allerdings nur sehr knapp zur richtlinienkonformen Auslegung. Meist weist sie schlicht darauf hin, dass die Entscheidung auf eine bestimmte nationale Rechtsnorm gestützt ist, die im Lichte der einschlägigen Richtlinie auszulegen ist. Ausführlicher wird das Gericht gelegentlich, wenn es auf konkretisierende EuGH-Rechtsprechung ankommt.209 a) Die Contra-legem-Grenze Die Grenze der richtlinienkonformen Auslegung, die sich aus dem Verbot der Auslegung contra legem ergibt, erwähnt die C. cass. nur vereinzelt und erläutert sie noch seltener.
zwar notwendig, aber nur von geringem Interesse war. Im Bericht erwähnt sind die Urteile Cass. civ. 1 24.1.2006 no 02-16648 P; Cass. civ. 1 24.1.2006 no 03-19534 P und Cass. civ. 1 21.6.2005 no 02-18815 P. S. zuvor bereits Cass. civ. 1 28.4.1998 no 96-20421 P. Aus jüngerer Zeit Cass. civ. 1 15.6.2016 FR:CCASS:2016:C100668 no 15-20022 P (mit krit. Anm. Jourdain, RTDciv 2016, 872, 874, nach dessen Auffassung sich das Ergebnis nicht aus einer richtlinienkonformen Auslegung, sondern aus der Anwendung nationalen Rechts ergibt). S. zur richtlinienkonformen Interpretation auf diesem Gebiet auch Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 89–96; dies., Frankreich, Rn. 35. 204 Cass. civ. 1 26.4.2017 FR:CCASS:2017:C100496 no 15-18970 P. 205 Cass. civ. 1 29.3.2017 FR:CCASS:2017:C100444 no 15-13248 P. 206 Cass. civ. 1 17.3.2016 FR:CCASS:2016:C100266 no 15-10895 P; Cass. civ. 1 14.1.2010 no 08-16022 P. 207 Cass. civ. 1 5.2.2014 FR:CCASS:2014:C100117 no 12-25748; Cass. com. 13.7.2010 no 09-15304 09-66970 P. 208 Cass. soc. 14.2.2018 FR:CCASS:2018:SO00250 no 16-17966 P (RL 1999/70/EG); Cass. soc. 10.1.2017 FR:CCASS:2017:SO00023 no 15-14775 (RL 2001/23/EG); Cass. soc. 7.12.2016 FR:CCASS:2016:SO02316 no 15-16769 P (89/391/EWG); Cass. soc. 16.12.2015 FR:CCASS:2015:SO02243 no 11-22376 P (RL 2003/88/EG); Cass. soc. 3.7.2012 no 08-44834 P (RL 2003/88/EG); Cass. soc. 17.6.2009 no 08-42615 P (RL 2001/23/EG); Cass. soc. 16.12.2008 no 06-45262 P (RL 76/207/EWG); Cass. soc. 13.12.2006 no 05-44580 (RL 89/391/EWG) sowie die in Fn. 10, 19, 21 und 37–39 aufgeführten Entscheidungen. 209 So z.B. Cass. soc. 14.2.2018 FR:CCASS:2018:SO00250 no 16-17966 P; Cass. civ. 1 29.3.2017 FR:CCASS:2017:C100444 no 15-13248 P; Cass. civ. 1 10.12.2014 FR:CCASS:2014:C101455 no 13-14314 P; Cass. soc. 3.7.2012 no 08-44834 P; Cass. civ. 1 14.1.2010 no 08-16022 P.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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aa) Die Bedeutung des Wortsinns Am aussagekräftigsten ist ein Urteil der C. cass. aus dem Jahr 2016, wenn man es im Zusammenhang mit der dazugehörigen erläuternden Anmerkung liest. In dieser Entscheidung ging es um die Berücksichtigung von Krankheitszeiten aufgrund eines Arbeitsunfalls, die über die Dauer von einem Jahr hinausgingen. Das Gericht bejahte einen Urlaubsabgeltungsanspruch des betroffenen Arbeitnehmers unter Rückgriff auf die Vertikalwirkung des Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG, ohne auf die Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung einzugehen.210 In der erläuternden Anmerkung heißt es dazu, der Richter könne im Wege der Auslegung das Hindernis, das sich aus den Buchstaben der Texte des nationalen Rechts ergibt, nicht überwinden, wenn diese in völligem Widerspruch zur Richtlinie stehen. Diese Grenze sei im vorliegenden Fall erreicht gewesen, da Krankheitszeiten aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit nach Art. L3141-5 Nr. 5 C. trav. nur bis zur Dauer eines Jahres berücksichtigungsfähig sind.211 Das spricht dafür, dass die Contra-legem-Grenze über den Wortsinn der Norm bestimmt wird.212 Allerdings zeigen andere Entscheidungen, dass sich die Grenze nicht (allein) wortsinnbezogen ziehen lässt. Denn obwohl Art. L3141-5 Nr. 5 C. trav. dem Wortsinn nach nur Fehlzeiten aufgrund von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten erfasst, hat die C. cass. die Norm auch auf wegeunfallbedingte Fehlzeiten angewendet. Eine Gleichstellung sonstiger Krankheitstage lehnte sie wiederum ab.213 Am Wortsinn der Norm lässt sich diese Unterscheidung nicht festmachen. Die C. cass. differenziert vielmehr nach berufsbezogenen und nicht berufsbezogenen Unfällen oder Erkrankungen.214 Diese Unterscheidung ist zwar im Gesetz angelegt, da ein Teil der berufsbezogenen Unfälle und Erkrankungen von Art. L3141-5 C. trav. erfasst ist.215 Das lässt aber eher auf systematische als auf wortsinnbezogene Überlegungen schließen. Allerdings bieten die Ausführungen der C. cass. schlicht zu wenig An-
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Cass. soc. 22.6.2016 FR:CCASS:2016:SO01289 no 15-20111 P. Note explicative zum Urteil Cass. soc. 22.6.2016 FR:CCASS:2016:SO01289 no 15-20111 P. 212 So auch die Feststellung von Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 206, nach einer Analyse mehrerer Entscheidungen des C. E. und der C. cass. 213 S. oben S. 182–183. 214 Zur Kritik an der Entscheidung, Fehlzeiten aufgrund nicht berufsbezogener Erkrankungen nicht für den Urlaubserwerb zu berücksichtigen, s. oben S. 183–184. 215 Auch nach Auffassung der Literatur steht der Wegeunfall dem Arbeitsunfall näher als eine Krankheit, die keine Berufskrankheit ist. Dennoch hätten die Natur des Urlaubs, seine Bedeutung für die Gesundheit des Arbeitnehmers und der Geist der Regeln zum Urlaubserwerb dafür gesprochen, Krankheit und Unfall dem Arbeitsunfall und der Berufskrankheit gleichzustellen, so Ve´ricel, RDT 2013, 341, 342. 211
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haltspunkte für eine Aussage dazu, warum sie sich in dem einen Fall zur richtlinienkonformen Auslegung in der Lage sah und in dem anderen nicht. Die soeben erwähnte Aussage aus einer der erläuternden Anmerkungen, ein dem Wortsinn nach klar richtlinienwidriges Gesetz könne nicht richtlinienkonform interpretiert werden,216 gilt jedenfalls nicht uneingeschränkt. Das zeigt auch eine aktuelle Entscheidung auf dem Gebiet des geistigen Eigentums. Die C. cass. rückte im Februar 2020 von ihrer ursprünglichen, streng wortlautorientierten Auslegung des Art. L311-4 Code de la proprie´te´ intellectuelle ab.217 Die Norm regelt die Verpflichtung, Abgaben für Privatkopien zu entrichten. Sie verpflichtet ihrem Wortsinn nach nur Hersteller, Importeure oder Personen, die innergemeinschaftliche Erwerbe im Sinne einer bestimmten steuerrechtlichen Regelung tätigen. Die C. cass. entschied, dass entgegen ihrer früheren Rechtsprechung ein in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässiger Händler, der leere Tonträger online an einen in Frankreich ansässigen Verbraucher verkauft, Abgaben für Privatkopien entrichten muss. Dieses Ergebnis erzielte sie im Wege der richtlinienkonformen Auslegung. Die Kammer erklärte ausdrücklich, dass es sich nicht um eine Auslegung contra legem handelt, ohne das näher zu begründen.218 Der Wortsinn bildet nach diesem Urteil jedenfalls nicht die Grenze der richtlinienkonformen Auslegung. bb) Weitere Entscheidungen zur Contra-legem-Grenze Andere Entscheidungen lassen zwar erkennen, dass die C. cass. die Contralegem-Grenze bei der richtlinienkonformen Auslegung berücksichtigt, geben aber nur indirekt Anhaltspunkte dafür, wie diese Grenze zu bestimmen ist. So hat die C. cass. im Jahr 2015 unter Berufung auf das Verbot des Contralegem-Judizierens in einem Produkthaftungsfall mangels einer korrekten Umsetzungsnorm eine der Richtlinie nicht entsprechende nationale Verjährungsfrist angewendet und entschieden, dass diese Norm einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich ist.219 In einem Kommentar zu dieser Entscheidung heißt es, eine richtlinienkonforme Auslegung setze eine gewisse Plastizität des Rechts voraus. Die zu interpretierende Regelung müsse Auslegungsmöglichkeiten eröffnen. Bei formalen, klaren Regelungen, die keine Auslegung erfordern, sei das nicht der Fall. Das gelte z.B. für eine Verjäh-
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S. oben S. 186. Cass. civ. 1 5.2.2020 FR:CCASS:2020:C100088 no 18-23752. Die wortlautorientierte Auslegung findet sich in Cass. civ. 1 27.11.2008 no 07-15066 P. 218 Cass. civ. 1 5.2.2020 FR:CCASS:2020:C100088 no 18-23752 (7., 9.). 219 Cass. civ. 1 15.5.2015 FR:CCASS:2015:C100522 no 14-3151. Bestätigt durch Cass. civ. 1 16.11.2016 FR:CCASS:2016:C101288 no 15-26018; Cass. civ. 1 17.1.2018 FR:CCASS:2018:C100070 no 16-25817. 217
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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rungsfrist. Das gelte auch, wenn eine Norm präzise formale oder inhaltliche Anforderungen enthalte.220 Mit dem Hinweis auf die „klare Regelung“ stützt sich der Autor auf die Wortsinngrenze. Es liegt nahe, dass dieser Gedanke auch die Entscheidung der C. cass. bestimmt hat. In einem weiteren Urteil stützt sich die C. cass. nicht ausdrücklich auf das Verbot, contra legem zu entscheiden, sondern führt aus, dass ein Anspruch nicht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung aus einer nicht anwendbaren nationalen Norm abgeleitet werden kann.221 Der Jahresbericht der C. cass. für das Jahr 2015 nimmt in Hinblick auf diese Entscheidung dann ausdrücklich auf das Verbot des Contra-legem-Judizierens Bezug.222 Das erscheint sinnvoll, da die richtlinienkonforme Auslegung gerade ergeben kann, dass eine auf den ersten Blick nicht anwendbare nationale Regelung doch im Sinne der Richtlinie zu verstehen und auf den Fall anzuwenden ist. Die Anwendbarkeit der Norm kann sich also unter Umständen aus einer richtlinienkonformen Auslegung ergeben. Der tragende Gedanke, der hinter dem Urteil steht, ist der der Contra-legem-Grenze. Wie sie zu bestimmen ist, lässt sich aus dieser Entscheidung und der dazugehörigen Erläuterung aber nicht ableiten. Dasselbe gilt für die Aussage aus einem jüngeren Urteil, wonach eine unionsrechtskonforme Auslegung (nur) bei Zweifeln über die Bedeutung der nationalen Rechtsvorschriften stattfindet.223 Unter welchen Umständen Auslegungszweifel bestehen, ist nicht Gegenstand des Urteils. Auch wenn es heißt, dass der Richter die Richtlinie nicht unter dem Deckmantel einer richtlinienkonformen Auslegung an die Stelle richtlinienwidrigen nationalen Rechts setzen darf,224 ist damit nichts darüber gesagt, unter welchen Umständen das nationale Recht einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich ist. Dass die Grenzziehung zwischen zulässiger und unzulässiger richtlinienkonformer Interpretation Schwierigkeiten aufwirft, lässt sich anhand zweier umstrittener Entscheidungen der Cass. soc. zur richtlinienkonformen Auslegung veranschaulichen. In der ersten Entscheidung ging es um die französische Norm zum Schicksal der betrieblichen Interessenvertretung im Fall des Betriebsübergangs. Die Cass. soc. entschied im Jahr 2000, dass die Regelung im Lichte der Betriebsübergangsrichtlinie dahin zu verstehen sei, dass
220 Jourdain, RDTciv 2015, 635, 637, der für die zuletzt genannte Aussage auf das Urteil Cass. soc. 13.3.2013 FR:CCASS:2013:SO00466 no 11-22285 P verweist, nach dem Tage einer nicht berufsbezogenen Erkrankung nicht für den Urlaubserwerb zählen, obwohl Art. L3141-5 C. trav. das nicht vorsieht. Gegen die Auslegungsfähigkeit der Fristenregeln auch Rias, RTDeur 2016, 2. 221 Cass. soc. 16.12.2015 FR:CCASS:2015:SO02243 no 11-22376 P. 222 C. cass., Rapport annuel 2015, S. 164. 223 Cass. soc. 4.9.2018 FR:CCASS:2018:CO00755 no 17-13015. 224 Cass. com. 13.7.2010 no 09-15304 09-66970 P.
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die Interessenvertretung erhalten bleibt, wenn der übertragene Betrieb seine tatsächliche Selbständigkeit bewahrt, obwohl die einschlägige französische Norm ausdrücklich den Fortbestand der rechtlichen Selbständigkeit verlangte.225 In der Literatur heißt es, diese Entscheidung komme der Auslegung contra legem sehr nahe.226 Vor dem Hintergrund dieses Urteils wird die zweite Entscheidung kritisch gesehen, in der die Cass. soc. eine Informationspflicht des Arbeitgebers im Fall des Betriebsübergangs mangels entsprechender Umsetzungsregelung ablehnt.227 Die Literatur sieht in dieser Frage durchaus Spielraum für eine richtlinienkonforme Auslegung des französischen Rechts.228 cc) Spielraum bei fehlender gesetzlicher Regelung Die Spielräume für eine richtlinienkonforme Auslegung werden vom Regelungskontext maßgeblich geprägt. So ist in Frankreich die Frage der Übertragung des Mindesturlaubs bei Erkrankung gesetzlich nicht geregelt. Die C. cass. hat ihre Rechtsprechung in diesem Punkt unter Hinweis auf die Arbeitszeitrichtlinie geändert und lässt nun die Übertragung des Urlaubs zu, wenn der Arbeitnehmer ihn krankheitsbedingt nicht nehmen konnte.229 In diesem Fall ist wohl das Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung ausschlaggebend dafür, dass die C. cass. ihre Rechtsprechung ohne Weiteres an die Anforderungen der Richtlinie angepasst hat. b) Die Begrenzung notwendiger Korrekturen Im urlaubsrechtlichen Kontext hat sich die Frage gestellt, ob im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung Korrekturen des nationalen Rechts eng zu halten sind, um in die ursprüngliche Regelung möglichst wenig einzugreifen. Das Problem tritt bei der Übertragung von Mindesturlaubsansprüchen im Krankheitsfall auf, da die im Wege der richtlinienkonformen Auslegung geschaffene Übertragungsmöglichkeit die Frage nach einem Übertragungszeitraum nach sich zieht. C. cass. und C. E. sind, wie bereits ausgeführt, unter-
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Cass. soc. 18.12.2000 no 99-60381. Lhernould, Droit social 2010, 893, 898 (mit Fn. 46); Re´my/Tissandier, D. 2010, 1266,
1268. 227 Cass. soc. 18.11.2009 no 08-43397 08-43398 P; bestätigt in Cass. soc. 17.12.2013 FR:CCASS:2013:SO02174 no 12-13503 P. 228 Lhernould, Droit social 2010, 893, 898; Re´my/Tissandier, D. 2010, 1266, 1267–1268. Mazeaud, Droit social 2010, 245, meint, dass die Cass. soc. mit dieser Entscheidung die Rechtsprechung des EuGH zur fehlenden Horizontalwirkung von Richtlinien aufgreift. Er leitet Informationspflichten aus dem Gebot von Treu und Glauben und vertraglichen Rücksichtnahmepflichten ab, ohne das als richtlinienkonforme Auslegung zu deklarieren. 229 S. oben S. 187.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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schiedlicher Auffassung darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen ein solcher Übertragungszeitraum mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung und/oder Vereinbarung anzunehmen ist. Die C. cass. sieht lediglich die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, einen solchen Übertragungszeitraum zu regeln, als gegeben an. Eine entsprechende Verpflichtung bestehe nicht. Mangels entsprechender Regelung gelte im konkreten Fall kein Übertragungszeitraum. Dagegen hat der C. E. in zwei Fällen – mit unterschiedlicher Begründung – einen Übertragungszeitraum angenommen, ohne dass eine Regelung diesen Inhalts vorlag.230 Die C. cass. und der C. E. gehen also in ihren Entscheidungen mit der jeweiligen Regelung, aus der sich die Nichtübertragbarkeit oder nicht ausreichende Übertragbarkeit des Mindesturlaubs ergibt, unterschiedlich um. Alle drei Entscheidungen betreffen Regelungen, nach denen Urlaub im Krankheitsfall nicht ohne Weiteres für die erforderliche Mindestdauer vor dem Verfall geschützt wird. Im von der C. cass. zu entscheidenden Fall war die Übertragung im Krankheitsfall auf das Folgejahr begrenzt, in den vom C. E. behandelten Fällen war die Übertragung von Urlaub nur bei Genehmigung möglich.231 Während die C. cass. schlicht annimmt, dass es an einer richtlinienkonformen Begrenzung des Übertragungszeitraums fehlt, weil weder der in den Dienstvorschriften vorgesehene Übertragungszeitraum von einem Jahr anwendbar ist noch der C. trav. einen Übertragungszeitraum vorsieht, reduziert der C. E. die Regelung zur Unübertragbarkeit. Er verwirft sie nur soweit erforderlich und interpretiert sie dahingehend, dass im Krankheitsfall eine Übertragung des nicht in Anspruch genommenen Mindestjahresurlaubs (nur) für einen Zeitraum von fünfzehn Monaten nach dem Urlaubsjahr möglich ist. Dahinter stehen unterschiedliche Ansätze im Umgang mit richtlinienwidrigen nationalen Regelungen. Die Lösung des C. E. verlangt eine gewisse Kreativität bei der Interpretation, weil die vorhandene Regelung inhaltlich umgestaltet werden muss, um sie als richtlinienkonform halten zu können.232 Man mag zwar annehmen, dass diese Lösung im Sinne der Verfasser des Dekrets ist, da sie seiner ursprünglichen Fassung näher kommt als eine unbegrenzte Übertragbarkeit und die Übertragung des Urlaubs bei Krankheit nicht enger gefasst werden kann, wenn die Lösung richtlinienkonform sein soll. Allerdings mag es auch im Sinne des Verordnungsgebers sein, angesichts der notwendigen Änderung für erkrankte Arbeitnehmer einen Übertragungszeitraum unabhängig vom Gesundheitszustand für alle Arbeitnehmer vorzusehen. Mit Blick auf diese unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten und die klare Regelung des Verfalls zum Jahresende ist 230
S. zu dieser Rechtsprechung jeweils oben S. 188–190. S. oben S. 188–189. 232 Der Berichterstatter selbst spricht von einer Neufassung der nationalen Regelung, Daumas, Conclusions, 14.6.2017 no 391131, unter 2.1.2. 231
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fraglich, ob ein solches Umschreiben der richtlinienwidrigen Regelung noch richtlinienkonforme Interpretation ist.
2. Die richtlinienkonforme Auslegung im Spiegel der Literatur Die französische Literatur diskutiert die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung,233 äußert sich aber kaum zur Einbindung in den Auslegungsprozess. Vereinzelt finden sich Aussagen zur Bedeutung der Materialien bei der richtlinienkonformen Auslegung, die allerdings aus sich heraus nicht ohne Weiteres verständlich sind. So heißt es, das Gemeinschaftsrecht sei ein Bereich, der die Nutzung der Materialien verlange. Um nationales Recht auszulegen, das auf einer Richtlinie beruht, müssten sich die Gerichte auf diese berufen.234 Dabei bezieht „diese“ sich sprachlich auf die Richtlinie, nicht auf die Materialien, sodass es, anders als der erste Satz erwarten lässt, letztlich nicht um die Nutzung der Materialien zum nationalen Recht geht. Außerdem wird als Beispiel eine Entscheidung der C. cass. zum Produkthaftungsrecht genannt, in der das Gericht zwar – ohne die Richtlinie zu erwähnen – für die Fehlerhaftigkeit eines Produkts auf die Definition des Art. 6 Abs. 1 RL 85/374/EWG zurückgreift, in der es aber nicht um die Auslegung nationalen Rechts geht, das auf einer Richtlinie beruht.235 Zur Grenze der richtlinienkonformen Auslegung, die sich aus dem Verbot der Auslegung contra legem ergibt, finden sich ebenfalls kaum weiterfüh-
233 S. aus der französischen Literatur zur richtlinienkonformen Auslegung nur Dubos, Juridictions, Rn. 106–121; Haguenau, Application effective, S. 265–278; Simon, Directive, S. 90–94; ders., Syste`me juridique communautaire, Rn. 343. Babusiaux, Frankreich, Rn. 33, weist auf den Zusammenhang zwischen richtlinienkonformer Auslegung und Koordination von Normen des europäischen und des nationalen Rechts hin, s. auch dies., Richtlinienkonforme Auslegung, S. 16–20. 234 Carbonnier, Introduction, Rn. 160 („Le droit communautaire s’est, ne´anmoins, constitue´ au sein de notre droit positif, une niche ou`, […], il impose le recours aux travaux pre´paratoires: pour interpre´ter une loi interne qui s’est inspire´e d’une directive europe´enne, les tribunaux franc¸ais doivent impe´rativement se re´fe´rer a` celle-ci.“). S. auch Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 62, die diese Textstelle zitiert, um zu belegen, dass der Richtlinie im Rahmen der inneren Auslegung des Gesetzes (interpre´tation intrinse`que) nur ein derart begrenzter Einfluss zukommt, während nach ihrer Auffassung im deutschen Recht die Ansicht vorherrscht, dass Richtlinien sämtliche Auslegungsmittel beeinflussen. 235 Zitiert wird Cass. civ. 1 3.3.1998 no 96-12078. Die Entscheidung betrifft die Auslegung von Art. 1147 Code civil. Die Produkthaftungsrichtlinie wurde in Frankreich erst durch das Gesetz 98–389 vom 19.5.1998 umgesetzt. Dass die C. cass. der Richtlinie bereits vor ihrer Umsetzung zur Wirkung im französischen Recht verholfen hat, steht außer Frage. Carbonnier Introduction, Rn. 160, spricht aber von nationalem Recht, das auf der Richtlinie beruht, nicht von einer durch die Richtlinie angeregten Rechtsprechung bei fehlender Umsetzung im nationalen Recht.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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rende Aussagen.236 Gelegentlich stuft ein Autor eine Auslegungsvariante als contra legem ein, ohne diese Einschätzung oder die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung näher zu erläutern.237 Soweit es heißt, eine richtlinienkonforme Auslegung sei nicht möglich, wenn das nationale Recht klar im Widerspruch zu einer Richtlinie stehe, trägt das nicht zur Grenzziehung bei.238 Deutlicher ist die Aussage, die richtlinienkonforme Auslegung sei vorzunehmen, wenn der Wortsinn der nationalen Norm ihr nicht entgegenstehe.239 Enger ist die Auffassung, nach der die richtlinienkonforme Auslegung nur bei Mehrdeutigkeit der Norm in Betracht kommt. Sei die Norm in diesem Sinne auslegungsfähig, ergäben sich Grenzen aus der Beschränkung auf den Einzelfall sowie daraus, dass der Richter keine gesetzgeberischen Gestaltungsaufgaben übernehmen darf.240 Ähnlich ist der Ansatz, nach dem eine richtlinienkonforme Auslegung nicht in Betracht kommt, wenn das richtlinienwidrige nationale Recht sehr klar und präzise ist.241 Ein Autor hält die Formulierung des EuGH, nach der das nationale Recht soweit möglich richtlinienkonform auszulegen ist, für rätselhaft.242 Andere betonen, dass die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung nur eine Handlungspflicht ist und es möglich ist, dass der nationale Richter nicht in der Lage ist, im konkreten Fall eine solche Auslegung vorzunehmen. Der EuGH zwinge ihn nicht, contra legem zu interpretieren, um der Richtlinie um jeden Preis zur Durchsetzung zu verhelfen.243 Allerdings werde die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung fast zur Ergebnisverpflichtung, wenn der Richter 236 Zur Konkretisierung tragen z.B. nicht bei Chavrier/Chabaud, JCP S 2015 no 1359, 13, 14; Dubos, Juridictions, Rn. 120; Jacque´, Droit institutionnel, Rn. 1032; Lhernould, JCP S 2016, no 1195, 27, 28. Haguenau, Application effective, S. 265–278; Simon, Directive, S. 90–94, und ders., Syste`me juridique communautaire, Rn. 343, die sich relativ ausführlich mit der richtlinienkonformen Auslegung befassen, gehen auf die Contra-legem-Grenze nicht ein. Während Simon die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung praktisch gar nicht behandelt, befasst Haguenau, Application effective, S. 272–275, sich mit der Begrenzung durch allgemeine Rechtsprinzipien. In einem jüngeren Text greift Simon die Contralegem-Grenze auf, Simon, Re´pertoire de droit europe´en, Rn. 135, ohne sie aber näher zu erläutern. Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 57–58, meint, dass in Frankreich die Hürde allein darin besteht, ob eine auslegungsfähige Norm gegeben ist. Ein Verbot des Contra-legem-Judizierens gäbe es nicht. Da sie unter Auslegungsfähigkeit Mehrdeutigkeit versteht, kann man allerdings der Auffassung sein, dass das gerade die Contra-legemGrenze beschreibt. 237 Cavallini, SCP S 2016, no 1276, 31; Laulom, Droit social 2013, 1, 3. 238 Ferrer, Dr. Ouvr. 2015, 621, 622; Kovar, L’interpre´tation, S. 381, 386. 239 Galmot/Bonichot, RFDA 1988, 1, 22. 240 Babusiaux, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 57–59. 241 Robin-Olivier, I CON 2014, 165, 180. 242 Dubos, Juridictions, Rn. 120. 243 Coutron, RTDeur 2015, 39, 44; Kovar, L’interpre´tation, S. 381, 394; Simon, Re´pertoire de droit europe´en, Rn. 135; Timmermans, Nouveau chapitre, S. 291, 301.
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Kapitel 6: Frankreich
bei Umsetzungsgesetzen davon ausgehen soll, dass der Gesetzgeber sie in der Absicht geschaffen hat, seiner Umsetzungsverpflichtung voll nachzukommen.244 Schließlich wird im zivilrechtlichen Kontext die Grenze, die allgemeine Rechtsprinzipien nach der Rechtsprechung des EuGH der richtlinienkonformen Auslegung setzen, nicht diskutiert. Einzelne Autoren weisen diese Grenze klar dem Strafrecht zu.245 Ein Teil der öffentlich-rechtlichen Literatur sieht den Grundsatz der Rechtssicherheit als Basis der Contra-legemGrenze.246
244
Coutron, RTDeur 2015, 39, 57, 59. Kovar, L’interpre´tation, S. 381, 385. Ohne eine derartige ausdrückliche Zuweisung Simon, La panace´e de l’interpre´tation conforme, S. 279, 292–293, der aber auch allein auf die Entscheidungen im strafrechtlichen Kontext erwähnt, ohne Überlegungen zum Zivilrecht anzustellen. 246 Dubos, RFDA 2003, 1, 3; Simon, La panace´e de l’interpre´tation conforme, S. 279, 293. 245
Kapitel 7
Spanien „De ahı´ que el antes mencionado lı´mite del contra legem se encuentre, creo, en lecturas de la legislacio´n nacional […] ajenas al la metodologı´a misma interpretativa, transformando al inte´rprete en legislador.“1
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung In Spanien waren aufgrund der für diese Untersuchung einschlägigen Urteile des EuGH erhebliche Anpassungen erforderlich. Sowohl die Rechtsprechung als auch der Gesetzgeber haben sich dieser Aufgabe angenommen. Dieser Anpassungsprozess und die Reaktionen der Literatur werden nach einem Überblick über die gesetzliche Regelung zu den hier untersuchten urlaubsrechtlichen Fragen erörtert.
1. Die gesetzliche Regelung im Überblick Der Jahresurlaub ist im spanischen Recht vergleichsweise knapp geregelt.2 Art. 40 Abs. 2 Constitucio´n espan˜ola (CE) verpflichtet die staatlichen Stellen, regelmäßigen bezahlten Urlaub sicherzustellen. Die entsprechende Regelung auf einfachgesetzlicher Ebene enthält Art. 38 Estatuto de los Trabajadores (ET). Der Gesetzgeber hat auf die für diese Untersuchung relevante Rechtsprechung des EuGH im Jahr 2012 reagiert und Art. 38.3 UAbs. 3 ET eingeführt, der das Zusammentreffen von Krankheits- und Erholungsurlaub regelt. Angesichts der Lücken in den nationalen Vorschriften spielt das IAO-
1
Alonso Garcı´a, Sistema, S. 309. Torollo Gonza´lez, Derecho de las Relaciones Laborales 2015, 559, 562, führt das u.a. auf das Gewicht und den Entwicklungsstand der internationalen Normen zum Urlaubsrecht zurück, die diese Inaktivität des Gesetzgebers ermöglichen. So mit Bezug auf das IAO-Übereinkommen über den bezahlten Jahresurlaub (IAO Nr. 132) auch Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 30. 2
224
Kapitel 7: Spanien
Übereinkommen über den bezahlten Jahresurlaub (IAO Nr. 132) in Spanien eine erhebliche Rolle bei der Konkretisierung des Urlaubsrechts.3 Nach Art. 38.1 ET ist der Urlaub einzel- oder tarifvertraglich festzulegen. Er darf nicht weniger als 30 Kalendertage betragen. Aus dieser Formulierung ergibt sich, dass Sonn- und Feiertage, die in den Urlaubszeitraum fallen, als Urlaubstage zählen.4 Eine Mindestbeschäftigungszeit ist nicht vorgesehen. Weil der Urlaubsanspruch als jährlicher Anspruch ausgestaltet ist, verfällt nicht genommener Urlaub am Ende des Kalenderjahres.5 Es kommt weder zur Ansammlung und Übertragung auf das Folgejahr6 noch kann der Arbeitnehmer eine Abgeltung verlangen7. Eine Ausnahme von dieser Verfallsregelung ist seit dem 24.3.2007 in Art. 38.3 Abs. 2 ET für Zeiten der Suspendierung des Vertrags aufgrund von Schwangerschaft, Geburt, Adoption, Pflege oder Mutterschaft sowie für Zeiten der vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit infolge Schwangerschaft, Geburt oder Stillzeit außerhalb dieser Suspendierungszeiträume vorgesehen, seit dem 12.2.2012 ist von dieser Regelung auch der Fall der Vaterschaft erfasst. Für eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit, die auf andere als die genannten Gründe zurückzuführen ist, enthält Art. 38.3 Abs. 3 ET seit dem 12.2.2012 eine Ausnahme. Wenn der Arbeitnehmer im für ihn vorgesehenen Urlaubszeitraum arbeitsunfähig erkrankt ist, kann er nach dieser Vorschrift den Urlaub nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit innerhalb eines Über3
Zu den diversen urlaubsrechtlichen Rechtsquellen – einschließlich Art. 24 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Art. 31 Abs. 2 GRC, des Übereinkommens IAO Nr. 132, des Art. 7 RL 2003/88/EG und der Kollektivverträge – Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 25–33, s. dort S. 29–33 insbesondere zur Bedeutung des Übereinkommens IAO Nr. 132 für das spanische Recht. Einen Überblick gibt ferner Gallego Moya, REDT 2020, 147, 149–150. 4 Alonso Olea/Casas Baamonde, Derecho del Trabajo, S. 423; Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 97; Palomeque Lo´pez, Derecho del Trabajo, S. 619. 5 STS 30.11.1995 ES:TS:1995:7599 FJ 3.d). S. auch STS 17.9.2002 ES:TS:2002:5885 FJ 2., wonach bei Beendigung des Arbeitsvertrags im Laufe eines Jahres nur der Urlaub aus diesem Jahr abgegolten wird (und nicht auf den Zeitraum abzustellen ist, der seit dem letzten Urlaub verstrichen ist), da davon auszugehen ist, dass der Urlaub für das Vorjahr bereits genommen wurde (bestätigt in STS 5.11.2014 ES:TS:2014:5797 FJ 3.A)). Gorelli ¯¯ MIS 2014, 59, 64. Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 17; ders., THE 6 Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 113–114 (der darauf hinweist, dass diese Frage in Art. 38 ET nicht ausdrücklich geregelt ist, die generelle Unübertragbarkeit sich aber aus einem Umkehrschluss zu Art. 38.3 ET ergibt); Mercader Uguina, Derecho del Trabajo, S. 476 (der – ohne Beleg – Rechtsprechung erwähnt, nach der eine Entschädigung in Geld möglich sein soll, wenn der Nichtverbrauch des Urlaubs allein auf das Handeln des Arbeitgebers zurückzuführen ist, was für diese Untersuchung aber nicht weiter von Bedeutung ist); Palomeque Lo´pez, Derecho del Trabajo, S. 620. 7 Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 114; Palomeque Lo´pez, Derecho del Trabajo, S. 620.
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
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tragungszeitraums von achtzehn Monaten nach Ablauf des Jahres, in dem der Urlaub entstanden ist, nachholen. Ob ein Arbeitnehmer während einer Erkrankung Urlaub erwirbt, ist nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt.
2. Die Mindestbeschäftigungszeit Wie bereits erwähnt, ist eine Mindestbeschäftigungszeit nicht vorgesehen.8 Allerdings wird diskutiert, ob der Anspruch im Bezugsjahr geltend gemacht werden kann oder erst im Folgejahr oder am Ende des Bezugsjahres. In den letztgenannten Fällen hätte der Arbeitnehmer zwar im jeweiligen Beschäftigungsjahr einen Urlaubsanspruch, den er freilich immer erst nach einer recht langen Wartezeit geltend machen könnte. In der Literatur heißt es vereinzelt, der Arbeitnehmer habe den Anspruch jeweils nach einem Jahr, genauer nach elf Monaten, weil ein Monat des Jahres der Urlaubsmonat sei. Nach Art. 9 IAO Nr. 132 sei er spätestens ein Jahr nach Entstehung zu nehmen, es handele sich also um einen „nachjährigen“ Anspruch.9 Nach überwiegender Auffassung entsteht der Anspruch dagegen zwar im Urlaubsjahr nach und nach, ist aber auf das Bezugsjahr bezogen, sodass der Anspruch nicht erst nach Ablauf des Jahres geltend gemacht werden kann.10 Das ergibt sich auch aus der Rechtsprechung des TS, der darauf hinweist, dass der nach Art. 38.2 ET festzulegende Urlaubszeitraum nicht notwendigerweise mit dem Abschluss des Bezugszeitraums zusammenfällt, während der jährliche Urlaub den gesamten in diesem Jahr erworbenen Urlaub umfasst oder umfassen sollte. In der Praxis komme es mit Blick auf Urlaubszeitraum und -erwerb zu Anpassungen – in der Regel zu Vorschüssen. Andernfalls müsse der Urlaub mit dem
8 Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 106–108; Sempere Navarro/Charro Baena, Vacaciones, S. 63, und dies., in: Cuestiones actuales, S. 145, 149, weisen darauf hin, dass zwar Art. 5 IAO Nr. 132 eine Mindestbeschäftigungszeit zulasse, nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache BECTU (EuGH 26.6.2001 EU:C:2001:356) der Weg für eine derartige Regelung aber versperrt sei. 9 Alonso Olea/Casas Baamonde, Derecho del Trabajo, S. 424. S auch Mercader Uguina, Derecho del Trabajo, S. 476, der meint, jährlich heiße eigentlich, dass der Anspruch nach einem vollen Jahr erworben werde und im Folgejahr zu nehmen sei, dann aber darauf hinweist, dass die Rechtsprechung auf Inanspruchnahme im Jahr der Entstehung bestehe (s. die in Fn. 5 aufgeführte Rechtsprechung). 10 Cruz Villalo´n, Derecho del Trabajo, S. 279; Palomeque Lo´pez, Derecho del Trabajo, S. 619; Martı´n Valverde, Derecho del Trabajo, S. 639; Montoya Melgar, Derecho del Trabajo, S. 379; Sempere Navarro/Sempere Navarro, Comentarios al ET, Art. 38, 1., S. 504; Sempere Navarro/Charro Baena, Vacaciones, S. 61. S. auch STS 4.11.2015 ES:TS:2015:4987, in der das TS in FJ 3.3.D) – von Ausnahmen abgesehen – den Urlaub als unterjährig einordnet (bestätigt in STS 6.7.2016 ES:TS:2016:3995 FJ 2.5.).
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Kapitel 7: Spanien
Ende des Bezugszeitraums zusammenfallen, was offensichtlich nicht mit Art. 38.2. ET vereinbar sei.11
3. Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Während einer Erkrankung erwirbt der Arbeitnehmer Urlaubsansprüche. Dieses Ergebnis erzielen Rechtsprechung und Literatur unter Rückgriff auf Art. 5.4 IAO Nr. 132.12 Das Übereinkommen sei angesichts der wenig detaillierten innerstaatlichen Regelung ein wichtiges Mittel bei der Lösung urlaubsrechtlicher Probleme.13 Meist wird ohne weitere Erläuterung auf seine Regelungen verwiesen.14 Allerdings diskutiert die Literatur auch, auf welche Weise das IAO-Übereinkommen im spanischen Recht Wirkung entfaltet.15 Es sei zwar nach Ratifikation und Veröffentlichung im Amtsblatt Teil der spanischen Rechtsordnung, bedürfe aber in vielen Punkten der Ausfüllung, wie z.B. Art. 1 IAO Nr. 132 zeige. Die Vorschriften des Übereinkommens entfalteten jedenfalls erhebliche Bedeutung für die Auslegung nationalen Rechts und die Ausfüllung von Lücken im nationalen Recht, weil seine Ausfüllungsbedürftigkeit nicht bedeute, dass nationales Recht den Grundregeln des Übereinkommens widersprechen dürfe.16
11
STS 17.9.2002 ES:TS:2002:5885 FJ 2. S. zu den verschiedenen Ansätzen und der Lösung der Rechtsprechung, die er befürwortet, ausführlich Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 102–105. S. dort S. 112 zu Lösungswegen für den Fall, dass Betriebsferien festgesetzt werden, deren Dauer den Urlaubsanspruch einzelner Arbeitnehmer überschreitet. 12 STSJ Andalucı´a 10.11.2004 ES:TSJAND:2004:7238 FJ 1. S. auch STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 FJ 3.; STSJ Paı´s Vasco 20.9.2011 ES:TSJPV:2011:4540 FJ 3. Alonso Olea/Casas Baamonde, Derecho del Trabajo, S. 424; Goerlich Peset/Pensabene Lionti, Comentarios al ET, S. 715; Martı´n Valverde, Derecho del Trabajo, S. 640; Montoya Melgar, Derecho del Trabajo, S. 379; Palomeque Lo´pez, Derecho del Trabajo, S. 620; Sala Franco, Derecho de las relaciones laborales 2020, 430; Sempere Navarro/Sempere Navarro, Comentarios al ET, Art. 38, 1., S. 509; Torollo Gonza´lez, Derecho de las Relaciones Laborales 2015, 559, 564. 13 Garcı´a-Perrote Escartı´n, REDT 2000, 809, 812; Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, ¯¯ MIS 2014, 59, 72–73; Sempere Navarro/Sempere Navarro, Comentarios S. 29; ders., THE al ET, Art. 38, 1., S. 503; Sempere Navarro/Charro Baena, Vacaciones, S. 40. 14 Diskutiert wird eher, welche weiteren Fälle des Arbeitsausfalls (wie z.B. arbeitskampfbedingter Arbeitsausfall) der in der Regelung enthaltene Grundsatz erfasst, Alonso Olea/Casas Baamonde, Derecho del Trabajo, S. 424. S. auch Cruz Villalo´n, Derecho del Trabajo, S. 279. 15 Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 30; Sempere Navarro/Charro Baena, Vacaciones, S. 38–40. 16 Sempere Navarro/Charro Baena, Vacaciones, S. 39–40.
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
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Neben Art. 5.4 IAO Nr. 132 spielt Art. 6.2 IAO Nr. 132 eine wichtige Rolle.17 Nach dieser Vorschrift dürfen Krankheitstage nicht (automatisch) als Urlaubstage angerechnet werden. Die hier unter 6. behandelte Frage, ob der Arbeitnehmer bei Krankheit im für ihn festgesetzten Urlaubszeitraum den Urlaub nachholen kann, regelt Art. 6.2 IAO Nr. 132 allerdings nicht.18 Gelegentlich wird auch auf die Entscheidung Schultz-Hoff Bezug genommen, um den Erwerb von Urlaubstagen bei Erkrankung zu begründen.19 Die Aussage des EuGH, dass auch bei Erkrankung im gesamten Urlaubsjahr Urlaubsansprüche entstehen, wurde von einigen Autoren als übertrieben eingestuft. Spanische Gerichte hätten demgegenüber erkennen lassen, dass zwar Abwesenheitszeiten infolge Krankheit wie Arbeitstage behandelt werden könnten, es dafür aber eine unbestimmte Höchstgrenze gebe.20
4. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen Wie bereits erwähnt, verfällt nicht genommener Urlaub am Ende des Kalenderjahres.21 Abgesehen von den Fallgruppen, in denen der EuGH die Übertragbarkeit fordert,22 wurde diese Folge der Unterjährigkeit des Anspruchs nur vereinzelt in Frage gestellt. Ein Teil der Literatur will zumindest abweichende kollektivvertragliche Abreden zulassen.23
5. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Die Diskussion in Spanien dreht sich allein darum, ob der Arbeitnehmer die Neufestsetzung seines bereits festgesetzten Urlaubs verlangen kann, wenn er im Urlaubszeitraum krank ist. Die einschlägigen Urteile des TS24 betreffen 17
Dazu Sempere Navarro/Sempere Navarro, Comentarios al ET, Art. 38, 3., S. 513; Sempere Navarro/Charro Baena, Vacaciones, S. 161–162; Velasco Portero, RMTSS 2013, 199, 200. 18 So ausdrücklich STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 FJ 3.; STS 24.6.2009, ES:TS:2009:5168 FJ 6. 19 Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, RL 2013, 1, 4; Sempere Navarro/Sempere Navarro, Comentarios al ET, Art. 38, 1., S. 509; Sempere Navarro/Charro Baena, in: Cuestiones actuales, S. 145, 150. 20 Sempere Navarro/Charro Baena, in: Cuestiones actuales, S. 145, 150–151. 21 S. die Nachweise in Fn. 5–7. 22 S. zur Übertragbarkeit bei Krankheit sogleich S. 227–228. 23 Garcı´a-Perrote Escartı´n, REDT 2000, 809, 824–826; Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 115–118 (der auch anlassbezogene Absprachen zwischen den Arbeitsvertragsparteien erwähnt). 24 S. die unten S. 228–236. angesprochenen Entscheidungen.
228
Kapitel 7: Spanien
dagegen nicht die Situation, dass der Urlaub nicht festgesetzt wurde und sich dann die Frage stellt, ob der erkrankte Arbeitnehmer den Urlaub im Folgejahr nehmen kann. Die Literatur geht ebenfalls allein darauf ein, unter welchen Umständen der Arbeitnehmer seinen festgesetzten Urlaub im Krankheitsfall nachholen kann. Schließlich erfasst auch der bereits erwähnte UAbs. 3 des Art. 38.3 ET die Überschneidung festgesetzten Urlaubs mit einer Erkrankung des Arbeitnehmers. Ob ein erkrankter Arbeitnehmer nicht festgesetzten Urlaub verschieben kann, wenn er ihn im Urlaubsjahr aufgrund seiner Erkrankung nicht wahrnehmen kann, scheint für die (höchstrichterliche) Praxis irrelevant zu sein. Da allerdings, wie nachfolgend unter 6. erläutert wird, die Nachholbarkeit inzwischen gewährleistet ist, dürfte die Verschiebung nicht festgesetzten Urlaubs im Ergebnis unproblematisch sein. Nicht diskutiert werden ferner Übertragung und Verfall von Mehrurlaubsansprüchen.
6. Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum Wenn der Urlaubszeitraum mit einer Erkrankung des Arbeitnehmers zusammentrifft, die ihn daran hindert, den Urlaub während des Kalenderjahres in Anspruch zu nehmen, kann er gem. Art. 38.3 UAbs. 3 ET den Urlaub nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit in Anspruch nehmen. Es gilt eine Übertragungsfrist von achtzehn Monaten nach Ablauf des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist. Nach Ablauf dieser Frist verfällt der übertragene Urlaub. Ursprünglich galt für den Fall der Erkrankung keine Sonderregel. Nicht in Anspruch genommener Urlaub verfiel am Jahresende, wenn nicht kollektiv- oder einzelvertraglich eine für den Arbeitnehmer günstigere Regelung vorgesehen war. Dieser Verfall beruhte nicht auf einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, sondern wurde – wie der Verfall des Urlaubs bei nicht erkrankten Arbeitnehmern – aus der Bindung des Anspruchs an das Kalenderjahr abgeleitet.25 Allerdings zeigten sich in der Rechtsprechung bereits Tendenzen für eine abweichende Linie, bevor schließlich der Gesetzgeber im Jahr 2012 Art. 38.3 UAbs. 3 ET einführte.
25
Sempere Navarro/Charro Baena, in: Cuestiones actuales, S. 145, 151. S. zu den Argumenten für diese Lösung Gorelli Herna´ndez, RL 2014, 19, 29–31, der sich insbesondere kritisch zur Gleichsetzung der Zwecke des Urlaubs und des Krankheitsurlaubs äußert, s. auch ders., RAD 2012, 87, 89.
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
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a) Der Umgang der Rechtsprechung mit Art. 38 ET a.F. Spanische Gerichte haben mehrere Vorlageverfahren auf dem Gebiet des Urlaubsrechts initiiert. Die Entscheidungen in den Rechtssachen Merino Go´mez, Vicente Pereda, ANGED und Maestre Garcı´a beruhen auf spanischen Vorlagen.26 Unter diesen stammt allein die Vorlage in der Rechtssache ANGED vom TS, weshalb in der Literatur die geringe Vorlagefreudigkeit des Gerichts kritisiert wird.27 Die Verfahren spiegeln eine schrittweise, nicht ganz geradlinige Entwicklung in der spanischen Rechtsprechung wider: Einerseits sahen erste Urteile des TS aus den Jahren 2005 und 2006 die Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung vor, beschränkten den Anspruch aber auf Fälle, in denen der Arbeitnehmer bereits vor Beginn des festgelegten Urlaubszeitraums erkrankt war. Andererseits sprach sich das Gericht in Entscheidungen aus den Jahren 2006 und 2007 für alle Fälle der Überschneidung von Urlaub und Krankheit für den Verfall des Urlaubs am Ende des Kalenderjahres aus. 2009 griff es die geteilte Lösung – Nachholbarkeit bei Erkrankung vor dem Urlaub, nicht aber bei Erkrankung während des Urlaubs – wieder auf. Zu einer einheitlichen Lösung i.S.d. Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung unabhängig davon, ob die Krankheit vor oder während des für den Arbeitnehmer vorgesehenen Urlaubszeitraums auftritt, kam es erst im Jahr 2012.28 Die Rechtsprechung des EuGH hat damit sehr großen Einfluss auf das spanische Urlaubsrecht gehabt. Das TS hat nach und nach seine nicht europarechtskonforme Rechtsprechung geändert. Der Gesetzgeber hat Art. 38 ET an die Anforderungen des durch den EuGH konkretisierten Art. 7 RL 2003/88/EG angepasst – Art. 38.3 ET ist unmittelbar auf die EuGHRechtsprechung zurückzuführen.29 aa) Erste Entscheidungen zur Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung vor Beginn des Urlaubs Die Entwicklung in der Rechtsprechung, die letztlich zur Nachholbarkeit des Urlaubs bei Krankheit führte, wurde bereits durch die Entscheidung Merino Go´mez ausgelöst. Nach diesem Urteil muss das nationale Recht eine Mög-
26
EuGH 18.3.2004 EU:C:2004:160 (Merino Go´mez); EuGH 10.9.2009 EU:C: 2011:761 (Vicente Pereda); EuGH 21.6.2012 EU:C:2012:372 (ANGED); EuGH 21.2. 2013 EU:C:2013:102 (Maestre Garcı´a). 27 Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, RL 2009 II, 1, 10. S. auch Alzaga Ruiz, AL 11/2014, 1198, 1210; Sobriono Gonza´lez, RL 2010, 79, 84. 28 S. zur Entwicklung der Rechtsprechung Alzaga Ruiz, AL 11/2014, 1198, 1207–1218; Gallego Moya, REDT 2020, 147, 162–165; Gorelli Herna´ndez, RL 2014, 19, 30–31, 33–34; ´ lvarez, RMESS 2017, 173, 186–188; Torollo Gonza´lez, Derecho de las Relaciones Lo´pez A Laborales 2015, 559, 567–569. 29 S. Gorelli Herna´ndez, TL 2015, 271, 275.
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Kapitel 7: Spanien
lichkeit vorsehen, den Jahresurlaub nachzuholen, wenn eine Arbeitnehmerin während der kollektivvertraglich festgelegten Betriebsferien im Mutterschaftsurlaub ist.30 Im November 2005 entschied das TS im Rahmen eines Rechtsmittels zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung über einen Fall, in dem eine Arbeitnehmerin ihren Jahresurlaub nicht hatte antreten können, weil sie in dieser Zeit im Mutterschaftsurlaub war.31 Der Referenzfall, der von der Rechtsmittelführerin angeführt wurde, betraf nicht die Kollision von Erholungsurlaub und Mutterschaftsurlaub, sondern das Zusammentreffen von Erholungsurlaub und Krankheit. Während die Sozialkammer des TSJ Canarias im Referenzurteil entschieden hatte, dass der Erholungsurlaub nachholbar sei, hatte die Sozialkammer des TSJ Madrid im nun vom TS zu entscheidenden Fall der Mutter die Neufestsetzung des versäumten Erholungsurlaubs verwehrt.32 Das TS sah keinen Grund, zwischen den beiden Kollisionsfällen zu differenzieren. In beiden Fällen gehe es darum, ob der Arbeitnehmer, der vor Beginn des Urlaubs vorübergehend arbeitsunfähig wird – sei es aufgrund einer Erkrankung oder aufgrund eines Mutterschaftsurlaubs –, einen Anspruch darauf hat, den versäumten Urlaub nachzuholen. Die Konstellation der Entscheidung ist insofern „verdreht“, als das arbeitnehmerfreundliche Referenzurteil einen Fall der Erkrankung betraf, während der Rechtsstreit vor dem TS sich um die vom EuGH bereits entschiedene Konstellation der Kollision von Erholungsurlaub und Mutterschaftsurlaub drehte. Die Rechtsmittelführerin hatte dementsprechend nicht nur auf das erwähnte Referenzurteil Bezug genommen, sondern auch auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Merino Gome´z, in deren Lichte die einschlägigen Vorschriften des ET auszulegen seien. In diesem Sinne entschied auch das TS. Da das ET sowohl das Recht auf Erholungsurlaub als auch das Recht auf Mutterschaftsurlaub vorsehe, seien beide Rechte des Arbeitnehmers miteinander in Einklang zu bringen. Eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit, die vor der festgesetzten Urlaubszeit entstehe und den Arbeitnehmer daran hindere, den Urlaub in Anspruch zu nehmen, dürfe nicht dazu führen, dass der Arbeitnehmer den Urlaubsanspruch verliert. Anders sei es allerdings, wenn die vorübergehende Arbeitsunfähigkeit erst während der Urlaubszeit entsteht. Dieses Risiko trage der Arbeitnehmer.33 Auf diese Entscheidung nahm das TS einige Monate später bestätigend Bezug.34 30
EuGH 18.3.2004 EU:C:2004:160 (Merino Go´mez) Rn. 28–41. STS 10.11.2005 ES:TS:2005:7339. 32 STS 10.11.2005 ES:TS:2005:7339 FJ 1. und 2. 33 STS 10.11.2005 ES:TS:2005:7339 FJ 3. 34 STS 21.3.2006 ES:TS:2006:2142 FJ 2. In diesem Zusammenhang ist ferner eine Entscheidung des TC zu beachten. Er sah in der Verweigerung, Urlaub im Folgejahr zu nehmen, der infolge von Mutterschutzzeiten nicht im Bezugsjahr genommen werden konnte, eine Verletzung des in Art. 14 CE niedergelegten Verbots der Geschlechtsdiskriminierung, STC 20.11.2006 ES:TC:2006:324 FJ 5., 6. 31
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
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bb) Ablehnende Entscheidungen des TS Neben diese beiden befürwortenden Entscheidungen zur Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung vor Urlaubsantritt traten solche, in denen das TS an der alten Linie festhielt und die Neufestsetzung des Urlaubs nur vorsah, wenn eine entsprechende Regelung zugunsten des Arbeitnehmers vorlag.35 In einer Entscheidung aus dem Juli 2006 stufte das TS dabei die den Krankheitsfall betreffende Passage aus der Entscheidung vom 20.11.2005 als obiter dictum und die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Merino Gome´z als nicht einschlägig ein.36 In einem weiteren Urteil aus dem Oktober 2007, in dem die Sala de lo Social im Plenum entschied, erwähnte es beide Entscheidungen nicht.37 In dem Urteil aus dem Jahr 2007 betont das TS, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, Urlaub zu gewähren, sich in der regelgerechten Festsetzung des Urlaubs erschöpfe. Der Arbeitgeber müsse nicht für den Erfolg des Urlaubs einstehen.38 Das TS setzt sich in der Begründung auch mit möglichen Einwänden auseinander. Es führt aus, der Urlaub diene nicht allein der Wiedergewinnung von Energie, sondern auch dazu, Abstand von der Arbeitsumgebung zu gewinnen. Urlaubszeit müsse daher Freizeit sein. Zwar könnten bestimmte Freizeitbeschäftigungen bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit nicht wahrgenommen werden. Das ändere aber – anders als bei Mutterschaftsurlaub – nichts daran, dass bei Erkrankung parallel zum Urlaub der Zustand der Untätigkeit, der den Urlaub charakterisiere, erhalten bleibe. Die Erkrankung verhindere normalerweise auch nicht die Erholung von der zuvor geleisteten Arbeit, die den Zweck des Urlaubs darstelle. Wer mehrere Monate nicht am Arbeitsplatz war, benötige keine Erholung von der Arbeit, auch wenn die Abwesenheit gerechtfertigt war. Zwar könne eine Erkrankung die persönlichen Urlaubspläne des Arbeitnehmers durchkreuzen. Diese Pläne könnten aber, ebenso wie alle anderen Pläne, die jemand schmiedet, auch durch andere unvorhersehbare oder unabwendbare Ereignisse vereitelt werden. Maßgeblich sei, welche der Arbeitsvertragsparteien dieses Risiko trage.39 Da das TS die Verpflichtung, Urlaub zu gewähren, als erfüllt ansieht, wenn der Urlaubszeitraum für den Arbeitnehmer festgesetzt wurde, weist es das Risiko dem Arbeitnehmer zu. Die in Art. 38.2 ET vorgesehene Urlaubs35
STS 11.7.2006 ES:TS:2006:5129 FJ 2. und 3.; STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 FJ 6. STS 11.7.2006 ES:TS:2006:5129 FJ 4. Alzaga Ruiz, AL 13/2007, 1536, 1555, hält die erneute Rechtsprechungsänderung – ohne Vorlage an den EuGH – für überraschend. 37 STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087. 38 STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 FJ 6. S. auch STS 11.7.2006 ES:TS:2006:5129 FJ 3. Die Argumente gegen die Nachholbarkeit des Urlaubs sind bei Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 170–171, zusammengestellt. 39 STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 FJ 6. Kritisch zum Aspekt des fehlenden Erholungsbedürfnisses Cuenca Alarco´n, RL 2008, 39, 41–42. 36
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festsetzung durch einzel- oder kollektivvertragliche Regelung habe eindeutig den Zweck, einen Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitsvertragsparteien herbeizuführen. Wie bei jedem Kompromiss könne es auf beiden Seiten Zugeständnisse geben. Auf Arbeitgeberseite zähle dazu die Unmöglichkeit, den Arbeitnehmer während der festgelegten Urlaubstage einzusetzen, auf Arbeitnehmerseite das Risiko der vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit nach der Festsetzung des Urlaubs.40 Die Richtlinie 93/104/EG stehe dieser Auslegung nicht entgegen, da sie diese Frage nicht regele. Dasselbe gelte für die EuGH-Entscheidung BECTU.41 Schließlich stimme diese Auffassung auch mit der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts überein, das in einem obiter dictum in einer Entscheidung, die die Nachholbarkeit von Urlaub bei Zusammentreffen mit Mutterschaftsurlaub betraf, ausführte, dass die Ausübung des Urlaubsanspruchs begrenzt sei und Arbeitnehmer, die infolge Krankheit weder in der festgelegten Zeit noch innerhalb der Maximalfrist Urlaub nehmen können, ihren Urlaubsanspruch verlieren.42 Zu diesem Urteil des TS gab es ein Sondervotum mehrerer Richter, die durch die Entscheidung der Mehrheit das Wesen des Urlaubs nicht ausreichend berücksichtigt sahen.43 Der Urlaub diene auch dazu, dem Arbeitnehmer Zeit für Familie und Freizeit zu verschaffen. Der Arbeitnehmer könne seinen Urlaub nur dann voll ausnutzen, wenn er dazu körperlich und geistig in der Lage ist. Für den kranken Arbeitnehmer könne sich der Urlaubszweck nicht voll verwirklichen.44 Mit Blick auf die Vereinbarung zum Urlaubszeitpunkt heißt es, es sei zwar richtig, dass Verträge einzuhalten sind. Das gelte aber nicht absolut. Wenn die Umstände sich derart verändern, dass die Parteien die Vereinbarung so nicht abgeschlossen hätten, sei eine Ausnahme zu machen.45 Außerdem habe das TS bereits im November 2005 und März 2006 in diesem Sinne entschieden. Die Entscheidung des TS vom 11.7.2006 stehe der im Sondervotum vertretenen Auffassung nicht entgegen, da diese Ausführungen in jenem Urteil, soweit hier von Interesse, lediglich ein obiter dictum seien. Ferner verweist das Sondervotum auf die im Urteil nicht erwähnte Entscheidung Merino Gome´z. Auch wenn diese Entscheidung sich auf eine Kollision von Erholungsurlaub und Mutterschaftsurlaub beziehe, enthalte sie doch generelle Aussagen zum Urlaubszweck, die auch für den Fall der Erkrankung relevant sind.46 Weitere Kritik bezieht sich auf die ver-
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STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 FJ 6. STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 FJ 7. 42 STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 FJ 7. unter Bezugnahme auf STC 20.11.2006 ES:TC:2006:324 FJ 5. 43 STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 Sondervotum unter 2. 44 STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 Sondervotum unter 6. 45 STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 Sondervotum unter 6. 46 STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 Sondervotum unter 7. 41
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fassungsrechtlichen Überlegungen der Mehrheit, die das Urteil des TC verkürzt in Bezug genommen und so in seiner Aussage entstellt habe.47 cc) Die Rückkehr zur Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung vor Beginn des Urlaubs Mit der Entscheidung vom 24.6.2009 kehrte das TS – erneut in einer Plenarentscheidung der Sala de lo Social – zur geteilten Lösung zurück, nach der der Urlaub nachholbar ist, wenn der Arbeitnehmer erkrankt, bevor der festgesetzte Urlaubszeitraum beginnt, nicht aber, wenn die Erkrankung während des Urlaubs auftritt.48 Das Gericht knüpft in dieser Entscheidung ausdrücklich an die Ausführungen des EuGH in der Rechtssache Schultz-Hoff an, die es rechtfertigten, über die Lösung der Frage im nationalen Recht erneut nachzudenken.49 Das TS erinnert an die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung, die sich nicht nur aus der Rechtsprechung des EuGH, sondern auch aus der spanischen Verfassung ergebe.50 Die Rechtssache SchultzHoff betreffe zwar nicht genau die im vorliegenden Fall zu entscheidende Frage, enthalte aber genügend Anhaltspunkte, um eine Vorlage beim EuGH unnötig erscheinen zu lassen. Die Grundsätze aus der Entscheidung SchultzHoff seien bei der Auslegung des nationalen Rechts zu berücksichtigen. Dieses regele die Frage des Zusammentreffens von Erholungsurlaub und Krankheit nicht und biete Raum für unterschiedliche Auslegungsergebnisse.51 Der Fall sei so zu lösen, dass der Richtlinie 2003/88/EG entsprochen wird. Dabei gehe es nicht um eine unmittelbare Anwendung und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts, sondern um die Auslegung mehrdeutigen nationalen Rechts, bei der die Auslegung der Richtlinie durch den EuGH zugrunde zu legen sei.52 Das TS geht anschließend auf die nationalen und internationalen Normen zum Urlaubsrecht ein, die die Frage der Kollision des Urlaubs mit einer Erkrankung nicht direkt lösen.53 Das Gericht betont, dass die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Urlaubs nicht allein dem Schutz der Gesund-
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STS 3.10.2007 ES:TS:2007:8087 Sondervotum unter 7. STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168. In einem Sondervotum zu der Entscheidung begründeten einige Richter ihre Auffassung, es hätte für die Rechtsprechungsänderung einer Vorlage an den EuGH bedurft, STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168 Sondervotum. Zustimmend Dura´n Lo´pez, REDT 2010, 125, 129. Die Entscheidung des STS bestätigen u.a. STS 11.2.2010 ES:TS:2010:1275; STS 25.5.2011 ES:TS:2011:4254. 49 STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168 FJ 3.2. So auch Sempere Navarro/Charro Baena, RJ 2009, 1, 5. 50 STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168 FJ 4. 51 STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168 FJ 5.1. und 5.4. 52 STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168 FJ 5.5. 53 STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168 FJ 6.1. und 6.2. 48
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heit der Arbeitnehmer dient, sondern es ihnen auch ermöglichen soll, Privatund Berufsleben zu vereinbaren und Zeit für Freizeit und Erholung zu haben. Wie bereits im Sondervotum zum Urteil vom 3.10.2007 heißt es, der Arbeitnehmer könne den Urlaub nur dann voll ausnutzen, wenn er dazu körperlich und geistig in der Lage sei, was auf einen erkrankten Arbeitnehmer nicht zutreffe.54 Ferner zeige Art. 10 IAO Nr. 132, dass die Interessen der Arbeitsvertragsparteien bei der Festlegung des Urlaubs in Ausgleich zu bringen seien. Daher sei vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Schultz-Hoff bei Erkrankung vor dem vorgesehenen Urlaubszeitpunkt dem Arbeitnehmerinteresse Vorrang zu geben, wenn dem Arbeitgeber die Verschiebung des Urlaubs organisatorisch möglich sei. Andernfalls würde das Arbeitnehmerinteresse in unverhältnismäßiger, nicht der Verfassung entsprechender Weise zurückgestellt.55 Die Richter greifen schließlich ein weiteres Argument des Sondervotums zum Urteil vom 3.10.2007 auf, indem sie ausführen, dass Verträge zwar grundsätzlich einzuhalten sind, dieser Grundsatz aber bei einer erheblichen Veränderung der Umstände durchbrochen werden könne. Die Pflicht des Arbeitgebers erschöpfe sich nicht darin, einen Termin für den Jahresurlaub zu vereinbaren, sondern erfordere gegebenenfalls – soweit das mit seinen berechtigten geschäftlichen Interessen vereinbar sei – eine Neufestsetzung des Termins, wenn der Urlaub andernfalls beeinträchtigt würde. Es ließe sich sogar Art. 6.2 IAO Nr. 132 dahingehend verstehen, dass bei Erkrankung ein neuer Urlaubszeitraum zuzuweisen ist.56 Mit dieser Konzeption des Rechts auf Urlaub, bei der das TS das Unionsrecht zur Auslegung des nationalen Rechts heranzieht, gelangt das Gericht zu derselben Lösung, die es bereits in den Urteilen vom 20.11.2005 und 21.3.2006 erzielt hatte. Bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit, die vor dem festgesetzten Urlaubszeitraum auftritt, ist Urlaub nachholbar. Tritt die Erkrankung erst während des Urlaubs auf, so trägt der Arbeitnehmer dieses Risiko.57
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STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168 FJ 6.2.c). Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, RL 2009 II, 1, 11, stellt ebenfalls auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben ab, nach denen bei der Beschränkung des Rechts auf Urlaub der Urlaubszweck stärker hätte beachtet werden ´ lvarez, AS 2010, 1, 5, müssen als zuvor in der Rechtsprechung geschehen. Nach Llorente A hätte das TS sich in seinem Urteil noch stärker am Urlaubszweck, wie ihn der EuGH entwickelt hat, orientieren sollen. Ablehnend äußert sich Dura´n Lo´pez, REDT 2010, 125, 130, der meint, dass das TS insofern über die Entscheidung des EuGH hinausgeht. 55 STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168 FJ 6.2.d). 56 STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168 FJ 6.2.e). 57 STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168 FJ 7.1.
