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German Pages 308 [309] Year 2014
antje wessels
wessels Ästhetisierung und ästhetische Erfahrung von Gewalt
wessels
zu Senecas Tragödien
Ästhetisierung und ästhetische Erfahrung von Gewalt
n der frühen Kaiserzeit, in der selbst das Töten ästhetisch überformt ist, sind die Grenzen zwischen Kunst und Lebenswelt nur schwer zu ziehen. Welche poetischen Strategien muß ein Dichter einsetzen, um sein Kunstwerk in einem solchen Umfeld als ein Kunstwerk auszuweisen, und wie kann er dem Zuschauer die Sicherheit vermitteln, daß er ein Kunstwerk vor sich hat und das »Vergnügen am Schrecklichen« legitim ist? Die Tragödien des Dichters, Philosophen und Politikers Seneca sind berühmt für ihre exzessiven Darstellungen physischer Gewalt. Sein Zugeständnis an die zeitgenössischen Sehgewohnheiten verbindet Seneca jedoch mit der Entfaltung eines Spektrums an Gewaltszenarien, die den Intellekt, die Imaginationskraft und die Souveränität des Zuschauers in einem hohen Maße herausfordern. Auf diese Weise wird es dem Zuschauer ermöglicht, die Betrachtung physischer Gewaltakte zu reflektieren, sich als Zuschauer seiner Rolle als Zuschauer bewußt zu werden und die fragile Grenze zwischen Bühnenraum und Wirklichkeit wieder herzustellen.
Ästhetisierung und ästhetische Erfahrung Eine Untersuchung von Gewalt
Universitätsverlag
isbn 978-3-8253-6084-9
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Heidelberg
bi bli oth ek d er klassisch en a ltertu m swissen s cha f t en Herausgegeben von
j ürg en paul s chwindt Neue Folge · 2. Reihe · Band 137
antje wessels
Ästhetisierung und ästhetische Erfahrung von Gewalt Eine Untersuchung zu Senecas Tragödien
Universitätsverlag
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
umschlagbild © Christian Hammer: o.T. (2012)
is b n 978-3-8253-6084-9 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2o14 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de
für Christian
Die Überlegungen zu der vorliegenden Monographie sind in Berlin, während meiner Zeit am Sonderforschungsbereich „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der Freien Universität, entstanden. Ich danke meinen Freunden und Kollegen, die mich und die Entstehung dieses Buches mit ihrem Scharfsinn und ihrer Denkfreude begleitet haben – allen voran: Juliane Rebentisch, Sandra Umathum, Anke Hennig, Susanne Gödde, Bettina Full, Martin Korenjak, Anna-Maria Kanthak, John Hamilton, Juliane Vogel und Glenn W. Most. Ich danke Eva Maria Mateo Decabo, die mir in all den Jahren mit Loyalität und viel Esprit zur Seite gestanden hat. Und ich danke von Herzen meiner Familie, die mir gelassen die Treue hält. Der Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin hat das zugrunde liegende Manuskript im Februar 2011 als Habilitationsschrift anerkannt. Nach 2012 erschienene Literatur konnte nur noch in Auswahl eingearbeitet werden. Ich danke der Freien Universität, die mir mit der Zuerkennung eines zweijährigen Habilitationsstipendiums ein intensives Arbeiten ermöglicht hat, Jürgen Paul Schwindt für die Aufnahme des Bandes in die vorliegende Reihe, Andreas Barth und Sybille Lepper für die verlegerische Betreuung sowie Maximilian Haas für die umsichtige Redaktion der Druckvorlage. Für Unterstützung bin ich darüber hinaus Therese Fuhrer, Joachim Küpper, Jan Assmann und Sigrid Weigel sowie dem Leiden University Centre for the Arts in Society zu Dank verpflichtet. Die Drucklegung wurde durch einen großzügigen Zuschuß der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung ermöglicht. Auch hierfür mein herzlicher Dank. Über das hier Sagbare hinaus gilt meine Dankbarkeit Bernd Seidensticker, der mein wissenschaftliches Arbeiten von den frühesten Anfängen mit einem achtsamen Auge, mit Weitblick und geduldiger Fürsorge begleitet und unterstützt hat.
Inhaltsverzeichnis Einleitung.......................................................................................................... 13 1 Gewalt und ihre Kontexte ............................................................................. 1.1 Vorüberlegungen zum Gewaltbegriff ................................................... 1.2 Gewalt bei Seneca – philosophische Prosaschriften ............................. 1.2.1 Entstehungsbedingungen von Gewalt – zur stoischen Anthropologie ................................................................................ 1.2.2 Angemessenheit von Gewalt ......................................................... 1.2.2.1 Selbstmord ................................................................................ 1.2.2.2 Gewalt im Amphitheater – öffentlich sichtbare Gewalt gegen Individuen ......................................... 1.2.2.3 Verhältnis von Individuum und Staat – strukturelle Gewalt ... 1.2.2.4 Erzeugung von Erwartungsangst als Gewaltform ...................
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2 Die Thematisierung von Gewalt in den Tragödien ....................................... 51 2.1 Gewalt im Mythos: Senecas Gewichtung der mythischen Stoffe gegenüber der literarischen Tradition ................................................... 51 2.1.1 Troades ......................................................................................... 52 2.1.2 Phaedra ......................................................................................... 58 2.1.3 Thyestes ......................................................................................... 60 2.2 Gewaltphänomene in den Tragödien. Vorüberlegungen zu ihrer Systematisierung .......................................................................... 64 2.3 Formen der Verursachung .................................................................... 68 2.3.1 Entwicklungsgeschichtlich bedingte Gewalt ................................. 69 2.3.2 Anstiftung von Gewalt................................................................... 76 2.3.2.1 Gewalt durch Leidenschaften – Phaedra und Medea .............. 77 2.3.2.2 Göttliches Wirken – Hercules Furens ..................................... 82 2.3.2.3 Gewalt durch Infektion – Thyestes ......................................... 85 2.3.2.4 Strukturbedingte Gewalt ......................................................... 87 2.4 Formen der Sichtbarkeit ....................................................................... 88 2.5 Formen der Ausübung: Physische versus kulturelle Gewalt ................ 94 2.5.1 Überleben als Strafe – Medea ........................................................ 96 2.5.2 Überleben als kulturell bedingte Notwendigkeit ........................... 98 2.5.2.1 Oedipus ................................................................................... 99 2.5.2.2 Phoenissae ............................................................................. 102 2.5.2.3 Hercules Furens .................................................................... 106
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Inhaltsverzeichnis
2.6. Formen der Ausübung: Psychische Gewalt ........................................ 2.6.1 Gewalt durch Schweigen ............................................................. 2.6.2 Erzeugung von Erwartungsangst ................................................. 2.6.3 Unsichtbare Gewalt – Gewalt durch Umdeutung ........................ 2.6.4 Das Opfer als (mutmaßlicher) Täter ............................................
110 110 114 117 122
3 Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Senecas Tragödien ........... 3.1 Zur zeitgenössischen Aufführungspraxis und ihren Entgrenzungstendenzen ...................................................................... 3.2 Zur antiken Wahrnehmungstheorie: Sehen und Hören....................... 3.3 Physisches und imaginatives Sehen – zur Bedeutung der phantasía ..................................................................................... 3.4 Zur Aufführungsfrage.........................................................................
129 131 137 141 160
4 Senecas implizite Poetologie ...................................................................... 4.1 Seneca über die Dichtung ................................................................... 4.2 Kunsterfahrung – ästhetische Erfahrung – Alltagserfahrung ............. 4.3 Nähe und Distanz – zum „Vergnügen am Schrecklichen“ ................. 4.4 Wirkungstheoretische Überlegungen ................................................. 4.4.1 Die Rolle des Zuschauers ............................................................ 4.4.2 Die Rolle des Zuschauers auf der Bühne – zur Inszenierung wirkungspoetischer Reflexionen in den Tragödien ..................... 4.4.2.1 Troades: Zuschauer und Spektakel ....................................... 4.4.2.2 Agamemnon: Distanz oder Nähe? ........................................ 4.4.2.3 Phaedra: Das Vergnügen am Schrecklichen wandelt sich in Entsetzen ...................................................... 4.4.2.4 Oedipus: Zwischen Hören und Sehen ...................................
167 167 172 177 185 185
195 198
5 Poetische Verfahren der Ästhetisierung von Gewalt .................................. 5.1 Vorbemerkungen ................................................................................ 5.2 Verfahren der Evokation von Nähe und Distanz ................................ 5.2.1 Szenenreportage........................................................................... 5.2.2 Teichoskopie und Phantasmatoskopie ......................................... 5.2.3 Botenbericht ................................................................................ 5.3 Körperliche Verfahren ........................................................................ 5.3.1 Direkte Präsentation physischer Gewalt ...................................... 5.3.1.1 Medea ................................................................................... 5.3.1.2 Oedipus ................................................................................. 5.3.1.3 Phaedra ................................................................................. 5.3.2 Indirekte Präsentation physischer Gewalt .................................... 5.3.2.1 Hercules Furens .................................................................... 5.3.2.2 Agamemnon .......................................................................... 5.3.2.3 Thyestes ................................................................................
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Inhaltsverzeichnis
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5.4 Sprachliche Verfahren..................................................................... 5.4.1 Ausgestaltung durch verbale Bilderzeugung ............................ 5.4.2 Verknappung ............................................................................ 5.5 Dramatische Verfahren .................................................................... 5.5.1 Agamemnon ............................................................................. 5.5.2 Hercules Furens ........................................................................ 5.5.3 Phaedra ..................................................................................... 5.6 Gewalt durch Sprache ..................................................................... 5.6.1 Sprache als Entwaffnung .......................................................... 5.6.2 Gewalt durch Umdeutung ........................................................ 5.6.2.1 Agamemnon ...................................................................... 5.6.2.2 Troades .............................................................................. 5.6.3 Gewalt durch Schweigen .......................................................... 5.6.3.1 Phaedra .............................................................................. 5.6.3.2 Thyestes ............................................................................. 5.6.3.3 Troades ..............................................................................
236 237 239 242 243 245 249 257 258 259 259 263 264 264 266 268
Fazit ................................................................................................................ 271 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 273 Index ............................................................................................................... 301
Einleitung Über Senecas Tragödien ist von Seiten ihrer literarischen und wissenschaftlichen Rezeption wiederholt bemerkt worden, daß sie sich durch eine ungewöhnliche und über das Maß des dramaturgisch Notwendigen weit hinausgehende Lust an der Darstellung blutiger Gewalt auszeichnen.1 Gemeint ist hier sowohl die Darstellung von ekelhaften oder grausamen Details als auch insbesondere die Tatsache, daß im Falle einer Bühnenaufführung auf die Darstellung von körperlichen Destruktionshandlungen nicht verzichtet werden kann. Dieser Eindruck ist nicht falsch. Aber er muß, so meine Hypothese, in zweifacher Hinsicht präzisiert werden: Mit der Darstellung von physischer Gewalt geht praktisch immer auch die Thematisierung nicht-körperlicher Gewaltformen einher.2 Und dort, wo physische Gewalt tatsächlich auf die Bühne gebracht wird, wird der emotionalen Nähe des Rezipienten durch Verfahren der Distanzerzeugung entgegengearbeitet. Der Zuschauer wird nicht ungeschützt und ohne Gegenkräfte dem Geschehen ausgesetzt, sondern muß das Geschehen in hohem Maße reflektieren. Gegenüber der unmittelbaren Erfahrung von physischer Gewalt, wie sie den zeitgenössischen Rezipienten in der Alltagswelt begegnete, evoziert die Ästhetisierung von Gewalt in Senecas Tragödien eine Form des Erfahrens, die sinnliche und kognitive Erfahrung miteinander kombiniert.
1
Vgl. etwa: Der Einfluß Senecas auf das europäische Drama. Hrsg. von Eckard Lefèvre. Darmstadt 1978; Robert S. Miola: Shakespeare and Classical Tragedy. The Influence of Seneca. Oxford 1992, S. 1-10 (= Kap. 1: „Heavy Seneca“), S. 10. Im deutschen Sprachraum etwa Gotthold Ephraim Lessing: „Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind“ (Berlin 1754). In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3: Werke 1754-1757. Hrsg. von Conrad Wiedemann u. a. Frankfurt a. M. 2003, S. 530-613. In der neueren Forschung: Manfred Fuhrmann: „Grausige und ekelhafte Motive in lateinischer Literatur“. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hrsg. von Hans Robert Jauß. München 1968 (= Poetik und Hermeneutik, Bd. 3), S. 23-66; Daniel Baraz: „Seneca, Ethics, and the Body: The Treatment of Cruelty in Medieval Thought“. In: Journal of the History of Ideas 59.2 (1998), S. 195-215; Bernd Seidensticker: „Distanz und Nähe. Zur Darstellung von Gewalt in der griechischen Tragödie“. In: Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung. Hrsg. von Bernd Seidensticker/ Martin Vöhler. Berlin/ New York 2006, S. 91-122, S. 104, Anm. 40: „Keine Frage ist, daß die Senecanische Form der Präsentation physischer Gewalt auf das Renaissancedrama und auf Shakespeare gewirkt hat.“ 2 Zwischen dem Begriff des Blutrünstigen, wie er der Identifikation von Gewalt und physischer Gewalt zugrunde liegt, und dem Begriff der Gewalt, der auch nicht-physische Spielarten einschließt, ist demnach zu unterscheiden, s. hierzu Kap. 1.
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Einleitung
Die Frage, wie sich ästhetisierte Formen von Gewalt von denen des Alltagslebens unterscheiden und wodurch sich deren ästhetische Erfahrung gegenüber der Alltagserfahrung auszeichnet, ist für die frühe Kaiserzeit besonders brisant. Denn in der römischen Kaiserzeit lassen sich reale und ästhetisierte Gewalt nicht immer strikt voneinander trennen: Ästhetische Überformungen von Gewaltakten fallen nicht ausschließlich in den Bereich der Kunst; sie finden sich auch als Bestandteil von politischen und strafrechtlichen Handlungen: Massenhinrichtungen von Kriegs- und Strafgefangenen werden als mythische Spektakel, Tierhetzen oder Seeschlachten inszeniert und können ebenso zu einem ästhetischen Ereignis werden wie sich, umgekehrt, im Rahmen theatraler Aufführungen der Vollzug von realer Gewalt beobachten läßt.3 Realer Gewalt ist demnach nicht nur in der Alltagswelt zu begegnen. Zu sehen ist sie auch in Kontexten, die wir aus moderner Perspektive dem Bereich der Kunst zuschreiben würden. Eines der makabersten Beispiele für diese Überschneidung ist die in der Literatur geradezu topisch gewordene Aufführungspraxis im Zusammenhang mit einem Stück über die Kreuzigung des Räubers Laureolus.4 Sueton spielt darauf in seiner Vita über Caligula an.5 Und ca. fünfzehn Jahre nach Senecas Tod wird das Zusammenfallen von realem und theatralem Tötungsakt auch den Epigrammatiker Martial zu einer literarischen Ausgestaltung inspirieren.6 In seiner Epigrammsammlung De spectaculis, die er 80 n. Chr. anläßlich der Eröffnung des Flavischen Amphitheaters verfaßte, bezieht sich Martial auf die angebliche Aufführung eines Mimus, bei der ein zum Tode verurteilter Verbrecher die Figur des Laureolus spielen muß und dabei lebendig, am Kreuze hängend, von wilden Tieren zerrissen wird (Mart. spect. 9, 1-4):7
3
Vgl. Kathleen M. Coleman: „Fatal charades: Roman executions staged as mythological enactments“. In: Journal of Roman Studies 80 (1990), S. 44-73. 4 Vgl. Iuv. Sat. 8, 187: Laureolum velox etiam bene Lentulus egit, iudice me dignus vera cruce („Der schnelle Lentulus spielte den Laureolus gut – meiner Meinung nach war er eines echten Kreuzes würdig.“). 5 Suet. Cal. 57, 4: cum in Laureolo mimo, in quo a[u]ctor proripiens se ruina sanguinem uomit, plures secundarum certatim experimentum artis darent, cruore scaena abundauit. 6 Vgl. dazu Kathleen M. Coleman: „The Liber Spectaculorum: Perpetuating the Ephemeral“. In: Toto Notus in Orbe: Perspektiven der Martial-Interpretation. Hrsg. von Farouk Grewing. Stuttgart 1998, S. 15-36, und dies.: M. Valerii Martialis Liber spectaculorum. Text, Translation, and Commentary. Oxford 2006. 7 Zählung der Epigramme im Folgenden nach der Edition von David R. Shackleton Bailey: M. Valerii Martialis Epigrammata. Stuttgart 1990. Siehe dazu grundlegend: Coleman: „Fatal charades“ [wie Anm. 3], bes. S. 61-66. Vgl. ferner: Jürgen Wertheimer: „Blutige Humanität“. In: Schönheit und Schrecken. Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien. Hrsg. von Peter Gendolla/ Carsten Zelle. Heidelberg 1990, S. 33. Augusta Hönle/ Anton Henze: Römische Amphitheater und Stadien. Gladiatorenkämpfe und Circusspiele. Zürich/ Freiburg i. Br. 1981, S. 56-58. Antje Wessels: „Theater und Realität in der römischen Kaiserzeit“. Berlin 2006 (www.sfb626.de/veroeffentlichungen).
Einleitung Qualiter in Scythica religatus rupe Prometheus assiduam nimio pectore pavit avem, nuda Caledonio sic viscera praebuit urso non falsa pendens in cruce Laureolus
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Wie Prometheus, am skythischen Felsen gefesselt, mit seiner üppigen Leber den hartnäckigen Vogel nährt, so hält dem Kaledonischen Bären seine nackten Eingeweide hin der am echten Kreuz hängende Laureolus.
– eine würdige Strafe, so interpretiert der Dichter das Geschehen; denn der Darsteller habe ebenso wie die Figur, die er verkörpert, einen Menschen umgebracht.8 Inwieweit sich Martial hier auf ein reales Geschehen bezieht, muß unklar bleiben. Doch ist es nicht ganz abwegig, daß die auf Überbietung angelegten Inszenierungen, wie sie Martial zu diesem und ähnlichen Epigrammen9 inspiriert haben, eine ins Reale ausgreifende Darstellung von Tötungsakten einschlossen. Das gilt selbst für die Darstellungen von mythischen Erzählungen: Ähnlich wie über Laureolus, dessen Tod am Kreuz nach den Regeln der damnatio ad bestias beschleunigt wird, heißt es über einen Darsteller des Orpheus, daß sich von dessen Sangeskunst zwar eine Menge anderer Tiere bezaubern ließ – nicht jedoch ein undankbarer Bär; ein Akteur wiederum, dem die Rolle eines Daedalus zugewiesen wurde, habe während eines derartigen Angriffs von den Flügeln seines mythischen Vorgängers nur träumen können. „Was auch immer der Mythos erzählt“, ruft der Epigrammatiker dem Veranstalter der Spiele zu, „die Arena zeigt es dir“: quidquid fama canit, praestat harena tibi (spect. 6, 4). Zwischen realer und ästhetisierter Gewalt, zwischen politisch-sozialer Wirklichkeit und künstlerischer Darbietung sind demnach Überschneidungen an der Tagesordnung, die weder zwischen Kunst und Alltag noch zwischen ästhetischen und außerästhetischen Erfahrungsbereichen eine klare Grenze erkennen lassen – und dies mit entsprechenden Folgen: Eine ästhetische Erfahrung zu machen bedeutete nicht zwingend, sich in der sicheren Rolle des Betrachters zu wissen und dem ästhetischen Objekt mit der Distanz begegnen zu dürfen, wie man sie einem als fiktional ausgewiesenen Gegenstand entgegenbringt (und wie sie eine der Bedingungen für das Vergnügen am Schrecklichen ist); die Wahrnehmung von politischen (oder doch jedenfalls mit real wirksamen Folgen verbundenen) Handlungen wiederum schloß keineswegs aus, daß man an der Betrachtung des Geschehens nicht auch ästhetisches Vergnügen empfinden konnte. Daß in vielen gesellschaftlichen Bereichen ʻKunstʼ und ʻNichtkunstʼ nahtlos ineinander über-
8
Diese Beziehung jedenfalls wird neben anderen möglichen Straftaten erwogen, vgl. Mart. Spect. 9, 7-10: denique supplicium | vel domini iugulum foderat ense nocens, | templa vel arcano demens spoliaverat auro |subdiderat saevas vel tibi, Roma, faces. In jedem Fall stehen reales Strafmaß und Verbrechen in einer inhaltlichen Beziehung, vgl. 9, 11f.: vicerat antiquae sceleratus crimina famae, | in quo, quae fuerat fabula, poena fuit. 9 Mart. Spect. 6 (Pasiphae), 10 (Daedalus) und 24 (Orpheus).
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Einleitung
gingen, mußte eine eigentümliche Form ästhetischen Erfahrens evozieren. Ein Aufführungsmodus wie der von Martial beschriebene läßt sich nicht zwingend als die Durchkreuzung feststehender Darstellungs- und Handlungsformen oder fest markierter Rahmenbedingungen beschreiben; er impliziert vielmehr ein spezifisches Ineinandergreifen. Für die damit verbundenen Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodi kann das nicht ohne Folgen geblieben sein. Es stellt sich demnach die Frage, inwieweit tatsächlich von einem provokativen Zusammentreffen von Kunst-, ästhetischer und Alltagserfahrung oder nicht eher von einer eigenständigen, kulturhistorisch spezifischen Qualität ästhetischen Erfahrens zu sprechen ist, die im übrigen einmal mehr die Historizität ästhetischer Erfahrung veranschaulichen kann. Für die Untersuchung der Ästhetisierung von Gewalt in Senecas Tragödien ist die in der Literatur verschiedentlich beschriebene Überblendung von realer und theatraler Gewalt von zentraler Bedeutung: Denn vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die sich nicht nur an das Töten, sondern auch an eine Ästhetisierung des Tötens gewöhnt hatte, mußte sich der kaiserzeitliche Dramatiker der Herausforderung gegenübersehen, spezifische (und über die aus den griechischen Tragödien bekannten Techniken hinausgehende) Ästhetisierungsstrategien zu entwickeln, die dazu geeignet waren, die dargestellte Gewalt gegenüber den in der Lebenswelt sich vollziehenden Ästhetisierungsprozessen als etwas auszuweisen, das nicht nur dem Ästhetischen, sondern mehr noch, dem Bereich der Kunst angehört. Mit anderen Worten: Seneca mußte, wenn er seine Tragödien als Kunst verstanden wissen wollte, einen Erfahrungsmodus evozieren, der sich vor dem Hintergrund der beschriebenen Entgrenzungsphänomene noch als ästhetische Erfahrung von Kunst, mithin als Kunsterfahrung charakterisieren ließ. Klassische Techniken, wie der äußere Hinweis auf die Artifizialität des Dramas oder Strategien der Desillusionierung, können vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rezeptionsbedingungen nicht notwendigerweise als hinreichend gelten, um die geforderte Distanz des Zuschauers gegenüber dem rezipierten Gegenstand zuverlässig herzustellen und aufrechtzuerhalten. Eine weitere zentrale Voraussetzung für die Beurteilung von Senecas Ästhetisierungsstrategien ergibt sich aus der Untersuchung der Rezeptionsbedingungen, wie sie für das kaiserzeitliche Theaterwesen im eigentlichen Sinne zu konstatieren sind. Zwar wird sich nicht endgültig entscheiden lassen, ob bzw. unter welchen Umständen Senecas Tragödien zur Aufführung gelangten – im Folgenden wird (doch dazu weiter unten10) davon ausgegangen, daß ihre
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Zur Aufführungsfrage s. vor allem unten, Kap. 3, S. 160ff. Auch wenn die Argumente, die für eine Bühnenaufführung sprechen, insgesamt überzeugender erscheinen als die von der Gegenseite angeführten Einwände, so wird die im folgenden zugrunde gelegte Behauptung, daß die Stücke aufgeführt wurden, vermutlich eine Hypothese bleiben müssen. Was dagegen als sicher angesehen werden darf, ist, daß die dramatische Konzeption der Tragödien als eine Reaktion auf die zeitgenössische Theaterpraxis zu
Einleitung
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Aufführbarkeit zumindest intendiert war. Über die zeitgenössische Aufführungspraxis im Allgemeinen und insofern über die an Dramenaufführungen herangetragenen Erwartungen des Publikums existiert jedoch reichhaltiges Material. So wissen wir, daß man häufig einzelne Dramenausschnitte in zum Teil aufwendigen Inszenierungen oder auch als Pantomimus aufführte,11 daß die stofflichen Inhalte nicht nur sprachlich, sondern auch über Musik und Tanz vermittelt wurden und daß insgesamt betrachtet – darin stimmen die antiken Quellen, die wir über das zeitgenössische Theaterwesen besitzen, völlig überein – der Körperlichkeit und Präsenzerfahrung ein überaus hoher Stellenwert beigemessen wurde. Welche Relevanz diese Beobachtung für Senecas Konzept der Ästhetisierung gehabt haben muß, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß sich das Drama gegen die Gattungen, die das Bedürfnis nach multimedialen Inszenierungsformen besser befriedigen konnten, nicht hat durchsetzen können: Während Mimus und Pantomimus zu Massenmedien avancierten, war das Drama (bis auf wenige Ausnahmen)12 kaum mehr präsent. Daß eine Untersuchung, die der „Ästhetisierung von Gewalt“ nachspüren will, ihrem Gegenstand nur dann gerecht werden kann, wenn sie neben dem Werk auch die Erfahrungen des Publikums einbezieht, versteht sich damit von selbst, auch wenn die rezeptive Seite aus der Überlieferung nur indirekt, nämlich
verstehen ist und die Tragödien, wenn sie vielleicht auch nicht tatsächlich aufgeführt wurden, als aufführbare konzipiert wurden. So wie die Bühne – auch vom lesenden Rezipienten – als Aktionsort mitzudenken ist (vgl. hierzu Christoph Kugelmeier: Die innere Vergegenwärtigung des Bühnenspiels in Senecas Tragödien. München 2007), so wird auch in den Tragödien selbst der sehende Rezipient in die Konzeption eingeschlossen. Im folgenden wird stets von „Bühne“ und „Zuschauer“ gesprochen. 11 Vgl. dazu Alessandra Zanobi: „The Influence of Pantomime on Seneca’s Tragedies“. In: New directions in Ancient Pantomime. Hrsg. von Edith Hall und Rosie Wyles. Oxford 2008, S. 227-257, und dies.: Senecaʼs Tragedies and the Aesthetics of Pantomime. London/ New York 2014; Marie-Hélène Garelli-François: „Pantomime, tragédie et patrimoine littéraire sous l’Empire“. In: Pallas 71 (2006), S. 113-125. Für die Senecanischen Tragödien: Albrecht Dihle: „Seneca und die Aufführungspraxis der römischen Tragödie“. In: Antike & Abendland 29 (1983), S. 162-171; Bernhard Zimmermann: „Seneca und die römische Tragödie der Kaiserzeit“. In: Lexis 5/6 (1990), S. 203-214; ders.: „Seneca und der Pantomimus“. In: Strukturen der Mündlichkeit in der römischen Literatur. Hrsg. von Gregor Vogt-Spira. Tübingen 1990, S. 161-167. Die Aufführung von Einzelszenen wird durch die Akteinteilung begünstigt. Zur dramatischen Struktur der Seneca-Tragödien und dem Zerfall in Einzelszenen s. Wolf Hartmut Friedrich: Untersuchungen zu Senecas dramatischer Technik. Borna/ Leipzig 1933. 12 Neben Seneca: Aemilius Scaurus (Verfasser einer Atreus-Tragödie, s. Tac. ann. 6, 29, 3; Dio Cass. 58, 24, 3), Curiatius Maternus (Domitius, Cato, Agamemnon, Thyest), Pomponius Secundus (der bedeutendste Tragiker seiner Zeit). Die Tragödientexte sind allesamt nicht überliefert.
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Einleitung
durch die Rekonstruktion der Rahmenbedingungen für die Rezeption sowie die Rezeptionserwartungen des Autors, erschlossen werden kann. Vor dem Hintergrund der Ästhetisierung der Lebenswelten sowie des spektakelhaften Charakters, den das Theaterwesen zu Senecas Zeiten angenommen hatte, erweist sich die in der Forschung oftmals vertretene Position, Senecas Darstellungen von Gewalt reagierten in erster Linie auf das Ausmaß der realen Gewalt in der zeitgenössischen Gesellschaft,13 in zweifacher Hinsicht als problematisch: Zum einen läßt sich angesichts der Ästhetisierung der Lebenswelt nur schwer rekonstruieren, was genau unter ,realer‘ Gewalt zu fassen ist. Zum anderen spielt das Thema der physischen Gewalt in Senecas Tragödien keineswegs die zentrale Rolle, die ihr allgemein zugesprochen wird. Senecas Ästhetisierungsstrategien hatten in erster Linie auf die spezifischen Sehgewohnheiten zu reagieren, wie sie durch die Körperlichkeit und Bildlichkeit der zeitgenössischen theatralen Präsentationen (auch hinsichtlich anderer Themen) kultiviert worden waren. Die Plastizität und die Detailfreude seiner Darstellungen von u. a. physischer Gewalt sind daher weniger dem Interesse an der Gewalt als Thema geschuldet als vielmehr im Zusammenhang mit der Etablierung eines die zeitgenössischen Sehgewohnheiten aufgreifenden poetischen Verfahrens zu verstehen, das – wie auf andere Themen – auch auf die Darstellung von Gewalt ausgreift. Was an Senecas Tragödien häufig irritiert hat, ist ihr vermeintlicher Widerspruch zwischen der fast pathetischen Bildlichkeit und Körperlichkeit auf der einen und der rhetorischen Kälte und Knappheit auf der anderen Seite. Die zahlreichen negativen Urteile, die über Senecas Tragödien in der Rezeptionsgeschichte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gefällt worden sind,14 vermitteln einen Eindruck davon, wie schwierig es ist, die Paradoxie dieses Zusammen-
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Vgl. beispielsweise Anna L. Motto: „Seneca on Cruelty“. In: Dies.: Further Essays on Seneca. Frankfurt a. M./ Berlin/ Bern u. a. 2001 (= Studien zur klassischen Philologie, Bd. 122), S. 119-126. 14 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Vierter Theil. Neue vermehrte zweyte Aufl. Leipzig 1794, S. 357. August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (3 Bde. Heidelberg 1809-1811). In: Kritische Schriften und Briefe. Hrsg. von Edgar Lohner. Bd. 5: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil. Stuttgart 1966, S. 235. Ludwig Tieck: Kritische Schriften, Bd. 1. Leipzig 1848, S. 369. Joseph von Eichendorff: Werke und Schriften. Hrsg. von Gerhart Baumann in Verb. mit Siegfried Grosse, Bd. 4. Stuttgart 1958, S. 118. Otto Ribbeck: Geschichte der römischen Dichtung, Bd. 3. Stuttgart 1892, S. 72. Friedrich Leo: Die Composition der Chorlieder Senecas. In: Rheinisches Museum 52 (1897), S. 509-518; ders.: L. Annaei Senecae tragoediae, Bd. 1: De Senecae tragoediis observationes criticae. Berlin 1878 (Nachdruck 1962), S. 158. Die Zahl der positiven Urteile – etwa Julius L. Klein: Geschichte des Dramas, Bd. 2. Leipzig 1874, S. 351ff., oder Leopold von Ranke: „Die Tragödien Senecas“. In: Abhandlungen und Versuche. Neue Sammlung. Hrsg. von Alfred Dove/ Theodor Wiedemann. Leipzig 1888, S. 19ff. – fällt dagegen gering aus.
Einleitung
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spiels in eine kohärente Lesart aufzulösen. Die in diesen Urteilen jeweils hervorgehobenen Eigenarten der Tragödien stehen jedoch in einem nur scheinbar widersprüchlichen Verhältnis. Denn bezieht man sie in ihrer Gesamtheit auf die Vielschichtigkeit der Rezeptionsbedingungen, so lassen sie sich als Strategien verstehen, die einander zuarbeiten. Der Zweck dieser doppelten Strategie ist es, sich den zeitgenössischen Sehgewohnheiten zwar anzudienen, dem Publikum jedoch zugleich die Fähigkeit abzuverlangen, die erwarteten oder geforderten Bilder der Gewalt zu imaginieren, und die Gewalt selbst als einen komplexen Prozeß zu verstehen, in dem nicht nur körperliche Gewalt eine tragende Rolle spielt. Statt an das Auge des Zuschauers appelliert Seneca an das Ohr des Hörers, an ein Sinnesorgan also, dem auch in der Wahrnehmungstheorie, etwa bei Plutarch, zuweilen ein den visuellen Eindrücken überlegenes Rezeptionspotential beigemessen wird.15 Seneca erreicht mit den Mitteln der Sprache, was die visuelle Anschauung eines Geschehens nicht zu leisten vermag: Durch die Sprache lassen sich die einzelnen Elemente eines Geschehens in ein zeitliches Verhältnis setzen, das mit der gedachten Zeit nicht übereinstimmen muß. Indem sie die Aufmerksamkeit auf das Geschaute lenkt und steuert, deutet und reflektiert, indem sie innehalten, die Perspektiven wechseln oder zeitliche Koinzidenzen auflösen kann, behauptet sie nicht nur gegenüber der beschriebenen Zeit ihr eigenes Zeitregime. Sie erfaßt auch inhaltliche Zusammenhänge, die sich dem bloßen Auge überhaupt nicht erschließen würden. Insofern ist sie dem reinen Sehen überlegen. Die Verarbeitung des Versprachlichten erfordert jedoch beim Rezipienten, mehr noch als das auch bei der rein physischen Wahrnehmung der Fall ist, eine imaginative und kognitive Kompetenz.16 Dabei ermöglicht es die Sprache in besonderer Weise, Emotionalität und Reflexion gleichermaßen zu befördern. Die Sprache führt den Rezipienten emotional an das Geschehen heran,
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Plut. mor. 14d – 37b, (De audiendis poetis) und 37b – 48d (De audiendo). Zu Plutarchs und den gegebenenfalls stoischen Einflüssen vgl. unten, S. 137ff. und Anm. 285. Zur stoischen Wahrnehmungstheorie vgl. zuletzt: Marion Clausen: Maxima in sensibus veritas? Die platonischen und stoischen Grundlagen der Erkenntniskritik in Ciceros Lucullus. Frankfurt a. M./ Berlin/ Bern u. a. 2008 (= Studien zur klassischen Philologie, Bd. 161). 16 Diese vielleicht etwas zu stark pointierte Differenzierung zwischen Bild und Sprache ist hier der Überlegung geschuldet, daß Seneca das rein physische (d.h. unreflektierte) Sehen im zeitgenössischen, sehr spektakelhaften Aufführungsbetrieb stark kritisiert. Natürlich appelliert auch jedes Bild an die imaginativen und kognitiven Fähigkeiten des Rezipienten. Selbst die Betrachtung der Natur ist kein ausschließlich physischer Vorgang (vgl. dazu unten, S. 176), und es ist unbestritten, daß die Betrachtung gerade von Bildern (selbst von einfachen Handlungen) im Erschließungsprozeß eine kognitive Kompetenz erfordert (vgl. dazu den von Klaus Sachs-Hombach herausgegebenen Band Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt a. M. 2005).
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und doch erlaubt sie es ihm, auch die Distanz dazu zu wahren. Gewalt wird damit auf einer sowohl emotionalen wie auch reflexiven Ebene erfahrbar. Vor diesem Hintergrund ist es von einiger Relevanz, daß Senecas Tragödien sowohl in inhaltlicher als auch formaler Hinsicht einen Gewaltbegriff implizieren, der weit mehr einschließt als physische Gewalt und darüber hinaus für das Verständnis und die Rezeption der Gewaltszenen konstitutiv ist. Es ist unbestritten, daß die aus der Perspektive des attischen Dramas und noch von Horaz in De arte poetica als Regelverletzung eingestufte Präsentation von physischer Gewalt bzw. Grausamkeit17 in Senecas Tragödien keineswegs vermieden wird. Betrachtet man jedoch die Kontexte, in die diese Präsentationen hineingeflochten werden, so wird deutlich, daß die eigentliche Brutalität weniger durch die körperliche Präsentation von physischer Gewalt vermittelt wird, als vielmehr durch die argumentative Stringenz und Härte, in die die Gewaltakte selbst eingebettet werden. Daß Gewalt auf der Bühne auch zu sehen ist, ist also nur ein Aspekt (und da sie in der modernen Rezeptionsgeschichte eine so schockierende Wirkung zeigte, darüber hinaus ein Phänomen, das mehr über die Moderne als über die zeitgenössische Rezeption sagt). Ein anderer ist die Präsentation jener über den Bereich des Körperlichen hinausweisenden Phänomene – etwa der Erwartungsangst –, deren Einstufung als einer Spielart von Gewalt sich überhaupt nur demjenigen erschließen kann, der das Geschehen nicht nur physisch, sondern auch vor seinem inneren Auge sieht und reflektiert.18 Hinzu kommt die historische Bedingtheit dessen, was wir bzw. Senecas Zeitgenossen unter Gewalt verstehen: Senecas (potentielles) Publikum hatte einen anderen Begriff davon, was Gewalt ist und was nicht, es hatte – bedingt schon durch die z. T. auch institutionell verankerten Grausamkeiten (etwa im Amphitheater), die nicht zwingend als Gewalt bzw. Regelverletzung wahrgenommen wurden – eine andere Auffassung von den Kategorien des ʻTätersʼ und des ʻOpfersʼ als sie uns aus moderner Perspektive vertraut ist, und seine Sehgewohnheiten sowohl mit Blick auf die Gewalt im Alltag als auch bezogen auf deren Präsentation auf der Bühne unterschieden sich in hohem Maße von den unsrigen. Insofern dürfte den wenigen Bühnenszenen, in denen Menschen oder Tiere zu Tode kommen, nicht jene Wirkungen zugekommen sein, welche die von der Faszination bis zum Ekel reichenden Reaktionen der Moderne suggerieren wollen. Umgekehrt dürfte eine Szene wie das mehr als ein Fünftel der Troades (524-813) ausmachende Gespräch zwischen Ulixes und Andromacha, in dem der
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Hor. ars 179-188: aut agitur res in scaenis aut acta refertur. | segnius irritant animos demissa per aurem, | quam quae sunt oculis subiecta fidelibus et quae | ipse sibi tradit spectator: non tamen intus | digna geri promes in scaenam, multaque tolles | ex oculis quae mox narret facundia praesens. | ne pueros coram populo Medea trucidet, | aut humana palam coquat exta nefarius Atreus, | aut in avem Procne vertatur, Cadmus in anguem. | quodcumque ostendis mihi sic, incredulus odi. 18 Zur Erwartungsangst s. unten, Kap. 2, S. 114ff., mit Anm. 233.