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dd) Die Aufgabe der Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Erkrankung Mit seiner Entscheidung vom 3.10.2012 gab das Plenum der Sala de lo Social des TS die Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Erkrankung auf.58 Das TS hatte zuvor dem EuGH die Frage vorgelegt, ob Art. 7 RL 2003/88/EG einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Arbeitnehmer, der während des bezahlten Jahresurlaubs arbeitsunfähig wird, nicht berechtigt ist, den Jahresurlaub, der mit der Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt, später in Anspruch zu nehmen. Der EuGH hatte diese Frage in der Rechtssache ANGED bejaht.59 Das TS wiederholt zunächst, dass nach seiner Rechtsprechung der Urlaub nachholbar ist, wenn die Arbeitsunfähigkeit vor Beginn des Urlaubszeitraums eintritt.60 Noch nicht entschieden sei bislang, ob das auch im Fall der Erkrankung während des Urlaubs gilt. Zwar habe die Entscheidung vom 24.6.2009 das Urteil vom 10.11.2005 in Bezug genommen, nach dem in diesem Fall der Arbeitnehmer das Risiko trägt. Diese Ausführungen seien in der Entscheidung vom 24.6.2009 aber lediglich in einem obiter dictum erfolgt. Daher sei diese Frage nun umfassend zu klären.61 Dabei sei zu berücksichtigen, dass das Recht auf Urlaub ein verfassungsmäßiges Recht sei, das nur solche Grenzen zulasse, die sich aus seinem Zweck ergeben oder aus dem notwendigen Schutz eines verfassungsrechtlich legitimierten Interesses. Dabei sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren. Der Urlaub diene nicht allein der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, sondern auch dazu, Beruf und Privatleben in Einklang zu bringen. Der Urlaubszweck könne nur dann verwirklicht werden, wenn der Arbeitnehmer körperlich und geistig in der Lage sei, den Urlaub zu nutzen.62 Nach Auffassung des TS kann dem Arbeitnehmer daher die Neufestsetzung des Urlaubs nur im Fall des Missbrauchs verwehrt werden, so z.B., wenn der Arbeitnehmer den Urlaubszeitraum so wählt, dass er sich mit einer bereits vorhersehbaren Heilbehandlung überschneidet.63 Das TS stützt sich bei seinen Überlegungen außerdem darauf, dass die vorübergehende Arbeitsunfähigkeit zur Aussetzung des Ar-
58 STS 3.10.2012 ES:TS:2012:6797. Nachfolgend u.a. STS 29.10.2012 ES:TS: 2012:7460 (im Streitfall war die Erkrankung vor Beginn des Urlaubs aufgetreten); STS 19.3.2013 ES:TS:2013:1892 (im Streitfall war die Erkrankung nach Beginn des Urlaubs aufgetreten). In STS 17.1.2013 ES:TS:2013:370 wendet das TS diese Rechtsprechung auch auf den Fall der Erkrankung bei Urlaubsantritt an (im Streitfall war die Erkrankung mit Beginn des Urlaubs aufgetreten). Die weitere Formulierung (Erkrankung vor oder zeitgleich mit dem Urlaubsantritt oder während des Urlaubs) verwendet auch STS 4.2.2015 ES:TS:2015:452. 59 EuGH 21.6.2012 EU:C:2012:372 (ANGED) Rn. 16–24. 60 STS 3.10.2012 ES:TS:2012:6797 FJ 5. 61 STS 3.10.2012 ES:TS:2012:6797 FJ 6. 62 STS 3.10.2012 ES:TS:2012:6797 FJ 6. 63 STS 3.10.2012 ES:TS:2012:6797 FJ 7.
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beitsvertrags führt, während die Inanspruchnahme des Urlaubs lediglich eine der Verpflichtungen, nämlich die der Erbringung der Arbeitsleistung, aussetzt. Unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer arbeite oder sich in Urlaub befinde, führe die Arbeitsunfähigkeit zur Aussetzung des Vertrags. Sie habe damit in beiden Fällen dieselben Auswirkungen.64 Ferner müsse nach der RL 2003/88/EG das Zusammentreffen von Urlaub und Krankheit so geregelt werden, dass die Rechte des Arbeitnehmers vollständig gewahrt bleiben. Schließlich zeige auch das Verständnis des Art. 6.2 IAO Nr. 132 durch den Sachverständigenausschuss der IAO, dass Zeiten der Erkrankung nicht als Urlaub zählen dürfen.65 Daher sei der Urlaub auch im Fall der Erkrankung während des Urlaubs nachholbar.66 Als entscheidend für diese neue Linie der Rechtsprechung wird in der Literatur die konsequente Berücksichtigung der unterschiedlichen Zwecke von Erholungs- und Krankheitsurlaub gesehen. Wer mit der älteren Rechtsprechung die Erkrankung im Urlaub für das Risiko des Arbeitnehmers halte, sehe die Urlaubsgewährung als eine Verpflichtung des Arbeitgebers an, die mit dem Urlaubsantritt erledigt ist. Bei dieser Sichtweise würden die Unterschiede zwischen Erholungs- und Krankheitsurlaub nicht berücksichtigt, was nach der neuen Rechtsprechung des TS aber gerade geschehe: Der Urlaub ist neu festzusetzen, weil bei Erkrankung der Urlaubszweck insoweit nicht erreicht wird, als es um Zeit für die persönliche Lebensgestaltung geht.67 ee) Die Reaktion der Literatur auf den Wandel der Rechtsprechung Die spanische Literatur hat die Entscheidungen des EuGH und des TS mit Interesse begleitet. Dabei stehen die schwankende Rechtsprechung des TS sowie der Urlaubszweck und sein Verhältnis zum Zweck des Krankheitsurlaubs im Mittelpunkt. Aus den meisten Beiträgen lässt sich ablesen, dass die Literatur die Entwicklung im spanischen Recht als zögerlich einstuft.68 In der Literatur finden 64 STS 3.10.2012 ES:TS:2012:6797 FJ 7. In diese Richtung bereits Rabanal Carbajo, AS 2010, 111, 116. Dass diese Sichtweise nicht zwingend ist, zeigt er allerdings an späterer Stelle, wenn er ausführt, dass man weiter zwischen Erkrankung vor und nach dem Urlaub differenzieren könne, wenn man darauf abstellt, dass der Arbeitnehmer, der erst während des Urlaubs erkrankt, keine Suspendierung seiner Leistungspflicht mehr benötigt, weil er bereits aufgrund des Urlaubs nicht zu arbeiten braucht, Rabanal Carbajo, AS 2010, 111, 123–124. 65 S. zu den direkten Anfragen, die der Sachverständigenausschuss zu urlaubsrechtlichen Fragen an die spanische Regierung gestellt hat, Camps Ruiz, RMESS 2014, 17, 20–22; Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, RL 2009 I, 1, 2–3. 66 STS 3.10.2012 ES:TS:2012:6797 FJ 7. S. zum letzten Punkt auch STS 5.11.2014 ES:TS:2014:5797 FJ 3.D). 67 Sepu´lveda Go´mez, TL 2012, 189, 199. 68 Lo´pez Insua, AS 2013, 1, 12, meint, die spanischen Gerichte hätten die Bedeutung des
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sich nur einzelne Stimmen, die nach dem Urteil Schultz-Hoff bemerkten, dass sich die Rechtsprechung des EuGH zum Zusammentreffen von Mutterschafts- und Krankheitsurlaub nicht auf den Fall der Erkrankung übertragen lasse.69 Überwiegend wird dagegen bereits aus den Urteilen Schultz-Hoff und Vicente Pereda die Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung abgeleitet. Einige Autoren differenzieren dabei nicht nach der zeitlichen Abfolge von Urlaubsbeginn und Erkrankung.70 Andere zeichnen die Rechtsprechungsentwicklung nach und berufen sich für die Notwendigkeit, bei Erkrankung vor Beginn des Urlaubs den Urlaub neu festzusetzen, auf die Urteile Schultz-Hoff und Vicente Pereda, für die Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung während der Urlaubszeit auf das Urteil ANGED.71 Vereinzelt werden ausdrücklich Zweifel daran geäußert, ob bereits die Entscheidungen vor dem Urteil ANGED die Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung während des Urlaubs tragen. Es lasse sich argumentieren, dass der Arbeitnehmer in diesem Fall bereits die Möglichkeit hatte, sein Recht auszuüben.72 Andere meinen, die Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung während des Urlaubs habe sich bereits vor der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ANGED aus dem Schutzzweck des Urlaubs ergeben.73 Erholungs- und des Krankheitsurlaubs schockierend spät erkannt. Allerdings ist Rodrı´guez Cardo, AL 9/2012, 1057, 1062–1063, der Auffassung, dass die spanische Rechtsprechung sich mangels der Horizontalwirkung von Richtlinien stärker hätte zurückhalten müssen. Erst seit der Änderung des Art. 38.3 ET im Jahr 2012 sei im spanischen Recht eine Rechtsgrundlage für die Verschiebung des Urlaubs auf einen späteren Zeitpunkt gegeben. 69 Sempere Navarro/Charro Baena, RJ 2009, 1, 6. 70 Ausdrücklich Fita Ortega, AL 13/2010, 1505, 1520–1521, 1523. Ausdrücklich auch Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 186; ders., RL 2014, 19, 32, 34; ders., TL 2015, 271, 295, der darüber hinaus meint, dass bereits das Urteil Merino Gomez auf das Zusammentreffen von Urlaub und Krankheitsurlaub hätte übertragen werden können. Rabanal Carbajos, AS 2010, 111, 115–116, 121, leitet die Nachholbarkeit des Urlaubs außerdem aus Art. 5.4 und 6.2 IAO Nr. 132 ab. Ohne Differenzierung nach der zeitlichen Abfolge auch Alonso Olea/Casas Baamonde, Derecho del Trabajo, S. 425; Rodriguez-Pin˜ero y BravoFerrer, RL 2009 II, 1, 12; Sempere Navarro/Sempere Navarro, Comentarios al ET, Art. 38, ´ lvarez, RMESS 2017, 173, 188, und Rodrı´guez Cardo, AL 3., S. 515; wohl auch Lo´pez A 9/2012, 1057, 1059–1060. 71 Mercader Uguina, Derecho del Trabajo, S. 481–482; Martı´n Valverde, Derecho del Trabajo, S. 644 (ohne Berufung auf das Urteil Schultz-Hoff). S. auch Sobrino Gonza´lez, RL 2010, 79, 85–87, die sich in ihrer Anmerkung zu dem Urteil Schultz-Hoff und der Entscheidung des TS vom 24.6.2009 (STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168) mit Nachdruck dazu äußert, dass sich aus dem Urteil Schultz-Hoff die Nachholbarkeit des Urlaubs ergibt, ihre Aussage aber auf die Fälle beschränkt, in denen sich der Arbeitnehmer zum Urlaubszeitpunkt im Krankheitsurlaub befindet. 72 Velasco Portero, RMTSS 2013, 199, 208. 73 ´ lvarez, AS 2010, 1, 7, der in diesem Zusammenhang allerdings auf den Llorente A Gesundheitsschutz abstellt, nicht auf den Zweck, dem Arbeitnehmer Freiraum für persönliche Aktivitäten zu bieten.
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Die Rechtsprechung des EuGH zur Verschiedenheit der Zwecke wird von der Literatur aufgegriffen und von einigen auch klar befürwortet.74 Der neuen Zweckbestimmung wird maßgebliche Bedeutung für die Lösung der Kollision von Erholungs- und Krankheitsurlaub beigemessen. So heißt es, aus dem modernen, vom EuGH geprägten Verständnis des Jahresurlaubs ergebe sich auf natürliche Weise, dass der Urlaub im Krankheitsfall verschoben werden kann und für den Urlaubsanspruch auch keine vorherige Arbeitsleistung erforderlich ist.75 Weil Erholungs- und Krankheitsurlaub unterschiedliche Zwecke haben, stelle sich die Frage nicht, ob Urlaub notwendig ist, wenn die Arbeitsfähigkeit durch einen Krankheitsurlaub wiederhergestellt wurde. Die ursprüngliche Vorstellung, nach der Urlaub eine Arbeitsleistung voraussetzt, an das Urlaubsjahr gebunden ist und in der Dauer nach dem Proportionalitätsgrundsatz zu bestimmen ist, sei Ausfluss einer nun überwundenen engen Sichtweise des Urlaubs (allein) als Mittel zur physischen und psychischen Regeneration nach geleisteter Arbeit gewesen.76 Mit Blick auf die Rechtsprechung des TS wird der Perspektivwechsel hervorgehoben, der sich durch die EuGH-Rechtsprechung ergeben hat. Ausgangspunkt der Überlegungen im spanischen Recht sei ursprünglich gewesen, welche Pflichten den Arbeitgeber treffen, nicht, welchen Nutzen der Urlaub dem Arbeitnehmer bringt.77 Ein weiterer Punkt, den ein Teil der Literatur anspricht, ist die Sorge vor betrügerischem Verhalten derjenigen Arbeitnehmer, die sich während des Urlaubs krankmelden. Diese Sorge wird als möglicher Grund dafür genannt, dass die Rechtsprechung des TS in diesem Punkt lange Zeit restriktiv war.78 Derartige Befürchtungen könnten aber den Grundsatz, dass Erholungs- und Krankheitsurlaub sich ausschließen, nicht einschränken. Betrügerisches Verhalten könne nicht unterstellt werden.79
74
Alzaga Ruiz, AL 11/2014, 1198, 1210; Gorelli Herna´ndez, RL 2014, 19, 31. S. zum Urlaubszweck Gorelli Herna´ndez, TL 2015, 271, 277–281; Torollo Gonza´lez, Derecho de las Relaciones Laborales 2015, 559, 560. Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 35–36, beschreibt die Entwicklung des doppelten Urlaubszwecks – Erholung von der Arbeit und Raum für private Aktivitäten – im spanischen Recht unabhängig von der Rechtsprechung des EuGH. Dabei zitiert er spanische Rechtsprechung und Literatur, die teilweise älter ist als die einschlägige EuGH-Rechtsprechung, also nicht von ihr inspiriert wurde. 75 Torollo Gonza´lez, Derecho de las Relaciones Laborales 2015, 559, 564–565. S. auch Sepu´lveda Go´mez, TL 2012, 189, 196, 199. 76 Torollo Gonza´lez, Derecho de las Relaciones Laborales 2015, 559, 565–566. 77 Fita Ortega, AL 13/2010, 1505, 1521. 78 ´ lvarez, AS 2010, 1, 6; Rabanal Carbajo, AS 2010, 111, 112. Llorente A 79 Gorelli Herna´ndez, RL 2014, 19, 31; Rabanal Carbajo, AS 2010, 111, 123 (Fn. 9). Zurückhaltend auch STS 3.10.2012 ES:TS:2012:6797 FJ 7., dazu Sepu´lveda Go´mez, TL 2012, 189, 200–201.
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Schließlich wurde eine Passage aus dem Urteil des TS diskutiert, nach der die Neufestsetzung des Urlaubs vorzusehen ist, sofern dies mit den berechtigten Geschäftsinteressen des Arbeitgebers vereinbar ist.80 In der Literatur wurde die Frage aufgeworfen, ob aufgrund dieser Aussage der Urlaub unter Umständen aufgrund entgegenstehender betrieblicher Interessen nicht nachgeholt werden könne. Da die EuGH-Rechtsprechung einen Verfall aus diesem Grund nicht vorsehe, sei das grundsätzlich nicht anzunehmen.81 Diese Frage wurde inzwischen durch das Urteil des EuGH in der Rechtssache Maestre Garcı´a geklärt. Der EuGH gestattet dem Arbeitgeber nicht, die Neufestsetzung des Urlaubs unter Berufung auf unternehmerische Interessen zu verweigern. Seine Interessen würden allein dadurch gewahrt, dass er statt des vom Arbeitnehmer gewünschten Ersatzurlaubszeitraums einen anderen Zeitraum vorschlagen kann, wobei dieser Zeitraum auch außerhalb des Bezugszeitraums liegen könne.82 b) Die Ergänzung des Art. 38.3 ET Vor dem Hintergrund der Entscheidungen Schultz-Hoff und Pereda forderten einige Autoren eine Anpassung des Art. 38 ET.83 Der spanische Gesetzgeber hat diese Norm im Zusammenhang mit der EuGH-Rechtsprechung zum Urlaubsrecht zweimal geändert. 2007 reagierte er auf die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Merino-Go´mez und ergänzte Art. 38.3 ET um UAbs. 2.84 In der Fassung von 2007 erfasste die Norm die Fälle der vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit infolge Schwangerschaft, Geburt oder Stillzeit sowie Mutterschutzfristen. Für das Zusammentreffen solcher Zeiten mit der betrieblich geregelten Urlaubszeit (Art. 38.3 UAbs. 1 ET) erhielt die betroffene Arbeitnehmerin das Recht, den Urlaub später nachzuholen, gegebenenfalls auch nach Ablauf des Bezugsjahres. 2012 wurde dieses Recht auf Personen erstreckt, deren Vertrag infolge Vaterschaft, Adoption oder Pflegschaft ausgesetzt ist.85 Im Zuge der Änderung im Jahr 2012 wurde außerdem das Zusammentreffen von Krankheits- und Erholungsurlaub geregelt. Nach dem neu eingeführten Art. 38.3 UAbs. 3 ET kann der Arbeitnehmer den Urlaub nachholen, wenn der Urlaubszeitraum mit einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt, die auf andere als die in Art. 38.3 UAbs. 2 ET 80
STS 24.6.2009, ES:TS:2009:5168 FJ 6. Fita Ortega, AL 13/2010, 1505, 1526. S. auch Dura´n Lo´pez, REDT 2010, 125, 134. 82 EuGH 21.2.2013 EU:C:2013:102 (Maestre Garcı´a) Rn. 24. 83 Castro Conte, AS 2011, 1, 6; Fita Ortega, AL 13/2010, 1505, 1527. 84 Regelung durch die Zusatzbestimmung 11.6 des Ley Orga´nica 3/2007 vom 22.3.2007. 85 Regelung zunächst durch die Schlussbestimmung 1.4 des Real Decreto-ley 3/2012 vom 10.2.2012 und abschließend durch die Schlussbestimmung 1.4 des Ley 3/2012 vom 6.7.2012. 81
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genannten Umstände zurückzuführen ist, und die es dem Arbeitnehmer unmöglich macht, den Urlaub während des Kalenderjahres, in dem er entstanden ist, ganz oder teilweise in Anspruch zu nehmen. Die Nachholbarkeit ist allerdings zeitlich begrenzt. Der Anspruch verfällt achtzehn Monate nach Ablauf des Jahres, in dem der Urlaub entstanden ist. Die Frage des Übertragungszeitraums hat in der Rechtsprechung des TS vor Inkrafttreten des Art. 38.3 UAbs. 3 ET keine Rolle gespielt.86 Die Einführung des Art. 38.3 UAbs. 3 ET überschnitt sich zeitlich mit wichtigen Entscheidungen zum Zusammentreffen von Krankheits- und Erholungsurlaub auf nationaler und europäischer Ebene.87 Das TS hatte dem EuGH im Januar 2011 die Rechtssache ANGED vorgelegt.88 Der Gesetzgeber erließ im Februar 2012 das Real Decreto-ley, das Art. 38.3 UAbs. 3 ET einführte. Es wurde kurz nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ANGED gesetzlich bestätigt. Anfang Oktober 2012 entschied das TS auf nationaler Ebene den Fall, der der Rechtssache ANGED zugrunde lag und gab in diesem Urteil die Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Erkrankung auf.89 c) Die Reaktion der Literatur auf die Gesetzesänderung Die Literatur hat zu der Neuregelung verschiedene Auslegungsfragen aufgeworfen. aa) Die Genesung vor Ablauf des Urlaubsjahres Einige Autoren weisen darauf hin, dass nicht alle Fälle des Zusammentreffens von Krankheits- und Erholungsurlaub (ausdrücklich) geregelt sind. So erfasse Art. 38.3 UAbs. 3 ET sprachlich nur die Fälle, in denen die Erkrankung so lange andauert, dass der Urlaub im laufenden Jahr nicht genommen werden kann. Werde der Arbeitnehmer rechtzeitig vor Ablauf des Urlaubsjahres gesund, habe er nach dem Wortsinn der Norm keinen Anspruch auf Neufestsetzung des Urlaubs. Dabei handele es sich aber wohl nur um eine ungeschickte Formulierung des Gesetzgebers, sodass auch in diesen Fällen der Anspruch zu gewähren sei. Zum einen gebe es keinen sachlichen Grund für eine unterschiedliche Behandlung der beiden Fallgruppen, zum anderen gehe aus der Rechtsprechung des EuGH klar hervor, dass Urlaub bei Zusammentreffen mit einer Erkrankung nicht verfallen dürfe.90 86 STS 23.1.2012 ES:TS:2012:976 erwähnt zwar das Urteil des EuGH in der Rechtssache KHS, stellt aber fest, dass es für den zu entscheidenden Fall keine Bedeutung hat. 87 S. zum zeitlichen Ablauf auch Sepu´lveda Go´mez, TL 2012, 189, 191. 88 STS 26.1.2011 ES:TS:2011:3081A. 89 STS 3.10.2012 ES:TS:2012:6797. 90 Alzaga Ruiz, AL 11/2014, 1198, 1217–1218; Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo,
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
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bb) Die Erkrankung während des Urlaubs Nicht ganz einheitlich beurteilt die Literatur die Frage, ob Art. 38.3 UAbs. 3 ET den Fall der Erkrankung während des Urlaubs regelt. Einige sehen den Fall als ungeregelt an, weil die Regelung vor der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ANGED in Kraft getreten ist. Es sei eine Anpassung des Art. 38.3 UAbs. 3 ET erforderlich, um den Vorgaben des EuGH Genüge zu tun.91 Andere weisen lediglich darauf hin, dass der Fall gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist, die Frage aber durch die Rechtssache ANGED geklärt wurde.92 Auch wenn die Autoren das nicht ausdrücklich schreiben, ist nach ihrer Auffassung Art. 38 UAbs. 3 ET also wohl auslegungsfähig. Deutlicher heißt es bei anderen Autoren, Art. 38.3 UAbs. 3 ET erfasse jeden Fall des Zusammentreffens von Krankheit und Urlaub, unabhängig von der zeitlichen Abfolge.93 Das ergebe sich daraus, dass der Normtext insoweit nicht differenziere und diese Lösung durch das Urteil in der Rechtssache ANGED vorgegeben sei.94 Da die gesetzliche Regelung in Form des Real Decreto-ley kurz vor diesem Urteil und dem Urteil des TS vom 3.10.2012 erlassen wurde, wird zwar die Frage aufgeworfen, ob diese nachfolgenden Urteile zur Interpretation des Art. 38.3 UAbs. 3 ET herangezogen werden können. Sie wird jedoch mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH klar bejaht. Aus dieser Rechtsprechung gehe deutlich hervor, dass nationale Ausführungsbestimmungen das Recht auf Urlaub an sich nicht einschränken dürfen und der Arbeitnehmer bei Erkrankung die Möglichkeit erhalten muss, den Urlaub nachzuholen.95
S. 196–197; ders., RL 2014, 19, 38; ders., TL 2015, 271, 300. S. auch Sepu´lveda Go´mez, TL 2012, 189, 204. 91 Lo´pez Insua, AS 2013, 1, 11. Diese zeitliche Abfolge gilt im Verhältnis der Rechtssache ANGED zur Vorabregelung durch die Schlussbestimmung 1.4 des Real Decreto-ley 3/2012 vom 10.2.2012. Die abschließende Regelung durch die Schlussbestimmung 1.4 des Ley 3/2012 vom 6.7.2012 trat nach dieser Entscheidung in Kraft. 92 Gallego Moya, REDT 2020, 147, 165; Velasco Portero, RMTSS 2013, 199, 209–211. S. ferner Sala Franco, Derecho de las relaciones laborales 2020, 430, 431. 93 Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 189, 192; ders., RL 2014, 19, 40. S. auch Alzaga Ruiz, AL 11/2014, 1198, 1217–1218. S. ferner Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, RL 2012, 1, 16, der angesichts der Neuregelung von einer begrenzten Bedeutung des Urteils in der Rechtssache ANGED für das spanische Recht ausgeht, sie aber für Sachverhalte vor Inkrafttreten des Art. 38.3 UAbs. 3 ET bei der richtlinienkonformen Interpretation heranziehen möchte. 94 Gorelli Herna´ndez, Disfrute efectivo, S. 192; ders., RL 2014, 19, 40; Sepu´lveda Go´mez, TL 2012, 189, 201–202. 95 Sepu´lveda Go´mez, TL 2012, 189, 202–204, die sich außerdem auf Art. 6.2 IAO Nr. 132 stützt, der nach der Interpretation der Expertenkommission klare Regelungen zur Anrechnung von Krankheitstagen als Urlaub verlange, die Art. 38.3 ET nicht enthalte.
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cc) Die zeitliche Lage des nachgeholten Urlaubs Wie die neue zeitliche Lage des versäumten Urlaubs zu bestimmen ist, ist nicht eigens geregelt. Daher greift die Literatur auf Art. 38.2 ET zurück. Der verpasste Urlaub müsse nicht unbedingt direkt nach Ende der Erkrankung angetreten werden.96 Zur Begründung wird vereinzelt auf den Übertragungszeitraum abgestellt. Er zeige, dass der Urlaub nicht direkt im Anschluss an die Erkrankung nachgeholt werden müsse.97 Zwingend ist diese Argumentation allerdings nicht, der Übertragungszeitraum wäre auch dann eine sinnvolle Regelung, wenn der Urlaub unmittelbar nach der Genesung zu nehmen ist, da er auch in diesen Fällen die Nachholbarkeit begrenzen würde. dd) Der Übertragungszeitraum Der Übertragungszeitraum soll nach Auffassung von Gorelli Herna´ndez nicht gelten, wenn der Arbeitnehmer rechtzeitig im Urlaubsjahr gesund wird und den Urlaub noch im Urlaubsjahr nachholen kann.98 Zur Begründung führt er zum einen an, dass der Achtzehnmonatszeitraum erst ab Ende des Kalenderjahres beginnt, in dem der Urlaub bezogen wurde.99 Zum anderen stellt er auf die Formulierung des Art. 38.3 UAbs. 3 ET ab, die sich gerade auf Fälle bezieht, in denen der Urlaub ganz oder teilweise im Urlaubsjahr nicht genommen werden kann.100 Angesichts des Grundsatzes der Unübertragbarkeit des Urlaubs und des Wortsinns der Ausnahmevorschrift in Art. 38.3 UAbs. 3 ET spricht viel für diese Auffassung. Umstritten ist, ob die Achtzehnmonatsfrist zwingend ist oder (tarif-)vertraglich überschritten werden kann. Nach einer Auffassung ist die zeitliche Grenze vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH, nach der bei längerer Verzögerung ein Teil des Urlaubszwecks nicht erreicht werden kann, als zwingend anzusehen.101 Nach anderer Auffassung kann sie einzel- oder tarifvertraglich verlängert werden.102 Nachdem der EuGH in der Rechtssache King zu erkennen gegeben hat, dass eine Begrenzung des Übertragungszeitraums lediglich möglich, nicht aber zwingend ist,103 ist die Möglichkeit einer
96
Alzaga Ruiz, AL 11/2014, 1198, 1218; Gorelli Herna´ndez, RL 2014, 19, 40. Gorelli Herna´ndez, RL 2014, 19, 40; ders., TL 2015, 271, 300. 98 Gorelli Herna´ndez, RL 2014, 19, 41; ders., TL 2015, 271, 301. Anders aber ders., Disfrute efectivo, S. 194, wo es heißt, der Gesetzgeber unterscheide nicht danach, ob der Urlaub noch im Bezugszeitraum nachgeholt werden könne oder nicht, sodass die Arbeitsvertragsparteien auch im ersten Fall die Übertragung auf das Folgejahr vorsehen könnten. 99 Gorelli Herna´ndez, RL 2014, 19, 41; ders., TL 2015, 271, 301. 100 Gorelli Herna´ndez, TL 2015, 271, 301. 101 Gorelli Herna´ndez, RL 2014, 19, 41. 102 Torollo Gonza´lez, Derecho de las Relaciones Laborales 2015, 559, 572. 103 EuGH 29.11.2017 EU:C:2017:914 (King) Rn. 55. S. dazu oben S. 19. 97
II. Die Auslegung von Gesetzen
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Erweiterung des Übertragungszeitraums nicht als europarechtswidrig anzusehen. Ob Art. 38.3 UAbs. 3 ET hinsichtlich des Übertragungszeitraums als zwingendes Recht ausgestaltet ist oder nicht, ist damit allerdings nicht geklärt. Torollo Gonza´lez will den Übertragungszeitraum lediglich auf die Neufestsetzung während des bestehenden Arbeitsverhältnisses anwenden. Urlaub, der innerhalb des Übertragungszeitraums nicht genommen werden konnte, sei jedoch bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses finanziell abzugelten. Eine Abgeltung komme zwar nach der RL 2003/88/EG während des bestehenden Arbeitsverhältnisses nicht in Betracht. Für die Dauer des Arbeitsvertrags werde der Urlaubsanspruch aus dem betroffenen Jahr „verwässert“. Wenn aber der Arbeitsvertrag ende, stelle sich die Frage, ob ein Anspruch auf Abgeltung besteht. Das sei, so Torollo Gonza´lez, die einzig passende Lösung.104
7. Zusammenfassung Eine Mindestbeschäftigungszeit war und ist im spanischen Urlaubsrecht nicht vorgesehen, sodass sich insoweit keine Auslegungsfragen stellen. Rechtsprechung und Literatur leiten außerdem den Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit bereits aus Art. 5.4 IAO Nr. 132 ab,105 sodass es auch insoweit keiner Anpassung an die EuGH-Rechtsprechung bedurfte. Die Neufestsetzung von Urlaub bei Erkrankung ist seit Februar 2012 gesetzlich geregelt. Wie die Diskussion um die Auslegung der Neuregelung zeigt, hat sich dieser Punkt damit nicht vollständig erledigt. Auch zeigt die Rechtsprechung zur Rechtslage vor der Einführung des Art. 38.3 UAbs. 3 ET, dass das TS das Umsetzungsdefizit zwar im Wege der Auslegung beseitigte, das aber nur schrittweise geschah.
II. Die Auslegung von Gesetzen Der spanische Co´digo Civil enthält seit 1974 im zweiten Kapitel des einführenden Titels Vorschriften zur Anwendung von Rechtsnormen.106 Art. 3 CC befasst sich mit der Auslegung von Normen, Art. 4 CC mit der Analogie. Art. 3.1 CC bestimmt für die Auslegung Folgendes: „Rechtsnormen werden 104
Torollo Gonza´lez, Derecho de las Relaciones Laborales 2015, 559, 571–572. S. oben S. 226. 106 Katalonien hat ein eigenes Zivilgesetzbuch, das in Art. 111–2 gewisse Vorgaben zur Auslegung macht. Auf diese Vorschrift wird hier nicht eingegangen. S. dazu Gua`rdia i Canela, Annals 2009, 1, 16–18. S. aus der deutschen Literatur zu Art. 3 CC, dem Auslegungsziel und den Auslegungskriterien Henninger, Europäisches Privatrecht, S. 154–58. 105
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gemäß der eigentlichen Bedeutung ihrer Worte unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, der historischen und gesetzgeberischen Gegebenheiten sowie der sozialen Wirklichkeit der Zeit, in der sie anzuwenden sind, ausgelegt, wobei vor allem auf ihren Sinn und Zweck zu achten ist.“107 Nach Art. 3.2 CC ist bei der Anwendung der Normen die Billigkeit zu berücksichtigen. Billigkeitserwägungen dürfen die Entscheidung allerdings nur dann ausschließlich leiten, wenn das gesetzlich ausdrücklich vorgesehen ist.108 Obwohl Art. 3 CC Teil des Co´digo Civil ist, gilt er nicht nur für dieses Gesetz, sondern für alle Rechtsnormen.109 Nachfolgend werden zunächst der Streit um das Auslegungsziel sowie Diskussionspunkte bei den Auslegungskriterien vorgestellt, bevor besonderes Augenmerk auf das methodische Vorgehen des TS gerichtet wird.
1. Subjektive oder objektive Auslegung Einige Autoren sehen in Art. 3.1 CC ein Bekenntnis zur objektiven Auslegung, weil die Regelung auf den „Sinn und Zweck“ der auszulegenden Norm abstellt, was eine Bezugnahme auf die Norm, nicht dagegen auf ihren Verfasser bedeute.110 In der Regel wird Art. 3.1 CC im Rahmen der Debatte um die subjektive oder objektive Auslegung von Normen aber nicht als Entscheidung im Streit um das Ziel der Auslegung angesehen.111 Die Diskussion um das Auslegungsziel zeigt bei näherem Hinsehen, dass die Begriffe subjektive und objektive Auslegung nicht immer gleichbedeutend verwendet werden. So ordnen einige die subjektive Auslegung, die Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers, als autoritär und erstarrend ein. Die objektive Auslegung sehe das erlassene Gesetz demgegenüber als vom Gesetzgeber losge-
107 Art. 3.1 CC: „Las normas se interpretara´n segu´n el sentido propio de sus palabras, en relacio´n con el contexto, los antecedentes histo´ricos y legislativos, y la realidad social del tiempo en que han de ser aplicadas, atendiendo fundamentalmente al espı´ritu y finalidad de aquellas.“ 108 Art. 3.2 CC: „La equidad habra´ de ponderarse en la aplicacio´n de las normas, si bien las resoluciones de los Tribunales podra´n descansar de manera exclusiva en ella cuando la ley expresamente lo permita.“ 109 Bercovitz Rodrı´guez-Cano/Ataz Lo´pez, Comentarios al CC, Art. 3 CC 3., S. 117. S. auch de Ası´s Roig, Jueces, S. 211. 110 ´ lvarez, Interpretacio´n, S. 72; Ribes Ribes, Convenios, S. 36. Pe´rez A 111 So befassen sich Dı´ez-Picazo, ADC 1970, 711; Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, AFD 2014, 309, und Solozabal Echavarrı´a, REP 1990, 175, mit der Diskussion um die subjektive oder objektive Auslegung, ohne die Frage in Art. 3.1 CC als gelöst anzusehen. Dı´ez-Picazo/ Gullo´n Ballesteros, Derecho Civil, S. 152, leiten zwar aus der Bezugnahme auf die sozialen Gegebenheiten im Moment der Anwendung der Norm ab, dass sich Art. 3.1 CC an der objektiven Theorie zu orientieren scheint, wollen der Regelung aber keine Aussage zugunsten der einen oder anderen Theorie entnehmen.
II. Die Auslegung von Gesetzen
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löst an. Es nehme ein Eigenleben an und könne im Laufe der Zeit einen Bedeutungswandel erfahren.112 Nach dieser Auffassung ist eine subjektive Auslegung also zugleich statisch auf den Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes bezogen und nicht geeignet, veränderte Umstände zu erfassen.113 Andere differenzieren stärker und trennen die Frage nach der objektiven oder subjektiven Auslegung einerseits von der nach der entstehungszeitlichen oder geltungszeitlichen Auslegung andererseits. So ist nach Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz die Bedeutung des Gesetzes nach der subjektiven Theorie nach dem Willen des Gesetzgebers zu bestimmen, nach der objektiven Theorie anhand dessen, was aus dem Normtext hervorgeht.114 Daneben sei nach entstehungszeitlicher und geltungszeitlicher Interpretation zu unterscheiden. Erstere sei auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bezogen, während letztere sich auf den Zeitpunkt der Rechtsanwendung bezieht. Diese Unterscheidung sei nicht mit der zuvor genannten gleichzusetzen.115 Neben der (vermeintlichen) Inflexibilität werden gegen die subjektive Auslegungsmethode weitere Argumente angeführt. Sie passe nicht zu den strukturellen Gegebenheiten der modernen Rechtsordnung, in der der Richter vom Gesetzgeber unabhängig ist und den Inhalt des Gesetzes von dessen Wortsinn ausgehend zu klären hat. Die Methode sei außerdem unangebracht, wenn es um ältere Gesetze geht oder um solche, bei denen der Gesetzgeber ein Kollektivorgan ist, da man diesem kaum einen Willen zuschreiben könne. Sie sei ferner nicht mit dem rechtsstaatlichen Prinzip der Rechtssicherheit vereinbar. Es regiere das Recht, frei von persönlichen Vorstellungen. Es zähle nur der Wille, der aus dem Text hervorgeht, nicht ein nicht erkennbarer Wille des Gesetzgebers.116 Eine Kombination aus subjektiver Theorie und Offenheit für Wandel vertritt Lacruz Berdejo. Nach seiner Auffassung ist das Gesetz Produkt seines Schöpfers, auf dessen Willen es daher ankommt. Den Ansatz, nachdem der vom Willen des Gesetzgebers losgelöste Wille des Gesetzes zu ermitteln ist,
112 Dı´ez-Picazo, ADC 1970, 711, 726–728; Latorre, Introduccio´n, 89–90; Solozabal Echavarrı´a, REP 1990, 175, 177–178. S. auch die Darstellung der Argumente zu den Theorien bei Dı´ez-Picazo/Gullo´n Ballesteros, Derecho Civil, S. 151–152. 113 Dı´ez-Picazo, ADC 1970, 711, 727–728. 114 Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, AFD 2014, 309, 324. So auch Ribes Ribes, Convenios, S. 36. Eine Auswahl zwischen den Theorien trifft Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, AFD 2014, 309, nicht. In Dereito 2013, 599, 608 lässt er die Frage ausdrücklich offen. 115 Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, AFD 2014, 309, 324; ders., Dereito 2013, 599, 607–608. 116 Dı´ez-Picazo, ADC 1970, 711, 727; Solozabal Echavarrı´a, REP 1990, 175, 178. S. auch die Kritik bei de Castro y Bravo, Derecho Civil, S. 449; Latorre, Introduccio´n, S. 87–88. Ob die subjektive Theorie in einer solchen Ausprägung überhaupt (noch) vertreten wird, bleibt in den Beiträgen offen. Gegen einen Teil der Kritikpunkte Lacruz Berdejo, Introduccio´n, S. 236–238.
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lehnt er ab.117 Das bedeutet aber nicht, dass das Gesetz seiner Ansicht nach nicht anpassungsfähig ist. Der Wille des Gesetzgebers sei nicht ein bloßer Umstand aus der Vergangenheit, der inaktiv werde, wenn das Gesetz in Kraft tritt. Er sei andauernd und entwickele sich mit der Zeit weiter. Die jeweiligen Umstände der Gegenwart erfüllten ihn mit Leben und Sinn. Eine Norm könne über ihren Wortsinn und das vom Gesetzgeber Vorgestellte hinaus Wirkung entfalten. Im Kontakt mit der Realität könne der Interpret sie unter Umständen besser verstehen als der Gesetzgeber selbst. Die Wandelbarkeit des Gesetzesinhalts ergebe sich aus dem Sinn und der Natur des Gesetzes, das dazu bestimmt sei, auf unbestimmte Zeit und in allen Lebenslagen den Weg zur richtigen Entscheidung zu weisen.118
2. Die Auslegungskriterien Aus Art. 3.1 CC werden fünf Auslegungskriterien abgeleitet.119 Die Auslegung habe nach dieser Regelung grammatikalische, systematische, historische, soziologische und teleologische Aspekte.120 Nicht unumstritten ist, ob „klare“ Normen auszulegen sind. Während das nach einer Auffassung nicht der Fall ist, weil das „unnütz und pedantisch“ ist, ist nach anderer Auffassung jede Norm auszulegen, da nur so festgestellt werden kann, ob sie klar ist.121 117
Lacruz Berdejo, Introduccio´n, S. 236–238. Lacruz Berdejo, Introduccio´n, S. 246–247. 119 Zu den von Rechtsprechung und Literatur vor Inkrafttreten des Art. 3.1 CC ver´ lvarez, Interpretacio´n, S. 17–52. wendeten Auslegungskriterien Pe´rez A 120 de Ası´s Roig, Jueces, S. 186–204, differenziert die einzelnen Kriterien sehr stark aus und zeigt so – insbesondere für das grammatikalische und das systematische Kriterium – ihre verschiedenen Facetten auf. S. überblicksartig auch Igartua Salaverrı´a, Interpretacio´n, S. 80–82. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Savignys Werk „System des heutigen Römischen Rechts“ ins Spanische übersetzt und von der Literatur rezipiert. Bis heute sind die Bezüge auf die Savigny’schen Elemente der Auslegung (grammatisches, logisches, historisches und systematisches Element) in der spanischen Literatur präsent, wobei Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den aktuellen Kriterien oft nicht angesprochen oder nur angedeutet werden, s. z.B. de Ası´s Roig, Jueces, S. 138–184; Dı´ez-Picazo/ Gullo´n Ballesteros, Derecho Civil, S. 153; Ribes Ribes, Convenios, S. 27; Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, Dereito 2013, 599, 603. Nach de Castro y Bravo, ADC 1977, 809, 830–831, haben die Savigny’schen Auslegungselemente in der Rechtsprechung weniger stark Anklang gefunden als in der Literatur. Neben wenigen Urteilen, die die Kriterien nennen, ohne dass sie allerdings für die Entscheidung tragend sind, fänden sich zahlreiche Entscheidungen, in denen sie unerwähnt blieben. 121 Die Auslegung „klarer Normen“ ablehnend de Castro y Bravo, ADC 1977, 809, 843 (in Anlehnung an Savigny, System, S. 215, dessen Aussage aber wohl zurückhaltender ist); ´ lvarez, Interpretacio´n, ders., Derecho Civil, S. 468; Latorre, Introduccio´n, S. 86; Pe´rez A S. 68; Salas Carceller/Quinonero Cervantes, Co´digo Civil, Art. 3 CC, S. 106. Die Auslegung 118
II. Die Auslegung von Gesetzen
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a) Der Wortsinn Der Wortsinn der Norm wird als Ausgangspunkt der Auslegung angesehen.122 Einige weisen dem Wortsinn auch begrenzende Funktion zu. Das als Auslegungsergebnis vorgeschlagene Normverständnis dürfe dem gewöhnlichen oder technischen Wortsinn nicht widersprechen.123 Nach anderer Auffassung begrenzt der Wortsinn die Auslegung nicht.124 b) Der Kontext Die Bezugnahme auf den Kontext bedeutet, dass die auszulegende Vorschrift im Gesamtzusammenhang, als Teil der Rechtsordnung, zu betrachten ist.125
befürwortend Bercovitz Rodrı´guez-Cano/Ataz Lo´pez, Comentarios al CC, Art. 3 CC 1., S. 116; Dı´ez-Picazo/Gullo´n Ballesteros, Derecho Civil, S. 159; Lacruz Berdejo, Introduccio´n, S. 234; Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, AFD 2014, 309, 321 (Fn. 22). In diese Richtung wohl auch Ribes Ribes, Convenios, S. 31, nach der die Berücksichtigung des Wortsinns fast nie für die Auslegung ausreicht. Allerdings meint auch der die Auslegung klarer Normen ablehnende de Castro y Bravo, Derecho Civil, S. 467, ausdrücklich, dass die grammatikalische Auslegung nicht ausreichend ist. Ihm geht es darum, dass Normen, deren Inhalt klar ist, nicht durch gezwungene Argumentation anders verstanden werden (in diesem Sinne auch Latorre, Introduccio´n, S. 86). 122 de Castro y Bravo, Derecho Civil, S. 462; Dı´ez-Picazo, ADC 1970, 711, 725; Lacruz ´ lvarez, Interpretacio´n, S. 66; Ribes Ribes, ConveBerdejo, Introduccio´n, S. 233; Pe´rez A nios, S. 31; Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, AFD 2014, 309, 329; Solozabal Echavarrı´a, REP 1990, 175, 179. Einige betonen, dass die Worte im Normtext nicht nur für sich zu betrachten sind, sondern auch die Verbindung der Wörter in der Norm zu berücksichtigen ist (syntaktische Argumentation), so Dı´ez-Picazo, ADC 1970, 711, 725; Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, AFD 2014, 309, 329. Kritisch mit Blick auf die Mehrdeutigkeit von Worten Igartua Salaverrı´a, Interpretacio´n, S. 104–105. 123 Dı´ez-Picazo/Gullo´n Ballesteros, Derecho Civil, S. 155; Ribes Ribes, Convenios, S. 31; Solozabal Echavarrı´a, REP 1990, 175, 179. 124 Albaladejo, Derecho civil, S. 29; de Castro y Bravo, Derecho Civil, S. 462, 468; Pe´rez ´ lvarez, Interpretacio´n, S. 68. Wohl auch STC 15.7.1987 ES:TC:1987:124 FJ 4. und Gua`rA dia i Canela, Annals 2009, 1, 13, nach dessen Auffassung die Bezugnahme auf Sinn und Zweck in Art. 3.1 CC bedeutet, dass die Auslegung den Wortsinn übersteigen kann. 125 de Ası´s Roig, Jueces, S. 186, 206–207; Bercovitz Rodrı´guez-Cano/Ataz Lo´pez, Comentarios al CC, Art. 3 CC 4.1.b), S. 118–119; de Castro y Bravo, Derecho Civil, S. 473; Lacruz Berdejo, Introduccio´n, S. 243; Ribes Ribes, Convenios, S. 32–33; Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, AFD 2014, 309, 330; Solozabal Echavarrı´a, REP 1990, 175, 179. Enger beschreiben Dı´ez-Picazo/Gullo´n Ballesteros, Derecho Civil, S. 155, die systematische Auslegung, indem sie allein auf den Kontext der Norm innerhalb des jeweiligen Gesetzes abstellen. Die verfassungskonforme Auslegung behandeln sie auf S. 159 gesondert. Auch Salas Carceller/Quinonero Cervantes, Co´digo Civil, Art. 3 CC, S. 106, spricht nicht von der Gesamtrechtsordnung, sondern lediglich vom Umfeld der Norm.