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gerissene Grieche durch eine subtile Kommunikationstechnik seine trojanische Gesprächspartnerin zur Agentin ihres eigenen Unglücks macht,19 für den zeitgenössischen Rezipienten mehr als eine rhetorische Spielerei bedeutet haben. Die Darstellungen nicht-physischer Gewaltphänomene nehmen in den Tragödien eine prominente Rolle ein. Das Spektrum reicht von der physischen über die psychische bis hin zur „unpersönlichen“, beispielsweise von kulturellen oder religiösen Gewohnheiten und Werten ausgehenden und also in der Struktur der gesellschaftlichen Ordnung begründeten, „strukturellen“ Gewalt. Entsprechend differenziert sind die Strategien ihrer darstellerischen Umsetzung im ästhetischen Raum. Dabei stehen die nicht-körperlichen Formen der Gewalt nicht einfach additiv neben den körperlichen Formen. Ihre Bedeutung beziehen sie vielmehr daraus, daß sie als ein wesentlicher Teil der komplexen Prozesse, Vorbedingungen und Auswirkungen physischer Destruktionshandlung dargestellt und begriffen werden und insofern auch vom Rezipienten in die Reflexionen über Gewalt einbezogen werden müssen. Seneca wird den Herausforderungen, die ihm die spezifischen Erfahrungsformen und Rezeptionsbedingungen seiner Zeit abverlangen, sowohl auf inhaltlicher wie formaler Ebene in mehrfacher Hinsicht gerecht: In inhaltlicher Hinsicht gelingt es ihm, die Entstehungsbedingungen und Kontexte von physischer Gewalt innerhalb eines reichen und differenzierten Spektrums an Gewaltphänomenen zu entfalten, diese zu reflektieren und den Zuschauer zu entsprechenden Reflexionen herauszufordern: Gewalt (auch physische) wird anders als im Amphitheater nicht einfach nur körperlich dargestellt und unhinterfragt vermittelt, sondern mit Blick auf ihre Vernetzung innerhalb der komplexen Zusammenhänge gesellschaftlicher, politischer, kultureller und religiöser Strukturen begründet, hinterfragt und kritisiert. Stellt Seneca in seinen philosophischen Schriften den Zusammenhang zwischen Emotionen und rationaler und ethischer Reflexion vehement in Frage,20 so zeigen die Tragödien, daß die reflexive Verarbeitung eines Gegenstandes an dessen emotionale Erfahrung geknüpft ist und kognitive und sinnliche Prozesse in produktiver Weise einander zuspielen. In den Tragödien gelingt es Seneca, die Produktion von Nähe gegenüber einem Gegenstand mit Verfahren der Distanzerzeugung in Balance zu setzen und Reflexion und Emotionen gleichermaßen intensiv ins Spiel zu bringen: 1) Mehr noch als in den auf körperliche Präsenz setzenden theatralen Präsentationsformen werden Verfahren zur Herstellung von Nähe eingesetzt – hierhin gehören die mit sprachlichen Mitteln erreichte Steuerung der Aufmerksamkeit und die Sichtbarmachung von Details, die sich der rein visuellen Wahrnehmung weitgehend
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S. dazu unten, Kap. 2, S. 123ff. Vgl. dazu unten, Kap. 4, S. 188f.
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entziehen würden, die Plastizität der Darstellung21 sowie (in dramatischer Hinsicht) die Herstellung von Erwartungsangst. 2) Die hierdurch evozierte Nähe wird durch die Herstellung eines Distanzverhältnisses regelmäßig wieder unterlaufen – zu denken ist hier an Verfahren der Verknappung, die an die kognitiven Fähigkeiten des Rezipienten appellieren, sowie an Einblendungen ethischer Reflexionen, etwa in Form von Szenenreportagen oder im direkten Dialog. Beides, Nähe und Distanz gegenüber dem Gegenstand, wird den Rezipienten der Tragödie in hohem Maße abverlangt. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen gewinnen die poetischen Verfahren der Ästhetisierung in ihrer Summe einen pädagogischen Impetus, der über die bloße inhaltliche Wiedergabe moralischer Statements weit hinausweist: Denn die große Spannweite zwischen Nähe und Distanz, wie sie die verschiedenen Ästhetisierungsstrategien erkennen lassen, zeigt deutlich, daß Seneca die Sehgewohnheiten seiner Rezipienten nicht nur aufgreift, sondern auch durch sprachliche Mittel verfeinert, konterkariert und damit letztendlich einer Schulung unterzieht. Das ohnehin Sichtbare wird durch sprachliche Verfahren noch sichtbarer gemacht, das Unsichtbare, wie die strukturell bedingte Gewalt, in der dialogischen Sprache des Dramas überhaupt erst sicht- bzw. erfahrbar. In der emotional vermittelten Sichtbarmachung des Unsichtbaren,22 also in der künstlerischen Mimesis jener Aspekte der menschlichen Natur, die weder die Bilder der Alltagswelt noch das Medium der philosophischen Prosaschrift zu vermitteln verstehen, scheint einer der Schlüssel zu Senecas Poetologie und seinem poetischen Umgang mit den komplexen Formen von Gewalt zu liegen. In der Forschung ist das Thema ʻGewaltʼ in Senecas Tragödien bislang weitgehend mit Blick auf die Präsentation des Gewalttätigen und Grausamen, und hierin besonders in Bezug auf die Rolle untersucht worden, die der Gestaltung der Affekte und ihrer pathologischen Entartung zukommt.23 Die Beschreibung
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Die sprachliche Vermittlung von Bildern kennt nicht nur unbegrenzte Möglichkeiten der Erweiterung, Verlängerung und Vervielfältigung, um die imaginative Wahrnehmung (weit über das visuelle Goutieren von Sensationselementen hinaus) zu intensivieren, sondern vermag auch Details wiederzugeben, die sich durch die physische Darstellung nicht vermitteln lassen, vgl. etwa Ausdehnungen von Raum und Zeit in der HippolytusArie (Pha. 1-84) oder in der Zauberszene der Medea (Med. 740-848), s. hierzu unten, Kap. 3, S. 141ff. zur phantasia, hier bes. S.148, und Kap. 4, S. 177f., sowie Monika Maria Staehli-Peter: Die Arie des Hippolytus: Kommentar zur Eingangsmonodie in der Phaedra des Seneca. Zürich 1974, ad loc. 22 Vgl. die hierfür einschlägige Monographie von Alessandro Schiesaro: The Passions in Play: Thyestes and the Dynamics of Senecan Drama. Cambridge 2003. 23 Zu nennen sind vor allem Otto Regenbogen: „Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas“. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 7. (1927/ 1928), S. 167-218 (Nachdruck: Darmstadt 1963). Karlheinz Trabert: Studien zur Darstellung des Pathologischen in den Tragödien des Seneca. Erlangen 1953. Manfred Fuhrmann: „Grausige und ekelhafte Motive in lateinischer Literatur“. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene
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von Gewalt als Inhalt der Tragödien, mithin die Konzentration auf ihre werkästhetischen Aspekte, hat dazu geführt, daß die Frage nach den Formen ihrer Darstellung und ihrer verschiedenen Wirkungsweisen auf die möglichen Rezipienten der Stücke weitgehend ausgeblendet wurde. Einer solchen Verengung Vorschub geleistet hat zudem die Tatsache, daß auch ein großer Teil des umfangreichen philosophischen Werks Senecas erhalten ist und mit Senecas Gesamtœuvre sowohl die künstlerische Darstellung übersteigerter Leidenschaften als auch zahlreiche theoretische Abhandlungen zur Affektlehre vorliegen. Dabei wurde meist davon ausgegangen, daß beide Seiten des Werkes in einem inneren Zusammenhang stehen24 und daß Seneca in seinen Tragödien habe dramatisch vorführen wollen, wozu es führt, wenn der Mensch das ausgewogene Maß seiner Affekte überschreitet. Letztlich agiere, so der Grundtenor jener Ansätze, der Verfasser der Tragödien doch nur als Philosoph, der seine Lehre mit den Mitteln der Dichtung habe schmackhaft machen wollen. Ut more prudentium medicorum – nach Art der klugen Ärzte –, schreibt schon der mittelalterliche Tragödienkommentator Nicolaus Treveth, eine gedankliche Figur des Lukrez aufnehmend,25 habe Seneca seine bittere Medizin süß eingehüllt, um sie seinen Patienten besser verabreichen zu können.26 Dieser Interpretation, die die Tragödien letztlich als dramatisierte Philosophie und warnende Exempla verstehen wollte, läßt sich jedoch zweierlei entgegenhalten: Zum einen kann die Tragödie, als Kunstform, keineswegs als ein didaktisches Medium gefaßt werden, das ausschließlich zur gesellschaftlichen Einflußnahme benutzt und als solches aufgenommen wurde. Zum anderen scheinen die politischen wie philosophischen Momente der Tragödien nicht ausschließlich auf inhaltlicher Ebene angesiedelt zu sein; das, was Seneca vermitteln will, scheint sich vielmehr gerade nicht nur innerhalb des inneren
des Ästhetischen. Hrsg. von Hans Robert Jauß. München 1968 (= Poetik und Hermeneutik, Bd. 3), S. 23-66. Bernd Seidensticker: Die Gesprächsverdichtung in den Tragödien Senecas. Heidelberg 1969. Volker Wurnig: Gestaltung und Funktion von Gefühlsdarstellungen in den Tragödien Senecas. Interpretationen zu einer Technik der dramatischen Stimmungserzeugung. Frankfurt a. M./ Bern 1982. 24 Anders Joachim Dingel: Seneca und die Dichtung. Heidelberg 1974, der den umgekehrten Nachweis versucht und gerade die Widersprüche beider Konzeptionen hervorhebt. 25 Lucr. 1, 935-950 und 4, 10-25. 26 Cuius [sc. Senecas] doctam maturitatem in arduo virtutum culmine obversantem ad scribendas tragedias reor inclinatam, ut more prudentium medicorum, qui amara antidota melleo involuta dulcore, gustu inoffenso ad humorum purgamentum et sanitatis fomentum transmittunt, ethica documenta fabularum oblectamentis inmersa cum iocunditate mentibus infirmis ingereret, per que, eruderatis vitiis, uberem virtutum segetem iniectis seminibus procrearet. Zitiert nach Ezio Franceschini: Studi e note di filologia latina medievale, Mailand 1938, S. 30. Vgl. dazu Dingel: Seneca und die Dichtung [wie Anm. 24], S. 11f.
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Kommunikationssystems, also in Form von inhaltlich vermittelten Botschaften, sondern auch und gerade in der Kommunikation und Interaktion zwischen Text und Rezipient zu manifestieren. Auf einer methodisch ähnlichen Grundlage ist wiederholt versucht worden, die Intensität, mit der die Grausamkeit im Allgemeinen Eingang in die Senecanische Tragödie gefunden hat, als eine Reaktion auf das politische und gesellschaftliche Umfeld zu verstehen.27 Auch hier hat sich die Interpretation in besonderer Weise aufgrund der Materialien angeboten, die zur Verfügung stehen. Sowohl der gesamtgesellschaftliche, sozialhistorische Kontext (Moralvorstellungen) als auch das politische Leben Senecas als Neros Erzieher ist durch historische Darstellungen gut dokumentiert. So lassen sich die moralischen Vorstellungen durch die Berichte der Geschichtsschreibung, wiewohl es sich auch hierbei um eine Kunstform handelt, hinreichend rekonstruieren, um auf dieser Grundlage die kaiserzeitlichen Vorstellungen von Gewalt zu erschließen. Gleichwohl gibt es auch hier Einwände. Die moralischen Vorstellungen gehören zwar zu den Bedingungen der Wahrnehmung von realer Gewalt und sind daher auch in die Rekonstruktion der Erfahrung von ästhetisierter Gewalt mit einzubeziehen. Daß Seneca diese Wahrnehmungsbedingungen kannte und seine Rezeptionserwartungen danach orientiert haben wird, heißt aber nicht, daß seine Tragödien deshalb lediglich als eine mimetische oder übersteigerte Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufzufassen sind. Hier lediglich nach Kongruenzen zu suchen, scheint ebensowenig ratsam wie das mit Blick auf das Verhältnis zwischen den philosophischen und dramatischen Inhalten des Autors Seneca ist.28 Die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Gewalt und ästhetisierter Gewaltdarstellung, zwischen philosophischer Darstellung und dramatischem Ausdrucks- bzw. Wirkungswillen scheinen vielmehr wesentlich komplexer zu sein als es in diesen Modellen vorausgesetzt wird.
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Moses Hadas: „The Roman Stamp of Seneca’s Tragedies“, in: American Journal of Philology 60 (1939), S. 220-231; Denis und Elisabeth Henry: The Mask of Power. Seneca’s Tragedies and Imperial Rome. Warminster/ Chicago 1985; Stefanie Grewe: Die politische Bedeutung der Senecatragödien und Senecas poetisches Denken zur Zeit der Abfassung der „Medea“. Würzburg 2001. (= Identitäten und Alteritäten. Hrsg. von HansJoachim Gehrke/ Monika Fludernik/ Hermann Schwengel, Bd. 6). 28 Gleichwohl scheint es nicht notwendig, der in der Forschungsgeschichte weitgehend isoliert gebliebenen Position Joachim Dingels zu folgen. Dingel hatte in seiner 1974 erschienenen Habilitationsschrift, Seneca und die Dichtung [wie Anm. 24], einen Ansatz gewagt, der die Anliegen des Tragödienautors von denen des Autors der philosophischen Schriften trennen und den Dramen ästhetische Autonomie einräumen will. Zur Kritik s. Gerlinde Wellmann-Bretzigheimer: „Senecas Hercules furens“. In: Wiener Studien 12 N.F. (1978), S. 111-150, und die Rezension von Eckard Lefèvre in: Poetica 9 (1977), S. 123-130.
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Senecas Poetologie und sein Konzept der ästhetischen Erfahrung läßt sich aus den textimmanenten Implikationen der Tragödien gut rekonstruieren. Auch die Prosaschriften, insbesondere die darin entwickelte Affekttheorie, sind dabei heranzuziehen – dies allerdings nicht (wie in der Forschungsgeschichte oftmals versucht) mit Blick auf die Beziehungen zwischen der dramatischen Präsentation von Leidenschaften (beispielsweise Medeas oder Atreus’ Zorn) und ihrer philosophischen Darstellung (hier: De ira),29 sondern mit Blick auf Senecas wirkungsästhetische Überlegungen und Intentionen. Anhand des Umgangs mit Gewalt, der gewählten Verfahren ihrer Ästhetisierung und der auf Bühnenebene formulierten Formen ihrer Wahrnehmung läßt Seneca in den Tragödien ein auf die zeitgenössischen Rezeptionsbedingungen zugeschnittenes Konzept ästhetischer Erfahrung erkennen. Wie ihm das im einzelnen gelingt, ist Gegenstand des vorliegenden Buches. Die Untersuchung gliedert sich dabei wie folgt: Im ersten Kapitel sollen die historischen und philosophischen Bedingungen von Senecas Gewaltdiskurs betrachtet werden. Dem innerhalb der Tragödien geführten Gewaltdiskurs gilt das zweite Kapitel, das anhand von close readings der Tragödien (mit Ausnahme der beiden unechten: Octavia und Hercules Oetaeus) eine Systematisierung der einzelnen Gewaltphänomene versucht. Das dritte Kapitel bereitet die Ausführung des vierten Kapitels vor, in dem die implizite Poetologie Senecas in Augenschein genommen werden soll: Es widmet sich den eingangs angesprochenen Entgrenzungsphänomenen sowie den wahrnehmungstheoretischen Aspekten, wie sie nicht nur für die Aufführungsfrage, sondern auch unabhängig davon für das Problem von Nähe und Distanz von Relevanz sind. Die Aspekte der Ästhetisierung bzw. ästhetischen Erfahrung sind dann der Gegenstand des vierten Kapitels, das der Analyse der in Kapitel fünf behandelten Passagen aus den Tragödien insofern vorarbeiten soll, als es die hierfür relevanten theoretischen Grundlagen – etwa die Frage der Betrachtung von Gewalt – sowohl auf der Basis der Senecanischen Prosatexte als auch anhand entsprechender Verweise in den Tragödien selbst untersucht. Wie der Zuschauer als Betrachter der Tragödien in die Ästhetisierungsprozesse einbezogen wird und was das für seine ästhetische Erfahrung der auf der Bühne dargestellten Gewalt bedeutet, sowie die Frage, inwieweit die auf der Bühne dargestellte Gewalt mit der Gewalterfahrung des Zuschauers korrelieren muß, ist schließlich das Thema des fünften und letzten Kapitels, das dieses Problem anhand ausgewählter Passagen aus den Tragödien exemplarisch untersuchen wird.
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Ähnlich wurde auch der Hercules Furens als eine Dramatisierung von De ira gedeutet, s. Wellmann-Bretzigheimer: „Senecas Hercules furens“ [wie Anm. 28].
1
Gewalt und ihre Kontexte
1.1
Vorüberlegungen zum Gewaltbegriff
In seinen Prosaschriften hat Seneca weder eine Theoretisierung noch eine Systematisierung nicht-physischer Gewaltphänomene vorgelegt. Gleichwohl spielt die Thematisierung dieser Phänomene, wie in der Arbeit am Text noch zu zeigen sein wird, in den Tragödien eine große Rolle. Und auch die Prosaschriften zeigen immerhin Ansätze dafür, daß Seneca Gewalt nicht auf ihre physische Spielarten begrenzt sieht. Um eine heuristische Ausgangsbasis zu haben und die verschiedenen Gewaltphänomene, wie sie in den Tragödien aufscheinen, begrifflich präziser fassen zu können, soll daher zunächst einmal – ausgehend von modernen Ansätzen und somit aus der Außenperspektive – eine Differenzierung der verschiedenen Phänomene versucht werden. Die moderne Gewaltforschung30 unterscheidet gemeinhin zwischen personaler (direkter) und struktureller (indirekter), zwischen physischer und psychischer und zwischen statischer und dynamischer Gewalt.31 Unter direkter Gewalt ist eine Destruktionshandlung zu verstehen, die im Unterschied zur indirekten Gewalt nicht von der Struktur eines Systems,32 sondern von der konkreten Aktivität eines oder mehrerer individueller Subjekte ausgeht. Die Differenzierung in physische und psychische Gewalt dient dagegen einer näheren Bestimmung der Krafteinwirkung und ihres Zielobjekts. Während als physische Gewalt eine –
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Johan Galtung: Art. „Gewalt“. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. von Christoph Wulf. Weinheim/ Basel 1997, S. 913-919 (mit weiterer Lit.). Einen hervorragenden Überblick über die Systematisierung in der neueren Forschung gibt Gertrud Nunner-Winkler: „Überlegungen zum Gewaltbegriff“. In: Gewalt, hrsg. von Wilhelm Heitmeyer/ Hans-Georg Soeffner. Frankfurt a. M. 2004, S. 21-61. 31 Vgl. dazu Jochen Hofmann: „Anmerkungen zur begriffsgeschichtlichen Entwicklung des Gewaltbegriffs“. In: Aggression und Gewalt. Hrsg. von Alfred Schöpf. Würzburg 1985, S. 259-272. 32 Der Begriff der „strukturellen Gewalt“ wurde 1971 von dem norwegischen Politologen und Friedensforscher Johan Galtung formuliert. Diesem erweiterten Gewaltbegriff zufolge ist alles, was Individuen daran hindert, ihre Anlagen und Möglichkeiten voll zu entfalten, eine Form von Gewalt (Johan Galtung: „Gewalt, Frieden und Friedensforschung“. In: Kritische Friedensforschung. Hrsg. von Dieter Senghaas. Frankfurt 1971; ders.: Strukturelle Gewalt. Reinbek 1975, S. 7-36). Eine Macht-Theorie, die strukturalistisch und apersonal geprägt ist, vertritt auch Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. (frz. Orig.: Surveiller et punir. La naissance de la prison. 1975). Frankfurt a. M. 1977.
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1 Gewalt und ihre Kontexte
meist direkte – Schädigung von physischen Körpern zu verstehen ist – etwa Mord oder Vandalismus –, umfaßt das komplexe Feld der psychischen (also gegen die psychische Integrität gerichteten) Gewalt neben Freiheitsberaubung und Angriffen auf die soziale Identität o. ä. auch weniger direkte Formen wie die Schädigung durch Unterlassen oder Vernachlässigung, das Vorenthalten von Informationen, das Schweigen usw. Die Unterscheidung von statischer und dynamischer Gewalt schließlich zielt auf die Beurteilung der Gewalthandlung innerhalb der sie kontextualisierenden Rechtsordnung. Ist die Gewalt staatlich legitimiert, dient sie also der Festigung oder gar Begründung der staatlichen Ordnung oder Macht, so spricht man von statischer, ist sie gegen die staatliche Macht gerichtet und folglich illegitim, so spricht man von dynamischer Gewalt. Die Beschreibung und Beurteilung eines Gewaltaktes ist dabei unter Einbeziehung aller drei genannten Definitionsfelder zu leisten. So kann Gewalt durch kulturspezifische Gewohnheiten oder Verhältnisse in ein kulturelles System eingebaut und insofern „strukturell“ bedingt sein, ohne daß sich hieraus zwingend auch eine Aussage darüber treffen ließe, ob es sich um physische oder psychische Gewalt handelt oder in welchem Verhältnis die von diesen Gewohnheiten ausgehende Gewalt zu den die staatliche Ordnung konstituierenden Prozessen steht (d.h. ob von statischer oder von dynamischer Gewalt gesprochen werden muß). Eine Handlung wiederum, die sich als Spielart statischer Gewalt beschreiben läßt, kann zugleich entweder von einem einzelnen Individuum begangen werden (personale Gewalt) oder aber im Kontext einer kulturellen Tradition stehen; und sie kann entweder physisch oder psychisch sein. Während sich Handlungen, die dem Bereich der personalen Gewalt zugehören, relativ einfach als solche erkennen lassen, erweist sich das Phänomen der strukturellen Gewalt als äußerst komplex. Denn als strukturelle Gewalt sind die Beeinträchtigung der Entwicklung potentieller Kompetenzen oder andere unerwünschte Widerfahrnisse (Ausgrenzung u. ä.) zu verstehen, die dem Menschen aus dem sozialen Zusammenleben erwachsen und insofern Teil des Systems sind, in dessen Rahmen sie sich vollziehen. Zu den Merkmalen struktureller Gewalt gehören zudem ihre organisatorische Verankerung sowie ihre soziale, politische oder kulturelle Legitimation, was dazu führt, daß das Gewaltgeschehen gelegentlich nicht mehr auf den ersten Blick als ein solches identifizierbar ist. Im Bereich der ökologischen Gewalt etwa, um das anhand eines sehr modernen Beispiels zu erläutern, würde die mit dem Ziel der Naturzerstörung unternommene Abholzung eines Waldes als direkte Gewalt, eine industrielle Aktivität dagegen, die, durch das Bemühen um wirtschaftliches Wachstum und damit gesellschaftlich legitimiert, zur Transformation der Natur beiträgt, als strukturelle (bzw. strukturimmanente) Gewalt gelten. Die Bedeutung, die der Legitimation dabei zukommt, wird besonders deutlich im Bereich der kulturellen Gewalt, also jener Formen von Gewaltausübung, die im Zeichen sozialer, religiöser o. ä. Praktiken bzw. zentraler Wertideen stehen: So kann der Erhalt der physischen Integrität der Wahrung anderer Interessen untergeordnet
1 Gewalt und ihre Kontexte
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werden, so etwa – auch dies sei wiederum anhand eines moderneren Beispiels veranschaulicht – bei einem Duell, bei dem dem Erhalt der Ehre gegenüber der Vermeidung physischer Gewalt nur deshalb Superiorität beigemessen wird, weil das Bewahren oder Wiederherstellen der Ehre als Wert kulturell legitimiert, wenn nicht sogar gefordert ist. Alles in allem: Gewalt muß nicht zwingend mit der Verletzung einer Ordnung oder gar der Stiftung von Chaos einhergehen, sondern kann auch umgekehrt als eine Strategie eingesetzt werden, um einen als höher geltenden Zweck – das Gemeinwohl, die eigene Ehre, eine religiöse oder politische Überzeugung u. ä. – zu erfüllen oder um eine unrechtmäßig verletzte Ordnung wiederherzustellen. Besondere Komplexität erreicht diese Form der Gewalt, wenn das Verhältnis von Erhaltung und Zerstörung der Ordnung nicht mehr eindeutig beschrieben werden kann, oder wenn die Grenze zwischen Opfer- und Täterrolle nicht mehr eindeutig erkennbar ist. So kann die Zerstörung von Ordnung einem höheren Zweck untergeordnet oder gar eingeschrieben und insofern als ein Mittel gerechtfertigt sein. Dem Konflikt ausgesetzt, physische gegen kulturelle Gewalt abwägen und an der Ausübung von Gewalt gleichsam aktiv mitwirken zu müssen, kann ein Täter, dessen Handlung einem höheren Zweck dient und unter diesen Voraussetzungen unumgänglich ist, wiederum zugleich den Status eines Opfers erlangen. In der modernen Gewaltforschung ist die maßgeblich von Johan Galtung initiierte Extension des Gewaltbegriffs wiederholt mit dem Argument kritisiert worden, daß sie zu einer Verwässerung des Begriffs führe. Daraus ist die Tendenz erwachsen, den Begriff wieder auf die „zielgerechte, direkt physische Schädigung von Menschen durch Menschen“ einzugrenzen und dabei von einer Bewertung der Legitimität der Handlungen abzusehen.33 Dies mag, insbesondere dann, wenn es darum geht, einen politisch pragmatischen Gewaltbegriff zu formulieren, sinnvoll sein. Historisch beschreiben und analysieren jedoch läßt sich das Phänomen der Gewalt ohne die Einbeziehung der kulturspezifisch gegebenen Legitimität entsprechender Handlungen, mit anderen Worten: ohne die Berücksichtigung der hinsichtlich des Verhältnisses von Gewalt und Rechtsordnung gegebenen historisch-kulturellen Differenzen nur sehr unzulänglich. Denn was in einer Kultur unter Gewalt verstanden wird, ist nicht etwa nur durch die Zuschreibung bestimmter Handlungsweisen bestimmt (z. B.: physische Verletzung ist gleich Gewalt), sondern auch durch das Verhältnis, in dem eine bestimmte Handlung zu der sie jeweils kontextualisierenden Rechtsordnung steht: Selbst physische Gewalt kann, wenn sie de facto ausgeübt wird, zugleich de iure begangen werden, dann nämlich, wenn sie einer Rechtsordnung zuspielt, die den Zweck der Gewalthandlung legitimiert.
33
Nunner-Winkler: „Überlegungen zum Gewaltbegriff“ [wie Anm. 30], S. 26.
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1 Gewalt und ihre Kontexte
Auch wenn eine historische Untersuchung des im kaiserzeitlichen Alltag sich manifestierenden Gewaltbegriffs an dieser Stelle nicht geleistet werden soll – hierfür hat bereits Dirk Rohmann eine ausführliche Studie vorgelegt34 –, so sei doch einmal mehr darauf hingewiesen, daß Senecas Gewaltdiskurs in einem historischen Umfeld angesiedelt ist, in welchem Gewalt nicht nur besonders präsent, sondern auch in einem hohen Maße institutionell verankert ist. Dies gilt auch und besonders für die Beurteilung von physischer Gewalt. Die Tatsache, daß selbst das rituell begründete Menschenopfer erst 97 v. Chr. durch Senatsbeschluß verboten worden ist,35 daß die Todesstrafe zu Senecas Lebzeiten noch weithin akzeptiert und üblich war, spielt in diesem Zusammenhang eine ebenso wichtige Rolle wie die Tatsache, daß physische Gewalt in der Kaiserzeit auch dort, wo sie strukturell bedingt legitimiert war, in einem weitaus stärkerem Maße sichtbar war. Daß wir uns bei der historischen Rekonstruktion des kaiserzeitlichen Gewaltbegriffs in erster Linie auf die Werke von Tacitus, Sueton und Cassius Dio, mithin auf eine Geschichtsschreibung stützen müssen, die nicht zuletzt auch literarische Interessen bedient, erweist sich dabei nur bedingt als problematisch. Zweifelsohne haben wir es hier mit Texten zu tun, deren Bemühen um Literarizität und erzählerische Wirksamkeit unverkennbar ist: Tacitus, Sueton,36 auch Cassius Dio – sie alle stellen trotz der Differenzen ihrer historiographischen Programmatik doch mehr oder minder einmütig die Willkür und Grausamkeit der Herrscher, die sie beschreiben, in den Vordergrund,37 und hier die
34 Dirk Rohmann: Gewalt und politischer Wandel im 1. Jahrhundert n. Chr. München 2006, behandelt in den Anfangskapiteln auch den historischen Diskurs. 35 S. Plin. nat. 30, 3, 12: DCLVII demum anno urbis Cn. Cornelio Lentulo P. Licinio Crasso cos. senatus consultum factum est, ne homo immolaretur, palamque fit, in tempus illud sacra prodigiosa celebrata. Vgl. dazu auch Arthur M. Eckstein: „Human Sacrifice and Fear of Military Disaster“. In: American Journal of Ancient History 7 (1982), S. 6995. 36 Rohmann: Gewalt und politischer Wandel [wie Anm. 34], S. 35, Anm. 87, führt insges. 33 Passagen auf, in denen Sueton Gewaltakte darstellt (Iul. 82, Tib. 61; 62, 2; 64; Cal. 20, 23, 3; 26-28, 58, 2f.; 59; Claud. 29, 1f.; 34; Nero 35, 5-37, 2; 49; Galba 20; Vit. 17; Dom. 10f.). Gegenüber den Senecanischen Tragödien, in denen meist die Opferperspektive im Vordergrund steht, stehen Opfer- und Täterperspektive in den Schilderungen Suetons im Gleichgewicht. 37 Vgl. hierzu Erich Auerbach: Mimesis. Bern/ München 1946, S. 49f.: „Tacitus schreibt aus einer Überschau über die Fülle der Ereignisse und Geschäfte, [...]: daß er dabei nicht ins Trockene, Unanschauliche verfällt, liegt nicht nur an seinem Genie, sondern an der unvergleichlichen Kultur des Sinnlich-Anschaulichen in der Antike überhaupt – aber die Welt von seinesgleichen, für die er schrieb, verlangte das Sinnlich-Anschauliche | in den Grenzen des durch lange Tradition festgelegten Geschmacks – wobei sich übrigens bei ihm schon Anzeichen einer Wandlung dieses Geschmacks finden, in der Herausarbeitung des düster Grausigen.“
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Sensationsgeschichten und das dramatische Moment ihrer Erzählung von den ʻeigentlichen’ Begebenheiten zu unterscheiden, ist eine Schwierigkeit, die zwar leicht benannt,38 in konkreter Hinsicht aber nicht so ohne weiteres beseitigt werden kann. Dennoch kann kaum bestritten werden, daß die Tendenzen, wie sie die Texte erkennen lassen,39 für eine Rekonstruktion des zeitgenössischen Gewaltbegriffs insofern brauchbar sind, als sie das Spannungsverhältnis zwischen der erlebten Gewalt einerseits und den moralischen Zielvorstellungen andererseits zumindest indirekt thematisieren: Die Herausstellung der sicherlich überzeichneten Zustände suggeriert ein moralisches Verständnis, in dessen Idealvorstellung das beschriebene (oder unterstellte) Verhalten der kaiserlichen Machthaber gerade keinen Platz hat. Und sie formuliert indirekt, nämlich in der Hervorhebung von Transgressionen, die Grenzen, durch die der – aus zeitgenössischer Perspektive – als gewaltfrei empfundene ʻRaumʼ gedanklich markiert wird. So werden die staatlich, religiös oder gesellschaftlich legitimierten und insofern systematisch integrierten Formen der Gewalt im Vergleich zu den als imperiale Ordnungszeichen fungierenden Gewaltakten kaum in Frage gestellt oder kritisiert – was insbesondere für diejenigen Bereiche gilt, in denen die Bedeutung der Institution entweder abgenommen oder die Tradition selbst nur aus inertia fortbestanden hat, so etwa im Fall der Sklaverei,40 der (in der Kaiserzeit stark abgeschwächten) patria potestas41 oder der religiös sanktionierten Gewalt, wie sie etwa bei den Gladiatorenkämpfen indirekt noch nachwirkt.42 Für die Beurteilung des Senecanischen Gewaltdiskurses und der Ästhetisierung von Gewalt entscheidend erscheint jedoch nicht nur das Ausmaß an Gewalt, sondern auch die Frage, inwieweit die sichtbare Ausübung, hier: physischer Gewalt als gesellschaftlich akzeptabel empfunden wurde. Ob ein Mensch außerhalb eines für die Öffentlichkeit einsehbaren Raumes (etwa im Gefängnis) gefoltert oder getötet wird, oder öffentlich vor den Augen eines Publikums – etwa
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Vgl. hierzu Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (amerikan. Orig.: Metahistory. The Historical Imagination in 19th-century Europe, Baltimore/ London 1973). Frankfurt a. M. 1994, S. 234ff.; ders.: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1999 (amerikan. Orig.: Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism. Baltimore 1978). 39 Vgl. hierzu ausführlich Rohmann: Gewalt und politischer Wandel [wie Anm. 36], S. 98-114, 138-143. 40 Zur Sklaverei vgl. Geza Alföldy: Antike Sklaverei. Bamberg 1988. Keith R. Bradley: „Seneca and Slavery“. In: Seneca. Hrsg. von John G. Fitch. Oxford 2008, S. 335-347. 41 Antti Arjava: „Paternal Power in Late Antiquity“. In: Journal of Roman Studies 88 (1998), S. 147-165, hier: S. 148. 42 Zum religiösen Hintergrund der Gladiatorenspiele vgl. Wessels: „Theater und Realität in der römischen Kaiserzeit“ [wie Anm. 7], S. 3 (mit weiterer Literatur).
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zur Abschreckung oder zur Belustigung der Menge –, ist für die Beurteilung eines Gewaltaktes ein entscheidendes Kriterium. Bei einem für die Öffentlichkeit nicht sichtbaren Vollzug richtet sich der Gewaltakt ausschließlich gegen denjenigen, dem sie in einem körperlichen Sinne widerfährt. Bei der öffentlichen Ausübung von Gewalt hingegen sind die Zuschauer oder diejenigen, die das Geschehen sehen könnten, integraler Bestandteil der Handlung. Ohne die Zuschauer verlöre diese Form der Gewalt ihren eigentlichen Sinn oder doch jedenfalls einen wesentlichen Teil davon. Hinzukommt, daß die rein sinnliche Betrachtung einer als legitim empfundenen Gewalthandlung (etwa einer Hinrichtung) nicht zwingend damit einhergeht, daß diese auch bewußt als physische Gewalt wahrgenommen wird. Gerade der Aspekt der Sichtbarkeit von (nicht nur) physischer Gewalt43 wird daher bei der Analyse des Senecanischen Gewaltdiskurses sowie bei der Untersuchung der Rezeptionsbedingungen und Senecas impliziter Poetologie eine Rolle spielen.