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Zu einer derartigen systematischen Auslegung zählt insbesondere das Gebot der verfassungskonformen Auslegung.126 c) Die Entstehungsgeschichte Nach Art. 3.1 CC ist ferner die Entstehungsgeschichte der Norm in die Auslegung einzubeziehen, wobei nicht nur die gesetzgeberische Entwicklung, sondern auch der historische Hintergrund zu berücksichtigen ist. Der Blick auf die Gesetzgebungsgeschichte – auf Vorarbeiten, Entwürfe, Berichte, Stellungnahmen und Parlamentsdebatten – wird für gewöhnlich mit dem Regelungswillen des Gesetzgebers in Verbindung gebracht.127 Einzelne Autoren verbinden die historische Methode insgesamt sehr eng mit der subjektiven Auslegung.128 Dagegen betonen andere die Unabhängigkeit dieses Auslegungsmittels von einer bestimmten Auslegungstheorie.129 Beim historischen Hintergrund geht es um den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext, in dem die Norm geschaffen wurde.130 Es sind also nicht allein juristische Materialien heranzuziehen.131 Die Kenntnis des historischen Hintergrunds soll dazu beitragen, die Zielrichtung der Norm zu verstehen, indem er Aufschluss darüber gibt, welches Problem die Regelung bewältigen soll.132 Das historische Element behandelt die jüngere Literatur eher kursorisch. So sprechen nur wenige Autoren die Frage an, welche Rolle Präambeln oder dem Gesetz vorangestellte Begründungserwägungen spielen.133 Soweit einzelne Autoren die historische Auslegung ausführlicher be-
126 STC 20.12.1988 ES:TC:1988:253 FJ 4. de Ası´s Roig, Jueces, S. 189–190, ordnet die verfassungskonforme Auslegung zugleich der Folgenbetrachtung zu. 127 de Ası´s Roig, Jueces, S. 198; Gua`rdia i Canela, Annals 2009, 1, 11–12; Lacruz Berdejo, Introduccio´n, S. 238–239. 128 Dı´ez-Picazo, ADC 1970, 711, 728. 129 Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, Dereito 2013, 599, 605, 610. 130 Ribes Ribes, Convenios, S. 33; Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, AFD 2014, 309, 329. Kritisch zu der Frage, welche dieser Umstände als relevant anzusehen sind Igartua Salaverrı´a, Interpretacio´n, S. 105. 131 Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, Dereito 2013, 599, 611. 132 Bercovitz Rodrı´guez-Cano/Ataz Lo´pez, Comentarios al CC, Art. 3 CC 4.1.c), S. 119; de Castro y Bravo, Derecho Civil, S. 471; Dı´ez-Picazo/Gullo´n Ballesteros, Derecho Civil, S. 155; Salas Carceller/Quinonero Cervantes, Co´digo Civil, Art. 3 CC, S. 106. 133 S. zu diesen Auslegungshilfen, die allerdings nicht unbedingt der historischen Auslegung zuzuordnen sind, sondern ebenso gut als Teil der systematischen Auslegung angesehen werden können Ezquiaga Ganuzas, R.V.A.P. 1988, 27. S. auch Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, Dereito 2013, 599, 616–617 und Santaolalla Lo´pez, REDC 1991, 47. Letzterer lehnt zwar die Veröffentlichung der Begründungserwägungen mit dem Gesetzestext ab, hält sie aber der Sache nach für ein potentiell hilfreiches Auslegungsmittel, Santaolalla Lo´pez, REDC 1991, 47, 60–61. Nach STC 6.7.2006 ES:TC:2006:222 FJ 6. und STC 12.1.1981 ES:TC:1981:36 FJ 7. können Präambeln als Auslegungshilfe herangezogen werden. So
II. Die Auslegung von Gesetzen
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handeln, verweisen sie für die Betrachtung des historischen Hintergrunds auf die Bedeutung vorangehenden Rechts, der Rechtsprechung und der Literatur.134 Gesetzgebungsmaterialien seien je nach der Quelle unterschiedlich zu gewichten, so spielten z.B. Berichte im technischen Sinn eine größere Rolle als Einzelmeinungen.135 Ferner sei Gesetzgebungsmaterial eher bei jüngeren als bei älteren Gesetzen relevant, da bei Letzteren andere Interpretationselemente, wie z.B. Rechtsprechung, eine größere Rolle spielen.136 d) Die soziale Wirklichkeit Die soziale Wirklichkeit der Zeit, in der die Norm anzuwenden ist, ist ebenfalls ein Faktor, der gem. Art. 3.1 CC bei der Auslegung zu berücksichtigen ist.137 Dieses Kriterium zeigt, dass Normen nach der Konzeption des Art. 3.1 CC einem Bedeutungswandel zugänglich sind.138 Die Begründungserwägungen, die dem Gesetz vorangestellt sind, das diese Fassung des Art. 3.1 CC einführt, erwähnen diesen Aspekt eigens. Er wird als Faktor bezeichnet, mit dem behutsam umzugehen sei und der es in gewissem Maße ermögliche, die rechtlichen Vorgaben an Umstände anzupassen, die sich nach ihrer Entstehung ergeben.139 Die Literatur betont die Funktion des Kriteriums, die Anpassung an neue Anforderungen zu ermöglichen, ebenso wie seine Grenzen. Es könne nicht verwendet werden, um den Inhalt des Gesetzes zu verändern.140 Hinsichtlich der Anwendung des auch als „soziologisch“ bezeichneauch Martı´n Casals, Pre´ambulo y disposiciones directivas, S. 59, 79–80, der das auch auf Begründungserwägungen bezieht, wobei er davon ausgeht, dass das eine alternative Bezeichnung für die Inhalte ist, die er als Präambel bezeichnet wissen möchte. Zur Berücksichtigung der Begründungserwägungen durch das TS Rovira Flo´rez de Quin˜ones, Valor y funcio´n, S. 97–103 (s. dort auf S. 113 zur Gleichsetzung der Begriffe Präambel und Begründungserwägungen). 134 Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, Dereito 2013, 599, 612. S. auch de Castro y Bravo, Derecho Civil, S. 472. 135 Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, Dereito 2013, 599, 615. 136 Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, Dereito 2013, 599, 614–615. 137 Zur Verwendung dieses Kriteriums in der Rechtsprechung vor Inkrafttreten der ´ lvarez, Interpretacio´n, S. 33–52. Norm Pe´rez A 138 Solozabal Echavarrı´a, REP 1990, 175, 179. S. auch Dı´ez-Picazo/Gullo´n Ballesteros, Derecho Civil, S. 156. 139 S. den 13. Absatz des Textes, der dem Änderungsgesetz zu den „Einführenden Bestimmungen“ des CC aus dem Jahr 1974 vorangestellt ist, abrufbar unter https://www.boe. es/buscar/doc.php?id=BOE-A-1974-1083. 140 de Ası´s Roig, Jueces, S. 203–204; Ribes Ribes, Convenios, S. 35. S. auch de Castro y Bravo, Derecho Civil, S. 462, der weit vor Einführung des heutigen Art. 3 CC schrieb, dass es zwar auf den Gehalt der Norm in der heutigen Ordnung ankomme, die Veränderlichkeit der Norm aber nicht beliebig sei. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlange, dass der ursprüngliche Sinn der Norm beibehalten wird, wenn nicht neues Recht oder höhere Prinzipien ein geändertes Normverständnis nahe legen. Nach Lacruz Berdejo, Introduccio´n,
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Kapitel 7: Spanien
ten Kriteriums äußert sich ein Teil der Literatur weiter differenzierend. Es gehe zum einen darum, neue Umstände zu erfassen, die der Gesetzgeber nicht berücksichtigt hat, und auf die sich das Gesetz im Wege der Auslegung bezieht. Zum anderen könne so aber auch eine gewandelte Auffassung in der Gesellschaft berücksichtigt werden, die zu einer geänderten Bewertung bekannter Umstände führt.141 Eine Möglichkeit, die soziale Realität zu ermitteln, sei der Rückgriff auf Gesetzesänderungen unter der Annahme, dass sie der sozialen Wirklichkeit gerecht werden. Es dürfe aber nicht jede Reform mit der sozialen Wirklichkeit gleichgesetzt werden.142 Da sich nicht für jedes Verfahren eine Studie der sozialen Verhältnisse anfertigen lasse, liege es in der Hand des Interpreten, sie nach seinen Möglichkeiten zu bestimmen.143 e) Die teleologische Auslegung Über den Stellenwert der teleologischen Auslegung sind die Meinungen geteilt. Einige halten sie nach den Vorgaben des Art. 3.1 CC für das entscheidende Auslegungskriterium.144 Nach anderer Auffassung ist der Sinn und Zweck des Gesetzes aus den Ergebnissen der Auslegung anhand der übrigen Kriterien abzuleiten.145 f) Nicht abschließender Charakter und Rangfragen Die in Art. 3.1 CC genannten Kriterien werden als nicht erschöpfend angesehen.146 Daneben wird vor allem auf Regeln der Logik, wie das Vermeiden 249–250, kann unter Berufung auf die soziale Realität nicht gegen den Grundgedanken des Gesetzes entschieden werden. 141 Lacruz Berdejo, Introduccio´n, 248; de Martı´nez Aguirre y Aldaz, ADC 1985, 212, 216. 142 de Martı´nez Aguirre y Aldaz, ADC 1985, 212, 218. 143 de Martı´nez Aguirre y Aldaz, ADC 1985, 212, 219. 144 Gua`rdia i Canela, Annals 2009, 1, 12; Ribes Ribes, Convenios, S. 28; Salas Carceller/Quinonero Cervantes, Co´digo Civil, Art. 3 CC, S. 106. 145 de Ası´s Roig, Jueces, S. 199; Dı´ez-Picazo/Gullo´n Ballesteros, Derecho Civil, S. 157–158; Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, AFD 2014, 309, 328–329 (mit Fn. 39). S. auch de Castro y Bravo, Derecho Civil, S. 469, und Solozabal Echavarrı´a, REP 1990, 175, 179, die meinen, die Berücksichtigung von Sinn und Zweck sei kein Kriterium, sondern verweise auf das Ziel jeder Auslegung. Ähnlich Bercovitz Rodrı´guez-Cano/Ataz Lo´pez, Comenta´ lvarez, Interpretacio´n, S. 71–72. rios al CC, Art. 3 CC 4.1.e), S. 120; Pe´rez A 146 Bercovitz Rodrı´guez-Cano/Ataz Lo´pez, Comentarios al CC, Art. 3 CC 4.3., S. 121; de Castro y Bravo, ADC 1977, 809, 840–843; Dı´ez-Picazo/Gullo´n Ballesteros, Derecho ´ lvarez, Interpretacio´n, S. 68–69; Civil, S. 153; Lacruz Berdejo, Introduccio´n, S. 233; Pe´rez A Ribes Ribes, Convenios, S. 28–29; Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, Dereito 2013, 599, 609. Im 13. Absatz des Textes, der dem Änderungsgesetz zu den „Einführenden Bestimmungen“ des CC aus dem Jahr 1974 vorangestellt ist, werden die Kriterien als flexibel und die Formulierung als nicht abschließend bezeichnet, abrufbar unter https://www.boe.es/buscar/doc.p hp?id=BOE-A-1974-1083.
II. Die Auslegung von Gesetzen
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von Widersprüchen und absurden Ergebnissen, abgestellt.147 Die überwiegende Literatur geht ferner davon aus, dass keine Rangfolge unter den Auslegungskriterien besteht.148 Einige sehen bei gegenläufigen Ergebnissen einzelner Auslegungskriterien die teleologische Auslegung als maßgeblich an.149 Kritiker halten dem entgegen, dass ein Vorrang der teleologischen Auslegung nicht weiterführt, weil unklar bleibt, wie zu bestimmen ist, welches Textverständnis dem Zweck am besten Rechnung trägt.150
3. Das Vorgehen des TS Zur Frage, ob der Wille des Gesetzgebers oder der des Gesetzes zu ermitteln ist, äußert sich das TS, soweit ersichtlich, nur selten. In einigen Urteilen heißt es, die Interpretation könne sich nicht damit begnügen, den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln. Vielmehr sei der objektive Wille zu ermitteln, der im verabschiedeten Gesetz zum Ausdruck kommt.151 Den Wortsinn einer Norm sieht das TS als Ausgangspunkt der Auslegung, der aber nicht notwendigerweise zugleich ihr Endpunkt ist. Das gelte insbesondere, wenn die wörtliche Auslegung keine eindeutige Bedeutung ergibt. Bildhaft formuliert das TS, dass in einem solchen Fall die Auslegung ihren Lauf nehmen müsse, bis sie das Mark der Vernunft oder des normativen Sinnes erreicht habe, ohne bei der bloßen Schale der in der Norm verwendeten Wörter stehenzubleiben.152 Das Recht sei, wenn es richtig und vollständig gehandhabt werden soll, nicht strikt nach seinem Wortsinn anzuwenden. Vielmehr komme es darauf an, seinen unzweifelhaften Geist, richtigen Sinn und wahren Zweck zu verstehen.153 Bei der Berücksichtigung der sozialen Realität stellt das TS u.a. auf die Entwicklung des Gesetzes ab, aus der sich die gesetzgeberische Absicht er-
147 Albaladejo, Derecho civil, S. 30; Dı´ez-Picazo/Gullo´n Ballesteros, Derecho Civil, S. 158; Ribes Ribes, Convenios, S. 37. S. auch de Ası´s Roig, Jueces, S. 192, der das argumentum ad absurdum bei der systematischen Auslegung einordnet. Kritisch de Castro y Bravo, Derecho Civil, S. 471. 148 de Ası´s Roig, Jueces, S. 184–185; Gua`rdia i Canela, Annals 2009, 1, 10; Igartua Salaverrı´a, Interpretacio´n, S. 106; Solozabal Echavarrı´a, REP 1990, 175, 179. 149 Ribes Ribes, Convenios, S. 28. 150 Bercovitz Rodrı´guez-Cano/Ataz Lo´pez, Comentarios al CC, Art. 3 CC 4.2., S. 120. 151 STS 18.1.2011 ES:TS:2011:266 FJ 2.3.; STS 29.9.2010 ES:TS:2010:5789 FJ 5. 152 STS 28.4.2015 ES:TS:2015:1722 FJ 2.3. S. zu Urteilen, in denen das TS unter Rückgriff auf systematische oder teleologische Erwägungen den Wortsinn der Norm über´ lvarez, Interpretacio´n, S. 187–197, 210–220. schreitet Pe´rez A 153 STS 22.3.1988 ES:TS:1988:2078 FJ 4.; STS 1.7.1986 ES:TS:1986:11925 FJ 3.; STS 12.5.1981 ES:TS:1981:2746 im 5. Absatz der Gründe.
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Kapitel 7: Spanien
geben könne.154 Das Gericht ist allerdings zurückhaltend darin, unter Bezugnahme auf die sozialen Realitäten vom Wortsinn abzuweichen. So wies es in einer Entscheidung darauf hin, dass sie dem Gesetzgeber nicht fremd oder unbekannt gewesen sei und er sie dennoch bei der Ausarbeitung des Gesetzes nicht berücksichtigt habe.155 Das soziologische Auslegungselement dürfe das Gesetz nicht verzerren, seine Bedeutung ändern oder zu einer willkürlichen Anwendung führen, es gestatte weder richterliche Willkür noch eine laxe Auslegung der Normen.156 In einer weiteren Entscheidung heißt es, Argumente mit Bezug zur sozialen Realität könnten nicht zu einer Auslegung führen, die im Widerspruch zu den Ergebnissen aus der logischen und systematischen Interpretation steht.157 Soziologische Faktoren seien mit Feingefühl und Vorsicht heranzuziehen.158 Das TS spricht ferner die systematische Auslegung an und betont die Notwendigkeit, Normen als Teil der Gesamtrechtsordnung in ihrem Kontext zu verstehen.159 Historische Aspekte werden in unterschiedlicher Weise in die Auslegung einbezogen.160 Der Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien ist laut einer Untersuchung zum Einsatz der Auslegungskriterien in der Rechtsprechung sehr selten.161 Die Aussagen zur Bedeutung von Sinn und Zweck der Norm sind nicht einheitlich. Das TS stuft Sinn und Zweck in mehreren Urteilen nicht als Auslegungskriterium ein, sondern als Ziel der Auslegung.162 Dennoch spricht es auch von der teleologischen Auslegung, so z.B. im Zusammenhang mit der verfassungskonformen Auslegung, die es insbesondere bei der systematischen und teleologischen Auslegung berücksichtigt wissen will.163 Ferner heißt es im Zusammenhang mit Überlegungen zur Rangfrage, 154
STS 3.1.2011 ES:TS:2011:263 FJ 4.B). STS 20.10.2011 ES:TS:2011:7169 FJ 5. 156 STS 20.10.2011 ES:TS:2011:7169 FJ 5.; STS 26.2.2004 ES:TS:2004:1262 FJ 2.; STS 18.12.1997 ES:TS:1997:7777 FJ 4. 157 STS 3.11.2008 ES:TS:2008:5989 FJ 3.C) c). 158 STS 21.11.2008 ES:TS:2008:6271 FJ 1.; STS 7.1.1991 ES:TS:1991:43 FJ 2. 159 STS 2.7.1991 ES:TS:1991:3801 FJ 1.; STS 15.9.1986 ES:TS:1986:7902 FJ 2. Eine Analyse der Rechtsprechung findet sich bei Pe´rez Alvarez, Interpretacio´n, S. 162–180. Er listet u.a. Urteile auf, die auf den engeren oder weiteren Kontext der Norm, auf die Verfassung oder die Rechtsordnung insgesamt Bezug nehmen. 160 ´ lvarez, Interpretacio´n, S. 152–156; Rodrı´guez-Toubes Mun˜iz, Dereito S. dazu Pe´rez A 2013, 599, 619–621. 161 ´ lvarez, Interpretacio´n, S. 156, der in diesem Zusammenhang nur neun Urteile Pe´rez A des TS nennt, die alle von der verwaltungsrechtlichen Kammer des TS erlassen wurden. 162 STS 2.7.1991 ES:TS:1991:3801 FJ 1.; STS 22.3.1988 ES:TS:1988:2078 FJ 4.; STS 1.7.1986 ES:TS:1986:11925 FJ 3.; STS 27.10.1979 ES:TS:1979:2209 im 1. Absatz der Gründe. 163 STS 21.1.2016 ES:TS:2016:592 FJ 4.3. S. zur verfassungskonformen Auslegung auch die Rechtsprechung des TC, STC 19.10.2017 ES:TC:2017:116 FJ 3.d); STC 25.5.2004 ES:TC:2004:98 FJ 8.; STC 16.12.1983 ES:TC:1983:122 FJ 6. Zur Verwendung von Sinn ´ lvarez, Interpretacio´n, S. 199–203. und Zweck durch das TS Pe´rez A 155
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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eine Rangfolge der Kriterien sei nicht gegeben, wobei jedoch in Art. 3.1 CC Sinn und Zweck der Normen als Mittel zur Bestimmung ihrer Bedeutung hervorgehoben würden.164 Die Kriterien seien umfassend formuliert und ermöglichten das bestmögliche Verständnis der auszulegenden Norm.165
III. Die richtlinienkonforme Auslegung Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung wird sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur diskutiert. Ein Schwerpunkt liegt in der Rechtsprechung dabei bei der Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts.
1. Die richtlinienkonforme Auslegung in der Rechtsprechung Das TS hat die Vorgaben des EuGH für die richtlinienkonforme Auslegung in seiner Rechtsprechung aufgegriffen.166 Dabei setzt es sich in jüngeren Urteilen ausführlicher mit der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung auseinander, ohne dass sich daraus Veränderungen in der Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung ergeben. a) Die Argumentation des TS in den Entscheidungen vom 24.6.2009 und 3.10.2012 In den hier einschlägigen urlaubsrechtlichen Entscheidungen vom 24.6.2009 und 3.10.2012 geht das TS unterschiedlich ausführlich auf die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung ein. Im Urteil vom 24.6.2009 führt das Gericht aus, es sei zur richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet und habe die Grundsätze aus der Entscheidung Schultz-Hoff im aktuellen Rechtsstreit zu berücksichtigen. Der Fall sei so zu lösen, dass der Richtlinie 2003/88/EG entsprochen werde.167 Das Gericht sieht das nationale Recht als auslegungs164
STS 15.9.1986 ES:TS:1986:7902 FJ 2. STS 30.5.1991 ES:TS:1991:2828 FJ 2. Das TS greift in einigen Entscheidungen auf mehrere Auslegungskriterien zurück, um seine Entscheidung zu stützen. S. nur STS 20.5.2009 ES:TS:2009:4390 FJ 3.4.; STS 18.6.2008 ES:TS:2008:4681 FJ 2.2.d). Die Verwendung der in Art. 3.1 CC genannten Kriterien in der Rechtsprechung des TS untersucht unter Auswertung zahlreicher Entscheidungen (ohne Beschränkung auf Entscheidungen auf dem Gebiet des allgemeinen Zivilrechts und des Arbeitsrechts) Pe´rez Alvarez, Interpretacio´n, S. 82–116. 166 S. nur STS 14.7.2017 ES:TS:2017:3229 FJ 8. und 9.; STS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408 FJ 8. und 9.; STS 22.4.2015 ES:TS:2015:1723 FJ 6.5.; STS 23.6.2006 ES:TS:2006:3987 FJ 4.; STS 20.11.1996 ES:TS:1996:6517 FJ 3. 167 STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168 FJ 3.2., 4., 5.5. 165
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Kapitel 7: Spanien
fähig an. Inhaltlich stützt es sich in erster Linie auf verfassungsrechtliche Erwägungen, außerdem auf Art. 10 IAO Nr. 132. Diese Überlegungen führen es „vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Schultz-Hoff“ zur Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung vor Urlaubsantritt, eine anderslautende Entscheidung würde das Arbeitnehmerinteresse in unverhältnismäßiger, nicht der Verfassung entsprechender Weise zurückstellen.168 Ohne das ausdrücklich so zu benennen, befasst sich das TS mit dieser Argumentation ausführlich mit der Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts, also mit der Möglichkeit, das spanische Recht i.S.d. Richtlinie zu verstehen. Im Urteil vom 3.10.2012 ist der Bezug auf die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung schwach ausgeprägt. Das TS stützt sich nicht allein auf die Interpretation des EuGH, sondern verstärkt sie mit weiteren Argumenten.169 Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ANGED, die auf Vorlage dieser Kammer erging und zu der das Urteil des TS vom 3.10.2012 die Folgeentscheidung ist, bildet zwar den Hintergrund der Auslegungserwägungen. Der Schwerpunkt der Argumentation liegt aber auf verfassungsrechtlichen Überlegungen zum Urlaubszweck und anderweitigen Erwägungen, die nicht auf die RL 2003/88/EG bezogen sind.170 Ausführungen zu Grundlagen und Umfang der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung macht das TS in diesem Urteil nicht, auch in der Entscheidung aus dem Jahr 2009 sind sie nur in Ansätzen enthalten. b) Die Argumentation des TS in jüngeren Urteilen Auf die Grundlagen und die Reichweite der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung geht das TS eher in jüngeren Entscheidungen ein. In Urteilen aus den Jahren 2016 und 2017 hat es sich in Anlehnung an die einschlägige EuGH-Rechtsprechung ausführlich zur Funktion der richtlinienkonformen Auslegung und zu den Anforderungen an die Interpretation des nationalen Rechts geäußert. Das TS zählt den Grundsatz des Vorrangs des Rechts der EU zum acquis communautaire. Unter Berufung auf das Verfassungsgericht171 verweist es darauf, dass dieser Grundsatz von der spanischen Verfassung durch Art. 93 CE akzeptiert wurde.172 Richtlinien komme unmittelbare Wirkung nur in bestimmten Fällen und nicht in Rechtsstreitig168
STS 24.6.2009 ES:TS:2009:5168 FJ 6.2.d). Darauf weisen Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, RL 2013, 1, 9–10, und Sepu´lveda Go´mez, TL 2012, 189, 197–199, hin. 170 STS 3.10.2012 ES:TS:2012:6797 FJ 6., 7. 171 STC 2.7.2012 TC:2012:145 FJ 5.; STC 11.9.1995 TC:1995:130 FJ 4. Zur Einordnung des Art. 93 CE als Kompetenznorm STC 15.3.1991 ES:TC:1991:28 FJ 4.B. 172 STS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408 FJ 7.2.A.; STS 8.6.2016 ES:TS:2016:2728 FJ 9.2.; STS 23.3.2015 ES:TS:2015:1924 FJ 5.1. 169
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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keiten zwischen Privaten zu.173 Das TS sieht die richtlinienkonforme Auslegung und den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch als Milderung der Unzulänglichkeiten, die sich aus der fehlenden Horizontalwirkung von Richtlinien für die ordnungsgemäße Anwendung des Unionsrechts ergebe. Das Gericht habe alles in seiner Macht Stehende zu tun, um im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts vorzunehmen, um so das Ziel der Richtlinie zu erreichen. Sei das nicht möglich, bleibe dem Bürger im Horizontalverhältnis nur der Staatshaftungsanspruch.174 Seit zum 1.7.2015 Art. 4 bis in das Ley Orga´nica 6/1985 del Poder Judicial eingeführt wurde, zieht das TS bei der richtlinienkonformen Auslegung auch diese Norm heran.175 Sie sieht vor, dass die Richter das Recht der EU nach Maßgabe der Rechtsprechung des EuGH anzuwenden haben. Die Norm betrifft also nicht die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung an sich, sondern die Beachtung der als verbindlich anzusehenden Rechtsprechung des EuGH. Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung ergäben sich zum einen aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen, zum anderen könne sie nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen.176 Die richtlinienkonforme Auslegung könne aber dazu führen, dass ein mitgliedstaatliches Gericht seine bisherige Rechtsprechung abzuändern habe.177 Zur Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts heißt es, es dürfe nicht allein auf den Wortsinn geschaut werden. Anders als bei der gewöhnlichen Auslegung, die die Anwendung der Kriterien des Art. 3.1 CC auf die nationale Norm beschränke, müsse bei der richtlinienkonformen Auslegung das innerstaatliche Recht der einschlägigen Richtlinie gegenübergestellt werden. Es sei dann zu klären, ob eine Auslegung der nationalen Vorschrift im Einklang mit dem Ziel der Richtlinie möglich ist. Das TS betont, dass die Gerichte dabei die Grenzen ihrer eigenen Zuständigkeit nicht überschreiten dürfen. Sie müssten sich im Rahmen der verfassungsmäßigen Aufgabe der Rechtsprechung halten und dürften sich keine Befugnisse anmaßen, die ausschließlich dem Gesetzgeber vorbehalten sind. Der Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung beziehe sich auf die Fälle, in denen die nationale Norm verwirrend und unvollständig ist und eine dem Zweck der Richtlinie angemessene Auslegung zulässt. Sie könne nicht angewandt werden, wenn die nationale Norm der Richtlinie eindeutig zuwiderlaufe und keinen Aus-
173
STS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408 FJ 7.2.D., E. STS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408 FJ 7.2.F., G. S. auch STS 8.6.2016 ES:TS:2016:2728 FJ 12.1. 175 S. STS 14.7.2017 ES:TS:2017:3229 FJ 8.2.; STS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408 FJ 7.4. 176 STS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408 FJ 8.2.; STS 8.6.2016 ES:TS:2016:2728 FJ 12.2. 177 STS 14.7.2017 ES:TS:2017:3229 FJ 8.2., 3.; STS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408 FJ 8.2. 174
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Kapitel 7: Spanien
legungsspielraum biete. Dann sei es Sache des Gesetzgebers, die Situation zu korrigieren.178 In einer Entscheidung zum Massenentlassungsrecht legte das TS ausführlich dar, dass die fragliche nationale Norm auslegungsfähig ist. Bei der Auslegung sei mit Blick auf das Erfordernis der richtlinienkonformen Auslegung das teleologische Element hervorzuheben und ihm größte Bedeutung beizumessen, da unbestreitbar Zweck jeder nationalen Umsetzungsregelung sei, das Ziel der Richtlinie zu erreichen. Denn das nationale Gericht habe nach der Rechtsprechung des EuGH davon auszugehen, dass der Mitgliedstaat bei der Umsetzung beabsichtigte, seinen Verpflichtungen aus der Richtlinie in vollem Umfang nachzukommen.179 Im konkreten Fall gab das TS diesem Element den Ausschlag, systematische Erwägungen stützten das Auslegungsergebnis. Argumente aus dem Wortsinn und der Vor- und Gesetzgebungsgeschichte, die nicht näher ausgeführt werden, ließ das TS zurücktreten.180 Daraus lässt sich eventuell ableiten, dass der Umsetzungswille den konkreten Regelungswillen verdrängt. Da historische Argumente nur beiläufig erwähnt werden, würde das Urteil damit aber möglicherweise überinterpretiert. Auch in anderen Entscheidungen hält das TS am Erfordernis der Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts fest und prüft sie für den konkreten Einzelfall. Das zeigt sich z.B. in einer Entscheidung vom 23.3.2015, in der das Plenum der Sala de lo Social des TS seine Auffassung zur Auslegung des Art. 127.2 LGSS a.F. änderte. Die Norm regelte eine bestimmte Konstellation der gesamtschuldnerischen Haftung von Betriebsveräußerer und -erwerber im sozialversicherungsrechtlichen Kontext. Sie besteht in Art. 168.2 LGSS in der aktuellen Fassung im Wesentlichen unverändert fort. Das TS führt aus, es habe sein neues Verständnis der Vorschrift unabhängig von der Entscheidung des EuGH vom 5.3.2015 entwickelt, der für die Auslegung der Norm Bedeutung zukomme. Die nun bevorzugte Auslegung des Art. 127.2 LGSS a.F. decke sich mit dem, was die Rechtsprechung des EuGH verlange. Die so verstandene Vorschrift stimme vollständig mit dem Gemeinschaftsrecht und der Rechtsprechung des EuGH überein. Selbst wenn der Spruchkörper nicht zu dieser Auslegung gelangt wäre, hätte ihn der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung zu demselben Ergebnis geführt.181 Hier 178 STS 14.7.2017 ES:TS:2017:3229 FJ 9.1., 2.; STS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408 FJ 9.1., 2. 179 STS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408 FJ 9.4. S. auch STS 14.7.2017 ES:TS:2017:3229 FJ 9.4. 180 STS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408 FJ 9.4., 5. Kritisch zu dieser Interpretation Cabeza Pereiro, Derecho de las relaciones laborales, 2017, 491, 496. Es handele sich nicht um richtlinienkonforme Auslegung, sondern um eine gezwungene Auslegung zur Anpassung an die europäischen Vorgaben. 181 STS 23.3.2015 ES:TS:2015:1924 FJ 2.3., 4.1, 5.2.b).
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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zeigt das TS große Bereitschaft zur richtlinienkonformen Interpretation, indem es ihr bei Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts richtungsweisende Funktion zuerkennt. Die Auslegungsfähigkeit ist in diesem Fall für das TS aber ebenso Voraussetzung für eine richtlinienkonforme Interpretation wie in einer Entscheidung aus dem Jahr 1996. In dem Urteil ging es um die Auslegung des Art. 10.2 LGDCU, der den Begriff der AGB i.S. dieses Gesetzes regelte. Zwar sei, so das TS, bei der Auslegung dieser Norm die RL 93/13/EWG heranzuziehen, damit den Zielen der Richtlinie auch bei Nichtumsetzung ins nationale Recht Rechnung getragen wird. Es liege aber auf der Hand, dass eine solche Auslegung es nicht zulasse, die objektiven und subjektiven Anforderungen des Art. 10.2. LGDCU aufzuheben, um den sehr weit gefassten Begriff der missbräuchlichen Vertragsklauseln in Art. 3 Abs. 2 RL 93/13/EWG zu verwenden. Die spanische Regelung sei enger, da es nach ihr darauf ankommt, dass der Verbraucher nicht in der Lage war, die Anwendung der Klausel zu verhindern. Er dürfe sich also nicht lediglich passiv verhalten. Unabhängig davon, ob man diese Regelung als gelungen ansehe oder nicht, sei das Gericht an diese Norm gebunden.182 c) Zusammenfassung Ein Bruch zu den Entscheidungen aus den Jahren 2009 und 2012 ergibt sich aus der jüngeren Rechtsprechung nicht. Der Unterschied zwischen den älteren und den jüngeren Entscheidungen liegt weniger in der Art und Weise, wie nationales Recht vor dem Hintergrund einer Richtlinie interpretiert wird, sondern vor allem darin, wie umfangreich die Ausführungen zur Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung sind. So heißt es in der Literatur zu Recht, die Entscheidung des TS vom 3.10.2012 setze implizit den Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung voraus.183 Auch in den jüngeren Entscheidungen ist letztlich entscheidend, ob das nationale Recht i.S.d. einschlägigen Richtlinie ausgelegt werden kann. Neben der unterschiedlichen Intensität der Ausführungen zur richtlinienkonformen Auslegung ergibt sich ein weiterer Unterschied mit Blick auf die Verknüpfung der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung mit den Auslegungsmethoden im nationalen Recht. Während das TS in den Entscheidungen aus den Jahren 2009 und 2012 das nationale Recht ohne Rückbezug auf die RL 2003/88/EG auslegt und fast zufällig zu einem richtlinienkonformen Ergebnis gelangt, betont es in jüngeren Entscheidungen die Aus-
182 STS 20.11.1996 ES:TS:1996:6517 FJ 3. Allerdings zog das TS in einer Entscheidung aus dem Jahr 1994 den Begriff der AGB aus Art. 3 RL 93/13/EWG heran, um eine Gerichtsstandsvereinbarung für nichtig zu erklären, STS 20.7.1994 ES:TS:1994:22065 FJ 4. Art. 10.2. LGDCU erwähnte das TS in dieser Entscheidung nicht. 183 Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, RL 2013, 1, 10.
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Kapitel 7: Spanien
wirkungen der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung auf die nationalen Auslegungsmethoden. So heißt es, die Auslegung sei nicht auf die Anwendung der Kriterien des Art. 3.1 CC auf die nationale Norm beschränkt, das innerstaatliche Recht müsse vielmehr mit der einschlägigen Richtlinie verglichen werden.184 Außerdem wird dem teleologischen Element besondere Bedeutung eingeräumt. So komme der Zweck nationaler Umsetzungsregelungen, das Ziel der Richtlinie zu erreichen, zur Geltung.185 Ob es sich um bloße Unterschiede in der Rhetorik handelt oder die richtlinienkonforme Auslegung stärker in das Bewusstsein gerückt ist, lässt sich allerdings nicht feststellen. Da das TS sowohl in den genannten urlaubsrechtlichen Entscheidungen als auch in den neueren Urteilen jeweils zu einem richtlinienkonformen Ergebnis kommt, ist auch nicht ersichtlich, dass die intensivere Auseinandersetzung mit der richtlinienkonformen Auslegung verstärkt zu richtlinienkonformen Ergebnissen führt.
2. Die richtlinienkonforme Auslegung im Spiegel der Literatur Auch die spanische Literatur hat die Vorgaben des EuGH für die richtlinienkonforme Auslegung – einschließlich ihrer Grenzen – aufgegriffen.186 Inhaltlich wird darauf hingewiesen, dass es im Arbeitsrecht nicht nur um die richtlinienkonforme, sondern auch um eine rechtsprechungskonforme Auslegung gehe, da der EuGH die arbeitsrechtlichen Richtlinien durch eine aktive und dynamische Rechtsprechung komplettiert habe, was zu erheblichen Einschnitten in die entsprechenden nationalen Normen geführt habe. So sei z.B. die Betriebsübergangsrichtlinie durch den EuGH ausgefüllt worden.187 a) Der Ausgleich fehlender Horizontalwirkung Nach Auffassung mehrerer Autoren erzielt die richtlinienkonforme Auslegung ähnliche Effekte, wie sie eine Horizontalwirkung von Richtlinien mit
184
STS 14.7.2017 ES:TS:2017:3229 FJ 9.1., 2.; STS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408 FJ 9.1., 2. 185 STS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408 FJ 9.4. S. auch STS 14.7.2017 ES:TS:2017:3229 FJ 9.4. 186 S. nur Alonso Garcı´a, REDE 2008, 353; ders., El Juez, S. 181–200; Alzaga Ruiz, RMTI 2010 (2), 463; Lo´pez Castillo, in: Instituciones, S. 219, 246–252; Lo´pez de los Mozos Dı´az-Madron˜ero, Directiva comunitaria, S. 116, 120–126; Mangas Martı´n/Lin˜a´n Nogueras, Instituciones, S. 427–430; Ordo´n˜ez Solı´s, BMJ 2002, 2329; Rodriguez-Pin˜ero y BravoFerrer, RL 2010, 1. 187 Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, RL 2010, 1, 8–9. S. auch ders., Derecho des las relaciones laborales 2016, 619, 620. Gallego Moya, REDT 2020, 147, 150 spricht mit Blick auf das Urlaubsrecht davon, dass der EuGH es modelliert, es fast ausarbeitet.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
259
sich brächte.188 Von anderer Seite wird darauf hingewiesen, dass die Aufgabe immerhin in den Händen der nationalen Justiz liege und es Sache des nationalen Richters sei, die Grenze zwischen Interpretation und Horizontalwirkung zu wahren.189 Der Unterschied zwischen der Horizontalwirkung und der indirekten Wirkung durch richtlinienkonforme Auslegung mache sich in der unterschiedlichen Reichweite bemerkbar. Die indirekte Wirkung der Richtlinie über die richtlinienkonforme Auslegung sei notwendigerweise begrenzt. Als Auslegungskriterium könne die Richtlinie nur Wirkung entfalten, soweit die nationale Norm auslegungsfähig sei.190 Von einigen Autoren wird der richtlinienkonformen Auslegung eine Art Reparaturwirkung für die fehlende Horizontalwirkung zugewiesen. So heißt es, der EuGH habe im Bewusstsein, dass die fehlende Horizontalwirkung von Richtlinien den Vorrang des Gemeinschaftsrechts erheblich beschränkt, den Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung etabliert.191 Auch mit Aussagen der Art, die richtlinienkonforme Auslegung ergänze die Direktwirkung im Kampf gegen die fehlerhafte Umsetzung von Richtlinien192 und habe durch die Anwendung in allen Mitgliedstaaten vereinheitlichende Wirkung193, wird der richtlinienkonformen Auslegung die Funktion zugewiesen, Harmonisierungsdefizite unabhängig von gesetzgeberischen Korrekturen zu beheben. Einige Autoren betrachten das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung unter dem Aspekt der Rechtssicherheit kritisch.194 Mangels Horizontalwirkung könne der Arbeitgeber sich nicht klar darauf einrichten, dass er sich an die Vorgaben der Richtlinie zu halten habe. Ob das der Fall sei, hänge vielmehr von der konkreten Handhabung durch die Gerichte ab.195
188
Mangas Martı´n/Lin˜a´n Nogueras, Instituciones, S. 427; Rodriguez-Pin˜ero y BravoFerrer, Derecho des las relaciones laborales 2016, 619, 620; ders., RL 2010, 1, 7. 189 Alzaga Ruiz, RMTI 2010 (1), 129, 146; dies., RMTI 2010 (2), 463, 468; dies., AL 13/2007, 1536, 1546. S. auch Mangas Martı´n/Lin˜a´n Nogueras, Instituciones, S. 430. 190 Bello Martı´n-Crespo, Directivas, S. 95–96. 191 Alzaga Ruiz, RMTI 2010 (1), 129, 141. Ähnlich Ordo´n˜ez Solı´s, BMJ 2002, 2329, 2346. S. auch Rodriguez-Pin˜ero y Bravo-Ferrer, Derecho des las relaciones laborales 2016, 619, 620. 192 Ordo´n˜ez Solı´s, BMJ 2002, 2329, 2346. 193 Alonso Garcı´a, REDE 2008, 353, 362. 194 Alzaga Ruiz, RMTI 2010 (2), 463, 468–469; dies., RMTI 2010 (1), 129, 146; Ordo´n˜ez Solı´s, BMJ 2002, 2329, 2351. S auch Alonso Garcı´a, REDE 2008, 353, 370, der davon ausgeht, dass die Rechtssicherheit umso stärker betroffen ist, je bemühter die richtlinienkonforme Auslegung ist. 195 Alzaga Ruiz, RMTI 2010 (1), 129, 147.
260
Kapitel 7: Spanien
b) Die Einbindung in den Interpretationsvorgang Zur Einbindung der richtlinienkonformen Auslegung in die Interpretation des Gesetzes heißt es, die Richtlinie sei von vornherein bei der Auslegung in Betracht zu ziehen, nicht erst bei Auslegungszweifeln nach einer richtlinienunabhängigen Auslegung der Norm.196 Der Spielraum der nationalen Gerichte bei der richtlinienkonformen Auslegung wird als gering eingeschätzt. Die Anwendung der nationalen Methoden sei dem Ziel der richtlinienkonformen Auslegung untergeordnet. So habe der EuGH z.B. entschieden, dass gegebenenfalls einer richtlinienkonformen Auslegung entgegenstehende Aussagen aus den Gesetzgebungsmaterialien bei der Interpretation zurücktreten müssten.197 Die Berücksichtigung präexistenten Rechts und der nationalen Rechtsordnung insgesamt führe ebenfalls zu einer geringeren Bedeutung der Materialien zum Umsetzungsgesetz.198 Die Berücksichtigung der Richtlinie sei aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts das entscheidende Kriterium bei der Auslegung des nationalen Rechts. Wenn die nationale Norm sich unterschiedlich verstehen lasse, sei das Textverständnis zu wählen, nach dem das nationale Recht im Einklang mit der Richtlinie ist.199 c) Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung Zu den Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung findet sich Unterschiedliches. Einige heben ausdrücklich hervor, dass sie nicht immer möglich sei und nach den Vorgaben des EuGH auch nicht immer möglich sein müsse.200 Das nationale Recht müsse interpretationsfähig sein. Bei einem klaren Widerspruch sei der Richter nicht zur richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet.201 Zu den Grenzen im Einzelnen nennen einige das Erfordernis einer auslegungsfähigen nationalen Norm, das Verbot der Auslegung contra legem sowie als Grenzen aus allgemeinen Rechtsprinzipien den
196
Alonso Garcı´a, Sistema, S. 304. Alonso Garcı´a, Sistema, S. 307; ders., REDE 2008, 353, 367 (jeweils unter Berufung auf EuGH 29.4.2004 ECLI:EU:C:2004:275 (Björnekulla Fruktindustrier)). S. auch Bello Martı´n-Crespo, Directivas, S. 123, die aus der Vermutung des Umsetzungswillens des Gesetzgebers ableitet, dass der nationale Richter sich für ein richtlinienwidriges Auslegungsergebnis nicht auf den Willen des Gesetzgebers berufen darf. 198 Alonso Garcı´a, Sistema, S. 307; ders., REDE 2008, 353, 366. 199 Alonso Garcı´a, Sistema, S. 308–309; Bello Martı´n-Crespo, Directivas, S. 142, unter Berufung auf eine Formulierung von Generalanwalt Elmer 14.3.1996 EU:C:1996:107 (Arcaro). 200 Bello Martı´n-Crespo, Directivas, S. 105, 124, 144; Cudero Blas, in: El juez nacional, S. 89, 95. 201 Cudero Blas, in: El juez nacional, S. 89, 95. Lo´pez de los Mozos Dı´az-Madron˜ero, Directiva comunitaria, S. 121; Mangas Martı´n/Lin˜a´n Nogueras, Instituciones, S. 430. 197
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
261
Grundsatz der Rechtssicherheit und das Verbot der Rückwirkung.202 Eine Autorin nennt zusätzlich Grenzen aus dem nationalen Prozessrecht und dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Nicht auslegungsfähig sei die Norm, wenn ihr Inhalt der Richtlinie klar entgegenstehe.203 Ein anderer Autor führt als Grenze der richtlinienkonformen Auslegung den Wortsinn, den Grundsatz der Gewaltenteilung sowie Rechtsgrundsätze wie Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot an.204 Eine weitere Auffassung betont hinsichtlich der Contra-legem-Grenze den Aspekt der Gewaltenteilung. Der Wortsinn könne nach der vom EuGH vorgegebenen Unterordnung der Auslegungskriterien unter das Ziel der richtlinienkonformen Auslegung nicht begrenzend wirken.205 Es gehe bei den Grenzen nicht um Gegensätze zum Wortsinn, den Materialien oder der Systematik, sondern um ein Abweichen von Methode an sich. Der Interpret dürfe nicht zum Gesetzgeber werden und nicht willkürlich entscheiden.206 Einige Autoren, die die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Grenze erwähnen, weisen darauf hin, dass der EuGH auf sie nur im strafrechtlichen Kontext zurückgreift.207 Unter Hinweis auf die Entscheidungen Marleasing und Pupino, in denen der EuGH dem nationalen Gericht letztlich ein bestimmtes Ergebnis vorgegeben habe, mahnt Alonso Garcı´a ein sorgfältiges Vorgehen des EuGH bei Aussagen zur richtlinienkonformen Auslegung an.208 Bei Hinweisen zur Auslegung und den (vermeintlichen) Auslegungsmöglichkeiten im nationalen Recht sei Sorgfalt ebenso angebracht wie bei der Erläuterung der Grenzen zwischen der richtlinienkonformen Auslegung und der unmittelbaren Anwendung einer Richtlinie.209 Als Beispiel für ein Urteil, in dem dies dem EuGH gut gelungen sei, nennt Alonso Garcı´a die Entscheidung Dominguez. Sie sei eine hervorragende Richtschnur für den nationalen Richter, der über die Auswirkungen einer Richtlinie im nationalen Recht zu befinden habe.210
202 Lo´pez de los Mozos Dı´az-Madron˜ero, Directiva comunitaria, S. 122; Mangas Martı´n/ Lin˜a´n Nogueras, Instituciones, S. 430. Alonso Garcı´a, El Juez, S. 194–198, erwähnt lediglich das Verbot des Contra-legem-Judizierens und unionsrechtliche Prinzipien als Grenze der richtlinienkonformen Auslegung und behandelt auch nur letztere näher. 203 Bello Martı´n-Crespo, Directivas, S. 127–132, 144, 157–158. 204 Lo´pez Castillo, in: Instituciones, S. 219, 249–252, der dabei wohl die Einhaltung der Wortsinngrenze als Ausdruck der Achtung der Gewaltenteilung sieht. 205 Alonso Garcı´a, Sistema, S. 307–308; ders., REDE 2008, 353, 366–367. 206 Alonso Garcı´a, Sistema, S. 309; ders., REDE 2008, 353, 369 f. Diese Grenze nennt, neben anderen, auch Lo´pez Castillo, in: Instituciones, S. 219, 249. 207 Mangas Martı´n/Lin˜a´n Nogueras, Instituciones, S. 430. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so deutlich Lo´pez Castillo, in: Instituciones, S. 219, 250–251. 208 Alonso Garcı´a, Sistema, S. 311–315; ders., REDE 2008, 353, 373–379. Zustimmend Lo´pez Castillo, in: Instituciones, S. 219, 251. 209 Alonso Garcı´a, Sistema, S. 314; ders., REDE 2008, 353, 376. 210 Alonso Garcı´a, Sistema, S. 315.
Kapitel 8
United Kingdom “It is possible that UK courts may have been more catholic than the Pope in their understanding of this interpretive duty.”1
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung Nach einem Überblick über die gesetzliche Regelung zu den hier untersuchten urlaubsrechtlichen Fragen wird dargelegt, in welchen Punkten im United Kingdom Anpassungsbedarf bestand und wie die Gerichte damit umgegangen sind.2
1. Die gesetzliche Regelung im Überblick Der Jahresurlaub ist in den Working Time Regulations 1998 (WTR) geregelt, die der Umsetzung der RL 2003/88/EG dienen. Die für diese Untersuchung einschlägigen EuGH-Urteile haben nicht zu einer Änderung der WTR geführt. Die WTR erstrecken sich nicht auf Nordirland, dort ist der Jahresurlaub in den reg. 15–21 der Working Time Regulations (Northern Ireland) 2016 geregelt, die die Working Time Regulations (Northern Ireland) 1998 abgelöst haben. Soweit hier von Interesse, unterscheiden sich die Regelungen 1
Lord Mance, EL Rev. 2013, 437, 450. Vogenauer, Auslegung, S. 665–666, beschränkt seine vergleichende Untersuchung zur Auslegung von Gesetzen auf England, da es in Nordirland und Schottland Unterschiede im Detail gab und gibt. Für diese Untersuchung spricht vieles dafür, das United Kingdom insgesamt in den Blick zu nehmen. Die vom Parlament des Vereinigten Königreichs erlassenen urlaubsrechtlichen Regelungen gelten für England, Wales und Schottland, die nordirischen Regelungen sind, soweit hier von Interesse, inhaltsgleich (s. I. 1.). Es ist nicht ersichtlich, dass sie in irgendeiner Weise unterschiedlich (richtlinienkonform) interpretiert werden sollen. Zudem sahen sich die Law Commission und die Scottish Law Commission 1969 trotz einiger Unterschiede in den Details zu einem gemeinsamen Bericht zur Auslegung von Gesetzen in der Lage, Law Commission, Interpretation, Rn. 2. Auch in der Eigenwahrnehmung sind also die Unterschiede nicht so gravierend, dass keine gemeinsamen Überlegungen möglich sind. 2
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Kapitel 8: United Kingdom
für Nordirland inhaltlich nicht von denen der WTR. Nachfolgend wird allein auf die WTR Bezug genommen. Reg. 13(1) WTR sieht einen Jahresurlaub von vier Wochen vor. Nach reg. 13A WTR stehen dem Arbeitnehmer weitere 1,6 Wochen zu, wenn die Anwendung dieser Norm nicht nach reg. 26A WTR ausgeschlossen ist, weil der Arbeitgeber allen seinen Arbeitnehmern über den Mindesturlaub hinausgehenden Urlaub zu bestimmten Konditionen vertraglich zugesagt hat. Eine Mindestbeschäftigungszeit ist nicht vorgesehen. Der vierwöchige Mindesturlaub ist nach dem Wortsinn der reg. 13(9)(a) WTR nicht übertragbar. Eine Ausnahme gilt seit dem 27.3.2020 für Urlaub, der infolge der Auswirkungen des Coronavirus nicht im Urlaubsjahr genommen werden kann, reg. 13(9)(a), (10), (11) WTR. Mehrurlaub kann gem. reg. 13A(7) WTR aufgrund einer Vereinbarung auf das Folgejahr übertragen werden. Ob ein Arbeitnehmer während einer Erkrankung Urlaub erwirbt, ist nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt. Es besteht auch keine ausdrückliche Regelung zur Nachholbarkeit festgesetzten Urlaubs bei Erkrankung.
2. Die Mindestbeschäftigungszeit Wie bereits erwähnt, ist eine Mindestbeschäftigungszeit in den aktuellen WTR nicht vorgesehen. Die ursprünglich in reg. 13(7) WTR vorgesehene Anforderung einer Mindestbeschäftigungszeit von 13 Wochen wurde 2001 im Anschluss an die EuGH-Entscheidung BECTU gestrichen. Stattdessen wurde mit reg. 15A(1) WTR eine Regelung eingeführt, nach der im ersten Jahr der Beschäftigung Urlaub nur in dem Umfang genommen werden kann, in dem er anteilig seit Beginn der Beschäftigung angefallen ist.
3. Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Während einer Erkrankung erwirbt der Arbeitnehmer Urlaubsansprüche. Die in den WTR nicht geregelte Frage war zunächst umstritten. Das EAT hatte 2002 im Fall Kigass Aero Components Ltd v Brown in diesem Sinne entschieden. Für den Urlaubserwerb komme es allein auf den Status als worker an, nicht auf eine erbrachte Mindestarbeitsleistung.3 Dagegen entschied der Court of Appeal im Jahr 2005 im Fall Commissioners of Inland Revenue v Ainsworth and others, dass ein erkrankter Arbeitnehmer keine Urlaubsansprüche erwirbt.4 Der Fall gelangte über das House of Lords zum EuGH, wo
3
Kigass Aero Components Ltd v Brown [2002] UKEAT 481/00 2502, [2002] ICR 697 Rn. 5, 6, 30 (Lindsay P). 4 Commissioners of Inland Revenue v Ainsworth and others [2005] EWCA Civ 441, [2005] ICR 1149 Rn. 11 (Maurice Kay LJ).
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
265
er als Rechtssache Stringer geführt und gemeinsam mit der Rechtssache Schultz-Hoff entschieden wurde. Nach dem Urteil des EuGH erwerben Arbeitnehmer auch im Krankheitsfall Urlaubsansprüche.5 In der nachfolgenden Entscheidung des House of Lords war die Frage des Urlaubserwerbs nicht mehr streitig.6 Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass im United Kingdom der Urlaubserwerb während der Erkrankung mit der Argumentation des EAT nun zu bejahen ist.
4. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen Wie bereits erwähnt, ist der vierwöchige Mindesturlaub nach dem Wortsinn der reg. 13(9)(a) WTR nicht übertragbar. Abgesehen von Fällen der Erkrankung des Arbeitnehmers, die nachfolgend behandelt werden, wurde die Notwendigkeit einer Übertragung nicht diskutiert. Eine Ausnahme von der Unübertragbarkeit gilt seit dem 27.3.2020 für Mindesturlaub, den der Arbeitnehmer infolge der Auswirkungen des Coronavirus vernünftigerweise nicht im Urlaubsjahr nehmen kann. Diese Urlaubstage kann er gem. reg. 13(9)(a), (10), (11) WTR in den beiden darauffolgenden Jahren noch in Anspruch nehmen.
5. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Angesichts der grundsätzlich geltenden Bindung des Urlaubs an das Kalenderjahr stellte sich die Frage, ob und gegebenenfalls für welche Dauer die Rechtsprechung die Übertragung im Krankheitsfall ermöglichen würde. a) Keine Änderung der WTR Die britische Regierung startete im Jahr 2011 eine Konsultation, die u.a. die Übertragbarkeit von Urlaubsansprüchen betraf.7 Im Konsultationstext hieß es ausdrücklich, die WTR müssten angepasst werden, damit die nationale Rechtslage dem EU-Recht in der Auslegung der einschlägigen EuGH-Entscheidungen entspricht.8 Auch in der Literatur wurde Anpassungsbedarf zur
5 EuGH 20.1.2009 EU:C:2009:18 (Schultz-Hoff und Stringer) Rn. 39–41, s. dazu oben S. 15–16. 6 Revenue and Customs v Stringer, Ainsworth and others [2009] UKHL 31, [2009] ICR 985. 7 HM Government, Consultation on modern workplaces, 2011. 8 HM Government, Consultation, 1. Executive summary, Rn. 18.
266
Kapitel 8: United Kingdom
Übertragbarkeit von Urlaub bei Krankheit gesehen.9 Die britische Regierung schlug vor, die WTR dahingehend zu ändern, dass der Mindesturlaub auf das Folgejahr übertragen werden kann, wenn der Arbeitnehmer ihn aus Krankheitsgründen im Urlaubsjahr nicht nehmen konnte. Der Vorschlag erfasste ausdrücklich auch den Fall der Krankheit während bereits festgesetzten Urlaubs.10 Für über den Mindesturlaub hinausgehende Ansprüche sollte die Übertragbarkeit nicht gesetzlich vorgesehen werden. Es wurde aber auch nicht vorgeschlagen, die für diesen Teil des Urlaubs nach reg. 13A(7) WTR gegebene Zulässigkeit einer Übertragungsvereinbarung abzuschaffen.11 Zu dem hier maßgeblichen Teil der Konsultation wurde keine Antwort veröffentlicht. Reg. 13 WTR wurde nicht geändert.12 In der Literatur wird vermutet, dass der Anpassungsbedarf vor dem Hintergrund der hier noch zu erörternden Urteile möglicherweise nicht mehr als so dringend wie zu Beginn des Konsultationsverfahrens angesehen wurde.13 2020 wurde, wie bereits erwähnt, die Möglichkeit geschaffen, Urlaub zu übertragen, der infolge der Auswirkungen des Coronavirus vernünftigerweise nicht im Urlaubsjahr genommen werden kann. Das betrifft u.a. den Fall der Erkrankung des Arbeitnehmers mit dem Coronavirus. Für diesen speziellen Krankheitsfall sehen die WTR nun also eine Übertragungsmöglichkeit vor. Allerdings erfasst die Übertragungsregel nicht allein den Fall der eigenen Erkrankung, sondern z.B. auch Fälle, in denen Arbeitnehmer aufgrund eines virusbedingt erhöhten Arbeitsanfalls ihren Jahresurlaub nicht (vollständig) nehmen. Sie ist eine Reaktion auf die Auswirkungen des Virus auf das Arbeitsleben, nicht nur – und wohl nicht einmal in erster Linie – eine Regelung für Krankheitsfälle. Daher ist diese Änderung der WTR nicht als gesetzliche Zurückweisung der nachstehend erörterten Rechtsprechung zu verstehen. Die vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung entwickelten richterrechtlichen Regeln zur Übertragung von Urlaub im Krankheitsfall bleiben für Erkrankungen, die nicht auf das Coronavirus zurückzuführen sind, relevant.
9
Gilzean, ELB 2014, 122, 2–3. Casey, ELB 2010, 98, 4, 6, spricht von Unzulänglichkeiten der reg. 13(9) WTR, scheint aber eher auf weitere Klärung durch die Gerichte als durch den Gesetzgeber zu hoffen. Vgl. auch Bogg, ILJ 36 (2007), 341, 347. 10 HM Government, Consultation, 5. Working Time Regulations, Rn. 7. 11 HM Government, Consultation, 5. Working Time Regulations, Rn. 10. 12 Die Regierung informiert allerdings im Internet dahingehend, dass der Arbeitnehmer den Mindesturlaub auf das Folgejahr übertragen kann, wenn er ihn infolge Krankheit nicht nehmen konnte, abrufbar unter https://www.gov.uk/holiday-entitlement-rights/cal culate-leave-entitlement. 13 IDS, Working Time, 4.206.
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
267
b) Die richtlinienkonforme Interpretation der reg. 13(9) WTR Die nationalen Gerichte haben sich inzwischen zur Frage der Übertragbarkeit des Mindest- und des Mehrurlaubs sowie zur Länge des Übertragungszeitraums geäußert. aa) Die Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen Mehrere Gerichte haben die einschlägige Rechtsprechung des EuGH aufgegriffen und die WTR hinsichtlich der Übertragbarkeit des Mindesturlaubs richtlinienkonform interpretiert.14 Der Court of Appeal hat 2012 im Fall NHS Leeds v Larner in einem obiter dictum erklärt, reg. 13(9) WTR lasse sich durch die Ergänzung der Worte “save where the worker was unable or unwilling to take it because he was on sick leave and as a consequence did not exercise his right to annual leave” richtlinienkonform verstehen.15 Im Streitfall kam es nach Auffassung des Gerichts auf diese Interpretation nicht an, weil die Klage gegen einen staatlichen Arbeitgeber gerichtet war, weshalb sich der betroffene Arbeitnehmer auf die unmittelbare Wirkung von Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG berufen konnte.16 Das EAT folgte dieser Auffassung in den Entscheidungen Sood Enterprises Ltd v Healy17 und Plumb v Duncan Print Group18. Zuvor hatten bereits zwei Employment Tribunals in diesem Sinne entschieden, wobei das ET im Fall Adams and another v Harwich International Port Ltd ähnlich wie später der Court of Appeal Wörter zu reg. 13(9) WTR hinzufügte,19 während das ET im Fall Millard v J. Bell Ltd den Begriff “due” aus reg. 13(9) WTR i.S.d. EuGH-Rechtsprechung interpretierte20. In einer weiteren erstinstanzlichen Entscheidung, dem Urteil im Fall Souter v Royal College of Scotland, wurde die Möglichkeit der richtlinienkonformen Interpretation dagegen nicht angesprochen. Der private Ar-
14 Einen Überblick gibt IDS, Working Time, 4.212–4.215. In der Literatur befürworten Smith & Woods, Employment Law, S. 377, eine richtlinienkonforme Interpretation. 15 NHS Leeds v Larner [2012] EWCA Civ 1034, [2012] ICR 1389 Rn. 90 (Mummery LJ). In IDS, Working Time, 4.214, wird der Ansatz, die Norm um Worte zu ergänzen, als kühn (“bold”) bezeichnet. S. dort auch 4.213, wo es heißt, es sehe auf den ersten Blick unwahrscheinlich aus, dass man mithilfe einer zweckgerichteten Auslegung dem ausdrücklichen Übertragungsverbot ausweichen könne. 16 NHS Leeds v Larner [2012] EWCA Civ 1034, [2012] ICR 1389 Rn. 80 (Mummery LJ). 17 [2013] UKEATS 0015 12 BI 1403, [2013] ICR 1361 Rn. 31, 40 (Stacey LJ). 18 [2015] UKEAT 0071 15 0807, [2016] ICR 125 Rn. 21, 40, 45, 52 (Lewis J). 19 Adams and another v Harwich International Port Ltd ET/1503084/10 & ET/1503085/10 Rn. 39 (Skinner J). Die vom ET vorgeschlagene Ergänzung hatte einen anderen Wortlaut als die, die der Court of Appeal formuliert hat. 20 Millard v J. Bell Ltd ET/1402942/10 [2010] 12 WLUK 359 Rn. 29(1) (Ford J).