1.2
Gewalt bei Seneca – philosophische Prosaschriften
In seiner Sittengeschichte Roms hat Ludwig Friedländer Seneca zu einer Ausnahmeerscheinung unter den zeitgenössischen Intellektuellen stilisieren wollen und Senecas gelegentlich geäußerte Kritik an den Spielen als eine Verurteilung der darin praktizierten Gewalt gedeutet:44 Der einzige unter den uns erhaltenen römischen Schriftstellern, der sich in der Auffassung auch dieses Gegenstandes [sc. der Gewalttätigkeit der Gladiatorenspiele] zum allgemein menschlichen Standpunkte erhoben hat, ist der Philosoph Seneca, und auch er vielleicht nur momentan oder erst in seinen letzten Jahren;
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Vgl. hierzu Foucault: Überwachen und Strafen [wie Anm. 32]; Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (1995). Frankfurt a. M. 2002. 44 Ludwig Friedländer: Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von Augustus bis zum Ausgang der Antonine, Bd. 2. 10. Auflage. Aalen 1979, S. 94-97, hier: S. 96. Ähnlich schon Villy Sørensen: Seneca – Ein Humanist an Neros Hof. München 1984, S. 144 (vgl. Miriam T. Griffin: Seneca: A Philosopher in Politics. Oxford 1976, S. 178). Eine Diskussion von Senecas Verhältnis zur Gewalt findet sich bei Christine Richardson-Hay: First Lessons. Book 1 of Seneca’s Epistulae Morales – A Commentary. Berlin/ Bern/ Brüssel u. a. 2006, S. 251-269, bes. S. 255-260, hier: S. 259; dies.: „Mera Homicidia: A Philosopher Draws Blood – Seneca and the Gladiatorial Games“. In: Prudentia 36 (2004), S. 87-146. Vgl. ferner: Catharine Edwards: „The Suffering Body: Philosophy and Pain in Seneca’s Letters“. In: Constructions of the Classical Body. Hrsg. von James I. Porter. Ann Arbor, Michigan 1999, S. 252-268; Life, Death, and Entertainment in the Roman Empire. Hrsg. von David J. Mattingly und David S. Potter. Ann Arbor, Michigan 1999.
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wenigstens nennt er in einer im reifen Mannesalter geschriebenen Schrift [45] die Gladiatorenspiele unter den leichten Zerstreuungen, mit denen man vergebens den Kummer zu bannen sucht.
Tatsächlich finden sich in Senecas Prosawerk gelegentlich Bemerkungen, die darauf hinweisen, daß er solcherlei Veranstaltungen wenig Enthusiasmus entgegenbrachte.46 Hinter der von Friedländer gezogenen Schlußfolgerung scheint jedoch in erster Linie ein seit der Spätantike verbreiteter Irrtum zu stehen, nämlich das nachhaltige Interesse, die ethische Haltung des Philosophen Seneca mit den Grundlinien christlicher Ethik in Einklang zu bringen und sein Werk als deren Präfiguration zu vereinnahmen.47 Denn die Durchsicht der einschlägigen Passagen48 vermittelt ein anderes Bild und zeigt einen Seneca, der Gewalt nicht nur billigt oder gutheißt, sondern unter bestimmten Umständen sogar fordert. Ein wirklich zentrales Thema ist die Gewalt in den Prosaschriften zwar nicht. In
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Angesprochen ist Senecas consolatio ad Helviam (dial. 12, 17, 1): Volumus interim illum [sc. adfectum] obruere et devorare gemitus; per ipsum tamen compositum fictumque vultum lacrimae profunduntur Ludis interim aut gladiatoribus animum occupamus; at illum inter ipsa quibus avocatur spectacula levis aliqua desiderii nota subruit. Ideo melius est vincere illum quam fallere („Wir wollen den Affekt zuweilen bedecken und unser Schluchzen herunterschlucken; aber auch durch unsere gelassene und aufgesetzte Miene dringen die Tränen doch hindurch. Wir suchen bisweilen durch Besuch von Schauspielen und Gladiatorenkämpfen die Seele abzulenken; aber mitten in den Spielen, durch die sie abgelenkt werden soll, taucht aus dem Untergrund plötzlich irgendeine leichte Sehnsuchtsanwandlung hervor.“) Seneca mißt dem Besuch von Spielen demnach keine therapeutische oder moralische (und schon gar keine langfristige) Wirkung bei, sondern hält den angenehmen Effekt, der sich während der Betrachtung einstellt, für eine Täuschung (vgl. das fallere), die es dem Besucher ermögliche, sich kurzfristig abzulenken und die schmerzhaften Leidenschaften vorübergehend zu verdecken: am eigentlichen Zustand des Betrachters verändert sich nichts. Zu den wirkungstheoretischen Konzepten, auch der Moderne, vgl. unten, Kap. 4, S. 172ff. 46 Hierhin gehört vor allem das im siebten Brief geäußerte Entsetzen über ein mittägliches Hinrichtungsspektakel, Seneca, epist. 7, 3-5, bes. 3; siehe hierzu unten, Kap. 4, S. 187f. 47 Die Unterstellung christlicher Affinitäten hat seit der Spätantike Tradition, vgl. hierzu den gegen Ende des 4. Jahrhunderts fingierten Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, vgl. hierzu: Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus. Hrsg. von Alfons Fürst/ Therese Fuhrer/ Folker Siegert. München 2006; Jan N. Sevenster: Paul and Seneca. Leiden 1961; Klaus Rosen: „Paulus und die Brüder Seneca“. In: Welt u. Umwelt der Bibel 11.1 (2006), S. 28f.; Troels Engberg-Pedersen: „Gift-giving and friendship. Seneca and Paul in Romans 1-8 on the logic of God’s charis and its human response“. In: Harvard Theological Review 101 (2008), S. 15-44. 48 Vgl. hierzu die kleine, aber verdienstvolle Studie von Magnus Wistrand: „Violence and Entertainment in Seneca the Younger“. In: Eranos 88 (1990), S. 31-46, die all jene Stellen zusammenstellt, in denen sich Seneca in seinen Prosaschriften zum Thema Gewalt geäußert hat.
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seiner Studie über Gewalt und politischen Wandel im 1. Jahrhundert n. Chr. hat Dirk Rohmann49 jedoch darauf hingewiesen, daß die entsprechenden Bemerkungen eine bemerkenswerte Beiläufigkeit (und insofern, so möchte man hinzufügen, eine billigende Haltung) erkennen lassen. Festzustellen ist, daß Seneca – dort, wo er sich zu diesem Thema äußert – gegen die Ausübung von Gewalt verhältnismäßig wenig einzuwenden hat – was insofern erstaunlich ist, als die Gewalt als Teil des menschlichen Charakters in der stoischen Anthropologie – wie der Blick auf die oikeiosis-Lehre zeigen wird50 – ausdrücklich keinen Platz hat.
1.2.1 Entstehungsbedingungen von Gewalt – zur stoischen Anthropologie In der stoischen Philosophie und Anthropologie (abgesehen von dem in dieser Hinsicht etwas komplexeren Konzept des Poseidonios) wird Gewalt allenfalls als Störfaktor bzw. Irrtum oder Abweichung vom Normalzustand des Menschen betrachtet. Der stoische Weise oder der dem Ideal des stoischen Weisen ergebene Mensch muß sich nicht darum bemühen, über sein Menschsein hinauszuwachsen, sondern soll vor allem darauf bedacht sein, durch Mißachtung der von außen auf ihn einwirkenden Gefahren seinen natürlichen Zustand (wieder) herzustellen. Das kostet Kraft und Disziplin, wird aber nicht als ein innerer Kampf mit der eigenen menschlichen Natur verstanden, sondern im Gegenteil als eine Hinwendung zu sich selbst. Die Laster, so heißt es bei Seneca in einem der Briefe an Lucilius (Sen. epist. 94, 55)51 sind nicht mit uns geboren; im Urzustand herrscht vielmehr Gewaltlosigkeit (epist. 90, 4ff.). Ursache von Gewalt ist entweder die schlechte Eigenschaft eines Menschen (epist. 94, 62-67) – als Beispiel dienen prominente Figuren wie Alexander, Caesar und Pompeius oder Marius – oder ein Irrtum (error, epist. 94, 68f.).52 In der Verantwortung steht fernerhin das zum Bösen verführende Eigentum (Sen. epist. 90, 4ff.), also eine vordergründig zwar von außen auf den Menschen treffende Gefahr, letztlich aber in der Entwicklung des Menschen selbst begründete Eigenschaft: Nachdem sich die Brüderlichkeit der Menschen lange Zeit ganz unverletzt erhalten habe (epist. 90, 3), wird die natürliche Gewaltlosigkeit durch das Aufkommen von Eigenschaften zerstört, die den
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Rohmann: Gewalt und politischer Wandel [wie Anm. 36], S. 19. S. dazu unten, S. 35ff. 51 Sen. epist. 94, 55: Erras enim si existimas nobiscum vitia nasci: supervenerunt, ingesta sunt. 52 Sen. epist. 94, 55 (s. oben, Anm. 51); 94, 68f: Hoc est enim sapientia, in naturam converti et eo restitui unde publicus error expulerit. Die Passage steht allerdings im Kontext einer Kritik an der Masse (populus) und insofern im Widerspruch zu der Annahme, daß die Abkehr von der virtus grundsätzlich eine Abkehr von der menschlichen Natur sei. 50
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ersten Menschen noch fremd gewesen waren: Habgier und das damit verbundene Streben nach Eigentum und Luxus führen dazu, daß sich die Gewalttätigkeit als ein Mittel durchsetzt und das gewaltlose Band zwischen den Menschen zerreißt (epist. 90, 3f.). Gegenüber dem ursprünglichen und natürlichen Zustand des Menschen bedeutet die Herausbildung der späteren Eigenschaften also einen Rückschritt. Dabei ist das Gewalttätige jedoch nicht als die Entfaltung einer ihm von Anfang an innewohnenden und sich zunehmend durchsetzenden Eigenschaft zu sehen, sondern als die Folge einer (gewissermaßen ex nihilo) hinzugekommenen neuen Eigenschaft. Für die eigentliche Ursache dieser Wendung bleibt Seneca jedoch eine Erklärung schuldig. Sie bleibt eine Leerstelle, für die er erst in den Tragödien – also bezogen auf die mythische Welt – Deutungsangebote machen wird. Senecas Konzeptualisierung der Rolle menschlicher Gewalt bzw. die auffallend unbedeutende Rolle, die ihr, anders als in den Tragödien, in seinen philosophischen Schriften zufällt, ist jedoch auch und vor allem im Zusammenhang mit der stoischen oikeiosis-Lehre zu betrachten. Die oikeiosis-Lehre soll daher im Folgenden unter Einbeziehung auch der Seneca vorausgehenden Konzeptualisierungen kurz dargestellt werden. Der stoische Begriff der oikeiosis (von οἶκος: „das, was einem zugehört“) schließt drei Bedeutungskomponenten ein: „Sich-Zueignen“, „Sich-Vertrautmachen“ und „Sich-Orientieren“ und wird in der lateinischen Tradition durch die Begriffe conciliatio bzw. commendatio oder caritas sui gefaßt. Ihr Gegenbegriff ist die Allotriosis, die „Entfremdung“. Für die Frage der Gewalt ist die oikeiosis53 insofern relevant, als ihre Konzeptualisierung das Problem der menschlichen Freiheit und Handlungsspielräume auf eine soziobiologische sowie kosmologische Grundlage stellt. Als oikeiosis wird in einem engeren Sinne die genetische Programmierung der Lebewesen bezeichnet. Dabei ist diese Programmierung einerseits in der Organisation des Kosmos fundiert (der Mensch ist ein Teil des Weltganzen, d.h. des logos); und greift andererseits in den Bereich der Ethik aus: Der Mensch ist von Geburt an dazu bestimmt, sich selbst, seine eigenen Nachkommen und seine Mitmenschen (bzw. Artgenossen) zu lieben. Das heißt: Der erste Impuls eines jeden Lebewesens (ὁρµή)54 richtet sich nicht – wie das etwa Epikur lehrt – auf die Lust, sondern auf die Selbsterhaltung. Der Selbsterhaltungstrieb bleibt jedoch nicht auf das eigene Selbst beschränkt (personale oikeiosis), sondern umfaßt in immer größer werdenden konzentrischen Kreisen zunächst die eigenen Nachkommen, dann die übrigen Angehörigen, die Freunde und Nachbarn, und schließlich die gesamte Menschheit. In der stoischen Argumentation gilt dieser Dreischritt „Kosmos-Mensch-Menschheit“
53 Einschlägig hierfür: Robert Bees: Die Oikeiosislehre der Stoa. I. Rekonstruktion ihres Inhaltes. Würzburg 2004 (= Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie, Bd. 258). 54 Vgl. dazu Diog. Laert. 7, 85-88.
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nicht nur als eine (unter anderem)55 empirische Beobachtung: „Lebewesen streben nach Selbsterhaltung“. Er wird auch normativ, und folglich als Appell verstanden: „Ein Leben gemäß der Tugend ist gut“. Das Konzept der oikeiosis56 beschreibt zwar nicht die sittliche Handlung selbst; es umreißt aber die Voraussetzungen, die für das Erreichen einer solchen gegeben sind. Oikeiosis ist die jedem Lebewesen, d.h. in jeweils unterschiedlichen Figurationen sowohl dem Menschen als auch dem Tier eigene Fähigkeit, sich seiner spezifischen Beschaffenheit (ἡ αὑτοῦ σύστασις) im Klaren zu sein, sei es nun wie bei den Tieren durch sinnliche Wahrnehmung oder wie beim Menschen durch Vernunft und Bewußtsein (Diog. Laert. 7, 85: οἰκεῖον εἶναι παντὶ ζώιωι τὴν αὑτοῦ σύστασιν καὶ τὴν ταύτης συνείδησιν). Verstanden als das „genetische Programm“,57 entspricht die oikeiosis in den antiken Theorien der soziobiologischen These, daß das Verhalten in der Regel auf eine Maximierung der Gesamt-Eignung ausgerichtet ist, mithin von den Genen gesteuert wird, die „durch biologische Verhaltensdispositionen in den von ihnen erzeugten Lebewesen für ihr eigenes Überleben sorgen“ und daher auch das Verhalten gegenüber den Nachkommen und Mitmenschen steuern.58 In seiner während des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts verfaßten Grundlegung der Ethik (Ἠθικὴ στοιχείωσις), einer Fundgrube für die Rekonstruktion stoischer Ansichten über Wahrnehmung und Selbstbewußtsein, vertritt der stoische Philosoph Hierokles die Ansicht, daß die Selbstwahrnehmung Grundlage für unsere Selbstaneignung sei.59 Bei der Geburt gebe es drei Möglichkeiten: Das Lebewesen findet Gefallen an seiner eigenen Erscheinung
55 Definitorisch: „Selbsterhaltung heißt, alles Nützliche zu erstreben“, teleologisch: „Die Natur führt die vernünftigen Lebewesen zur Tugend“, vgl. Gerhard Schoenrich: „Oikeiosis. Zur Aktualität eines stoischen Grundbegriffs“. In: Philosophisches Jahrbuch 96 (1989), S. 34-51, hier: S. 35. 56 Textgrundlagen: Poseid. frg. 158-173 Edelstein-Kidd; Cic. fin. 3, 16-26 und 62-73; Cic. nat. deor. 2 (von Karl Reinhard unter der Fragmentnummer frg. 356ff. dem Poseidonius zugewiesen); Sen. epist. 121 (der Brief wird von einigen Poseidonius-Editoren zu großen Teilen als Fragment, s. Poseidonios: Die Fragmente. Hrsg. von Willy Theiler. 2 Bände, de Gruyter, Berlin/New York 1982, bzw. am Beginn des Textes als Testimonium zu Poseidonius gewertet, s. Posidonius. Hrsg. von Ludwig Edelstein, Ian G. Kidd. 3 Bde. Cambridge 1972-1999. Die Quellenfrage, also die Frage, ob es sich um eine direkte Übernahme oder Kompilation von Vorlagen oder um verarbeitende Rezeption früherer stoischer Konzepte handelt, ist ungeklärt); Hierokles ᾿Ηθικὴ στοιχείωσις passim, v. a. 6, 21-7, 21 (Textgrundlage: Corpus dei papiri filosofici Greci e Latini I.1**. Hrsg. von Guido Bastianini/ Anthony A. Long. Florenz 1992, S. 268-451; Gesamttext: S. 297-367; hier: S. 336-343); Diog. Laert. 7, 85ff. (über Zenon). 57 Bees: Oikeiosis [wie Anm. 53], S. 256. 58 Ebd. 59 Vgl. Brad Inwood: Hierokles [3]. In: DNP 5 (1998), Sp. 541; Bees: Oikeiosis [wie Anm. 53], S. 259.
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(εὐαρεστεῖ φαντασίαι, ἣν ἑαυτοῦ εἴληφεν), es findet keinen Gefallen an ihr (δυσαρεστεῖ), oder es verhält sich ihr gegenüber „neigungslos“ (ἀρρεπῶς ἴσχει), d.h. indifferent (Hierocl. 6, 27-30).60 Wäre nicht ersteres der Fall, müßte man der Natur vorwerfen, etwas falsch gemacht zu haben. Denn Mißfallen oder Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Erscheinung würden den Untergang der physischen Existenz bzw. Selbstverachtung (ὄλεθρον τοῦ ζώιου καὶ κατάγνωσιν) bedeuten (6, 40-49). Es müsse daher notwendigerweise der Schluß gezogen werden, daß sich ein Lebewesen, sobald es sich zum erstenmal selbst wahrnimmt (τὴν πρώτην αἴσθησιν ἑαυτοῦ λαβόν), mit sich selbst und seiner Beschaffenheit vertraut ist (ὠικειώθη πρὸς ἐαυτὸ καὶ τὴν ἑαυτοῦ σύστασιν) (6, 49-53). Sinn dieser oikeiosis sei die Selbsterhaltung. Allen, auch den niederen Lebewesen, habe die Natur eine heftige Liebe zu sich selbst eingeprägt, da es andernfalls unmöglich wäre, das Überleben zu sichern (7, 3-5). Bei Seneca wird dieser Gedanke in dem für die oikeios-Lehre einschlägigen 121. Brief explizit ausgeführt und am Verhalten u. a. der Bienen und Spinnen exemplifiziert (epist. 121, 23-24). Der Aspekt der Selbsterhaltung war auch schon von Cicero ins Zentrum gerückt worden: Schon kleine Kinder, heißt es in Ciceros De finibus,61 streben nach dem, was ihrem Wohl dient. Dies lasse darauf schließen, daß sie einen Sinn für ihre eigene Beschaffenheit haben (sensum sui). In den großen kosmologischen Zusammenhang eingebettet ist die oikeiosisTheorie, wie sie Cicero im zweiten Buch von De natura deorum62 im Anschluß offensichtlich an Zenon63 entfaltet hat.64 Der Kern der These ist folgender: Die Natur des Weltalls (natura mundi) ist eine artifex („Künstlerin“), die für alles Nützliche und Zweckmäßige sorgt und denkt (consultrix et provida utilitatum oportunitatumque omnium, 2, 58), weshalb die Weltseele (mens mundi, griech. πρόνοια) dafür sorgt, 1) daß das Weltall (mundus, Kosmos) die beste Möglichkeit für seinen Fortbestand (ad permanendum) erhält, 2) daß es ihm an nichts fehlt, sowie 3) daß er von höchster Schönheit ist. Alles drei hängt miteinander zusammen: „Um der Schönheit der Welt aber auch Dauer und
60 Text nach Hans von Arnim (Hrsg.): Hierokles. Ethische Elementarlehre (Papyrus 9780). Berlin 1906 (= Berliner Klassikertexte, Bd. 4), S. 7-47. 61 Cic. fin. 3, 16-26; 3, 16: salutaria appetant parvi aspernenturque contraria. 62 Cic. nat. deor. 2, 57ff. und 120ff. 63 Vgl. Bees: Oikeiosis [wie Anm. 53], S. 121ff. Daß Poseidonios’ Ansatz eine der entscheidenden Grundlagen für Ciceros Darstellung der stoischen Theologie in De natura deorum 2 gewesen sei, wie von Karl Reinhardt (Poseidonius. München 1921, S. 215; 224227) angenommen, ist nur bedingt wahrscheinlich (Ähnliches gilt übrigens für die Ansicht, daß Cicero ausschließlich aus Panaitios geschöpft habe). Möglicherweise hat Cicero auf Zenon oder Kleanthes zurückgegriffen. Vgl. hierzu auch Jula Wildberger: Seneca und die Stoa. Der Platz des Menschen in der Welt. Berlin/ New York 2006, Bd. 2, S. 587, Anm. 412. 64 Eine Zusammenfassung der These findet sich in Ciceros Academica (ac. 1, 24-29).
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Bestand zu verleihen, hat die göttliche Vorsehung große Sorge dafür walten lassen (magna adhibita cura est a providentia deorum), daß die einzelnen Gattungen der Tiere, Bäume und all der Gewächse [etc.] immer erhalten bleiben. Denn alle haben eine solche Menge von Samen in sich, daß aus einem von ihnen gleich eine Vielzahl entstehen kann.“65 Doch nicht nur die Fortpflanzung und die Erhaltung der Kinder werden – wie schon im 3. vorchristlichen Jh. bei Chrysipp66 – mit der kosmischen Einheit erklärt, sondern auch das Zusammenleben: Da die Menschen Teile eines Gesamtorganismus sind, müssen sie zwangsläufig miteinander verwandt und durch gegenseitige Liebe, d. h. soziale oikeiosis, verbunden sein. Die Idee, daß alle Menschen Glieder eines allumfassenden göttlichen Prinzips seien, nimmt Seneca in epist. 95, 52f. auf, wo er die Kosmologie des Chrysipp, derzufolge alle Dinge eine Einheit bilden,67 auf den Bereich der Ethik überträgt (epist. 95, 52): Membra sumus corporis magni. Natura nos cognatos edidit, cum ex isdem et in eadem gigneret; haec nobis amorem indidit mutuum et sociabiles fecit. Illa aequum iustumque composuit; ex illius constitutione miserius est nocere quam laedi; ex illius imperio paratae sint iuvandis manus. […]
nati sumus. Societas nostra lapidum fornicationi simillima est, quae, casura nisi in vicem obstarent, hoc ipso sustinetur.
Wir sind Glieder eines großen Körpers. Die Natur hat uns als Verwandte geschaffen, indem sie uns aus den selben Stoffen und zu der selben Bestimmung erzeugte. Sie hat uns die gegenseitige Liebe eingepflanzt und uns zu geselligen Wesen gemacht. Sie hat Recht und Billigkeit eingeführt. Ihrer Anordnung nach ist es unheilvoller zu schaden als Schaden zu erleiden. Nach ihrem Gebot sollen unsere Hände bereit sein für die, die unsere Hilfe nötig haben. [...] Wir sind zur Gemeinschaft geboren. Unsere Geselligkeit hat große Ähnlichkeit mit einem Steingewölbe, das einstürzen würde, wenn die Steine nicht durch ihre gegenseitige Lage dies verhinderten, und nur dadurch zusammengehalten wird.
Daß es sich bei der Welt um „ein Haus“68 handelt, bedeutet in der Konsequenz, daß sich der Einzelne mit dem Ganzen, in sozialer Hinsicht: mit seinen
65 Cic. nat. deor. 2, 127: Ut vero perpetuus mundi esset ornatus, magna adhibita cura est a providentia deorum, ut semper essent et bestiarum genera et arborum omniumque rerum, quae a terra stirpibus continerentur; quae quidem omnia eam vim seminis habent in se, ut ex uno plura generentur. 66 Vgl. hierzu den Einwand bei Plut. mor. 1033a-1057b (= De Stoicorum repugnantiis), hier: 1035 a-b = SVF II, 30. 67 Vgl. dazu das Referat bei Diog. Laert. 7, 88. 68 Vgl. Sen. benef. 7, 1, 7: mundum ut unam omnium domum.
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Mitmenschen, identifiziert und ihnen durch Sympatheia verbunden ist. Vgl. Seneca De vita beata (= dial. 7) 20, 3-5: ego terras omnis tamquam meas videbo, meas tamquam omnium. Ego sic vivam quasi sciam aliis esse me natum et naturae rerum hoc nomine gratias agam: quo enim melius genere negotium meum agere potuit? unum me donavit omnibus, uni mihi omnis […] ero amicis iucundus, inimicis mitis et facilis [...] patriam meam esse mundum sciam et praesides deos, hos supra me circaque me stare factorum dictorumque censores.
Alle Länder will ich als eigenen Besitz betrachten, den meinigen wie den aller. Ich will mein Leben in dem Bewußtsein führen, für andere geboren zu sein, und ich werde der Natur dafür dankbar sein; denn auf welche Weise könnte sie besser für mich sorgen? Mich, den einen, hat sie allen geschenkt, mir, dem einen, alle. […] Freunden werde ich entgegenkommen, gegen Feinde mild und verträglich sein. [...] Mein Vaterland, das weiß ich, ist die Welt, und seine Vorsteher sind die Götter; sie stehen über mir und umgeben mich als Richter meiner Taten und Worte.
Eine Ausnahme stellte demgegenüber das oikeiosis-Konzept des Poseidonius dar: Poseidonius’ Konzept der oikeiosis ist größtenteils aus der Zusammenfassung des Galen in dessen De Placitis Hippocratis et Platonis (2. Jh. n. Chr.) erhalten;69 desweiteren wurden in der früheren (namentlich von Karl Reinhardt geprägten) Forschung einige Passagen aus Seneca (große Teile des 121. Briefes) und Cicero (Teile aus De natura deorum 2) für ein Referat oder gar Zitat seiner Schriften ausgewiesen. Entgegen diesen Zuschreibungen erweist sich Poseidonius’ Konzept bei näherem Hinsehen jedoch keineswegs als die 1:1Vorlage dieser beiden vermeintlichen Fragment- bzw. Testimonienträger. Bezieht man nämlich seine Affekttheorie in eine Rekonstruktion seiner oikeiosisLehre mit ein, so wird deutlich, daß Poseidonios den zentralen Dogmen der alten Stoa und infolgedessen auch deren Bestimmung der oikeiosis widersprochen haben muß. Während seine Kosmologie mit den Lehren der alten Stoa noch weitgehend übereinstimmt, weicht seine Ethik in entscheidenden Punkten von dieser ab. Kleanthes’ πάντας γὰρ ἀνθρώπους ἀφορµὰς ἔχειν ἐκ φύσεως πρὸς ἀρετήν70 hätte Poseidonios ebensowenig zustimmen können wie der etwa bei Musonius im 1. Jh. n. Chr. wiedergegebenen orthodoxen Lehre, daß jedem von uns der „Samen der Tugend“, mithin eine „proleptische“ Vorstellung der Tugend
69
Gal. plac. Hipp. et Plat. 5, 5, 21ff. (p. 316, 21ff. De Lacy) = frg. 169 Edelstein-Kidd. Stob. ecl. 2, p. 65, 7 Wachsmuth = SVF I, 566 („Alle Menschen haben von Natur aus Anlagen zur Tugend“).
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eigen sei (σπέρµα ἀρετῆς ἑκάστωι ἡµῶν ἐνεῖναι, 7, 20ff.).71 Auch Chrysipps Deutung des schlechten Handelns als einer Perversion der natürlichen Anlagen72 hätte Poseidonios keineswegs zugestimmen können. Vielmehr nahm er an, daß die Natur des Menschen nicht ausschließlich gute Anlagen enthält, sondern auch das Schlechte und Affektive, und erklärte demnach auch den menschlichen Aggressionstrieb, die oikeiosis πρὸς νίκην (frg. 169, 28f.) zu einem integralen Bestandteil der menschlichen Natur. Nach dem Referat des Galen scheint es insbesondere Chrysipp gewesen zu sein, gegen dessen Lehre der διαστροφή („Perversion“) sich Poseidonios explizit gewendet hat: Die Schlechtigkeit des Menschen könne nicht allein durch äußere Einflüsse bedingt sein und als Pervertierung ausschließlich guter Anlagen verstanden werden; denn warum sollten sich die guten Anlagen durch das „schlechte Gerede vieler Menschen“ (ἐκ κατηχήσεως τῶν πολλῶν ἀνθρώπων) oder durch das Wesen der äußeren Umstände (ἐξ αὐτῆς τῶν πραγµάτων τῆς φύσεως, frg. 169, 52-54) von ihrer angeblich wesensmäßigen Entfaltung zum Guten abbringen lassen? Die theoretische Wendung, die Poseidonios auf der Grundlage von empirischen Untersuchungen anbietet, nämlich die Annahme eines τῆς κακίας ἐν ἡµῖν αὐτοῖς σπέρµα, also eines in uns selbst bereits angelegten „Samens des Schlechten“ (frg. 35, 21f.), wie er wiederum die Mißerfolge einer guten Erziehung (vgl. frg. 169, 39ff.) oder das Vorhandensein frühkindlicher Affekte (frg. 169, 5f.) erklären könnte, rüttelte an den Grundfesten stoischer Überzeugungen, nämlich an der supponierten Homologie mit der Natur, sei es nun mit der individuellen und der Allnatur (Chrysipp) oder ausschließlich mit der Allnatur (Kleanthes).73 Der Ansatz des Poseidonius ist in der weiteren stoischen Diskussion freilich folgenlos geblieben oder sogar bewußt bekämpft worden – so auch bei Seneca, der sich im 94. Brief deutlich, wenn auch ohne Nennung des Poseidonios, gegen dessen Position wendet (epist. 94, 55): erras enim si existimas nobiscum vitia nasci: supervenerunt, ingesta sunt.
Itaque monitionibus crebris opiniones quae nos cirumsonant repellantur. Nulli nos vitio natura conciliat: illa integros ac
71
Du irrst nämlich, wenn du glaubst, daß die Fehler mit uns zusammen auf die Welt gekommen seien. Sie haben uns überfallen und haben sich auf uns geworfen. Daher muß durch häufige Mahnungen das vorurteilsvolle Gerede, das um uns herum tönt, zum Schweigen gebracht werden. Die
Vgl. hierzu auch Sen. epist. 94, 29: omnium honestarum rerum semina animi gerunt; Cic. Tusc. 3, 2: sunt enim ingeniis nostris semina innata virtutum, quae si adolescere liceret, ipsa nos ad beatam vitam natura perduceret. 72 Diog. Laert. 7,89 = SVF III, 228, p. 53. 8ff.: διαστρέφεσθαι δὲ τὸ λογικὸν ζῶιον ποτὲ µὲν διὰ τὰς τῶν ἔξωθεν πραγµάτων πιθανότητας, ποτὲ δὲ διὰ τὴν κατήχησιν τῶν συνόντων, ἐπεὶ ἡ φύσις ἀφορµὰς δίδωσιν ἀδιαστρόφους. 73 Vgl. das Referat bei Diog. Laert. 7, 89.
1 Gewalt und ihre Kontexte liberos genuit. Nihil quo avaritiam nostram inritaret posuit in aperto.
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Natur befreundet uns nicht mit irgendeinem Laster. Sie hat uns als reine und freie Menschen hervorgebracht. Nichts, wodurch sie unsere Habsucht reizen könnte, hat sie offen vor uns hingestellt.
Mit seiner Überzeugung, daß die Schlechtigkeit und damit auch die Gewalttätigkeit des Menschen weder in dessen Wesen noch in den Bedingungen der Natur begründet liegt, knüpft Seneca wieder an den stoischen mainstream an. Damit stellt er allerdings auch das von Poseidonios bereits ausgeräumte Problem wieder her. Denn mit der Kritik an Poseidonios fällt auch die Idee des τῆς κακίας ἐν ἡµῖν αὐτοῖς σπέρµα, also die Erklärung für eine ursächliche Instanz für die Entstehung der schlechten Eigenschaften. Der stoffliche Zusammenhang, in dem die Tragödien angesiedelt sind, mithin die Tatsache, daß die Ausübung von Gewalt im mythischen Diskurs eine zentrale Rolle spielt, gibt Seneca jedoch Gelegenheit, der Frage nach den Ursachen für die Entstehung von Gewalt (sowie ihrem faktischem Bestehen) nachzugehen, ohne seinen philosophischen praecepta widersprechen oder diese in Frage stellen zu müssen. Gleichwohl stehen die gewalttheoretischen Implikationen, wie sie in den Tragödien zutage treten, keineswegs ausschließlich im Widerspruch zu den Äußerungen, wie sie die Prosaschriften erkennen lassen. Denn wenn Seneca die Poseidonische κακία und somit auch den ihr als eine Unterform zugehörigen Trieb zur Gewalt auch keineswegs als Grundkonstante des menschlichen Individuums anerkennen kann, so gehen die Prosaschriften doch immerhin den Umständen nach, unter denen Gewalt vorstellbar oder sogar zu rechtfertigen ist. Insofern schließt Seneca – auch philosophisch –Phänomene der Gewalt in seine Überlegungen mit ein. Er tut dies zwar nicht mit Blick auf eine Anthropologie, sehr wohl aber anhand der Frage, wann und unter welchen Umständen die physische Verletzung von Körpern als Gewalttat einzustufen und zu verurteilen bzw. umgekehrt als eine im konkreten Falle angemessene Handlung zu billigen ist.
1.2.2 Angemessenheit von Gewalt Daß Seneca die physische Verletzung eines Körpers nicht schon infolge ihres eigentlichen Vollzugs, sondern erst mit Blick auf ihre Angemessenheit auch als Gewalttat einstuft, soll im Folgenden anhand dreier Beispiele gezeigt werden: seiner Einstellung zum Selbstmord, seinen Äußerungen über die Ereignisse im Amphitheater und den Bemerkungen über die staatlich legitimierte oder gar institutionalisierte Ausübung von Gewalt.
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1.2.2.1 Selbstmord Senecas Haltung gegenüber dem Selbstmord steht in der Tradition der stoischen Philosophie.74 Insofern der Selbstmord eine gewalttätige Auslöschung der eigenen physischen Existenz bedeutet, impliziert er auch eine spezifische Einstellung zur Gewalt. Zunächst einmal: Hat man die zahlreichen Faktoren, Bedingungen und Umstände vor Augen, wie sie später die moderne Theorie, etwa Émile Durkheim in seiner grundlegenden Studie Le suicide, anführen sollte,75 so nehmen sich die Rechtfertigungen, die Seneca für einen Selbstmord anerkennt bzw. fordert, ausnehmend begrenzt aus. Seneca akzeptiert als Rechtfertigung nur die bewußte (klarsichtige) Entscheidung des Weisen, der nach gründlicher Abwägung von Pro und Contra dem Leben den Tod vorzieht. Selbstmord – das ist demnach kein Akt der Verzweiflung, keine Frage der Psychopathologie oder der ererbten Dispositionen, kein Phänomen der sozialen Ansteckung oder des Egoismus, sondern eine kühle Kosten-Nutzen-Rechnung, in der das gute Leben in der Wertehierarchie ganz oben steht. In seinem 70. Brief an Lucilius macht Seneca seinen Standpunkt deutlich: Nicht das Leben an sich sei ein Gut, sondern nur das rechte Leben. Der Weise lebe daher auch nicht so lange wie möglich, sondern so lange wie es seine Pflicht erfordert. Ob man früher oder später sterbe (sei es nun durch Eigen-, Fremdeinwirkung oder Krankheit), sei Nebensache;76 entscheidend sei, daß man gut, d. h. als ehrenhafter Mensch sterbe (epist. 101, 15): „Wie gut man lebt – darauf kommt es an! Nicht, wie lange.“ (quam bene vivas referre, non quam diu). Denn gut zu sterben heiße, der Gefahr eines elenden Lebens entgehen, epist. 70, 4-6: Quae [sc. vita], ut scis, non semper retinenda est; non enim vivere bonum est, sed bene vivere. Itaque sapiens vivet quantum debet, non quantum potest. Videbit ubi victurus sit, cum quibus, quomodo, quid acturus. Cogitat semper
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Man muß am Leben, wie du weißt, nicht immer festhalten; denn das Leben an sich ist ein Gut, sondern nur das gut geführte Leben. Daher wird der Weise nicht so lange leben, wie er physisch kann, sondern so lange, wie es moralisch angemessen ist. Er wird schau-
Hans-Harald Eckert: Weltanschauung und Selbstmord bei Seneca und den Stoikern, in antiker Mystik und im Christentum. Diss. Tübingen 1951. Vgl. auch die leider unveröffentlichte Magisterarbeit von Benedikt Cloppenburg zum Selbstmord in Senecas Tragödien (FU Berlin 1991). 75 Émile Durkheim: Der Selbstmord (frz. Orig.: Le suicide, 1897). Frankfurt a. M. 1995. 76 Ähnlich verläuft die Argumentation im 101. Brief, in dem Seneca darauf hinweist, daß das Leben nicht um jeden Preis erhalten werden dürfe (epist. 101, 11) und daß es entscheidend ist nicht etwa, wie lange, sondern wie ehrenhaft man lebt. Demgegenüber wird in epist. 17, 9 auch die äußere Not in die Rechtfertigungen für einen Selbstmord eingeschlossen: Sed si necessitates ultimae inciderint, iamdudum exibit e vita et molestus sibi esse desinet.
1 Gewalt und ihre Kontexte qualis vita, non quanta sit. Si multa occurunt molesta et tranquillitatem turbantia, emittit se; nec hoc tantum in necessitate ultima facit, sed cum primum illi coepit suspecta esse fortuna, diligenter circumspicit numquid illic desinendum sit.
Nihil existimat sua referre, faciat finem an accipiat, tardius fiat an citius: non tamquam de magno detrimento timet; nemo multum ex stilicidio potest perdere. Citius mori aut tardius ad rem non pertinet, bene mori aut male ad rem pertinet; bene autem mori est effugere male vivendi periculum.
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en, wo, mit wem und wie er leben wird und was er sich vornimmt. Bei seinen Überlegungen bedenkt er stets die Qualität des Lebens, nicht dessen Länge. Begegnen ihm Dinge, die ihm zur Last fallen und die seine Seelenruhe durcheinanderbringen, dann wirft er die Fessel von sich, und zwar nicht erst in äußerster Not, sondern sobald das Schicksal anfängt, ihm verdächtig vorzukommen, geht er gewissenhaft mit sich zu Rate, ob er sofort ein Ende machen soll. Er erachtet es für belanglos, ob er selbst oder etwas anderes sein Ende herbeiführt, ob es früher oder später eintritt. Er ist nicht in Furcht, wie bei einem großen Schaden: von Wassertropfen, die vom Dach herabträufeln, kann niemand viel verlieren. Früher oder später zu sterben – darauf kommt es nicht an; entscheidend ist allein, ob man tadellos oder schimpflich stirbt. Tadellos zu sterben, heißt: der Gefahr entgehen, schlecht zu leben.
Nicht daß Seneca von den anderen möglichen Ursachen für den Selbstmord nichts wüßte. Die Pathologisierung des Phänomens, seine Erklärung als Folge eines Seelenzustands ist ihm, im Gegenteil, nicht fremd. Ich nenne nur seine im zweiten Absatz von De tranquillitate animi ausgeführten Überlegungen über die Unfähigkeit des Menschen, sich selbst zu entkommen, die so manchen, der durch eine Reise vor sich fliehen wollte, in den Tod getrieben habe.77 Eine Rechtfertigung dafür, sich selbst Gewalt anzutun, sei dies zwar nicht. Doch finden sich eine Reihe von Situationen, in denen es Seneca für sinnvoll hält, sich selbst zu töten. An allererster Stelle stehen dabei jene, in denen der Akt der Selbsttötung Ausdruck von Freiheit oder freiheitlicher Entscheidung ist – sei es, daß die Verfügungsgewalt über das eigene Leben einzig und allein noch darin besteht, das Leben wenigstens selbst zu vernichten oder einem bereits beschlossenen Vollzug der Tötung selbst zuvorzukommen;78 sei es, daß der von einem qualvollen Tod
77 Sen. dial. 9 (= de tranquillitate animi) 2, 15: Itaque scire debemus non locorum vitium esse quo laboramus, sed nostrum. 78 Vgl. hierzu das Beispiel eines Germanen, der sich vor seinem Auftritt in der Arena mit einer Holzstange selbst tötet, epist. 70, 20: Nuper in bestiariorum unus e Germanis, cum ad matutina spectacula pararetur, secessit ad exonerandum corpus – nullum aliud illi
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oder von Folter bedrohte Mensch die Möglichkeit wahrnimmt, sich auf weniger qualvolle Weise das Leben zu nehmen: Wenn die eine Todesart mit Folterqualen verbunden ist, die andere einfach und leicht, warum soll man sich nicht an die letztere halten? – heißt es im 70. Brief,79 – und weiter (epist. 70, 24): in aperto nos natura custodit. Cui permittit necessitas sua, circumspiciat exitum mollem; cui ad manum plura sunt per quae sese adserat, is dilectum agat et qua potissimum liberetur consideret.
Die Natur bewacht uns, läßt uns aber Freiheit. Wem es seine bedrängte Lage noch erlaubt, der suche einen leicht erträglichen Ausgang; wem mehrere Mittel zur Verfügung stehen, um sich zu befreien, der treffe die Wahl und erwäge, wie er am besten zur Freiheit gelangen kann.
Der Selbstmord mag damit, äußerlich besehen, in der Hand des einzelnen liegen; letztlich steht er jedoch – und dies ist ein Aspekt, den Seneca dann in den Tragödien näher aufzuzeigen sucht – im Kontext eines durch kulturelle (oder staatliche) Gewalten bestimmten Konflikts. Der Selbstmörder löscht seine eigene physische Existenz aus, um seine kulturelle Integrität (beispielsweise seine Ehre, Würde, Tugend o. ä.) herzustellen bzw. wieder herzustellen. Oder mit den Worten aus dem 14. Brief – im Kontext der geforderten cura sui – gesagt (epist. 14, 2): Agatur eius [sc. corporis] diligentissime cura, ita tamen ut, cum exiget ratio, cum dignitas, cum fides, mittendum in ignes sit.
Lassen wir ihm [sc. dem Körper] alle Sorge widerfahren, aber immer nur unter der Bedingung, daß, wenn die Vernunft, wenn die Würde, wenn die Treue es fordert, er auch vor dem Scheiterhaufen nicht bewahrt werden darf.
Gegenüber dem physischen Leben genießt die Wahrung der kulturellen Integrität unbedingte Priorität.
dabatur sine custode secretum; ibi lignum id quod ad emundanda obscena adhaerente spongia positum est totum in gulam farsit et interclusis faucibus spiritum elisit. 79 Sen. epist. 70, 11f.: Non possis itaque de re in universum pronuntiare, cum mortem vis externa denuntiat, occupanda sit an expectanda; multa enim sunt quae in utramque partem trahere possunt. Si altera mors cum tormento, altera simplex et facilis est, quidni huic inicienda sit manus? Quemadmodum navem eligam navigaturus et domum habitaturus, sic mortem exiturus e vita. Praeterea quemadmodum non utique melior est longior vita, sic peior est utique mors longior.
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1.2.2.2 Gewalt im Amphitheater – öffentlich sichtbare Gewalt gegen Individuen Gegenüber dem Selbstmord, dessen treibende Kräfte sich meist im Bereich des äußerlich nicht Sichtbaren bewegen, ist die gegen fremde Individuen gerichtete Gewalt im Amphitheater ohne das Moment ihrer Sichtbarkeit nicht denkbar: Im Amphitheater liegt der Kern der Gewalt nicht in einer ihr vorgängigen Konfliktsituation, sondern im Vollzug der physischen Destruktion. Die öffentliche Zurschaustellung der Destruktionshandlung ist dabei ein integraler Teil. Ein Beispiel: In seinem siebten Brief an Lucilius berichtet Seneca seinem Briefpartner über den Besuch eines Hinrichtungsspektakels.80 In der Erwartung, Fechtkunst und athletische Anspannung sehen zu dürfen, war Seneca in die Arena gekommen. Doch er wird enttäuscht: Was er zu sehen bekommt, sind blutrünstige Gemetzel und Zuschauer, denen jede Form der Urteilskraft fehlt. Statt sich bei Scherz und Witz entspannen zu können, wird Seneca von Entsetzen erfaßt: Frühmorgens werden Menschen wilden Tieren, mittags ihrem eigenen Publikum vorgeworfen. Die Verbrecher selbst mögen es verdient haben, dies alles zur Strafe zu erleiden; der Zuschauer dagegen hat so etwas nicht verdient (epist. 7, 4f.).81 Als abstoßend und kritikwürdig empfindet Seneca nicht die Hinrichtung an sich – sofern der Delinquent die Strafe zu Recht erfährt und sein Tod dem Wohle der Gesellschaft dient. Abstoßend erscheint ihm jedoch die Tatsache, daß die Hinrichtung Teil eines visuellen Erlebens ist, bei dem der Zuschauer, so ließe sich hinzufügen, nicht dazu gezwungen wird, das Ges(ch)ehene zu reflektieren. Daß Seneca die Hinrichtung für grausam befindet, liegt also weniger an der Hinrichtung selbst als an der Art und Weise, wie sie betrachtet wird. Seine Kritik am Akt der Betrachtung geht dabei in zwei Richtungen: Zum einen bemängelt er die Wirkung, die das Betrachtetwerden auf die Beschaffenheit des Objekts der Betrachtung ausübt, in diesem Fall auf die Qualität der Hinrichtung; zum anderen – hierauf werde ich im 4. Kapitel im Zusammenhang mit der Rolle des Zuschauers noch genauer zu sprechen kommen82 – zielt die Kritik auf die Veränderung, die die Betrachtung für das betrachtende Subjekt mit sich bringt. Dabei steht Senecas Kritik in einem nur vermeintlich grotesken Widerspruch zu seiner Stellungnahme zu einer nächtlichen Hinrichtung,83 an der er gerade die fehlende Sichtbarkeit der Gewaltausübung bemängelt. Denn die Betrachtung einer solchen Gewalttat hält Seneca, wie wir gleich sehen werden, nur dann für sinnvoll und notwendig, wenn die Gewalttat einem höheren Zweck
80 Sen. epist. 7, 1f. und 7, 5f. (s. unten, S. 185). Vgl. hierzu Richardson-Hay: First Lessons [wie Anm. 44], S. 251-269, bes. S. 255-260. 81 S. unten, Kap. 4, S. 187. 82 Vgl. unten, Kap. 4, S. 187ff. 83 Sen. dial. 5 (= De ira 3), 19, s. dazu unten, S. 47f.
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dient und der Akt ihrer Betrachtung beim Betrachter statt eines bloßen Vergnügens einen Lernprozess auslöst.
1.2.2.3 Verhältnis von Individuum und Staat – strukturelle Gewalt Das Verhältnis von Individuum und Staat tritt wohl am deutlichsten in den drei Büchern über den Zorn zutage.84 Gewalt, so die in De ira 1 (= dial. 3) ausgeführte These, solle zwar auf keinen Fall der Erheiterung, wohl aber dem Allgemeinwohl des Staates dienen.85 Die Anwendung von Gewalt ist demnach eine Frage der Zweck-Mittel-Relation: Wenn es darum geht, den Staat vor einem größeren Schaden, etwa vor einem Verbrecher, zu schützen, so ist sie angemessen; wenn sie für sich selbst steht, dagegen nicht. Daß Gewalt nicht zur Strafe eines einzelnen Verbrechers, sondern gewissermaßen als eine Vorsichtsmaßnahme dient, nämlich dem Schutz der in Zukunft möglicherweise von ähnlichen Verbrechern bedrohten Mitmenschen, und daß sie unter diesem Aspekt sehr wohl gerechtfertigt ist, formuliert Seneca in De ira (= dial. 3, 19, 7): (nam ut Plato ait, nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur; revocari enim praeterita non possunt, futura prohibentur) et quos volet nequitiae male cedentis exempla fieri, palam occidet, non tantum ut pereant ipsi, sed ut alios pereundo deterreant.
(Denn wie Platon [leg. 934 a] sagt, kein Vernünftiger straft, weil gefehlt worden ist, sondern um zu verhindern, daß weiter gefehlt wird; denn was bereits geschehen ist, kann nicht rückgängig gemacht werden, das aber, was noch in der Zukunft liegt, läßt sich verhindern), und diejenigen, die als warnende Beispiele für die schlimmen Folgen der Schlechtigkeit dienen sollen, wird er vor den Augen der Öffentlichkeit hinrichten lassen, nicht nur damit diese selbst zu Tode kommen, sondern damit sie andere durch ihren Tod abschrecken.
Im dritten Buch der Schrift über den Zorn wendet Seneca nach Darstellung zahlreicher Gewaltexzesse barbarischer Könige seinen Blick auch auf die römische Geschichte – zunächst auf Sulla, schließlich, mit Caligula, auch auf die
84
Vgl. hierzu Katja Maria Vogt: „Anger, Present Injustice and Future Revenge in Seneca’s De ira“. In: Seeing Seneca Whole. Perspectives on Philosophy, Poetry and Politics. Hrsg. von Katharina Volk/ Gareth D. Williams. Leiden/ Boston 2006, S. 57-74. 85 Sen. dial. 3 (= De ira 1), 6, 1; 6, 3f.; 15, 1f.; 16, 1ff.; 19, 7; clem. 1, 22, 1.Vgl. Wistrand: „Violence and Entertainment“ [wie Anm. 48], S. 38.
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Kaiserzeit.86 Dabei wird die Ausübung der Gewalt, hier: die öffentliche Hinrichtung dreier Senatoren durch Kaiser Caligula, aber gerade nicht wegen ihres tatsächlichen Vollzugs kritisiert, sondern vielmehr deshalb, weil sie bei Nacht stattgefunden und infolge ihrer fehlenden Sichtbarkeit ihre abschreckende Funktion eingebüßt hat:87 Quid tam inauditum quam nocturnum supplicium? cum latrocinia tenebris abscondi soleant, animadversiones, quo notiores sunt, plus in exemplum emendationemque proficiant.
Was ist so unerhört wie eine Hinrichtung bei Nacht? Raubtaten pflegt man im Dunkel der Nacht zu verbergen; Strafvollzug dagegen nützt als abschreckendes Beispiel und als Mittel zur Besserung um so mehr, je mehr er bekannt wird.
Schon im ersten Buch über den Zorn hatte Seneca seine Billigung der Todesstrafe auf jene Fälle beschränkt, in denen die Beseitigung eines Mitgliedes der Gesellschaft mit der Warnung potentieller Verbrecher und infolgedessen mit einem Nutzen für den Staat verbunden ist:88 novissime ad poenas et has adhuc leves, revocabiles decurrat; ultima supplicia sceleribus ultimis ponat, ut nemo pereat, nisi quem perire etiam pereuntis intersit. Hoc uno medentibus erit dissimilis, quod illi quibus vitam non potuerunt largiri facilem exitum praestant, hic damnatos cum dedecore et traductione vita exigit, non quia delectetur ullius poena – procul est enim a sapiente tam inhumana feritas – sed ut documentum omnium sint, et quia vivi noluerunt prodesse, morte certe eorum res publica utatur.
86
So spät als möglich schreite er [sc. der Weise] zu Strafen, und auch diese seien zunächst noch leicht und widerrufbar; die Todesstrafe, das äußerste, wende er nur für die äußersten Verbrechen an; denn nur der soll zugrunde gehen, für den der Tod selbst ein Gewinn ist. Nur in einer Beziehung wird der Weise sich vom Arzt unterscheiden: der Arzt macht dem, dem er das Leben nicht schenken kann, das Ende leicht; dieser dagegen schickt die Verurteilten unter Schmach und öffentlicher Beschimpfung aus dem Leben. Er tut das nicht, weil er an irgend jemandes Bestrafung Vergnügen hätte – eine so unmenschliche Rohheit liegt dem Weisen ja fern –, sondern damit sie allen zur Warnung dienen, und der Staat, da sie im Leben nicht nützen wollten, wenigstens von ihrem Tod profitiert.
Sen. dial. 5 (= De ira 3), 18f. Sen. dial. 5 (= De ira 3), 19, 2. Ähnlich Dio Cass. 59, 25, 5b-6. 88 Sen. dial. 3 (= De ira 1), 6, 3f. 87
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Allerdings hält Seneca keineswegs alle vom Staat bzw. von der kaiserlichen Macht ausgehende Gewalt für gerechtfertigt. Vielmehr zeigt er eine große Sensibilität für jene Formen von Gewalt, die über individuell begangene physische Destruktionshandlungen hinausweisen. So entspricht die im 95. Brief an Lucilius formulierte Anklage gegen die Widersprüche zwischen der Billigung staatlich verordneter Gewaltakte gegen andere Völker auf der einen und der Verurteilung individuell verübter Gewalt auf der anderen Seite einer in der modernen Gewaltforschung unter die Stichworte der personalen bzw. strukturellen Gewalt gefaßten Differenzierung (epist. 95, 30): Non privatim solum sed publice furimus. Homicidia conpescimus et singulas caedes: quid bella et occisarum gentium gloriosum scelus? […]
ex senatus consultis plebisque scitis saeva exercentur et publice iubentur vetata privatim.
Wir wüten gegeneinander, nicht nur Mann gegen Mann, sondern auch Volk gegen Volk. Gegen Totschlag und Mord schreiten wir ein; aber wie steht es mit den Kriegen und dem verbrecherischen Ruhm, ganze Völker hingeschlachtet zu haben? [...] Auf Senatsbeschlüsse und Volksgebote hin werden Grausamkeiten verübt, und was für den einzelnen verboten ist, wird von staatswegen befohlen.
Die genannten Beispiele aus den Büchern über den Zorn zeigen nicht nur, daß Gewalt nach Seneca unter bestimmten Bedingungen zu billigen, ja zu befürworten, wenn nicht gar als notwendig anzusehen ist. Das Argument der Abschreckung zeigt auch noch etwas anderes: daß es nämlich als ein wesentliches Merkmal dieser Formen von Gewalt gilt, daß der Gewaltakt für die potentiellen Adressaten sichtbar ist. Die enorme Wirkung, die durch die Sichtbarkeit eines Gewaltaktes entsteht, wird dabei unterschiedlich beurteilt und nur dann befürwortet, wenn der Gewaltakt selbst gerechtfertigt ist. Dies zeigt indirekt auch das in De ira89 angeführte Beispiel über Praexaspes, der dabei zusehen muß, wie sein Sohn vom Pfeil des Cambyses durchbohrt wird, nachdem sich Cambyses als Beweis seiner Trinkfestigkeit vorgenommen hatte, auch im alkoholisierten Zustand noch das Herz eines Menschen treffen zu können. Der Vater, dem furchtbaren Anblick ausgeliefert, packt die Gelegenheit zur Schmeichelei und beteuert gegenüber dem Mörder seines Sohnes, selbst Apollo habe nicht besser schießen können. Mit seiner Schmeichelei kann Praexaspes die Grausamkeit des Königs noch übertreffen. „Er lobt eine Tat, deren Zuschauer zu sein schon viel zu viel war“, kommentiert Seneca die
89
Sen. dial. 5 (= De ira 3), 14.
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Szene.90 Der Gewaltakt wird zum Anlaß der Kritik, weil es um den Sohn als Individuum überhaupt nicht geht. Der Sohn hat weder etwas verbrochen noch sonst irgendetwas sich zu schulden kommen lassen. Er ist Objekt in einem Spiel, in dessen erster Hälfte die Betrachtung notwendigerweise dazugehört und das im zweiten Teil gesteigert wird, als sich der Vater, auch er ein Opfer, zusätzlich an seinem Sohn vergreift, indem er ihn als Menschen ausblendet, ja geradezu entmenschlicht, und die reale Grausamkeit um einer Schmeichelei willen mythisch überhöht. Die Grausamkeit des Mordes liegt demnach über die physische Destruktion hinaus in der Vereinnahmung des Geschehens durch den Betrachter. Das gilt für den Vater wie auch für Cambyses selbst: Cambyses Tötungsakt hat keinerlei auf das Opfer bezogene Funktion: Daß er den Sohn des Praexaspes tötet, ist vielmehr ausschließlich dadurch motiviert, daß er Praexaspes gegenüber etwas zeigen und beweisen will, mithin daß es für den Tötungsakt, der weniger ein Tötungsakt als ein Wettkampf ist, einen Zuschauer gibt, der seinem eigenen Schaden, dem Verlust des Sohnes, auch noch applaudiert.
1.2.2.4 Erzeugung von Erwartungsangst als Gewaltform Daß Gewalt nicht realiter ausgeführt werden muß, um ihre Wirkung zu entfalten, zeigt eine Stelle aus epist. 14, 6. Dort verweist Seneca auf die Wirkung, die allein die Erwartung ihrer Realisierung im Betrachter erzeugt – eine Wirkung, die sich, um einen Begriff von Karl Heinz Bohrer zu gebrauchen, unter dem Stichwort der „Erwartungsangst“91 beschreiben läßt: Nam quemadmodum plus agit tortor quo plura instrumenta doloris exposuit (specie enim vincuntur qui patientiae restitissent), ita ex iis quae animos nostros subigunt et domant plus proficiunt quae habent quod ostendant.
Illae pestes non minus graves sunt – famem dico et sitim et praecordiorum suppurationes et febrem viscera ipsa
Denn wie der Folterknecht um so mehr ausrichtet, je mehr Folterwerkzeuge er dem Auge bietet – durch den Anblick werden ja auch die entmutigt, die sonst die Kraft zum Ausharren gefunden hätten –, so haben auch unter den Dingen, die unsere Seelenkraft beugen und bewältigen, diejenigen einen größeren Effekt, die etwas haben, was sie dem Auge zeigen können. Zwar sind jene Bedrängnisse ich nenne Hunger, Durst, Magengeschwüre und Fieber, das sogar die Eingeweide ausdörrt -
90 Sen. dial. 5 (= De ira 3), 14, 3: eius rei laudator fuit cuius nimis erat spectatorem fuisse. Hintergrund dafür, die Geschichte anzuführen, ist die Reaktion des Vaters, der seinen Zorn so sehr im Griff hat, daß er in der Lage ist, dem blutrünstigen König für seine Tat auch noch zu schmeicheln. 91 S. dazu unten Kap. 2, S. 114ff., und Kap. 5, S. 245ff.
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torentem – sed latent, nihil habent quod intentent, quod praeferant: haec ut magna bella aspectu paratuque vicerunt.
nicht minder schwer; aber sie sind nicht sichtbar und führen keine äußeren Drohmittel mit sich, wogegen diese wie große Kriege wirken, wo der Sieg schon durch den bloßen Anblick und die Zurüstung entschieden ist.
Als auslösendes Moment einer solchen „Erwartungsangst“ nennt Seneca hier zunächst die physische Betrachtung mit den Augen. Es ist aber deutlich, daß die Erwartungsangst im wesentlichen durch die Vorstellungskraft erzeugt wird, die den bevorstehenden Schmerz vor dem „inneren Auge“ erfahrbar und erwartbar macht. In dieser Hinsicht, nämlich mit Blick auf die mentale Leistung des Zuschauers, der die Bilder des bevorstehenden Geschehens selbst in seinem Kopf entstehen lassen muß, spielt die Erzeugung von Erwartungsangst bei der Ästhetisierung von Gewalt und ihrer ästhetischen Erfahrung auch in den Tragödien eine große Rolle.
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Die Thematisierung von Gewalt in den Tragödien
2.1
Gewalt im Mythos: Senecas Gewichtung der mythischen Stoffe gegenüber der literarischen Tradition
Neben der Historizität des Gewaltbegriffs und dem philosophischen Kontext, in dem Senecas Anthropologie zu sehen ist, spielt nun, wie schon erwähnt, auch drittens, das Gewaltkonzept, wie es im Mythos bzw. in den vorausgehenden dramatischen Bearbeitungen aufscheint, eine große Rolle. Denn in den Tragödien haben wir es mit mythischen Stoffen zu tun, denen ein, soweit dies so pauschalisierend gesagt werden darf, wiederum eigener Gewaltbegriff inhärent ist. Und es ist klar, daß die Gattung, die Seneca mit seinen Tragödien gewählt hat, in besonderem Maße dafür empfänglich ist, das den mythischen Stoffen innewohnende Gewaltmoment herauszustellen. Zunächst einmal: Es läßt sich wohl kaum ein antiker Mythos erzählen, ohne daß dabei nicht auch zugleich ein Phänomen der Gewalt zur Sprache käme. Denn bei aller dichterischen Freiheit in der Mythengestaltung: Daß Hercules im Wahnsinn seine Familie tötet (Hercules Furens), daß Polyxena am Grab des Achill geopfert und Astyanax vom Turm gestoßen wird (Troades), daß Polynices und Eteocles um die Herrschaft über Theben kämpfen (Phoenissae), daß Medea ihre eigenen Kinder umbringt (Medea), Hippolytus von seinen Pferden zu Tode geschleift wird (Phaedra), Oedipus erkennen muß, daß er seinen Vater ermordet und seine Mutter geheiratet hat (Oedipus), Agamemnon der Rache seiner Frau zum Opfer fällt und Atreus seinem Bruder Thyestes dessen eigene Kinder zum Mahl vorsetzt (Thyestes) – das sind zwar keine Gewaltsequenzen, an deren Thematisierung ein Dichter, der die entsprechenden Mythen literarisch gestaltete, zwingend gebunden gewesen wäre; durch die lebendige Tradition entsprechender vorgängiger Bearbeitungen waren diese Sequenzen jedoch so fest in das Gedächtnis der Rezipienten eingeschrieben, daß ihre Darstellung als ein Bestandteil der Erzählung erwartet werden konnte und ihr Wegfall somit als eine explizite Abgrenzung verstanden werden mußte.92 Bevor wir uns damit beschäftigen, welcher Gewaltbegriff in Senecas Tragödien zum Tragen kommt, müssen wir uns daher der Frage zuwenden, was in der bis dahin bekannten bzw. prägenden Tradition der darin behandelten mythischen Stoffe an Gewaltphänomenen bereits angelegt ist und
92
Vgl. hierzu die Überlegungen zum „Index“ eines Mythos, in: Antje Wessels: „Über Freiheit und Grenzen poetischer Mythengestaltung“. In: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Hrsg. von Martin Vöhler/ Bernd Seidensticker in Zusammenarbeit mit Wolfgang Emmerich. Berlin/ New York 2005, S. 165-180.
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2 Die Thematisierung von Gewalt in den Tragödien
was gegenüber dieser Tradition von Seneca hinzugefügt bzw. verändert wurde.93 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die „Quellen“ für jede einzelne Tragödie darzulegen. Vielmehr möchte ich – um einige Fokussierungen vorzustellen –, exemplarisch drei Tragödien herausgreifen, an denen sich verschiedene Schwerpunktsetzungen zeigen lassen: Die Troades, in denen der Autor im Zusammenhang der Szene, in der Andromacha Astyanax versteckt, Momente der psychischen und strukturellen Gewalt (Gespräch zwischen Ulixes und Andromacha) herausarbeitet, und in denen durch den Bericht des Boten die Wirkung der beiden Opferszenen auf deren Zuschauer hervorgehoben wird; die Phaedra, in der die Ursachen und Entstehungsprozesse von Gewalt thematisiert sowie die Zuordnung der Täter- und Opferrolle problematisiert wird, und schließlich den Thyestes, in dem neben der einerseits besonders grausam hervorgehobenen physischen Gewalt (in Form der Schilderung der cena Thyestea) gerade jene Formen der Gewalt in den Vordergrund gerückt werden, wie sie durch die Verweigerung von Sprache und Sehen entstehen.
2.1.1 Troades Die Troades behandeln die Umstände, unter denen die Griechen nach der Vernichtung Trojas ihre Rückkehr antreten: Als die griechischen Kriegsherren die Frauen der trojanischen Kämpfer unter sich aufgeteilt haben und mit ihrer Flotte aufbrechen wollen, verhindern ungünstige Winde die Abfahrt. Nach Auslegung des griechischen Sehers Calchas ist die Abfahrt nur unter zwei Bedingungen möglich: 1. Polyxena, Tochter des Priamos und der Hecuba, muß am Grab des Achill geopfert werden. 2. Astyanax, der Sohn von Hector und Andromacha, muß, da er ein potentieller Rächer der Trojaner ist, sterben. Das Sujet der Troades steht in einer langen Tradition: Zu den einschlägigen Bearbeitungen gehören die zum epischen Kyklos gehörenden Epen Iliou Persis94 und Ilias
93
Allerdings wäre es nun angesichts der reichen Bandbreite erzählerischer Variationen naiv, von dem Mythos und infolge dessen von einem Gewaltkonzept zu sprechen. Vielmehr sind es die für Seneca und seine Zeitgenossen präsenten Texte, darunter die der griechischen Tragödie des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, deren spezifische Ausgestaltungen in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen und mit Blick auf ihren Umgang mit dem Thema Gewalt zu untersuchen sind. Die Frage nach dem darstellerischen Umgang mit dem Thema Gewalt gehört ohne Frage erst in Kapitel 5. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert also vorerst die Auswahl an Gegenständen, denen Seneca in seinen Tragödien – auch gegenüber ihren griechischen und römischen Vorgängern – besondere Aufmerksamkeit schenkt. 94 Der Inhalt der dem Arktinos von Milet zugeschriebenen Iliou Persis (ursprünglich zwei Bücher) ist wie alle zum epischen Kyklos gehörenden Epen nur durch spätere Zusammenfassungen erhalten; laut Proklos Chrestomachia (Poetarum epicorum graecorum
2 Die Thematisierung von Gewalt in den Tragödien
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Parva,95 die Iliou Persis des Lyrikers Stesichoros,96 Sophokles’ (uns nicht mehr erhaltene) Polyxena97 sowie die Hekuba und die Troades des Euripides; innerhalb der römischen Tradition war der Stoff durch Naevius’ Andromacha, Ennius’ Hecuba und Andromacha Aechmalotis,98 Accius’ Hecuba und Astyanax,99 Catulls Schilderung der Opferung der Polyxena (64, 362-370), Vergils Aeneis (3, 294ff., bes. 321-324)100 und Ovids Metamorphosen (13, 415417 und 439-526)101 präsent.102
testimonia et fragmenta. Hrsg. von Alberto Bernabé. Leipzig 1987, S. 89) erwähnte das Epos das Opfer der Polyxena am Grab des Achill und die Beseitigung des Astyanax durch Odysseus. 95 Die Ilias Parva des Lesches von Pyrrha gab laut Σ Lykophron Alexandra 1268 (= frg. 21 Bernabé) einen Bericht davon, wie der Sohn Achills, Neoptolemos, den jungen Astyanax vom Turm gestoßen hat. 96 Cecil M. Bowra: Greek Lyrik Poetry. Oxford, 2. Aufl. 1961. In Stesichoros’ Version ist Astyanax bereits tot, als er von der Mauer gestoßen wird. 97 In Sophokles’ Polyxena erscheint Achilles’ Geist, um das Opfer der Polyxena zu fordern. Möglicherweise schloß das Stück mit deren Tod. Vgl. dazu William M. Calder III: „A Reconstruction of Sophocles’ Polyxena“. In: GRBS 7 (1966), S. 31-56. 98 Mit seiner Hecuba ist Ennius höchstwahrscheinlich der euripideischen Darstellung gefolgt. Die Fragmente der Andromacha Aechmalotis lassen nach Henry D. Jocelyn: The Tragedies of Ennius. Cambridge 1967, S. 235, keinen sicheren Schluß darüber zu, welcher Ausschnitt des Mythos behandelt wurde. Als Stoff der Tragödie wird die Tötung des Astyanax vermutet. 99 Accius’ Astyanax ist höchstwahrscheinlich der Referenztext für Serv. ad Verg. Aen. 3, 489: fabula autem de Astyanacte ista est. Superato Ilio, cum Graeci ad patriam redituri contrariis flatibus prohiberentur, Calchas cecinit deiciendum ex muris Astyanacta; Hectoris et Andromachae filium eo quod, si adolevisset; fortior patre futurus vindicaturus esset eius interitum. Hunc Ulixes occultatum a matre, cum invenisset, praecipitavit de muro, et ita Graeci Troia profecti sunt. S. dazu Elaine Fantham: Seneca Troades. A Literary Introduction with Text, Translation, and Commentary. Princeton 1982, S. 66. 100 Abgesehen von der Erwähnung von Andromachas schmerzhafter Erinnerung an ihren Sohn während ihrer Begegnung mit dem jungen Ascanius (Verg. Aen. 3, 489-491: O mihi sola mei super Astyanactis imago, | sic oculos, sic ille manus, sic ora ferebat | et nunc aequali tecum pubereseret aevo) schweigt Vergil über Astyanax’ Tod, erwähnt jedoch kurz das Opfer der Polyxena. 101 Ov. met. 13, 415-417 erwähnt kurz den Tod des Astyanax; eine ausführlichere Darstellung gilt ebd., 439-526, dem Tod der Polyxena in Thrakien sowie der Reaktion Hecubas. 102 Zu den Quellen der Troades vgl. Fantham: Seneca Troades [wie Anm. 57], S. 50-75. Eine knappe Zusammenstellung der Quellen findet sich bei Anthony J. Boyle: Seneca’s Troades. Introduction, Text, Translation and Commentary. Leeds 1994, S.17f.; speziell zum Stoff der Opferung von Polyxena und Astyanax: Atze J. Keulen: L. Annaeus Seneca Troades. Introduction, Text and Commentary. Leiden/ Boston/ Köln 2001, S. 10f.
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Die Erzählungen des Stoffs, die auf Seneca am meisten gewirkt haben, sind sicherlich die Bearbeitungen des Euripides und des Accius. Von Accius’ Astyanax hat Seneca möglicherweise das Motiv übernommen, daß Astyanax, bevor er gefangen genommen und zu seiner Hinrichtung geführt werden kann, von seiner Mutter versteckt wird – ein Motiv, das, abgesehen von der etwas anderen Figurenkonstellation, bereits Euripides in seiner Andromache verwendet hatte.103 Gleichwohl bestehen gegenüber den Vorläufern große Differenzen.104 Euripides hatte sein Drama über die Troerinnen überhaupt erst mit dem Geschehen nach dem Tod der Polyxena einsetzen lassen (vgl. Prolog, Eur. Tro. 37f.) und beide Opferszenen nur sehr indirekt zur Sprache gebracht. Die Worte, mit denen der griechische Herold Talthybios Hekuba das Los verkündet, das ihre Tochter getroffen hat – „Ihr Auftrag ist, am Grabmahl des Achill zu dienen. | [...] Preis glücklich deine Tochter! Geht es ihr doch gut.“ (264 und 268)105 –, sind so dunkel, daß sie sich nur demjenigen erschließen, der wie der Zuschauer (vgl. den Prolog) über den Vollzug des Opfers bereits unterrichtet ist. Erst Andromache wird, im Gespräch wiederum mit Hekuba, etwas deutlicher: „Es starb dein Kind Polyxene, am Grab Achills | Opfer für den seelenlosen Leichnam.“ (622f.)106. Ob im Vorfeld darüber verhandelt wurde, wie der rituelle Akt im einzelnen vollzogen wurde, und wie sich Polyxena selbst, wie sich die Umstehenden im
103 In Euripidesʼ Andromache versteckt die Protagonistin ihren aus der Verbindung mit ihrem Herrn Neoptolemos hervorgegangenen Sohn Molossos; allerdings ist der Hintergrund hier etwas anders als in Senecas Troades: Aus Eifersucht will Hermione, die Gattin des Neoptolemos, mit Unterstützung ihres Vaters Menelaos die Nebenbuhlerin töten. Um sie dazu zu bewegen, sich aus dem Schutz des Heiligtums der Thetis zu entfernen, stellt Menelaos Andromache vor die Wahl: Sie solle entweder ihr Kind herausgeben oder selbst sterben. Die Technik, das Opfer durch die Nötigung, sich zwischen zwei Gewaltakten zu entscheiden, unter Druck zu setzen, kehrt in den Senecanischen Troades in einer etwas komplexeren Form wieder. Hier noch in zweifacher Weise abgeschwächt – zum einen handelt es sich um eine Trugrede (anders als er vorgibt, hat Menelaos keinerlei Interesse daran, den Knaben zu töten), zum anderen besteht für Andromache immerhin die Möglichkeit, sich selbst zu opfern – wird es von Seneca zu einem ernsthaften Konflikt ausgebaut: Andromacha wird sich dort zwischen der Schändung von Hectors Grabhügel und dem Tod des Astyanax zu entscheiden haben und auf diese Weise genötigt werden, ganz unabhängig von ihrer Wahl für die Ausübung von Gewalt gegen andere verantwortlich zu sein. vgl. unten, S. 123ff. 104 William M. Calder III: „Originality in Seneca’s Troades“. In: Classical Philology 65 (1970), S. 75-82. 105 Eur. Tro. 264: Talthybios: τύµβωι τέτακται προσπολεῖν Ἀχιλλέως, und 268: εὐδαιµόνιζε παῖδα σήν· ἔχει καλῶς. Die Übersetzungen aus den Euripideischen Tragödien entstammen der zweisprachigen Akademieausgabe von Dietrich Ebener: Euripides. Tragödien. Berlin 1972-1980. 106 Eur. Tro. 622f.: τέθνηκέ σοι παῖς πρὸς τάφωι Πολυξένηι | σφαγεῖσʼ Ἀχιλλέως, δῶρον ἀψύχωι νεκρῶι.