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Kapitel 8: United Kingdom
beitgeber könne sich auf das nationale Recht verlassen, die Rechtsprechung des EuGH (sic) binde ihn mangels unmittelbarer Wirkung nicht.21 Obwohl in fünf von sechs Entscheidungen reg. 13(9) WTR so ausgelegt wurde, dass über den ursprünglichen Regelungsgehalt der Norm aufgrund einer Erkrankung nicht genommener Urlaub (zumindest) auf das nachfolgende Urlaubsjahr übertragen werden kann, findet sich eine nähere Begründung dazu allein in der erstinstanzlichen Entscheidung Millard v J. Bell Ltd. Während die übrigen Gerichte, die eine Übertragung des Urlaubsanspruchs bejahen, Worte in reg. 13(9) WTR einfügen, setzt das ET in Millard v J. Bell Ltd bei der Interpretation der Formulierung “may only be taken in the leave year in respect of which it is due” aus reg. 13(9) WTR beim Begriff “due” an. Das ET versteht “due” im Sinne von „soll getan werden“, „ist passend“ oder „ist angebracht“. Man könne ohne Weiteres sagen, dass ein Arbeitnehmer keinen Urlaub habe, der in diesem Sinne “due” sei, wenn er infolge Krankheit seinen Urlaub nicht im Urlaubsjahr nehmen könne oder wolle. Es sei in diesem Fall nicht angebracht oder angemessen, wenn der Urlaub genommen werden müsse. “Due” sei der Urlaub erst, wenn der Arbeitnehmer ihn nach dem Krankheitszeitraum verlange.22 Das ET sieht die Interpretation, durch die Worte in reg. 13(9) WTR eingefügt werden, als Alternative zu seinem Interpretationsvorschlag an und verweist auf das Urteil Shah v First West Yorkshire Ltd.23 Die übrigen hier bereits genannten Entscheidungen konnte das Gericht nicht berücksichtigen, da sie später ergangen sind als die Entscheidung im Fall Millard v J. Bell Ltd. Die Entscheidung Shah v First West Yorkshire Ltd betrifft die Nachholbarkeit bereits festgesetzten Urlaubs im Fall der Erkrankung des Arbeitnehmers und wird nachfolgend unter 6. behandelt. bb) Der Übertragungszeitraum Zur Frage der Länge des Übertragungszeitraums äußerte sich aus der Gruppe der Gerichte, die mit der Übertragung nicht bereits festgesetzten Urlaubs befasst waren, allein das EAT. Es behandelte den Aspekt des Übertragungszeitraums 2015 im Fall Plumb v Duncan Print Group. Das EAT geht davon aus, dass Grenzen für den Übertragungszeitraum durch den Gesetzgeber vorgegeben sein oder auf vertraglicher Abrede der Arbeitsvertragsparteien beruhen müssen.24 Mit reg. 13(9) WTR bestehe eine gesetzliche Rege-
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Souter v Royal College of Scotland ETS/106313/10 Rn. 39 (Watt J). Millard v J. Bell Ltd ET/1402942/10 [2010] 12 WLUK 359 Rn. 29(1) (Ford J). 23 Millard v J. Bell Ltd ET/1402942/10 [2010] 12 WLUK 359 Rn. 29(1) (Ford J), unter Verweis auf Shah v First West Yorkshire Ltd ET/1809311/09. 24 Plumb v Duncan Print Group [2015] UKEAT 0071 15 0807, [2016] ICR 125 Rn. 39 (Lewis J). 22
I. Das Urlaubsrecht unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung
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lung zum Zeitraum, innerhalb dessen Urlaub genommen werden müsse. Diese Regelung müsse zwar soweit wie möglich dahingehend interpretiert werden, dass das Ziel der RL 2003/88/EG erreicht wird. Deshalb habe der Court of Appeal im Fall NHS Leeds v Larner der Norm eine Ausnahme hinzugefügt, nach der sie nicht Arbeitnehmer erfasst, die krankheitsbedingt ihren Urlaub nicht nehmen konnten oder wollten. Eine derartige Ausnahme müsse aber nur so weit reichen, wie es erforderlich ist, um dem Zweck der Richtlinie Genüge zu tun. Nach dem Zweck der Richtlinie und der Rechtsprechung des EuGH sei es nicht erforderlich, nicht verbrauchten Urlaub nach einer Übertragung unbegrenzt aufrechtzuerhalten. Die Richtlinie verlange keinen Übertragungszeitraum, der über die Dauer von achtzehn Monaten nach Ablauf des Urlaubsjahres hinausgehe und ermögliche den nationalen Gesetzgebern das Setzen kürzerer Fristen. Es genüge daher, reg. 13(9) WTR so zu lesen, dass ein Arbeitnehmer, der aufgrund einer Erkrankung seinen Urlaub nicht nehmen konnte oder wollte, den Urlaub innerhalb von achtzehn Monaten nach Ablauf des Urlaubsjahres nehmen kann.25 cc) Die Übertragbarkeit von Mehrurlaub Urlaub, der über die europarechtlich abgesicherte Mindestdauer von vier Wochen hinausgeht, ist nach einer Entscheidung des EAT nur bei Vorliegen einer entsprechenden Abrede zwischen den Arbeitsvertragsparteien übertragbar. Das sehe reg. 13A(7) WTR in europarechtskonformer Weise vor.26
6. Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit im Urlaubszeitraum Während die zuvor genannten Entscheidungen Fälle betrafen, in denen für den erkrankten Arbeitnehmer kein Urlaubszeitraum festgesetzt worden war, ging es in dem bereits im Jahr 2009 entschiedenen Fall Shah v First West Yorkshire um eine Konstellation, in der der Arbeitnehmer nach Festsetzung seines Urlaubszeitraums (aber noch vor Urlaubsantritt) für den Großteil dieses Zeitraums erkrankte.27 Das ET beruft sich auf die EuGH-Entschei25
Plumb v Duncan Print Group [2015] UKEAT 0071 15 0807, [2016] ICR 125 Rn. 40 (Lewis J). Eine entsprechende Erweiterung der ergänzenden Formulierung des Court of Appeal findet sich in Rn. 45. Smith & Woods, Employment Law, S. 377, geben unter Berufung auf dieses Urteil achtzehn Monate ab Ende des Bezugsjahres als Übertragungszeitraum an. 26 Sood Enterprises Ltd v Healy [2013] UKEATS 0015 12 BI 1403, [2013] ICR 1361 Rn. 48 (Stacey LJ). Anders hatte zuvor ein ET in Adams and another v Harwich International Port Ltd ET/1503084/10 & ET/1503085/10 Rn. 40 (Skinner J), entschieden. 27 Shah v First West Yorkshire Ltd ET/1809311/09. Eine Entscheidung zu einem Fall, in dem die Erkrankung während des Urlaubs auftrat, liegt, soweit ersichtlich, nicht vor.
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Kapitel 8: United Kingdom
dung Vicente Pereda28 und legt reg. 13(9) WTR dahingehend aus, dass der Arbeitnehmer den Urlaub nachholen kann, wenn nötig auch erst im nachfolgenden Urlaubsjahr. Das Gericht formuliert dazu folgende Ergänzung zu reg. 13(9) WTR: “Save where a worker was prevented by illness from taking a period of holiday leave, and returns from sick leave, covering that period of holiday leave, with insufficient time to take that holiday leave within the relevant leave year; in which case, they must be given the opportunity of taking that holiday leave in the following leave year.”29 Die Formulierung unterscheidet sich von der des Court of Appeal im Fall NHS Leeds v Larner, was aber zum Teil auf die jeweiligen Fallkonstellationen zurückzuführen ist. Während im Fall Shah v First West Yorkshire Urlaub bereits festgesetzt worden war, hatte der Arbeitnehmer im Fall NHS Leeds v Larner aufgrund seiner Erkrankung bereits keinen Urlaub beantragt. Ein Unterschied, der nicht situationsbedingt ist, liegt in der Begrenzung der Übertragung auf das nachfolgende Urlaubsjahr. Wie soeben ausgeführt, muss der Arbeitnehmer nach dem Urteil des ET unter bestimmten Umständen die Möglichkeit haben, den Urlaub im nachfolgenden Urlaubsjahr zu nehmen. Eine weitergehende Aufrechterhaltung des Urlaubsanspruchs sah das Gericht nicht vor. Es hatte sich allerdings mit der Dauer des Übertragungszeitraums auch nicht auseinandergesetzt, sondern ohne weitere Erläuterung eine Übertragung (lediglich) auf das nächste Urlaubsjahr vorgesehen.30 Im entschiedenen Fall kam es auf eine weitere Übertragbarkeit nicht an, sodass es dem Gericht möglicherweise gar nicht um eine Begrenzung des Übertragungszeitraums ging. Sollte die Formulierung dennoch als Beschränkung auf das Folgejahr gemeint sein, wäre diese Beschränkung mit Blick auf die später ergangene EuGH-Entscheidung KHS inzwischen als nicht richtlinienkonform zu beurteilen. Bemerkenswert sind die Ausführungen des ET zur richtlinienkonformen Auslegung der reg. 13(9) WTR. Das Gericht stützt sich für seine Lösung auf die Entscheidung des EAT im Fall EBR Attridge Law LLP and another v Coleman, nach der das Hinzufügen von Worten zu einer Norm auch dann zulässig sein kann, um die Europarechtskonformität der Regelung herzustellen, wenn damit ihr Sinn verändert wird.31 Das EAT nahm in seiner Entscheidung wiederum ausführlich auf die Entscheidung des House of Lords im Fall Ghaidan v Godin-Mendoza Bezug, in der es um die Interpretation einer Norm in Einklang mit der EMRK ging.32 Maßgeblich sei nach diesen Ent28
EuGH 7.2.1985 EU:C:2009:542 (Vicente Pereda). Shah v First West Yorkshire Ltd ET/1809311/09 Rn. 13 (Forrest J). 30 Shah v First West Yorkshire Ltd ET/1809311/09 Rn. 13 (Forrest J). 31 EBR Attridge Law LLP and another v Coleman [2009] UKEAT 0071 09 3010, [2010] ICR 242 Rn. 14 (Underhill P). 32 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, [2004] 3 All ER 411, in Bezug genommen 29
II. Die Auslegung von Gesetzen
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scheidungen, so das ET, ob die Änderung dem der Norm zugrunde liegenden Zweck entgegenlaufe.33 Aus dem Urteil des ET wird deutlich, dass es dabei nicht darauf ankommt, ob der Gesetzgeber bei Schaffung der Norm eine Regelung in diesem Sinne schaffen wollte.34 Der Zweck der reg. 13(9) WTR liege darin, das Ansammeln von Urlaub zu verhindern, damit der Arbeitnehmer tatsächlich Zeiten der Erholung von der Arbeit in Anspruch nimmt. Wenn dieses Ziel aufgrund einer Erkrankung des Arbeitnehmers nicht erreicht werden könne, stehe es im Einklang mit diesem Ziel, wenn der Urlaub – der EuGH-Rechtsprechung folgend – später, notfalls im nachfolgenden Urlaubsjahr, genommen werden könne. Deshalb sei reg. 13(9) WTR entsprechend zu ergänzen.35
7. Zusammenfassung Da das Erfordernis einer Mindestarbeitszeit vom Gesetzgeber gestrichen wurde, stellen sich insoweit keine Auslegungsfragen. Nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Stringer wurde auch der Erwerb von Urlaub während einer Erkrankung nicht weiter problematisiert. Dagegen haben die Fragen der Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen bei Erkrankung und die Begrenzung des Übertragungszeitraums den Gerichten eine richtlinienkonforme Interpretation abverlangt, die diese vor dem Hintergrund vorangegangener, wegweisender Entscheidungen zur richtlinienkonformen Auslegung36 ohne großen Argumentationsaufwand vorgenommen haben.
II. Die Auslegung von Gesetzen Vor dem Hintergrund der Diskussion um die Auslegung von Gesetzesrecht im United Kingdom sind Entscheidungen, die über den Wortsinn einer Norm hinausgehen und Worte in das Gesetz einfügen, um ihm einen bestimmten Inhalt zu geben, nicht unproblematisch. Das Auslegungsziel wird im United Kingdom kaum diskutiert. Die Auslegung zielt darauf, die Regelungsabsicht (intention) des Parlaments zu ermitteln.37 Die Diskussion dreht sich in erster Linie darum, welche Auslegungskriterien dabei heranzuziehen sind. in EBR Attridge Law LLP and another v Coleman [2009] UKEAT 0071 09 3010, [2010] ICR 242 Rn. 12 (Underhill P). 33 Shah v First West Yorkshire Ltd ET/1809311/09 Rn. 8–9 (Forrest J). 34 Shah v First West Yorkshire Ltd ET/1809311/09 Rn. 9 (Forrest J). 35 Shah v First West Yorkshire Ltd ET/1809311/09 Rn. 12–13 (Forrest J). 36 S. dazu unten S. 285–295. 37 Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Section 8.8 und Erläuterung zu Section 8.8, S. 279; Hellert, Einfluss des EG-Rechts, S. 125, 203; Vogenauer, Auslegung, S. 964; Zander, Law-Making Process, S. 209–210.
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Kapitel 8: United Kingdom
1. Die sich wandelnde Schwerpunktsetzung bei den Auslegungsmethoden Die Schwerpunktsetzung bei den Auslegungsmethoden hat sich über die Jahrhunderte verschoben, ohne dass sich die Entwicklung als klare Linie darstellen lässt. Urteile aus dem 19. Jahrhundert sprechen sich für eine streng wortsinnorientierte Auslegung aus.38 Nach der literal rule ist bei der Auslegung auf die natürliche und gewöhnliche Bedeutung der im Gesetz verwendeten Worte abzustellen.39 Aus der Rechtsprechung wird in diesem Zusammenhang oft die Aussage zitiert, dass bei präziser und unzweideutiger Formulierung das Gesetz bei seinem natürlichen und gewöhnlichen Wortsinn zu nehmen ist, da in einem solchen Fall die Worte allein den Willen des Gesetzgebers am besten kundtun.40 Das soll selbst dann gelten, wenn das Ergebnis offensichtlich absurd ist. Es sei nicht Sache des Gerichts, über die Absurdität eines Gesetzes zu befinden.41 Die literal rule wird als Ausdruck des Respekts vor der Aufgabenteilung zwischen dem parlamentarischen Gesetzgeber und dem Richter gesehen. Sie diene dazu, die Souveränität des Parlaments aufrechtzuerhalten, das allein die Kompetenz zum Erlass und zur Aufhebung von Gesetzen habe. Der Richter habe demgegenüber die Aufgabe, das Gesetz anzuwenden.42 Ein Teil der Literatur kritisiert das Ausmaß der richterlichen 38 Vogenauer, Auslegung, überschreibt ein Kapitel zur Auslegung im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit „Das Zeitalter der strengen Buchstabentreue“. 39 McFadzean/Irvine, Legal Method, S. 69; Farrar/Dugdale, Legal Method, S. 145 (kritisch zur Möglichkeit, einen eindeutigen Wortsinn zu ermitteln); Ward/Akhtar, Walker & Walker’s English Legal System, S. 39. Einen Überblick über wichtige Entscheidungen mit Bezug zur literal rule bietet McLeod, Legal Method, S. 248–252. Ausführlich diskutiert sie Zander, Law-Making Process, S. 148–162, s. dort insbesondere S. 157–161 zur Kritik dieser Regel. Zum Umgang der Rechtsprechung mit der literal rule seit der Mitte des 20. Jahrhunderts Vogenauer, Auslegung, S. 1003–1078. S. zur literal rule aus der deutschsprachigen Literatur ferner Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 101–102, 104–106. 40 “If the words of the statute are in themselves precise and unambiguous, then no more can be necessary than to expound those words in their natural and ordinary sense. The words themselves alone do, in such a case, best declare the intention of the lawgiver.” The Sussex Peerage (1844) 11 Cl & Fin 85, 143 (Tindal CJ). 41 “If the words of an Act are clear, you must follow them, even though they lead to a manifest absurdity. The court has nothing to do with the question whether the legislature has committed an absurdity.” R v Judge of the City of London Court Judge [1892] 1 QB 273, 290 (Lord Esher MR). 42 Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 338. Vogenauer, Auslegung, S. 888–889, 900. S. dort S. 1167–1178 zum Wandel des Verständnisses der Gewaltenteilung. S. auch Bankowski/MacCormick, in: Interpreting Statutes, S. 359, 365, 382–383; Brenncke, Judicial Law Making, S. 103–105; de Bu´rca, MLR 55 (1992), 215, 223; Farrar/Dugdale, Legal Method, S. 146; Levitsky, Am. J. Comp. L. 42 (1994), 347, 349–350; McLeod, Legal Method, S. 249.
II. Die Auslegung von Gesetzen
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Zurückhaltung.43 Hinter dem Argument der Aufgabenverteilung zwischen Gesetzgeber und Richter verberge sich eine grundsätzlich ablehnende Haltung der englischen Richter gegenüber dem Gesetzesrecht.44 In ihrer strikten Form kann die literal rule zu unsinnigen Ergebnissen führen. Der Korrektur von absurden Ergebnissen soll die golden rule entgegenwirken, nach der die Gerichte annehmen dürfen, dass ein absurdes Ergebnis vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt ist.45 Die Reichweite dieser golden rule ist allerdings nicht unumstritten.46 Der Bericht der Law Commission zur Gesetzesauslegung zeigt auf, dass die Gerichte die golden rule unterschiedlich angenommen haben.47 Die Literatur äußert sich zum Teil kritisch hinsichtlich des Nutzens der Regel. Es sei zudem kaum vorhersehbar, wie sie angewendet werde.48 Wie die sogenannte mischief rule zeigt, können zweckorientierte Überlegungen bei der Auslegung ebenfalls Platz haben. Die mischief rule wird auf eine Entscheidung aus dem Jahr 1584 zurückgeführt49 und richtet den Blick auf den Missstand, der durch das Gesetz abgestellt werden sollte, also auf den Zweck des Gesetzes.50McLeod sieht in dieser Regel einen offen zweckorientierten Ansatz, der lediglich durch eine Phase der Wortsinnorientierung im 19. Jahrhundert vorübergehend zurückgedrängt wurde und im 20. Jahrhun-
43
Atiyah/Summers, Form and Substance, S. 106–107. Zander, Law-Making Process, S. 160. 45 River Wear Commissioners v Adamson (1877) 2 App Cas 743, 764 (Lord Blackburn). Aus der Literatur Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 339–340; McFadzean/Irvine, Legal Method, S. 70; Ward/Akhtar, Walker & Walker’s English Legal System, S. 40–42 (mit Beispielen aus der Rechtsprechung). Zur Bedeutung der golden rule als Vorrangregel im Verhältnis des Wortsinns zu sonstigen Auslegungskriterien Vogenauer, Auslegung, S. 856–857. 46 Brenncke, Judicial Law Making, S. 59; Farrar/Dugdale, Legal Method, S. 149; Gillespie/Weare, Legal System, S. 39–40; McLeod, Legal Method, S. 249; Vogenauer, Auslegung, S. 863–867. Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 340, 353, unterscheiden die golden rule von einer purposive rule. Beide seien zweckorientiert, aber nur die golden rule knüpfe an die Absurdität des durch wörtliche Interpretation erzielten Ergebnisses an. Beim purposive approach würden der Wortsinn im Kontext, das Ziel des Gesetzes und die parlamentarischen Materialien berücksichtigt. 47 Law Commission, Interpretation, Rn. 25–28 (s. dort Rn. 32 zur Vagheit der Regel). 48 Zander, Law-Making Process, S. 162–163. 49 Heydon’s Case (1584) 3 Co Rep 7a. 50 McFadzean/Irvine, Legal Method, S. 70. S. zu den drei rules aus der deutschsprachigen Literatur Hager, Rechtsmethoden, 2. Kap. Rn. 128–136; Hellert, Einfluss des EGRechts, S. 129–134, 137, 139–140; Henninger, Europäisches Privatrecht, S. 215–219; Salus, Auslegung und Anwendung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 76–78. Hervey/ Sheldon, Judicial Method, S. 327, 340, sehen die mischief rule im Vergleich zur golden rule und der purposive rule als engere zweckbezogene Methode an, da sie allein auf den Missstand im common law abstelle, der durch die gesetzliche Regelung beseitigt werden sollte. 44
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Kapitel 8: United Kingdom
dert unter der Bezeichnung purposivism wiederauflebte.51 Ähnlich stellen Bell/Engle fest, dass sich die Rechtsprechung im 18. und 19. Jahrhundert im Vergleich zu früherer Rechtsprechung stärker wortsinnorientiert gezeigt hat. Seit einem Bericht der Law Commission zur Gesetzesauslegung aus dem Jahr 196952 sei die Herangehensweise zweckgerichtet.53
2. Die stärkere Zweckorientierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Unabhängig von der Frage, wie weit die Tradition einer zweckgerichteten Interpretation zurückreicht, wird sie inzwischen als aktuelle Herangehensweise der Gerichte angesehen.54 Der wahre Zweck des Gesetzes soll zur Geltung gebracht werden.55 Nicht unumstritten ist dabei, ob der Zweck nur bei unklarem Wortsinn zu berücksichtigen ist.56 In der Literatur wird geltend gemacht, der Normzweck sei gerade heranzuziehen, um die Wortbedeutung zu ermitteln.57 Nur wenn die Auslegungsmittel keine Zweifel wecken, sei die grammatikalische Bedeutung der Norm dem Verständnis der Norm zugrunde zu legen. Es komme nicht darauf an, ob der Wortsinn für sich be-
51
McLeod, Brook. J. Int’l L. 29 (2004), 1109, 1111–1112. Ähnlich spricht Zander, LawMaking Process, S. 164, von der “mischief rule, nowadays called the ‘purposive’ approach”. Die unterschiedliche Vorgehensweise in verschiedenen Zeitabschnitten analysiert Vogenauer, Auslegung, S. 669–779, 780–962, 963–1252. 52 Law Commission, Interpretation. 53 Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 12, 14–15, 18. S. dort S. 42–43 auch zur deskriptiven Bedeutung richterlicher Äußerungen zu Auslegungsmethoden. Nach Dannemann, RabelsZ 83 (2019), 330, 343, hat die Rechtsprechung inzwischen die teleologische Auslegung zu einem allgemeinen Prinzip der Gesetzesauslegung erhoben. 54 Pepper v Hart [1992] UKHL 3, [1993] 1 All ER 42, 50 (Lord Griffith); R v Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions and another ex parte Spath Holme Limited [2000] UKHL 61, [2001] 1 All ER 195, 217 (Lord Nicholls); R v Secretary of State for Health ex parte Quintavalle [2003] UKHL 13, [2003] 2 All ER 113 Rn. 21 (Lord Steyn); Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Erläuterung zu Section 11.1, S. 342; Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 18; McLeod, Legal Method, S. 254. S. auch Scherpe, RabelsZ 78 (2014), 361, 376. Nach Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 340–341, wird bei zweckbezogener Argumentation oft allein auf den Wortsinn und die dem Gesetz vorausgehende Rechtslage abgestellt. 55 Pepper v Hart [1992] UKHL 3, [1993] 1 All ER 42, 50 (Lord Griffith). 56 Für die Voraussetzung eines mehrdeutigen Wortsinns Atiyah/Summers, Form and Substance, S. 101–102. A.A. Farrar/Dugdale, Legal Method, S. 154. Nach Vogenauer, Auslegung, S. 1123, verwendet die Rechtsprechung den zweckorientierten Ansatz unterschiedlich. Meist gehe es aber darum, von einem eindeutigen Wortsinn abzuweichen. Nach Bankowski/MacCormick, in: Interpreting Statutes, S. 359, 384–385, kann der Zweck nicht verwendet werden, um über den Wortsinn der Norm hinauszugehen. 57 Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 57.
II. Die Auslegung von Gesetzen
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trachtet eindeutig ist.58 Die Hinwendung zu einem zweckgerichteten Ansatz bedeutet nicht, dass die Auslegung sich allzu sehr vom Wortsinn entfernen kann. Das zeigt die Aufstellung der Auslegungsregeln bei Bell/Engle.59 Danach ist der gewöhnliche oder gegebenenfalls auch technische Wortsinn im Kontext der Norm zur Geltung zu bringen. Laufe diese Interpretation dem Zweck des Gesetzes entgegen, könne der Richter den Worten eine andere Bedeutung beimessen, wenn sie diese auch tragen können. Der Richter könne ferner Worte in den Text hineinlesen, die durch den Gesetzestext impliziert werden. In Grenzen könne er Worte weglassen oder ändern, um ein unverständliches, absurdes oder mit dem Rest des Gesetzes völlig unvereinbares Auslegungsergebnis zu vermeiden. Bei der Anwendung dieser Regeln könne der Richter interne und externe Hilfsmittel (z.B. Systematik und Historie) heranziehen. Schließlich sei bei der Interpretation von Gesetzen unmittelbar anwendbarem europäischen Recht Wirkung zu verleihen. Wenn das nicht möglich sei, sei die nationale Norm unangewendet zu lassen.60 Freier ist die Grundregel der Gesetzesauslegung im Auslegungswerk Bennion formuliert. Danach ist von Folgendem auszugehen: Es entspricht der Intention des Gesetzgebers, dass die Norm bei Zweifeln über die Bedeutung des Textes mit Blick auf die allgemeinen Regeln zur Feststellung der gesetzgeberischen Zielsetzung auszulegen und ein Konflikt zwischen diesen Regeln durch Abwägung der Faktoren aufzulösen ist.61 Im Bennion wird allerdings die britische Spielart der zweckorientierten Auslegung als stärker wortsinngebunden eingeordnet als die kontinentaleuropäischer Richter.62 Die zweckorientierte Auslegung ist vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklung in erster Linie als Ablehnung einer strikten Bindung an den gewöhnlichen Wortsinn zu verstehen. Sie ist Ausdruck der Vorstellung, dass der Kontext der vom Gesetzgeber verwendeten Worte bei der Interpretation zu berücksichtigen ist.63 58
Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Section 9.9 (1) (b) und die Erläuterung dazu, S. 312. 59 Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 57. Nach Scherpe, RabelsZ 78 (2014), 361, 376, kann die Auslegung nicht zu einem Ergebnis führen, das dem Wortsinn widerspricht. 60 Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 49. Dazu, dass die Autoren an anderer Stelle des Buches die Verpflichtung zur europarechtskonformen Auslegung nicht auf unmittelbar anwendbares europäisches Recht beschränken, s. unten Fn. 125. 61 Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Section 9.10. Den Abwägungsaspekt betonen auch Bankowski/MacCormick, in: Interpreting Statutes, S. 359, 385–386. 62 Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Erläuterung zu Section 11.1, S. 347–348. 63 Vgl. zu Letzterem McLeod, Legal Method, S. 254. S. ferner Zander, Law-Making Process, S. 213.
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Dementsprechend wird der Rückgriff auf den Normzweck nicht als Lösung von Auslegungsproblemen gesehen. Der Zweck bilde vielmehr den Kontext, innerhalb dessen der Richter sich bei der Auslegung bewegt.64 Ferner sei der Begriff des Zwecks nicht eindeutig, er könne breiter oder enger formuliert werden, sich auf das gesamte Gesetz oder die einzelne Norm beziehen.65 Zweckbestimmungen können sich nach dem Bennion im Gesetz selbst finden, wo sie im Langtitel, der Präambel oder einer gesetzlichen Regelung zum Gesetzeszweck enthalten sein können.66 In der Regel bleibe es allerdings dem Richter überlassen, die Zweckbestimmung aus dem Kontext abzuleiten.67 Überlegungen zum Zweck einer Norm sind nicht mit der Regelungsabsicht (intention) des Parlaments gleichzusetzen. Letztere zu ermitteln, ist das Ziel der Auslegung.68 Dabei geht es nicht um den Willen sämtlicher oder auch nur einzelner Parlamentarier, sondern um die Absicht, die sich aus den Worten des Gesetzes zuweisen lässt, wenn man diese mithilfe des zulässigen Materials vor dem Hintergrund des Zwecks des Gesetzes versteht. Der Ausdruck “intention of Parliament” sei eine Kurzfassung hiervon, eine sprachliche Vereinfachung.69 Im Bennion wird die Abgrenzung zwischen Gesetzeszweck und gesetzgeberischer Absicht wie folgt vorgenommen: Beim Gesetzeszweck gehe es um den Missstand, den der Erlass beheben soll. Die gesetzgeberische Absicht beziehe sich auf die zugeschriebene Bedeutung und Wirkung der Norm in ihrer Anwendung auf bestimmte Sachverhalte.70 Während nach diesem Verständnis der Gesetzeszweck ein Auslegungsmittel ist, um die gesetzgeberische Absicht – und damit den Inhalt des Gesetzes – zu ermitteln, meint McLeod, dass die Ermittlung der gesetzgeberischen Absicht zum Zweck des
64
Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 33. Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 33. S. auch Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Erläuterung zu Section 11.1, S. 342. 66 Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Erläuterung zu Section 11.2, S. 349. S. auch McLeod, Legal Method, S. 257. 67 Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Erläuterung zu Section 11.2, S. 349; Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 33. Dabei wollen Bell/Engle auch Material aus der Entstehungsgeschichte bei der Zweckbestimmung berücksichtigen; ebenso McLeod, Legal Method, S. 257. 68 Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Section 8.8 und Erläuterung zu Section 8.8, S. 279; Vogenauer, Auslegung, S. 964; Zander, Law-Making Process, S. 209–210. 69 R v Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions and another ex parte Spath Holme Limited [2000] UKHL 61, [2001] 1 All ER 195, 216 (Lord Birkenhead); Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 26. 70 Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Erläuterung zu Section 8.8, S. 279. Das entspricht der Unterscheidung nach der Regelungsabsicht i.w.S. und i.e.S., s. dazu oben S. 111–112. 65
II. Die Auslegung von Gesetzen
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Gesetzes führt.71 Die Begriffe werden also von verschiedenen Autoren unterschiedlich verwendet.
3. Die einzelnen Auslegungskriterien Zu der Frage, welche Hilfsmittel bei der Interpretation im Einzelnen eine Rolle spielen können, finden sich in der Literatur detaillierte Ausführungen.72 Rangfragen werden dabei nicht diskutiert, wenn man davon absieht, dass dem Wortsinn besondere Bedeutung zugemessen wird. a) Wortsinn und Kontext Der Wortsinn als Auslegungskriterium wird kaum diskutiert. In sprachlicher Hinsicht soll der Rückgriff auf Wörterbücher möglich, wenn auch wenig gebräuchlich sein.73 Einige Aufmerksamkeit widmet die Literatur dagegen dem Zusammenhang, in dem die auszulegenden Worte stehen. Er dient zum einen dazu, die Mehrdeutigkeit des Wortsinns festzustellen, und ist zum anderen bei Mehrdeutigkeit ein Argument für die Entscheidung für ein bestimmtes Textverständnis.74 Zusammenhang in diesem Sinne ist der unmittelbare Kontext der auszulegenden Worte ebenso wie der Kontext der auszulegenden Norm in dem Gesetz, in dem sie sich befindet.75 Zu berücksichtigen seien ferner Präambeln, Lang- und Kurztitel und Zwischenüberschriften.76
71
McLeod, Legal Method, S. 259. Bankowski/MacCormick, in: Interpreting Statutes, S. 374–382; Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 113–164; McLeod, Legal Method, S. 267–285; Ward/Akhtar, Walker & Walker’s English Legal System, S. 57–67; Zander, Law-Making Process, S. 145–195. 73 McLeod, Legal Method, S. 267. Zurückhaltend Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 144. 74 Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Erläuterung zu Section 9.1, S. 286; Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 124–125; Zander, Law-Making Process, S. 213. 75 Bankowski/MacCormick, in: Interpreting Statutes, S. 375–377; Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 113–119; McLeod, Legal Method, S. 267–271. 76 Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 123–132; Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Sections 16.2–16.4, 16.7 (in den Erläuterungen zurückhaltend zum Nutzen dieser Hilfsmittel); McLeod, Legal Method, S. 271–274; Ward/Akhtar, Walker & Walker’s English Legal System, S. 57, 58; Zander, Law-Making Process, S. 164–165. 72
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b) Die Gesetzgebungsmaterialien Auch Material außerhalb des Normtextes spielt bei der Auslegung eine Rolle.77 Dazu zählen Materialien aus dem parlamentarischen Verfahren und außerparlamentarische Materialien. aa) Parlamentarische Materialien Die Nutzung von Material aus dem parlamentarischen Verfahren, konkret der Niederschriften parlamentarischer Debatten, ist Gegenstand anhaltender Diskussionen. Der Rückgriff auf “Hansard” – so die Bezeichnung der Aufzeichnungen der Parlamentsdebatten nach ihrem ursprünglichen Herausgeber im 19. Jahrhundert, Thomas Curson Hansard – war aufgrund der sogenannten exclusionary rule lange Zeit untersagt. Begründet wurde das Verbot mit verfassungsrechtlichen Argumenten und mit Praktikabilitätsargumenten.78 Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ging es vor allem um Art. 9 der Bill of Rights, der es untersagt, Äußerungen im Parlament zum Gegenstand eines Gerichtsverfahrens zu machen.79 Unter Praktikabilitätsgesichtspunkten wurde darauf hingewiesen, es sei zeitaufwendig und kostspielig, Parlamentsdebatten zur Auslegung heranzuziehen.80 Diese seien außerdem oft nicht ergiebig.81 In der Entscheidung Pepper v Hart lockerte das House of Lords jedoch die exclusionary rule und ließ unter bestimmten Umständen den Rückgriff auf Hansard zu. Voraussetzung sei erstens, dass der Gesetzestext mehrdeutig ist oder die Auslegung nach dem Wortsinn zu einem absurden Ergebnis führt. Zweitens müssten die herangezogenen Aussagen von einem Minister oder einer anderen Person, die das Gesetz eingebracht hat, stammen. Sei zum Verständnis weiteres parlamentarisches Material erforderlich, könne auch dieses berücksichtigt werden. Drittens müssten die herangezogenen Aussagen eindeutig sein.82 In nachfolgenden Gerichtsent77
Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Section 24.1 (2); Zander, LawMaking Process, S. 170–193. Lord Steyn, OJLS 21 (2001), 59, 60, weist darauf hin, dass der Kontext der Norm nur im Rahmen des möglichen Wortsinns berücksichtigt werden kann. 78 Vogenauer, OJLS 25 (2005), 629, 631–632, nennt sieben Gründe, die sich aus der Rechtsprechung für die exclusionary rule, die Nichtberücksichtigung der Materialien, ableiten lassen; Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, A3.3, S. 822–828, nennen neun. 79 Pepper v Hart [1992] UKHL 3, [1993] 1 All ER 42, 67–69 (Lord Browne-Wilkinson); Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, A3.3 Reason 4, S. 824–825 (s. dort A3.3 auch zu den weiteren Gründen für die exclusionary rule); McLeod, Legal Method, S. 279. 80 Pepper v Hart [1992] UKHL 3, [1993] 1 All ER 42, 47–48 (Lord Mackay, dissenting); Bankowski/MacCormick, in: Interpreting Statutes, S. 359, 381. 81 Referierend McLeod, Legal Method, S. 280; Vogenauer, OJLS 25 (2005), 629, 631. 82 Pepper v Hart [1992] UKHL 3, [1993] 1 All ER 42, 69 (Lord Browne-Wilkinson).
II. Die Auslegung von Gesetzen
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scheidungen wurden diese Kriterien freilich nicht immer beachtet, sodass Hansard inzwischen in größerem Umfang genutzt wird, als die Entscheidung Pepper v Hart es zulässt,83 auch wenn sich mehrere Entscheidungen des House of Lords und nachfolgend des UK Supreme Court84 finden, die sich im Rahmen der dort genannten Voraussetzungen halten85. Die Entscheidung Pepper v Hart ist in der Literatur auf ein geteiltes Echo gestoßen, was nicht zuletzt auf ein uneinheitliches Verständnis des Urteils zurückzuführen ist.86 Kritiker beklagen den Aufwand, der mit dem Rückgriff auf Hansard verbunden ist und zu dem meist geringen Ertrag nicht in Verhältnis stehe.87 Auch entfalle bei Auslegung mithilfe der Materialien mehr Gewicht auf die Exekutive, als ihr zustehe.88 Es sei mit der Verfassung nicht vereinbar, den Willen der Exekutive mit dem Willen des Parlaments gleichzusetzen.89 Dieser Kritik wird entgegengehalten, dass sie zwei Punkte nicht ausreichend trenne. Die Frage, ob ein Hilfsmittel für die Auslegung genutzt 83
Gow v Grant [2012] UKSC 29, 2012 Fam LR 80 Rn. 29 (Lord Hope); Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 159; McLeod, Legal Method, S. 283; Zander, LawMaking Process, S. 180. S. auch Vogenauer, Auslegung, S. 1079, zum Rückgriff auf Hansard bei klarem Wortsinn. 84 Der UK Supreme Court hat zum 1.10.2009 die rechtsprechenden Funktionen übernommen, die zuvor vom House of Lords ausgeübt wurden. 85 S. nur R v M & others [2017] UKSC 58, [2017] 1 WLR 3006 Rn. 13 (Lord Hughes, unter Zustimmung von Lord Neuberger, Lord Mance, Lord Sumption und Lord Hodge); R (on the application of Forge Care Homes Ltd and others) v Cardiff and Vale University Health Board and others [2017] UKSC 56, [2018] 1 All ER 449 Rn. 25 (Lady Hale, unter Zustimmung von Lord Clarke, Lord Wilson, Lord Carnwath und Lord Hodge); McDonald v National Grid Electricity Transmission plc [2014] UKSC 53, [2015] AC 1128 Rn. 39–40 (Lord Kerr); R (on the application of National Grid Gas plc) v The Environment Agency [2007] UKHL 30, [2007] 3 All ER 877 Rn. 23 (Lord Scott); Jackson and others v Her Majesty’s Attorney General [2005] UKHL 56, [2005] 4 All ER 1253 Rn. 40 (Lord Bingham), Rn. 98 (Lord Steyn), Rn. 172 (Lord Carswell). S. aus der Literatur zum Umgang der Rechtsprechung mit Pepper v Hart nur Vogenauer, OJLS 25 (2005), 629, 635–636, 639–651. 86 Nachfolgend werden nur einzelne Beiträge mit Blick auf bestimmte Kritikpunkte zitiert. Weitere Literatur ist bei Scherpe, RabelsZ 78 (2014), 361, 377 (Fn. 83), und Vogenauer, OJLS 25 (2005), 629, 636–637, nachgewiesen. 87 Bates, 14 Stat LR (1993), 46, 54; Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 164; McLeod, Legal Method, S. 284; Lord Steyn, OJLS 21 (2001), 59, 63–64. Zander, LawMaking Process, S. 183–184, bezweifelt aufgrund einer von ihm durchgeführten Recherche den Nutzen von Hansard für die Ermittlung der Regelungsabsicht des Gesetzgebers. Auch im House of Lords ist diese Kritik nicht völlig verstummt, wie eine nicht entscheidungserhebliche Anmerkung von Lord Hoffmann in Robinson v Secretary of State for Northern Ireland and others [2002] UKHL 32, [2002] NI 390 Rn. 39–40, zeigt. 88 Kavanagh, LQR 121 (2005), 98, 102–104; McLeod, Legal Method, S. 284; Munday, RabelsZ 75 (2011), 764, 772; Lord Steyn, OJLS 21 (2001), 59, 68. S. auch Baker, C.L.J. 52 (1993), 353, 356–357. 89 Kavanagh, LQR 121 (2005), 98, 106; Lord Steyn, OJLS 21 (2001), 59, 68.
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werden könne, sei von der Frage nach dem Gewicht dieses Auslegungskriteriums zu unterscheiden. Das House of Lords habe in Pepper v Hart lediglich unter bestimmten Umständen den Rückgriff auf Gesetzgebungsmaterial zugelassen, nicht aber die Ergebnisse einer entsprechenden Recherche als für den Inhalt des Gesetzes bindend angesehen.90 Einige Beiträge zielen darauf ab, den Rückgriff auf parlamentarische Materialien einzugrenzen. Erkenntnisse aus Hansard seien im Sinne eines executive estoppel anzuwenden. Die Exekutive dürfe nicht hinter Aussagen zurückgehen, die sie im Gesetzgebungsverfahren gemacht habe.91 Gegen diese Lesart des Urteils werden aus unterschiedlichen Richtungen Einwände erhoben. Nach einer Auffassung räumt auch dieses Verständnis des Urteils der Exekutive Gesetzgebungshoheit ein.92 Nach anderer Auffassung findet der Ansatz des executive estoppel keine Stütze im Urteil.93 Auch im House of Lords war die Diskussion um den Rückgriff auf ministerielle Aussagen in Parlamentsdebatten mit der Entscheidung Pepper v Hart nicht beendet. In späteren Verfahren hat Lord Hope den soeben erwähnten Ansatz aufgegriffen und sich mehrfach dafür ausgesprochen, die Entscheidung als executive estoppel zu verstehen, den Rückgriff auf Hansard also nur zuzulassen, um die Exekutive an ihre vor dem Parlament getätigten Aussagen zu binden.94 Entscheidungserheblich war dieser Punkt jeweils nicht. Andere Lordrichter sprachen sich gegen Tendenzen aus, die Grundsätze aus Pepper v Hart zu verdrängen, da der Rückgriff auf ministerielle Aussagen bei der Auslegung nützlich sein könne. Diese Äußerungen richteten sich nicht speziell gegen das Verständnis von Pepper v Hart als executive estoppel, sondern generell gegen Tendenzen, restriktiver auf ministerielle Äußerungen aus Parlamentsdebatten zurückzugreifen.95 Diese Diskussion ist
90 Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Erläuterung zu Section 24.11, S. 616–617; Vogenauer, OJLS 25 (2005), 629, 658–661, 662–664. 91 Dieser Ansatz geht auf Lord Steyn, OJLS 21 (2001), 59, 67–68, zurück. Lord Steyn hat dieses Verständnis von Pepper v Hart zudem in der Entscheidung McDonnell v Congregation of Christian Brothers Trustees & others [2003] UKHL 63, [2004] 1 All ER 641 Rn. 29, befürwortet (die Anmerkung war nicht entscheidungserheblich). S. außerdem Bennion, PL 2007, 1. 92 Kavanagh, LQR 121 (2005), 98, 116–117. Die Lesart executive estoppel ablehnend auch Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Erläuterung zu Section 24.11, S. 614, und Sales, OJLS 26 (2006), 585. 93 Vogenauer, OJLS 25 (2005), 629, 666–667. S. dort S. 667–672 zu weiteren Argumenten, die aus seiner Sicht unabhängig von der Frage, ob dieser Ansatz in der Entscheidung Pepper v Hart wurzelt, gegen ihn sprechen. 94 Star Energy Weald Basin Ltd and another v Bocardo SA [2010] UKSC 35, [2010] 3 All ER 975 Rn. 43; Wilson & Others v Secretary of State for Trade and Industry [2003] UKHL 40, [2003] 4 All ER 97 Rn. 113; R v A (No 2) [2001] UKHL 25, [2001] 3 All ER 1 Rn. 81. 95 Jackson and others v Her Majesty’s Attorney General [2005] UKHL 56, [2005] 4 All
II. Die Auslegung von Gesetzen
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inzwischen abgeebbt. So sah Lord Mance in Bloomsbury International Ltd v Sea Fish Industry Authority and Department for Environment, Food and Rural Affairs von einem obiter dictum zu der estoppel-Diskussion ab. Die Frage brauche im vorliegenden Fall nicht diskutiert zu werden, da der Gesetzestext nicht mehrdeutig sei.96 In nachfolgenden Urteilen wurde oft nur kurz festgestellt, dass die in Pepper v Hart aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllt seien, sodass ein Rückgriff auf Hansard im konkreten Fall nicht in Betracht komme.97 Nur vereinzelt zogen die Lordrichter unter Berufung auf Pepper v Hart parlamentarisches Material heran.98 Verschiedene Aussagen aus Urteilen des House of Lords und des UK Supreme Court zeigen, dass Pepper v Hart dennoch bis heute Fragen aufwirft. So waren die Lordrichter in R v Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions and another ex parte Spath Holme Limited unterschiedlicher Auffassung darüber, ob der Gesetzestext mehrdeutig ist und so der Rückgriff auf ministerielle Aussagen vor dem Parlament eröffnet ist. Streitig war die Reichweite einer Verordnungsermächtigung, die dem Wortsinn nach eine recht weite Befugnis der Exekutive vorsah, die Miethöhe zu begrenzen. Während einige der Lordrichter lediglich die mit dem Gesetz verfolgte Politik, nicht aber den Wortsinn für unklar hielten, sahen andere den Wortsinn als mehrdeutig an.99 Die Diskussion drehte sich darum, ob die
ER 1253 Rn. 65–66 (Lord Nicholls); Harding v Wealands [2006] UKHL 32, [2006] 4 All ER 1 Rn. 81 (Lord Carswell). Ohne einschränkende Zusätze sprechen außerdem Lord Carswell in R v JTB [2009] UKHL 20, [2009] 3 All ER 1 Rn. 40 und Lord Hope in Gow v Grant (Scotland) [2012] UKSC 29, 2012 Fam LR 80 Rn. 29, davon, dass Hansard genutzt werden kann, um die Regelungsabsicht des Parlaments zu ermitteln. 96 Bloomsbury International Ltd v Sea Fish Industry Authority and Department for Environment, Food and Rural Affairs [2011] UKSC 25, [2011] 1 WLR 1546 Rn. 20 (Lord Mance, unter Zustimmung von Lord Walker, Lady Hale und Lord Collins). 97 Iceland Foods Ltd v Berry (Valuation Officer) (Rev 1) [2018] UKSC 15, [2018] 3 All ER 192 Rn. 16 (Lord Carnwath); R (on the application of Forge Care Homes Ltd and others) v Cardiff and Vale University Health Board and others [2017] UKSC 56, [2018] 1 All ER 449 Rn. 25 (Lady Hale, unter Zustimmung von Lord Clarke, Lord Wilson, Lord Carnwath und Lord Hodge). R v M & Others [2017] UKSC 58 Rn. 13 (Lord Hughes); R (on the application of Jamar Brown (Jamaica)) v Secretary of State for the Home Department [2015] UKSC 8, [2015] 1 WLR 1060 Rn. 26 (Lord Toulson, unter Zustimmung von Lady Hale, Lord Sumption und Lord Carnwath); McDonald v National Grid Electricity Transmission Plc [2014] UKSC 53, [2015] AC 1128 Rn. 39–40 (Lord Kerr). So auch bereits Farstad Supply AS v Enviroco Ltd [2011] UKSC 16, [2011] 1 WLR 921 Rn. 47 (Lord Collins); Jackson and others v Her Majesty’s Attorney General [2005] UKHL 56, [2005] 4 All ER 1253 Rn. 40 (Lord Bingham), Rn. 98 (Lord Steyn), Rn. 172 (Lord Carswell). 98 R v JTB [2009] UKHL 20, [2009] 3 All ER 1 Rn. 35 (Lord Philipps), Rn. 40 (Lord Carswell). 99 R v Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions and another ex parte Spath Holme Limited [2000] UKHL 61, [2001] 1 All ER 195. Keine Unklarheit sahen
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Norm möglicherweise enger zu verstehen sei, als ihr Wortsinn es auf den ersten Blick nahelegt. Diejenigen der Lordrichter, die den Wortsinn für mehrdeutig hielten, stützten sich nicht auf ein abweichendes Verständnis der im Gesetzestext verwendeten Worte. Sie warfen vielmehr die Frage auf, ob die Verordnungsermächtigung tatsächlich so weit reichen sollte, wie der Wortsinn es auf den ersten Blick vermuten lässt. Die Meinungsverschiedenheit betraf also nicht allein einen gewöhnlichen Streit um die in Pepper v Hart aufgestellten Anwendungsvoraussetzungen, sondern lag zumindest auf der Schnittstelle zur Bestimmung der Reichweite dieses Urteils. Dass die Reichweite der Entscheidung Pepper v Hart noch nicht abschließend geklärt ist, zeigt sich auch in der Diskussion darum, ob ministerielle Äußerungen in Parlamentsdebatten allein dazu dienen können, den Missstand zu ermitteln, dem abgeholfen werden sollte, oder ob sie auch Anhaltspunkte für die Regelungsabsicht des Parlaments geben können. Nach der von Lord Browne-Wilkinson in Pepper v Hart geäußerten Auffassung lassen sich diese Fragen nicht voneinander trennen.100 Nach anderer Auffassung kommt es nicht in Betracht, die Regelungsabsicht des Parlaments anhand von Aussagen der Exekutive zu bestimmen.101 Die Lordrichter scheinen diese Frage nicht einheitlich zu beantworten. So führte Lord Nicholls in Wilson & Others v Secretary of State for Trade and Industry aus, dass nach Pepper v Hart Äußerungen im Parlament unter engen Voraussetzungen den Hintergrund der gesetzlichen Regelung beleuchten könnten. Seiner Meinung nach sei solchen Äußerungen keine weitergehende Bedeutung zugeschrieben worden. Ob Pepper v Hart weiter zu verstehen sei, sei aber für den vorliegenden Fall irrelevant. Wichtig sei, dass unter Umständen ministerielle und andere Erklärungen, die im Parlament abgegeben wurden, berücksichtigt werden können, ohne in parlamentarische Privilegien einzugreifen. Die Verwendung
Lord Bingham, Lord Hope und Lord Hutton, R v Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions and another ex parte Spath Holme Limited [2000] UKHL 61, [2001] 1 All ER 195, 212, 227, 233. Für eine Unklarheit dagegen Lord Cooke und Lord Nicholls, R v Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions and another ex parte Spath Holme Limited [2000] UKHL 61, [2001] 1 All ER 195, 219, 223. 100 Pepper v Hart [1992] UKHL 3, [1993] 1 All ER 42, 65 (Lord Browne-Wilkinson). Kritisch zu dieser Unterscheidung auch Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Erläuterungen zu Section 24.3, S. 591 und zu Section 24.12, S. 620–621, die aber in Section 24.11 und 24.12 danach unterscheiden, ob Hansard herangezogen werden soll, um einerseits die Bedeutung einer Vorschrift oder um andererseits den Kontext oder den abzuschaffenden Missstand zu ermitteln. 101 Lord Steyn, OJLS 21 (2001), 59, 64–66, 68. Dagegen möge es akzeptabel sein, den Missstand, dem abgeholfen werden solle, auf diesem Weg zu ermitteln. Auch nach Kavanagh, LQR 121 (2005), 98, 104–106, kann der Wille des Parlaments nicht aus ministeriellen Stellungnahmen aus dem Verfahren bestimmt werden. Zur Frage, ob so der Missstand, dem abgeholfen werden sollte, ermittelt werden kann, äußert sie sich nicht.
II. Die Auslegung von Gesetzen
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von Ministererklärungen durch Gerichte als Teil des Hintergrundes der Gesetzgebung nach den Voraussetzungen von Pepper v Hart sei ein solcher Fall.102 Anders haben sich dazu in mehreren Entscheidungen Lord Mance und Lord Walker geäußert. Nach ihrer Auffassung können ministerielle Äußerungen als Hintergrund des Gesetzes und zur Klärung des Missstandes, dem abgeholfen werden sollte, auch ohne Einhaltung der Voraussetzungen aus Pepper v Hart berücksichtigt werden.103 In dieselbe Richtung gehen Äußerungen von Lord Hope und Lord Carswell, nach denen der Rückgriff auf Hansard nach Pepper v Hart möglich ist, um die Regelungsabsicht des Gesetzgebers zu bestimmen.104 Dass nicht vollständig geklärt ist, ob Pepper v Hart mehr ermöglicht, als Aussagen vor dem Parlament als Hintergrund und zur Ermittlung des damaligen Missstandes zu berücksichtigen, zeigen ferner die Ausführungen von Lord Neuberger in Williams v Central Bank of Nigeria. Er will parlamentarisches Material „unter bestimmten Voraussetzungen“ zur Auslegung heranziehen und verweist zum Beleg auf die Äußerungen von Lord Mance in The Presidential Assurance Co Ltd v Resha St Hill105 und Lord Browne-Wilkinson in Pepper v Hart106, die aber unterschiedliche Voraussetzungen nennen.107 bb) Außerparlamentarische Materialien Unabhängig von den in Pepper v Hart genannten Voraussetzungen kann jedenfalls außerhalb des parlamentarischen Verfahrens entstandenes Material herangezogen werden, um den Hintergrund der Gesetzgebung zu erhel-
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Wilson & Others v Secretary of State for Trade and Industry [2003] UKHL 40, [2003] 4 All ER 97 Rn. 56–60 (Lord Nicholls). Darauf Bezug nehmend Lord Nicholls in Jackson and others v Her Majesty’s Attorney General [2005] UKHL 56, [2005] 4 All ER 1253 Rn. 65. 103 Recovery of Medical Costs for Asbestos Diseases (Wales) Bill (Reference By The Counsel General For Wales) [2015] UKSC 3, [2015] 2 All ER 899 Rn. 55 (Lord Mance, unter Zustimmung von Lord Neuberger und Lord Hodge); Williams v Central Bank of Nigeria [2014] UKSC 10, [2014] 2 All ER 489 Rn. 145 (Lord Mance, dissenting); Gopaul v Iman Bakash [2012] UKPC 1 Rn. 3 (Lord Walker). So aus der Literatur auch Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Section 24.12. 104 Gow v Grant [2012] UKSC 29, 2012 Fam LR Rn. 29 (Lord Hope); R v JTB [2009] UKHL 20, [2009] 3 All ER 1 Rn. 40 (Lord Carswell). Dabei besteht kein Anlass, diese Äußerungen so zu verstehen, dass ministerielle Aussagen vor dem Parlament von Lord Hope und Lord Carswell mit der Regelungsabsicht des Parlaments gleichgesetzt werden. Näher liegt, dass sie nach Auffassung der Lordrichter lediglich als Auslegungsfaktoren in den Auslegungsprozess einfließen sollen. 105 The Presidential Assurance Co Ltd v Resha St Hill [2012] UKPC 33 Rn. 23 (Lord Mance). 106 Pepper v Hart [1992] UKHL 3, [1993] 1 All ER 42, 69 (Lord Browne-Wilkinson). 107 Williams v Central Bank of Nigeria [2014] UKSC 10, [2014] 2 All ER 489 Rn. 104 (Lord Neuberger).
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len. Zu solchen Materialien zählen u.a. Berichte der Law Commission und White Papers der Regierung.108 Die explanatory notes, die den Gesetzentwurf begleiten und ihn erklären, sollen ebenfalls als Interpretationshilfe dienen, wobei der Supreme Court und das House of Lords sie allein heranziehen, um den Kontext der Norm zu beleuchten und den Missstand zu ermitteln, dem abgeholfen werden sollte.109
III. Die richtlinienkonforme Auslegung Die Rechtsprechung hat sich mit der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung schon früh, wenn auch zunächst zurückhaltend, auseinandergesetzt. Die Literatur sieht mit Blick auf die üblichen Auslegungsgrundsätze eine allzu große Offenheit für den Einfluss von Richtlinien zum Teil kritisch. Nachfolgend wird zunächst die Entwicklung der Rechtsprechung des House of Lords erläutert, bevor die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung näher betrachtet werden. Abschließend wird untersucht, wie sich die richtlinienkonforme Auslegung der reg. 13(9) WTR durch die Instanzgerichte in diese Diskussion einfügt.
108 Recovery of Medical Costs for Asbestos Diseases (Wales) Bill (Reference By The Counsel General For Wales) [2015] UKSC 3, [2015] 2 All ER 899 Rn. 55 (Lord Mance, unter Zustimmung von Lord Neuberger und Lord Hodge); Wilson and others v Secretary of State for Trade and Industry [2003] UKHL 40, [2003] 4 All ER 97 Rn. 56 (Lord Nicholls); Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Section 24.9. Weitergehende Bedeutung scheinen derartigem Material Bell/Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 161, zuzumessen. Sie stützen sich auf Lord Browne-Wilkinsons Auffassung in Pepper v Hart [1992] UKHL 3, [1993] 1 All ER 42, 65, nach der sich die Fragen nach dem Missstand und die nach der Regelungsabsicht des Parlaments nicht recht voneinander trennen lassen. 109 R (on the application of Forge Care Homes Ltd and others) v Cardiff and Vale University Health Board and others [2017] UKSC 56, [2018] 1 All ER 449 Rn. 25 (Lady Hale, unter Zustimmung von Lord Clarke, Lord Wilson, Lord Carnwath und Lord Hodge); R v Montila & others [2004] UKHL 50, [2005] 1 All ER 113 Rn. 35; Westminster City Council v National Asylum Support Service [2002] UKHL 38, [2002] 4 All ER 654 Rn. 2–6 (Lord Steyn); Pickstone v Freemans Plc [1988] UKHL 2, [1988] 2 All ER 803, 818 (Lord Oliver). Ablehnend zur Nutzung nachträglich verfasster Erläuterungen Imperial Tobacco Ltd v The Lord Advocate (Scotland) [2012] UKSC 61, 2013 SCLR 121 Rn. 33 (Lord Hope, unter Zustimmung von Lord Walker, Lady Hale, Lord Kerr und Lord Sumption). Generell ablehnend Munday, RabelsZ 75 (2011), 764, 774–779 (s. dort 781–782 auch kritisch zur Nutzung von Impact Assessments bei der Auslegung); ders., JPN 170 (2006), 124, 126–132. S. zu den explanatory notes und ihrer Nutzung auch Gillespie/Weare, Legal System, S. 52; Scherpe, RabelsZ 78 (2014), 361, 378–380; Zander, Law-Making Process, S. 189–193.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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1. Die Entwicklung der Rechtsprechung des House of Lords Trotz anfänglicher Zurückhaltung fand das House of Lords recht schnell zu einer Linie, die der richtlinienkonformen Auslegung viel Raum bietet. a) Die Zurückhaltung im Fall Duke Bei der Diskussion der Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts zeigte sich das House of Lords zunächst zurückhaltend.110 In der Entscheidung Duke v GEC Reliance Systems Ltd sah es keine Möglichkeit, ein richtlinienkonformes Ergebnis mit dem Wortsinn der einschlägigen Norm – s. 6(4) des Sex Discrimination Act 1975 (SDA) – zu vereinbaren. Die Auslegungsverpflichtung aus s. 2(4) des European Communities Act 1972 (ECA) gestatte dem Richter nicht, die Bedeutung eines nationalen Gesetzes zu verfälschen, um einer Richtlinie zur Wirkung zu verhelfen.111 S. 2(4) ECA greife nur bei unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht. Auch aus der von Colson-Entscheidung des EuGH folge eine so weitreichende Auslegungsverpflichtung nicht.112Lord Templeman stützte sich bei seiner Argumentation ferner darauf, dass der SDA kein Umsetzungsgesetz war.113 Dieser Umstand war neben der fehlenden unmittelbaren Wirkung der Richtlinie mit ausschlaggebend für die fehlende Bereitschaft, über den Wortsinn der nationalen Norm hinauszugehen. Dieses enge Verständnis der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung wurde in der Literatur kritisiert. Die richtlinienkonforme Auslegung sei weder auf Fälle zu beschränken, in denen die einschlägige Richtlinie unmittelbare Wirkung entfaltet, noch komme sie allein bei Umsetzungsgesetzen in Betracht.114 Andere Stimmen aus der Literatur stellten die Argumentation der Lords zwar in Frage, hielten aber in beiden Punkten eine Klärung durch 110 S. dazu Arnull, European Union, S. 214–215; Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 355–358; Steiner, LQR 106 (1990), 144, 155–157; Szyszczak, EL Rev. 1990, 480, 484–487; Tanney, C.M.L. Rev. 29 (1992), 1021, 1025–1026. Aus der deutschsprachigen Literatur Hellert, Einfluss des EG-Rechts, S. 173–201; Klamert, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 118–132; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 119–141; Vogenauer, ZEuP 1997, 158, 164–169. 111 Für die Interpretationsfähigkeit der einschlägigen Norm dagegen Arnull, PL 1988, 313, 318. 112 Duke v GEC Reliance Systems Ltd [1987] UKHL 10, [1988] 1 All ER 626, 636, 637 (Lord Templeman). Ablehnend Fitzpatrick, OJLS 9 (1989), 336, 347–348. 113 Duke v GEC Reliance Systems Ltd [1987] UKHL 10, [1988] 1 All ER 626, 636 (Lord Templeman). 114 Ellis, LQR 104 (1988), 379, 383. Zum ersten Punkt auch Foster, MLR 51 (1988), 775, 778–780; ders., C.M.L. Rev. 25 (1988), 629, 637. Für eine Auslegungsverpflichtung unabhängig von der Richtlinienwirkung und zum zweiten Punkt jedenfalls skeptisch Arnull, PL 1988, 313, 317.
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Kapitel 8: United Kingdom
den EuGH für erforderlich.115 Beide Aspekte haben sich aufgrund der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung in den nachfolgenden Jahren als nicht wesentlich für Art und Umfang der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung erwiesen. Das House of Lords hat in späteren Fällen für die Frage, ob eine richtlinienkonforme Auslegung vorzunehmen ist, weder auf die Unterscheidung zwischen Umsetzungsgesetzen und sonstigem nationalen Recht abgestellt noch auf die fehlende unmittelbare Wirkung von Richtlinien.116 Ferner wurde der Wortsinn verschiedener Normen flexibel gehandhabt.117 Das Gericht hat in mehreren Fällen Worte in Gesetze eingefügt, um einen richtlinienkonformen Zustand herzustellen. b) Die Entscheidungen Litster und Pickstone Diese Entwicklung setzte bereits kurz nach dem Urteil im Fall Duke mit den Entscheidungen Litster and others v Forth Dry Dock Engineering Co Ltd und Pickstone v Freemans Plc ein. In beiden Fällen ging es um die richtlinienkonforme Auslegung von Umsetzungsrecht. Die Entscheidung Pickstone v Freemans Plc wird als entscheidender Schritt bei der Entwicklung der nationalen Auslegungsmethoden im Kontext von Unionsrecht gesehen.118 aa) Die Rechtsprechung des House of Lords Die Entscheidung Pickstone v Freemans Plc drehte sich um s. 1(2)(c) Equal Pay Act 1970 (EPA), eine Regelung, die 1983 aufgrund eines Vertragsverletzungsverfahrens in das Gesetz eingefügt worden war. Die Regelung ergänzte s. 1(2)(a) und (b) EPA, nach denen Frauen gleiches Entgelt für gleiche oder nach einem bestimmten Verfahren als gleichwertig anerkannte Arbeit verlangen konnten. S. 1(2)(c) EPA erstreckte den Gleichbehandlungsanspruch auf alle weiteren Fälle der gleichwertigen Arbeit, sodass der Anspruch auf gleiches Entgelt bei gleichwertiger Arbeit nicht mehr davon abhing, ob das nach s. 1(2)(b), (5) EPA erforderliche Anerkennungsverfahren durchgeführt worden war. Dem Wortsinn nach griff s. 1(2)(c) EPA allerdings nicht ein, wenn eine von s. 1(2)(a) oder (b) EPA erfasste Situation vorlag. Im Fall Pickstone v
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Hepple/Byre, ILJ 18 (1989), 129, 133–135. Zu beiden Aspekten Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd (No 1) [1992] UKHL 15, [1992] 4 All ER 929, 939 (Lord Keith). Allein dazu, dass es auf die unmittelbare Wirkung nicht ankommt White v White [2001] UKHL 9, [2001] 2 All ER 43 Rn. 31 (Lord Cooke). S. zur Entwicklung der (nicht nur höchstrichterlichen) Rechtsprechung in England im Kontext von Unionsrecht instruktiv Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 345–372. S. aus der deutschsprachigen Literatur Klamert, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 133, 134. 117 Gegen den Ansatz, nach dem die Richtlinie nur bei Auslegungszweifeln zur Auslegung heranzuziehen ist, Fitzpatrick, OJLS 9 (1989), 336, 348–349. 118 Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 351. 116
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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Freemans Plc führte ein Mann die gleiche Arbeit wie Frau Pickstone aus. Bei wörtlicher Auslegung von s. 1(2)(c) EPA konnte sie sich daher nicht auf diese Norm berufen und geltend machen, dass ein anderer Mann für gleichwertige Arbeit eine bessere Bezahlung erhielt als sie.119Lord Templeman betont, die Ergänzung des EPA sei gerade erfolgt, um der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung nachzukommen, Frauen bei gleichwertiger Arbeit einen Anspruch auf gleiches Entgelt einzuräumen. Es sei ohne Weiteres möglich, das Gesetz in diesem Sinne auszulegen und so dem erklärten Gesetzeszweck und den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zu entsprechen.120 Die Regelung sei so zu lesen, dass sie nur dann nicht eingreift, wenn die vorrangigen Regelungen mit Blick auf den Mann greifen, mit dessen Tätigkeit die Frau ihre Tätigkeit für vergleichbar hält.121 Mit Blick auf die Diskussion um das Verbot der Nutzung parlamentarischer Materialien, das erst mit der Entscheidung Pepper v Hart gelockert wurde,122 ist bemerkenswert, dass Lord Templeman ohne aufwendige Rechtfertigung auf Aussagen der Exekutive in der Debatte zum Entwurf der Regelung im House of Commons zurückgreift, um seine Auslegung zu stützen. Er beruft sich darauf, dass die Ergänzung des EPA durch regulations nicht der Änderung durch das Parlament offen stand, sondern lediglich seiner Zustimmung bedurfte.123 Auch Lord Oliver spricht sich in der Pickstone-Entscheidung für ein richtlinienkonformes Normverständnis aus. Nach seiner Auffassung dient die Regelung dazu, den gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Könne die Klägerin sich nicht auf sie berufen, würde dieser Zweck verfehlt. Eine derartige Auslegung der Norm sei nach Möglichkeit zu vermeiden, vor allem mit Blick auf die Verpflichtungen aus s. 2(4) ECA.124Lord Oliver weist deutlich darauf hin, dass mit einer zweckorientierten Auslegung
119 Frau Pickstone erhielt das gleiche Entgelt wie der Mann, der dieselbe Tätigkeit ausübte wie sie, Pickstone v Freemans Plc [1988] UKHL 2, [1988] 2 All ER 803, 815. Für sie kam es also entscheidend darauf an, ob sie sich dennoch erfolgreich darauf berufen konnte, dass ein anderer Mann für gleichwertige Arbeit ein höheres Entgelt erhielt. 120 Pickstone v Freemans Plc [1988] UKHL 2, [1988] 2 All ER 803, 814 (Lord Templeman). Dem Ansatz zustimmend, nach dem es darauf ankommt, ob eine gemeinschaftskonforme Auslegung möglich ist, Fitzpatrick, OJLS 9 (1989), 336, 349–350. 121 Pickstone v Freemans Plc [1988] UKHL 2, [1988] 2 All ER 803, 813 (Lord Templeman). 122 S. oben S. 278–283. 123 Pickstone v Freemans Plc [1988] UKHL 2, [1988] 2 All ER 803, 814 (Lord Templeman). S. dort auch Pickstone v Freemans Plc [1988] UKHL 2, [1988] 2 All ER 803, 807 (Lord Keith). Lord Oliver betont, dass diese Aussagen der Auslegung der Norm entsprechen, die sich im konkreten Fall bereits ohne einen Rückgriff auf dieses parlamentarische Material erzielen lassen, sodass es auf sie nicht ankommt, Pickstone v Freemans Plc [1988] UKHL 2, [1988] 2 All ER 803, 819 (Lord Oliver). 124 Pickstone v Freemans Plc [1988] UKHL 2, [1988] 2 All ER 803, 816 (Lord Oliver).
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Kapitel 8: United Kingdom
der auf den ersten Blick unzweideutigen Regelung übliche Auslegungsregeln außer Acht gelassen werden, wonach in erster Linie an die natürliche und gewöhnliche Bedeutung der im Gesetz verwendeten Worte anzuknüpfen ist. Wenn ein Gesetz dazu diene, einem internationalen Abkommen Wirkung zu verschaffen, rechtfertige das für sich genommen ein abweichendes Vorgehen nicht. Gesetze, die zur Umsetzung von Pflichten aus dem EWG-Vertrag dienen, nähmen insofern aber eine besondere Stellung ein, weil diese Pflichten durch den ECA in das englische Recht integriert worden seien. Nach s. 2(4) ECA sei diesen Pflichten bei der Auslegung und Anwendung von Umsetzungsgesetzen Rechnung zu tragen. Da die auf den ersten Blick eindeutige Regelung des EPA sinnvoll so ausgelegt werden könne, dass Pflichten aus dem EWG-Vertrag nicht verletzt werden, sei dieses Normverständnis zugrunde zu legen.125 In der Entscheidung Litster and others v Forth Dry Dock Engineering Co Ltd wurden Worte in reg. 5(3) der Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 1981 (TUPE 1981) hineingelesen, um der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 4 RL 77/187/EWG Genüge zu tun.126 Die Regelung beschrieb den Kreis der Personen, deren Arbeitsverhältnisse im Fall eines Betriebsübergangs übergehen. Sie sprach von Personen, die unmittelbar vor dem Betriebsübergang im übertragenen Betrieb beschäftigt waren. In Anwendung dieser Norm gingen Arbeitsverhältnisse, die zu diesem Zeitpunkt infolge einer Kündigung nicht mehr bestanden, nicht auf den Erwerber über. Gegen diese Regelung war nichts einzuwenden, soweit die Beendigung des Arbeitsverhältnisses keinen Zusammenhang mit dem Betriebsübergang hatte. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind aber Arbeitnehmer, denen aufgrund des Betriebsübergangs gekündigt wurde, als zum Zeitpunkt des Übergangs im übertragenen Betrieb beschäftigt anzusehen, sodass ihre Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber übergehen.127 Diese Rechtsfolge sahen die TUPE 1981 nicht vor. Lord Oliver führt aus, dass eine Aus125 Pickstone v Freemans Plc [1988] UKHL 2, [1988] 2 All ER 803, 817, 819 (Lord Oliver). Dazu, dass sich s. 2(4) ECA nicht allein auf unmittelbar anwendbares Unionsrecht bezieht Ellis, LQR 104 (1988), 379, 383; Foster, MLR 51 (1988), 775, 778–780; Haket, REALaw 8 (2015), 215, 228; Bailey/Norbury, Bennion on Statutory Interpretation, Erläuterung zu Section 28.3, S. 752; Steiner, LQR 106 (1990), 144, 153. Unklar insofern Bell/ Engle, Cross: Statutory Interpretation, S. 49, 105 einerseits (europarechtskonforme Interpretation, um unmittelbar anwendbarem europäischem Recht zur Wirkung zu verhelfen) und S. 107 andererseits (Verpflichtung zur Auslegung, die europäischem Recht zur Wirkung verhilft auch bei nicht unmittelbar anwendbarem europäischen Recht). Kritisch zu der Aussage, die zweckorientierte Auslegung sei nur im gemeinschaftsrechtlichen Kontext möglich, Vogenauer, Auslegung, S. 1320. 126 Litster and others v Forth Dry Dock and Engineering Co Ltd [1988] UKHL 10, [1989] 1 All ER 1134, 1136 (Lord Keith), 1153 (Lord Oliver). 127 EuGH 15.6.1988 EU:C:1988:308 (Bork) Rn. 18.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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legung der Vorschriften der TUPE 1981 im Sinne der EuGH-Rechtsprechung nach den herkömmlichen Auslegungsmethoden und ohne Bezug zu den Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag nicht möglich wäre. Bei Gesetzen, mit denen der Gesetzgeber den Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag nachkommen wolle, sei aber nach der Entscheidung Pickstone v Freemans Plc. der Spielraum für eine zweckgerichtete Argumentation größer, sodass es möglich sei, in die nationale Regelung Worte hineinzulesen, um den Verpflichtungen zu entsprechen. Ein solches Vorgehen sei auch im vorliegenden Fall angebracht. Reg. 5(3) TUPE 1981 sei um die Worte „oder beschäftigt wäre, wenn er nicht i.S.d. reg. 8(1) ungerechtfertigt gekündigt worden wäre“128 zu erweitern. Diese Ergänzung entspreche dem Grundkonzept des Gesetzes und sei notwendig, um dem Zweck des Gesetzes zur Wirkung zu verhelfen, der darin liege, die Betriebsübergangsrichtlinie umzusetzen.129 bb) Die Diskussion des Umsetzungswillens in der Literatur Zu Recht weist Vogenauer darauf hin, dass der Zweck, um den es in der Pickstone-Entscheidung geht, nicht ein objektiver Gesetzeszweck ist, sondern vielmehr der Umsetzungswille des Parlaments maßgeblich ist.130 Ebenso wenig geht es um die Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.e.S., also um das, was er mit der Norm inhaltlich konkret regeln wollte, um die Richtlinie umzusetzen.131 In der Literatur wird der Gedanke des Umsetzungswillens aufgegriffen. Nach einer Auffassung ist vor dem Hintergrund des ECA nur dann nicht vom Umsetzungswillen des Parlaments auszugehen, wenn es ausdrücklich erklärt hat, seiner Umsetzungsverpflichtung nicht nachkommen zu wollen. Zudem dürften Fälle, in denen die Umsetzungsvermutung widerlegt werden könne, selten sein. Wenn ein solcher Fall doch einmal eintrete, sei allerdings nicht die Auslegung, sondern das Vertragsverletzungsverfahren der richtige Weg zur Konfliktlösung.132 Ein Teil der Literatur zweifelt aber an, ob mit einer derartigen Interpretation der Wille des nationalen Gesetzgebers tatsächlich verwirklicht wird. Zu der Entscheidung Litster v Forth Dry Dock Engineering heißt es, es sei 128
Nach reg. 8(1) TUPE 1981 war ein Arbeitnehmer bei einer Kündigung aufgrund eines Betriebsübergangs nach den Regeln über die ungerechtfertigte Kündigung zu behandeln. 129 Litster and others v Forth Dry Dock and Engineering Co Ltd [1988] UKHL 10, [1989] 1 All ER 1134, 1153 (Lord Oliver). 130 Vogenauer, Auslegung, S. 1106. S. auch Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 353–354. 131 S. zur Unterscheidung der Regelungsabsicht i.e.S. und des Umsetzungswillens oben S. 134–135. 132 Steiner, LQR 106 (1990), 144, 158–159.
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angesichts der zögerlichen Umsetzung der Betriebsübergangsrichtlinie denkbar, dass der Gesetzgeber eine enge, wörtliche Auslegung gewünscht habe. Wenn das der Fall sei, sei die Entscheidung eher am Zweck der Richtlinie als am Zweck des Gesetzes orientiert, worin eine Abweichung vom Grundsatz der Parlamentssouveränität läge.133 Die Entscheidung öffne die Auslegung eines eindeutig formulierten nationalen Gesetzes für das Fallrecht des EuGH und beziehe so die Interpretation des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH dynamisch in das nationale Umsetzungsrecht ein. Es sei gut möglich, dass das nicht immer dem entspreche, was das Parlament gesetzlich festschreiben wollte, als es das Umsetzungsgesetz erließ. Eine derartige Verschiebung der Gewichte vom nationalen Gesetzgeber hin zum europäischen Gesetzgeber solle nicht künstlich unter Rückgriff auf den Grundsatz der Parlamentssouveränität erfolgen, wenn die Gerichte eigentlich infolge des Beitritts neue Aufgaben übernehmen.134 Kritisch werden ferner jüngere Entscheidungen gesehen, in denen der Umsetzungswille selbst dann angenommen wird, wenn der Inhalt der Richtlinie vom EuGH in einer Art und Weise konkretisiert wird, die der Gesetzgeber nicht erahnen konnte. In solchen Fällen könne man allenfalls sagen, dass der Gesetzgeber mit seiner Regelung alles umsetzen wollte, was der EuGH später als Richtlinieninhalt erkennt.135 Selbst wenn man so weit gehen wolle, stünde diesem Ansatz die Wirkungsweise der Richtlinie entgegen. Die ihr fehlende Horizontalwirkung dürfe nicht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung durch die Hintertür eingeführt werden. Das Unionsrecht verlange kein Abweichen von den üblichen Auslegungsmethoden, was mit diesem weitgehenden Ansatz zur Auslegung im EU-Kontext jedoch erfolge.136 c) Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung Dass das House of Lords – und nachfolgend der UK Supreme Court – inzwischen nicht mehr maßgeblich darauf abstellt, ob ein Gesetz zur Umsetzung einer Richtlinie dient, zeigt der Rechtsstreit Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. In diesem Verfahren ging es erneut um die Auslegung von Normen des SDA, also desjenigen Gesetzes, das auch im Fall Duke v GEC Reliance Systems Ltd einschlägig war. Allerdings waren andere Normen Gegenstand des Rechtsstreits. In der Entscheidung Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd (No 1), in der das House of Lords Vorlagefragen an den EuGH formulierte,
133 de Bu´rca, MLR 55 (1992), 215, 225–226. S. auch Levitsky, Am. J. Comp. L. 42 (1994), 347, 371. 134 de Bu´rca, MLR 55 (1992), 215, 226–227. 135 Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 370–371, 375, unter Bezugnahme auf EBR Attridge Law LLP and another v Coleman [2009] UKEAT 0071 09 3010, [2010] ICR 242. 136 Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 371, 375.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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stellte Lord Keith unter Bezug auf die Marleasing-Entscheidung des EuGH fest, dass es nicht darauf ankomme, ob das nationale Gesetz älter sei als die Richtlinie oder nicht.137 Nachdem der EuGH die Vorlagefragen beantwortet hatte,138 sah sich das House of Lords in der Entscheidung Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd (No 2) zu einer richtlinienkonformen Interpretation von s. 1(1)(a) und 5(3) SDA in der Lage, obwohl es in der Vorlageentscheidung eine abweichende Auslegung befürwortet hatte.139 Kritische Stimmen aus der Literatur vermissen eine echte Begründung der Entscheidung.140 Nach Auffassung eines Teils der Literatur ist nach der Entscheidung im Fall Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd (No 2) zwar geklärt, dass das House of Lords nicht mehr darauf abstellt, ob das auszulegende nationale Recht Umsetzungsrecht ist oder nicht. Die Argumentation in der Entscheidung sei aber insofern formalistisch, als sie an Worte aus dem Gesetzestext anknüpft, um die richtlinienkonforme Auslegung zu erreichen. Es sei offen, ob die Gerichte eine stärker zweckorientierte Auslegung in Fällen, in denen es nicht um die Interpretation eines Umsetzungsgesetzes geht, auch dann vornehmen würden, wenn dieser Anknüpfungspunkt fehlt.141 Nachfolgende Entscheidungen des UK Supreme Court beziehen sich wieder auf die Auslegung von Umsetzungsgesetzen. In der Vorlageentscheidung Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others heißt es, nach einem inzwischen fest verankerten Grundsatz sei nationales Recht, das zur Umsetzung von Verpflichtungen aus dem EU-Vertrag geschaffen wurde, soweit möglich so auszulegen, dass diesen Verpflichtungen Rechnung getragen wird. Dazu gehöre auch das Hineinlesen von Worten in den Gesetzestext.142 In Robertson v Swift formuliert der UK Supreme Court ein wenig abweichend, nationales Recht sei anerkanntermaßen so weit wie möglich im Lichte der Richtlinie, die es umsetzen soll, auszulegen.143 In Anlehnung an Recht-
137 Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd (No 1) [1992] UKHL 15, [1992] 4 All ER 929, 939 (Lord Keith). 138 EuGH 14.7.1994 EU:C:1994:300 (Webb). 139 Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd (No 2) [1995] UKHL 13, [1995] 4 All ER 577. 140 Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 361; Vogenauer, ZEuP 1997, 158, 171. 141 Craig, EL Rev. 22 (1997), 519, 531–533; ders., in: European community law, S. 37, 48–50. S. auch Haket, REALaw 8 (2015), 215, 233; Vogenauer, ZEuP 1997, 158, 169. 142 Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26, [2011] 4 All ER 800 Rn. 20 (Lord Hope). S. auch Assange v The Swedish Prosecution Authority [2012] UKSC 22, [2012] 4 All ER 1249 Rn. 203 (Lord Mance, dissenting). 143 Robertson v Swift [2014] UKSC 50, [2014] 4 All ER 869 Rn. 20 (Lord Kerr, unter Zustimmung von Lady Hale, Lord Wilson, Lord Carnwath und Lord Hodge). Arnull, YEL 2017, 1, 11, kritisiert die Inbezugnahme einer Zusammenfassung der nationalen Rechtsprechung zur unionsrechtskonformen Auslegung in Rn. 21, die nach Lord Kerr Umfang und Bedeutung dieser Verpflichtung aufzeige. Arnull weist darauf hin, dass diese Zusammenfassung die Vorgaben des EuGH nicht vollständig wiedergibt und regt an, di-
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sprechung zum Human Rights Act 1998 (HRA) heißt es ferner, die Auslegung müsse mit der generellen Stoßrichtung des Gesetzes vereinbar sein.144 d) Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung nach der Rechtsprechung des House of Lords nicht nur auf Umsetzungsrecht erstreckt und bei der Interpretation des nationalen Rechts gegebenenfalls der Wortsinn zu strapazieren ist, um der Umsetzungsverpflichtung nachzukommen. Handelt es sich bei der auszulegenden Norm um Umsetzungsrecht, wird der Umsetzungswille des Parlaments als Argument für eine richtlinienkonforme Auslegung herangezogen. In der Literatur wird mit Blick auf die intensiven Bemühungen des House of Lords um eine richtlinienkonforme Auslegung vertreten, dass nur in seltenen Fällen eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich sein wird.145 Mit Bezug auf instanzgerichtliche Rechtsprechung heißt es, eine richtlinienkonforme Auslegung scheine nur auszuscheiden, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich erklärt habe, das Unionsrecht nicht korrekt umzusetzen zu wollen.146
2. Die Grenzen der richtlinienkonformen Interpretation Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, lag das Augenmerk zunächst auf dem Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung. Das House of Lords entschied sich zudem recht bald gegen eine strenge Wortsinnorientierung im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung.147 Von diesem sicherlich bedeutsamen Punkt abgesehen, wurde aber zunächst nicht erörtert, nach welchen Kriterien zu bestimmen ist, ob eine richtlinienkonforme rekt auf die Rechtsprechung des EuGH – einschließlich seiner Ausdrucksweise – zurückzugreifen, um Bedeutungsverlust zu vermeiden. 144 Assange v The Swedish Prosecution Authority [2012] UKSC 22, [2012] 4 All ER 1249 Rn. 203 (Lord Mance, dissenting), s. zur Rechtsprechung zum HRA unten S. 293–295. S. auch – ohne Bezugnahme auf die Rechtsprechung zum HRA – The United States of America v Nolan [2015] UKSC 63, [2016] 1 All ER 857 Rn. 14 (Lord Mance, unter Zustimmung von Lord Neuberger, Lady Hale und Lord Reed). 145 Arnull, European Union, S. 215–216. S. ferner Steiner, LQR 106 (1990), 144, 158–159. 146 Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 369. 147 Zusammenfassend formuliert das Lord Mance (dissenting) in Assange v The Swedish Prosecution Authority [2012] UKSC 22, [2012] 4 All ER 1249 Rn. 203: “domestic courts may depart from the precise words used, eg by reading words in or out”. Die Frage, „ob der gemeinschaftskonformen Auslegung bei einem eindeutigen Wortlaut tatsächlich immer ein geringeres Gewicht als dem grammatikalischen Kriterium zukommt“ (Vogenauer, Auslegung, S. 1107–1108), kann inzwischen mit den sogleich zu behandelnden Einschränkungen, die sich aus der Rechtsprechung zu s. 3 HRA ergeben, verneint werden.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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Auslegung möglich ist. In der Literatur wird die Contra-legem-Grenze erwähnt.148 Die Entscheidung, ob eine bestimmte Auslegung nach nationalem Recht in Betracht komme oder nicht, liege nach der Rechtsprechung des EuGH beim nationalen Richter, auch wenn der EuGH gelegentlich erkennen lasse, dass er eine richtlinienkonforme Auslegung für möglich hält.149 Die vom EuGH als begrenzend genannten allgemeinen Rechtsgrundsätze greifen die zivilrechtliche Rechtsprechung und Literatur im United Kingdom nicht auf. a) Der Rückgriff auf Überlegungen zu s. 3 HRA durch das EAT Im Rahmen der Diskussion um die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung wird u.a. eine Parallele zur Verpflichtung zur konventionskonformen Auslegung nach s. 3 des HRA gezogen. Auf diese Vorschrift und die dazu ergangene Rechtsprechung bezog sich im arbeitsrechtlichen Kontext das EAT in ABR Attridge Law LLP and another v Coleman.150 In dieser Entscheidung ging es darum, ob der Disability Discrimination Act 1995 (DDA) richtlinienkonform so ausgelegt werden kann, dass er über seinen Wortsinn hinaus die assoziative Diskriminierung erfasst. Das EAT greift zunächst die Rechtsprechung des House of Lords zur richtlinienkonformen Interpretation auf. Danach könnten über die traditionelle Gesetzesauslegung hinausgehend Worte in ein Gesetz hineingelesen werden, um europäischem Recht zur Geltung zu verhelfen, das durch dieses Gesetz umgesetzt werden sollte. Ebenso anerkannt sei aber, dass das nicht in jedem Fall zulässig ist, sondern nur im Rahmen des Möglichen.151 Mit der Frage, was in diesen Rahmen fällt, setzt sich das EAT unter Berufung auf die Entscheidung Ghaidan v GodinMendoza152 auseinander. Dieses Urteil sei zwar vor dem Hintergrund des s. 3 HRA ergangen. Die dort verwendete Formulierung, nach der nationales Recht „soweit wie möglich“ im Einklang mit der EMRK auszulegen und anzuwenden ist, entspreche aber der Reichweite der Verpflichtung zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung. Die Interpretation der Beschränkung aus s. 3 HRA sei daher auf Fälle zu übertragen, in denen es um die Auslegung eines Gesetzes zur Umsetzung von EU-Recht geht.153 Diese Par148 149
Arnull, European Union, S. 213. Craig/de Bu´rca, EU Law, S. 248. S. auch Docksey/Fitzpatrick, ILJ 20 (1991), 113,
119. 150
EBR Attridge Law LLP and another v Coleman [2009] UKEAT 0071 09 3010, [2010] ICR 242. 151 EBR Attridge Law LLP and another v Coleman [2009] UKEAT 0071 09 3010, [2010] ICR 242 Rn. 11 (Underhill P). 152 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, [2004] 3 All ER 411. 153 EBR Attridge Law LLP and another v Coleman [2009] UKEAT 0071 09 3010, [2010] ICR 242 Rn. 12–13 (Underhill P). So zuvor bereits der Court of Appeal in HMRC v IDT
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allele zu der Auslegung mit Blick auf s. 3 HRA hat Lord Mance in einem Minderheitsvotum zu einer Entscheidung des UK Supreme Court aufgegriffen.154 In der Entscheidung Ghaidan v Godin-Mendoza führte Lord Nicholls aus, es sei inzwischen anerkannt, dass die Möglichkeit einer konventionskonformen Auslegung nicht davon abhängig ist, ob der Wortsinn der nationalen Regelung mehrdeutig ist.155 Die konventionskonforme Auslegung könne über den Wortsinn hinausgehen.156 Es sei möglich, Worte in das Gesetz hineinzulesen, die ihm einen vom ursprünglich verabschiedeten Inhalt abweichenden Sinn geben. Dabei müsse allerdings der Grundgedanke der Norm gewahrt bleiben. Das Auslegungsergebnis müsse mit der generellen Stoßrichtung des Gesetzes vereinbar sein.157 Außerdem sei eine konventionskonforme Auslegung nicht möglich, wenn der Wortsinn der Norm ihr ausdrücklich entgegensteht oder ein konventionswidriges Ergebnis notwendig impliziert.158 Diese Einschränkung verhindere das Hineinlesen von Worten jedoch nicht.159 Das konventionswidrige Ergebnis muss sich also unmissverständlich aus der Norm ergeben, andernfalls steht der Wortsinn der konventionskonformen Auslegung nicht entgegen. Nicht in allen Entscheidungen, die s. 3 HRA betrafen, sah das House of Lords letztlich die Möglichkeit der konventionskonformen Auslegung. In diesen Fällen wurde darauf hingewiesen,
Card Services Ireland Ltd [2006] EWCA Civ 29, [2006] STC 1252 Rn. 85 (Arden LJ), der in der Entscheidung des EAT in Rn. 13 dementsprechend auch zitiert wird. Ablehnend zur Argumentation in die umgekehrte Richtung (also vom ECA in Richtung HRA) Marshall, PL 2003, 236, 246. 154 Assange v The Swedish Prosecution Authority [2012] UKSC 22, [2012] 4 All ER 1249 Rn. 203 (Lord Mance, dissenting), unter Bezugnahme auf HMRC v IDT Card Services Ireland Ltd [2006] EWCA Civ 29, [2006] STC 1252 Rn. 85–90 (Arden LJ) und Vodafone 2 v Revenue and Customs [2009] EWCA Civ 446, [2010] 2 WLR 288 Rn. 37–38 (Morritt C). 155 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, [2004] 3 All ER 411 Rn. 29 (Lord Nicholls). So bereits R v A (No 2) [2001] UKHL 25, [2001] 3 All ER 1 Rn. 44 (Lord Steyn), Rn. 108 (Lord Hope). 156 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, [2004] 3 All ER 411 Rn. 31 (Lord Nicholls). Kritisch zu einer so weitgehenden konventionsgerechten Auslegung Marshall, PL 2003, 236. 157 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, [2004] 3 All ER 411 Rn. 32–33 (Lord Nicholls). S. zum Konflikt einer konventionsgerechten Interpretation mit dem vom Parlament erlassenen Inhalt des Gesetzes R v Secretary of State for the Home Department ex parte Anderson [2002] UKHL 46, [2002] 4 All ER 1089 Rn. 30 (Lord Bingham), 59 (Lord Steyn) und 81 (Lord Hutton). 158 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, [2004] 3 All ER 411 Rn. 117 (Lord Rodger). S. auch R v Lambert [2001] UKHL 37, [2002] 1 All ER 2 Rn. 79 (Lord Hope); R v A (No 2) [2001] UKHL 25, [2001] 3 All ER 1 Rn. 108 (Lord Hope). 159 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, [2004] 3 All ER 411 Rn. 117 (Lord Rodger). S. auch R v Lambert [2001] UKHL 37, [2002] 1 All ER 2 Rn. 79 (Lord Hope).
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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dass die Regelung sich nur auf die Interpretation von Normen beziehe und Richtern nicht das Recht gebe, gesetzgeberisch tätig zu werden.160 Unter Rückgriff auf diese Rechtsprechung sah sich das EAT in ABR Attridge Law LLP and another v Coleman in der Lage, den DDA so zu lesen, dass er die assoziative Diskriminierung erfasst. Diese Lesart dehne zwar den Anwendungsbereich des Gesetzes aus, laufe dem Ziel des Gesetzes aber nicht zuwider, sondern entspreche ihm.161 b) Die Literatur zur Auslegung nach s. 3 HRA Die Literatur hat sich mit s. 3 HRA und den einschlägigen Aussagen aus Urteilen des House of Lords kritisch auseinandergesetzt.162 Mit Blick auf die hier untersuchte Fragestellung, welche Haltung Rechtsprechung und Literatur zur richtlinienkonformen Auslegung einnehmen, werden nachfolgenden vier Diskussionspunkte zu s. 3 HRA näher betrachtet. Es geht dabei um Fragen der Textbindung, um die Einordnung des s. 3 HRA als Vermutungsregel, die Grundaussage des auszulegenden Gesetzes und das Verbot der Übernahme gesetzgeberischer Aufgaben durch den Richter.163 aa) Die Bindung an den Normtext Einige Autoren sehen den Wortsinn letztlich nicht als Hindernis einer konventionskonformen Auslegung an. Ein Teil der Literatur bezeichnet die konventionskonforme Auslegung bei unzweideutigem Wortsinn als deutliche Abweichung von den üblichen Auslegungsregeln, nach denen der Normtext grundsätzlich i.S.d. gewöhnlichen Wortbedeutung zu verstehen ist.164 In der Praxis sei im Kontext des HRA letzten Endes fast alles „möglich“, wenn die Gerechtigkeitserwägungen dringlich genug sind.165Kavanagh spricht vor dem Hintergrund der Rechtsprechung, die keine Mehrdeutigkeit für die Auslegung nach s. 3 HRA verlangt, von einer transformierenden Auslegung, wenn die von ihr so genannte natürliche Auslegung nach den üblichen Auslegungs160 Bellinger v Bellinger [2003] UKHL 21, [2003] 2 All ER 593 Rn. 67, 78 (Lord Hope); In re S (Minors) (Care Order: Implementation of Care Plan) [2002] UKHL 10, [2002] 2 All ER 192 Rn. 40 (Lord Nicholls). 161 EBR Attridge Law LLP and another v Coleman [2009] UKEAT 0071 09 3010, [2010] ICR 242 Rn. 14 (Underhill P). 162 S. neben den nachfolgend zitierten Beiträgen ausführlich Brenncke, Judicial Law Making, S. 188–223. 163 Aussagen, die unmittelbar auf die Grenzen der richtlinienkonformen Interpretation bezogen sind, sind selten und betreffen allein sprachliche Aspekte. Sie werden am Ende des folgenden Absatzes in die Diskussion einbezogen. 164 Gillespie/Weare, Legal System, S. 43–44. S. auch Brenncke, Judicial Law Making, S. 190. 165 Allan, C.L.J. 63 (2004), 685, 707.
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grundsätzen zu einem nicht konventionskonformen Ergebnis führt.166 Andere Aussagen zeigen ein gewisses Unbehagen mit einem allzu großzügigen Umgang mit dem Normtext. So heißt es, die klare Sprache des Gesetzes dürfe nicht verzerrt werden.167 Ob damit eine stärkere sprachliche Bindung gemeint ist, als das House of Lords sie annimmt, ist allerdings zweifelhaft. Denn auch nach der Rechtsprechung kann eine konventionskonforme Auslegung nicht erreicht werden, wenn die Normen ausdrücklich einen gegenläufigen Sinn enthalten oder diesen notwendig implizieren. Wie soeben ausgeführt, hindert das die Lordrichter aber nicht, Worte in den Text hineinzulesen oder den Text enger auszulegen, als die gewöhnliche Bedeutung der Worte nahelegt, um eine konventionskonforme Interpretation zu erreichen. Die Äußerungen von Autoren, die sich ohne Bezug zum HRA zu den sprachlichen Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung äußern, ergeben ebenfalls kein klares Bild. So sieht Betlem in der Neufassung ausdrücklicher Formulierungen ein Contra-legem-Judizieren. Er verweist aber ohne eine Andeutung von Kritik darauf, dass das House of Lords in Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd (No 2)168 nicht mehr darauf abstellt, ob der Wortsinn der Norm verzerrt wird, sondern sich darauf konzentriert, nach Möglichkeit das Ziel der Richtlinie zu erreichen.169 Auch bei diesem Beitrag ist daher zweifelhaft, ob die Grenzen letztlich enger gezogen werden sollen als durch die Rechtsprechung des House of Lords. Deutlicher sind insofern andere Autoren, die sprachliche Grenzen als Contra-legem-Grenze der richtlinienkonformen Auslegung sehen, sich dabei allerdings nicht mit abweichenden Grenzziehungen auseinandersetzen.170 bb) Die widerlegbare Vermutung konventionskonformen Handelns Ein Teil der Literatur versteht s. 3 HRA als widerlegbare Vermutung dafür, dass der Gesetzgeber konventionskonform handeln wollte. Das soll nach einer Auffassung allerdings nur für Gesetze gelten, die nach Inkrafttreten des
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Kavanagh, OJLS 24 (2004), 259, 260, 274. Clayton, E.H.R.L.R. 2002, 559, 565. 168 [1995] UKHL 13, [1995] 4 All ER 577. 169 Betlem, OJLS 22 (2002), 397, 402 und 417. 170 Sawyer, 28 Stat LR (2007), 165, 179; Steiner/Woods, EU Law, 5.3.2, S. 139. S. auch Salus, Auslegung und Anwendung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 157, und Vogenauer, Auslegung, S. 1107, die die Entscheidung Pickstone v Freemans Plc als Auslegung contra legem einordnen, weil sie im Widerspruch zum Gesetzestext steht. Salus, Auslegung und Anwendung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 55–57, diskutiert, ob „die nationalen Auslegungsmethoden“ oder lediglich der Wortsinn der Norm die richtlinienkonforme Auslegung begrenzen und spricht sich für Letzteres aus. 167
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
297
HRA erlassen wurden.171 Nach anderer Ansicht gilt die Vermutung auch für Altrecht.172 Die Verpflichtung zur konventionskonformen Auslegung soll als Entscheidungshilfe dienen, wenn zwei Interpretationen gleichermaßen als dem Parlamentswillen entsprechend angesehen werden können.173 Die Norm verändere aber nicht die Regeln darüber, unter welchen Umständen eine bestimmte Auslegung möglich oder nicht möglich ist. Die Gerichte dürften nicht ihr Verständnis der Menschenrechte an die Stelle der Auffassung des Gesetzgebers setzen.174 Mit der Entscheidung für eine bestimmte Fassung des Gesetzes habe der Gesetzgeber seine Auffassung von der Gewichtung des betroffenen Menschenrechts verankert. Es sei nicht zulässig, diese rechtsgültige Regelung zu ignorieren, nur weil der Gesetzgeber nicht zugleich erklärt hat, er wolle mit der Regelung die Menschenrechte missachten.175 Diese Ausführungen zeigen, dass es bei der Einordnung als Vermutungsregel nicht allein um eine technische Frage geht, sondern auch darum, was als parlamentarische Absicht angesehen werden kann und was nicht. Dieser Aspekt wird deutlich bei Kavanagh, die das Zusammentreffen von s. 3 HRA und einem auf den ersten Blick nicht konventionskonformen Gesetzestext als Absichtskonflikt einordnet. Es kollidierten die Absichten des Gesetzgebers des HRA, der eine konventionskonforme Lesart von Gesetzen verlange, und denen des Gesetzgebers des auszulegenden Gesetzes, das sich nicht ohne Weiteres so verstehen lasse. Auch wenn man s. 3 HRA als Vermutung verstehe, gehe es um diesen Absichtskonflikt. Diese Sichtweise ermögliche es lediglich, die konventionskonforme Lösung als mit der Absicht des Gesetzgebers übereinstimmend zu bezeichnen. Maßgeblich sei aber letztlich die Absicht des Gesetzgebers des HRA, nicht die des Gesetzgebers des auszulegenden Gesetzes.176 Eine andere Auffassung betrachtet das Auslegungsproblem nicht als Zielkonflikt, sondern konzentriert sich auf den Zweck, den der Gesetzgeber des auszulegenden Gesetzes verfolgt hat. Dieser Zweck werde bei einer zweckorientierten Auslegung, wie sie auf Basis des s. 3 HRA erfolgt, auf einer abstrakteren Ebene festgelegt als sonst üblich. Das sei unter den Aspekten
171
So ausdrücklich Bennion, PL 2000, 77, 91. Nach dem Kontext seiner Äußerungen wohl auch Ekins, E.H.R.L.R. 2003, 641, 645, 650. 172 Kavanagh, OJLS 26 (2006), 179, 189–190, nach deren Auffassung die Vermutung daher einen deutlich anderen Charakter als die nach dem common law üblichen Vermutungen habe, weil das Parlament bei vor Inkrafttreten des HRA erlassenen Gesetzen nicht wissen konnte, dass sie mit Blick auf diese Vermutung ausgelegt werden. 173 Ekins, E.H.R.L.R. 2003, 641, 645. 174 Ekins, E.H.R.L.R. 2003, 641, 645–648. 175 Ekins, E.H.R.L.R. 2003, 641, 647–648. 176 Kavanagh, OJLS 26 (2006), 179, 187, 189–190.
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Kapitel 8: United Kingdom
der verfassungsmäßigen Legitimation und der Rechtssicherheit kritisch zu sehen.177 Das führt zu der Frage, wie die begrenzenden Formulierungen des House of Lords zu verstehen sind. Im Zusammenhang mit der Bestimmung der Absicht des Gesetzgebers ist insbesondere die Aussage relevant, nach der eine konventionskonforme Auslegung nicht der Grundaussage des auszulegenden Gesetzes entgegenlaufen darf. cc) Die Auslegung i.S.d. Grundaussage des Gesetzes Der Ansatz des House of Lords, die Auslegung dürfe der Grundaussage des auszulegenden Gesetzes nicht entgegenlaufen, wird in der Literatur aufgegriffen.178 Allerdings ist nicht geklärt, wie die jeweilige Grundaussage zu bestimmen ist. Nach einer Auffassung handelt es sich um eine Grundaussage des auszulegenden Gesetzes, wenn der Gesetzgeber sich einer Sprache bedient, die eine relativ klare gewöhnliche Bedeutung hat. Es diene der Rechtssicherheit, wenn ein Gesetz genau die gewöhnliche Bedeutung hat, die der Bürger erwartet. Der Rückgriff auf Zwecküberlegungen auf abstrakterer Ebene sei nur zuzulassen, wenn der Gesetzgeber generelle, wertausfüllungsbedürftige Begriffe verwendet habe.179 Mit diesem Verständnis des Begriffs „Grundaussage“ wird der durch die Worte des Gesetzestextes ausgedrückte Wille des Gesetzgebers als Grenze der konventionskonformen Auslegung gesehen. Das entspricht freilich nicht der Auffassung des House of Lords, das durchaus die Möglichkeit eröffnet sieht, vom gewöhnlichen Wortsinn abzurücken und den Zweck des Gesetzes auf einer abstrakteren Ebene zu bestimmen. Dementsprechend zeigt nach anderer Auffassung Ghaidan v GodinMendoza180, dass die gesetzlich verankerte Absicht des Gesetzgebers, also die Absicht, die in den Worten der Norm zum Ausdruck kommt, die konventionskonforme Auslegung letztlich nicht begrenzt. Der Text könne durch das Hineinlesen von Worten einerseits und die einschränkende Auslegung andererseits korrigiert werden. So könne die gesetzlich verankerte Absicht modifiziert werden.181 Nicht möglich sei dagegen eine radikale Änderung, die dem Grundgedanken des Gesetzes entgegenlaufe.182 Akzeptiert man diesen Ansatz, liegt das Problem der Begrenzung der konventionskonformen Aussage durch die Grundaussage des Gesetzes wohl in erster Linie darin, dass die Richter sich nicht immer einig sind, was die Grundaussage des Gesetzes ist.183 177
van Zyl Smit, MLR 70 (2007), 294, 296. Young, PL 2005, 23, 25–27; van Zyl Smit, MLR 70 (2007), 294, 300–303. Kritisch zur begrenzenden Wirkung dieses Aspekts Brenncke, Judicial Law Making, S. 216. 179 van Zyl Smit, MLR 70 (2007), 294, 302, 305. 180 [2004] UKHL 30, [2004] 3 All ER 411. 181 Kavanagh, OJLS 26 (2006), 179, 181, 199. 182 Kavanagh, OJLS 24 (2004), 259, 281. 183 Young, PL 2005, 23, 26–27. 178
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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dd) Funktionale Grenzen Die Grenze der konventionskonformen Auslegung überschreitet nach Auffassung des House of Lords ferner eine Interpretation, mit der der Richter gesetzgeberische Aufgaben wahrnimmt. Ein Teil der Literatur hat diese Beschreibung der Grenze der Auslegung kritisch aufgenommen. Sie unterlaufe die Absicht des Gesetzgebers des HRA, der mit diesem Gesetz die Berücksichtigung der Menschenrechte im englischen Recht verankern wollte.184 Die Abgrenzung zwischen Interpretation und Gesetzgebung sei graduell. Sie sei weder klar noch wertfrei, weil sie voraussetzt, dass der Interpret sich eine Meinung darüber gebildet hat, was die wahre Bedeutung des Gesetzestextes ist.185 Andere haben die Abgrenzung aufgegriffen und versuchen, sie zu erläutern. Die richterliche Zurückhaltung dürfe nicht dazu führen, dass zunächst aus Respekt vor der Sicht des Gesetzgebers das betroffene Menschenrecht eng verstanden und anschließend mit denselben Argumenten die konventionskonforme Auslegung des Gesetzes abgelehnt werde.186 In Anlehnung an Äußerungen des House of Lords heißt es, der Richter solle sich nur in zwei Fällen zurückhalten. Zum einen, wenn auf Gebieten, die sozialpolitische Fragen betreffen, eine Auswahl zwischen mehreren gleichermaßen konventionskonformen Auslegungsvarianten erforderlich wäre. Zum anderen, wenn die konventionskonforme Auslegung durch Verwaltungs- oder Verfahrensvorschriften flankiert werden müsse.187 Als Beispiel für einen Fall der ersten Gruppe wird Bellinger v Bellinger, als Beispiel für einen Fall der zweiten Gruppe In re S genannt.188 In Bellinger v Bellinger ging es um s. 11(c) des Matrimonial Causes Act 1973, der eine Ehe nur zwischen Mann und Frau zuließ und damit einer Ehe zwischen einer transsexuellen Frau und einem Mann entgegenstand. Das House of Lords erklärte die Regelung für konventionswidrig, lehnte eine gerichtliche Lösung zugunsten der transsexuellen Klägerin aber ab, weil Änderungen der Begriffe Mann und Frau in diesem Gesetz aufgrund ihrer weitreichenden gesellschaftlichen Bedeutung vom Gesetzgeber vorzunehmen seien.189 In In Re S erklärte das House of Lords eine Entscheidung des Court of Appeal für zu weitgehend, mit der das Gericht Regeln für die gerichtliche Kontrolle der Anordnung der Personenfürsorge 184
Clayton, E.H.R.L.R. 2002, 559, 566. Allan, C.L.J. 63 (2004), 685, 707. 186 Young, PL 2005, 23, 30–31. 187 Young, PL 2005, 23, 32–34. 188 Young, PL 2005, 23, 31–32, unter Bezugnahme auf Bellinger v Bellinger [2003] UKHL 21, [2003] 2 All ER 593 und In re S (Minors) (Care Order: Implementation of Care Plan) [2002] UKHL 10, [2002] 2 All ER 192. 189 Bellinger v Bellinger [2003] UKHL 21, [2003] 2 All ER 593 Rn. 37–49 (Lord Nicholls), Rn. 67–69 (Lord Hope), Rn. 78 (Lord Hobhouse). 185
300
Kapitel 8: United Kingdom
nach dem Children Act 1989 aufstellte, die von diesem Gesetz völlig losgelöst waren. Es handele sich bei diesem Ansatz nicht um Interpretation, sondern um eine Gesetzesänderung mit weitreichenden Folgen für die örtlichen Behörden.190 Gegen die so beschriebene Begrenzung der richterlichen Auslegungskompetenz werden Einwände erhoben. Der Respekt vor dem Parlament setze bei diesem Ansatz erst spät ein. Die Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber greife erst hinsichtlich seiner zukünftigen Handlungsmöglichkeiten. Wichtiger sei aber die vorgelagerte Frage, ob der Zweck der auszulegenden Norm abweichend von einer recht klaren gewöhnlichen Bedeutung des Normtextes beschrieben werden dürfe.191 Hinsichtlich der Abgrenzung von Interpretation und Gesetzgebung wird ferner auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Justiz einerseits und des Gesetzgebers andererseits verwiesen. Die Richter hätten nicht die Möglichkeit, ein Rechtsgebiet grundlegend zu reformieren. Während der Gesetzgeber zukunftsorientiert handeln und eine völlig neue Regelung schaffen könne, sei der Richter an die gesetzlichen Rahmenvorgaben gebunden. Soweit er nicht bewahrend, sondern reformierend tätig werde, könne das nur ausschnittsweise geschehen. Eine derartige Teilreform könne zu Unstimmigkeiten führen und dem Zweck des Gesetzes entgegenlaufen. Der Richter könne Worte einfügen, nicht aber das Gesetz umschreiben und eine radikale Änderung des Gesetzes herbeiführen, die seinem Grundgedanken zuwiderläuft.192 c) Zusammenfassung Aus den vorstehenden Ausführungen lässt sich ableiten, dass die Rechtsprechung zu s. 3 HRA folgende Linie gefunden hat: Der Wortsinn der Norm – und damit der so ausgedrückte Wille des Parlaments – hindert die konventionskonforme Auslegung eines Gesetzes nicht, solange die Auslegung der Grundaussage des Gesetzes nicht zuwiderläuft und der Richter keine gesetzgeberischen Aufgaben wahrnimmt. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Normtext der konventionskonformen Auslegung nicht ausdrücklich entgegensteht oder ein konventionswidriges Ergebnis notwendig impliziert. In der Literatur findet sich einerseits zu allen drei Punkten Kritik: zur Bedeutung des ausgedrückten Willens des Gesetzgebers ebenso wie zur Bestimmung der Grundaussage des Gesetzes und der Beschränkung der Richter auf eine richterliche Tätigkeit. Andererseits findet die Rechtsprechung auch Zustimmung.
190
In Re S (Minors)(Care Order: Implementation of Care Plan) [2002] UKHL 10, [2002] 2 All ER 192 Rn. 43 (Lord Nicholls). 191 van Zyl Smit, MLR 70 (2007), 294, 304. 192 Kavanagh, OJLS 24 (2004), 259, 271–273, 280–281.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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Die Rechtsprechung zu den Grenzen der Auslegung nach s. 3 HRA kann als Fortführung der Aussagen aus den Entscheidungen Litster and others v Forth Dry Dock Engineering Co Ltd und Pickstone v Freemans Plc gesehen werden, nach denen ein Abweichen vom gewöhnlichen Wortsinn und ein Hineinlesen von Worten in den Normtext vor dem Hintergrund der Verpflichtungen aus s. 2(4) ECA möglich und geboten ist, wenn diese Auslegung dem Grundkonzept des Gesetzes Rechnung trägt.193 Bei Entscheidungen zur richtlinienkonformen Auslegung wird allerdings in manchen Fällen ein weiterer Gesichtspunkt angeführt, der in der Diskussion um die Auslegung im Rahmen von s. 3 HRA kaum anklingt.194 Wenn es sich bei dem auszulegenden Gesetz um ein Umsetzungsgesetz handelt, kann die richtlinienkonforme Auslegung insofern als dem Willen des Gesetzgebers entsprechend angesehen werden, als sie seinem Umsetzungswillen entgegenkommt.195 Wie bereits ausgeführt, wird der Rückgriff auf den Umsetzungswillen in der Literatur durchaus kritisch gesehen. Wenn der Gesetzgeber die Norm im wörtlichen Sinne verstanden wissen wollte, werde so eher dem Zweck der Richtlinie als dem Zweck des Gesetzes Rechnung getragen.196 Im Vergleich zu den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen fällt auf, dass das House of Lords im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung mit größerer Selbstverständlichkeit auf parlamentarisches Material zurückgreift als bei Fällen mit rein nationalem Bezug. Außerdem ist in Fällen der richtlinienkonformen Auslegung die Bereitschaft vergleichsweise groß, den Text über die übliche Wortbedeutung hinausgehend zu interpretieren, soweit die Auslegung mit der Stoßrichtung des Gesetzes vereinbar ist.
3. Die richtlinienkonforme Auslegung der reg. 13(9) WTR durch die Instanzgerichte Der Konflikt um die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung zeigt sich in abgeschwächtem Maß auch bei der Schaffung einer Übertragungsmöglichkeit im Rahmen der reg. 13(9) WTR.197 Zwar lehnt das ET in Souter v 193
S. zu diesen Entscheidungen oben S. 286–290. S. aber Brenncke, Judicial Law Making, S. 162–165. 195 Haket, REALaw 8 (2015), 215, 219; Schilling, Vereinigtes Königreich, Rn. 46. 196 de Bu´rca, MLR 55 (1992), 215, 225–226. S. auch Levitsky, Am. J. Comp. L. 42 (1994), 347, 371. S. ferner die oben S. 290 genannte Kritik von Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 370–371, 375, an einer Argumentation mit dem Umsetzungswillen in Fällen, in denen die Interpretation der Richtlinie durch den EuGH für den Gesetzgeber nicht vorhersehbar war. 197 Dass auch in anderen Fällen Uneinigkeit über die Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts besteht, zeigen die divergierenden Entscheidungen zur Auslegung von s. 108(7) Equality Act 2010 in Rowstock Ltd and another v Jessemey [2012] UKEAT 0112 12 0503, [2013] ICR 807 einerseits (Rn. 38–39 (Underhill LJ), richtlinienkonforme 194
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Kapitel 8: United Kingdom
Royal College of Scotland eine richtlinienkonforme Auslegung nicht ausdrücklich ab. Indem es aber auf die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Interpretation nicht eingeht und sich lediglich zur fehlenden Horizontalwirkung von Richtlinien im Privatrechtsverhältnis äußert,198 impliziert es, dass eine richtlinienkonforme Auslegung der reg. 13(9) WTR nicht zulässig ist. Allerdings fehlt es an einer Auseinandersetzung mit der einschlägigen Rechtsprechung des EAT und des House of Lords zur richtlinienkonformen Auslegung. In Shah v First West Yorkshire stellt das ET dagegen unter Bezugnahme auf die Entscheidungen Attridge Law LLP and another v Coleman und Ghaidan v Godin-Mendoza fest, dass Worte zu einer gesetzlichen Regelung hinzugefügt werden können, um den Anforderungen einer Richtlinie zu genügen, auch wenn diese Interpretation weder dem natürlichen Wortsinn entspricht noch dem, was das Parlament bei Erlass der Regelung gemeint hat.199 Das Gericht setzt sich nachfolgend mit dem Sinn der reg. 13(9) WTR auseinander, um zu klären, ob das Hineinlesen einer Übertragungsmöglichkeit bei Krankheit mit der generellen Stoßrichtung des Gesetzes vereinbar ist. Nach Auffassung des ET kann das Ziel der Regelung, aus gesundheitlichen Gründen die Erholung der Arbeitnehmer direkt im Urlaubsjahr zu gewährleisten, bei Krankheit nicht erreicht werden. Es sei aber mit diesem Ziel ohne Weiteres vereinbar, wenn in einem solchen Fall der Arbeitnehmer den Urlaub später nehmen kann.200 Diese Argumentation ist vor dem Hintergrund der vorstehend erörterten Auslegungsgrundsätze nachvollziehbar und fügt sich in die bisherige Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung ein. Entscheidend ist nicht, dass das Parlament den Verfall des Urlaubs zum Ende des Urlaubsjahres gewollt und geregelt hat, sondern dass sich eine richtlinienkonforme Lösung, die über den Wortsinn der Norm hinausgeht, mit dem Grundgedanken der gesetzlichen Regelung vereinbaren lässt. Die Argumentation des EAT in Plumb v Duncan Print Group betrifft das Ausmaß der notwendigen Abweichung vom ursprünglichen Gesetzesinhalt. Auslegung nicht möglich) und Onu v Akwiwu [2012] UKEAT 0022 12 0105, [2013] ICR 1039 andererseits (Rn. 105 (Langstaff P), richtlinienkonforme Auslegung möglich). Der Court of Appeal bejahte schließlich in Jessemey v Rowstock Ltd and another [2014] EWCA Civ 185, [2014] 3 All ER 409 Rn. 47 (Underhill LJ) die Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung. S. ferner zur Auslegung von reg. 16 WTR die Entscheidung des Court of Appeal Bamsey and others v Albon Engineering & Manufacturing plc [2004] EWCA Civ 359, [2004] ICR 1083 Rn. 40 (Auld LJ) einerseits und die Entscheidung des EAT Bear Scotland Ltd and others v Fulton and others [2014] UKEAT 0047 13 0411, [2015] ICR 221 Rn. 64 (Langstaff J) andererseits. 198 Souter v Royal College of Scotland ETS/106313/10 Rn. 39 (Watt J). 199 Shah v First West Yorkshire Ltd ET/1809311/09 Rn. 8–9 (Forrest J), unter Bezugnahme auf EBR Attridge Law LLP and another v Coleman [2009] UKEAT 0071 09 3010, [2010] ICR 242 und Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, [2004] 3 All ER 411. 200 Shah v First West Yorkshire Ltd ET/1809311/09 Rn. 12–13 (Forrest J).
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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Nach Auffassung des Gerichts muss sie nur so weit reichen, wie nach dem Zweck der Richtlinie erforderlich, sodass der Übertragungszeitraum auf achtzehn Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres begrenzt werden könne und auch zu begrenzen sei.201 Mit dieser Auslegung hat das Hineinlesen von Worten sich von einer schlichten Ausnahme zur Nichtübertragbarkeit zu einer umfassenderen Lösung für langzeiterkrankte Arbeitnehmer entwickelt. Über die Möglichkeiten der richtlinienkonformen Auslegung, wie sie sich aus den obergerichtlichen Entscheidungen ergibt, geht sie nicht hinaus. Insbesondere liegt darin wohl keine Übernahme gesetzgeberischer Aufgaben i.S.d. Rechtsprechung zum HRA.202 Diese Grenze soll nicht jegliche richterliche Gestaltung unterbinden, sondern grundlegende Entscheidungen sowie Detailregelungen, die Verwaltung oder Verfahren betreffen, dem Gesetzgeber vorbehalten. Mit Blick auf die Aufgabenverteilung zwischen Justiz und Gesetzgeber liegt der bedeutendere Schritt darin, die Übertragbarkeit von Urlaub im Krankheitsfall durch das Hineinlesen von Worten in reg. 13(9) WTR zuzulassen, nicht in der Begrenzung der Übertragbarkeit auf achtzehn Monate.203
201 Plumb v Duncan Print Group [2015] UKEAT 0071 15 0807, [2016] ICR 125 Rn. 40 (Lewis J). Eine entsprechende Erweiterung der ergänzenden Formulierung des Court of Appeal findet sich in Rn. 40–45. 202 S. dazu oben S. 292–301. 203 Dass die Einschätzung, ob ein konkretes Ergebnis noch regelgerecht durch Auslegung zu erzielen ist, umstritten sein kann, zeigt ein Ausspruch von Lord Nicholls in In re S (Minors) (Care Order: Implementation of Care Plan) [2002] UKHL 10, [2002] 2 All ER 192 Rn. 40: “Nowadays courts are more ‘liberal’ in the interpretation of all manner of documents. The greater the latitude with which courts construe documents, the less readily defined is the boundary. What one person regards as sensible, if robust, interpretation, another regards as impermissibly creative.”