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Augenblick der Tötung dazu verhalten haben, blendet die euripideische Version dagegen völlig aus. Euripides konzentriert sich auf das Ergebnis („Ich sah sie selber“, sagt Andromache, „stieg vom Wagen und umhüllte | mit Decken ihren Leichnam und beklagte ihn.“, 626f.107) und auf die über den konkreten Tod der Polyxena hinausweisenden lebenspraktischen Überlegungen: Andromaches Reflexion über Leben und Tod (634-683), eine Ausgestaltung der Eckgedanken ihrer Rede („Ich meine, nicht geboren sein ist gleich dem Sterben, | doch Sterben besser noch als Leben voller Jammer“, 636f.; „Ist somit nicht geringer als mein Verderben | der Opfertod Polyxenes, die du bejammerst?“, 679f.)108, zeigt deutlich, daß im Zentrum des Stücks nicht etwa der Tod der beiden Kinder, sondern das Los der überlebenden Frauen steht, deren physische Unversehrtheit nur um den Preis von Sklaverei und Demütigung erhalten geblieben ist. Ähnlich sparsam sind die Worte, die Euripides für den Mord an Astyanax findet (709-725): Auch hier läßt er Talthybios als den Überbringer der Todesnachricht auftreten; Astyanax ist freilich noch am Leben. In seinem Beisein (vgl. 740ff.) – also in einer völlig anderen Konstellation als in den Senecanischen Troades – erfährt Andromache von dem gemeinsamen Beschluß der Griechen, den „letzten Phrygersproß“ (λείψανον Φρυγῶν, 716) von Trojas Mauern zu stürzen. Wiewohl sich das Gespräch mit dem Übermittler der Nachricht über siebzig Verse hinzieht und Talthybios von Anfang an seinen eigenen Widerwillen (und sein Verständnis für das Leid der trojanischen Frauen) bekundet hat, kommt es zu keiner eigentlichen Verhandlung. Andromache, von ihrem Gesprächspartner in einer realistischen Einschätzung der Lage auf ihre Chancen- und Schutzlosigkeit hingewiesen und zur Wahrung ihrer Würde angehalten (726-739), fügt sich dem Schicksal schnell: Als klar wird, daß ihr Kind nicht mehr zu retten ist, daß Flüche und Einwände nichts fruchten werden, beginnt sie damit, ihres und ihres Sohnes Schicksal zu beklagen und sich von dem Jungen zu verabschieden (740779). Im Vordergrund der euripideischen Fassung also stehen hier wie dort Lamento und Wehklage über das vollzogene bzw. schon beschlossene Opfer sowie die Auseinandersetzung mit den Folgen für die Überlebenden. Anders liegt die Gewichtung in der euripideischen Hecuba, in der die Opferung der Polyxena nicht etwa mit dem Schicksal des Astyanax, sondern mit demjenigen des von Priamos frühzeitig nach Thrakien gebrachten, dort aber von seinem Gastgeber ermordeten Polydorus zusammengeführt wird: Hier wird die Botschaft über die bevorstehende Opferung der Polyxene gleich fünfmal übermittelt: In dem gespenstischen Geisterprolog des als Schatten heranschwebenden Polydorus erfährt der Zuschauer von dem Beschluß der Griechen, seine
107 Eur. Tro. 626f.: εἶδόν νιν αὐτή, κἀποβᾶσα τῶνδʼ ὄχων | ἔκρυψα πέπλοις κἀπεκοψάµην νεκρόν. 108 Eur. Tro. 636f.: τὸ µὴ γενέσθαι τῶι θανεῖν ἴσον λέγω, | τοῦ ζῆν δὲ λυπρῶς κρεῖσσόν ἐστι κατθανεῖν; 679f.: ἆρʼ οὐκ ἐλάσσω τῶν ἐµῶν ἔχειν κακῶν | Πολυξένης ὄλεθρος, ἣν καταστένεις;
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Schwester dem Achill zu weihen (37-44), Hekabe tritt auf, um zu erzählen, daß ihr der Tod der Tochter nachts im Traum erschienen sei (69-75 und 92-97), der Chor verkündet in der Parodos das kommende Ereignis als Gerücht, schließlich wird Polyxene selbst von ihrer Mutter herbeigerufen und von der Nachricht unterrichtet, und nicht zuletzt eilt nun, als wäre dies noch nicht genug, Odysseus mit seinem Gefolge heran, um Hekabe und ihrer Tochter die Meldung offiziell zu verkünden (218).109 Der Beschluß als solcher erscheint hier ebenso wie die Einwilligung der Polyxene als eine unumstößliche Tatsache. Weder versucht irgendeine der betroffenen Personen, das Schicksal abzuwenden, noch bedarf es großer oder listiger Worte, um das Opfer dazu zu bewegen, sich zum Grabhügel des Achill zu begeben. Polyxene, darin ähnelt sie ihrer senecanischen Nachfolgerin, geht freiwillig, ihre einzige Sorge ist es, nicht als Sklavin sterben zu müssen (420). Der Vollzug der Opferung, die sich der Zuschauer als einen während des nachfolgenden Chorlieds hinter der Bühne sich vollziehenden Akt vorzustellen hat, wird wenig später rückblickend von Talthybios berichtet (Tro. 518-582).110 Vergleicht man mit den beiden Euripides-Stücken nun die Ökonomie der senecanischen Erzählung, so wird deutlich, daß Senecas Darstellung der physischen Gewaltakte einen verhältnismäßig geringen Umfang aufweist. Das Stück, das mit dem Auftritt Hecubas und ihrer Totenklage um Hector beginnt – Hectors Tod gilt als der entscheidende Wendepunkt für Troias Schicksal (123-128, vgl. auch 189)111 – und das damit endet, daß die lange Zeit von ungünstigen Wind-
109
Um der in Kapitel 5 nachgegangenen Frage nach der Wirkung innerhalb des äußeren Kommunikationssystems vorzugreifen: Das Ereignis wird immer mehr heran„gezoomt“; sowohl räumlich als auch in seiner realen Bedrohung, die durch die verschiedenen Vermittlungsinstanzen immer ernster wird: erst durch den Schatten, also aus dem Mund einer außerhalb des Irdischen stehenden Instanz, dann vermittelt an eine dramatis persona als Traum, drittens auf der Ebene der menschlichen Kommunikation als ein Gerücht, das der aufgeregte Chor aus dem außerhalb der Bühne sich vollziehenden Geschehen auf die Bühne bringt, viertens Mitteilung zwischen den Betroffenen, dann zuletzt offizielle Verkündung des Beschlusses durch Odysseus. 110 Auch hier werden Zuschauer erwähnt, aber anders als in Senecas Troades (s. dazu unten Kapitel 4) wird auf einen Bericht über ihre emotionalen Reaktionen verzichtet. 111 Indem die entscheidende Wende des trojanischen Krieges mit dem Tod des Hector markiert wird, wird mit Blick auf den weiteren Verlauf des Dramas indirekt auch dem Argument zugearbeitet, das später Pyrrhus anführen wird, um Agamemnon davon zu überzeugen, daß sein Vater Achill, Hectors Mörder (vgl. Hom. Il. 22), durch das Opfer der Polyxena geehrt werden muß: Achill habe Anrecht auf ein (besonderes) Totenopfer, da Troja erst durch ihn so sehr erschüttert worden sei, daß es schließlich zugrunde ging (Achilles, cuius unius manu | impulsa Troia, 204f., vgl. auch non unus satis | Hector fuisset? Ilium vicit pater,| vos diruistis, 234-236). Zugleich fundiert es die (nichtreligiösen) Zusammenhänge, mit denen die Griechen die Tötung von dessen Sohn Astyanax begründen werden.
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verhältnissen aufgehaltenen Griechen endlich in ihre Heimat zurückkehren können, nimmt zwar genau jene Ereignisse zum Stoff, die die Rückkehr ermöglichen werden: das Erscheinen des toten Achill (das anders als in den Euripideischen Texten ausführlich von Talthybios als einem Augenzeugen beschrieben wird, 168-202), die Opferung der Polyxena und die Tötung des Astyanax. Der durch den Nuntius vorgetragene Bericht über das Sterben der beiden jungen Trojaner nimmt jedoch gerade mal 16 bzw. 33 Verse ein (Astyanax: 1088-1103; Polyxena: 1137-1159). Im Zentrum der Darstellung stehen also Genese und Wirkung dieser beiden Gewalttaten. Das Hauptaugenmerk des Botenberichts liegt auf der Schilderung der emotionalen Reaktionen der Zuschauer, die das Geschehen in höchst unterschiedlicher Weise begleiten.112 Der größte Teil der gesamten Tragödie wiederum wird von Seneca dazu benutzt, um den Vorlauf der beiden Opferungen in Szene zu setzen: Beide Kinder, sowohl Astyanax als auch Polyxena, müssen erst durch langwierige und komplexe kommunikative Prozesse dazu ,bereit gemacht‘ werden, den für sie vorgesehenen Status anzutreten: Astyanax, den Andromacha in Vorahnung des kommenden Unheils in dem Grabhügel ihres verstorbenen Gatten Hector versteckt hat, kann seiner Mutter erst durch eine List des ebenso verschlagenen wie brutalen Odysseus entlockt werden (2. Akt). Polyxena wird durch Helena in einer an die Aulische Iphigenie gemahnenden (in ihrer doppelbödigen Semantik hier freilich noch treffenderen)113 Trugrede dazu verführt, sich mit Achill zu ʻvermählenʼ (3. Akt). Diesen beiden Szenen wiederum voraus geht ein Streitgespräch zwischen dem Achilles-Sohn Pyrrhus (Neoptolemos) und dessen Widerpart Agamemnon, in dem es ersterem überhaupt erst einmal gelingen muß, Agamemnons Bedenken gegenüber der geplanten Opferung Polyxenas abzuwehren und unter den Griechen Einmütigkeit darüber zu erzielen, daß es gerechtfertigt ist, Achills brutaler Forderung nachzugeben.114 Anders als bei ihren euripideischen Vorläufern stehen im Zentrum der Senecanischen Troades also die im Vorfeld der physischen Gewaltakte geführten Diskussionen und Verhandlungen sowie (im Botenbericht) die Wirkung, die diese auf den Betrachter haben, also ihre Rezeption.
112
S. dazu unten, Kap. 4, S. 190ff., zum Zuschauer auf der Bühne, bes. 190ff. zu Sen. Tro. 1088-1159. 113 Vgl. auch Talthybios’ Bericht über Achills Forderung des Opfers: desponsa nostris cineribus Polyxene | Pyrrhi manu mactetur et tumulum riget, Tro. 195f., und die im Schlußvers, Tro. 202, berichtete Reaktion der Tritonen auf Achills Rede: Tritonum ab alto cecinit hymnenaeum chorus. 114 S. dazu unten, S. 89.
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2.1.2 Phaedra Eine römische Dramatisierung des Phaedra-Hippolytus-Stoffes vor Seneca ist nicht überliefert. Der Stoff war allerdings so bekannt, daß ihn Ovid in den Fasten ohne weitere Erklärung voraussetzen konnte.115 Zu den möglichen Vorbildern für Senecas Bearbeitungen gehören Sophoklesʼ Phaedra (Fragmente), Euripidesʼ Hippolytos Kalyptomenos, d.h. Euripides’ erste, uns nur noch fragmentarisch überlieferte Fassung des Stoffs,116 Lykophrons Hippolytus (nur der Titel ist bekannt) und mit Blick auf Phaedras Beschreibung des jungen Theseus (Pha. 652ff.) Ovids Heroides 4. Möglich ist, daß Seneca neben der Bearbeitung des Lykophron noch weitere hellenistische Fassungen des Stoffes bekannt waren – sei es direkt117 oder über die augusteische Tragödie vermittelt. Neben den Reminiszenzen an die stofflichen Vorbilder lassen sich jedoch auch motivische Entlehnungen aus anderen Stoffen ausmachen: So könnte sich – dies jedenfalls die These von Gahan – die Schlußszene, vor allem jener Part, in dem Theseus die verstreuten Leichenteile des Hippolytus zusammensucht (die
115 Ov. fast. 6, 73f.: notus amor Phaedrae, nota est iniuria Thesei: | devovit natum credulus ille suum. Ähnlich wird Pausanias 1, 22.1f., davon sprechen, daß jeder, der Griechisch gelernt hat, die Geschichte kennt. Zur Quellengeschichte vgl. Otto Zwierlein: Senecas Phaedra und ihre Vorbilder. Stuttgart 1987 (= Abh. Akad. Mainz. Geistes- u. Sozialwiss. Kl. 1987. Nr. 5); Konrad Heldmann: „Senecas Phaedra und ihre griechischen Vorbilder“. In: Hermes 96 (1968), S. 88-117; Hans Herter: „Phaidra in griechischer und römischer Gestalt“. In: Rheinisches Museum 114 (1971), S. 44-77; Ettore Paratore: „Lo Hippolytos Kalyptomenos di Euripide e la Phaedra di Seneca“. In: Studi classici in onore di Quintino Cataudella. Catania 1972, S. 303-346. Die Bezüge der Senecanischen Phaedra zum ersten Hippolytus des Euripides sind allerdings umstritten, s. den Beitrag von Christopher Gill: „Tragic fragments, ancient philosophers and the fragmented self“. In: Lost dramas of classical Athens: Greek tragic fragments. Hrsg. von Fiona McHardy/ James Robson/ David Harvey. Exeter 2005, S. 151-172. Rita Degl’Innocenti Pierini: „Ippolito ‚erede imperiale‘: per un’ interpretazione ,romana‘ della ‚Phaedra‘ di Seneca“. In: Maia 57 (2005), S. 463-482, weist auf die in Senecas Bearbeitung gegenüber den griechischen Vorlagen hervorgehobene Thematisierung der Vererbbarkeit und die damit verbundenen Bezüge zur zeitgenössischen Politik. Weitere Erwähnungen des HippolytusPhaedra-Stoffs finden sich Verg. Aen. 6, 440ff. (über den vastus amor), Hor. carm. 4, 7, 25f. (über Hippolytus’ Keuschheit) und Ov. met. 15, 497ff.; s. ferner Anthony J. Boyle: Senecaʼs Phaedra. Liverpool 1987, S. 16. 116 S. hierzu William S. Barrett: Euripides. Hippolytos. Oxford 1964, S. 18-26 (Zusammenstellung und Interpretation der Fragmente von Eur. Hipp. und Soph. Pha.) 117 Zur Präsenz der griechischen Literatur in der römischen Kultur vgl. Stat. silv. 5, 3, 146ff. (über den Unterrichtsstoff, den Statius’ Vater, ein grammaticus, in der zweiten Hälfte des 1. Jh.s unterrichtete).
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compositio membrorum), an den Euripideischen Bacchen orientiert haben.118 Denn in Euripides’ Hippolytos (jedenfalls in der uns vollständig überlieferten zweiten Fassung) starb Hippolytus nicht durch Zerstückelung.119 Parallelen finden sich dagegen in zwei Szenen der Euripideischen Bacchen: 1137ff. berichtet der Bote von der Zerstückelung des Pentheus und fordert daraufhin – ähnlich wie Senecas Theseus – den Kadmos auf, die Leichenteile wieder zusammenzusuchen; auch wird 1216f., ähnlich wie Seneca das später (Pha. 1247) mit den Überresten des zu Tode geschleiften Hippolytus handhaben sollte, der zerstückelte Pentheus auf die Bühne gebracht.120 Schließlich zeigt auch die Figurenzeichnung eine Hervorhebung des Gewaltmoments. So erscheint Diana in der Prolog-Arie des Hippolytus vor allem als Göttin des Todes (Pha. 54ff.).121 Die beiden Göttinnen, durch deren Wirken der Konflikt der Protagonisten getragen wird, werden im Stück nicht als konträre Komplemente, sondern analog dargestellt. Beide, Diana und Venus (als Mutter von Cupido), erscheinen als mit destruktiver Macht ausgestattete Gottheiten. Beide verfügen über dieselbe Waffe – einen Bogen (Pha.72 über Diana, 278 über Cupido); beider Waffen zeichnen sich durch unbedingte Treffsicherheit aus (certis [...] telis, 57, certo [...] arcu, Pha. 278). Der Macht der beiden Göttinen ist nie und nirgendwo zu entkommen. Ihr Wirken ist, wie Hippolytus in Bezug auf Diana (Prolog-Arie)122 und der Chor mit Blick auf die Venus zugehörige Cupido betonen (1. Chorlied), universal. Dementsprechend verfolgt Venus ihre Opfer mit derselben Strenge, wie das die Göttin der Jagd tut. Auch erscheint das destruktive Moment, das Phaedras sexuellem Begehren innewohnt, nicht ausschließlich als eine Perversion der Liebe (dies ist nur aus der Perspektive des Hippolytus der Fall), sondern steht in erster Linie in der Fluchtlinie jener destruktiven Eigenarten, wie sie durch Venus
118
John J. Gahan: „Imitatio and aemulatio in Seneca’s Phaedra“. In: Latomus 46 (1987), S. 380-387. Ähnlich schon Robert Y. Tyrrell: Bacchae. London, 2. Aufl. 1928, S. 139f. (zu V. 1330); Clemens Zintzen: Analytisches Hypomnema zu Senecas Phaedra. Meisenheim a. Glan 1960, S. 124ff., und Jeanne Roux: Euripide. Les Bacchantes. Paris 1970, Bd. 2, S. 613-615, die die Senecanische Szene für die Rekonstruktion der lacuna 1330 in Euripidesʼ Bacchen herangezogen haben. 119 Zur poetologischen Bedeutung des „dismemberment“ vgl. Glenn W. Most: „Disiecti membra poetae. The Rhetoric of Dismemberment in Neronian Poetry“. In: Innovations in Antiquity. Hrsg. von Ralph Hexter/ Daniel Selden. New York/ London 1992, S. 391-419. 120 Gahan: „Imitatio and Aemulatio“ [wie Anm. 118], S. 383. 121 Vgl. dazu Boyle: Senecaʼs Phaedra [wie Anm. 115], S. 19. 122 Dianas von Hippolytus beschriebener geographischer Wirkungskreis entspricht dem Roms, vgl. dazu Boyle: Senecaʼs Phaedra [wie Anm. 115], S. 19.
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(bzw. Cupido-Amor) repräsentiert werden und dieser als Gottheit von vorneherein mit auf den Weg gegeben worden waren.123 Auf menschlicher Ebene wird diese Analogisierung fortgesetzt: Nicht nur für Hippolytus ist das Motiv des Jagens zentral. Auch Phaedra will Hippolytus „hinterherjagen“ (Hunc in nivosi collis haerentem iugis, | et aspera agili saxa calcantem pede | sequi per alta nemora, per montes placet, Pha. 233-235), ein Wunsch, den sie im Gespräch mit der Amme äußert und den die Amme ihr schließlich erfüllen wird, indem sie dazu beiträgt, daß Phaedra Hippolytus zum Gejagten macht.124 Umgekehrt werden die Umstände, unter denen Hippolytus schließlich zu Tode kommt, in einer Weise beschrieben, die das Erscheinen des von Poseidon geschickten Stieres an die Geburt der Venus gemahnen läßt: Ähnlich wie die diva non miti generata ponto (Pha. 274), erhebt sich auch der Stier aus der weißschäumenden Gischt des Meeres (1007-1037, vgl. z. B.1014: cana [...] spuma). Die Dichotomie der beiden Göttinnen und der durch sie repräsentierten Lebensbereiche wird also ebenso wie das Agieren der Konfliktparteien und deren Differenzen durch die konkrete Gestaltung einzelner Details aufgeweicht und in seiner Widersprüchlichkeit aufgehoben, und wir werden sehen, daß dies gerade für die „Entgrenzung“ der Täter-/Opfer-Rolle grundlegend oder doch zumindest wegweisend ist.
2.1.3 Thyestes Der Thyestes ist insofern ein Sonderfall unter den Senecanischen Bearbeitungen, als er einerseits einen der meistbearbeiteten mythischen Stoffe der griechischen und römischen Tragödie aufgreift; andererseits innerhalb der Fülle der uns bekannten Titel die einzige Bearbeitung darstellt, die uns als vollständiger Text erhalten ist. Wir sind also, was die inhaltliche Rekonstruktion des Mythos anbetrifft, im wesentlichen auf die Erzählung der Mythographen, namentlich Hygins Fabulae angewiesen. Nach Hyg. fab. 87 und 88125 ist die Grundstruktur des Mythos folgende:126 87, 1 AEGISTHVS Thyesti Pelopis et Hippodamiae filio responsum fuit quem ex
123
87. 1. Aegisth: Dem Thyest, dem Sohn von Pelops und Hippodameia wurde verheißen,
Vgl. Sen. Pha. 274 über die Geburt der Venus. Auch bei Euripides wird die Grausamkeit der Aphrodite durch den Prolog akzentuiert und ist Phaidras Liebe nur aus der Sicht des Hippolytos eine Perversion. 124 Vgl. hierzu die Interpretation von Francesca Zoccali: „Il prologo ,allegorico‘ della Phaedra di Seneca“. In: Bolletino di Studi Latini 27.2 (1997), S. 433-453. 125 Vgl. auch Apollod. epit. 2, 1-14. 126 Sagenchronologisch folgt die in Hyg. fab. 87 erzählte Sequenz auf das in fab. 88 erzählte Geschehen.
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filia sua Pelopia procreasset, eum fratris fore ultorem; quod cum audisset puer est natus, quem Pelopia exposuit, quem inuentum pastores caprae subdiderunt ad nutriendum; Aegisthus est appellatus, ideo quod Graece capra aega appellatur.
daß derjenige, den er mit seiner Tochter Pelopeia gezeugt habe, zum Rächer seines Bruders werde. Nachdem er das gehört hatte [...], wurde der Junge geboren, den Pelopeia aussetzte, den aber Hirten, nachdem sie ihn gefunden hatten, einer Ziege unterschoben, damit sie ihn nähre. Genannt wurde er Aigisth; weil die Ziege auf Griechisch „Aiga“ heißt.
88, 1. ATREVS Atreus Pelopis et Hippodamiae filius cupiens a Thyeste fratre suo iniurias exsequi, in gratiam cum eo rediit et in regnum suum eum reduxit, filiosque eius infantes Tantalum et Plisthenem occidit et epulis Thyesti apposuit.
88. 1. Atreus: Atreus, der Sohn des Pelops und der Hippodameia wünschte, sich an seinem Bruder für das Unrecht zu rächen, versöhnte sich mit ihm und ließ ihn in sein Reich zurückkommen. Und er tötete dessen kleinen Kinder, Tantalus und Pleisthenes, und setzte sie dem Thyest zum Mahl vor.
Zu den im Thyestes-Mythos angelegten Gewaltmotiven gehören also der Inzest, den Thyestes mit seiner Tochter Pelopia begeht (fab. 87), sowie die sogenannte cena Thyestea, in der Thyestes, initiiert durch Atreus, bei einem heiteren Mahl unwissend die eigenen Kinder verspeist – eine Szene, die Seneca in seiner Bearbeitung des Stoffs ins Zentrum rückt. Der Stoff selbst127 war bereits von den attischen Tragikern fünffach bearbeitet worden: Sophokles hatte gleich drei Thyestes-Dramen verfaßt: (a) Ἀτρεὺς ἢ Μυκηναῖαι – über Thyestes’ Ehebruch mit Aerope, seinen Diebstahl des goldenen Lammes, das Eingreifen des Zeus durch Hermes und die durch das Sonnenwunder restituierte Macht des Atreus, b) einen Θυέστης, der den Kindermord und die cena Thyestea zum Gegenstand hatte, sowie c) einen Θυέστης ἐν Σικυῶνι, der das Orakel Apolls und den Inzest zwischen Thyestes und seiner Tochter Pelopeia behandelte. Auch Euripides hatte es nicht bei einem einzigen Stück belassen und neben seinem Θυέστης (der möglicherweise auch Seneca als Vorbild diente)128 ein Κρῆσσαι überschriebenes Stück verfaßt. Zwar läßt sich
127
Zur Stoffgeschichte s. umfassend: Albin Lesky: „Die griechischen Pelopidendramen und Senecas Thyestes“. In: Wiener Studien 43 (1922/ 1923), S. 172-198, wiederabgeruckt in: Ders.: Gesammelte Schriften. Aufsätze und Reden zu antiker und deutscher Dichtung und Kultur. Hrsg. von Walther Kraus. Bern/ München 1966, S. 519-540. 128 So Lesky: „Die griechischen Pelopidendramen und Senecas Thyestes“ [wie Anm. 127]. Anders William M. Calder III: „Secreti loquimur: An interpretation of Seneca’s Thyestes“. In: Ramus 12 (1983), S. 184-198, hier: S. 188, der in Sophokles’ Thyestes die Hauptquelle für Senecas Ausgestaltung erkennen will, und Jacqueline Dangel: „Senèque et Accius: continuité et rupture“. In: Theater und Gesellschaft im Imperium Romanum.
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aufgrund der schmalen Materialbasis über den dramatischen Ablauf der Stücke praktisch nichts gewinnen. Doch zeigt das wenige Überlieferte, daß sich das Interesse am Thyestesmythos keineswegs auf die cena Thyestea konzentrierte, sondern im Gegenteil sehr breit war und auch die gesamte Vor- und Nachgeschichte umfaßte. Die Beliebtheit des Stoffs blieb in der nachklassischen Tragödie129 und dann ganz besonders in der römischen Literatur ungebrochen, ja, sie scheint sich, zumal infolge des darin zentralen Motivs des Bruderzwistes, sogar dahingehend gesteigert zu haben, daß man das Sujet als ein politisches Paradigma verwendete. Von den zahlreichen Stücken, deren Existenz uns aus der Angabe entsprechender Titel oder Fragmente bekannt ist – Thyestes-Dramen verfaßten Ennius, Accius (Atreus), Varius, Gracchus, Aemilius Scaurus, Pomponius Secundus, Curiatius Maternus, Bassus und Rubrenus Lappa –, hatten mindestens die des Varius, Aemilius Scaurus und Curiatius Maternus einen politischen Impetus und sind von den entsprechenden Machthabern offensichtlich auch in dieser Weise verstanden worden: So soll Curiatius Maternus auf den Vorschlag seiner Freunde, er solle doch seine Cato-Tragödie politisch etwas entschärfen, mit den Worten gekontert haben: „Was Cato nicht gesagt hat, wird demnächst Thyestes sagen. Diese Tragödie habe ich nämlich schon konzipiert und im Kopf gestaltet.“130 Doch scheint auch in den römischen Dramatisierungen – so etwa bei Ennius131 – die cena Thyestea thematisch keineswegs immer im Mittelpunkt gestanden zu haben. Was Senecas Bearbeitung des Stoffes anbetrifft, so fällt auf, daß er sich nicht nur mit der cena Thyestea auf einen nur sehr kleinen Ausschnitt des Mythos konzentriert, der zudem in seiner Grausamkeit kaum zu übertreffen ist, sondern auch die Diskussion der Umstände, die der Mythos als Erklärungen für dieses Ereignis bereithält, auf wenige Aspekte reduziert. So erfährt die Vorgeschichte zwar Erwähnung – etwa im Selbstgespräch des Atreus. Die entscheidende Motivation für Atreus’ Tat legt Seneca jedoch in die Figur des Atreus selbst, dem es, getrieben vom Drang nach Überbietung des Gewohnten (nescio quid animo maius et solito amplius, 267),132 nicht etwa um das Ergebnis der Strafe, sondern um den Vollzug derselben sowie um die Entfaltung seiner eigenen
Hrsg. von Jürgen Blänsdorf. Tübingen 1990 (= Mainzer Forschungen zum Drama und Theater, Bd. 4), S. 107-122, hier: S. 109-111. 112, die Accius’ Atreus für ein entscheidendes Vorbild hält. 129 Apollodorus (TrGF I 64 T 1), Karkinos der Zweite (TrGF I 70 frg.1), Chairemon (TrGF 71 frg.8), Kleophon (TrGF 77 frg.7), Diogenes von Sinope (TrGF I 88 frg. 1, 1d). 130 Tac. dial. 3, 3: quod si qua omisit Cato,sequenti recitatione Thyestes dicet; hanc enim tragoediam disposui iam et intra me ipse formavi. 131 Jocelyn: The Tragedies of Ennius [wie Anm. 98], S. 412ff. 132 Bernd Seidensticker: „Maius solito. Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica“. In: Antike & Abendland 31.2 (1985), S. 116-136.
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Persönlichkeit zu tun ist (vgl. 247ff.). Im Mittelpunkt steht also weniger das Warum oder Wozu als vielmehr das Wie der Durchführung und der unbändige Zorn des Atreus, der diesen dazu treibt, die Grausamkeit immer weiter zu steigern. Das Gegenbild dazu, geradezu ein Paradebeispiel für die Haltung des stoischen Weisen, gibt uns Atreus’ Bruder und Gegenspieler Thyestes, also die titelgebende Figur, in der Viktor Pöschl denn auch nicht ohne Grund eine Selbstdarstellung Senecas hat erkennen wollen.133 Ohne daß es zwingend wäre, dieser biographistischen Lesart zu folgen: Es ist deutlich, daß es hier um zwei extreme Figurationen geht, um die Gegenüberstellung und schließlich das Aufeinandertreffen zweier sich geradezu konträr zueinander verhaltender Lebensweisen, jener von Atreus verkörperten unbeherrschten und unbeherrschbar eigendynamischen Affektgeladenheit und der beherrschten Zurückhaltung und Bescheidenheit seines Bruders Thyestes. Dabei wird die Radikalität der beiden Positionen, wie sie in beiden Fällen jeweils im Gespräch mit einer als Folie dienenden Figur(engruppe) – dem Satelles im Fall des Atreus; bei Thyestes dessen Kindern: Tantalus, Plisthenes und einem anonymus – vorbereitet und befördert worden ist, in der Szene des Zusammentreffens geradezu ins Unendliche gesteigert: Je mehr Thyestes zum Thyestes wird, desto mehr wird Atreus zum Atreus. Nicht der als Ritus inszenierte Mord an Thyestes’ Kindern oder die cena Thyestea, von denen wir durch den Bericht des vor Entsetzen noch bleichen Boten erfahren (623-788), sondern vielmehr das sich daran anschließende Gespräch zwischen den beiden Brüdern, also die Enthüllung der grausamen Tat, bildet den eigentlichen Kern des Stücks: Thyestes weiß von nichts; erst jetzt wird ihm klar, was er getan hat, und der Bruder läßt keine Gelegenheit aus, den ohnehin unerträglichen Schmerz des unschuldig Schuldigen noch durch Spott und Zynismus zu steigern. Die beiden ersten Akte dagegen, in denen an dramatischer Handlung nicht viel mehr geboten wird, als was sich in einem einzigen Satz zusammenfassen ließe – nachdem Tantalus im Prolog das Haus der Pelopiden „infiziert“ hat, plant Atreus seine Tat, und Thyestes kommt, verlockt von Atreus’ Angebot, die Herrschaft zu teilen, aus dem Exil nach Mycene zurück – wirken wie in Szene gesetzte Einzelporträts. Mit Blick auf die Schlußszene als vorbereitende Verbildlichung der beiden Charaktere interpretierbar, könnten sie ohne weiteres auch gesondert ihre Wirkung entfalten. Erst am Ende des zweiten Akts kommt es mit dem Truggespräch, in welchem Atreus seine vorgeblich guten Absichten noch einmal zu bekräftigen sucht, zur Konfrontation und zugleich zur Herausbildung jener Konstellation, die das in der Schlußszene formulierte Gewaltverhältnis konstituieren wird: Atreus verschweigt seinem Bruder die wesentlichen Informationen, indem er ihm vorspielt, er wolle
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Viktor Pöschl: „Bemerkungen zum Thyest des Seneca“. In: Wiener Studien. Beihefte 8 (1977), S. 224-234, hier: Anm. 15.
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tatsächlich die Herrschaft mit ihm teilen, und indem er alles daran setzt, Thyestes’ berechtigte Zweifel an dieser Absicht auszuräumen. Ex post erkennen zu müssen, daß das gegen Atreus gehegte Mißtrauen berechtigt war – das ist die Tragik der Thyestes-Figur und auch das entscheidende Moment der gegen sie geübten Gewalt. Gegenüber den Dramatisierungen, in denen der Kannibalismus als brutaler Höhepunkt der Gewaltausübung erscheint, ist es hier das „danach“: Es ist das langsame Erkennen, unwissentlich selbst zum Täter geworden zu sein,134 sowie der Ekel über das soeben noch genossene Mahl, mit einem Wort: der Betrug der Sinne und des Verstandes, der aus der Perspektive des Thyestes die eigentliche Gewalterfahrung ausmacht – eine Gewalterfahrung, die sich, da die eigentliche Tat längst begangen wurde, erst durch die ex post erfolgende Vergegenwärtigung dessen realisieren läßt, was sich während des Mahls, also des eigentlichen Vollzugszeitpunkt, dem physischen Sehen völlig verschlossen hatte.
2.2
Gewaltphänomene in den Tragödien. Vorüberlegungen zu ihrer Systematisierung
Mit der anhand von Troades, Phaedra und Thyestes exemplarisch dargestellten Gewichtung und Schwerpunktsetzung, wie sie sich in der stofflichen Akzentuierung von Senecas mythischen Bearbeitungen zeigt, sind wir bei den Gewaltdarstellungen in den Tragödien angelangt. Bevor wir zu den poetologischen Implikationen (Kapitel 4) sowie den darstellerischen Techniken (Kapitel 5) kommen, mit denen Seneca unter bestimmten Produktions- und Rezeptionsbedingungen (Kapitel 3) arbeitet, um Phänomene der Gewalt auf die Bühne zu bringen und für seine Rezipienten erfahrbar zu machen, soll daher im Folgenden zunächst etwas genauer auf die Gewaltphänomene eingegangen werden, wie sie auf Bühnenebene durch die Figuren selbst thematisiert, ausgeübt und erfahren werden. Zwischen der auf Bühnenebene (also von den dramatis personae) erfahrenen Gewalt einerseits und dem (vom Rezipienten) als Gewalt erfahrbaren Bühnengeschehen andererseits soll demnach so gut wie möglich unterschieden werden. Die methodische Überlegung, die dieser Trennung vorausgeht, beruht zunächst auf der Annahme, daß die Gewalterfahrung des Zuschauers die auf der Bühne dargestellte Gewalterfahrung nicht zwingend reproduzieren muß, sondern im Gegenteil von dieser völlig verschieden sein kann, zumal zwischen innerem
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Als Verfahren erinnert dies an den langsamen Erkenntnisprozeß der Agaue in den Euripideischen Bacchen 1265-1284. Freilich ist die Situation hier eine völlig andere: Während im Thyestes der Initiator der Greueltat Thyestes zur Erkenntnis führt, erkennt Agaue, die zuvor im Wahn den eigenen Sohn Pentheus getötet hat, im Gespräch mit Kadmos selbst die Wahrheit.
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und äußerem Kommunikationssystem zu differenzieren ist.135 Anders als im fünften Kapitel, wo es um die durch die Techniken der Darstellung evozierte Gewalterfahrung des Zuschauers mithin die Frage gehen soll, wie sich die Gewalterfahrung, die die dramatis personae erleben, von derjenigen des Zuschauers unterscheidet und welche Bedeutung dies für den Reflexionsprozeß des Zuschauers mit Blick auf seine Rolle als Zuschauer hat, gelten die folgenden Überlegungen überwiegend der auf Bühnenebene dargestellten Gewalterfahrung. Der Versuch der Differenzierung greift aber auch auf ein im ersten Kapitel angesprochenes Problem zurück: Was wir aus moderner Perspektive als gewalttätig bestimmen, spielt im kaiserzeitlichen Gewaltdiskurs nicht unbedingt dieselbe Rolle wie für uns; was wiederum in den für die Kaiserzeit zur Verfügung stehenden Quellen als ʻGewaltʼ markiert wird, entspricht nicht zwingend der Gewichtung, wie sie den jeweiligen Phänomenen innerhalb des senecanischen bzw. mythisch bestimmten Gewaltdiskurses beigemessen wird. Man vergegenwärtige sich die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung durch die Vorstellung, welche Wirkung von einer Tat wie beispielsweise der Opferung der Polyxena inklusive der sie kontextualisierenden Begründungen in unserem modernen Kontext ausgehen würde. Insofern erscheint es als sinnvoll, mit Blick auf Senecas eigenen Gewaltbegriff zunächst die für die Bühnenwirklichkeit relevanten Konzeptionen der Gewalt herauszulösen, die ich, um das darin zum Tragen kommende Zusammenwirken von Autor und Stoff als ein Zusammenwirken beschreibbar zu machen, als ʻintradiegetischenʼ Gewaltdiskurs bezeichnen will. Die größte methodische Schwierigkeit bei der Rekonstruktion eines solchen intradiegetischen Gewaltdiskurses ist sicherlich die Tatsache, daß bestimmte Phänomene, wie sie in diesem Diskurs zweifelsohne eine Rolle spielen, nicht zwingend lexikalisch, also durch die Verwendung entsprechender Begriffe zum Ausdruck kommen. Wenn etwa die Aussage einer dramatis persona von einer ihr als Dialogpartner und Kontrahenten zur Seite gestellten Figur so umgedeutet wird, daß sich die Aussage gegen die Figur wendet, die die Aussage ursprünglich getroffen hat (Ag. 953ff.),136 oder wenn eine ungeachtet ihrer kontextuellen Einbindung als freundlich erscheinende Aussage in ihrem Kontext so unbotmäßig ist, daß die entsprechenden Worte als eine Form der psychischen Gewalt zu
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Das äußere Kommunikationssystem schließt die Rezeption des Zuschauers in die Darstellung der Handlung ein. Zu den Begriffen s. Speyer: Kommunikationsstrukturen in Senecas Dramen. Eine pragmatisch-linguistische Analyse mit statistischer Auswertung als Grundlage neuer Ansätze zur Interpretation. Göttingen 2003 (= Hypomnemata, Bd. 149), S. 12. Manfred Pfister: Das Drama. 8. Aufl. München 1994, S. 19-22. Mit den Begriffen arbeitet auch Ernst A. Schmidt: „Aparte. Das dramatische Verfahren und Senecas Technik.“ In: Rheinisches Museum N.F. 143 (2000), S. 400-429. 136 S. hierzu unten, Kap. 5, S. 259ff.