Kapitel 9
Vergleichende Überlegungen “But, ultimately, in both cases the wording and interpretation of the European measure was decisive. The domestic measure might as well not have existed, except as the vehicle by which access to the European measure was obtained.”1
I. Anpassungsbedarf und Veränderungen im Urlaubsrecht Der Vergleich bezieht sich zunächst auf den Anpassungsbedarf und die Veränderungen, die sich in den untersuchten Ländern im Urlaubsrecht ergeben haben.
1. Die Mindestbeschäftigungszeit In zwei der fünf untersuchten Länder war der Urlaubsanspruch ursprünglich von einer Mindestbeschäftigungszeit abhängig. Die Regelungen wurden inzwischen aufgehoben. a) Kein Anpassungsbedarf in Deutschland, den Niederlanden und Spanien In Deutschland, den Niederlanden und Spanien hing die Entstehung des Urlaubsanspruchs bereits vor der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH nicht von einer Mindestbeschäftigungszeit ab.2 In diesen Ländern bestand insoweit kein Anpassungsbedarf. b) Anpassungsbedarf und Veränderungen in Frankreich und im United Kingdom Dagegen bestanden sowohl in Frankreich als auch im United Kingdom Vorschriften, nach denen der Arbeitnehmer Urlaubsansprüche erst nach einer gewissen Mindestbeschäftigungszeit erhielt. Die einschlägige Vorschrift im 1 2
Lord Mance, EL Rev. 2013, 437, 450–451. S. oben S. 58, 154, 225.
306
Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
United Kingdom, reg. 13(7) WTR, war Gegenstand der BECTU-Entscheidung des EuGH. Die Working Time (Amendment) Regulations 2001, durch die diese Vorschrift gestrichen wurde, wurden dem Parlament drei Monate nach dem BECTU-Urteil vorgelegt und traten wenig später in Kraft.3 Hier ist also der Gesetzgeber sehr zügig tätig geworden, um einen richtlinienkonformen Zustand herzustellen. In Frankreich dauerte die Umsetzung dieses Urteils länger. Hier war der Umsetzungsbedarf nicht so leicht zu erkennen, da der C. trav. nicht eine Mindestbeschäftigungszeit zu Beginn des Arbeitsverhältnisses als Anspruchsvoraussetzung für den Urlaubsanspruch regelte, sondern den Urlaubsanspruch jährlich von einer Mindestarbeitsleistung abhängig machte. Damit unterschied sich das französische Recht von der englischen Regelung, die dem BECTU-Urteil zugrunde lag. Der Gesetzgeber hat das Erfordernis einer Mindestarbeitsleistung im Bezugszeitraum 2008 zunächst eingeschränkt, bevor er es 2012 vollständig gestrichen hat.4 Die C. cass. sah noch im Jahr 2007 in der Notwendigkeit einer Mindestarbeitsleistung im laufenden Arbeitsverhältnis keinen Verstoß gegen die Arbeitszeitrichtlinie, regte aber nach dem Schultz-Hoff-Urteil eine Änderung der einschlägigen Norm an.5 In Frankreich sah also zuerst – wenn auch Jahre nach der BECTU-Entscheidung – der Gesetzgeber Regelungsbedarf. Dennoch musste die C. cass. in dem Fall, der der Rechtssache Dominguez zugrunde lag, noch korrigierend tätig werden, weil die endgültige Streichung des Erfordernisses einer Mindestarbeitsleistung erst 2012 erfolgte. Die Lösung der C. cass. lag nicht in einer Auslegung der Norm, die die Mindestarbeitsleistung verlangte. Vielmehr knüpfte sie an Art. L3141-5 C. trav. an, der bestimmte Krankheitszeiten einer tatsächlichen Beschäftigung gleichstellt.6 Die Rechtsprechung ist ein Beispiel dafür, dass ein richtlinienkonformer Zustand nicht allein von der Interpretation der europarechtlich kritisch zu betrachtenden Norm abhängt, sondern die Auslegung anderer Vorschriften dazu dienen kann, einen richtlinienkonformen Zustand herzustellen. Allerdings funktionierte diese Lösung im konkreten Fall nur, weil nach französischem Recht Tage der Erkrankung infolge eines Arbeitsunfalls gem. Art. L3141-5 Nr. 5 C. trav. bis zur Dauer von einem Jahr als Arbeitszeit gelten, die Erkrankung der betroffenen Arbeitnehmerin auf einem Wegeunfall beruhte und die C. cass. bereit war, den Wegeunfall dem Arbeitsunfall gleichzustellen. Da sie es in späteren Entscheidungen ablehnte, nicht berufsbezogene Krankheitstage oder berufsbezogene Krankheitstage, die über die Dauer eines Jahres hinausgehen, als
3
S. oben S. 264. S. oben S. 180. 5 S. oben S. 180–181. 6 S. oben S. 181. 4
I. Anpassungsbedarf und Veränderungen im Urlaubsrecht
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Arbeitszeit zu berücksichtigen,7 war und ist die Lösung über Art. L3141-5 Nr. 5 C. trav. für einen erheblichen Teil der Krankheitsfälle nicht geeignet, einen richtlinienkonformen Zustand herzustellen.
2. Der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Auch der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit war nicht in allen untersuchten Ländern i.S.d. EuGH-Rechtsprechung geregelt. In Frankreich sind die Umsetzungsdefizite noch nicht vollständig behoben. a) Kein Anpassungsbedarf in Deutschland und Spanien, Klärung im United Kingdom Die Frage, ob ein Arbeitnehmer während einer Erkrankung Urlaub erwirbt, ist in Deutschland, dem United Kingdom und Spanien nicht gesetzlich geregelt. In Deutschland und Spanien wurde und wird diese Frage ohne Weiteres bejaht.8 Im United Kingdom war sie dagegen umstritten und wurde erst durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Schultz-Hoff geklärt.9 b) Anpassungsbedarf und Veränderungen in den Niederlanden und Frankreich In den Niederlanden und Frankreich war bzw. ist der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit dagegen nicht durchweg positiv geregelt. In den Niederlanden war der Erwerb von Urlaubsansprüchen bei Krankheit auf die letzten sechs Monate beschränkt.10 Bevor der Gesetzgeber die Norm im Jahr 2012 strich, hatte die Rechtsprechung über die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung zu entscheiden. Eine befürwortende Entscheidung der Rechtbank Utrecht stieß in der Literatur auf Kritik.11 Der Gerechtshof Amsterdam sah dagegen keine Möglichkeit für eine richtlinienkonforme Auslegung und verwies auf den Gesetzgeber.12 Die ablehnende Linie bestätigen Entscheidungen des Centrale Raad van Beroep zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG gegenüber einem staatlichen Arbeitgeber und des Hoge Raad zu Schadensersatzansprüchen gegen den Staat wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung zugunsten von Arbeitnehmern, die bei privaten Arbeitgebern beschäftigt waren.13
7
S. oben S. 183. S. oben S. 58, 226. 9 S. oben S. 264–265. 10 S. oben S. 154. 11 S. oben S. 154, 170, 172. 12 S. oben S. 154–155, 170–171. 13 S. oben S. 155. 8
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
In Frankreich ist der Gesetzgeber untätig geblieben. Die C. cass. hat für Krankheitszeiten aufgrund von Wegeunfällen eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts bewirkt, für andere Krankheitszeiten dagegen nicht.14 Das Auslegungsproblem stellt sich in Frankreich anders dar als in den Niederlanden. Während in den Niederlanden eine Vorschrift den Erwerb von Urlaubsansprüchen im Krankheitsfall generell und ohne Ausnahmen beschränkte, ist in Frankreich der Erwerb von Urlaubstagen zwar ebenfalls generell an die Arbeitsleistung geknüpft, für Krankheitstage, die auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen sind, aber bis zu einer Dauer von einem Jahr die Gleichstellung mit geleisteter Arbeit angeordnet (Art. L3141-5 Nr. 5 C. trav.). Wenn und soweit sich diese Gleichstellung, die eine Ausnahme vom Erfordernis der tatsächlichen Arbeitsleistung bedeutet, ausdehnen lässt, lässt sich ein richtlinienkonformes Ergebnis für nicht ausdrücklich genannte Krankheitszeiten erzielen. Die C. cass. hält eine richtlinienkonforme Auslegung nur insoweit für möglich, als sie Krankheitszeiten aufgrund von Wegeunfällen über den Wortsinn der Norm bis zur Dauer von einem Jahr gem. Art. L31341-5 C. trav. Zeiten tatsächlicher Arbeitsleistung gleichstellt. Sie unterscheidet also nach berufsbezogenen und nicht berufsbezogenen Unfällen oder Erkrankungen.15 Überschreitet die berufsbezogene Krankheitszeit die Dauer von einem Jahr, sieht sie sich ebenfalls an einer richtlinienkonformen Auslegung gehindert. Wie eine erläuternde Anmerkung der C. cass. zu einem ihrer einschlägigen Urteile erkennen lässt, sieht sie den Wortsinn des Gesetzes als Grenze der Interpretation.16 Der Wortsinn des Art. L31341-5 Nr. 5 C. trav. gestattet allerdings auch die Einbeziehung von Wegeunfällen nicht, zu der sich die C. cass. in der Lage sah.17 Zwar steht die Erkrankung aufgrund eines Wegeunfalls den in Art. L31341-5 Nr. 5 C. trav. geregelten Fällen der Erkrankung aufgrund Arbeitsunfalls und der Berufserkrankung näher als nicht berufsbezogene Erkrankungen. Dennoch ist nicht klar, woraus die C. cass. in der Frage der Gleichstellung von Krankheitszeiten die Grenze der Auslegung ableitet.
3. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen In Frankreich und Spanien sowie im United Kingdom kann der Mindesturlaub nicht auf das Folgejahr übertragen werden.18 Durch Kollektivvertrag 14
S. oben S. 182–183. S. oben S. 215. 16 Note explicative zum Urteil Cass. soc. 22.6.2016 FR:CCASS:2016:SO01289 no 15-20111 P. 17 S. die Kritik von Laulom, Droit social 2013, 1, 3, nach deren Auffassung die Entscheidung contra legem ist. 18 S. oben S. 186, 227, 265. 15
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kann die Übertragbarkeit in Frankreich geregelt werden, wenn für den Arbeitnehmer eine Jahresarbeitszeit gilt.19 Dagegen ist in Spanien die Übertragbarkeit durch Kollektivvertrag überhaupt nicht gesetzlich vorgesehen, wird aber in der Literatur vereinzelt gefordert.20 In Deutschland und den Niederlanden ist eine Übertragung in gewissem Umfang vorgesehen. In den Niederlanden geht nicht genommener Mindesturlaub ohne weitere Voraussetzungen auf das Folgejahr über und verfällt dann nach sechs Monaten.21 In Deutschland ist eine Übertragung nur vorgesehen, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe vorliegen. Im Fall der Übertragung verfällt der Urlaub nach Ablauf von drei Monaten. Abweichende Regelungen in Tarifverträgen sind zulässig.22
4. Die Übertragbarkeit und der Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit Die Übertragbarkeit und der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen bei Krankheit haben in mehreren der untersuchten Länder zu Anpassungsbedarf und Diskussionen geführt. a) Die Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen bei Krankheit aa) Besonderheiten in den Niederlanden und Spanien In Spanien wird die Frage der Übertragbarkeit von Mindesturlaubsansprüchen bei Krankheit nicht diskutiert, obwohl der Urlaubsanspruch dort unterjährig ist und Resturlaub daher am Ende des Bezugsjahres verfällt. Dort dreht sich die Diskussion allein um den Fall, dass festgesetzter Urlaub krankheitsbedingt nicht genommen werden konnte.23 In den Niederlanden besteht die Besonderheit, dass mit der Gesetzesänderung im Jahr 2012 die Übertragbarkeit eingeschränkt wurde, wodurch erstmals die Frage auftrat, ob Urlaub im Krankheitsfall in ausreichendem Maß übertragen werden kann.24 In den Niederlanden war bis 2012 der Verfall allein durch eine fünfjährige Verjährungsfrist geregelt. Da so Resturlaubsansprüche ohne weitere Voraussetzungen noch Jahre nach dem Bezugszeitraum genommen werden konnten, war die Übereinstimmung mit der EuGHRechtsprechung zur Übertragbarkeit von Urlaub im Krankheitsfall nicht 19
S. oben S. 186. S. oben S. 227. 21 S. oben S. 156–157. 22 S. oben S. 58–59. 23 S. oben S. 227–228. 24 S. oben S. 158–160. 20
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problematisch. Das könnte sich mit der Änderung des Urlaubsrechts im Jahr 2012 geändert haben. Die seitdem geltende sechsmonatige Verfallfrist erfasst erkrankte Arbeitnehmer nur dann nicht, wenn diese für die Dauer der Verfallfrist von ihrer Wiedereingliederungspflicht befreit sind. Ein Teil der Literatur sieht das mit Blick auf die Pereda-Entscheidung des EuGH kritisch und will den erkrankten Arbeitnehmern die Entscheidung darüber überlassen, ob sie im Wiedereingliederungszeitraum Urlaub nehmen möchten.25 bb) Anpassungsbedarf in Deutschland, Frankreich und im United Kingdom In Frankreich, Deutschland und dem United Kingdom waren Anpassungen nötig, um der Arbeitszeitrichtlinie in der Auslegung durch den EuGH zu entsprechen. Recht einfach gestaltete sich die Anpassung in Frankreich. Dort regelt das Gesetz die Frage der Übertragbarkeit nicht ausdrücklich, auch nicht für den Krankheitsfall. Die C. cass. konnte ihre ablehnende Rechtsprechung daher schlicht unter Hinweis auf den Zweck des Urlaubs, wie er sich aus der RL 2003/88/EG ergibt, aufgeben, ohne in einen offenen Konflikt mit dem Gesetzestext zu geraten.26 Mehr Aufwand war in Deutschland und im United Kingdom erforderlich. In beiden Ländern bestehen gesetzliche Regelungen, die der Übertragung von Mindesturlaubsansprüchen bei Krankheit für mindestens fünfzehn Monate dem Wortsinn nach entgegenstehen und auch entsprechend gehandhabt wurden. In beiden Ländern hat die Rechtsprechung im Wege der richtlinienkonformen Interpretation ein richtlinienkonformes Ergebnis erzielt, der Gesetzgeber hat keine Änderungen vorgenommen.27 Die Gerichte im United Kingdom haben die EuGH-Rechtsprechung ganz überwiegend umgesetzt, indem sie die Regelung zur Unübertragbarkeit des Mindesturlaubs um die Formulierung „außer wenn der Arbeitnehmer krankheitsbedingt nicht in der Lage oder gewillt war, den Urlaub zu nehmen und so den Mindestjahresurlaub nicht vollständig aufgebraucht hat“ erweiterte.28 Eine nähere Begründung findet sich in den einschlägigen Urteilen nicht.29 25
S. oben S. 160. S. oben S. 187. S. dort auch zur bereits 2007 erfolgten Auflockerung für den Fall der Nichtinanspruchnahme des Urlaubs aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit. 27 S. oben S. 59–62, 267–268. 28 S. oben S. 267. Der Ansatz eines ET, am Begriff “due” in der Verfallvorschrift anzuknüpfen, ist vereinzelt geblieben, s. ebenfalls oben S. 268. 29 Zur Begründung des ET in Shah v First West Yorkshire Ltd ET/1809311/09 im Rahmen der Frage, ob bereits festgesetzter Urlaub nachgeholt werden kann, s. unten S. 314–316. 26
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Das BAG hat nach dem Schultz-Hoff-Urteil das deutsche Urlaubsrecht richtlinienkonform in dem Sinne interpretiert, dass Mindesturlaubsansprüche, die krankheitsbedingt nicht im Urlaubsjahr genommen werden konnten, weder mit Ablauf des Urlaubsjahres noch nach Ablauf weiterer drei Monate verfallen. Es hat zunächst offengelassen, ob sich dieses Ergebnis im Wege der Auslegung erreichen lässt und sich auf eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung gestützt. Der Erhalt der Urlaubsansprüche entspreche dem Wortlaut, der Systematik und dem Zweck der einschlägigen Vorschrift, wenn man bei der Interpretation die Ziele des Art. 7 RL 2003/88/EG und den zu vermutenden Willen des Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Umsetzung beachte. Die für die teleologische Reduktion erforderliche Regelungslücke sei gegeben, weil der Fall der Erkrankung in den Gesetzesmaterialien nicht angesprochen werde und keine Anhaltspunkte für eine den Richtlinienzielen widersprechende Zielsetzung des deutschen Gesetzgebers gegeben seien.30 In einem späteren Urteil lässt das BAG offen, ob zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zu unterscheiden sei. Damit bleibt ebenfalls ungeklärt, auf welche der beiden methodischen Stufen sich das Gericht im Fall der krankheitsbedingten Aufrechterhaltung von Mindesturlaubsansprüchen bewegt. Es erwähnt erneut, dass aus den Gesetzesmaterialien nicht der eindeutige Wille des Gesetzgebers zu einer richtlinienwidrigen Regelung hervorgeht. Gleiches gelte für den Wortlaut des Gesetzes.31 b) Der Übertragungszeitraum aa) Gesetzliche Regelung in den Niederlanden und in Spanien Gesetzlich geregelt ist der Übertragungszeitraum in Spanien und in den Niederlanden. Die spanische Regelung, die einen Übertragungszeitraum von achtzehn Monaten festsetzt, bezieht sich genau genommen auf die Nachholbarkeit festgesetzten Urlaubs, der mit einer Erkrankung des Arbeitnehmers zusammenfiel.32 In den Niederlanden gilt für erkrankte Arbeitnehmer der sechsmonatige Übertragungszeitraum, wenn der betroffene Arbeitnehmer wiedereingliederungspflichtig ist, andernfalls unterliegt sein Anspruch der fünfjährigen Verjährungsfrist.33
30
S. oben S. 60–61. S. oben S. 61–62. 32 S. oben S. 239–240. Die Übertragbarkeit und der Verfall nicht festgesetzten Urlaubs bei Erkrankung des Arbeitnehmers werden weder in Rechtsprechung und Literatur thematisiert noch vom Gesetzgeber ausdrücklich behandelt. 33 S. oben S. 158–160. 31
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
bb) Richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland, Frankreich und im United Kingdom In Deutschland und im United Kingdom wurde richterrechtlich ein Übertragungszeitraum bestimmt. Für die Gerichte beider Länder spielt es eine Rolle, dass nach der KHS-Entscheidung Urlaubsansprüche im Fall der Erkrankung des Arbeitnehmers nicht länger als fünfzehn Monate nach Ablauf des Bezugszeitraums aufrechterhalten werden müssen. Sie wollen von der ursprünglichen nationalen Regelung ersichtlich nicht mehr als nötig abweichen.34 In Frankreich haben die C. cass. und der C. E. die Frage des Übertragungszeitraums unterschiedlich beurteilt.35 Das BAG behandelt den übertragenen Urlaub wie Urlaubsansprüche, die in dem Jahr erworben wurden, auf das der Urlaubsanspruch übertragen wurde. Für die übertragenen Urlaubsansprüche des erkrankten Arbeitnehmers gelte nun wieder das übliche Fristenregime, da eine weitere Privilegierung europarechtlich nicht geboten sei und auch der Ansatz des nationalen Rechts auf eine zeitnahe Verwirklichung des Urlaubs ziele. Der krankheitsbedingt übertragene Urlaub verfalle daher spätestens fünfzehn Monate nach Ablauf des Bezugszeitraums.36 Mit ähnlicher Argumentation gelangte das EAT zu einem Übertragungszeitraum von achtzehn Monaten. Die gesetzliche Regelung, die den Verfall zum Jahresende vorsieht, müsse zwar soweit wie möglich dahingehend interpretiert werden, dass das Ziel der RL 2003/88/EG erreicht wird. Die Ausnahme für erkrankte Arbeitnehmer müsse aber nicht weiter reichen als nach dem Richtlinienzweck erforderlich. Da danach ein Übertragungszeitraum von achtzehn Monaten ausreiche, sei die nationale Verfallregelung so zu lesen, dass erkrankte Arbeitnehmer, die ihren Urlaub nicht nehmen konnten oder wollten, ihn innerhalb von achtzehn Monaten nach Ablauf des Urlaubsjahres nehmen können.37 In Frankreich verfolgt der C. E. ebenfalls diese Linie. Er beruft sich auf den Zweck des Jahresurlaubs, der der unbegrenzten Ansammlung von Urlaubsansprüchen entgegenstehe. Angesichts dessen sei die nationale Regelung – ein Dekret zur Regelung des Urlaubs von Kommunalbeamten – nur so weit zu verwerfen, wie erforderlich. Sie sei so zu verstehen, dass der Mindesturlaub spätestens fünfzehn Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfällt.38 Dagegen lässt die C. cass. gegenüber dem staatlichen Arbeitgeber die im von
34
S. oben S. 63–64, 268–269. S. oben S. 188–190. 36 S. oben S. 63–64. 37 S. oben S. 268–269. 38 So die Argumentation in der jüngeren der beiden einschlägigen Entscheidungen, s. oben S. 189–190. 35
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ihr zu entscheidenden Fall einschlägigen richtlinienwidrigen Dienstvorschriften unangewendet und sieht keine Rechtsgrundlage für eine Beschränkung der Übertragbarkeit.39 Im Umgang mit richtlinienwidrigen Regelungen zum Übertragungszeitraum zeigen sich unterschiedliche Grundhaltungen zum Umgang mit richtlinienwidrigem Recht. Die Gerichte haben überwiegend versucht, so wenig wie möglich in die ursprünglichen Regelungen einzugreifen und diese so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. Die C. cass. hat sich dagegen allein damit befasst, einen richtlinienkonformen Zustand herzustellen. Mit der Nichtanwendung der richtlinienwidrigen Übertragungsregelung im Vertikalverhältnis ist dieses Ziel erreicht. Dass die Richtlinie Spielraum für einen Übertragungszeitraum lässt, ändert nach Auffassung der C. cass. nichts daran, dass im französischen Recht keine entsprechende Rechtsgrundlage gegeben ist. Beide Lösungen respektieren jeweils auf ihre Weise die gesetzliche Regelung. Wenn die Rechtsprechung die Norm mit anderem Inhalt aufrechterhält, gestaltet sie die Rechtslage für die Übergangszeit bis zu einer gesetzlichen Neuregelung aktiv, aber nicht losgelöst vom Gesetz. Nach dem anderen Ansatz nimmt die Rechtsprechung schlicht hin, dass die Regelung so, wie sie geschaffen wurde, nicht richtlinienkonform ist.40 Wenn die ursprüngliche Regelung soweit wie möglich aufrechterhalten wird, scheint das zwar dem Willen des Normgebers besser zu entsprechen. Allerdings erhält die Norm so nicht nur einen deutlich anderen Inhalt, es ist auch nicht gewährleistet, dass diese Lösung dem Willen des Schöpfers der jeweiligen Regelung tatsächlich entsprochen hätte. Er hätte die Frage möglicherweise gänzlich anders geregelt, wenn ihm die Anforderungen der Richtlinie bekannt gewesen wären. Beide Ansätze sind mit der richterlichen Aufgabe der Rechtsfindung grundsätzlich vereinbar. Ob die Korrektur der Rechtsprechung offen steht, hängt davon ab, ob sie nach den jeweiligen nationalen methodischen Regeln zulässig ist.41
39
S. oben S. 188. Dass das im Vertikal- und im Horizontalverhältnis unterschiedliche Folgen nach sich zieht, sollte die Entscheidung für die eine oder die andere Lösung nicht beeinflussen, da das auf der unterschiedlichen Wirkungsweise von Richtlinien im Vertikal- und im Horizontalverhältnis beruht, also unmittelbar mit den Charakteristika des Regelungsinstruments Richtlinie zusammenhängt. 41 Selbstverständlich kann der Gesetzgeber in jedem Fall eine richtlinienkonforme Regelung treffen, die von der Lösung der Rechtsprechung abweicht. Die Interpretationsfrage betrifft nur den Zeitraum bis zu einer Neuregelung. Dass eine Neuregelung möglicherweise unterbleibt, spricht weder dafür noch dagegen, die Regelung möglichst weitgehend aufrechtzuerhalten. 40
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c) Der Mehrurlaub Die Übertragbarkeit und gegebenenfalls der Verfall von Mehrurlaub sind in den untersuchten Ländern sehr unterschiedlich geregelt. In Spanien wird diese Frage nicht diskutiert und war auch, soweit ersichtlich, nicht Gegenstand der Rechtsprechung des TS. In den Niederlanden ist der Mehrurlaub ebenso wie der Mindesturlaub übertragbar. Es gilt aber nicht die sechsmonatige Verfallfrist, sondern die fünfjährige Verjährungsfrist.42 In Frankreich ist Mehrurlaub nach der Rechtsprechung der C. cass. und des C.E. dagegen nicht übertragbar.43 In Deutschland folgt der Mehrurlaub nach der Rechtsprechung des BAG den Regeln über den Mindesturlaub, wenn nicht individual- oder kollektivvertraglich etwas anderes vereinbart wurde.44 Ohne eine derartige Abrede ist der Mehrurlaub also übertragbar und verfällt im Krankheitsfall fünfzehn Monate nach Ablauf des Bezugszeitraums. Im United Kingdom ist die Situation umgekehrt. Vorbehaltlich einer abweichenden arbeitsvertraglichen Abrede verfällt Mehrurlaub dort gem. reg. 13A(7) WTR am Ende des Urlaubsjahres.45
5. Die Nachholbarkeit festgesetzten Mindesturlaubs bei Krankheit In Deutschland und in den Niederlanden ist gesetzlich geregelt, dass der Arbeitnehmer den Urlaub nachholen kann, wenn Urlaub und krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit zeitlich zusammenfallen.46 Auch Spanien hat inzwischen eine entsprechende gesetzliche Regelung. Bevor sie in Kraft trat, hat das TS in verschiedenen Schritten einen richtlinienkonformen Zustand hergestellt. Rein richterrechtliche (Teil-)Lösungen finden sich in Frankreich und im United Kingdom. Die Entscheidung des ET zur Nachholbarkeit von Urlaub im Krankheitsfall im Fall Shah v First West Yorkshire ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil das Gericht erläutert, wie es zur richtlinienkonformen Auslegung der einschlägigen Vorschrift gelangt.47 Zwar hatten zur Frage der Übertragbarkeit des Urlaubs im Krankheitsfall auch andere Gerichte im United Kingdom Worte in die Norm hineingelesen, um sie richtlinienkonform anwenden zu können. Sie hatten dabei aber nicht erläutert, wie sie dieses Hineinlesen von Worten im konkreten Fall begründen.48 Das ET stützt sich auf Recht42
S. oben S. 161. S. oben S. 190–191. 44 S. oben S. 66. 45 S. oben S. 269. 46 S. oben S. 66–67, 161–162. 47 S. oben S. 270–271. 48 S. oben S. 267–268. S. dort auch zu einem anderen Interpretationsansatz, der sich nicht durchgesetzt hat. 43
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sprechung des EAT und des House of Lords, aus der es ableitet, dass der Sinn einer Norm verändert werden kann, um eine richtlinienkonforme Lösung zu erreichen, wenn die Änderung mit dem der Norm zugrunde liegenden Zweck vereinbar ist. Da reg. 13(9) WTR dazu diene, dass der Arbeitnehmer Zeiten der Erholung von der Arbeit tatsächlich in Anspruch nimmt und dieses Ziel im Fall der Erkrankung nicht erreicht werden könne, sei in solchen Fällen eine Übertragung auf das Folgejahr mit dem Normzweck vereinbar.49 Wie man sieht, hat das Gericht den Normzweck auf einer recht allgemeinen Ebene festgelegt. Je allgemeiner der Normzweck bestimmt wird, umso weiter kann die Regelung angepasst werden. In Frankreich und Spanien verlief die Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung in diesem Punkt nicht ganz reibungslos. Das lag u.a. an der Unterscheidung zwischen Erkrankungen, die vor Urlaubsantritt auftreten, und solchen, die erst während des Urlaubs auftreten. Diese Unterscheidung hat in beiden Ländern eine Rolle gespielt, während sie in den anderen untersuchten Ländern nicht relevant ist.50 In Frankreich verneinte die C. cass. die Nachholbarkeit zunächst in sämtlichen Fällen. Eine Ausnahme galt nur, wenn die Krankheit vor Ablauf der Zeit endete, innerhalb derer im Betrieb der Urlaub gewährt wird.51 Die C. cass. hat sich nach den einschlägigen Entscheidungen des EuGH zwar noch nicht konkret zu Fällen geäußert, in denen es um die Nachholbarkeit des Urlaubs ging. Da sie aber inzwischen entschieden hat, dass noch nicht festgesetzter Urlaub im Krankheitsfall übertragen werden kann, dürfte Entsprechendes für die Nachholbarkeit bei Erkrankung vor Urlaubsantritt gelten.52 Zur Erkrankung während des Urlaubs ist der letzte Stand der Rechtsprechung der C. cass.– vor der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ANGED –, dass der Urlaub nicht nachholbar ist, weil der Arbeitgeber mit der Urlaubsgewährung seine Pflichten erfüllt hat.53 In Spanien schwankte die Rechtsprechung des TS zur Nachholbarkeit von Urlaub bei Erkrankung vor Urlaubsantritt. Das TS bejahte zunächst die Nachholbarkeit, lehnte sie dann ab und bejahte sie schließlich wieder. Für den Fall der Erkrankung während des Urlaubs lehnte sie dagegen durchgän-
49
S. oben S. 270–271. In Deutschland ist der Urlaub zwar nach dem Wortsinn der einschlägigen Regelung (nur) dann nachholbar, wenn die Erkrankung während des Urlaubs auftritt. Die Norm wird aber ohne Weiteres auch auf Fälle angewendet, in denen die Erkrankung vor Urlaubsantritt auftritt und dann bis in den Urlaub hinein andauert, s. oben S. 67. Im United Kingdom liegt, soweit ersichtlich, keine Entscheidung zu einem Fall vor, in dem die Erkrankung erst im Urlaub aufgetreten ist. Es bestehen aber keine Anhaltspunkte dafür, dass der Zeitpunkt der Erkrankung eine Rolle spielt. 51 S. oben S. 191–192. 52 S. oben S. 191. 53 S. oben S. 191–192. 50
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gig bis zum Jahr 2012 die Nachholbarkeit des Urlaubs ab.54 In den Entscheidungen vor 2009 bezog das TS meist die Entscheidung Merino Go´mez in seine Überlegungen ein, wobei es die Bedeutung des Urteils für den Fall der Krankheit unterschiedlich einschätzte.55 Ab 2009 zog es dann die Entscheidung Schultz-Hoff heran, um für den Fall der Erkrankung vor dem Urlaub die Nachholbarkeit des Urlaubs zu begründen. Das TS betonte, dass es nicht um eine unmittelbare Anwendung von Gemeinschaftsrecht gehe, sondern um die Auslegung mehrdeutigen nationalen Rechts und setzte sich ausführlich mit der Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts auseinander.56 Das Risiko der Erkrankung im Urlaub wies das Gericht aber ausdrücklich dem Arbeitnehmer zu. Das änderte sich erst im Jahr 2012 nach der ANGED-Entscheidung des EuGH. Das TS stellt dabei allerdings in erster Linie auf verfassungsrechtliche Überlegungen zum Urlaubszweck und anderweitige Erwägungen, die nicht auf die RL 2003/88/EG bezogen sind, ab. Das ANGEDUrteil bleibt eher im Hintergrund.57
6. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang mit Anpassungsbedarf Anpassungsbedarf hat sich aus der einschlägigen urlaubsrechtlichen Rechtsprechung für jedes der untersuchten Länder ergeben, wenn auch in unterschiedlichem Umfang. In den Niederlanden war lediglich eine Änderung zur Frage des Urlaubserwerbs bei Krankheit erforderlich. Im United Kingdom reichte in diesem Punkt die Entscheidung Schultz-Hoff, um einen Streit in der Rechtsprechung zu beenden. Eine gesetzgeberische Intervention hätte sich dort aber jedenfalls in den übrigen Punkten angeboten. In Frankreich ergab sich in allen Punkten Anpassungsbedarf, der sich nur teilweise ohne gesetzgeberisches Handeln lösen lässt. In Deutschland trat ein Konflikt nur hinsichtlich der Übertragbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung auf, der allerdings auch zu Diskussionen um den Übertragungszeitraum führte. In Spanien bestand hinsichtlich der Nachholbarkeit des Urlaubs im Krankheitsfall keine richtlinienkonforme Rechtslage. Nur in den Niederlanden und in Spanien wurden die infolge der EuGHRechtsprechung regelungsbedürftigen Punkte vollständig vom Gesetzgeber geregelt. Im United Kingdom und in Frankreich wurde jeweils nur das Erfordernis der Mindestbeschäftigungszeit abgeschafft, in Frankreich zudem mit erheblicher Verspätung. In Deutschland ist der Gesetzgeber nicht tätig
54
S. oben S. 229–234. S. oben S. 229–232. 56 S. oben S. 233–234. 57 S. oben S. 235–236. 55
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geworden. Damit ist bis heute in Deutschland, Frankreich und im United Kingdom ein richtlinienkonformer Zustand nur insoweit gegeben, wie die Rechtsprechung sich zu einer entsprechenden richtlinienkonformen Auslegung in der Lage sah. Unter vergleichenden Gesichtspunkten ist zunächst interessant, wie die nationalen Gerichte jeweils mit dem Richtlinienkonflikt ihres nationalen Rechts umgegangen sind. Da die konkrete Auslegungssituation die Möglichkeiten der richtlinienkonformen Interpretation entscheidend prägt, wird hier ferner betrachtet, ob und wie sich das jeweilige Umsetzungsdefizit aus der Perspektive der Gerichte der anderen untersuchten Länder im Wege der Interpretation hätte beheben lassen. Auch wenn das eine hypothetische Fragestellung ist, auf die sich keine gesicherten Antworten finden werden, ermöglicht es ein solcher Perspektivwechsel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang der Gerichte mit Umsetzungsdefiziten besser zu verstehen. a) Das Vorgehen der Gerichte Die Gerichte haben sich unterschiedlich anpassungsfreudig gezeigt. In Frankreich hat die C. cass. in den Fällen, in denen die Rechtslage richterrechtlich geprägt war, die Linie des EuGH übernommen. Sie hat ferner einen gesetzlichen Anknüpfungspunkt – die Regelung von Fehlzeiten aufgrund von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten – genutzt, um urlaubsrechtlich Fehlzeiten aufgrund von Wegeunfällen mit Arbeitszeit gleichzustellen. Die Gemeinsamkeit zwischen dem geregelten und dem ungeregelten Fall liegt darin, dass es sich jeweils um berufsbezogene Fehlzeiten handelt. Fehlzeiten aufgrund von Wegeunfällen haben einen vergleichbaren Bezug zur Arbeit wie Fehlzeiten aufgrund von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Deutliche Grenzen der richtlinienkonformen Interpretation treten aber zutage, wenn die C. cass. es ablehnt, nicht berufsbezogene Fehlzeiten und berufsbezogene Fehlzeiten, die über ein Jahr hinausgehen, ebenfalls als Arbeitszeit zu werten. Der Wortsinn allein kann, wie die Rechtsprechung zu wegeunfallbedingten Fehlzeiten zeigt, nicht ausschlaggebend dafür sein, ob die C. cass. die richtlinienkonforme Interpretation für möglich hält. Allerdings würde eine Ausdehnung auf weitere nicht erfasste krankheitsbedingte Fehlzeiten aus der Ausnahmevorschrift die Regel machen und so die gesetzliche Regelung wesentlich verändern. Dagegen lässt sich die Ausdehnung der Ausnahme auf wegeunfallbedingte Fehlzeiten eher als Zu-Ende-Denken der Norm verstehen. Ob das der Gesichtspunkt ist, der die richtlinienkonforme Interpretation begrenzt, oder andere Gesichtspunkte die Entscheidung der C. cass. geleitet haben, legt das Gericht nicht offen. Wie aus ihrer Ablehnung eines Übertragungszeitraums deutlich wird, sieht die C. cass. es zudem nicht als ihre Aufgabe an, im Zuge einer Anpassung an die von der Richtlinie gefor-
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derte Rechtslage in dem Punkt eine Regelung zu treffen, in dem der Gesetzgeber eine Wahl hat. In dieser Frage ist aber die Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Frankreich nicht einheitlich. Der C.E. ist vielmehr ersichtlich um die geringstmögliche Änderung der anzupassenden Regelung bemüht. In den Niederlanden bestand wenig Korrekturbedarf, den der Gesetzgeber auch bald aufgegriffen hat. Die Rechtsprechung war zur Frage der richtlinienkonformen Auslegung hinsichtlich des Erwerbs von Urlaubsansprüchen gespalten. Die Konstruktion im befürwortenden Urteil wurde in der Literatur kritisch bewertet. In der ablehnenden Entscheidung wurde darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber bewusst eine ausdrückliche Regelung zur Beschränkung des Urlaubsanspruchs getroffen habe, sodass eine richtlinienkonforme Auslegung contra legem wäre. Ein richtlinienkonformer Zustand lässt sich also im Wege der Auslegung nicht herstellen, wenn der Gesetzgeber einen bestimmten Gesetzesinhalt vorgesehen hat, der sich als richtlinienwidrig erweist. Wie in den Niederlanden hat in Spanien der Gesetzgeber das nationale Recht korrigiert. Bis das geschah, hat das TS die einschlägigen Entscheidungen in seiner Rechtsprechung berücksichtigt und – in dem Umfang, wie das Gericht es nach diesen Urteilen für erforderlich hielt – das nationale Recht angepasst. Dabei legte es Wert darauf, dass das nationale Recht insofern auch tatsächlich auslegungsfähig war und hat die Auslegungsfähigkeit in seinen Urteilen ausführlich dargelegt. Die Richtlinie ist damit eher Hintergrund der Auslegung, auch wenn die Veränderungen in der Auslegung des nationalen Rechts durch EuGH-Rechtsprechung angestoßen wurden. Die Gerichte im United Kingdom haben ihre Rechtsprechung ohne Schwierigkeiten und meist ohne Begründung des Auslegungsvorgangs an die Vorgaben des EuGH angepasst. Soweit die Anpassung erläutert wird, heißt es, der Sinn einer Norm könne durch das Hineinlesen von Worten verändert werden, um eine richtlinienkonforme Lösung zu erreichen, wenn die Änderung mit dem der Norm zugrundeliegenden Zweck vereinbar ist. Da es bei diesem Zweck nicht um die Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.e.S. geht, sondern um seine Regelungsabsicht i.w.S., eröffnet das recht weitgehende Auslegungsmöglichkeiten.58 Das gilt umso mehr, als es nicht darum geht, diese Regelungsabsicht i.w.S. möglichst gut zur Geltung zu bringen. Vielmehr ist lediglich zu klären, ob die richtlinienkonforme Lösung mit ihr vereinbar ist. Nach diesem Ansatz setzen weder der Wortsinn noch die Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.e.S. der richtlinienkonformen Auslegung Grenzen. Das richtlinienkonforme Verständnis der Norm wird bei Umsetzungsrecht ferner mit der tatsächlichen oder vermuteten Absicht des Gesetz-
58
Zu den Begriffen der Regelungsabsicht i.e.S. und i.w.S. s. oben S. 111–112.
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gebers, die Richtlinie korrekt umzusetzen, in Verbindung gebracht. Dieser Gedanke ist aber jedenfalls heutzutage für die richtlinienkonforme Auslegung nicht mehr tragend, da er auf die Auslegung von Nicht-Umsetzungsrecht nicht einwirkt. Die Umsetzungsvermutung spielt dagegen in der Rechtsprechung des BAG auch bei Nicht-Umsetzungsrecht eine entscheidende Rolle. Ob die Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.w.S. relevant sein soll oder eine Umsetzungsvermutung, die zumindest bei Nicht-Umsetzungsrecht für sich betrachtet schon zweifelhaft ist, sich aber nach hier vertretener Auffassung jedenfalls gegenüber konkreten Regelungsabsichten des Gesetzgebers nicht durchsetzt,59 bewirkt einen wesentlichen Unterschied in der Argumentation. Im Übrigen geht das BAG ähnlich vor wie die Gerichte im United Kingdom. Entscheidend ist für das Gericht, ob Wortsinn und Materialien einem richtlinienkonformen Normverständnis eindeutig entgegenstehen. Wenn sich, wie im Fall der Übertragung des Urlaubs bei Erkrankung, argumentieren lässt, dass eine bestimmte Fallgestaltung möglicherweise nicht bedacht wurde, ist die richtlinienkonforme Auslegung möglich. Auch nach diesem Ansatz setzen der Wortsinn und die gesetzgeberische Regelungsabsicht i.e.S. der richtlinienkonformen Auslegung keine unüberwindbaren Grenzen. In beiden Ländern scheinen allerdings die Gerichte den Eingriff in die ursprüngliche Regelung so gering wie möglich halten zu wollen, denn in beiden Ländern wurde der Übertragungszeitraum für krankheitsbedingt nicht genommenen Urlaub (auch) damit begründet, dass die Richtlinie keine unbegrenzte Übertragbarkeit fordere. Insgesamt zeigt sich darin eine große Bereitschaft, nationales Recht im Wege der Auslegung an die Anforderungen der Richtlinie anzupassen. b) Der Einfluss der unterschiedlichen Auslegungssituationen In den hier untersuchten urlaubsrechtlichen Fragen haben sich also die Niederlande und Frankreich vergleichsweise zurückhaltend bei der richtlinienkonformen Auslegung gezeigt, während Deutschland, Spanien und das United Kingdom (mehr) Spielraum für eine geänderte Interpretation des nationalen Rechts sahen. Allerdings ist fraglich, ob die Gerichte der jeweils anderen Länder die Auslegungsfragen eines Landes anders beantwortet hätten. Diese Frage lässt sich zwar letztlich schon deshalb nicht beantworten, weil die Gerichte nicht immer offengelegt haben, wo sie die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung sehen. Die Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung wird aber maßgeblich durch die konkrete Auslegungssituation mitbestimmt, sodass es sinnvoll ist, den Rahmen, innerhalb dessen sich die jeweilige Auslegungsfrage stellte, in den Blick zu nehmen. Zumindest 59
S. oben S. 133–136.
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in einigen Punkten bedingte wohl eher die konkrete Auslegungsfrage in ihrem jeweiligen normativen Kontext ein negatives oder positives Ergebnis als das Maß der Bereitschaft, sich um eine richtlinienkonforme Auslegung zu bemühen. aa) Nicht ausreichende allgemeine Regelung zur Übertragbarkeit von Urlaub In Deutschland besteht eine Regelung, nach der Urlaub unter bestimmten Umständen auf das Folgejahr übertragen werden kann, dann allerdings in den ersten drei Monaten genommen werden muss. Das BAG erzielt für den Krankheitsfall ein richtlinienkonformes Ergebnis, indem es die Norm richtlinienkonform interpretiert und den dreimonatigen Übertragungszeitraum auf Krankheitsfälle nicht anwendet. Es stützt sich maßgeblich darauf, dass weder der Wortlaut noch die Gesetzesmaterialien erkennen lassen, dass der Gesetzgeber eindeutig eine richtlinienwidrige Regelung treffen wollte. Der Fall der Erkrankung sei möglicherweise nicht bedacht worden.60 Da § 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG hinsichtlich der die Übertragung rechtfertigenden persönlichen Gründe nicht weiter differenziert, spricht der Wortsinn einer Norm nach dieser Rechtsprechung wohl nur dann für den Willen, eine richtlinienwidrige Regelung zu treffen, wenn der nach der Richtlinie zu privilegierende Fall ausdrücklich in die sprachlich diesen Fall bereits erfassende Vorschrift einbezogen ist.61 Selbst dann dürfte aber die deutsche Rechtsprechung bei Umsetzungsrecht unter Rückgriff auf den Umsetzungswillen des Gesetzgebers eine Interpretationsmöglichkeit sehen. Ähnlich ist die Situation im United Kingdom. Dort ist der Mindesturlaub generell nicht übertragbar. Ein ET hat dennoch festgesetzten Urlaub, der krankheitsbedingt nicht genommen werden konnte, für nachholbar erklärt, indem es entsprechende Worte in reg. 13(9) WTR hineingelesen hat. Eine solche Veränderung des Gesetzes zugunsten einer richtlinienkonformen Lösung sei möglich, wenn sie, wie hier, mit dem der Norm zugrunde liegenden Zweck vereinbar sei.62 Auch die über den Wortsinn des BUrlG hinausgehende Lösung des BAG zur Übertragbarkeit von Urlaub im Krankheitsfall kann als Hineinlesen von Worten beschrieben werden. Die Begründung ist allerdings unterschiedlich. Das BAG macht geltend, dass der Fall der Erkrankung möglicherweise nicht bedacht wurde und der Wille zu einer richtlinienwidrigen Regelung nicht erkennbar sei. Dagegen argumentiert das EAT positiv mit dem Zweck des Gesetzes, der die Änderung i.S.d. richtlinienkonformen Verständnisses zulässt.
60
S. oben S. 63–64. Etwa in der Art: „Nicht genommener Urlaub verfällt am Ende des Kalenderjahres. Das gilt auch, wenn der Urlaub krankheitsbedingt nicht genommen werden konnte.“ 62 S. oben S. 269–271. 61
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In den Niederlanden können die Gerichte unter Umständen einen Auslegungsspielraum haben, wenn eine allgemeine Regelung einen Fall erfasst, der nach der einschlägigen Richtlinie anders zu behandeln ist. Zwar zeigte sich die niederländische Rechtsprechung bei der Auslegung der Regelung, die den Urlaubserwerb im Krankheitsfall zeitlich auf die letzten sechs Monate beschränkte, zurückhaltend. Das entspricht der Rechtsprechung des Hoge Raad, nach der der Wortsinn der Norm eine richtlinienkonforme Auslegung hindern kann. Die einschlägige Regelung sah aber ausdrücklich und ausschließlich eine nach der Arbeitszeitrichtlinie nicht zulässige Beschränkung vor, ließ also keinen Spielraum für eine Interpretation, die ein richtlinienkonformes Ergebnis bewirkte und die Norm zumindest in einem Teilbereich unberührt ließ. Das ist eine andere Situation als die, in der eine allgemeine Regelung für manche Fälle enger gefasst werden müsste, um der Richtlinie zu entsprechen. Der Hoge Raad hat in anderen Entscheidungen den Wortsinn zurücktreten lassen, weil der Gesetzgeber den Willen zur Umsetzung gehabt und den nun problematischen Fall nicht ins Auge gefasst habe.63 Dass der Gesetzgeber den Fall der Erkrankung nicht bedacht habe, ist gerade das Argument des BAG, sodass auch der Hoge Raad in einer derartigen Konstellation zu einem richtlinienkonformen Ergebnis kommen könnte. Entscheidend dürfte sein, ob der Hoge Raad die Regelung als unbewusst unvollständig ansähe. Die Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung hängt damit an der allgemeinen Frage, ob eine Regelung, die bestimmte Ausnahmen nicht vorsieht, diese Fälle tatsächlich erfassen soll oder nicht. Aus den Urteilen der C. cass. lässt sich ableiten, dass sie den Wortsinn grundsätzlich als begrenzend ansieht.64 Allerdings sah sie sich auch in der Lage, die Regelung zur Anrechnung von Fehlzeiten, die auf einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit beruhen, auf wegeunfallbedingte Fehlzeiten auszudehnen.65 Dass die C. cass. aufgrund eines Richtlinienverstoßes im nationalen Recht ohne weitere Anhaltspunkte annimmt, der Gesetzgeber habe einen vom Wortsinn erfassten Fall nicht bedacht, ist nach ihrer bisherigen Rechtsprechung aber nicht zu erwarten. Auch die Rechtsprechung des TS lässt nicht den Schluss zu, dass eine derartige richtlinienkonforme Auslegung möglich wäre. Im urlaubsrechtlichen Kontext hatte das TS keine entsprechende Auslegungskonstellation zu entscheiden. In anderem Zusammenhang hat es zwar ausgeführt, dass nicht allein der Wortsinn ausschlaggebend sei. Allerdings heißt es in denselben Entscheidungen, eine richtlinienkonforme Auslegung komme nur in Betracht, wenn die nationale Norm verwirrend und unvollständig ist. Eine Kor-
63
S. oben S. 154–155, 167–170. Vgl. oben S. 213–218. 65 S. oben S. 182. 64
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
rektur eindeutig richtlinienwidrigen Rechts sei nicht möglich.66 In einem weiteren Urteil hat das TS zwar dem zu vermutenden Umsetzungswillen großes Gewicht beigemessen und so Argumente aus dem Wortsinn und der Entstehungsgeschichte zurücktreten lassen.67 Dass es allerdings bei Altrecht, wie es der Entscheidung des BAG zugrunde lag, so argumentieren würde, ist nicht ersichtlich. In dieser Konstellation zeigen sich also Unterschiede in der Reichweite der richtlinienkonformen Interpretation in den untersuchten Ländern. Zwar ist die Argumentation in Deutschland und im United Kingdom unterschiedlich. In beiden Ländern wird aber eine unzulässige Beschränkung des Urlaubsanspruchs im Wege der Auslegung beseitigt. Mit einer ähnlichen Begründung wie das BAG könnte unter Umständen auch der Hoge Raad zu einem richtlinienkonformen Ergebnis gelangen. Im Gegensatz zur Rechtsprechung in diesen Ländern lässt weder die französische noch die spanische Rechtsprechung erkennen, dass eine derartige richtlinienkonforme Auslegung möglich wäre. bb) Zu eng gefasste Ausnahmeregelung In Frankreich ist der Urlaubsanspruch zwar inzwischen nicht mehr von einer Mindestarbeitsleistung im Bezugszeitraum abhängig. Krankheitsbedingte Fehlzeiten wirken sich dennoch negativ auf den Urlaubsanspruch aus, weil die Dauer des Urlaubs grundsätzlich von der tatsächlichen Arbeitsleistung abhängt und krankheitsbedingte Fehlzeiten nicht vollständig der Arbeitsleistung gleichgestellt sind. Die C. cass. sah sich nicht in der Lage, die einschlägige Regelung, die eine Ausnahme für arbeitsunfallbedingte Fehlzeiten bis zur Dauer von einem Jahr vorsieht, auf sämtliche Krankheitsfälle anzuwenden und die zeitliche Begrenzung fallen zu lassen. Sie erstreckte die Ausnahmevorschrift lediglich auf wegeunfallbedingte Fehlzeiten. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass die C. cass. bei der richtlinienkonformen Auslegung zurückhaltender ist als die Gerichte der übrigen Länder. Wie nachfolgend zu zeigen ist, wären diese in einer entsprechenden Auslegungssituation ebenfalls an ihre Grenzen gestoßen. Argumentiert man wie im United Kingdom mit dem Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, lassen sich wegeunfallbedingte Fehlzeiten in die Regelung einbeziehen. Gerichte im United Kingdom könnten möglicherweise darüber hinaus die zeitliche Grenze für die Berücksichtigung berufsbezogener Fehlzeiten im Wege der Interpretation überwinden, wenn sie den Zweck der Regelung darin sähen, berufsbezogene Fehlzeiten nicht allein dem Risikobereich des Arbeitnehmers zuzuweisen. Sieht man die Stoßrichtung des 66 67
S. oben S. 255–256. TS 17.10.2016 ES:TS:2016:4408, s. oben S. 256.
I. Anpassungsbedarf und Veränderungen im Urlaubsrecht
323
Gesetzes insoweit in der Entlastung erkrankter Arbeitnehmer, lässt sich eine Interpretation, die die zeitliche Grenze entfallen lässt, mit ihr vereinbaren, auch wenn sie über die ursprüngliche Regelung hinausgeht. Allerdings verbliebe für die zeitliche Grenze dann kein Anwendungsbereich, was möglicherweise als zu weitgehende Interpretation gewertet würde. Nicht berufsbezogene Erkrankungen lassen sich nach diesem Ansatz jedenfalls nicht einbeziehen. Aus der Perspektive des BAG dürften wegeunfallbedingte Fehlzeiten ebenfalls einbeziehungsfähig sein, da nicht ersichtlich ist, dass Wortsinn und Materialien dieser Lösung entgegenstehen. Dagegen lassen sich angesichts des Ausnahmecharakters der Vorschrift und der klaren Jahresgrenze die berücksichtigungsfähigen Fehlzeiten zeitlich nicht ausdehnen. Ebenso wenig lassen sich Fehlzeiten einbeziehen, deren Ursache nicht berufsbezogen ist, wenn die Regelung nicht ihren ursprünglichen Sinn völlig verlieren soll. Der Ansatzpunkt, der Gesetzgeber habe an diese Fälle möglicherweise nicht gedacht, ist nicht gegeben, wenn eigens für bestimmte Fälle (und eine bestimmte Dauer) eine Sonderregel zur Berücksichtigungsfähigkeit getroffen wird. In Spanien legt die Rechtsprechung großen Wert darauf, die Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts festzustellen. Die urlaubsrechtliche Frage, die sich dort stellte, war nicht gesetzlich geregelt, sodass sich das TS stark auf verfassungsrechtliche Erwägungen zum Urlaubszweck und Regelungen aus dem IAO-Übereinkommen Nr. 132 stützte. Es ging, anders als in Frankreich, nicht darum, ob und gegebenenfalls wie weit sich eine ausdrückliche Regelung ausdehnen ließ. Aus anderen Entscheidungen zur richtlinienkonformen Auslegung lässt sich ableiten, dass das TS die Auslegungskriterien im Rahmen der richtlinienkonformen Interpretation flexibel gewichtet.68 Es ist also gut möglich, dass es eine Norm wie die französische Ausnahmeregelung zur Berücksichtigung krankheitsbedingter Fehlzeiten mit Blick auf den Normzweck auf wegeunfallbedingte Fehlzeiten ausgedehnt hätte. Die Einbeziehung nicht berufsbezogener krankheitsbedingter Fehlzeiten, mit der die Ausnahmeregel zur generellen Anrechnungsregel würde, lässt sich mit einer flexiblen Gewichtung von Auslegungskriterien aber nicht erzielen. Auch die zeitliche Grenze lässt sich so nicht beseitigen. In den Niederlanden hat der Hoge Raad zwar entschieden, dass eine richtlinienkonforme Auslegung möglich ist, wenn der Gesetzgeber den Willen zur Umsetzung hatte, den nun problematischen Fall aber nicht bedacht hat.69 Er hat aber auch in mehreren Fällen eine richtlinienkonforme Auslegung unter Berufung auf den entgegenstehenden Wortsinn der betroffenen Norm abge-
68 69
S. oben S. 253–258. S. oben S. 168.
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
lehnt.70 Der französische Gesetzgeber hat eigens eine Ausnahme geschaffen, um bestimmte krankheitsbedingte Fehlzeiten der Arbeitsleistung gleichzustellen. Dabei mag man argumentieren, dass der Gesetzgeber die wegeunfallbedingte Fehlzeit als vergleichsweise ähnlichen Fall übersehen hat. Weder die zeitliche Beschränkung noch die Nichtberücksichtigung nicht berufsbezogener Fehlzeiten lässt sich aber im Wege der Auslegung korrigieren, da so die gesetzliche Regelung im Ergebnis aufgehoben würde. An diesem Auslegungsproblem zeigt sich, dass die richtlinienkonforme Interpretation sich schwieriger gestalten kann, wenn der Gesetzgeber zumindest einen Teil der zu privilegierenden Fälle korrekt erfasst hat, als wenn er die erforderliche Privilegierung vollständig nicht beachtet hat. Das mag auf den ersten Blick überraschen, da im zuerst genannten Fall weniger zu korrigieren ist als im zweiten Fall. Allerdings lässt sich schlechter argumentieren, dass das richtlinienkonforme Normverständnis dem Regelungswillen zumindest nicht zuwiderläuft (wenn nicht gar entspricht), wenn der Gesetzgeber einen Teil der zu privilegierenden Fälle korrekt geregelt hat. Denn seine Regelung zeigt, dass er sich mit dem Problemkreis befasst hat. cc) Konkrete richtlinienwidrige Beschränkung Die bis zur Änderung durch den Gesetzgeber geltende niederländische Regelung beschränkte den Erwerb von Urlaubsansprüchen im Krankheitsfall ausdrücklich auf die letzten sechs Monate. Nach der Gesetzesbegründung sollte so das Ansammeln von Urlaubsansprüchen verhindert und die Kosten für die Arbeitgeber überschaubar gehalten werden.71 Stellt man mit dem BAG darauf ab, ob Wortsinn und Materialien einem richtlinienkonformen Normverständnis eindeutig entgegenstehen, müsste man diese Frage wohl bejahen. Auch lässt sich kaum sagen, dass die Änderung mit dem der Norm zugrundeliegenden Zweck vereinbar wäre, sodass Gerichte im United Kingdom ebenfalls zu einem ablehnenden Ergebnis kommen müssten. Untersucht man nach Art der spanischen Rechtsprechung die Auslegungsfähigkeit des niederländischen Rechts intensiv, findet sich ebenfalls kein Ansatzpunkt für ein richtlinienkonformes Verständnis. Die C. cass. beruft sich in einigen Fällen auf die Wortsinngrenze und lehnt es ab, eine nationale Regelung richtlinienkonform zu interpretieren, die in klarem Widerspruch zur Richtlinie steht,72 sieht aber dennoch die Möglichkeit, die Regelung zur Anrechenbarkeit bestimmter krankheitsbedingter Fehlzeiten als Arbeitszeit über ihren Wortsinn hinaus auszudehnen73. Auch wenn die C. cass. nicht offen legt,
70
S. oben S. 167. Kamerstukken II 1985/86, 19 575, Nr. 3, S. 8. 72 S. oben S. 186. 73 S. oben S. 182–183. 71
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unter welchen Umständen sie sich durch den Wortsinn einer nationalen Regelung an einer richtlinienkonformen Auslegung gehindert sieht, ist immerhin erkennbar, dass sie im Fall der Ausdehnung des Art. L3141-5 C. trav. an eine vorhandene Ausnahme anknüpft. Da nach der inzwischen gestrichenen niederländischen Regelung sämtliche krankheitsbedingten Fehlzeiten nur bis zur Dauer von sechs Monaten zu berücksichtigen waren, fehlt es an einem derartigen Ansatzpunkt. Es spricht daher vieles dafür, dass die C. cass. die Auslegungsfähigkeit der niederländischen Regelung verneinen würde. Nach dem Vorgehen der Gerichte in den übrigen untersuchten Ländern hätte also die niederländische Regelung ebenfalls nicht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung korrigiert werden können. Es wäre daher nicht gerechtfertigt, aus der Entscheidung dieser Auslegungsfrage zu schließen, dass die Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung im niederländischen Urlaubsrecht geringer ist als in diesen Ländern. dd) Fehlende gesetzliche (Detail-)Regelung Einige der Auslegungsfragen betreffen Aspekte des Urlaubsanspruchs bei Krankheit, die gesetzlich weder konkret noch durch eine allgemeine urlaubsrechtliche Vorschrift geregelt sind. So behandelt der C. trav. weder die Übertragung noch nicht festgesetzten Urlaubs noch die Nachholbarkeit festgesetzten Urlaubs im Krankheitsfall. Die C. cass. hat die Frage der Übertragbarkeit unter Hinweis auf den Urlaubszweck, wie er sich aus der RL 2003/88/EG ergibt, positiv entschieden und sich zur Nachholbarkeit nach Erlass des ANGED-Urteils noch nicht wieder geäußert. Im United Kingdom ist die Frage des Erwerbs von Urlaubsansprüchen bei Krankheit nicht gesetzlich geregelt. Ob der Arbeitnehmer an Krankheitstagen Urlaubsansprüche erwirbt, war im United Kingdom streitig. Die Uneinigkeit in diesem Punkt wurde durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache SchultzHoff aufgelöst.74 In Spanien regelte das ET die Nachholbarkeit des Urlaubs im Krankheitsfall bis 2012 nicht. Das TS hat vor der Änderung des ET in diesem Punkt in zwei Schritten einen richtlinienkonformen Zustand hergestellt, indem es sich zunächst für die Nachholbarkeit des Urlaubs bei Erkrankung vor Urlaubsantritt ausgesprochen und später den Fall der Erkrankung im Urlaub gleichgestellt hat. Auf den ersten Blick ist die Anpassung einfacher, wenn es nicht um die richtlinienkonforme Interpretation einzelner nationaler Normen geht, sondern die Frage im nationalen Urlaubsrecht weder allgemein noch konkret geregelt ist. Die Entwicklung in Spanien zeigt aber, dass auch in solchen Fällen die Anpassung der Rechtsprechung nicht unerheblichen Argumentationsaufwand mit sich bringen kann. Denn auch wenn eine Frage in dem 74
S. oben S. 264–265.
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
betroffenen Rechtsgebiet nicht gesetzlich in einem bestimmten Sinn geregelt ist, kann die Rechtsprechung in der Dogmatik des jeweiligen Rechtsgebiets oder des Zivilrechts verwurzelt und damit aus rein nationaler Perspektive nicht so leicht veränderlich sein. Dementsprechend hat sich das TS sowohl zur Frage der Übertragbarkeit als auch zu der der Nachholbarkeit von Urlaub im Krankheitsfall ausführlich damit auseinandergesetzt, ob eine richtlinienkonforme Lösung mit dem nationalen Recht vereinbar ist.75 Die entscheidende Frage bei der Anpassung der Rechtsprechung in solchen Fällen ist, ob das Auslegungsproblem tatsächlich als ungeregelte Frage einzuordnen ist oder die einschlägigen Regelungen oder das allgemeine Zivilrecht eine bestimmte Entscheidung zumindest nahelegen, auch wenn sie sie nicht ausdrücklich vorschreiben. Wenn der Verfall des Urlaubs am Ende des Kalenderjahres im Gesetz weder positiv noch negativ geregelt ist, kann man die Frage als offen bezeichnen. Man kann aber den Regelungskomplex Urlaub auch so deuten, dass die Übertragbarkeit nicht vorgesehen ist, damit Urlaub auch tatsächlich genommen wird und seine positive Wirkung entfalten kann. In diesem Licht betrachtet ist das Schweigen des Gesetzgebers eine Negativregelung, die nicht unbedingt leichter zu korrigieren ist als eine ausdrückliche Regelung, wie sie sich z.B. in reg. 13(9)(a) WTR findet. Letztlich lässt sich also aus der hier berücksichtigten Rechtsprechung der Länder nicht ableiten, wie flexibel die Gerichte bei der Anpassung ihrer Rechtsprechung zu gesetzlich offenen Fragen sind, weil die Anpassungsmöglichkeiten zu sehr vom jeweiligen rechtlichen Kontext abhängen. Allerdings dürfte das BAG in derartigen Situationen insofern nicht allzu viel Mühe mit einer richtlinienkonformen Lösung haben, als ihr mangels gesetzlicher Regelung weder der Wortsinn noch der Sinn und Zweck einer nationalen Norm entgegenstehen. ee) Begrenzung notwendiger Korrekturen Mit der Richtlinie 2003/88/EG ist es vereinbar, wenn Urlaub im Krankheitsfall zeitlich unbegrenzt übertragbar ist. Ein fünfzehnmonatiger – oder längerer – Übertragungszeitraum ist zulässig, aber nicht europarechtlich notwendig. Wenn die Gerichte einen solchen Übertragungszeitraum vorsehen, geht es also allein um eine sachgerechte und/oder möglichst nah an der bisherigen Regelung liegende Lösung. Wie die Gerichte anderer Länder die Frage gelöst hätten, lässt also keine Schlüsse auf die Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung zu. Dennoch soll dieser Punkt hier kurz vergleichend betrachtet werden. Das BAG begründet den fünfzehnmonatigen Übertragungszeitraum, indem es nach der einmaligen Übertragung des Urlaubs ohne Begrenzung auf die ersten drei Monate des Folgejahres wieder auf den gesetzlich vorgesehe75
S. oben S. 233–236.
I. Anpassungsbedarf und Veränderungen im Urlaubsrecht
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nen Übertragungsmechanismus mit Verfallfrist zurückgreift. Einen derartigen Anknüpfungspunkt bieten die anderen Rechtsordnungen nicht. Offen ist, wie die niederländischen Gerichte entschieden hätten, da sich dort die Frage nicht gestellt hat, ob und wie die Anpassung an europäische Vorgaben zur Übertragbarkeit des Urlaubs im Krankheitsfall erfolgt, wenn das nationale Gesetz die Frage nicht ausdrücklich regelt. In Frankreich ist die Rechtsprechung hinsichtlich des Übertragungszeitraums gespalten. Die C. cass. stellt schlicht fest, dass eine entsprechende Regelung fehlt. Der C.E. interpretiert dagegen die unzulässige Beschränkung auf das Kalenderjahr durch das einschlägige Jahresurlaubsdekret als Beschränkung auf fünfzehn Monate nach Ablauf des Kalenderjahres. Die nationale Regelung werde so nur soweit wie nötig verworfen.76 Mit diesem Argument gelangt auch die Rechtsprechung im United Kingdom zu einem Übertragungszeitraum, der allerdings achtzehn Monate beträgt.77 In Spanien hat sich die Frage des Übertragungszeitraums für das TS bis zum Inkrafttreten des Art. 38.3 UAbs. 3 ET nicht gestellt.78 Allerdings hat das TS seine Rechtsprechung zur Nachholbarkeit von Urlaub nur schrittweise aufgegeben,79 was den Gedanken widerspiegelt, dass es (auch) richtlinienbedingte Änderungen im nationalen Recht nur so weit wie nötig vornimmt. Letztlich lässt sich aber aus seiner Rechtsprechung nicht ableiten, ob es einen Übertragungszeitraum vorgesehen hätte oder nicht. Insgesamt kann man lediglich feststellen, dass die Gerichte im United Kingdom und zum Teil in Frankreich ebenso wie das BAG eine möglichst geringe Veränderung des nationalen Rechts angestrebt haben. ff) Zusammenfassung Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, hängt die Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung wesentlich von der konkreten Auslegungssituation ab. In der Konstellation der nicht ausreichenden allgemeinen Regelung zur Übertragbarkeit von Urlaub haben Gerichte in Deutschland und im United Kingdom einen vergleichsweise großen Spielraum für richtlinienkonforme Lösungen, weil nach ihrer Rechtsprechung der Wortsinn einer Norm ihrer richtlinienkonformen Auslegung nicht entgegensteht. Zwar gehen die Gerichte anderer Länder unter Umständen ebenfalls über den Wortsinn der auszulegenden Norm hinaus. Sie sind insofern aber zurückhaltender. Wenn der Gesetzgeber eine Ausnahmeregelung zu eng gefasst oder eine konkrete richtlinienwidrige Beschränkung vorgesehen hat, ist die richtlinienkonforme Interpretation in allen untersuchten Ländern schwierig. Es lässt
76
S. oben S. 188–190. S. oben S. 268–269. 78 S. oben S. 239–240. 79 S. oben S. 233–236. 77
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
sich nicht erkennen, dass die Gerichte der anderen Länder weitergehende Ergebnisse hätten erzielen können, wenn sie auf eine solche Auslegungssituation getroffen wären. Fehlt eine gesetzliche (Detail-)Regelung, so sind die Möglichkeiten zur richtlinienkonformen Auslegung stark kontextabhängig. In diesem Fall mag aber eine offenere Grundhaltung zur richtlinienkonformen Auslegung eher zu einem richtlinienkonformen Ergebnis führen, da die Interpretation nicht auf eine konkrete Regelung bezogen ist. Das lässt sich nutzen, um Spielräume für eine richtlinienkonforme Interpretation zu begründen.
II. Die Auslegung von Gesetzen Die Ausführungen zum Urlaubsrecht belegen nicht nur den unterschiedlichen Umgang der verschiedenen Gesetzgeber und Gerichte mit den urlaubsrechtlichen Fragen, sondern zeigen auch die methodischen Probleme auf, die die richtlinienkonforme Auslegung mit sich bringt. Da die richtlinienkonforme Auslegung sich im Rahmen der nationalen Methoden abspielt, wurde für die einzelnen Länder untersucht, welche methodischen Regeln für die Auslegung von Gesetzen gelten, bevor die richtlinienkonforme Auslegung in den Blick genommen wurde. Die Diskussion zur Auslegung von Gesetzen ist in den untersuchten Ländern unterschiedlich breit. Zumindest in den Details gehen die Auffassungen stark auseinander, was z.B. die Unterschiede bei den vermittelnden Ansätzen zum Auslegungsziel zeigen. Immerhin lassen sich bestimmte Aspekte und Argumentationsmuster ausmachen, die länderübergreifend eine Rolle spielen. So geht es in den Diskussionen um das Auslegungsziel und die objektivteleologische Auslegung oft um die Anpassungsfähigkeit des Rechts. Unter den Auslegungskriterien kommt dem Wortsinn eine wichtige Stellung zu. Dagegen ist umstritten, welche Bedeutung die Gesetzgebungsmaterialien für die Auslegung haben. Die nachstehende Zusammenfassung der Aussagen aus den Länderberichten zeichnet die Schwerpunkte der Diskussion nach. Dabei zielen die Ausführungen nicht auf einen Vergleich der Auslegungsmethoden der einzelnen Länder. Sie sollen vielmehr zeigen, wie viel (oder wenig) Klarheit in methodischen Fragen in rein nationalem Kontext besteht, da die nationalen Auslegungsregeln die Basis für die richtlinienkonforme Auslegung bilden.
1. Das Auslegungsziel Soweit das Auslegungsziel überhaupt diskutiert wird, zeigt sich in Deutschland, den Niederlanden und Frankreich eine Tendenz zu vermittelnden Positionen. Der Wille des Gesetzgebers ist danach nicht allein maßgeblich, aber
II. Die Auslegung von Gesetzen
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auch nicht zu vernachlässigen.80 Derartige vermittelnde Ansätze lassen freilich viel Spielraum für Nuancierungen. So findet sich bei Autoren verschiedener Länder der Hinweis, dass letztlich der objektive Sinn des Gesetzes im Zeitpunkt der Auslegung relevant sei.81 Umgekehrt wird auch über die Ländergrenzen hinweg vertreten, dass der Wille des Gesetzgebers nur dann nicht maßgeblich ist, wenn er nicht ermittelt werden kann oder die streitige Frage ungeregelt ist.82 Die Bedeutung des Willens des Gesetzgebers wird nicht selten mit dem Alter der auszulegenden Norm verknüpft: Die Orientierung am gesetzgeberischen Willen sei bei neuen Gesetzen stets angebracht, dagegen komme der Absicht des Gesetzgebers bei älteren Gesetzen weniger Gewicht zu.83 Vereinzelt geblieben ist die – abzulehnende – Auffassung, nach der eine objektive Auslegung generell nicht in Betracht kommt.84 Da die Abgrenzung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung außerhalb Deutschlands weniger stark diskutiert wird, ist nicht verwunderlich, dass dieser Ansatz aus Deutschland stammt. In Spanien überwiegen Stellungnahmen zugunsten der objektiven Theorie. Eine subjektive Auslegung führe zur Erstarrung des Rechts, passe nicht zu modernen Rechtsordnungen, die sich durch die Trennung von Gesetzgeber und Richteramt auszeichnen und führe zu Rechtsunsicherheit.85 Daneben finden sich vermittelnde Stimmen.86 Soweit sich das TS zum Auslegungsziel äußert, spricht es sich dafür aus, nicht allein den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln, sondern den objektiven Willen, der im verabschiedeten Gesetz zum Ausdruck kommt.87 Im United Kingdom zielt die Auslegung auf die Regelungsabsicht (intention) des Parlaments. Darunter sei der Sinn zu verstehen, den der Gesetzestext hat, wenn man ihn mithilfe des zulässigen Materials vor dem Hintergrund des Zwecks des Gesetzes interpretiert.88 Objektive Kriterien werden
80 S. oben S. 68–76, 163, 200–204. Aufgrund seiner Analyse hält Vogenauer, Auslegung, S. 1254, Aussagen der deutschen und der englischen Rechtsprechung zum Auslegungsziel für Leerformeln. 81 S. oben S. 74–75 (bei Fn. 87). Für die Niederlande Zonderland, Methode, S. 163–164 (s. oben S. 163 Fn. 41). 82 S. oben S. 75 (bei Fn. 94); S. 204. 83 S. oben S. 203–204. Nach Auffassung der französischen Literatur wendet auch die Rechtsprechung die teleologische oder evolutive Methode nur bei älteren Gesetzen an. S. aus Deutschland zur Unterscheidung zwischen jungen und alten Gesetzen Wank, Methodenlehre, § 6, Rn. 185–188, 207–210. 84 S. oben S. 87–91. S. dort auch zu den Gründen, aus denen dieser Auffassung nicht zu folgen ist. 85 S. oben S. 244–245. 86 S. oben S. 245–246. 87 S. oben S. 251. 88 S. oben S. 276.
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
dabei nicht diskutiert, vielmehr geht es darum, den Kontext der Norm bei ihrer Interpretation zu berücksichtigen und sich von einer strengen Wortsinnbindung zu lösen. Als Gesetzeszweck wird der Missstand bezeichnet, dem durch die gesetzliche Regelung abgeholfen werden soll.89 Welche objektiven Kriterien den Gesetzessinn bestimmen, wenn sie nach dem jeweiligen Ansatz die Auslegung der Norm (mit-)bestimmen, bleibt vage. In den Niederlanden wird diese Frage nicht weiter diskutiert. Die französische Literatur stellt auf den sozialen Zweck der Norm, die sozialen Bedürfnisse der Gegenwart oder die hypothetischen Vorstellungen des heutigen Gesetzgebers ab.90 Die deutsche Literatur nennt ebenfalls verschiedene Aspekte, darunter die Natur der Sache, die Strukturen des geregelten Sachbereichs, den Gleichheitssatz und der Rechtsordnung immanente Prinzipien.91 In Spanien ist der soziale Wandel als Auslegungsfaktor zu berücksichtigen. Das ergibt sich aus Art. 3.1 CC, der das Kriterium der sozialen Wirklichkeit nennt. In der Literatur heißt es dazu, es gehe zum einen darum, neue Umstände zu erfassen, die der Gesetzgeber nicht berücksichtigt hat. Zum anderen könne so eine gewandelte Auffassung in der Gesellschaft in die Auslegung einfließen.92 Die soziale Wirklichkeit müsse der Interpret nach seinen Möglichkeiten bestimmen.93 Rechtsprechung und Literatur äußern sich zum Einfluss des sogenannten soziologischen Kriteriums zurückhaltend. Es dürfe das Gesetz nicht verzerren, seine Bedeutung ändern oder zu einer willkürlichen Anwendung führen.94
2. Die Auslegungskriterien In den Niederlanden werden in erster Linie der Wortsinn und die Gesetzgebungsgeschichte zur Auslegung herangezogen. Das gilt insbesondere auch für die Rechtsprechung des Hoge Raad.95 Dagegen herrscht in der französischen Rechtsprechung nach Auffassung der Literatur bewusst Methodenvielfalt. Die Auslegung befasse sich stets mit dem Wortsinn und in manchen Fällen – nicht nur bei Unklarheiten – auch mit logischen Erwägungen oder der Absicht des Gesetzgebers. Ob die Materialien von den Gerichten häufig benutzt werden, ist in der Literatur umstritten. Sie sollen vor allem bei jün-
89
S. oben S. 275–276. S. oben S. 200–204. 91 S. oben S. 91. Nach hier vertretener Auffassung trägt die Natur der Sache nicht zur Auslegung einer Norm bei. Auch Rechtsprinzipien sind nur zurückhaltend zur Auslegung heranzuziehen, s. oben S. 93. 92 S. oben S. 249–250. 93 S. oben S. 250. 94 S. oben S. 249, 252. 95 S. oben S. 163–166. 90
II. Die Auslegung von Gesetzen
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geren Gesetzen eine Rolle spielen. Die Rechtsprechung äußert sich zu ihrer Bedeutung eher zurückhaltend, was allerdings angesichts der seltenen methodischen Äußerungen der C. cass. wenig aussagekräftig ist. Die teleologische oder evolutive Methode wird nach Ansicht der Literatur von der Rechtsprechung nur bei älteren Gesetzen angewendet.96 Breit angelegt ist das Arsenal der Auslegungskriterien in Deutschland und Spanien, wobei in Spanien Art. 3.1 CC ausdrücklich, nicht aber abschließend, mehrere Auslegungskriterien benennt.97 Im United Kingdom hat der Normzweck als Kontext der verwendeten Worte für die Auslegung an Bedeutung gewonnen. Auch ist seit der Entscheidung Pepper v Hart der Rückgriff auf Gesetzgebungsmaterialien in weiterem Umfang möglich als zuvor.98 Die Feststellung, dass zwar bestimmte Kriterien länderübergreifend verwendet werden, sie aber nicht überall dieselbe Rolle spielen, entspricht Erkenntnissen aus einer breiter angelegten Untersuchung zur Gesetzesauslegung, deren Ergebnisse 1991 veröffentlicht wurden. Im vergleichenden Teil der Studie benennen Summers/Taruffo elf Argumente, die bei der Auslegung eine Rolle spielen, dabei aber in den neun untersuchten Ländern unterschiedlich stark sind.99 a) Der Wortsinn In Deutschland und den Niederlanden ist die Auslegung nicht auf Fälle begrenzt, in denen der Wortsinn mehrdeutig ist.100 Dagegen wird in Frankreich und Spanien verhältnismäßig intensiv diskutiert, ob die Auslegung nur bei unklarem Wortsinn stattfindet. Dabei überwiegen in Frankreich die ablehnenden Stimmen.101 Es ist nicht fernliegend, dass Aussagen zu einer entsprechenden Begrenzung der Auslegung eher darauf zielen, dass nicht vorschnell ein vom Wortsinn abweichendes Normverständnis zur Geltung kommt.102 Im United Kingdom ist die Auslegung nicht (mehr) so streng wortsinnorientiert, dass weitere Auslegungsmittel nur bei Unklarheiten herangezogen werden können.103 Allerdings soll der Rückgriff auf parlamentarische Materialien nach der Entscheidung Pepper v Hart auf Fälle beschränkt sein, in denen der Gesetzestext unklar ist oder die Auslegung nach dem Wort-
96
S. oben S. 194–196. S. oben S. 76–106, 243–244, 246–250. 98 S. oben S. 276–283. 99 Summers/Taruffo, in: Interpreting Statutes, S. 461, 464–474. 100 S. oben S. 78, 164. 101 S. oben S. 205–206, 246. In Spanien halten sich Befürworter und Gegner, soweit ersichtlich, eher die Waage. 102 Dieser Aspekt wird in einigen Aussagen aus der spanischen Literatur deutlich, s. oben S. 246. 103 S. oben S. 274–275. 97
332
Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
sinn zu einem absurden Ergebnis führt.104 Außerdem finden sich in der Literatur vereinzelt Stimmen, die Zwecküberlegungen nur bei unklarem Normtext zulassen wollen.105 Soweit Worten eine fachsprachliche Bedeutung zukommt, hat diese Vorrang vor der umgangssprachlichen Wortbedeutung.106 Die Wortbedeutung hängt dabei auch vom sprachlichen und juristischen Kontext ab.107 Eine echte Grenzfunktion für die Interpretation kommt dem Wortsinn in den meisten der untersuchten Länder nicht zu. Er wird in den Niederlanden und Spanien zwar als ernstzunehmende Schranke der Auslegung, nicht aber als unüberwindbar angesehen, begrenzt die Interpretation also letztlich nicht.108 Allerdings gibt es in Spanien auch Aussagen zugunsten einer Wortsinngrenze.109 In Frankreich wird die Frage der Wortsinngrenze kaum diskutiert. Im Vordergrund stehen Überlegungen dazu, mit welchen Mitteln der Wille des Gesetzgebers ermittelt wird und wie mit sozialem und wirtschaftlichem Wandel umzugehen ist.110 Dagegen ist die Grenzfunktion des Wortsinns in Deutschland ein wichtiger Diskussionspunkt. Nach überwiegender, hier nicht befürworteter Auffassung bildet der Wortsinn die Grenze der Auslegung.111 Nach einhelliger Auffassung ist allerdings das Normverständnis, das sich aus der Auslegung ergibt, nicht unbedingt das, mit dem die Norm anzuwenden ist. Die Rechtsfortbildung als weitere Stufe der Interpretation nach der Auslegung spielt in Deutschland eine erhebliche Rolle. Das bedeutet, dass mit Blick auf die Möglichkeiten der Interpretation insgesamt der Wortsinn letztlich keine Schranke bildet.112 b) Die systematische Auslegung Zur systematischen Auslegung finden sich insgesamt wenig Aussagen. So wird sie z.B. in der niederländischen Literatur ohne weitere Ausführungen als Auslegungsmittel erwähnt. Dass sie dort eine Rolle spielt, zeigt sich an einigen Entscheidungen des Hoge Raad, in denen sich das Gericht auf die Stellung der auszulegenden Norm im jeweiligen Gesetz bezieht.113 Auf diesen systematischen Aspekt stellt auch die englische Literatur ab. Im United Kingdom werden Überlegungen zum Kontext stark mit Zwecküberlegungen 104
S. oben S. 278. S. oben S. 274. 106 S. oben S. 77, 164, 206–207, 247. 107 S. oben S. 77, 207, 277. 108 S. oben S. 164, 207, 247, 251. 109 S. oben S. 247. 110 S. oben S. 207. 111 S. oben S. 78–80. 112 S. oben S. 79, 110. 113 S. oben S. 163–166. 105
II. Die Auslegung von Gesetzen
333
in Verbindung gebracht.114 Nach französischer und spanischer Auffassung ist die Stellung der Norm im Gesamtgefüge zu beachten.115 Das geht über ihren Standort im jeweiligen Gesetz hinaus, wobei sich in Spanien auch Aussagen finden, die sich allein auf die Systematik des jeweiligen Gesetzes beziehen.116 Die deutsche Literatur bezieht unter den Stichworten innere und äußere Systematik beide Aspekte in die Auslegung ein, also sowohl den Standort der Norm als auch ihre Einordnung in die Gesamtrechtsordnung.117 c) Die Gesetzgebungsmaterialien Zur Nutzung und zum Stellenwert der Gesetzgebungsmaterialien gehen die Auffassungen stark auseinander. In den Niederlanden finden sie erhebliche Beachtung. Die Literatur verspricht sich von ihnen Aufschluss darüber, wie der Gesetzgeber die Rechtslage wahrgenommen hat, was er aus welchen Gründen ändern wollte und welche Ziele er mit den benutzten Worten verfolgte. Die Rechtsprechung zieht die Materialien ebenfalls heran, um die Absichten des Gesetzgebers zu ermitteln.118 Dagegen sind die Auffassungen zu den Gesetzesmaterialien in Frankreich geteilt. Einige wollen die Materialien – ihre Ergiebigkeit im Einzelfall vorausgesetzt – heranziehen, um die Absichten des Gesetzgebers zu ermitteln. Andere lehnen sie aus den nachfolgend genannten Gründen als Auslegungsmittel ab. Es lasse sich nicht unbedingt klären, ob die Verfasser des Textes und die Parlamentarier dasselbe Inhaltsverständnis gehabt hätten. Äußerungen aus den Debatten seien rein individuell und außerdem oft gegenläufig. Ferner würden die Materialien nicht weiterhelfen, wenn der Gesetzgeber die Frage gar nicht geregelt habe. Daneben finden sich Argumente gegen eine zu starre Bindung an die Absichten des Gesetzgebers,119 was allerdings nicht direkt die Frage betrifft, ob die Materialien zur Auslegung heranzuziehen sind. Im United Kingdom wird der Rückgriff auf Material aus dem Gesetzgebungsverfahren kritisch diskutiert. Äußerungen in Parlamentsdebatten können nach der Rechtsprechung des House of Lords und nachfolgend des UK Supreme Court nur unter engen Voraussetzungen herangezogen werden, um die Regelungsabsicht des Parlaments zu ermitteln. Zunächst muss der Gesetzestext unklar sein oder die Auslegung nach dem Wortsinn zu einem absurden Ergebnis führen. Die Aussage, die bei der Auslegung behilflich sein soll, muss außerdem von einem Minister oder einer anderen Person, die das
114
S. oben S. 276. S. oben S. 208, 247, 252. 116 S. oben S. 247 (Fn. 125). 117 S. oben S. 80–81. 118 S. oben S. 164–166. 119 S. oben S. 209–210. 115
334
Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
Gesetz eingebracht hat, stammen und eindeutig sein.120 Abgesehen davon, dass diese Grenzen nicht immer eingehalten werden, stößt diese Rechtsprechung auf Kritik, weil sie aus Sicht der Kritiker Aussagen der Exekutive zu viel Gewicht zumisst. Aus ministeriellen Äußerungen im Parlament könne allenfalls eine Selbstbindung der Exekutive abgeleitet werden, auch könnten sie Aufschluss darüber geben, welcher Missstand mit dem Gesetz abgeschafft werden sollte. Sie taugten aber nicht dazu, die Regelungsabsicht des Parlaments zu ermitteln.121 Vorparlamentarisches Material unterliegt nach der Rechtsprechung nicht den soeben aufgeführten Regeln, sondern kann freier zur Auslegung herangezogen werden. Es dient aber lediglich dazu, den Missstand zu ermitteln, dem abgeholfen werden sollte. Auch begleitend oder nachträglich erstellte explanatory notes können nach einer nicht unumstrittenen Rechtsprechung bei der Auslegung Berücksichtigung finden.122 In Spanien erheben Rechtsprechung und Literatur keine grundsätzlichen Einwände gegen die Verwendung der Materialien. Art. 3.1 CC benennt allerdings auch ausdrücklich die historischen und gesetzgeberischen Gegebenheiten als Auslegungskriterien.123 Der historische Hintergrund umfasst den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext, in dem die Norm geschaffen wurde. Zu den Materialien heißt es in der Literatur vereinzelt, dass sie vor allem bei jüngeren Gesetzen relevant sind, während bei älteren Gesetzen andere Interpretationselemente in der Rechtsprechung eine größere Rolle spielen. Die Rechtsprechung verwendet die Materialien nach Aussage der Literatur eher selten.124 In Deutschland wird ebenfalls auf den historischen Hintergrund und die Gesetzgebungsgeschichte abgestellt. Einwände gegen die Benutzung von Gesetzgebungsmaterialien betreffen die Ergiebigkeit der Materialien und die Frage der Zurechnung derartiger Äußerungen als Absicht des Parlaments. Insoweit hat sich die sogenannte Paktentheorie durchgesetzt, nach der das Parlament mit der Abstimmung über das Gesetz das Sinnverständnis der eigentlichen Verfasser übernimmt.125 Diese Zurechnungsmethode findet sich
120
S. oben S. 278. S. oben S. 279. 122 S. oben S. 283–284. S. dort Fn. 109 zur Kritik aus der Literatur. 123 Auch Santaolalla Lo´pez, REDC 1991, 47, dessen Beitrag plakativ mit „Begründungserwägungen zu Gesetzen: Gründe für ihre Abschaffung“ (Übersetzung d. Verf.) überschrieben ist, wendet sich nicht grundsätzlich gegen diese Begründungserwägungen, sondern kritisiert ihre Veröffentlichung mit dem Gesetzestext. Ihren (potentiellen) Nutzen für die Auslegung und ihre Zugehörigkeit zum in Art. 3.1 CC genannten historischen und gesetzgeberischen Hintergrund betont er ausdrücklich, Santaolalla Lo´pez, REDC 1991, 47, 60–61. 124 S. oben S. 248–249, 252. 125 S. oben S. 83–85. 121
II. Die Auslegung von Gesetzen
335
auch in der französischen Literatur.126 Bedenken, dass eine Bindung an den Willen des historischen Gesetzgebers das Recht versteinert, sprechen nicht grundsätzlich gegen die Berücksichtigung der Materialien, sondern nur gegen eine Interpretation, die diesen Faktor als allein maßgeblich ansieht. Da das heutzutage nicht vertreten wird, hat auch das Versteinerungsargument in der Diskussion keine Bedeutung mehr.127 In Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und Spanien ähneln sich die Aussagen dazu, welche Quellen als Gesetzgebungsmaterial zu berücksichtigen sind, zumindest im Kern. Als Auslegungsinstrumente werden in diesen Ländern Gesetzesentwürfe samt Begründung, Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren und Ausschussberichte genannt.128 Welche Bedeutung den Parlamentsdebatten zukommt, lässt sich nicht einheitlich bestimmen. In Deutschland, den Niederlanden und Spanien werden sie eigens erwähnt, ohne dass ihr Stellenwert oder Nutzen näher behandelt wird. In Frankreich werden sie von einigen Autoren als Auslegungsinstrument benannt, von anderen dagegen wegen ihrer Widersprüchlichkeit und mangelnden Schärfe als wenig nützlich betrachtet.129 Das ist aus vergleichender Perspektive nicht zuletzt deshalb interessant, weil im United Kingdom die Diskussion um das Gesetzgebungsmaterial in erster Linie die Nutzung ministerieller Aussagen in Parlamentsdebatten betrifft. Demgegenüber ist weitgehend unumstritten, dass Vorarbeiten und explanatory notes zur Auslegung herangezogen werden können. Allerdings werden diese Dokumente eingesetzt, um den Kontext der Regelung und den Missstand, dem abgeholfen werden sollte, zu ermitteln. Sie sind als Auslegungselemente also nur mittelbar darauf gerichtet, Aufschluss über den Willen des Gesetzgebers zu geben. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die verschiedenen Quellen in den untersuchten Ländern unterschiedlich umfangreich sein können. So fallen z.B. die Erläuterungen zu den WTR deutlich knapper aus als die Begründungserwägungen zum BUrlG. Zudem wird ein und dieselbe Materie in verschiedenen Ländern nicht unbedingt vom Parlament geregelt, wie das Beispiel der WTR zeigt. d) Die teleologische Auslegung Die teleologische Interpretation bezeichnet in der französischen Literatur eher die Zielrichtung der Auslegung als ein Auslegungsmittel. Der Begriff
126
S. oben S. S. 211. S. oben S. 83–84. 128 S. oben S. 85–86, 165, 211, 249. 129 S. oben S. 211. 127
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
spielt eine Rolle, wenn es darum geht, das geschriebene Recht an die Bedürfnisse der Gegenwart anzupassen.130 Auch im United Kingdom geht es bei zweckbezogenen Überlegungen nicht darum, bestimmte objektive Kriterien zur Auslegung heranzuziehen. Zweckorientierte Auslegung bezieht sich im United Kingdom zum einen auf die Berücksichtigung des Kontexts des Gesetzeswortlauts, zum anderen auf ausdrückliche Zweckbestimmungen, die sich in der Norm oder dem dazugehörigen Gesetz finden. Vom Normzweck (purpose) ist die Regelungsabsicht des Parlaments (intention) zu unterscheiden, wobei das Verhältnis dieser Begriffe zueinander nicht einheitlich beschrieben wird.131 In der niederländischen Literatur verstehen einige unter teleologischer Auslegung allein objektive Erwägungen, andere auch subjektive. Nach einer Auffassung kommt die teleologische Auslegung nur in Betracht, wenn der Wille des Gesetzgebers nicht ermittelt werden kann. Eine andere Auffassung setzt diese Grenze nicht, verweist aber darauf, dass bei jüngeren Gesetzen eine teleologische Auslegung eher nicht nötig sei.132 Das rückt die teleologische Auslegung in Richtung der Anpassung von Normen. Ähnlich ist die Diskussion in Deutschland. Hier ist mit teleologischer Auslegung meist die objektiv-teleologische Auslegung gemeint. Die subjektivteleologische Auslegung, die auf den Zweck gerichtet ist, den der Gesetzgeber bei Erlass der Regelung verfolgt hat, ist nach hier vertretener Auffassung Teil der historischen Auslegung.133 Objektiv-teleologisch soll eine Norm ausgelegt werden, wenn die übrigen Auslegungskriterien kein klares Ergebnis erbracht haben.134 Vereinzelt gebliebene grundlegende Kritik an der objektiv-teleologischen Auslegung nennt zwar zutreffend Problempunkte dieses Auslegungskriteriums. So darf es nicht verwendet werden, um ein vom gesetzgeberischen Willen abweichendes Auslegungsergebnis zu begründen. Trotz Anwendungsschwierigkeiten und Unschärfen hat die objektiv-teleologische Auslegung aber ihren Platz, wenn und soweit nicht erkennbar ist, wie der Gesetzgeber die konkrete Frage gelöst wissen wollte.135 Nicht ganz klar ist die Rolle der teleologischen Auslegung in Spanien. Sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur finden sich neben Aussagen, dass Sinn und Zweck zur Auslegung heranzuziehen seien, auch solche, die Sinn und Zweck der Norm (allein) als Ziel der Auslegung einordnen.136 Eine gewisse Nähe zur teleologischen Auslegung hat das in Art. 3.1 CC 130
S. oben S. 212. S. oben S. 276–277. 132 S. oben S. 165. 133 S. oben S. 86–87. 134 S. oben S. 87. 135 S. oben S. 87–91. 136 S. oben S. 250, 252. 131
II. Die Auslegung von Gesetzen
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ausdrücklich genannte Kriterium der sozialen Realität. Es ermöglicht nach Auffassung der Literatur unter Umständen einen Wandel im Normverständnis.137 Mithilfe dieses Kriteriums ist also eine Anpassung an die Verhältnisse der Gegenwart möglich, womit der Aspekt angesprochen ist, der oft für die objektiv-teleologische Auslegung ins Feld geführt wird. Allerdings wendet das TS dieses Kriterium sehr zurückhaltend an. Es gestatte weder Willkür noch eine unsorgfältige Auslegung.138 Auch die Literatur weist auf die Grenzen dieses Kriteriums hin. So heißt es z.B., eine Norm könne nicht unter Hinweis auf die soziale Realität gegen den Grundgedanken des Gesetzes ausgelegt werden.139 Welche objektiv-teleologischen Kriterien gegebenenfalls in die Auslegung einfließen, wurde bereits beim Auslegungsziel angesprochen.140 e) Rangfragen Rangfragen werden weder in Frankreich noch in den Niederlanden oder dem United Kingdom diskutiert.141 In Spanien erkennt die Rechtsprechung den Kriterien keine Rangordnung zu.142 Dasselbe gilt für die überwiegende Literatur. Allerdings finden sich auch Stimmen, nach denen die teleologische Auslegung maßgeblich sein soll. Dagegen wird vorgebracht, dass ein solcher Vorrang nicht weiterhelfe, da unklar sei, wie zu bestimmen ist, welches Textverständnis dem Zweck am besten Rechnung trägt.143 In Deutschland werden Rangfragen kontrovers diskutiert. Zunächst ist umstritten, ob stets alle Auslegungskriterien anzuwenden sind und wenn ja, ob dabei Ergebnisse zu bestimmten Auslegungsmitteln den Einfluss nachrangiger Kriterien begrenzen. Wer nicht immer alle Auslegungskriterien anwenden will oder die Auslegung durch Ergebnisse vorrangiger Kriterien begrenzt sieht, muss sich mit Rangfragen befassen. Auch insofern äußert sich die Literatur nicht einheitlich.144 Das BVerfG will alle Auslegungskriterien heranziehen und misst ihnen dabei wohl gleichen Rang zu.145 Nach hier vertretener Auffassung ist die objektivteleologische Auslegung nachrangig, während die übrigen Kriterien gleichberechtigt sind.146 137
S. oben S. 249. S. oben S. 252. 139 S. oben S. 249 (Fn. 138). 140 S. oben S. 330. 141 S. oben S. 163–164, 212. 142 S. oben S. 252, 253. 143 S. oben S. 251. 144 S. oben S. 106–107. 145 S. oben S. 108–109. 146 S. oben S. 109–110. Kritisch ist nach der hier vertretenen Auffassung der Ansatz von MacCormick/Summers, in: Interpreting Statutes, S. 511, 530–532, zu bewerten. Die Au138
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
3. Zusammenfassung Wie bereits einleitend erwähnt, zeigen sich bestimmte Aspekte und Argumentationsmuster in der Diskussion um die Auslegung von Gesetzen länderübergreifend. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt werden. Da die Methodik in nationalen Auslegungsfragen in dieser Untersuchung vor allem als Basis der richtlinienkonformen Auslegung interessiert, ist jedoch ein anderer Punkt wichtiger als die unterschiedliche Schwerpunktsetzung in den verschiedenen Ländern. Die Ausführungen zu den nationalen Methoden haben gezeigt, dass methodische Fragen bereits innerhalb der einzelnen Länder recht kontrovers sind. Ein erheblicher Teil der Streitfragen wurzelt in der methodischen Grundfrage, wie der Wille des Gesetzgebers zu bestimmen ist und wie verbindlich er bei der Auslegung ist. Eine Basis i.S.v. gesicherten, unstreitigen Regeln bieten die nationalen methodischen Grundlagen für die richtlinienkonforme Auslegung daher nicht.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung Mit Blick auf die richtlinienkonforme Auslegung lassen sich vergleichende Überlegungen zum einen zur Einbindung in den Auslegungsprozess und zum anderen zu den Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung anstellen.
1. Die Einbindung in den Auslegungsprozess Wie die richtlinienkonforme Auslegung in den Interpretationsvorgang einzubinden ist, wird unterschiedlich stark diskutiert. Die französische Literatur äußert sich dazu nicht. Sie versteht die richtlinienkonforme Interpretation als Aspekt der Rechtsquellenlehre, nicht als methodisches Problem.147 In der spanischen Literatur gehen immerhin einzelne Autoren auf diese Frage ein. Die Richtlinie soll von vornherein in die Auslegung einbezogen werden, nicht erst, wenn sich nach einer richtlinienunabhängigen Auslegung der Norm Auslegungszweifel ergeben. Die Berücksichtigung der Richtlinie sei aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts das entscheidende Kriterium bei der Auslegung des nationalen Rechts.148 toren wollen systematische Argumente nur berücksichtigen, wenn die Wortsinnauslegung Anlass dazu gibt. Ferner sollen teleologische Argumente erst herangezogen werden, wenn es keine guten Gründe gibt, über die systematische Interpretation hinauszugehen. Unter welchen Umständen Anlass besteht, die Interpretation fortzusetzen, bleibt offen. S. zu entsprechenden Ansätzen in der deutschen Literatur oben S. 106–107. 147 S. oben S. 213. 148 S. oben S. 260.
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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In den Niederlanden wird der Stellenwert der richtlinienkonformen Auslegung im Auslegungsprozess kontrovers diskutiert. Nach einer Auffassung setzt sie sich stets gegenüber anderen möglichen Auslegungsvarianten der nationalen Norm durch. Vereinzelt heißt es auch, die nationalen Methoden müssten soweit nötig und möglich angepasst werden, um eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts zu gewährleisten. Nach anderer Ansicht ist die richtlinienkonforme Auslegung ranggleich mit den übrigen nationalen Auslegungskriterien. Da sie aber erhebliches Gewicht habe, sei die Richtlinienkonformität der auszulegenden nationalen Regelung zu vermuten, das gegenteilige Ergebnis bedürfe der Begründung.149 Recht weitgehend ist die Auswirkung der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung auf die Regeln zur Interpretation im United Kingdom. Dort hat sich die Rechtsprechung vergleichsweise früh damit auseinandergesetzt, welchen Einfluss die richtlinienkonforme Auslegung auf den Interpretationsvorgang hat. Das House of Lords sah nach anfänglicher Zurückhaltung bei Umsetzungsrecht mehr Spielraum für eine zweckgerichtete Argumentation als im rein nationalen Kontext. Es stützte sich dabei maßgeblich auf die Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag, die mit dem ECA in das Recht des United Kingdom aufgenommen worden seien. Den Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag müsse auch dann Genüge getan werden, wenn eine Auslegung i.S.d. einschlägigen EuGH-Rechtsprechung nach den herkömmlichen Auslegungsmethoden nicht möglich sei. Zu diesem Zweck könnten Worte in die nationale Regelung hineingelesen werden. Nach Auffassung des House of Lords spricht dafür auch der Umsetzungswille des Parlaments. Dazu erhob sich in der Literatur vereinzelt Kritik. So werde die Interpretation des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH dynamisch in das nationale Umsetzungsrecht einbezogen, obwohl das nicht unbedingt dem entsprechen müsse, was das Parlament regeln wollte.150 Das soeben beschriebene Vorgehen bei der richtlinienkonformen Interpretation sieht die Rechtsprechung inzwischen als fest verankerten Grundsatz an. Zudem ist geklärt, dass auch Nicht-Umsetzungsrecht richtlinienkonform zu interpretieren ist, auch wenn die Literatur zu Recht anmerkt, dass für diese Fälle nicht mit dem Umsetzungswillen argumentiert werden kann.151 In Deutschland ist das Meinungsbild zur Einbindung der richtlinienkonformen Auslegung in den Interpretationsvorgang breit gefächert. Richtlinienkonformität wird von einigen als Ziel der Auslegung gesehen, von anderen als Auslegungsmittel. Nach einer weiteren Auffassung ist sie weder das eine noch das andere. Soweit die richtlinienkonforme Auslegung als Auslegungs-
149
S. oben S. 172–173. S. oben S. 285–290. 151 S. oben S. 290–292. 150
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
kriterium eingeordnet wird, ist umstritten, ob sie eine eigenständige Methode ist, die die üblichen Auslegungskriterien beeinflusst oder beide Funktionen übernimmt.152 Davon unabhängig räumen die Autoren, die die richtlinienkonforme Auslegung als Auslegungskriterium bezeichnen, ihr meist Vorrang ein. Wie dieser Vorrang sich gestaltet, ist wiederum umstritten.153 Nach hier vertretener Auffassung bleibt das Ziel der Auslegung im Kontext von Richtlinien insoweit unverändert, als in erster Linie der Wille des historischen Gesetzgebers zu ermitteln ist.154 Solange die Auslegung auf dieses Ziel gerichtet ist, ist die Richtlinie bei der systematischen und der historischen Auslegung zu berücksichtigen. Vorrang kommt der Richtlinie bei diesen Auslegungsschritten nicht zu. Sie ist ein Teilaspekt bei der Ermittlung der Regelungsabsicht des Gesetzgebers und fließt von vornherein in den Auslegungsvorgang ein. Dabei kann der generelle Umsetzungswille des Gesetzgebers seine konkrete Regelungsabsicht nicht überspielen.155 Ist die Regelungsabsicht des Gesetzgebers nicht erkennbar oder lässt sie Auslegungsspielräume, kommt es zur objektiv-teleologischen Auslegung mit entsprechend geänderter Zielsetzung. Auf dieser Stufe der Auslegung verleiht die Umsetzungsverpflichtung dem Kriterium der Richtlinienkonformität besonderes Gewicht unter den Auslegungskriterien. Die richtlinienkonforme Auslegung hat nun bestimmenden Charakter, das richtlinienkonforme Ergebnis geht dem Normverständnis vor, das nach anderen Argumenten möglich wäre. Allerdings muss sich die richtlinienkonforme Auslegung – wie die objektiv-teleologische Auslegung insgesamt – in dem Rahmen halten, der sich bei der Suche nach dem gesetzgeberischen Willen ergeben hat.156 In Deutschland wird, anders als in den anderen untersuchten Ländern, auch die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung intensiv diskutiert. Sie zählt zur Auslegung i.w.S. und ist ebenso Teil der richtlinienkonformen Interpretation wie die richtlinienkonforme Auslegung i.e.S., wenn auch letztere methodisch der erste Schritt ist. Der BGH behandelt sie unter dem Aspekt der Regelungslücke und sieht die einschlägige Richtlinie als Maßstab der Lückenfeststellung und der Lückenschließung an. Sei aus den Materialien erkennbar, dass der Gesetzgeber richtlinienkonform handeln wollte, so sei die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung eröffnet.157 Die Literatur ist zur methodischen Einordnung der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung gespal-
152
S. oben S. 121–123. S. oben S. 123–125. 154 S. oben S. 131. 155 S. oben S. 132–136. 156 S. oben S. 136–137. 157 S. oben S. 116–117. 153
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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ten. Gelegentlich wird unter Rückgriff auf das Pfeiffer-Urteil des EuGH der Gedanke des Normwiderspruchs zur Rechtsfortbildung herangezogen.158 Die meisten Autoren knüpfen allerdings an den Lückenbegriff an. Dabei folgt nach einer Auffassung bereits aus der Richtlinienwidrigkeit des nationalen Rechts eine ausfüllungsbedürftige Lücke.159 Nach anderer Ansicht ist nach den üblichen Maßstäben zu ermitteln, ob eine planwidrige Regelungslücke gegeben ist. Sie ergibt sich nicht allein aus der Richtlinienwidrigkeit einer Regelung.160 Auch nach hier vertretener Auffassung ist eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung unter dem Aspekt der Lückenfüllung nicht allein aufgrund des richtlinienwidrigen Rechtszustands möglich. Vielmehr ist – wie bei der Lückenfindung und -füllung im rein nationalen Kontext – darauf abzustellen, ob die Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.w.S. vollständig umgesetzt wurde oder nicht. Ferner trägt der Gedanke des Normwiderspruchs die Rechtsfortbildung bei Richtlinienverstößen nicht, weil die Richtlinie nicht Teil der Gesamtrechtsordnung ist.161
2. Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung nach der Rechtsprechung Nach Einschätzung der englischen Literatur ist die richtlinienkonforme Auslegung nach den Vorgaben der Rechtsprechung im United Kingdom sehr weitreichend. Sie scheine nur auszuscheiden, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich erklärt, dass die Norm nicht der korrekten Umsetzung von Unionsrecht dient.162 Der Wortsinn einer Norm bildet nach der Rechtsprechung im United Kingdom nicht die Grenze der richtlinienkonformen Auslegung. Wie weitgehend eine richtlinienkonforme Auslegung möglich ist, bestimmt die Rechtsprechung inzwischen nach denselben Grundsätzen, die für die Grenzen der konventionskonformen Auslegung nach s. 3 HRA gelten. Um den Anforderungen der Richtlinie gerecht zu werden, können Worte in das Gesetz hineingelesen und so dessen Sinn gegenüber seinem ursprünglichen Inhalt verändert werden, wenn das Auslegungsergebnis mit der generellen Stoßrichtung des Gesetzes vereinbar ist. Bei Umsetzungsrecht stützen sich die Gerichte zudem auf den Umsetzungszweck des Gesetzes. Nur wenn sich
158
S. oben S. 129. S. oben S. 126–127. Zu ähnlichen Ergebnissen führt die vereinzelt gebliebene Auffassung, nach der der Lückenbegriff im Kontext von Richtlinienrecht zu modifizieren ist und Bedarf für eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung besteht, wenn eine Richtlinie ein bestimmtes Ergebnis vorschreibt, das nicht durch Auslegung erzielt werden kann, s. oben S. 129–130. 160 S. oben S. 128–129. 161 S. oben S. 138–140. 162 S. oben S. 292. 159
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
ein richtlinienwidriges Ergebnis unmissverständlich aus der Norm ergibt, scheitert die richtlinienkonforme Interpretation. Unter funktionalen Gesichtspunkten wird zudem daran erinnert, dass die Rechtsprechung nicht in den Aufgabenbereich des Gesetzgebers eingreifen darf.163 Auch die deutsche Rechtsprechung steht der richtlinienkonformen Interpretation sehr aufgeschlossen gegenüber. Zwar ist eine richtlinienkonforme Auslegung gegen den Wortlaut und den erklärten Willen des Gesetzgebers nicht zulässig. Da aber der Umsetzungswille des Gesetzgebers nach der deutschen Rechtsprechung zu vermuten ist, dürfte bei offenem Wortsinn die richtlinienkonforme Auslegung i.e.S. in der Regel möglich sein.164 Die Grenze der richtlinienkonformen Auslegung i.e.S. bildet nach Auffassung des BGH der Wortsinn der Norm. Dieser begrenzt aber nicht die richtlinienkonforme Interpretation insgesamt, da sich an die Auslegung die Rechtsfortbildung anschließt. Sie ermöglicht Interpretationsergebnisse, die über den Wortsinn hinausgehen. Wie bereits erwähnt, ist nach der Rechtsprechung des BGH eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung möglich, wenn aus den Materialien erkennbar ist, dass der Gesetzgeber richtlinienkonform handeln wollte. Da ferner der Umsetzungswille des Gesetzgebers nach der Rechtsprechung zu vermuten ist und Vorrang vor dem konkreten Regelungswillen haben soll, ist der Spielraum für eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung groß. Die Rechtsprechung ist allerdings nicht ganz einheitlich. In manchen Fällen wird die richtlinienkonforme Interpretation enger gehandhabt.165 Das BVerfG spricht davon, dass der Richter an die gesetzgeberische Grundentscheidung gebunden ist. Diese Formulierung erinnert an die der Rechtsprechung im United Kingdom, nach der das Auslegungsergebnis mit der generellen Stoßrichtung des Gesetzes vereinbar sein muss. Die gesetzgeberische Grundentscheidung will das BVerfG u.a. aus den Gesetzgebungsmaterialien ableiten, wobei bei Umsetzungsrecht vom Umsetzungswillen des Gesetzgebers auszugehen sei.166 Das TS stellt die Auslegungsfähigkeit der Norm in den Mittelpunkt. Diese hänge nicht allein vom Wortsinn ab. Es seien nicht bloß die Kriterien des Art. 3.1 CC auf die nationale Norm anzuwenden, sondern mit Blick auf die Richtlinie zu prüfen, ob ein richtlinienkonformes Verständnis der Norm möglich ist. Das TS geht davon aus, dass Umsetzungsregelungen dazu dienen, das Ziel der Richtlinie zu erreichen und misst diesem teleologischen Element bei der Auslegung große Bedeutung bei. Ob der Umsetzungswille generell geeignet ist, den konkreten Regelungswillen zu verdrängen, lässt sich aus der Rechtsprechung nicht sicher ableiten. Das TS lehnt, wie das House of 163
S. oben S. 293–295. S. oben S. 115–116. 165 S. oben S. 116–118. 166 S. oben S. 119. 164
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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Lords, eine richtlinienkonforme Auslegung ab, wenn die nationale Norm der Richtlinie eindeutig zuwiderläuft und keinen Auslegungsspielraum bietet. Unter funktionalen Gesichtspunkten heißt es zu den Grenzen, die Gerichte müssten sich bei der richtlinienkonformen Auslegung im Rahmen der verfassungsmäßigen Aufgabe der Rechtsprechung halten und dürften sich keine Befugnisse anmaßen, die ausschließlich dem Gesetzgeber vorbehalten sind. Auch in diesem Punkt zeigt sich eine Parallele zur Rechtsprechung im United Kingdom.167 Dagegen sieht sich die französische Rechtsprechung bei der richtlinienkonformen Auslegung wohl grundsätzlich an den Wortsinn gebunden. Sie legt allerdings nicht offen, was ein Contra-legem-Judizieren ausmacht, unter welchen Umständen also die Grenzen der Interpretation erreicht sind. Da die Rechtsprechung in einigen Fällen ein richtlinienkonformes Ergebnis herbeigeführt hat, das sich mit dem Wortsinn nicht vereinbaren lässt, ist dieser letztlich keine unüberwindbare Grenze der richtlinienkonformen Interpretation.168 Unter welchen Umständen der Wortsinn die richtlinienkonforme Interpretation nicht hindert, lässt sich aus diesen Urteilen nicht ableiten. Im urlaubsrechtlichen Kontext sind insofern die Entscheidungen interessant, die die Reichweite des Art. L3141-5 Nr. 5 C. trav. betreffen. Die C. cass. hat über den Wortsinn der Norm hinaus Fehlzeiten nach Wegeunfällen für die Urlaubsberechnung der tatsächlichen Arbeitsleistung gleichgestellt. Für Fehlzeiten aufgrund nicht berufsbezogener Krankheiten sieht sie sich dazu aber ebenso wenig in der Lage wie für durch einen Arbeitsunfall bedingte Fehlzeiten, die über die in der Norm vorgesehene Dauer von einem Jahr hinausgehen.169 Die Differenzierung zwischen Fehlzeiten aufgrund eines Wegeunfalls und Fehlzeiten aufgrund nicht berufsbezogener Erkrankung lässt sich damit erklären, dass Fehlzeiten, die auf Wegeunfällen beruhen, ebenso wie die von der Norm ausdrücklich erfassten Fehlzeiten aufgrund von Arbeitsunfällen berufsbezogen sind. Sie weisen also eine größere Nähe zum gesetzlich geregelten Fall auf als sonstige Fehlzeiten. Wäre der Berufsbezug das (allein) entscheidende Kriterium, hätte die C. cass. die Regelung aber auch auf solche Fehlzeiten erstrecken können, die auf einem Arbeitsunfall beruhen und die Dauer von einem Jahr überschreiten. Möglicherweise sah sie insoweit angesichts der klaren zeitlichen Grenze keinen Interpretationsspielraum. Zudem hätte dieser Teil der Norm keinen Anwendungsbereich mehr, wenn Fehlzeiten, die auf Arbeitsunfällen beruhen, unbegrenzt einbezogen werden könnten. Einer Norm oder einem Teil einer Norm durch Interpretation den Anwendungsbereich zu entziehen, ist jedoch ein Schritt, der sich kaum be-
167
S. oben S. 255–256. S. oben S. 215–218. 169 S. oben S. 182–183. 168
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
gründen lässt. Letztlich bleiben diese Überlegungen aber Spekulation, da die C. cass. nicht erläutert, warum sie die richtlinienkonforme Auslegung in diesen Fällen für möglich oder unmöglich hielt. Die Entscheidungen des Hoge Raad sind hinsichtlich der Grenzfunktion des Wortsinns für die richtlinienkonforme Auslegung ebenfalls nicht einheitlich. In mehreren Entscheidungen hat das Gericht eine richtlinienkonforme Auslegung über den Wortsinn hinaus abgelehnt. In zwei Fällen älteren Datums ist es auf die Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts nicht eingegangen und übertrug schlicht die Vorgaben des EuGH auf das nationale Recht. Nach der niederländischen Rechtsprechung wirkt sich der Umsetzungswille des Gesetzgebers auf die Auslegungsfähigkeit der Norm aus. So soll der Wortsinn eine richtlinienkonforme Auslegung nicht hindern, wenn der Gesetzgeber mit Umsetzungswillen gehandelt und dabei den streitigen Fall nicht bedacht hat.170 Danach ist der Wortsinn keine absolute Grenze der Interpretation. Aus der Perspektive deutscher Gerichte wäre ein solcher Fall im Wege der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung zu lösen. Ferner kann nach der Rechtsprechung des Hoge Raad der Umsetzungswille bei offenem Wortsinn konkrete Vorstellungen des Gesetzgebers verdrängen. Dabei sei der Wille zur Schaffung einer richtlinienkonformen Regelung zu vermuten.171
3. Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung nach der Literatur Die Literatur im United Kingdom äußert sich zur fehlenden Wortsinnbindung der Rechtsprechung teils zustimmend, teils kritisch.172 Sie diskutiert ferner im Kontext des HRA, ob konventionskonformes Handeln des Gesetzgebers zu vermuten ist und wie weit diese Vermutung reicht. Trotz unterschiedlicher Ansätze dreht sich die Auseinandersetzung erkennbar um den Konflikt, der auftritt, wenn die Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.e.S. der Verpflichtung zu einer konventionskonformen Regelung und Auslegung nicht entspricht – ein Konflikt, der in gleicher Weise bei der richtlinienkonformen Auslegung auftritt. Unter den Aspekten der Gewaltenteilung und der Rechtssicherheit wird ein Abrücken von der Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.e.S. dabei kritisch gesehen.173 Nicht einheitlich beurteilt die Literatur, wie die Grundaussage des Gesetzes zu bestimmen ist, der die Auslegung nicht zuwiderlaufen darf. Dabei trägt die Auffassung, nach der sie wortsinnorientiert zu bestimmen ist, der höchstrichterlichen Rechtsprechung wohl nicht hinreichend Rechnung, da diese den Wortsinn gerade nicht als verbindlich
170
S. oben S. 167–170. S. oben S. 170. 172 S. oben S. 295–296. 173 S. oben S. 296–298. 171
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
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ansieht. Auf der Linie der Rechtsprechung liegt dagegen die Ansicht, die eine Modifikation der im Normtext verankerten Absicht des Gesetzgebers zulässt, solange es sich nicht um eine radikale Änderung handelt, die dem Grundgedanken des Gesetzes entgegenläuft.174 Die Regelungsabsicht des Gesetzgebers i.e.S. kann also zurücktreten, wenn das mit seiner Regelungsabsicht i.w.S. vereinbar ist. Kritisch äußert sich ein Teil der Literatur zu der Grenze, die sich aus der Aufgabenverteilung zwischen den Gerichten und dem Gesetzgeber ergeben soll. Einigen Autoren greift diese Beschränkung zu spät, andere sehen durch sie die konventionskonforme Auslegung als zu stark eingeengt an. Wieder andere versuchen, diese Grenze näher zu erläutern und wollen insbesondere Auswahl- und Gestaltungsentscheidungen dem Gesetzgeber überlassen.175 Die französische Literatur äußert sich sowohl zu Entscheidungen, die den Wortsinn überschreiten, als auch zu solchen, die sich in seinem Rahmen halten, kritisch. Allerdings werden die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung in der Literatur nicht stark diskutiert. Nach vereinzelten Äußerungen bildet der Wortsinn die Grenze. Nach anderer Auffassung ist die richtlinienkonforme Auslegung bei Mehrdeutigkeit der nationalen Norm eröffnet und findet ihre Grenzen darin, dass der Richter Einzelfälle zu entscheiden hat und keine gesetzgeberischen Aufgaben übernehmen darf. Ferner heißt es, das nationale Recht könne nur richtlinienkonform interpretiert werden, wenn es nicht klar im Widerspruch zur Richtlinie steht.176 Einige Autoren betonen, dass die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung nur eine Handlungspflicht ist und die Richtlinie sich nicht contra legem durchsetzen müsse.177 Diesen Punkt heben in der spanischen Literatur ebenfalls einige Autoren ausdrücklich hervor. Als begrenzend werden dort folgende Aspekte genannt: der Wortsinn, das Verbot, contra legem zu judizieren, die Gewaltenteilung und allgemeine Rechtsprinzipien wie der Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot. Die funktionalen Überlegungen, die in der französischen Literatur lediglich anklingen, spielen in Spanien eine etwas größere Rolle. Die genannten Gesichtspunkte werden von den verschiedenen Autoren in unterschiedlicher Weise kombiniert, sodass z.B. der Wortsinn nicht nach sämtlichen Auffassungen die richtlinienkonforme Auslegung begrenzt.178 In der niederländischen Literatur finden sich mehrere Äußerungen, nach denen der Wortsinn die richtlinienkonforme Auslegung begrenzt. Allerdings 174
S. oben S. 298. S. oben S. 299–300. 176 S. oben S. 220–221. 177 S. oben S. 221. 178 S. oben S. 260–261. 175
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
soll diese Grenze nach einer Auffassung nicht unumstößlich sein, da sie auch bei nicht europäisch beeinflussten Sachverhalten nicht absolut ist. Eine weitere Auffassung sieht den Wortsinn nicht als Grenze an, hält die richtlinienkonforme Auslegung aber umgekehrt stets für möglich, wenn der Wortsinn sie zulässt. Nach einem dritten Ansatz ist mithilfe aller Auslegungskriterien zu klären, ob eine richtlinienkonforme Auslegung möglich ist. Die Fragen nach den Auslegungsmöglichkeiten und den Grenzen der Auslegung fallen damit zusammen.179 Das entspricht der hier für das deutsche Recht vertretenen Auffassung.180 Unter funktionalen Gesichtspunkten wird eine Erweiterung der richterlichen Befugnisse durch die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung abgelehnt.181 Ein Teil der Literatur verknüpft Überlegungen zur Rechtssicherheit mit dem Verbot, contra legem zu judizieren. Allerdings soll auch unter diesem Aspekt eine Entscheidung contra legem nicht völlig ausgeschlossen sein, da solche Entscheidungen auch im nationalen Recht vorkämen. Soweit es dann heißt, dass die Rechtssicherheit vor allem bei klaren Normen eine begrenzende Rolle spiele, wird die Grenzziehung vage, weil zuvor dem Wortsinn eine (absolute) Grenzfunktion abgesprochen wurde.182 In Deutschland stellt die Literatur nur vereinzelt funktionale Erwägungen an.183 Nach verbreiteter Auffassung bilden Wortsinn und Zweck einer Norm die Grenze der richtlinienkonformen Interpretation. Da der Wortsinn allerdings einer Rechtsfortbildung im Wege der Lückenfüllung nicht entgegensteht, kommt es letztlich darauf an, ob und inwieweit der Normzweck die richtlinienkonforme Interpretation begrenzt. Nach einer Auffassung ist der Normzweck im Richtlinienkontext anpassungsfähig, wenn dadurch die Norm nicht (fast) vollständig ihres Anwendungsbereichs beraubt wird. Damit bleibt aber von der begrenzenden Funktion von Wortsinn und Zweck nicht mehr übrig als das Verbot, eine Norm durch Interpretation nicht (fast) zu derogieren. Soweit dagegen die konkrete Regelungsabsicht des Gesetzgebers der Interpretation Grenzen setzt, bildet der Normzweck eine stärkere Grenze.184 Nach hier vertretener Auffassung liegt die Grenze der richtlinienkonformen Interpretation in der methodengerechten Interpretation, die den konkreten Regelungswillen des Gesetzgebers achtet. Dabei eröffnet die Richtlinienwidrigkeit allein die Rechtsfortbildung nicht.185
179
S. oben S. 173–174. S. oben S. 151–152. 181 S. oben S. 175–176. 182 S. oben S. 176–177. 183 S. oben S. 149–150. 184 S. oben S. 145–148. 185 S. oben S. 151–152. 180
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
347
4. Die begrenzende Wirkung allgemeiner Rechtsgrundsätze Der EuGH betrachtet, wie bereits erwähnt, allgemeine Rechtsprinzipien als Grenze der richtlinienkonformen Auslegung. Dieser Gesichtspunkt wird im zivilrechtlichen Kontext kaum beachtet. In Frankreich und im United Kingdom gehen Rechtsprechung und Literatur im zivilrechtlichen Kontext nicht auf diese Rechtsprechung ein.186 Das TS und die spanische Literatur sehen die allgemeinen Rechtsgrundsätze zwar als Grenze der richtlinienkonformen Auslegung, beschäftigen sich aber nicht näher mit dieser Grenze.187 In Deutschland befasst sich die zivilrechtliche Literatur nur wenig mit der begrenzenden Wirkung allgemeiner Rechtsgrundsätze. Als ernsthafte Hürden für die richtlinienkonforme Auslegung werden sie nicht angesehen. Nach hier vertretener Auffassung ist im Privatrecht maßgeblich, ob die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts nach den methodischen Regeln des Landes zulässig ist. Aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben sich keine weiteren Auslegungsschranken.188 In Spanien wird vereinzelt darauf hingewiesen, dass allgemeine Rechtsgrundsätze im Strafrecht als Grenze der richtlinienkonformen Auslegung angewendet werden.189 Diesen Gesichtspunkt greift ein Teil der niederländischen Literatur auf, nach dessen Auffassung die Grenzziehung rechtsgebietsbezogen vorzunehmen ist. Die Aussagen aus den strafrechtlichen Verfahren seien für das Zivilrecht nicht ohne Weiteres passend.190 Länderübergreifend bringen mehrere Autoren das Verbot des Contra-legem-Judizierens mit diesem Rechtssicherheitsprinzip in Verbindung. Dieses Rechtsprinzip wird dabei als der umfassendere Grundsatz eingeordnet, der das Verbot, contra legem zu entscheiden, einschließt.191
186
S. für Frankreich oben S. 222. S. oben S. 255, 260–261. 188 S. oben S. 150–151. 189 S. oben S. 261. Aus den Reihen der Generalanwälte GA Bot 25.11.2015 EU:C:2015:776 (Dansk Industri) Rn. 77. 190 S. oben S. 176. 191 S. oben S. 176–177, 222. Aus den Reihen der Generalanwälte GA Kokott 8.5.2008 EU:C:2008:266 (Tietosuojavaltuutettu) Rn. 105, unter Berufung auf EuGH 16.6.2005 EU:C:2005:386 (Pupino) Rn. 44, 47, und EuGH 4.7.2006 EU:C:2006:443 (Adeneler) Rn. 110. In beiden Entscheidungen werden die Aspekte Rechtssicherheit und Contralegem-Judizieren allerdings getrennt genannt. Deutlich ist insoweit insbesondere EuGH 4.7.2006 EU:C:2006:443 (Adeneler) Rn. 110. Dort sind – auch in der französischen, englischen und spanischen Fassung des Urteils – diese Aspekte mit einem „und“ verbunden. 187
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Kapitel 9: Vergleichende Überlegungen
5. Zusammenfassung Die Diskussion zur Einbindung der richtlinienkonformen Auslegung in den untersuchten Ländern lässt sich aus zwei Gründen kaum zusammenfassen. Zum einen wird außerhalb Deutschlands die Einbindung in den Interpretationsprozess nur vereinzelt behandelt, sodass von einem Meinungsstand nicht wirklich gesprochen werden kann. Zum anderen gehen in Deutschland, wo die Diskussion breit ist, die Auffassungen weit auseinander. Festhalten lässt sich, dass in den Niederlanden, Spanien und Deutschland die richtlinienkonforme Auslegung nach einer Auffassung vorrangig ist. In den Niederlanden und Deutschland finden sich aber auch Gegenstimmen. Nach hier vertretener Ansicht kommt dem richtlinienkonformen Ergebnis nur im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung Vorrang zu, wobei die objektivteleologische Auslegung ihrerseits nachrangig ist und nur zum Tragen kommt, wenn sich der Wille des Gesetzgebers nicht ermitteln lässt. Im United Kingdom ist die Rechtsprechung bei der richtlinienkonformen Auslegung nach eigener Einschätzung über das hinausgegangen, was nach den herkömmlichen Auslegungsmethoden möglich ist. Das entspricht in der Wirkung mindestens einem Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung. Konkretere Aussagen sind zu den Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung möglich. Zwar äußert sich die Rechtsprechung zu diesen Grenzen in den einzelnen untersuchten Ländern jeweils nicht ganz einheitlich, sodass sich eine Position „der Rechtsprechung“ eines Landes nur mit gewissen Einschränkungen festhalten lässt. Erkennbar ist aber, dass die Rechtsprechung in Deutschland, Spanien und im United Kingdom bei der richtlinienkonformen Interpretation vergleichsweise große Spielräume sieht. Da der Wortsinn letztlich nicht entscheidend und der Umsetzungswille des Gesetzgebers zu vermuten ist, ist eine richtlinienkonforme Interpretation nur dann nicht möglich, wenn klar erkennbar ist, dass der Gesetzgeber die Regelung mit dem richtlinienwidrigen Inhalt treffen wollte. Zurückhaltender ist die Rechtsprechung in den Niederlanden und Frankreich. Zwar ist in beiden Ländern der Wortsinn keine unüberwindbare Grenze der richtlinienkonformen Interpretation. Er spielt aber ausdrücklich oder unterschwellig eine größere Rolle als in den drei übrigen untersuchten Ländern. Auf den Umsetzungswillen des Gesetzgebers und dessen Stellenwert geht die französische Rechtsprechung nicht ein. In den Niederlanden hat er, wie in Deutschland und im United Kingdom, erhebliche Bedeutung, weil er den konkreten Regelungswillen des Gesetzgebers überspielen kann. Für diesen Vorrang hat sich der Hoge Raad aber nur bei offenem Wortsinn ausgesprochen.192 192 Zwar kann der Umsetzungswille nach einer Entscheidung auch den entgegenstehenden Wortsinn der auszulegenden Norm überwinden, Hoge Raad 5.4.2013 NL:HR:2013:BZ1780 Rn. 3.7. In dem Fall ging es aber nicht zugleich darum, einen kon-
III. Die richtlinienkonforme Auslegung
349
Die Literatur in den untersuchten Ländern diskutiert die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung, wie gezeigt, unterschiedlich intensiv und setzt dabei nicht dieselben Schwerpunkte. Der Wortsinn als Grenze der Interpretation stellt alle Autoren vor das Problem, dass er im rein nationalen Kontext keine absolute Schranke bildet. Dieser Gedanke wird in der niederländischen Literatur klar ausgesprochen. Überlegungen zur Aufgabenverteilung zwischen Richter und Gesetzgeber bleiben – notwendigerweise – vage. Konkrete Linien für die Zulässigkeit einer Interpretation vermag sie nicht zu ziehen, denn ebenso wie die Aufgabenverteilung zwischen Justiz und Gesetzgebung der Interpretation Grenzen setzt, bestimmt die Reichweite der Interpretation diese Aufgabenverteilung. Dass die Justiz keine politischen Gestaltungsaufgaben übernehmen soll, wirkt wenig begrenzend, wenn der konkrete gesetzgeberische Regelungswille überwunden werden kann. Mit der zentralen Frage, wie stark die konkrete Regelungsabsicht des Gesetzgebers der richtlinienkonformen Interpretation Grenzen setzt, befasst sich die Literatur in Deutschland und im United Kingdom – mit kontroversen Ergebnissen. Die hier vertretene Auffassung, nach der mithilfe der üblichen Auslegungsregeln zu klären ist, ob eine richtlinienkonforme Interpretation möglich ist, sodass sich die Frage der Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung nicht gesondert stellt, wird auch in den Niederlanden vertreten.193 Ein Rückbezug auf nationale Methoden wäre sowohl für die Frage, wie die richtlinienkonforme Auslegung in den Auslegungsprozess einzubinden ist, als auch für ihre Grenzen sinnvoll. Wie sich gezeigt hat, stellen Rechtsprechung und Literatur diesen Bezug in den untersuchten Ländern unterschiedlich stark her. Hinsichtlich der Rechtsprechung dürfte das damit zusammenhängen, ob und wie umfangreich methodische Fragen nach dem jeweiligen Stil der Rechtsprechung des Landes in Gerichtsentscheidungen überhaupt angesprochen werden. Während das z.B. in Deutschland und im United Kingdom nicht unüblich ist, ist die französische Rechtsprechung insofern zurückhaltend. Was die Literatur angeht, ist die teils geringe Verknüpfung von Fragen der nationalen Methode mit der richtlinienkonformen Auslegung wohl auf den jeweils unterschiedlichen Kreis der Diskutanten zurückzuführen. Diejenigen, die sich verstärkt mit methodischen Problemen beschäftigen, gehen nicht unbedingt auf die richtlinienkonforme Auslegung ein. Diejenigen, die die richtlinienkonforme Auslegung diskutieren, tun das oft in einem europarechtlich geprägten Kontext und befassen sich ihrerseits selten vertieft mit nationalen Auslegungsmethoden.