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werten sind (HF 370ff.),137 dann sind diese Formen der Gewaltausübung lexikalisch nicht greifbar, sondern lassen sich überhaupt nur durch ihren dramatischen Kontext als solche identifizieren. Was an dieser Stelle also nicht erneut geleistet werden soll, ist die lexikalische Aufarbeitung jener Begriffe, die wie vis, violentia, crudelitas, feritas, saevitia u. ä. das semantische Spektrum umreißen, wie wir es im Deutschen unter den Begriff der „Gewalt“ fassen.138 Die Gewaltphänomene, um die es im vorliegenden Kapitel gehen soll, umgreifen vielmehr gerade auch jene Formen, die nicht durch begriffliche Verweise als solche charakterisiert und markiert werden, sondern überhaupt nur als Teil einer dramatischen Syntax in Erscheinung treten. Die Einbeziehung dieser Phänomene erscheint aus zunächst drei Gründen sinnvoll: Zum einen deshalb, weil einer Benennung, wie sie dann auch lexikalisch greifbar wäre, zwangsläufig ein Akt der Reflexion vorausginge (die Reflexion der Gewalt aber keineswegs auch eine Bedingung der Gewaltausübung oder auch -erfahrung ist). Zum anderen deshalb, weil Seneca bei der Darstellung von Gewalt auch Verfahren einschließt, die gerade mit der Verweigerung der sprachlichen Explikation arbeiten (s. u. HF 634ff.)139. Schließlich müßte, drittens, eine Beschränkung auf die sprachlich explizierten Phänomene, umgekehrt, alle diejenigen Verfahren ausschließen, in denen sich die Ausübung oder Erfahrung von Gewalt entweder erst außerhalb des eigentlichen Bühnengeschehens (d.h. im äußeren Kommunikationssystem) vollzieht, weil sie z. B. erst im Akt der Betrachtung oder durch die kognitive Souveränität des Zuschauers zur Entfaltung kommt,140 oder aber von den betroffenen Figuren (d.h. innerhalb des inneren Kommunikationssystems) zum Zeitpunkt des Vollzugs noch nicht erkannt werden kann. Als ein überwiegend dialogisch strukturiertes Medium genießt die Tragödie den Vorteil, Entstehungs- und Reflexionsprozesse in besonderem Maße veranschaulichen zu können. Wenn Seneca gegenüber der Darstellung offen verübter physischer Gewalt vor allem deren Genese, Diskussion und Kritik, mit anderen Worten: deren komplexe Hintergründe, ins Zentrum rückt, dann hat hier nicht zuletzt auch die generisch bedingte Dialogizität141 der dramatischen Form hineingespielt. Zu beobachten – und folglich zu erklären – ist die Tatsache, daß
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S. hierzu unten, S. 117ff. Einen lexikalischen Zugriff versuchen Rohmann: Gewalt und politischer Wandel [wie Anm. 36], S. 22-31, sowie die beiden Arbeiten von Wistrand: „Violence and Entertainment“ [wie Anm. 48] und Entertainment and Violence in Ancient Rome. The attitudes of Roman writers of the first century A. D. Göteborg 1992. 139 Vgl. hierzu unten, Kap. 5, S. 240. 140 Zur Gewalterfahrung innerhalb des äußeren Kommunikationssystems s. Kapitel 5. 141 Herta Schmid: „Dialogizitätstheorie im Spiegel der dramatisch-theatralischen Gattungen“. In: Dramatische und theatralische Kommunikation. Hrsg. von Herta Schmid/ Jurij Striedter. Tübingen 1992, S. 36-90. Renate R. Lachmann: „Dialogizität und poetische Sprache“. In: Dies. (Hrsg.): Dialogizität. München 1982, S. 51-62. 138
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die sich dem bloßen Auge entziehenden Formen von Gewalt den größeren Teil der Gewaltdarstellungen ausmachen. Wenn die vorliegende Zusammenstellung über die Analyse körperlicher Brutalität hinausgeht und die im Folgenden genannten Formen der Gewalt und ihrer Darstellungen einbeziehen will, dann deshalb, weil es nicht ausschließlich um Aspekte der Visualisierung oder Visualisierbarkeit, sondern in einem weiteren Sinne um die Frage gehen soll, wie in Senecas Tragödien – und dies ist ebenso translate wie literaliter gemeint – Gewalt ,zur Sprache‘ kommt.142 Komplex wird diese Dehnung des Gewaltbegriffs freilich hinsichtlich der Gewaltverfahren, die von spezifischen Formen der Machtausübung oder Manipulation nur schwer zu trennen sind. Hier hat die hohe Bedeutung, die den Techniken der Sprache zufällt, dazu beigetragen, daß die Untersuchung der entsprechenden Passagen überwiegend unter den Stichworten der Argumentationsund Kommunikationstechnik vorgenommen worden ist.143 Die mit der Ausblendung aller nicht-physischen Spielarten verbundene Fokussierung auf die Frage, was auf der Bühne gezeigt werden darf und was nicht,144 hat die Tendenz, sprachlich generierte Formen von Gewalt lediglich unter dem Gesichtspunkt ihrer „Argumentationstechniken“ zu behandeln, sicher noch befördert. Als problematisch oder doch defizitär erweisen sich diese beiden Stoßrichtungen jedoch nicht nur deshalb, weil Seneca auch bei der Ästhetisierung physischer Gewalt mit sprachlichen Techniken (etwa der Verknappung)145 arbeitet, die gerade nicht der Visualisierung zuarbeiten. Unterschlagen wird auch die Bedeutung, die der kognitiven Leistung des Rezipienten auch dann noch, wenn es ʻetwas zu sehenʼ gibt, im Prozeß der Vergegenwärtigung beizumessen ist. Die Fähigkeit, einen Gewaltakt als Gewaltakt zu begreifen, läßt sich – dort, wo das möglich ist – durch eine explizite Visualisierung eines solchen Vorgangs zwar befördern; für die Senecanischen Tragödien bezeichnend ist jedoch, daß sie ihr generisch bedingtes Potential gerade dazu nutzen, um auch jene Formen der Gewalt zu zeigen, die sich aufgrund ihrer paradoxalen Syntax selbst der bildlich-imaginativ erzeugten Sichtbarwerdung noch entziehen, in der dialogischen Entfaltung ihrer Widersprüche
142
Neben den oben bereits genannten Unterformen zumindest ansatzweise in den Blick zu nehmen sind dabei auch die verschiedenen Formen, das Verhältnis von Mensch und Natur aus dem Gleichgewicht zu bringen und dadurch die kosmische Ordnung zu verletzen, sowie die zahlreichen Phänomene der Konstituierung von Machtverhältnissen und der Manipulation. 143 Johanna Brandt: Argumentative Struktur in Senecas Tragödien. Eine Untersuchung anhand der ,Phaedra‘ und des ,Agamemnon‘. Hildesheim 1986 (= Beiträge zur Altertumswissenschaft, Bd. 5). Speyer: Kommunikationsstrukturen in Senecas Dramen. [wie Anm. 135]. 144 S. dazu oben, S. 20, zu Hor. ars 179-188. 145 Vgl. hierzu unten, Kap. 5, S. 239ff.
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jedoch sehr wohl erfahrbar sind. Psychische Gewalt, die bereits erwähnte freundliche Geste etwa, die erst durch ihren Kontext als Gewaltakt ausgewiesen ist, läßt sich nicht in einer einfachen Handlung darstellen,146 sondern wird erst durch die kognitive Erfassung ihres widersprüchlichen Subtexts (also in der Erfassung als „double-scene“)147 vom Rezipienten erfahren und sinnlich wirksam. Psychische Gewalt lebt ebenso wie strukturelle Gewalt vom Widerspruch (zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Ausgesprochenem und Verschwiegenem, zwischen Wort und Handlung, zwischen Sichtbarkeit und Verborgenem u. ä.) und bedarf infolgedessen eines Dialogs oder doch einer dialogischen Sprechweise, um die sie konstituierende Widerprüchlichkeit sichtbar werden zu lassen.
2.3
Formen der Verursachung
Der Versuch, die verschiedenen Formen, wie sie auf intradiegetischer Ebene behandelt werden, nach den bereits genannten Spielarten (physisch, psychisch und strukturell) zu typisieren, läuft, wie jede Typisierung, Gefahr, Überschneidungen auszublenden. Die Systematisierung der Phänomene erweist sich mit Blick auf Senecas Tragödien jedoch vor allem deshalb als schwierig, weil Seneca die Erscheinungsformen von Gewalt niemals isoliert, sondern immer in ihren Zusammenhängen, also ausgehend von ihren Entstehungsbedingungen, betrachtet. Bevor ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels auf die Erscheinungsformen selbst eingehe, sollen sie daher zunächst einmal nach einem sehr einfachen, nämlich dem Kriterium ihrer Verursachung unterschieden werden. Demnach lassen sie sich in die folgenden Formen einteilen: 1. Gewalt, wie sie im Zusammenhang mit entwicklungsgeschichtlichen Prozessen, etwa im Zivilisationsprozeß entsteht, und 2. Gewalt, die von (2.a) einzelnen Individuen (2.b) personalisierten oder personalisierbaren Vorstellungen oder (2.c) kulturell bzw. religiös bedingten Phänomenen ausgeht und die Betroffenen zu weiterer Gewalt anstiftet bzw. selbst zu Tätern werden läßt. Allen diesen Formen der Verursachung ist es gemeinsam, daß sie, auch wenn sie den genannten Phänomenen der Gewalt (physischer, psychischer und struktureller Gewalt) im Wesentlichen ursächlich vorausgehen, diese auch selbst, in jeweils unterschiedlicher Weise, zum Einsatz bringen.
146
Psychische Gewalt läßt sich dann in eine bildliche Darstellung bringen, wenn davon auszugehen ist, daß ihr dialogischer Charakter bei der Lektüre des Bildes mitgedacht werden kann. Insofern ist die kognitive Erfassung des Gewaltaktes der eigentlichen Bildlektüre vorgängig, das Bild selbst dagegen als Verweis darauf zu verstehen. 147 Zu diesem Begriff vgl. Gusto Picone: „La scena doppia: spazi drammaturgici nel teatro di Seneca“. In: Dioniso N. S. 3 (2004), S. 134-143.
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2.3.1 Entwicklungsgeschichtlich bedingte Gewalt In seinem berühmten Leviathan, Or the Matter, Forme, and Power of A Common-Wealth Ecclessiastical and Civil (1651)148 beschreibt Thomas Hobbes den Naturzustand als eine Lebensform, in der es weder Gesetz noch Staat gegeben habe und der Mensch in einem chaotischen „Krieg aller gegen alle“ (bellum omnium contra omnes)149 alles habe beanspruchen können. Als Gründe hierfür macht Hobbes zwei Veranlagungen des Menschen – Wettstreben und Ruhmsucht – sowie dessen Argwohn aus. Die Menschen scheuten keine Gewalt, sich Weib, Kind und Vieh eines anderen zu unterwerfen, das Geraubte zu verteidigen, sich für Belanglosigkeiten – ein Wort, ein Lächeln, einen Widerspruch oder irgendein Zeichen der Geringschätzung – zu rächen, und da jeder grundsätzlich habe annehmen müssen, daß es andere auf seinen Reichtum oder seine Freiheit absehen, sei man präventiv darum besorgt gewesen, daß ein solcher Fall erst gar nicht eintrete. Erst mit der Entstehung eines Gemeinwesens, in dem eine übergeordnete, allmächtige Instanz Sicherheit und Schutz garantiere, und erst nach Abschluß eines Gesellschaftsvertrags, durch den der Souverän legitimiert wird, sei, so Hobbes’ diagnostische These, ein Entrinnen aus den im Naturzustand begründeten Gefahren und somit das physische Überleben, überhaupt möglich. Ein völlig anderes Modell der Beziehung zwischen Gewalt und Staat bzw. Zivilisation liegt in der Phaedra vor, in der die Amme der Protagonistin aus Sorge um ihre liebeskranke Herrin den Versuch unternimmt, den durch seinen der Askese verpflichteten Lebensentwurf für die Avancen seiner Stiefmutter unzugänglichen Hippolytus umzustimmen. Nachdem die Amme ihn dazu aufgefordert hat, die Jugend zu genießen und sich, anstatt den Rückzug in die
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Thomas Hobbes: Leviathan, Or the Matter, Forme, and Power of A Common-Wealth Ecclessiastical and Civil. London 1651. 149 Vgl. Hobbes: Leviathan [wie Anm. 148], Teil 1, Kap. 13, S. 62: „Hereby it is manifest, that during the time men live without a common Power to keep them all in awe, they are in that Condition which is called Warre; and such warre, as is of every man, against every man. [...] In such a condition there is no place for Industry; because the fruit thereof is uncertain: and consequently no Culture of the Earth; no Navigation, nor use of the commodities that may be imported by Sea; no commodious Building; no Instruments of moving, and removing as require much force; no Knowledge of the face of the Earth; no account of Time; no Arts; no Letters; no Society, and which is worst of all, continuall feare, and danger of violent death; And the life of Man, solitary, poore, nasty, brutish, and short.“ Der lateinische Ausdruck geht zurück auf Thomas Hobbes: De Cive. Paris 1642, praef. 14: Ostendo primo conditionem hominum extra societatem civilem (quam conditionem appellare liceat statum naturae) aliam non esse quam bellum omnium contra omnes; atque in eo bello jus esse omnibus in omnia.
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Wälder anzutreten, lieber unter Leute zu begeben (Pha. 435-482),150 entwirft Hippolytus (483-564) das Idyll einer genuin friedlichen Welt,151 in die erst mit den Errungenschaften und Nebenwirkungen der gesellschaftlichen Ordnung Gewalt hereingebrochen sei (Pha. 525-546):152 Hoc equidem reor vixisse ritu prima quos mixtos deis profudit aetas. nullus his auri fuit caecus cupido, nullus in campo sacer divisit agros arbiter populis lapis; nondum secabant credulae pontum rates:
sua quisque norat maria; non vasto aggere crebraque turre cinxerant urbes latus; non arma saeva miles aptabat manu nec torta clausas fregerat saxo gravi ballista portas; iussa nec dominum pati iuncto ferebat terra servitium bove:
sed arva per se feta poscentes nihil pavere gentes, silva nativas opes et opaca dederant antra nativas domos. Rupere foedus impius lucri furor
Das ist meine persönliche Meinung: Daß auf diese Weise diejenigen gelebt haben, die, den Göttern beigesellt, das erste Zeitalter hervorbrachte. Diese hatten keine blinde Gier nach Gold, kein geweihter Grenzstein trennte auf dem Feld die Äcker, den Völkern als ein Schiedsrichter; und noch nicht durchschnitten leichtgläubige Schiffe das Meer: Jeder kannte nur seine eigenen Meere; nicht umgaben die Städte ihre Flanken durch einen riesigen Damm und viele Türme; nicht rüstete der Soldat seine wilde Hand mit Waffen aus, und nicht brach die gespannte Schleudermaschine die geschlossenen Tore mit schwerem Gestein. Und nicht ertrug die Erde, dazu verurteilt, einen Herrn zu erdulden, Knechtschaft durch den ins Joch gespannten Ochsen. Sondern wie von alleine fruchtbar ernährten die Fluren Völker, die nichts forderten, der Wald hatte natürliche Schätze und die schattigen Höhlen natürliche Behausungen
Vgl. bes. Pha. 443b-482, z. B. optimos vitae dies | effluere prohibe. propria descripsit deus | officia et aevum per suos ducit gradus, 450b-452. 151 Daß Hippolytus die grausame Opferung ablehnt (Pha. 498-500), ist jedoch nicht als Zeichen seiner Ablehnung von Gewalt zu lesen, sondern steht im Kontext seiner Identität als eines Jägers, der zwar nicht die Tötung von Tieren, sehr wohl aber die hierfür vorausgesetzte Domestizierung und Agrikultur ablehnt, vgl. Franco Bellandi: „Il sangue e l’altare: Ippolito cacciatore e il sacrificio cruento (a proposito di Seneca, Phaedra 498500)“. In: Materiali e discussioni per l’analisi dei testi classici 58 (2007), S. 43-72. 152 Vgl. hierzu Maria Gabriella Critelli: „L’Arcadia impossibile: Elementi di un’età dell’ oro nella Phaedra di Seneca“. In: Rivista di Cultura Classica e Medioevale 40.1-2 (1998), S. 71-76, die auf die Widersprüche zwischen den in Sen. Pha. 483-564 entworfenen Bild und den in der Eingangsarie des Hippolytus (1-84) entworfenen Szenerien hinweist (S. 72f.). – Die Übersetzungen der Senecanischen Tragödien hier und im folgenden teilweise in Anlehnung an Theodor Thomann: Seneca. Sämtliche Tragödien. 2 Bde. München/ Zürich 1969 bzw. 1978.
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2 Die Thematisierung von Gewalt in den Tragödien et ira praeceps quaeque succensas agit libido mentes; venit imperii sitis cruenta, factus praeda maiori minor: pro iure vires esse. tum primum manu bellare nuda saxaque et ramos rudes vertere in arma[.]
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geschenkt. Es durchbrach diesen Vertrag gottloses Rasen nach Gewinn und jäher Zorn und welche Lust auch immer die erhitzten Gemüter treibt. Es kam blutiger Durst nach Herrschaft, der Kleinere wurde dem Größeren zur Beute. Statt Recht herrscht Gewalt. Damals führten sie zum ersten Mal Krieg mit nackter Hand und verwandelten Felsen und unbearbeitete Äste in Waffen.
Das allen Gewaltsituationen ursächliche Moment, so legt es Seneca seiner Figur Hippolytus in den Mund, sei die Eingliederung des einzelnen in einen gemeinschaftlichen Verbund sowie die damit verbundene Notwendigkeit, ein politisches Ordnungsgefüge zu etablieren, zu festigen oder gegebenenfalls zu restituieren. Hippolytus’ Verdikt umfaßt denn auch genau jene Triebe und charakterlichen Eigenschaften, die – entfaltet und in Handeln transformiert – dazu geeignet sind, zwischenmenschliche Beziehungen zu strukturieren, Gruppenzugehörigkeiten zu regulieren und Hierarchien herzustellen. Gewalt – das ist für Hippolytus nicht etwa die rohe Gewalt des ʻBarbarenʼ, sondern im Gegenteil, die Gewalt, derer es bedarf, um sich innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges durchzusetzen. Als Gegenbegriff figuriert die libera vita (Pha. 483-489): Non alia magis est libera et vitio carens ritusque melius vita quae priscos colat, quam quae relictis moenibus silvas amat.
non illum avarae mentis inflammat furor qui se dicavit montium insontem iugis, non aura populi et vulgus infidum bonis, non pestilens invidia, non fragilis favor[.]
Kein anderes Leben ist freiheitlicher und freier von Lastern, und es gibt kein Leben, das die alten Gebräuche besser ehrt, als dasjenige, das die Stadtmauern hinter sich läßt und die Wälder liebt. Denjenigen, der sich unschuldig den Jochen der Berge hingibt, entflammt nicht der Furor eines gierigen Sinnes, nicht der Wankelmut des Volkes und nicht die Masse, die den guten Menschen untreu ist, nicht der verderbliche Neid und nicht die zerbrechliche Gunst.
Die libera vita ist als Freiheit von Lastern (vitio carens, Pha. 483), Schutz vor Habsucht (non illum avarae mentis inflammat furor, 486) und insofern als eine den vergänglichen Gütern unzugängliche Haltung ausgewiesen. Ihre Vorzüge aber sind, wie die Rede ausführen wird (525-527),153 der prima aetas
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S. dazu oben, S. 70.
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vorbehalten. Mit dem Auftreten der Leidenschaften wird ihre Festigkeit zerstört. furor, ira und libido werden dabei nicht nur als treibende Kräfte für den Destruktionsprozeß (rupere foedus impius lucri furor | et ira praeceps quaeque succensas agit | libido mentes, Pha. 540-542154), sondern auch als Manifestation eines sich spiralenförmig zur Gewalt hin steigernden Zivilisationsprozesses verstanden. Dabei bleibt unklar, ob diese Leidenschaften im Menschen ursprünglich angelegt oder erst durch das Zusammenleben wachgerufen bzw. befördert werden. Das argumentative Gewicht liegt nicht in der Genese der Affekte, sondern in der Beschreibung des durch sie bedingten Umschlags von ius in vires (pro iure vires esse, Pha. 544155) sowie in der Charakterisierung des Bedingungsverhältnisses, wie es zwischen der Herausbildung ihrer Kräfte und der dadurch verursachten Entgrenzung und Steigerung gedacht wird (Pha. 550-557): invenit artes bellicus Mavors novas et milles formas mortis. hinc terras cruor infecit omnis fusus et rubuit mare. tum scelera dempto fine per cunctas domos iere, nullum caruit exemplo nefas: a fratre frater, dextera gnati parens cecidit, maritus coniugis ferro iacet perimuntque fetus impiae matres suos; taceo novercas: mitius nil est feris.
Es erfand der kriegerische Mars neue Künste und tausend Formen des Todes. Seitdem befleckte das vergossene Blut alle Länder und färbte das Meer rot. Damals gingen die Verbrechen ohne Grenzen durch alle Häuser, für jeden Frevel gab es ein Vorbild. Durch den Bruder fiel der Bruder, durch die Hand des Sohnes der Vater, der Gatte liegt tot durch seiner Gattin Schwert, und gottlose Mütter töten die Früchte ihres Leibes. Ich schweige von Stiefmüttern: Nichts ist sanfter als wilde Tiere.
Die Idealisierung (und „Idyllisierung“) des Naturzustands gehört zu den gängigen Stereotypen der Zivilisationskritik, wie sie später unter dem Stichwort des „guten Wilden“ in die Ethnographie und Kulturtheorie des 18. Jahrhunderts Eingang finden sollten,156 aber auch schon lange zuvor (etwa bei Hor. carm. 3, 24) und von Seneca selbst in seinen Prosaschriften ansatzweise vorgebildet sind.157 In der Phaedra geht es jedoch nicht nur um eine Entwicklungstheorie,
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S. dazu oben, S. 70f.. S. dazu oben, S. 71f.. 156 Vgl. hierzu Karl-Heinz Kohl: Entzauberter Blick. Das Bild vom guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation (Berlin 1981). Neuaufl. Frankfurt a. M. 1986. 157 Z. B. Sen. dial. 1 (= de providentia) 4, 13-16. Ulrich Huttner: „Zur Zivilisationskritik in der frühen Kaiserzeit: Die Diskreditierung der pax Romana.“ In: Historia: Zeitschrift für Alte Geschichte 49.4 (2000), S. 447-466, weist allerdings zu Recht auch auf die Ambivalenzen und Widersprüche in Senecas Urteil über die Barbaren hin (z. B. in De ira: dial. 5, 17, 1 gegen dial. 4, 15, 1). 155
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sondern auch um eine theoretische Grundierung derjenigen Differenzen, die den Konflikt, in den Hippolytus hineingerät, begründen: die Differenz zwischen den Geschlechtern, zwischen Natur und Zivilisation, zwischen Leidenschaft und Askese. In einer Zusammenführung dieser Differenzfelder läßt Seneca seinen Protagonisten denn auch als Ursache für die Degeneration der menschlichen Entwicklung – für die Erfindung von Waffen (549) und das, auch innerfamiliäre, Blutvergießen (551-556) – das weibliche Geschlecht benennen (dux malorum femina, 559): Die Frauen sind es, die die Männer zum Bösen anstiften und damit die von den Männern geführten Kriege zu verantworten haben. Als schlimmste Exponentin des weiblichen Geschlechts, ja gewissermaßen als die eine, die für alle steht, gilt – obwohl wir uns noch immer in der Phaedra befinden, Medea: sileantur aliae: sola coniunx Aegei, | Medea, reddet feminas dirum genus (563f.).158 In Entsprechung der von Hippolytus implizierten Kulturtheorie wird Medea dabei nicht etwa, wie man vielleicht vermutet hätte, in ihrer Rolle als Barbarin angeführt, als die kolchische Zauberin und Mörderin der eigenen Kinder, sondern als die (spätere) Ehefrau des attischen Königs Aegeus (coniunx Aegei, 563), mithin als eine Königin Athens. Da sie durch die Heirat mit Aegeus auch die Stiefmutter des Theseus ist und dadurch zu diesem in demselben verwandtschaftlichen Verhältnis steht wie Phaedra zu Hippolytus, ist die Nennung Medeas eine wohlgesetzte Spitze, in erster Linie aber dient die Hervorhebung von Medeas Ehe mit dem attischen König der Einpassung in jene Dichotomien, wie sie durch die Hippolytusrede konstruiert werden. Medea erscheint nicht etwa als Vertreterin eines präzivilisatorischen oder irrationalen Handelns, sondern sie wird der griechischen, zivilisierten polis zugeordnet. Ihr Barbarentum (das Hippolytus nach seinem Kulturentstehungsmodell auch der aurea aetas hätte zuordnen können) wird weitgehend ausgeblendet; stattdessen liegt die Betonung auf ihrer Begegnung mit der zivilisierten Welt. Auf den Zusammenhang von Gewalt und Zivilisation weist auch die Charakterisierung der Frau als einer scelerum artifex (559), für die Medea einzustehen hat. Denn gerade der Begriff des/der artifex läßt erkennen, daß Hippolytus nicht planloses, sondern im Gegenteil planvolles, bewußtes Handeln für den Urgrund des Übels hält. Und betrachtet man schließlich den übergeordneten Vergleich, mit dem das Wesen der Frau eingeführt wird (mitius nil est feris.| sed dux malorum femina, 558f.), so wird vollends deutlich, daß das Böse keineswegs der menschlichen Natur – ja nicht einmal der tierischen Natur! –, sondern vielmehr einem gezielt gesteuerten Handeln (dux malorum) zugeschrieben wird. Daß Gewalt nicht mit Rohheit, sondern mit Raffinesse assoziiert wird, ist ein Gedanke, der bei der
158 Ähnlich wird in der Medea die Hauptfigur durch Creo als malorum machinatrix facinorum bezeichnet (Med. 266). Auch hier wird eine auf technische Versiertheit deutende und damit grundsätzlich positive Eigenschaft (in ihrer feminisierten Form) negativ umbesetzt. Vgl. hierzu André Arcellaschi: „La violence dans la Médée de Sénèque“. In: Pallas 45 (1996), S. 183-190, hier: S. 187f.
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Betrachtung von Senecas Gewaltbegriff – gerade im Zusammenhang mit seiner Thematisierung psychischer Gewalt – noch öfter begegnen wird. Auch in der Medea hat die im Zusammenhang der Gewaltentstehungstheorie geübte Zivilisationskritik Parallelen. Daß die Ausübung von Gewalt weniger auf die noch ungebändigte Natur des Menschen als vielmehr auf einen Nebenumstand eines Phänomens zurückgeführt wird, das aus moderner Perspektive unter das Stichwort der Zivilisation zu fassen wäre, ist vor allem der Tenor, der im zweiten (301-379) und dritten (579-669) Chorlied der Medea angeschlagen wird. So wird im zweiten Chorlied der unberührte Naturzustand beschworen, in dem ein jeder Mensch noch auf sein eigenes Umfeld und die damit verbundenen Möglichkeiten verwiesen war (Med. 329-334): Candida nostri saecula patres videre procul fraude remota. sua quisque piger litora tangens patrioue senex factus in arvo, parvo dives nisi quas tulerat natale solum non norat opes.
Unsere Väter sahen heitere Jahrhunderte; Betrug war da noch weit entfernt. Jeder war seßhaft und berührte nur seine eigenen Küsten und wurde alt auf väterlicher Flur, war durch Weniges reich und kannte keine Schätze außer denen, die der heimische Boden trug.
Die entscheidende Wende bringt die Schiffahrt, die nicht nur als eine Gewalt gegen die Gesetze der Natur verstanden wird, sondern auch als Voraussetzung dafür, daß die verschiedenen Kulturen miteinander konfrontiert werden (Med. 364-379):159 Nunc iam cessit pontus et omnes patitur leges: non Palladia compacta manu regum referens inclita remos quaeritur Argo – quaelibet altum cumba pererrat. Terminus omnis motus et urbes muros terra posuere nova, nil qua fuerat sede reliquit pervius orbis: Indus gelidum potat Araxen, Albin Persae Rhenumque bibunt – venient annis saecula seris,
159
Nun hat sich das Meer schon ergeben und erträgt alle Gesetze. Nicht wird eine Argo, von der Hand der Pallas gefügt und berühmt, weil sie die Ruder von Königen trägt, gesucht – jeder beliebige Nachen durchirrt das hohe Meer. Jeder Grenzstein ist entfernt und die Städte haben ihre Mauern auf neuem Land errichtet, nichts ließ der überall zugängliche Erdkreis dort, wo es gewesen war. Der Inder trinkt den eisigen Araxes, die Perser trinken die Elbe und den Rhein. Es werden in späteren Jahren Zeiten
Vgl. hierzu Christine Schmitz: Die kosmische Dimension in den Tragödien Senecas. Berlin/ New York 1993 (= Untersuchungen zur Antiken Literatur und Geschichte, Bd. 39), S. 146-148.
2 Die Thematisierung von Gewalt in den Tragödien quibus Oceanus vincula rerum laxet et ingens pateat tellus Tethysque novos detegat orbes nec sit terris ultima Thule.
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kommen, in denen der Okeanos die Fesseln der Elemente lockert und sich die gewaltige Erde ausbreitet und Tethys neue Erdkreise aufdeckt und Thule unter den Ländern nicht das äußerste ist.
Das Chorlied als eine Präfiguration moderner Globalisierungskritik zu lesen, wäre allerdings verfehlt. Zwar bietet das zeitgenössische Rom durchaus Anhaltspunkte, das Miteinander verschiedener Kulturen zum Thema zu machen. Das Hauptaugenmerk der Kritik wie sie hier, im zweiten Chorlied der Medea, geübt wird, liegt jedoch nicht auf dem Zustandekommen interkultureller Begegnungen als solcher. Mit dem Problem der Entgrenzung, das der Chor, vor allem am hier zitierten Schluß des Chorlieds, als eine Ursache für die Gewaltentstehung nennt, ist nicht unbedingt der konkrete Umgang mit fremden Kulturen angesprochen – etwa die drohende oder tatsächliche Vereinheitlichung einer per se differenzierten Welt –, sondern die aus der Begegnung heraus entstehende Herausbildung von Wünschen und Begierden, für die es vor Erfindung der Seefahrt noch keinen Nährboden gegeben hat und die erst mit dem gewalttätigen Eingriff in die natürlichen Gesetze des Kosmos entfesselt worden seien. Als Ursache für die Entstehung von Gewalt wird wiederum – ähnlich wie das in der Phaedra der Fall ist – eine Eigenschaft des Menschen benannt: War in der Phaedra die Raffinesse der Frau (dux malorum, artifex, Pha. 559)160 als gewaltauslösend bezeichnet worden, so ist es hier, in der Medea, die audacia des ersten Steuermanns. Tiphys, der Steuermann der Argo habe es „gewagt“, den Winden „neue Gesetze“ (vor) zu schreiben und damit die Ordnung der Natur eigenmächtig zu verändern. Schon das Eingangswort des Chorliedes lautet audax, und als Tiphys namentlich ins Spiel kommt, wird er mit dem Hinweis auf seine audacia eingeführt, eine Charakteristisierung, die ihn von Anfang an und durch das Chorlied hindurch begleiten wird (Med. 301f; 318-320):161 Audax nimium qui freta primus rate tam fragili perfida rupit [...] Ausus Tiphys pandere vasto carbasa ponto legesque novas scribere ventis.
160
Allzu kühn war er, der als erster mit seinem zerbrechlichen Schiff die tückischen Meere durchbrach. [...] Tiphys, der es wagte, auf dem weiten Meer die Segel zu spannen und den Winden neue Gesetze zu schreiben.
S. dazu oben, S. 73f. Vgl. zu diesem Motiv auch Med. 616ff. (exigit poenas mare provocatum […]) mit den Ausführungen von Otto Zwierlein: „Seneca, Medea 616ff.“. In: Hermes 115 (1987), S. 382-384.
161
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Und auch, als die Krise der Argo beschrieben wird, ihr drohender Untergang bei der Fahrt durch die Symplegaden (340ff.), bleibt Tiphys trotz des Schreckens, der ihm widerfährt, das Attribut der audacia erhalten (Palluit audax Tiphys, Med. 347). Der Hinweis auf die leges novas (Med. 319), die auf diese audacia zurückgehen, impliziert dabei einen wichtigen Aspekt: Die Etablierung einer Ordnung bedeutet nicht die erstmalige Herstellung von Ordnung überhaupt, sondern setzt vielmehr das Eingreifen in bereits bestehende, natürlich vorgegebene Ordnungen voraus. Daß jede Konstituierung von Ordnung mit der Destruktion einer bestehenden Ordnung verbunden ist, mithin auch der Naturzustand nicht frei von Ordnung ist, scheinen die ersten Verse des Chorliedes zwar noch zu bestreiten. So wird das Meer als „tückisch“ (freta … perfida, 301f.), das Durch-„schneiden“ des Meeres als „unsicher“ (dubioque secans aequora cursu, 305), die Gefahr als uneinschätzbar (potuit tenui fidere ligno | inter vitae mortisque vices | nimium gracili limite ducto, 306-308) beschrieben. Doch wird der Status der Unsicherheit schon wenig später ganz explizit auf die „noch“ defizitäre Kenntnis einer sehr wohl bestehenden kosmischen Ordnung zurückgeführt (nondum quisquam sidera norat […] nondum […] nondum […], Med. 309-316). Daß der Mensch die Gesetze noch nicht kennt, heißt also nicht, daß sie als Gesetze noch nicht existierten, sondern es bekräftigt, im Gegenteil, ihre Bedeutung und Überlegenheit – ein Hintergrund, vor dem der wagemutige Bruch mit ihnen die subtile Form eines Gewaltaktes darstellt. Daß die audacia hier vor allem negativ besetzt ist, zeigt dabei die Tatsache, daß das Chorlied ihr Wirken – ähnlich wie die in der Hippolytus-Rede der Phaedra beschriebenen Konsequenzen zivilisatorischer Errungenschaften oder die dort benannten Folgen weiblicher ars (Pha. 483-564) – als eine Form der Transgression beschreibt, durch die dem friedlichen Naturzustand ein Ende gesetzt wird. Sind es in der Phaedra die Gegensätze zwischen Stadt und Land bzw. Zivilisation und Natur, in deren Spannungsfeld die Gewalt thematisiert wurde, so ist es im Chorlied der Medea der mit der Übertretung der natürlich gesetzten Grenzen verbundene Eingriff in eine bereits bestehende Kartographie der ethnischen, sozialen und natürlichen Zugehörigkeiten: War es zuvor nicht möglich gewesen, daß verschiedenartige Völker miteinander in Berührung kommen, so hat die Seefahrt – und der damit verbundene Gewaltakt gegen die Natur – ihre Begegnung und die daraus erwachsenen Konfliktverhältnisse begründet, wie sie für die Entstehung von Gewalt wiederum konstitutiv sind.
2.3.2
Anstiftung von Gewalt
Auf phänomenologischer Ebene finden sich als Ursachen von Gewalt sowohl Individuen als auch (personalisierte) Phänomene, wobei sich die Gewaltakte selbst auf unterschiedliche Weise, nämlich als physische, psychische oder
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strukturelle Gewaltformen beschreiben lassen. Anders als die Ausprägungen physischer Gewalt, die sich gegen einzelne Lebewesen oder gegen soziale oder kosmische Ordnungsgefüge richtet oder sogar ohne jede Adressierung ausgeübt wird, sind Entstehungsformen psychischer Gewalt besonders vielfältig. So vollzieht sich psychische Gewalt, wie in den Troades (Tro. 871-887: Helena gegen Polyxena), durch die Äußerung einer Lüge oder, wie in der Phaedra (Pha. 719-735: der Plan der Amme), durch Verleumdung, ohne daß den jeweiligen Adressaten die Gewaltausübung überhaupt bewußt wird. Die subtilste und grausamste Form der psychischen Gewalt äußert sich in der Erzwingung eines Gewaltaktes, durch die dem eigentlichen Opfer gegen dessen Willen oder auch ohne dessen Wissen die Rolle eines Täters zugewiesen wird. Wir finden diese Spielart beispielsweise in den Troades, 545-555, wo Andromacha von Ulixes vor die Wahl gestellt wird, entweder an ihrem Mann oder an ihrem Sohn Astyanax Gewalt zu üben,162 oder auch im selben Stück, 861-871, in dem Helena auf Befehl der Griechen (cogor, 864; ego Pyrrhi toros | narrare falsos, Tro. 864f.) zur Agentin des bereits erwähnten Gewaltakts, d.h. der Lüge gegen Polyxena werden muß.163 Nicht immer aber muß es eine menschliche Figur sein, die eine Täterschaft oder einen potentiellen Gewaltakt initiiert. Zu den gewaltausübenden Momenten gehören auch Phänomene, die – jedenfalls in ihrer mythischen Ausformulierung – personalisiert gedacht sind, darunter Affekte oder göttliche Wesen, die durch Anstiftung oder Infektion über das Handeln einer Figur verfügen können. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie nicht nur selbst Gewalt ausüben, sondern im Sinne einer Initialzündung zugleich ursächlich dafür verantwortlich sind, daß die Figur, die sie ʻbefallenʼ oder gegen die sie tätig werden, entweder selbst zum Täter wird oder zumindest zu einem solchen werden könnte.
2.3.2.1 Gewalt durch Leidenschaften – Phaedra und Medea Gewalt muß, wie schon im ersten Kapitel dargelegt, nicht zwingend von Menschen ausgehen. Hergestellt werden kann ein Gewaltverhältnis auch durch Kräfte, die zwar (anders als strukturell bedingte Phänomene) personalisiert oder
162
S. hierzu unten, S. 123. Da Helena für das Unglück des trojanischen Krieges verantwortlich ist, ist sie es, die sich durch die erzwungene Trugrede schuldig machen soll, um den Griechen zu ermöglichen, die Rückfahrt anzutreten. Vgl. die Rede der Helena, Tro. 903-926, in der die Sprecherin sich beklagt, ein Opfer des Paris-Urteils geworden zu sein, und, da sie sich der Feindschaft sowohl der Griechen als auch der Troer ausgesetzt sieht (in me victor et victus furit, Tro. 914), daran arbeitet, das Leid der Troerinnen durch ihr eigenes Leid zu überbieten: Als einzige der Griechinnen darf sie den Verlust ihres Geliebten (Paris) nicht betrauern (solus occulte Paris | lugendus Helenae es, Tro. 908f.) 163
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immerhin personalisierbar, gleichwohl aber nicht durch das Handeln einer menschlichen Figur bedingt sind. So zeigt sich in der domina-nutrix-Szene der Phaedra die in der Figur des Eros sinnbildlich gedachte Liebe als eine ebenso unüberwindliche wie handlungssteuernde Kraft, gegen die selbst die wissende Vernunft nichts ausrichten kann (Pha. 177b-185): [Phaedra] Quae memoras scio vera esse, nutrix; sed furor cogit sequi peiora. vadit animus in praeceps sciens remeatque frustra sana consilia appetens. sic, cum gravatam navita adversa ratem propellit unda, cedit in vanum labor et victa prono puppis aufertur vado. quid ratio possit? vicit ac regnat furor, potensque tota mente dominatur deus. hic volucer omni pollet in terra impotens ipsumque flammis torret indomitis Iovem.
[Phaedra] Das, woran du mich erinnerst, ist wahr – das weiß ich, Amme; aber der furor zwingt, dem Schlechteren zu folgen. Mein Sinn geht wissend in den Abgrund und kehrt, im Streben nach vernünftigen Ratschlägen vergeblich zurück. So auch geht, wenn der Schiffsmann das beladene Schiff gegen die feindliche Welle nach vorne treibt, die Mühe ins Leere und, das Schiff wird überwältigt von der treibenden Flut hinfortgerissen. Was kann Vernunft da ausrichten? Es siegt und herrscht der furor, über mein ganzes Denken herrscht der Gott. Dieser Geflügelte herrscht, seiner selbst nicht mächtig, auf der ganzen Erde und verbrennt selbst Iupiter mit seinen unbezwingbaren Flammen.
Der Kampf zwischen Vernunft (ratio, 184) und gesteigertem Affekt (furor, Pha. 178; 184) wird denn auch von der Protagonistin in der Metapher des Krieges – mit den Verben vincere und dominari – ausgedrückt, eines Krieges, in dem Eros (deus. | hic volucer, Pha. 188f.) über alles herrscht, und dessen unbezwingbaren Kräften sogar der größte der Götter, ja, schließlich auch er selbst (impotens, 186)164 völlig ausgeliefert sind. Dabei kann Seneca den Aspekt der Gewalt dadurch kräftigen, daß er auf die gewaltaffine Bildlichkeit zurückgreift, in der das Wirken des Eros ohnehin gedacht wird, mithin den Vorgang des Brennens und Durchbohrens in der Beschreibung seiner Wirkung hervorhebt.165 Eros,
164
Das von Heinsius mit Verweis auf Pha. 276 konjizierte impotens erscheint gegenüber dem in den Handschriften überlieferten potens zwar aus metrischen Gründen nicht zwingend, aber doch inhaltlich überzeugend, vgl. den Cupido geltenden Beginn des ersten Chorlieds, Pha. 274-278: Diva non miti generata ponto, | quam vocat matrem geminus Cupido: | impotens flammis simul et sagittis | iste lascivus puer et renidens | tela quam certo moderatur arcu! 165 Bereits zuvor, als Phaedra über die angestrebte Verbindung mit ihrem Stiefsohn spricht, war diese Metapher verwendet worden, um die allumfassende Kraft der
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einerseits einer der kleinsten Götter, hat alle Mittel, um die spezifischen Kräfte der großen Götter noch zu steigern. Er greift die Symbole ihrer Macht auf und wendet sie an, um seine eigene Gewalt angemessen auf sie auszuüben: Mit seinen unbezwingbaren Flammen verbrennt er Iupiter, den Gott der Blitze (ipsumque flammis torret indomitis Iovem, Pha. 187), den Gott des Krieges trifft er mit seinen Fackeln (Gravidus istas belliger sensit faces, 188). Vulcan läßt er mit seinem kleinen Feuer glühen, und auch Phoebus, den Gott der Bogenkunst, durchbohrt er treffsicher mit seinem Pfeil (Pha. 190-194): et qui furentis semper Aetnaeis iugis versat caminos igne tam parvo calet; ipsumque Phoebum, tela qui nervo regit, figit sagitta certior missa puer[.]
Auch er, der auf den Jochen des Aetna immer die tosenden Essen anfacht, brennt durch ein so kleines Feuer; und Phoebus selbst, der die Geschosse mit der Bogensehne lenkt, durchbohrt der treffsichere Knabe mit dem abgesandten Pfeil.
Indem die Leidenschaft der Liebe dem mythischen Denken entsprechend externalisiert und als eine von außen auf den Menschen wirkende Kraft reflektiert wird, wird ihr gleichsam der Status eines Subjekts beigemessen, dem das betroffene Objekt nur im Kampf begegnen kann. Mit ihrem Hinweis auf ein naturgemäß vernünftiges Inneres, das durch Eros und furor166 gewissermaßen gezwungen wird, wissentlich in den Abgrund zu gehen (quae memoras scio | vera esse, nutrix; sed furor cogit sequi | peiora, Pha. 177-179), mit dem Triumph über das verstandesmäßige Denken (vicit ac regnat furor, | potensque tota mente dominatur deus, Pha. 184f.) und nicht zuletzt gerade durch die Tatsache, daß sie ganz offensichtlich in der Lage ist, gedanklich zwischen beiden Kräften zu differenzieren, signalisiert Phaedra die Bedeutung der Liebe als einer externen, übergeordneten Macht. Die Überwältigung durch Eros hat eben gerade nicht zur unauflösbaren Verschmelzung zweier genuin verschiedener Kräfte geführt, sondern hat – bei aller Gewalt, die Eros auf sein Opfer ausübt – das gedankliche Differenzverhältnis zwischen Verstand und Leidenschaft aufrecht erhalten.167 Der stoisch grundierte Einwand der Amme, bei der Figur des Eros
Leidenschaften zu verbildlichen: perge et nefandis verte naturam ignibus (Pha. 173). Die Leidenschaften besiegen die natürliche und soziale Ordnung und zerstören mit ihren Verbrechen, die selbst das Verhalten der Barbaren in den Schatten stellen (166-168), alle zivilisatorischen Standards. 166 Vgl. hierzu Regina F. Merzlak: „Furor in Seneca’s Phaedra“. In: Studies in Latin literature and Roman history. Bd 3. Hrsg. von Carl Deroux. Brüssel 1983, S. 193-210. 167 Zur Fragmentierung des Selbst vgl. Christopher Gill: „Tragic fragments, ancient philosophers and the fragmented self“. In: Lost dramas of classical Athens: Greek tragic fragments. Hrsg. von Fiona McHardy/ James Robson/ David Harvey. Exeter 2005, S. 151-172 (zu Galen De placitis Hippocratis et Platonis 3, 3, 14-16 und 4, 2, 27). Ähnlich
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handele es sich keineswegs um einen Gott168, die Benennung als Gott sei lediglich einer menschlichen Rechtfertigung der Lust geschuldet (Deum esse Amorem turpis et vitio favens | finxit libido, Pha. 195f.), der sich jedoch – so ihre Implikation und Forderung – grundsätzlich erfolgreich begegnen ließe, erweist sich in der Dramaturgie des Stückes – wie dies auch indirekt das nachfolgende Chorlied (Pha. 274-357) mit seiner Beschwörung der Kraft von Aphrodite und Eros unterstreichen will – als angreifbar. Und schon zu Beginn der dominanutrix-Szene ist – mit Phaedras Hinweis auf ihre Erbschuld169 – die entscheidende Stoßrichtung in der Deutung des Fehlverhaltens, mithin die Externalisierung ihrer Emotionen und deren Überantwortung an die Macht des fatum, gedanklich vorbereitet worden (Pha. 113f.):170
verhält es sich mit der Figur der Clytemestra im Agamemnon: Clytemestra sieht sich von ihren eigenen Affekten, derer sie sich nicht erwehren kann, sowie offensichtlich auch durch deren reale Folgen bedroht (Ag. 108-113): quid fluctuaris? clausa iam melior via est (109). Das ihr verbliebene Schamgefühl (fessus quidem et devinctus et pessumdatus | pudor rebellat, Ag. 137f.) kommt gegen die Macht ihrer übrigen Gefühle – timor (133), invidia (134), cupido (135) – nicht an. Auch alle anderen guten Eigenschaften und möglichen Gegenkräfte – mores, ius, decus, pietas, fides – hat sie bereits verloren (Ag. 112f.). Gleichwohl ist sie ihrer Restvernunft ausgesetzt und leidet darunter, unschlüssig und nach wie vor willenlos zwischen den positiven und negativen Kräften ihres Inneren hin- und hergerissen zu sein (Ag. 137-140). 168 Vgl. die stoische Diskussion über die Affekte als vitia SVF III, S. 108-110 (z. B. Hieron. epist. 132 = SVF III, 447, S. 109: Illi enim quae Graeci appellant πάθη, nos perturbationes possumus dicere: aegritudinem videlicet et gaudium, spem et metum: quorum duo praesentia, duo futura sunt, asserunt exstirpari posse de mentibus et nullam fibram radicemque vitiorum in homine omnino residere, meditatione et assidua exercitatione virtutum), die zwar die Externalität der Affekte impliziert, aber zugleich ausschließt, daß diese – im Sinne einer göttlichen Macht und gegen jeden Willen des Menschen – die Oberhand gewinnen müssen. Vgl. hierzu auch Sen. epist. 116, 1: nostri illos [sc. affectus] expellunt (= SVF III, 443, S. 108). 169 Zur Gewalt des genus vgl. auch Pha. 119-123: quis meas miserae deus | aut quis iuvare Daedalus flammas queat? […] (Kein Gott, kein Dädalus kann Phaedra aus dieser Macht befreien), Pha. 127f.: nulla Minois levi | defuncta amore est (Phaedra über sich selbst), und 232 conubia vitat: genus Amazonium scias (die Nutrix über Hippolytus). Ein ähnlicher Gedanke auch in Pha. 908, wo Theseus den von einer Amazone abstammenden Hippolytus als degener sanguis bezeichnet, s. hierzu Mario Lentano: „Il sangue di Ippolito. Nota a Seneca, Phaedra 903ss.“. In: Dioniso N.S. 6 (2007), S. 126-139. In ihrer Replik auf die Selbstanrede der Phaedra (112-128) und die darin geäußerte Erbschuld, nimmt die Amme den Gedanken in der Anrede an ihre Herrin auf, um ihn ins Positive zu wenden, und stellt die Abkunft von Iupiter heraus, 129: Thesea coniunx, clara progenies Iovis. 170 Die Bedeutung, die in Phaedras Rede der Reflexion zukommt, läßt sich auch in der vergleichenden Gegenüberstellung mit dem zweiten Prologteil des Thyestes und dem Prolog des Hercules Furens noch einmal herausstellen. Im Thyestes inszeniert die Furie
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Ich erkenne das schicksalhafte Unglück meiner armen Mutter: Unsere Liebe hat in den Wäldern zu sündigen gelernt.
Es sollte nun allerdings nicht der Eindruck entstehen, als seien die unter dem Stichwort der Affekttheorie vielfach untersuchten Passagen nunmehr allesamt als Teil einer impliziten Gewalttheorie zu fassen. Im Gegenteil: Die Dramatisierung der Leidenschaften, wie sie etwa in der Medea vollzogen wird – einem Stück also, das als geradezu paradigmatisch für die Affekttheorie zu gelten hat –, stellt gewissermaßen ein Gegenkonzept zur Phaedra dar. Gewalt wird in der Medea von der Protagonistin selbst verübt – und dies nicht nur in dem eben besprochenen Sinne: nämlich als Einsatz von Leidenschaften, oder durch subtile psychische Gewaltausübung, sondern mit der Ermordung der eigenen Kinder auch physisch. Dabei wird sie jedoch nicht aufgrund einer Erbschuld von einer ihr selbst fremden göttlichen Macht ergriffen, derer sie sich nicht erwehren kann. Ihre Leidenschaften sind vielmehr anerkannter Teil ihrer genuinen Identität – auch wenn sie diese letztlich übersteigen – und werden von der Protagonistin in einem mühsamen Prozeß der Rekonstitution und Reaktivierung ihres Selbst bewußt herbeizitiert und gesteigert. Die Leidenschaften bedeuten demnach keine extern herbeigeführte Störung, sondern die Entfaltung eines Potentials, das, da es Teil des Selbst ist, an seiner Entfaltung nicht gehindert werden kann. Von außen kommt dabei lediglich der Anlaß, der den Prozeß der Entfaltung in Gang setzt: Durch seine Hochzeit mit Creusa hat Iason die Ordnung, zu deren Herstellung Medea selbst einst beigetragen hatte und die damit auch ihre eigene Ordnung präsentiert, gestört und verletzt. Wenn sie der verunmöglichten Restitution dieser Ordnung nun durch die umso nachdrücklichere Wiederherstellung des genuinen Selbst begegnen will, um die Verantwortlichen für diese Verletzung zu treffen, dann ist das nicht nur als ein Bruch, als die Zerstörung einer Ordnung aufzufassen (nämlich des von Iason mit der Hochzeit begründeten neuen Lebens), sondern dient in erster Linie der Heilung und Wiederherstellung der von Iason gewaltsam zerstörten Lebenswelt. Insofern liegt in der Medea eine völlig andere Konstellation des Verhältnisses von Subjekt und Leidenschaften vor. Medea zweifelt nicht und sie verzweifelt nicht an ihren Affekten; sie macht sie sich vielmehr bewußt zunutze. Die physischen Gewalttaten, mit denen sie ihre Ziele in der Folge durchsetzt,171 machen sie dennoch nicht ausschließlich zu einer Täterin. Denn das Potential, Gewalt auszuüben, ist auch ein Teil von ihr, dem sie – gerade deshalb – auch dann nicht entfliehen kann, als sie die Konsequenzen dieses Entfaltungsprozesses – der bevorstehende Kindermord –
den dramatischen Verlauf, im HF die Göttin Iuno – in beiden Fällen, ohne daß ihr Wirken von den jeweiligen Opfern als Widerspruch zu ihrem „Selbst“ reflektiert werden würde. 171 S. hierzu unten, S. 96 (zum Überleben als Strafe), und Kap. 5, S. 219 (zum Kindermord).
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kurzzeitig ins Schwanken bringen (Med. 926-944). Ähnlich wie Phaedra, bei der das gewalttätige Eingreifen eines Gottes in der Fluchtlinie des eigenen Selbst steht (hier: der durch die Erbschuld begründete Hang zur unnatürlichen Liebe), ist Medea, indem sie ihr Ich erst durch die Gewalttaten zur Entfaltung bringen kann, auch ein Opfer ihrer selbst (Med. 910):172 Medea nunc sum; crevit ingenium malis[.]
Medea bin ich jetzt; was mich ausmacht, ist gewachsen durch die schlimmen Taten.
2.3.2.2 Göttliches Wirken – Hercules Furens Ein Verfahren, das die göttliche Initiierung von Gewalt als einen Kontrollverlust und auf diese Weise als eine Form der psychischen Gewalt herausstellt, exemplifiziert die Prologszene des Hercules Furens (HF 1-124). Mehr als Phaedra, für die das Wirken des Eros immerhin mit einem Differenzerleben verbunden ist, ist Hercules dem göttlichen Wirken völlig ausgeliefert. Hercules wird nicht nur von der Göttin Iuno mit Wahnsinn infiziert – ein Zustand, der ihn zugleich der Möglichkeit beraubt, diesen Wahnsinn als einen solchen zu reflektieren. (Erst nach der Tat wird Hercules in einem langsamen Prozeß der Selbsterkenntnis die Differenz zwischen seinem verstandesmäßigen Wollen und seinem dem Wahnsinn geschuldeten Handeln erkennen können). Er soll auch noch in einem weiteren Sinne zu einem Opfer werden. Denn Iuno,173 die den von ihr zutiefst gehaßten unehelichen Sohn des Zeus zu Fall bringen will, sorgt dafür, daß er im Wahnsinn selbst zu einem Täter wird. Dabei treibt sie Hercules nicht nur als eine passive, als wahnsinnig agierende Figur zur Tat, sondern indem sie dessen unbesiegbaren Kräfte gegen ihn selbst lenkt. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist Iunos Verzweiflung darüber, daß sich Hercules als unbesiegbar zeigt: Alle Gegner, die ihn bislang hatten zerstören sollen, hat Hercules in die Knie gezwungen. Selbst Eurystheus ist ermattet, weil ihm keine angemessenen Aufgaben mehr einfallen (imperando fessus, 78). Der einzige Gegner, der es mit Hercules aufnehmen kann – ist Hercules selbst (quaeris Alcidae parem? | nemo est nisi ipse: bella iam secum gerat, HF 84bf.). Die ihr verhaßte göttliche Abstammung des Helden (ein Zeugnis der Untreue ihres Gatten Zeus) und die damit verbundene Stärke des Hercules erweist sich nun als ebenso ärgerlich wie nützlich. Der Auslöser des Zorns, die göttlich bedingte virtus, läßt sich, so die Strategie, als Instrument einsetzen. Hercules soll seine virtus gegen sich selbst richten und
172
Vgl. hierzu Bernd Seidensticker: „Plura non habui. Senecas Medea und der Comparativus Senecanus“. In: Phasis 10, 1 (2007), S. 150-162. 173 Zum Auftritt der Iuno vgl. Susanna E. Fischer: Seneca als Theologe. Studien zum Verhältnis von Philosophie und Tragödiendichtung. Berlin/ New York 2008 (= Beitrage zur Altertumskunde, Bd. 259), S. 57-91.
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sich in der Entfaltung seiner Möglichkeiten selbst zerstören. Er soll, mit anderen Worten, zum Täter und zum Opfer seiner selbst werden (HF 113-118): inveni diem, invisa quo nos Herculis virtus iuvet. me vicit et se vincat et cupiat mori ab inferis reversus. hic prosit mihi Iove esse genitum.
Den Tag habe ich gefunden, an dem mir die verhaßte Tapferkeit des Hercules gefällt. Mich hat er besiegt; er soll auch sich besiegen und sich wünschen zu sterben, wenn er aus der Unterwelt zurück ist. Jetzt soll es mir nützen, daß er von Iupiter abstammt.
Die Gewalt, mit der die Göttin Iuno auf ihr Opfer einwirkt, setzt sie nicht nur durch den von ihr gegebenen Anstoß ins Werk, sondern in erster Linie durch die Anstiftung zur Selbstzerstörung und die damit verbundene Ineinssetzung von Täter und Opfer. Daß nicht nur in der Figur des Hercules, sondern auch mit Blick auf das Verhältnis zwischen Hercules und Iuno Opfer und Täter nicht mehr zu trennen sind, zeigt die Angstvision, die Iuno ihrem Plan vorausschickt. So wie Hercules ein Opfer wird, indem er Täter wird, kann Iuno ihre Täterschaft nur realisieren, indem sie zugleich den Status eines Opfers in Kauf nimmt: Die Befürchtung, Hercules könne die Befehle der Iuno dazu nutzen, um an den Aufgaben zu wachsen und seinen eigenen Ruhm zu mehren (in laudes suas | mea vertit odia, HF 34f.), ist ebenso Teil dieser Vision wie die bange Gewißheit, daß ihr selbst (wie schon Eurystheus) die Kraft und die Mittel ausgehen könnten, derer es bedürfte, um das angestrebte Machtverhältnis auf Dauer aufrechtzuerhalten (HF 40b-42): monstra iam desunt mihi minorque labor est Herculi iussa exequi, quam mihi iubere
Die Monster gehen mir schon aus, und eine geringere Mühe ist es für Hercules, die Befehle auszuführen, als für mich, sie zu erteilen.
Die befürchtete Entgrenzung zwischen Opfer und Täter beruht dabei im Wesentlichen auf der Erfahrung, daß durch die Entfaltung der herculeischen Kräfte die Grenzen zwischen menschlicher und göttlicher Welt bereits durchbrochen wurden (effregit ecce limen inferni Iovis | et opima victi regis ad superos refert, HF 47f.),174 daß die Götterwelt in Angst und Schrecken versetzt
174
Die drohende Entgrenzung der durch die Götter und die natürliche Ordnung gesetzten Bereiche durch Hercules kann auch Megara in ihrer Apostrophe an den vermißten Gatten bestätigen (HF 279-308, bes. 279-293). Hier weist das Vokabular in allen Facetten auf die Sprengung und Zerstörung der Grenzen hin: orbe diducto (281), dirutis […] iugis (283).
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wurde (me quoque invasit tremor [...] timui imperasse, HF 61b; 63) und Hercules nun über Iuno triumphiert (HF 58f.; 64f.; 68-70): de me triumphat et superbifica manu atrum per urbes ducit Argolicas canem. [...] caelo timendum est, regna ne summa occupet. qui vicit ima [...] robore experto tumet, et posse caelum viribus vinci suis didicit ferendo[.]
Er triumphiert über mich und führt mit stolzer Hand den schwarzen Hund durch die Städte. [...] Der Himmel muß fürchten, daß, wer das unterirdische Reich besiegt hat, auch das himmlische in Besitz nimmt. [...] Von der Probe seiner Stärke ist er aufgedunsen und hat er gelernt, daß er den Himmel mit seinen eigenen Kräften besiegen kann.
Iuno sorgt sich um ihre Machtposition, und sie bringt dies in einem ebenso grotesken wie eindringlichen Bild einer Kraftprobe zum Ausdruck: Hercules trägt nicht nur Himmel und Erde mühelos auf seinen Schultern, sondern stemmt sich auch gegen die ihn aus der Herrscherposition heraus hinabdrückende Iuno (HF 73f.): immota cervix sidera et caelum tulit et me prementem: quaerit ad superos viam
Unbewegt trug sein Nacken die Gestirne und den Himmel – und mich, obwohl ich ihn hinabdrücke: Er sucht sich seinen Weg nach oben zu den Göttern.
Daß es sich keineswegs um den Zweikampf zweier bewußt agierender Subjekte handelt, zeigt noch ein weiterer Aspekt: So wie Hercules durch Wahnsinn infiziert werden muß, damit er nach dem Willen der Iuno sich selbst zerstört, so muß sich Iuno selbst mit Wahnsinn infizieren, um diesen Prozeß in die Wege zu leiten. Der Infektion des Helden soll also die eigene Infektion vorangehen (HF 107-112a): ut possit animum captus Alcides agi, magno furore percitus, nobis prius insaniendum est: Iuno, cur nondum furis? me, me, sorores, mente deiectam mea versate primam, facere si quicquam apparo dignum noverca.
Damit der Alkide im Sinn gefesselt und getrieben werden kann, erregt von großem Wahn, muß erst einmal ich selber rasen. Iuno, warum rast du noch nicht? Mich, ihr Schwestern, mich bringt um meine Vernunft und verstört als erste, wenn ich mich dazu anschicke, etwas zu tun, was einer Stiefmutter würdig ist.
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Die Furien (sorores, HF 110) und die aus der Unterwelt herbeizitierten Discordia, Scelus, Impietas, Error, Furor, die Iuno kurz zuvor in einer Evokation zu ihren Helferinnen und Helfern (hoc, hoc ministro, 100) bestellt hatte (90-106, bes. 92-98), dienen dazu, den von Iuno initiierten Prozeß der Infektion in Gang zu setzen, in dessen Folge Hercules seine eigene Familie töten wird.175
2.3.2.3 Gewalt durch Infektion – Thyestes Die Vorstellung der Infektion, wie sie im Hercules Furens mit der Selbstaneignung des zu vermittelnden Zustandes in Erscheinung tritt und insofern auch in poetologischer Hinsicht nicht ganz unbedeutend ist,176 findet sich in einer besonders prominenten Weise im zweiten Prologteil des Thyestes, wo (ähnlich wie mit Thyest im Agamemno) mit Tantalus ein Schatten aus der Unterwelt die Bühne betritt. Auch hier ist sie mit der Entgrenzung der Täter- und Opfer-Rolle verbunden, wenn auch in einem noch komplexeren Sinne. Denn hier ist es nicht der Anstifter selbst, sondern die Furie, die den Verlauf des Dramas ganz gegen den Willen des zum Anstifter gezwungenen Tantalus177 in Szene setzt und gewissermaßen – selbst nur eine Figur des Stücks – zur Poetin eines ʻMarionettentheatersʼ avanciert. Indem sie den für den Atreus-Thyest-Konflikt letztlich ursächlichen Tantalus als Drahtzieher eines ihm fremden Plans funktionalisiert,178 nimmt sie eine ähnliche Rolle ein wie im Hercules Furens – mit dem Unterschied, daß sie von niemandem dazu gerufen worden ist, sondern gegen jedermanns Willen ihre Macht ausübt. Tantalus, der als Initiator einer Erbschuld vordergründig zu den Tätern zählen müßte, erhält somit ähnlich wie Hercules einen Doppelstatus: Er ist Täter und Opfer. Zum einen erfolgt die
175
S. dazu unten, Kap. 5, S. 232. S. hierzu die Bemerkungen in Kap. 3, S. 141ff., zur Theorie der phantasía. 177 Vgl. Thy. 68-83 und 85b-95 (Me pati poenas decet, | non esse poenam […] stabo et acerbo scelus). 178 Völlig anders gewichtet ist die wenn auch strukturell ähnlich gedachte Konstellation im Agamemnon, wo der Schatten des Thyest im Prolog auftritt. Auch Thyestes ist nicht freiwillig vor Ort (adsum [...] emissus, Ag. 2). Er empfindet Furcht und Abscheu vor dem Haus der Pelopiden (En horret animus et pavor membra excutit, 5), möchte in die Unterwelt zurückkehren (Libet reverti, 12; vgl. auch: incertus utras oderim sedes magis, 3), und ist trotz seines Ekels vor der Betrachtung der zukünftigen Verbrechen (vgl. die ihn überwältigende Vision am Ende des Prologs, 44-56), offensichtlich selbständig und mit dem Plan der Zerstörung an die Oberwelt gekommen (fugio Thyestes inferos, superos fugo, Ag. 4). Vgl. hierzu Fischer: Seneca als Theologe [wie Anm. 173], S. 227-243; ferner Jo Ann Shelton: „The dramatization of inner experience. The opening scene of Seneca's Agamemnon“. In: Ramus 6 (1977), S. 33-43. 176
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Reaktivierung der Täterschaft nicht aus eigenem Entschluß, sondern unter dem Zwang der Furie, die ihm ganz offensichtlich heftig droht (Thy. 96-100): [Tantalus] Quid ora terres verbere et tortos ferox minaris angues? quid famem infixam intimis agitas medullis? flagrat incensum siti cor et perustis flamma visceribus micat. sequor.
[Tantalus] Was erschreckt du meine Augen mit der Peitsche und drohst wild gewundene Schlangen an? Was stachelst du den Hunger an, der mir im tiefsten Inneren sitzt? Es lodert von Durst entbrannt mein Herz, und in den versengten Eingeweiden züngelt die Flamme. Ich folge!
Zum anderen muß Tantalus die Täterschaft weitergeben und auf andere übertragen; denn zum Täter wird er erst dadurch werden, daß sich sein Wirken in anderen Figuren des Stücks manifestiert (Thy. 101-104): Hunc, hunc furorem divide in totam domum. sic, sic ferantur et suum infensi invicem sitiant cruorem. – sentit introitus tuos domus et nefando tota contactu horruit.
Diesen Furor hier, den verteile im ganzen Haus! So, genau so sollen sie sich hinreißen lassen und wechselseitig einander feind nach Blut dürsten. – Es fühle das Haus dein Kommen; es erschaudere durch und durch durch deine gottlose Berührung.
Thyestes soll, gewissermaßen in einer Spiegelung und Steigerung seiner eigenen Strafe, bei seinen Nachfahren Durst erzeugen: einen Durst nach Mord.179 Insofern ist sein Tun auch symbolisch als eine prolongierte Spielart seiner eigenen Strafe ausgewiesen. In der Eingangsszenerie des Thyestes fließen damit drei der bereits genannten Aspekte von Gewalt zusammen: die in der Furie personalisierte, nicht-menschliche Gewalt, die mit der Auflösung der TäterOpfer-Differenz verbundene psychische Gewalt sowie die in der Erzwingung einer Gewalttat situierte Verantwortung für die in der Folge ausgeübte physische Gewalt.
179
Zur Spiegelstrafe vgl. auch unten, S. 94 (Phaedra in der Phaedra, Iocasta im Oedipus), 96 (Iason in der Medea) und 107 (Hercules im Hercules Furens) sowie Anm. 499 (Theseus in der Phaedra).
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2.3.2.4 Strukturbedingte Gewalt Eine weitere Gruppe der nicht von Menschen verursachten Gewaltformen beruht auf Phänomenen, die sich als „strukturelle“ – oder, um diesen vorbelasteten Begriff zu meiden – als strukturbedingte Gewalt fassen lassen. Die vielleicht wichtigste Rolle von den in Kapitel 1 genannten Formen dieser Art spielt in den Tragödien die Diskussion über die Frage, inwieweit ein physisches Überleben über die Integrität nichtmaterieller Werte zu stellen sei. Eine Situation, die es notwendig macht, sich zwischen dem an und für sich erstrebenswerten Erhalt der physischen Integrität und der Wahrung von sozialen, religiösen oder kulturellen Interessen und Werte entscheiden zu müssen, ist an sich schon konfliktträchtig. Sie entwickelt sich dann jedoch zu einem besonders komplexen Konflikt, wenn in der Konstellation des Geschehens die physische Integrität eines Opfers von diesem selbst überhaupt nicht angestrebt, sondern im Gegenteil das Opfer überhaupt nur deshalb Opfer wird, weil es an seinem Wunsch, sich selbst zu vernichten aufgrund einer höheren Notwendigkeit gehindert wird. Ausführlich exponiert wird diese Konstellation in den Phoenissae (12-26; 7779; 93-105; 151-153; 154-165; 188-192), in denen Oedipus mit seiner Tochter Antigona darüber verhandelt, sterben zu dürfen, diese jedoch auf eine kulturell bedingte Notwendigkeit des Überlebens hinweist und ihren Vater dadurch unter Druck setzt. Und auch im Oedipus sowie im Hercules Furens und in der Phaedra180 ist die Notwendigkeit, gegen den eigenen Willen am Leben bleiben zu müssen, um einer strukturell in der Kultur oder Religion liegenden Vorgabe Genüge leisten zu können, ein wichtiger Gegenstand der Diskussionen.181 In den genannten Szenen, auf die ich später noch genauer eingehen werde, geht das Gewaltmoment überwiegend von Kräften aus, die im Kulturell-Sozialen angesiedelt sind – sei es der Verantwortung gegenüber dem eigenen Volk, der Familie oder auch der eigenen Ehre. Strukturbedingte Gewalt kann aber auch im religiösen Bereich angesiedelt sein. Ich will das anhand einer Szene aus den Troades zeigen, in denen es unter anderem darum geht, daß die trojanische Königstochter Polyxena dem griechischen Helden Achill geopfert werden muß, damit die griechische Flotte die Heimkehr antreten kann. Im ersten Botenbericht des Stücks schildert Talthybius in einer Rede (164-202), die er an den Chor der trojanischen Frauen richtet, die Hintergründe dieses Opfers. Dabei wird deutlich, daß das Gewaltmoment von einer religiös bedingten Forderung ausgeht: Achill, dem nach seinem Tod ein Grabmal errichtet worden ist, taucht als Schatten an
180
In der Phaedra sieht es Hippolytus als eine Strafe an, unter den gegebenen Bedingungen, d.h. angesichts der Tatsache, von seiner eigenen Stiefmutter begehrt zu werden, weiterleben zu müssen, und fragt sich, warum gerade er es verdient habe, „Stoff für ein so großes Verbrechen“ zu werden (scelerique tanto visus ego solus tibi | materia facilis? hoc meus meruit rigor?, Pha. 685f.). 181 S. unten, S. 95ff.
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die Oberwelt, um die Hochzeit mit Polyxena zu fordern (emicuit ingens umbra Thessalici ducis, Tro. 181). Die schauervolle Szenerie, die der Öffnung der Unterwelt vorausgeht, die bedeutungsvolle Unruhe, die sich in Vorausahnung des Ungewöhnlichen in der Natur, den Wäldern, der Erde, dem Meer bemerkbar macht, sind dabei nur die Vorboten des eigentlichen Gewaltaktes, nämlich der Tatsache, daß es unmöglich ist, Polyxena nicht zu opfern, wenn denn der Wunsch der Griechen, endlich abzureisen, vor allem aber die Pflicht, den großen Achill für seine Leistungen auch als Heros zu ehren, erfüllt werden soll. Der trügerische Zusammenhang von Tod und Hochzeit, wie ihn der Mythos von Polyxena, ganz ähnlich wie der Iphigenie-Mythos,182 aufgreift, hätte von Seneca ebenso wie der Vollzug der Tötung der Polyxena ins Zentrum einer Gewaltdarstellung gesetzt werden können, und in der Tat werden ja auch beide Sequenzen dazu genutzt, um Formen der Gewalt – wenn auch gerade nicht der physischen – zur Sprache zu bringen: Der Zusammenhang von Tod und Hochzeit wird im Zusammenhang mit der Trugrede Helenas thematisiert, die sich als eine Form der psychischen Gewalt deuten läßt;183 die Tötung der Polyxena, wie sie im zweiten Botenbericht zum Thema wird, nutzt Seneca für eine Veranschaulichung der Gewalt, wie sie durch die Zuschauer im Akt der Betrachtung einer gewalttätigen Handlung auf deren Opfer ausgeübt.184 Dem eigentlichen Tötungsakt wird die Grausamkeit dagegen genommen, indem sich Polyxena, als sie die Gründe für die vermeintliche Hochzeit erfährt, freiwillig dafür entscheidet, sich zu opfern. Die Szenen, in denen das Opfer durch Helenas Agieren vorbereitet und – wie der Bote berichten wird – vollzogen wird, stehen zudem nicht im Zentrum der Tragödie. Stattdessen rückt Seneca mit dem großangelegten und in Anwesenheit des Calchas geführten Wechselgespräch zwischen Achills Sohn Pyrrhus und dem Heeresführer Agamemnon (203-370) die Frage der Angemessenheit von Achills Forderung, namentlich die Abwägung zwischen dem Recht auf Ehrung (Achill) einerseits und dem Recht auf physische Integrität (Polyxena) andererseits, in den Mittelpunkt der Diskussionen.185
2.4
Formen der Sichtbarkeit
Gewalt kann sehr offensiv ausgestellt werden. So bezeugt Medea im Eingangsmonolog der gleichnamigen Tragödie (Med. 1-55) das Potential ihrer Kräfte
182
Zum Verhältnis der beiden Situationen siehe Francesco Corsaro: „Il mito di Ifigenia e il coro delle Troades di Seneca“. In: Giornale Italiano die Filologia 13 (1982), S. 145166. Die beiden mythischen Situationen werden in den Troades von der Figur des Pyrrhus auch ganz explizit „gegengelesen“, vgl. Tro. 248f. (s. unten, Anm. 189). 183 S. dazu oben, S. 57; Anm. 163; und unten, Kap. 5, S. 268. 184 S. dazu unten, Kap. 4 S. 191ff. 185 S. unten, S. 89.
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durch die im Gebet herbeizitierten Gottheiten, die sie während ihres bisherigen Lebens begleitet haben und die ihr nunmehr bei der Durchführung der Rache beistehen sollen. Indem sie die Bezüge benennt, die die einzelnen Gottheiten zu ihren verschiedenen Lebensabschnitten oder Identitäten haben – als Ehefrau ruft sie Iuno, als Gefährtin der Argonauten Poseidon, als Nachkommin und Familienmitglied Titan, als Zauberin Hekate an –, wird auch die Vervielfältigung ihrer eigenen Kräfte deutlich, die Potenzierung der geplanten Gewalt, die sie mit Unterstützung dieser Götter gegen Iason leisten will. Auch in der Phaedra wird Macht und drohende Gewalt in der Potenzierung dargestellt. Dort ist es die Macht der Diana, die für die Lebensform des asketischen Jägers Hippolytus einzustehen hat und von diesem in der Eingangsarie besungen wird. Die imaginative Erweiterung von Raum und Zeit, über deren Grenzen hinweg die Göttin zu wirken versteht,186 ist hier allerdings (ganz anders als in der Medea) von der Sprecherfigur nicht als die Androhung eines konkreten Gewaltaktes angelegt – Hippolytus kann von dem Konflikt, in den ihn Phaedra stürzen wird, ja noch nichts wissen, ebensowenig wie er die konfliktuöse Bedeutung der Diana zu diesem Zeitpunkt einzuschätzen weiß. Doch vermag die Szene, indem sie die Potenzierung einer von Hippolytus verehrten göttlichen Macht betreibt, schon zu Beginn des Dramas eine Ahnung davon zu geben, wie stark die Widerstände sind, denen sich Phaedras Liebe zu dem Schützling einer so machtvollen Göttin auszusetzen hat. Während in den beiden genannten Szenen das Potential ausgestellt wird, aus dem heraus sich Gewaltakte ohne weiteres entfalten können, kann Gewalt aber auch umgekehrt gerade durch ihren Verzicht markiert werden. Gewalt muß nicht zwingend sichtbar sein, um als Gewalt wahrgenommen zu werden bzw. als eine solche zu gelten. Die Frage, inwieweit sich die Ausübung von Gewalt überhaupt durch eine sichtbare Handlung manifestieren muß, nehmen die Troades in dem bereits erwähnten Streitgespräch187 zwischen Pyrrhus und Agamemnon in den Blick. Auch hier geht es wieder, wie in der eben bereits besprochenen Szene188 um das Opfer der Polyxena – allerdings nicht um die Bedingungen, unter denen es gefordert wurde, sondern um die Frage der Berechtigung, und zwar aus der Perspektive der Griechen, Agamemnons, des Heerführers aus Mycene, und Pyrrhusʼ, des Sohnes des Achill. Ausgangspunkt ist die Frage, ob es angemessen
186
Vgl. hierzu die Ausführungen von Ernst A. Schmidt: „Zeit und Raum in Senecas Tragödien“. In: Sénèque le tragique: huit exposés suivis de discussions. Hrsg. von WolfLüder Liebermann. Entretiens préparés et présidés par Margerethe Billerbeck et Ernst A. Schmidt. Avec la participation de Claudia Wick. Index red. par Claudia Wick. Genf 2003 (= Fondation Hardt pour Entretiens sur l’antiquité classique, Bd. 50), S. 321-368 (357-368 = Diskussion); ders.: „Der dramatische Raum der Tragödien Senecas“. In: Wiener Studien 114 (2001), S. 341-360. 187 S. oben, S. 57. 188 S. oben, S. 87.