kreten Regelungswillen des Gesetzgebers zurückzudrängen, vielmehr ging der Hoge Raad davon aus, dass der Gesetzgeber die Fallgestaltung nicht bedacht hat, s. oben S. 168. 193 Wissink, in: Influence of EU Law, S. 119, 146–147. S. auch ders., Richtlijnconforme interpretatie, S. 202–203.
Kapitel 10
Schlusswort “If it is possible it can be done. If it is impossible it cannot. What cannot be done is impossible to do.”1
Möglichkeiten und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung bestimmen sich nach den nationalen Gegebenheiten. Maßgeblich ist zum einen die Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts. Zum anderen bestimmen die nationalen Methoden die Contra-legem-Grenze. Die richtlinienkonforme Auslegung ist also, so sehr ihr Kontext europäisch ist, eine Angelegenheit der nationalen Gerichte. Möglichkeiten und Grenzen der richtlinienkonformen Interpretation in anderen Mitgliedstaaten können Anregungen zum Nachdenken über die eigene Auslegungssituation geben, beeinflussen aber weder die Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts noch die nationalen Methoden. Daher wurde die richtlinienkonforme Auslegung in der vorliegenden Untersuchung vor dem Hintergrund der nationalen Methoden betrachtet. Ein solcher Rückbezug auf die nationalen Methoden ist, wie sich gezeigt hat, nicht leicht durchzuführen. Das beruht zum einen darauf, dass Rechtsprechung und Literatur in den untersuchten Ländern diesen Bezug zu den nationalen Methoden oft nicht herstellen. Zum anderen sind methodische Fragen in den einzelnen untersuchten Ländern nicht weniger umstritten als materiell-rechtliche Probleme. Zwar haben andere, tiefgehende und zum Teil auch mit Blick auf die untersuchten Länder breiter angelegte Studien für verschiedene Länder erhebliche Übereinstimmungen in der methodischen Argumentation der Gerichte festgestellt.2 Auf einer allgemeinen Ebene und bezogen auf die gerichtliche Praxis soll auch nicht bezweifelt werden, dass in allen Rechtsordnungen letztlich alle Kriterien, die zur Rechtsfindung beitragen können, berücksichtigt werden. Konsens über methodische Regeln, der dazu führt, dass Entscheidungen besser vorhersehbar oder zumindest nachvollziehbar werden, ist aber nach den Ergebnissen dieser Untersuchung
1
Marshall, PL 2003, 236, 240. Summers/Taruffo, in: Interpreting Statutes, S. 461, 464–471; Vogenauer, Auslegung, S. 1295–1308. Brenncke, Judicial Law-Making, S. 426, sieht für die englische und deutsche Rechtsprechung große Übereinstimmung bei der richterlichen Rechtsschöpfung im Richtlinienkontext. 2
352
Kapitel 10: Schlusswort
bereits innerhalb eines Landes nicht feststellbar. Die Diskussion ist entweder nicht sehr intensiv oder die Ansichten gehen, auch in grundlegenden Fragen, erheblich auseinander. Wer an die nationalen Methoden anknüpft, um die Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung zu bestimmen, geht daher von methodischen Regeln innerhalb seiner Rechtsordnung aus, die andere nicht unbedingt teilen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Diskussion der richtlinienkonformen Auslegung unterschiedlich ausfällt und nicht unbedingt im Mittelpunkt steht, wie sie methodisch einzubetten ist. Nichtsdestotrotz wird länderübergreifend die Frage aufgeworfen, ob die mitgliedstaatlichen Gerichte bei der richtlinienkonformen Interpretation über die nationalen Methoden hinausgegangen sind. Die Bewertung fällt unterschiedlich aus. Nach Haket ist angesichts der Flexibilität der niederländischen Auslegungsmethoden der Spielraum für eine richtlinienkonforme Auslegung in den Niederlanden weit. Es sei schwierig, zu bestimmen, unter welchen Umständen ein Konflikt mit den gängigen Auslegungsregeln gegeben sei.3 Eine erhebliche Abweichung von den üblichen Methoden bestehe nicht, wenn der Gesetzgeber Umsetzungswillen hatte und dieser Wille als maßgeblicher gesetzgeberischer Wille bei der Auslegung berücksichtigt werde.4 Letzteres ist aber durchaus fraglich. Nach der hier zu den deutschen methodischen Regeln vertretenen Auffassung kann sich der Umsetzungswille gegenüber einem abweichenden konkreten Regelungswillen nicht durchsetzen.5 Die Rechtsprechung des BGH und des BAG zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung ist von diesem Standpunkt aus eine Abweichung von nationalen methodischen Regeln und geht über das hinaus, was das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung verlangt. Für das United Kingdom findet sich häufiger die Aussage, dass die Gerichte bei der richtlinienkonformen Interpretation über die üblichen methodischen Regeln hinausgehen. Während einige Autoren vorsichtige Formulierungen verwenden, die diese Sichtweise andeuten,6 sprechen andere klar von einer Verschiebung der üblichen Grenzen7. Auch wenn sich die zunehmende Bedeutung der purposive interpretation im United Kingdom möglicherweise nicht auf Normen im unionsrechtlichen Kontext beschränkt, ist die Veränderung der Auslegung in diesem rechtlichen Umfeld zumindest stärker ausgefallen als bei Auslegungsfragen mit rein nationalem Bezug. Die Frage der Reichweite der richtlinienkonformen Interpretation hat Auswirkungen auf die Effektivität des Unionsrechts. Darauf wird in der 3
Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 228–233, 271–272. Haket, Duty of Consistent Interpretation, S. 268. 5 S. oben S. 134–136. 6 Lord Mance, EL Rev. 2013, 437, 450. 7 Brenncke, Judicial Law-Making, S. 297–303; Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 371. 4
Kapitel 10: Schlusswort
353
Literatur zu Recht hingewiesen. Die von der Richtlinie begünstigte Person erhält zwar möglicherweise mithilfe des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs Schadensersatz. Abgesehen davon, dass die Voraussetzungen für diesen Anspruch nicht in jedem Fall der fehlerhaften Richtlinienumsetzung gegeben sind, handelt es sich aber nur um einen Sekundäranspruch. Die primär vorgesehene Rechtsfolge lässt sich auf diesem Weg nicht erzielen. Eine Rechtsänderung durch den Gesetzgeber kann für den Einzelnen zu spät kommen.8 Außerdem ist für den Fall, dass eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich ist, die Richtlinienbestimmung aber im Vertikalverhältnis unmittelbare Wirkung entfaltet, ein und dieselbe Sachfrage unterschiedlich zu entscheiden, je nachdem, ob der Arbeitnehmer bei einem staatlichen Arbeitgeber oder in der Privatwirtschaft beschäftigt ist. Dieses wenig sinnvolle Ergebnis wird in der Literatur ebenfalls als Argument für eine weitgehende richtlinienkonforme Interpretation genannt.9 Sprechen auf der einen Seite die Effektivität des Unionsrechts und die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer unabhängig von der Zuordnung ihres Arbeitgebers zum staatlichen oder privaten Bereich für eine möglichst weitgehende richtlinienkonforme Interpretation nationalen Rechts, so sind auf der anderen Seite Kompetenzfragen und Vertrauensschutzaspekte zu berücksichtigen. Der durch die Richtlinie Begünstigte kann immerhin unter Umständen einen Schadensersatzanspruch geltend machen, wenn die Richtlinie nicht korrekt umgesetzt wurde. Dagegen trifft die durch die Richtlinie belastete Vertragspartei eine richtlinienkonforme Interpretation ohne jegliche Kompensation dafür, dass die Verpflichtung aufgrund der fehlerhaften Umsetzung für sie nicht ersichtlich war. Das ist hinzunehmen, soweit die Interpretation nach den nationalen Methoden zulässig ist, nicht aber, wenn die richtlinienkonforme Interpretation darüber hinausgeht. Transparenz und Rechtssicherheit sind Werte einer Rechtsordnung, die der Interpretation Grenzen setzen. Des Weiteren sprechen Kompetenzgesichtspunkte dagegen, die richtlinienkonforme Interpretation über das nach den nationalen Methoden Erlaubte hinaus auszudehnen. Das betrifft nicht nur die Kompetenzverteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem nationalen Gesetzgeber, sondern auch die Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten. Die Richtlinie trägt ein gewisses Maß an Ineffektivität in sich, weil sie in ihrer Wirkung auf die korrekte Umsetzung durch die Mitgliedstaaten angewiesen ist. Wenn es dabei zu Verzögerungen kommt, verwirklicht sich ein Risiko, das im Wesen der Richtlinie angelegt ist. Wie bereits erwähnt, kann der Unionsgesetzgeber die Verordnung als Regelungsinstrument nicht
8 Schlachter, EuZA 2015, 1, 5. S. aus der französischen Literatur nur Ferrer, Dr. Ouvr. 2015, 621, 623. 9 S. in urlaubsrechtlichem Zusammenhang nur Cavallini, SCP S 2016, no 1276, 31, 32.
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Kapitel 10: Schlusswort
nach Belieben einsetzen.10 Die Richtlinie mit ihrer Umsetzungsverpflichtung und den damit verbundenen Schwächen ist Ausdruck dieser Kompetenzverteilung, die nicht durch eine über das methodisch Erlaubte hinausgehende Interpretation unterlaufen werden darf. Hinzu kommt in einigen Auslegungssituationen – insbesondere auch im Urlaubsrecht – ein weiterer Aspekt. Die urlaubsrechtlichen Umsetzungsfehler beruhen größtenteils darauf, dass der EuGH Art. 7 RL 2003/88/EG in einer Art und Weise konkretisiert hat, die die Gesetzgeber der Mitgliedstaaten so nicht vorhergesehen haben und auch nicht vorhersehen konnten. Es handelt sich nicht um Situationen, in denen der Gesetzgeber nachlässig war und aus dem Text klar ersichtliche Vorgaben der Richtlinie nicht korrekt umgesetzt hat. Vielmehr gehen die Auslegungsprobleme auf eine extensive Auslegung der Richtlinie durch den EuGH zurück.11 Da es um Detailfragen geht, zu denen sich aus dem Richtlinientext nicht direkt etwas ableiten lässt, ist es auch nicht verwunderlich, dass die EuGH-Urteile in mehreren Mitgliedstaaten Anpassungsbedarf im nationalen Recht hervorgerufen haben. In solchen Fällen ist es besonders problematisch, unter Rückgriff auf den Umsetzungswillen des Gesetzgebers seine konkrete Regelungsabsicht zurückzudrängen und eine der Richtlinie entsprechende Interpretation anzunehmen, die ohne den Bezug auf den Umsetzungswillen nicht möglich wäre. Zu Recht heißt es in der Literatur, in solchen Fällen könne man bestenfalls sagen, dass der Gesetzgeber alles umsetzen wollte, was der EuGH später als Richtlinieninhalt erkennt.12 Ein solcher Wille käme einem Blankoverweis auf die zukünftige EuGH-Rechtsprechung gleich. Von einem auf bestimmte Inhalte bezogenen Umsetzungswillen kann keine Rede sein. Für den Bürger, den aufgrund der Interpretation eine Verpflichtung trifft, wäre der so bestimmte Norminhalt unvorhersehbar. Gewiss ist auch in solchen Fällen die Konkretisierung der Richtlinie durch den EuGH verbindlich, wenn er sich dabei im Rahmen seiner Kompetenzen hält. Es besteht aber kein Anlass, nationale Auslegungsmethoden zu überdehnen und den nationalen Gesetzgeber zu übergehen, um dem so erkannten Richtlinieninhalt möglichst schnell zur Wirkung zu verhelfen. Überspitzt ausgedrückt fehlte dem Gesetzgeber bei einem solchen Vorgehen die Umsetzungsfrist. Da Richtlinien der Umsetzung bedürfen und dazu in erster Linie der Gesetzgeber zuständig ist, führt der Weg zum richtlinienkonformen Recht in diesen Fällen über den Gesetzgeber.
10
S. oben S. 42. Cavallini, SCP S 2016, no 1276, 31. 12 Hervey/Sheldon, Judicial Method, S. 327, 370–371, unter Bezugnahme auf EBR Attridge Law LLP and another v Coleman [2009] UKEAT 0071 09 3010, [2010] ICR 242. S. S. 290. 11
Anhang
Nationale Normen Stand: 1.8.2020 In diesem Anhang sind die urlaubsrechtlichen Normen aufgeführt, die in den Kapiteln zu den untersuchten Ländern zitiert werden. Soweit der Gesetzgeber Normen aufgrund der einschlägigen EuGH-Urteile geändert hat, wurden auch diese ursprünglichen Regelungen aufgenommen. Normen außerhalb des Urlaubsrechts oder nicht zitierte urlaubsrechtliche Vorschriften sind nicht einbezogen, mit Ausnahme von s. 2(4) ECA und der Rechtsnormen des französischen sowie des spanischen Rechts, die die Interpretation von Gesetzen betreffen.
Deutschland Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) § 1 Urlaubsanspruch Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub.
§ 3 Dauer des Urlaubs (1) Der Urlaub beträgt jährlich mindestens 24 Werktage. …
§ 4 Wartezeit Der volle Urlaubsanspruch wird erstmalig nach sechsmonatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses erworben.
§ 5 Teilurlaub (1) Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses hat der Arbeitnehmer a) für Zeiten eines Kalenderjahrs, für die er wegen Nichterfüllung der Wartezeit in diesem Kalenderjahr keinen vollen Urlaubsanspruch erwirbt; b) wenn er vor erfüllter Wartezeit aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet; …
356
Anhang Nationale Normen
§ 7 Zeitpunkt, Übertragbarkeit und Abgeltung des Urlaubs … (3) Der Urlaub muß im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muß der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden. … …
§ 9 Erkrankung während des Urlaubs Erkrankt ein Arbeitnehmer während des Urlaubs, so werden die durch ärztliches Zeugnis nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähigkeit auf den Jahresurlaub nicht angerechnet.
§ 13 Unabdingbarkeit (1) Von den vorstehenden Vorschriften mit Ausnahme der §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 kann in Tarifverträgen abgewichen werden. Die abweichenden Bestimmungen haben zwischen nichttarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern Geltung, wenn zwischen diesen die Anwendung der einschlägigen tariflichen Urlaubsregelung vereinbart ist. Im übrigen kann, abgesehen von § 7 Abs. 2 Satz 2, von den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden. …
Die Niederlande Burgerlijk Wetboek, Boek 7 Art. 7:634 (1) De werknemer verwerft over ieder jaar waarin hij gedurende de volledige overeengekomen arbeidsduur recht op loon heeft gehad, aanspraak op vakantie van ten minste vier maal de overeengekomen arbeidsduur per week of, als de overeengekomen arbeidsduur in uren per jaar is uitgedrukt, van ten minste een overeenkomstige tijd. …
Art. 7:635 (1) In afwijking van artikel 634 verwerft de werknemer aanspraak op vakantie over het tijdvak, gedurende hetwelk hij geen recht heeft op in geld vastgesteld loon, omdat: … d. hij, anders dan ten gevolge van de omstandigheden, bedoeld in de leden 2 en 3, tegen zijn wil niet in staat is om de overeengekomen arbeid te verrichten; …
Die Niederlande
357
Art. 7:636 (1) Dagen of gedeelten van dagen waarop de werknemer de overeengekomen arbeid niet verricht wegens een van de redenen, bedoeld in artikel 635 leden 1 en 4 kunnen slechts indien in een voorkomend geval de werknemer ermee instemt worden aangemerkt als vakantie, met dien verstande dat de werknemer ten minste recht houdt op het in artikel 634 bedoelde minimum. …
Art. 7:637 (1) Dagen of gedeelten van dagen waarop de werknemer de overeengekomen arbeid niet verricht wegens ziekte kunnen slechts indien in een voorkomend geval de werknemer ermee instemt worden aangemerkt als vakantie, met dien verstande dat de werknemer ten minste recht houdt op het in artikel 634 bedoelde minimum. (2) In afwijking van lid 1 kan bij schriftelijke overeenkomst worden bepaald dat dagen of gedeelten van dagen waarop de werknemer in enig jaar de overeengekomen arbeid niet heeft verricht wegens ziekte worden aangemerkt als vakantie tot ten hoogste het aantal vakantiedagen dat voor dat jaar boven het in artikel 634 bedoelde minimum is overeengekomen. (3) Indien in enig jaar zowel lid 2 als artikel 638, lid 8, tweede volzin, worden toegepast, kunnen in totaal niet meer dan het aantal vakantiedagen dat voor dat jaar boven het in artikel 634 bedoelde minimum is overeengekomen, als vakantie gelden.
Art. 7:638 … (8) Dagen of gedeelten van dagen waarop de werknemer tijdens een vastgestelde vakantie ziek is, gelden niet als vakantie, tenzij in een voorkomend geval de werknemer daarmee instemt. In afwijking van de vorige volzin kan bij schriftelijke overeenkomst worden bepaald dat de in enig jaar verleende vakantiedagen of gedeelten daarvan waarop de werknemer ziek is, als vakantie gelden tot ten hoogste het aantal vakantiedagen dat voor dat jaar boven het in artikel 634 bedoelde minimum is overeengekomen.
Art. 7:640a De aanspraak op het minimum, bedoeld in artikel 634, vervalt zes maanden na de laatste dag van het kalenderjaar waarin de aanspraak is verworven, tenzij de werknemer tot aan dat tijdstip redelijkerwijs niet in staat is geweest vakantie op te nemen. Bij schriftelijke overeenkomst kan ten gunste van de werknemer worden afgeweken van de termijn van zes maanden, bedoeld in de eerste zin.
Art. 7:642 Onverminderd artikel 640a verjaart een rechtsvordering tot toekenning van vakantie door verloop van vijf jaren na de laatste dag van het kalenderjaar waarin de aanspraak is ontstaan.
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Anhang Nationale Normen
Burgerlijk Wetboek, Boek 7, alte Fassung Art. 7:635 a.F. … (4) In afwijking van artikel 634 verwerft de werknemer die de bedongen arbeid niet verricht wegens ziekte, ongeacht of hij aanspraak heeft op loon, aanspraak op vakantie over het tijdvak van de laatste zes maanden waarin de arbeid niet werd verricht, met dien verstande dat tijdvakken worden samengeteld als zij elkaar met een onderbreking van minder dan een maand opvolgen. …
Art. 7:636 a.F. (1) Dagen of gedeelten van dagen waarop de werknemer de overeengekomen arbeid niet verricht wegens een van de redenen, bedoeld in artikel 635 leden 1, 4 en 5 kunnen slechts indien in een voorkomend geval de werknemer ermee instemt worden aangemerkt als vakantie, met dien verstande dat de werknemer ten minste recht houdt op het in artikel 634 bedoelde minimum. …
Art. 7:637 a.F. … (2) Dagen of gedeelten van dagen waarop de werknemer tijdens een vastgestelde vakantie ziek is, gelden niet als vakantie. In afwijking van de vorige volzin kan bij schriftelijke overeenkomst worden bepaald dat de in enig jaar verleende vakantiedagen of gedeelten daarvan waarop de werknemer ziek is, als vakantie gelden tot ten hoogste het aantal vakantiedagen dat voor dat jaar boven het in artikel 634 bedoelde minimum is overeengekomen. …
Art. 7:642 a.F. Een rechtsvordering tot toekenning van vakantie verjaart door verloop van vijf jaren na de laatste dag van het kalenderjaar waarin de aanspraak is ontstaan.
Frankreich Code du travail Art. L3141-3 Le salarie´ a droit a` un conge´ de deux jours et demi ouvrables par mois de travail effectif chez le meˆme employeur. …
Frankreich
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Art. L3141-5 Sont conside´re´es comme pe´riodes de travail effectif pour la de´termination de la dure´e du conge´ : 1° Les pe´riodes de conge´ paye´ ; 2° Les pe´riodes de conge´ de maternite´, de paternite´ et d’accueil de l’enfant et d’adoption ; … 5° Les pe´riodes, dans la limite d’une dure´e ininterrompue d’un an, pendant lesquelles l’exe´cution du contrat de travail est suspendue pour cause d’accident du travail ou de maladie professionnelle ; …
Art. L3141-10 Sous re´serve de modalite´s particulie`res fixe´es en application de l’article L. 3141-32, un accord d’entreprise ou d’e´tablissement ou, a` de´faut, une convention un accord de branche peut: 1° Fixer le de´but de la pe´riode de re´fe´rence pour l’acquisition des conge´s; …
Art. L3141-12 Les conge´s peuvent eˆtre pris de`s l’embauche, sans pre´judice des re`gles de de´termination de la pe´riode de prise des conge´s et de l’ordre des de´parts et des re`gles de fractionnement du conge´ fixe´es dans les conditions pre´vues a` la pre´sente section.
Art. L3141-22 (1) Si, en application d’une disposition le´gale, la dure´e du travail d’un salarie´ est de´compte´e a` l’anne´e, une convention ou un accord d’entreprise ou d’e´tablissement ou, a` de´faut, une convention ou un accord de branche peut pre´voir que les conge´s ouverts au titre de l’anne´e de re´fe´rence peuvent faire l’objet de reports. (2) Dans ce cas, les reports de conge´s peuvent eˆtre effectue´s jusqu’au 31 de´cembre de l’anne´e suivant celle pendant laquelle la pe´riode de prise de ces conge´s a de´bute´. …
Art. R3141-4 (1) A de´faut d’accord pre´vu a` l’article L. 3141-10, le point de de´part de la pe´riode prise en compte pour le calcul du droit au conge´ est fixe´ au 1er juin de chaque anne´e. …
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Anhang Nationale Normen
Code du travail, alte Fassung Art. L3141-3 Abs. 1 C. trav. (gültig bis 21.8.2008) Le salarie´ qui, au cours de l’anne´e de re´fe´rence, justifie avoir travaille´ chez le meˆme employeur pendant un temps e´quivalent a` un minimum d’un mois de travail effectif a droit a` un conge´ de deux jours et demi ouvrables par mois de travail.
Art. L3141-3 Abs. 1 C. trav. (gültig vom 22.8.2008–23.3.2012) Le salarie´ qui justifie avoir travaille´ chez le meˆme employeur pendant un temps e´quivalent a` un minimum de dix jours de travail effectif a droit a` un conge´ de deux jours et demi ouvrables par mois de travail.
Code Civil Art. 4 Le juge qui refusera de juger, sous pre´texte du silence, de l’obscurite´ ou de l’insuffisance de la loi, pourra eˆtre poursuivi comme coupable de de´ni de justice.
Art. 5 Il est de´fendu aux juges de prononcer par voie de disposition ge´ne´rale et re´glementaire sur les causes qui leur sont soumises.
Spanien Constitucio´n espan˜ola Art. 40 … (2) Asimismo, los poderes pu´blicos fomentara´n una polı´tica que garantice la formacio´n y readaptacio´n profesionales; velara´n por la seguridad e higiene en el trabajo y garantizara´n el descanso necesario, mediante la limitacio´n de la jornada laboral, las vacaciones perio´dicas retribuidas y la promocio´n de centros adecuados.
Estatuto de los Trabajadores Art. 38 … (1) El periodo de vacaciones anuales retribuidas, no sustituible por compensacio´n econo´mica, sera´ el pactado en convenio colectivo o contrato individual. En ningu´n caso la duracio´n sera´ inferior a treinta dı´as naturales.
Spanien
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(2) El periodo o periodos de su disfrute se fijara´ de comu´n acuerdo entre el empresario y el trabajador, de conformidad con lo establecido en su caso en los convenios colectivos sobre planificacio´n anual de las vacaciones. En caso de desacuerdo entre las partes, la jurisdiccio´n social fijara´ la fecha que para el disfrute corresponda y su decisio´n sera´ irrecurrible. El procedimiento sera´ sumario y preferente. (3) El calendario de vacaciones se fijara´ en cada empresa. El trabajador conocera´ las fechas que le correspondan dos meses antes, al menos, del comienzo del disfrute. Cuando el periodo de vacaciones fijado en el calendario de vacaciones de la empresa al que se refiere el pa´rrafo anterior coincida en el tiempo con una incapacidad temporal derivada del embarazo, el parto o la lactancia natural o con el periodo de suspensio´n del contrato de trabajo previsto en los apartados 4, 5 y 7 del artı´culo 48, se tendra´ derecho a disfrutar las vacaciones en fecha distinta a la de la incapacidad temporal o a la del disfrute del permiso que por aplicacio´n de dicho precepto le correspondiera, al finalizar el periodo de suspensio´n, aunque haya terminado el an˜o natural a que correspondan. En el supuesto de que el periodo de vacaciones coincida con una incapacidad temporal por contingencias distintas a las sen˜aladas en el pa´rrafo anterior que imposibilite al trabajador disfrutarlas, total o parcialmente, durante el an˜o natural a que corresponden, el trabajador podra´ hacerlo una vez finalice su incapacidad y siempre que no hayan transcurrido ma´s de dieciocho meses a partir del final del an˜o en que se hayan originado.
Estatuto de los Trabajadores, alte Fassung Art. 38 (gültig bis 11.2.2012) ... (3) El calendario de vacaciones se fijara´ en cada empresa. El trabajador conocera´ las fechas que le correspondan dos meses antes, al menos, del comienzo del disfrute. Cuando el perı´odo de vacaciones fijado en el calendario de vacaciones de la empresa al que se refiere el pa´rrafo anterior coincida en el tiempo con una incapacidad temporal derivada del embarazo, el parto o la lactancia natural o con el perı´odo de suspensio´n del contrato de trabajo previsto en el artı´culo 48.4 de esta Ley, se tendra´ derecho a disfrutar las vacaciones en fecha distinta a la de la incapacidad temporal o a la del disfrute del permiso que por aplicacio´n de dicho precepto le correspondiera, al finalizar el perı´odo de suspensio´n, aunque haya terminado el an˜o natural a que correspondan.
Codigo Civil Art. 3 1. Las normas se interpretara´n segu´n el sentido propio de sus palabras, en relacio´n con el contexto, los antecedentes histo´ricos y legislativos, y la realidad social del tiempo en que han de ser aplicadas, atendiendo fundamentalmente al espı´ritu y finalidad de aquellas
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Anhang Nationale Normen
United Kingdom Working Time Regulations 1998 reg. 13 (1) Subject to paragraph (5), a worker is entitled to four weeks’ annual leave in each leave year. … (9) Leave to which a worker is entitled under this regulation may be taken in instalments, but (a) subject to the exception in paragraphs (10) and (11), it may only be taken in the leave year in respect of which it is due, and (b) it may not be replaced by a payment in lieu except where the worker’s employment is terminated. (10) Where in any leave year it was not reasonably practicable for a worker to take some or all of the leave to which the worker was entitled under this regulation as a result of the effects of coronavirus (including on the worker, the employer or the wider economy or society), the worker shall be entitled to carry forward such untaken leave as provided for in paragraph (11). (11) Leave to which paragraph (10) applies may be carried forward and taken in the two leave years immediately following the leave year in respect of which it was due. …
reg. 13A (1) Subject to regulation 26A and paragraphs (3) and (5), a worker is entitled in each leave year to a period of additional leave determined in accordance with paragraph (2). (2) The period of additional leave to which a worker is entitled under paragraph (1) is … (e) in any leave year beginning on or after 1st April 2009, 1.6 weeks. … (7) A relevant agreement may provide for any leave to which a worker is entitled under this regulation to be carried forward into the leave year immediately following the leave year in respect of which it is due. …
reg. 15A (1) During the first year of his employment, the amount of leave a worker may take at any time in exercise of his entitlement under regulation 13 is limited to the amount which is deemed to have accrued in his case at that time under paragraph (2), as modified under paragraph (3) in a case where that paragraph applies, less the amount of leave (if any) that he has already taken during that year. …
United Kingdom
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Working Time Regulations 1998, alte Fassung reg. 13 … (7) The entitlement conferred by paragraph (1) does not arise until a worker has been continuously employed for thirteen weeks. …
European Communities Act 1972, repealed, but saved for the implementation period s. 2 (4) The provision that may be made under subsection (2) above includes, subject to Schedule 2 to this Act, any such provision (of any such extent) as might be made by Act of Parliament, and any enactment passed or to be passed, other than one contained in this part of this Act, shall be construed and have effect subject to the foregoing provisions of this section; but, except as may be provided by any Act passed after this Act, Schedule 2 shall have effect in connection with the powers conferred by this and the following sections of this Act to make Orders in Council or orders, rules, regulations or schemes.
Literaturverzeichnis Die nachfolgend angeführte Literatur wird in diesem Buch einheitlich nach den in Deutschland gebräuchlichen Regeln zitiert. Bei Texten, die in Datenbankversionen ohne Paginierung verwendet wurden, ist als Fundstelle in den Fußnoten die Seitenzahl des in der Datenbank verfügbaren PDF angegeben. Urteile werden, soweit vorhanden, mit Datum und ECLI zitiert. Printfundstellen werden nur angegeben, wo dies nicht möglich war. Der Großteil der Urteile, die in diesem Buch zitiert sind, ist über die angegebenen Datenbanken/Websites abrufbar. Albaladejo, Manuel, Compendio de derecho civil, 14. Aufl. 2011 (zit. Albaladejo, Derecho civil). Alexy, Robert/Dreier, Ralf, Statutory Interpretation in the Federal Republic of Germany, in: MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes: A Comparative Study, 1991, S. 73 (zit. Alexy/Dreier, in: Interpreting Statutes). Allan, Trevor R. S., Legislative Supremacy and Legislative Intention: Interpretation, Meaning, and Authority, C.L.J. 63 (2004), 685 (zit. Allan, C.L.J. 63 (2004)). Alonso Garcı´a, Ricardo, Sistema Jurı´dico de la Unio´n Europea, 4. Aufl. 2014 (zit. Alonso Garcı´a, Sistema). ders., El Juez espan˜ol y el Derecho Comunitario, 2003 (zit. Alonso Garcı´a, El Juez). ders., La interpretacio´n del Derecho de los Estados conforme al Derecho Comunitario: las exigencias y los lı´mites de un nuevo criterio hermene´utico, REDE N.° 28, 2008, 353 (zit. Alonso Garcı´a, REDE 2008). Alonso Olea, Manuel/Casas Baamonde, Marı´a Emilia, Derecho del Trabajo, 26. Aufl. 2009 (zit. Alonso Olea/Casas Baamonde, Derecho del Trabajo). Alzaga Ruiz, Icı´ar, El derecho al disfrute de vacaciones anuales retribuidas a la luz de la jurisprudencia comunitaria, AL 11/2014, 1198 (zit. Alzaga Ruiz, AL 11/2014). dies., La aplicacio´n y eficacia del Derecho Social Comunitario en Espan˜a, RMTI 2010, 129 (zit. Alzaga Ruiz, RMTI 2010 (1)). dies., El principio de interpretacio´n conforme de las directivas comunitarias: un ana´lisis desde el punto de vista del derecho laboral, RMTI 2010, 463 (zit. Alzaga Ruiz, RMTI 2010 (2)). dies., La eficacia de las directivas comunitarias en el a´mbito laboral: criterios jurisprudenciales comunitarios y espan˜oles, AL 13/2007, 1536 (zit. Alzaga Ruiz, AL 13/2007). Andreo, Emmanuel, Note sous CJUE 21 juin 2012, aff. C-78/11, JCP S 2012, no 1359, 30 (zit. Andreo, JCP S 2012, no 1359). ders., Note sous CJUE 24 janvier 2012, aff. C-282/10, JCP S 2012, no 1135, 30 (zit. Andreo, JCP S 2012, no 1135). ders., Note sous CJCE 20 janvier 2009, aff. C-350-06 et C-520-06, JCP S 2009, no 1152, 33 (zit. Andreo, JCP S 2009, no 1152). Arnull, Anthony, The European Union and its Court of Justice, 2. Aufl. 2006 (zit. Arnull, European Union). ders., The UK Supreme Court and References to the CJEU, YEL 2017, 1 (zit. Arnull, YEL 2017).
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– Niederlande 166, 337 – Spanien 251–253, 337 – United Kingdom 277, 337 Auslegung, richtlinienkonforme – Auslegungsfähigkeit nationalen Rechts, siehe Auslegungsfähigkeit nationalen Rechts – Auslegungskriterium 121–125, 173, 260, 338–340 – Auslegungsziel 121–122, 131–132, 151, 339–340 – Begriff 11–12 – Contra-legem-Grenze, siehe ContraLegem-Grenze – Deutschland 115–125, 131–138, 145–152, 339–340, 342, 346–348 – Diskussion der Vorgaben des EuGH 9, 30–55 – Doppelrolle 122–123, 137 – entgegenstehende Rechtsprechung 29, 47–49 – Entwicklung im United Kingdom 285– 292 – Ergebnispflicht 26, 41, 44 – europäische Methode 9 – europäische Vorrangregel 45–47 – Frankreich 213–222, 338, 343, 345, 347–348 – funktionale Grenzen, siehe Grenzen der Auslegung, funktionale – Gesetzgebungsmaterialien 52–53 – Grenzen durch allgemeine Rechtsgrundsätze 25, 28–29, 150–151, 176–177, 222, 255, 261, 347 – Herleitung der Verpflichtung 25, 27–28, 34–41, 115, 120
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Stichwortverzeichnis
– historische Auslegung 133–138, 152, 340 – im deutschen Urlaubsrecht 60–66, 310–313 – im französischen Urlaubsrecht 181–190, 218–220, 308, 310, 312–313, 315 – im Interpretationsvorgang 10, 121–125, 213, 220, 260, 338–341, 348 – im niederländischen Urlaubsrecht 154– 155, 170–172, 307 – im spanischen Urlaubsrecht 229–239, 253–254, 314–316 – im Urlaubsrecht des United Kingdom 267–271, 301–303, 306–307, 310, 312–315 – nationale Auslegungsmethoden, siehe Auslegung, nationale Methoden – Nicht-Umsetzungsrecht 29, 136, 140, 151–152, 291–292, 319, 339 – Niederlande 166–177, 339, 344–348 – Normkollisionen 49–50, 129, 138, 141–142, 144, 174 – Parallelen zur konventionskonformen Auslegung, siehe Human Rights Act – Parallelen zur verfassungskonformen Auslegung 131–132, 136, 138, 141–142 – Rechtsquellenlehre 213, 338 – Spanien 253–261, 338, 342, 345, 347–348 – systematische Auslegung 132–133, 136–137, 151, 340 – teleologische Auslegung 136–138, 142, 340 – Umsetzungsrecht 25, 29, 133–136, 148, 175, 292, 318–319, 341–342 – Umsetzungsvermutung, siehe Umsetzungswille – United Kingdom 284–303, 339, 341–342, 344, 347–348 – Unterschied zur Horizontalwirkung 31 – Vorgaben des EuGH 9, 23–30 – Vorrang 45–47, 123–125, 137, 152, 172–173, 260, 340, 348 Auslegung, soziale Wirklichkeit 249–252, 330 Auslegung, subjektive 68–76, 163, 244–246 Auslegung, systematische – Deutschland 80–82, 93–94, 97, 106–110, 132–133, 136–137, 151, 333 – Frankreich 195, 207–208, 333
– Niederlande 163–166, 332 – Spanien 247–248, 252, 333 – United Kingdom 275, 277, 332–333 Auslegung, teleologische – Deutschland 76, 81–82, 86–94, 97–100, 102, 106–109, 136–138, 151–152, 336–337 – Frankreich 195, 202, 212, 335–336 – Niederlande 165, 336 – Spanien 250–252, 256, 258, 336–337 – United Kingdom 274–276, 336 Auslegung, unionsrechtskonforme 11 Auslegung, verfassungskonforme 94–102 – Doppelrolle der Verfassung 96–98 – Grenzen 99–100 – Parallelen zur richtlinienkonformen Auslegung 131–132, 136–138, 141–142 – systematische Auslegung 97 – Teilnichtigerklärung 98–99 – teleologische Auslegung 97–98 Auslegung, verfassungsorientierte 101–102 Auslegung, Wortsinn – siehe auch Wortsinngrenze – Deutschland 77–80, 93–94, 106–110, 332 – fachsprachlicher 77, 79–80, 164, 206, 247, 332 – Frankreich 195, 205–207, 212, 330, 332 – Niederlande 163–166, 330, 332 – Spanien 247, 251–252, 332 – United Kingdom 272–277, 332 Auslegungsfähigkeit nationalen Rechts 41– 47 – Beurteilungsperspektive 44 Auslegungskriterien – siehe auch Auslegung, historische; Auslegung, systematische; Auslegung, teleologische; Auslegung, verfassungskonforme; Auslegung, Wortsinn – Deutschland 76–110, 121–125, 331–337, 339–340 – Frankreich 194–196, 204–212, 330–333, 335–337 – Niederlande 163–165, 173, 330–333, 335–337, 339 – Spanien 246–253, 258–260, 331–338 – United Kingdom 272–284, 331–337 Auslegungsziel 328–330
Stichwortverzeichnis
– Deutschland 67–76, 109, 121–122, 131–132, 135–136, 151, 328–329 – Frankreich 196–204, 328–329 – Niederlande 163, 328–329 – Spanien 244–246, 251, 329 – United Kingdom 271, 276, 329–330 Contra-Legem-Grenze 28, 54–55, 341–346, 348–349, 351 – Deutschland 61, 119, 126–127, 129, 145–152, 342, 346 – Frankreich 184, 213–217, 220–222, 343–345 – Niederlande 164, 167–168, 171, 173–177, 344–346 – Rechtsprechung des EuGH 28, 54 – Spanien 255–257, 260–261, 342–343, 345 – United Kingdom 292–301, 341–342, 344–345 effet d’exclusion 37 effet de substitution 37 Entstehungsgeschichte, siehe Auslegung, historische EuGH–Rechtsprechung – Anpassungsbedarf im Urlaubsrecht 1–3 – Gesetzesänderungen im Urlaubsrecht 155–156, 180, 239–243, 264, 306–307, 314, 316 European Communities Act 1972 (ECA) 38–40, 285, 287–289, 339 Gesetz, Grundaussage 292, 294, 298, 300–302, 341–342 Gesetz, Stoßrichtung, siehe Gesetz, Grundaussage Gesetzgebungsmaterialien 335 – siehe auch Auslegung, historische – Deutschland 85–86, 335 – Frankreich 210–211, 335 – Niederlande 165, 335 – Spanien 249, 335 – United Kingdom 278, 283–284, 335 golden rule 273 Grenzen der Auslegung, funktionale 349 – Deutschland 61, 149–150, 152, 346 – Frankreich 221, 345 – Niederlande 175–176, 346
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– Spanien 255, 343, 345 – United Kingdom 299–300, 303, 342 Grundrechtecharta 9 Horizontalwirkung von Richtlinien, siehe Richtlinie, fehlende Horizontalwirkung Human Rights Act 1998 (HRA) 292–301, 303, 341, 344 Interpretation – Auslegung 11 – Oberbegriff 11 – Rechtsfortbildung 11 Krankheit – Erwerb von Urlaubsansprüchen, siehe Urlaubsansprüche, Erwerb bei Krankheit – Nachholbarkeit von Urlaubsansprüchen, siehe Urlaub, Nachholbarkeit bei Krankheit – Übertragbarkeit und Verfall von Urlaubsansprüchen, siehe Urlaubsansprüche, Übertragbarkeit und Verfall bei Krankheit literal rule 272–273 Lückenbegriff, enger, siehe Rechtsfortbildung Lückenbegriff, weiter, siehe Rechtsfortbildung Materialien, siehe Gesetzgebungsmateria lien Mehrurlaub 12, 19–20, siehe auch Urlaubsansprüche, Übertragbarkeit und Verfall bei Krankheit Mindestbeschäftigungszeit, siehe Urlaubsansprüche, Mindestbeschäftigungszeit Mindesturlaub 12 mischief rule 273–274 Paktentheorie 84, 334 Rechtsfortbildung 8, 10–11, 110–114 – Lückenbegriff, enger 111–113, 139 – Lückenbegriff, weiter 112, 126–127, 140, 147
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Stichwortverzeichnis
– Lückenfüllung 111–113, 139–140 – Normkollision 114, 129, 141–142 – richtlinienkonforme 116–119, 126–130, 138–144, 147–148, 150–152, 340–342, 346, 352 – verfassungskonforme 103–106 Regelungsabsicht – i.e.S. 112, 142, 289, 318–319, 340, 344–345 – i.w.S. 111–112, 139–140, 318–319, 341, 345 – United Kingdom 276, 282–283, 318, 329, 333–334, 336, 344–345 Regelungswille, konkreter – Deutschland 76, 118, 128, 132, 134–136, 138, 148, 319, 340, 342, 352 – Niederlande 170, 344, 348 – United Kingdom 289, 294, 297, 300, 341 Richtlinie – fehlende Horizontalwirkung 23–24, 27, 31–33, 128, 255, 258–259, 290 – Harmonisierungswirkung 41–43, 55 – Umsetzungsvermutung, siehe Umsetzungswille – Vertikalwirkung 24, 27, 353 – Wirkungsweise 142–143, 353–354 Übertragungszeitraum 18–19 – Deutschland 63–66, 312–313, 326–327 – Frankreich 188–190, 218–220, 312–313, 327 – Niederlande 158–160, 311 – Spanien 240, 242–243, 311, 327 – United Kingdom 268–269, 303, 312–313, 327 Umsetzungsvermutung, siehe Umsetzungswille Umsetzungswille 29–30, 50–53, 348, 352, 354 – Deutschland 61–62, 64, 116–118, 128, 133–136, 148–149, 319, 340, 342 – Frankreich 348 – Niederlande 168–170, 173, 175, 339, 344 – Spanien 256, 322, 342 – United Kingdom 287–290, 292, 296–298, 301, 318–319, 339, 344 Unionsrecht, Effektivität 144, 352–353 Untersuchungsgegenstand
– höchstrichterliche Rechtsprechung 6 – untersuchte Länder 5–6 – urlaubsrechtliche Probleme 4–5 Urlaub, Nachholbarkeit bei Krankheit – Deutschland 66–67, 314 – Frankreich 191–192, 315 – Niederlande 161–162, 314 – Spanien 228–241, 315–316 – United Kingdom 269–271, 314–315 – Vorgaben des EuGH 9, 20–21 – Zeitpunkt der Erkrankung 191–192, 229–237, 241, 315–316 Urlaubsansprüche, Erwerb bei Krankheit – Deutschland 58, 307 – Frankreich 181–186, 308 – Niederlande 154–156, 307 – Spanien 226–227, 307 – United Kingdom 264, 307, 325 – Vorgaben des EuGH 9, 15–16 Urlaubsansprüche, Mindestbeschäftigungszeit – Deutschland 58, 305 – Frankreich 180–181, 306–307 – Niederlande 154, 305 – Spanien 225, 305 – United Kingdom 264, 305–306 – Vorgaben des EuGH 8, 14–15 Urlaubsansprüche, Übertragbarkeit und Verfall – bei Krankheit, siehe Urlaubsansprüche, Übertragbarkeit und Verfall bei Krankheit – Deutschland 58–59, 309 – Frankreich 186, 308–309 – Niederlande 156–158, 309 – Spanien 227, 308–309 – United Kingdom 265, 308 – Vorgaben des EuGH 16–17 Urlaubsansprüche, Übertragbarkeit und Verfall bei Krankheit 9, 17–19 – Deutschland 59–66, 310–312 – Frankreich 187–190, 310, 312–313 – Mehrurlaub 19–20, 66, 161, 190–191, 228, 269, 314 – Niederlande 158–160, 309–311 – Spanien 227–228, 309, 311 – Übertragungszeitraum, siehe Übertragungszeitraum
Stichwortverzeichnis
– United Kingdom 265–269, 310, 312 – Vorgaben des EuGH 17–19 Urlaubsrecht, nationales – Deutschland 57–58 – Frankreich 179–180, 184–186 – Niederlande 153–154, 156 – Spanien 223–225, 239–243 – United Kingdom 263–264 Verordnung 23, 32–33, 42, 131, 143, 353–354
Vertikalwirkung von Richtlinien, siehe Richtlinie, Vertikalwirkung Wortsinngrenze – Deutschland 78–80, 332, 342, 346 – Frankreich 207, 332, 343, 345 – Niederlande 164, 332, 344–346 – Spanien 247, 251, 332, 342, 345 – United Kingdom 272, 292, 294–296, 300–301, 341, 344
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