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ist, der Forderung des verstorbenen Achill zu folgen und ihm Polyxena zu opfern.189 In diesem Zusammenhang diskutieren die beiden Figuren, welche Macht dem Mächtigen zukommt bzw., im konkreten Kontext, ob es dem Stärkeren, hier: den Befehlshabern der griechischen Flotte, zusteht, angesichts der Tatsache, daß die lex in dieser Frage keine Anweisungen gibt, selbständig zu handeln. Während Pyrrhus, dem als Sohn des Achill die Ehrung seines Vaters sehr am Herzen liegt, die Position vertritt, daß das Potential des Handlungsspielraums nach allen Möglichkeiten hin auszuschöpfen ist, daß dem Herrschenden also erlaubt ist, was immer möglich ist (Lex nulla capto parcit aut poenam impedit, Tro. 333; Quodcumque libuit facere victori licet, 335), infolge dessen auch ein Menschenopfer, wenn es nur der Ehrung seines Vaters dient, beharrt Agamemnon, dem noch nicht klar ist, welche Tragweite die Forderung auch für ihn selbst hat,190 auf dem Standpunkt, daß gerade der Besitz von Macht den Verzicht auf eine mögliche Gewaltausübung miteinschließt: Dort wo die lex versagt, so lautet seine Argumentation, wo sie nicht explizit etwas verbietet, sind nicht der Handlungsspielraum oder bloße Willkür, sondern der pudor handlungsweisendes Regulativ (Quod non vetat lex, hoc vetat fieri pudor, Tro. 334).191 Die
189
Pyrrhus verweist auf das Iphigenie-Opfer: Agamemnon habe seine Tochter für eine Helena hingeschlachtet; da sei es doch gerechtfertigt, dem größten und verdienstvollsten der griechischen Kämpfer eine Polyxena zu opfern (placita nunc subito probas | Priamique natam Pelei gnato ferum | mactare credis? at tuam gnatam parens | Helenae immolasti: solita iam et facta expeto, Tro. 246b-249). Agamemnon (250-291) gibt sich daraufhin als der stoische Weise, der eingesehen hat, daß grausame Herrschaft nicht von Dauer ist (violenta nemo imperia continuit diu, | moderata durant, 258f.) und Glück und Macht schnell wieder vorbei sein können (259-275, bes.: magna momento obrui | vincendo didici, 263b-264a). Nun solle weiteres Unheil vermieden, Troia, so gut es geht, geschont und Polyxena auf keinen Fall geopfert werden (276-291). Statt den Schatten Achills durch Menschenmord zu beflecken (Quid caede dira nobiles clari ducis | aspergis umbras?, 255-256a), solle man ein Opfertier hingeben (fluatque nulli flebilis matri cruor, 297), da es gegen die menschlichen Sitten (quis iste mos est? quando in inferias homo est | impensus hominis? 298-299a) und gegen den pudor (Quod non vetat lex, hoc vetat fieri pudor, 334) verstoße, wenn ein Mensch einem anderen Menschen als Totenopfer dargebracht werde. Achill dagegen werde durch Ruhm und Preislieder genug geehrt (Ferent, et illum laudibus cuncti canent | magnumque terrae nomen ignotae audient, Tro. 293f.). 190 Daß die bislang verhinderte Heimkehr der Griechen an die Opferung der Polyxena geknüpft ist, wird erst klar, als Calchas später hinzugerufen wird. 191 An anderer Stelle in den Troades findet sich ein ähnliches Argument. Auf das Beispiel des Hercules, des früheren Eroberers von Troia, verweisend, appelliert Andromacha dort an die Macht des Siegers, gegenüber dem Besiegten Milde walten zu lassen (Tro. 718735). Mit ihrer Bitte, auf den Mord an Astyanax zu verzichten und stattdessen Gnade walten zu lassen, fordert Andromacha Ulixes dazu auf, seine Größe als Sieger dadurch zu bekräftigen und zu bestärken, daß er eine Macht ausübt, die ihm allein zusteht: die der Milde (Discite mites Herculis iras, Tro. 730).
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Berufung auf den pudor, die auf den ersten Blick die Supplementierung einer durch Freiräume und Unbestimmtheiten defizitären lex insinuiert, impliziert in ihrem Gestus jedoch zugleich den Anspruch auf die Souveränität des Individuums. Indem er den eigenen Willen (Achill die geforderte Opferung zu verweigern) durch seinen pudor autorisiert, bringt Agamemnon nicht nur eine sich in eben diesem pudor manifestierende ʻhöhere Ordnungʼ, sondern auch sich selbst als eigenständiges, willensbegabtes Subjekt ins Spiel. Die Überantwortung der Entscheidungsbefugnis an das eigene Selbst, das sich, wenn auch unter Berufung auf ein ungeschriebenes Gesetz192 über eine anerkannte lex stellt, vermittelt Souveränität und Superiorität. Der Gewaltverzicht, den Agamemnon mehrfach reklamiert (Tro. 336) – Minimum decet libere cui multum licet.
Nach Belieben zu handeln gehört sich am allerwenigsten für den, dem viel erlaubt ist.
– ist damit nicht nur Ausdruck eines in allen Facetten stoischen Herrscherideals (vgl. Tro. 256-281), ja er steht nicht einmal ausschließlich im Zeichen einer Strategie der Machterhaltung (Tro. 258f.): violenta nemo imperia continuit diu, moderata durant[.]
Grausame Herschaft hält niemand lange bei; moderate hat Bestand.
In der Geste des Verzichts demonstriert Agamemnon vielmehr Gewalt durch deren explizite Negation. Erst durch die Verweigerung des Gewaltakts, mithin die Ausstellung der eigenen Macht, wird die Position des cui multum licet (Tro. 336) im eigentlichen Sinne hergestellt. Insofern ist die projektierte Schonung der Polyxena nicht lediglich als Ausfluß, sondern auch als Konstituierung bzw. Stabilisierung eben jener Macht zu verstehen, die Agamemnon als Bedingung eines solchen Handelns ausweist. Gleichwohl bleibt die Position, die Agamemnon im Gespräch mit dem Achilles-Sohn vertritt, für den eigentlichen dramatischen Verlauf (d.h. die Tatsache der Opferung) bedeutungslos. Agamemnon zeigt sich zwar lange völlig unbeeindruckt von den Argumenten seines Gegenspielers Pyrrhus und hält an seiner Überzeugung fest, daß es nicht rechtens sei, Polyxena zu opfern. Ja, er verteidigt und verfestigt seinen Standpunkt noch durch den verletzenden Spott gegen Achill und die Desavouierung von dessen kriegerischen Leistungen (339347). In einer erstaunlichen Wendung räumt er jedoch ein, sich göttlichem Recht beugen zu wollen (Tro. 349-352):
192
Daß sich Agamemnon auf den Bereich der ungeschriebenen Gesetze bezieht, zeigt auch seine Bemerkung Tro. 332, wo er anders als Pyrrhus, der sich auf die Verbindlichkeiten bzw. Lücken der lex bezieht, von decet spricht.
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Compescere equidem verba et audacem malo poteram domare; sed meus captis quoque scit parcere ensis. potius interpres deum Calchas vocetur: fata si poscent, dabo
In die Schranken weisen könnte ich deine Worte und dich Frechen durch [sc. die Zufügung von] Leid zähmen; aber mein Schwert weiß auch Gefangene zu schonen. Lieber soll der Deuter der Götter Kalchas herbeigerufen werden. Wenn es die Schicksalssprüche fordern, werde ich sie [sc. Polyxena] preisgeben.
Der vermeintlich unbegründete Sinneswandel hat dabei System: Denn es geht in diesem Streitgespräch nicht um eine sorgfältige Abwägung von menschlichem und göttlichem Recht, an deren Ende Agamemnon schließlich zu der Überzeugung fände, daß die göttlichen fata über alle anderen Interessen zu stellen seien.193 Stattdessen wird das göttliche Recht ins Spiel gebracht, um die vorangegangene Diskursebene, in der sich die Gesprächspartner an den menschlichen Leistungen und Rechten des Achill abarbeiteten, schlagartig und kommentarlos zu verlassen. So wie der Körper des Pyrrhus trotz dessen Frechheit (audacem, Tro. 349f.) von einem physischen Angriff Agamemnons verschont bleibt – die erwogene Zähmung durch das Schwert versagt sich Agamemnon (Tro. 350b351a) –, so bleiben auch Pyrrhus’ Argumentationen, auf die sich Agamemnon ja gewissermaßen nur im Spiel einläßt, von den wirklich einschneidenden Gedanken Agamemnons ʻverschontʼ. Daß er seinem Gegner sowohl leibliche wie auch gedankliche Unversehrtheit garantiert (weder das Schwert noch das eigentliche Argument: die Bedeutung der fata, werden dazu genutzt, um in die physische oder gedankliche Ordnung des Pyrrhus einzudringen), steht dabei in einer Fluchtlinie mit der im Vorfeld praktizierten Strategie, die eigene Machtposition zu festigen. Ebenso wie die Praxis der Gnade gegenüber dem Körper, fungiert auch die Gleichgültigkeit gegenüber der Gedankenwelt als ein Mittel, um den Gegner als einen Unterlegenen zu markieren.194 Daß Calchas (Tro. 360-370), der die Weisung der Götter sowie den Nexus zwischen der Verzögerung der Abfahrt und der Forderung Achills erläutert, Agamemnon binnen zweier Verse von der Notwendigkeit der Opferung zu über-
193
Zur Bedeutung des fatum an dieser Stelle vgl. Fischer: Seneca als Theologe [wie Anm. 173], S. 213-219. 194 Ein ähnliches Verfahren, nämlich Gewalt durch Ausgrenzung und Gleichgültigkeit, finden wir im Dialog zwischen Creo und Medea (Med. 179-300), in dem Creo Medeas Argumente unbeirrt ignoriert und auch explizit wiederholt betont, daß Medea aufgrund ihrer Veranlagung und ihrer bisherigen Taten eine Ausgestoßene ist. Die Ausgrenzung drückt sich nicht nur im Vokabular aus – noxium genus (179), pessimam luem (183), ferox, minax (186f.) –, sondern auch in der Tatsache, daß Creo von Medea, obwohl sie neben ihm steht, am Anfang ausschließlich in der 3. Person spricht.
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zeugen weiß,195 bedeutet also keineswegs, daß Agamemnon das Sprachgefecht mit Pyrrhus verloren hat. Zwar wird er sich der geplanten Opferung nicht entgegenstellen – was ganz gewiß in Pyrrhus’ Sinne ist. Erreicht haben dies aber gerade nicht die Argumente des Pyrrhus – die bis zum Schluß des Dialogs nur Agamemnons Spott herausgefordert haben, sondern die davon scheinbar völlig unabhängige Entscheidung Agamemnons. Die Gleichgültigkeit, die Agamemnons Verhalten auszeichnet, ist demnach eine Form der Gewalt, die ihre Kraft und Wirkung gerade nicht aus der Auseinandersetzung, sondern aus der Absage an ein sichtbares Gewaltverfahren schöpft. Daß der Wortwechsel, wiewohl in Heftigkeit wie auch Frequenz der Redenden bis hin zum stichomythisch angelegten Schlagabtausch zum Äußersten gesteigert, auf seiner argumentativen Ebene letztlich ins Leere greift und doch die Zielgerade, wie sie von Pyrrhus angestrebt wird, nicht verfehlt, daß Pyrrhus also in seiner Wirkung als argumentierender Streitpartner gegen Ende nachgerade unsichtbar wird, ist gewissermaßen die größte Demütigung, die Agamemnon seinem Kontrahenten angedeihen lassen kann. Wiewohl es das Anliegen des Achilles-Sohnes ist, für das Opfer einzutreten, geht letztlich Agamemnon – und nicht Pyrrhus – als Initiator und Schirmherr der Opferung hervor. Insofern werden Gewalt und Willkür in der Szene nicht nur auf einer expliziten Ebene thematisiert, sondern auch durch die Strategie der Diskussionsform praktiziert.196 Was Pyrrhus erfährt, ist keine physische Destruktion; er wird ja im Gegenteil sogar ganz explizit davon verschont. Ausgelöscht aber wird seine Existenz als ein psychisch-intellektuelles Subjekt, wie sie sich im Einsatz einer durchaus persönlich motivierten Argumentation artikuliert hatte.197 Während Polyxena, die sich später aus freien
195
Tro. 360f.: Dant fata Danais quo solent pretio viam: | mactanda virgo est Thessali busto ducis[.] („Die Schicksalsmächte gewähren den Danaern die Abfahrt um den gewohnten Preis: Das junge Mädchen muß dem Grab des thessalischen Führers geopfert werden.“). Der Rest von Agamemnons Rede (361-370) dient nur noch den genaueren Instruktionen, wie der vermeintliche Hochzeitsritus im einzelnen durchzuführen sei (362365), sowie der Ankündigung der für die Abfahrt konstitutiven zweiten Forderung, der Tötung des Astyanax (365-370). 196 Daß die Szene nicht nur die Gewalt gegen Polyxena bzw. die Gewalt, wie sie vom Schatten des Achill ausgeht, im Blickfeld hat und nicht nur die Berechtigung der Forderung in Frage stellt, läßt sich zudem durch die Tatsache stützen, daß sie konzeptionell besehen für den dramatischen Verlauf ohne wesentliche Bedeutung ist. Daß Polyxena geopfert werden muß, ist durch die Rede des Talthybios bzw. die darin referierten Worte des toten Achill (desponsa nostris cineribus Polyxene | Pyrrhi manu mactetur et tumulum riget, Tro. 195f.) auch den Figuren längst als eine unausweichliche, wenn auch von den Göttern (d.h. durch Calchas) noch nicht legitimierte, Forderung bekannt und damit Teil des inneren Kommunikationssystems – anders wäre der Anlaß der Diskussion gar nicht nachvollziehbar. 197 Pyrrhus argumentiert als Sohn Achills, dessen Ehrung ihm folglich besonders wichtig ist. Gegenüber der Nähe, die sein Verhältnis zu der Situation auszeichnet und die Ehrung
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Stücken der Opferung hingeben wird, gerade mit der Vernichtung ihres Körpers ihre kulturelle Integrität herstellen bzw. bekräftigen wird, verliert Pyrrhus, dem selbst der angedrohte Schwerthieb noch verweigert wird, den Status eines für das Geschehen bedeutsamen und handlungsfähigen Subjekts. Die eigentliche Gewalttat Agamemnons ist also nicht die Tatsache, daß schließlich sogar er dazu bereit ist, ein unschuldiges Mädchen, falls das die Götter wollen, hinzuschlachten, sondern das schlußendliche Übergehen der von Pyrrhus vorgebrachten Position, die gedankliche Lücke, an die sich seine scheinbar aus dem Nichts auftauchende Entscheidung anschließt. Indem Agamemnon die Differenzen zwischen den Positionen eben noch in großem Stil markiert hat, um dann aus einer unvermittelten Perspektive die gegnerische Ansicht zu seiner eigenen Sache zu machen, wird Pyrrhus aus dem von Agamemnon geschaffenen Diskursuniversum ex post ausgegliedert und gewissermaßen ausgelöscht.
2.5
Formen der Ausübung: Physische versus kulturelle Gewalt
In der Szene der Troades ging es um die physische Integrität einer Person, die grundsätzlich am Leben bleiben will, aber bedingt durch einen religiösen ʻZwangʼ geopfert werden soll. Polyxena ist zunächst einmal das Opfer einer Destruktionshandlung, ebenso wie es Astyanax ist oder wie es die Kinder der Medea, des Thyestes, des Hercules sind. Anders als diese Kinder, die nichts weiter sind als Instrumente einer durch Menschen oder Götter inszenierten Gewalt, werden die beiden trojanischen Kinder, die Priamos-Tochter Polyxena und Hectors Sohn Astyanax, aus ihrem physischen Tod jedoch Gewinn ziehen. Indem sie ihren Opferstatus aufgeben, um freiwillig für die geforderte Sache ihr Leben zu geben, indem sie also symbolisch den ersten Schritt tun, gewinnen sie Superiorität über das Agieren der Täter: Sie werden nicht dahingeschlachtet, sondern opfern sich selbst. Damit wird der physische Gewaltakt, wie er in beiden Fällen durch einen Botenbericht erzählt wird, auf einer zweiten Ebene zu einer Heldentat. Ähnliches gilt für die Selbstmorde der Phaedra bzw. der Iocasta. Zwar liegt hier kein Opfer im eigentlichen Sinne vor; die beiden Figuren haben jedoch aus verschiedenen Gründen einen Verlust ihrer psychischen Integrität erfahren und können ihre Ehre überhaupt nur dadurch wiederherstellen, daß sie sich physisch vernichten – ein Gedanke, der schließlich durch die Wahl der Todesart unterstrichen wird. Ioacasta, die mit ihrem eigenen Sohn geschlafen hat, erhängt sich nicht (wie bei Sophokles),198 sondern rammt sich im Bewußtsein des
zu einem persönlichen Interesse macht, ist die Position des Agamemnon durch Distanz geprägt. 198 Zum Vergleich zwischen dem Sophokleischen Oedipus Rex und dem Senecanischen Oedipus s. Claudia Wiener: Stoische Doktrin in römischer Belletristik. Das Problem von
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Zusammenhangs von Schuld und Tod, Verbrechen und Strafe, das Schwert, mit dem Laius getötet worden war (rapiatur ensis; hoc iacet ferro meus | coniunx, Oed. 1034-1035a) in den Unterleib (eligere nescis vulnus: hunc, dextra, hunc pete | uterum capacem, qui virum et gnatos tulit, Oed. 1038f.). Reminisziert wird nicht nur der Inzest bzw. die durch den Inzest verunreinigte bzw. gestörte Ordnung, wie sie durch die Zerstörung des Unterleibs wiederhergestellt werden soll, sondern – mit dem Mord an Laius – auch das zweite Verbrechen, durch das Oedipus und damit sie als Mutter199 schuldig geworden war. Auch Phaedra stellt einen expliziten Bezug zu ihrer Tat her und inszeniert ihren Tod als ein „Totenopfer“, das sie ihrem unschuldigen, ja heiligen Geliebten schuldig sei und als Bedingung für die Wiederherstellung ihrer mores, d.h. der psychischen und moralischen Integrität, begreift: iuvenisque castus crimine incesto iacet, | pudicus, insons – recipe iam mores tuos (Pha. 1195). Phaedra tötet sich nicht (wie bei Euripides)200 mit einem Strick, sondern stößt sich in Erinnerung an das für die tödliche Verleumdung des Hippolytus mißbrauchte Instrument (s. dazu unten) das Schwert in die Brust (mucrone pectus impium iusto patet | cruorque sancto solvit inferias viro, Pha. 1197f.).201 In den Selbstmordszenen des Oedipus bzw. der Phaedra gelingt es, durch die Gewalt am eigenen Körper die verlorene kulturelle Integrität wieder herzustellen. Physische Gewalt ist nicht nur ein Akt der Zerstörung, sondern in erster Linie ein Akt der Restitution. Unterstrichen wird dies in der symbolischen Spiegelung von Verbrechen und Strafe. Insofern kann die Verweigerung von physischer Gewalt auch zu einem Problem werden, dann nämlich, wenn eine Person, die sterben will, an ihrem Tod gehindert wird, weil sie aus einer kulturell, religiös oder
Entscheidungsfreiheit und Determinismus in Senecas Tragödien und Lucans Pharsalia. München/ Leipzig 2006, S. 104. 199 Vgl. Iocastas direkte (mater nefanda, Oed. 1031, matri, 1032) und indirekte (über Laius: coniunx – quid illum nomine haud vero vocas?, 1035) Hinweise auf diese Rolle. 200 Vgl. Eur. Hipp. 777: Amme: ἐν ἀγχόναις δέσποινα, Θησέως δάµαρ. Die Todesart wird von der Amme nicht weiter semantisiert, allerdings hat Phaedra selbst bereits die Aufmerksamkeit auf eine mögliche Semantisierung gelenkt, vgl. die letzten Worte, die sie auf der Bühne spricht, als sie von Theseus danach gefragt wird, welch unheilvolles Leid sie vorhabe, und in denen sie Todesart und eigene Entscheidungsbefugnis miteinander verknüpft: Phaedra: θανεῖν· ὅπως δέ, τοῦτ’ ἐγὼ βουλεύσοµαι (Hipp. 723). 201 Vgl. dazu die Selbststrafung, die der aus dem Wahn erwachte Hercules im Hercules Furens anvisiert (s. dazu unten, S. 107f.). Auch hier herrscht die Vorstellung vor, daß die zerstörte Ordnung nicht nur durch den Tod, sondern auch durch eine dem Zerstörungsakt analoge Todesart wiederhergestellt werden müsse. Ähnliches gilt für die Selbstblendung (Oed. 915-979) bzw. für den anvisierten Tod (Pho. 31-33) des Oedipus (s. dazu unten, S. 104). Zur sogenannten Spiegelstrafe vgl. ferner oben, Anm. 179, und unten, S. 228. Als Motiv ist die Vorstellung einer Korrespondenz von Verbrechen und Strafe in einigen Mythen schon durch die Grundstruktur ihrer Erzählung vorhanden, vgl. dazu Mythos Sisyphos. Hrsg. von Bernd Seidensticker/ Antje Wessels. Leipzig 2001, S. 234.
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sozial begründeten Notwendigkeit heraus am Leben bleiben muß.202 Diese paradoxal anmutende Form der Gewaltausübung – das ʻOpferʼ wird durch innere oder äußere Umstände dazu gezwungen, am Leben zu bleiben – begegnet in den Tragödien in vornehmlich zwei verschiedenen Kontexten: 1. Dann, wenn dem wie auch immer begründeten Wunsch zu sterben die Notwendigkeit entgegensteht, das physische Überleben zu sichern, etwa um die kulturelle Integrität zu wahren. In diesem Fall ist es die betroffene Person selbst, die sich die ʻGewaltʼ antun muß, am Leben festzuhalten. 2. Dann, wenn die Aufrechterhaltung des physischen Lebens dazu eingesetzt wird, um einen intendierten Schmerz zu vergrößern. Letzteres ist ein Thema des Prologs, den Medea in der gleichnamigen Tragödie spricht.
2.5.1 Überleben als Strafe – Medea Im Eingangsmonolog der Medea (17-20) reflektiert die Protagonistin über die möglichen Formen der Rache, die sie an Iason üben kann. Iason, der ihre Ehe durch seine Heirat mit Creusa verraten hat, soll in einer Weise büßen, die alles bisherige übertrifft und zugleich eine symmetrische Spiegelung der Verbrechen herstellt, die Medea einst für ihn begangen hat.203 Sagenchronologisch setzt die Medea während der Vorbereitungen für die Hochzeit ein: Erst im Anschluß an den Eingangsmonolog besingt der Chor das jungvermählte Paar, in dem darauf folgenden Akt reagiert Medea, offensichtlich noch ganz überrascht, auf das Erklingen des Hymenaeus: Mit der Hochzeit sieht sie auch das Verschwinden ihrer letzten Hoffnung endgültig besiegelt (Med. 116f.): Occidimus, aures pepulit hymenaeus meas. vix ipsa tantum, vix adhuc credo malum.
202
Wir sind verloren. Meine Ohren traf der Hymenaios. Kaum glaube ich selbst, kaum bis jetzt an ein so großes Unglück.
Fuhrmanns anhand der Phaedra exemplifizierte Bemerkung – „Körperliche Unversehrtheit und Leben sind für die stoische Weltauffassung wie alles, was der Wirklichkeit angehört, nur relative Größen, und so dient der menschliche Leib, seine Destruktion, in den Tragödien Senecas als Greuelthema par excellence – der stoische Held, der Weise, ist wie der christliche Märtyrer über alles Physische erhaben, und eben dies wird durch das grausige Ende Hippolyts dargetan.“ (Manfred Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero. Eine Biographie. Berlin 1997, S. 217) – trifft nur auf einen Teil der Figuren bzw. Konstellationen zu. 203 Vgl. hierzu u.a. die Spiegelung von odium und amor, 397-398a: Medea: Si quaeris odio, misera, quem statuas modum, | imitare amorem, wie sie Medea im Gespräch mit der Amme formuliert – eine Spiegelung, die zugleich mit einer Steigerung verbunden ist: 393f.: Nutrix: non facile secum versat aut medium scelus; | se vincet: irae novimus veteris notas, sowie die nachstehenden Ausführungen zu den Iason zugedachten Strafen.
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Der emotionale Zustand, in dem sich Medea während des Prologs befindet, ist also zunächst nur durch die Verstoßung begründet. Der Zorn, der in ihr anschwillt, gilt zu diesem Zeitpunkt noch nicht primär der Frau, die nun an ihre Stelle treten wird, sondern vorerst der Tatsache, daß Iason seinen Schwur gebrochen und sie, die rechtmäßige Gattin, um die Ehe sowie den Aufwand, der damit verbunden war, betrogen hat. Es sind denn auch nicht nur die Schirmherren der Ehe (di coniugales, 1), die Medea zu Beginn des Prologs um Beistand bei der Racheplanung anfleht, sondern auch und gerade jene Götter, die ihr den Weg für das mit Iason eingegangene Bündnis ermöglicht haben:204 Poseidon (Med. 2-6), der die Fahrt der Argonauten garantiert, sowie Hekate und weitere Gottheiten der Unterwelt. Sie sind es, die dafür sorgen sollen, daß Iason dasselbe widerfährt wie der von ihm verlassenen Medea. Während die Mitglieder der neuen Familie (darunter Creo und Creusa) einfach nur sterben und damit ein vergleichsweise harmloses Ende finden sollen, soll Iason etwas Schlimmeres bevorstehen: Er soll leben (Med. 17a-23a/22b) coniugi letum novae letumque socero et regiae stirpi date. Est peius aliquid? quod precer sponso malum? vivat; per urbes erret ignotas egens exul pavens invisus incerti laris, iam notus hospes limen alienum expetat[.]
Der neuen Gattin gebt den Tod, den Tod auch dem Schwiegervater und der königlichen Brut! Gibt’s etwas Schlimmeres? Was ich dem Bräutigam als Übel wünschen könnte? Er soll leben! Durch unbekannte Städte soll er irren, arm, als Verbannter, ängstlich und verhaßt, mit unsicherem Wohnsitz, und schon bekannt als Fremder soll er eine fremde Schwelle suchen.
Die Gewalt, die Medea an Iason verüben will, besteht also darin, daß er ein Leben führen soll, dem der Tod vorzuziehen wäre. Iason soll dazu gezwungen werden, zu leben und damit am eigenen Leibe genau die Emotionen nachzuerleben, die sein eigenes Verhalten zuvor bei Medeas verursacht hat: Das Spektrum der Emotionen, die Medea Iason angedeihen lassen will, umspielt daher vor allem das für ihre eigene Situation konstitutive Gefühl der Fremdheit – per ignotas urbes, exul, incerti laris, limen alienum. Selbst der Creo und Creusa zugedachte Tod scheint in diesem Szenario überhaupt nur dazu zu dienen, das eigentliche Opfer der Rache aus seiner neuen Heimat herauszureißen und jedes Schutzes zu berauben. Ziel ist die symmetrisch angelegte Wiederholung der bis zur Eheschließung begangenen Verbrechen: quodcumque vidit Phasis aut Pontus nefas, | videbit Isthmos (Med. 44-45a) – diesmal mit dem Zweck der Zerstörung Iasons. Wende-
204
S. oben, S. 89.
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und Höhepunkt, gleichsam die Instrumente der Kehrtwendung, sind die gemeinsam gezeugten Kinder. Mit den Kindern – so der wortspielerische Gedanke – ist auch der Racheplan geboren (Med. 22a/23b-26a): me coniugem opto, quoque non aliud queam peius precari, liberos similes patri similesque matri – parta iam, parta ultio est: peperi.
Ich wünsche mich als Gattin, nichts Schlimmeres vermöchte ich ihm anzuwünschen, Kinder, die dem Vater ähnlich sind, ähnlich der Mutter – geboren, ja, geboren ist ja schon die Rache: Geboren habe ich!
Die Kinder stehen für Iasons im Verbund mit Medea entstandener Identität. Mit dem Mord an ihnen wird auch die Vernichtung dieser Identität ins Körperliche transkribiert. Der Kindermord, der die schmerzhafteste und zugleich die konsequenteste Form ist, die alte Identität wiederherzustellen, muß also für Iason sichtbar vollzogen werden (Med. 992a-993b):205 derat hoc unum mihi, spectator iste.
Dies hier hat mir noch gefehlt: Daß der da zuschaut!
Iason muß demnach aus zwei Gründen am Leben bleiben. Im emotionalen Nachvollzug der von Medea für sein jetziges Leben vollbrachten Opfer soll er ihre Leiden – das Fremdsein, den Verlust der Familie – stellvertretend am eigenen Leib erfahren. Und er soll die Wiederherstellung der früheren Identitäten und den Mord an den gemeinsamen Kindern, der auch einen Mord an seiner neuen Identität bedeutet, sehend begleiten. Insofern ist nicht nur der Kindermord selbst, also die tödliche Verletzung zweier unschuldiger Wesen, als Gewaltakt aufzufassen, sondern auch die Tatsache, daß Iasons physische Integrität gerade nicht zerstört wird.
2.5.2 Überleben als kulturell bedingte Notwendigkeit Die Frage, ob der Erhalt des physischen Lebens grundsätzlich über die Integrität der Person, mithin ein gutes Leben, zu stellen ist,206 wird von Iason allenfalls bedingt und dies auch nur im Vorfeld der Gewalttat reflektiert (Med. 431-434b):
205
Zur Bedeutung des Sehens als Akt der Gewalt, s. oben, Kap. 1, S. 31, und S. 45, sowie unten Kap. 4, passim. 206 Die hierfür vermutlich einschlägige Dissertation von Emily Wilson: ʻWhy do I overlive?ʼ Greek, Latin and English Tragic Survival. [Microfiche Yale University 2001], konnte ich leider nicht einsehen.
2 Die Thematisierung von Gewalt in den Tragödien O dura fata semper et sortem asperam, cum saevit et cum parcit ex aequo malam! remedia quotiens invenit nobis deus periculis peiora[.]
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Oh immer hartes Schicksal, rauhes Los! Gleich schlimm, wenn es wütet und wenn es schont! Wie oft findet der Gott für mich ein Heilmittel, das schlimmer ist als die Gefahren!
Aufgeworfen und offen diskutiert wird sie jedoch im Oedipus und den Phoenissae – und zwar mit Blick auf die von Seneca auch in den Prosaschriften207 diskutierte Richtlinie, daß das physische (Über-)Leben nur dann Superiorität genießt, wenn das Leben auch ein gutes oder lebenswertes Leben ist.
2.5.2.1 Oedipus Daß physisches Überleben auch Irritation auslösen kann, thematisiert der Protagonist des Oedipus gleich im Prolog. Vor seiner umfänglichen Schilderung der über die Stadt Theben hereingebrochenen Pest, die alle materiellen und moralischen Fundamente des menschlichen Zusammenlebens dahingerafft hat, fragt Oedipus, wie es geschehen könne, daß ausgerechnet er von diesem Vernichtungsprozeß verschont geblieben ist. In völliger Unkenntnis der Ursachen, die für die Pest verantwortlich sind, ja geradezu erleichtert, daß ihm nach dem Orakelspruch der Weggang aus Korinth gelungen ist, quam bene parentis sceptra Polybi fugeram (12), kann er sich seine mögliche Schuld zwar nicht erklären, spürt aber die Furcht, daß ihm sein von Apoll geweissagtes Verbrechen noch bevorsteht und sein merkwürdiges Überleben daher eine unheilvolle Bedeutung haben könne (Oed. 29-34; 75-77b): nam quid rear quod ista Cadmeae lues infesta genti strage tam late edita mihi parcit uni? cui reservamur malo?
inter ruinas urbis et semper novis deflenda lacrimis funera ac populi struem incolumis asto – scilicet Phoebi reus. [...]
207
S. oben, Kap. 1, S. 42ff.
Denn was soll ich davon halten, daß diese dem Stamm des Kadmos feindliche Pest mich, obwohl die Verwüstung so weitreichend ist, als einzigen verschont? Für welches Übel werde ich aufgespart? Inmitten des Untergangs der Stadt und der mit immer wieder neuen Tränen zu beweinenden Todesfälle, inmitten des Leichenhaufens des Volkes stehe ich unbeschadet da – offenkundig ein Angeklagter des Phoebus! [...]
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o saeva nimium numina, o fatum grave! negatur uni nempe in hoc populo mihi mors tam parata?
Oh allzu wilder Götterwillen, schweres Schicksal! Wird denn mir als einzigem in diesem Volk der Tod, der ja schon so allgegenwärtig ist, verweigert?
Oedipus’ Verdacht, er könne für ein größeres Unheil aufgespart worden sein und nur als „Angeklagter“ des hier in seiner Doppelfunktion als Orakel- und Seuchengott adressierten Gottes Apoll von diesem am Leben erhalten worden sein, beruht dabei auf einer in den Senecanischen Tragödien gerade in den Fortuna-Chorliedern immer wieder durchgespielten Überzeugung: Auch das vermeintlich Sichere ist zu fürchten, da es sich jederzeit als das genaue Gegenteil erweisen kann (Oed. 24-27): parum ipse fidens mihimet in tuto tua, natura, posui iura. cum magna horreas quod posse fieri non putes metuas tamen: cuncta expavesco meque non credo mihi.
Zu wenig habe ich mir selbst vertraut und deine Rechte, Natur, in Sicherheit gebracht. Auch wenn du vor Großem erschauderst: Du sollst dennoch fürchten, wovon du nicht glauben würdest, daß es eintreten könne: Vor allem zittere ich und bin mir meiner selbst nicht sicher.
Die Furcht, die Oedipus äußert, wird zum bestimmenden Motor des Stücks.208 Und so schließt der Eingangsmonolog denn auch mit der Bitte des Protagonisten, nicht als letzter seines Reiches sterben zu müssen, sowie der bangen Frage, ob ihm, als einzigem des ganzen Volkes, der Tod verwehrt bleiben soll. Der Tod, in der Schilderung der Pest noch als ein großes Übel dargestellt, mutiert zu einem Hoffnungsträger, zu einer Perspektive, in der sich das hoffnungslose Ausgeliefertsein in einen Zustand der Sicherheit verwandelt. Daß sich Senecas Oedipus so verhalten kann, hängt mit der Konzeptualisierung seiner Figur zusammen, die ihn – anders als sein sophokleischer Vorgänger im Oedipus Rex – von Anfang an als einen gebrochenen, um seine potentielle Schuld wissenden Mann auftreten läßt.209 Zu seinen Charakteristika gehören Furcht (timeo, 15; timor, 22) und Selbstzweifel (Oed. 24-27, s. oben). Oedipus spürt, daß er an der Pest, die über Theben hereingebrochen ist, nicht schuldlos ist – allerdings glaubt er, daß ihm die Erfüllung des Orakels, da seine vermeintlichen Eltern ja bislang noch unversehrt geblieben sind, erst noch bevorsteht (12-23). Da er sein im Keim schon angelegtes Wissen – den Verdacht, irgendetwas mit der Pest zu tun zu haben – gegen alle Widerstände zu verdrängen weiß, wird er jedoch erst im Laufe des Dramas und in einem
208 209
Vgl. Schiesaro: The Passions in Play [wie Anm. 22], S. 10-12. Vgl. hierzu Wiener: Stoische Doktrin [wie Anm. 198], S. 105-109.
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langsamen und mühsamen Prozeß erkennen, was die wahren Ursachen für das Unheil sind: nämlich, daß er das Befürchtete längst getan hat. So führt er zwar die Tatsache, daß er noch lebt, darauf zurück, daß er offensichtlich für eine größere Strafe aufgespart wird. Als deutlich wird, daß die unglückliche Lage eine Orakelbefragung in Delphi nötig macht, sucht er jedoch den Schuldigen gerade nicht bei sich selbst (103-109). Auch im späteren Verlauf wird er jede noch so deutliche Anspielung auf seine Schuld – wie Claudia Wiener ausführlich herausgearbeitet hat210 – geflissentlich überhören. Je mehr Detailwissen geboten wird − das zeigen vor allem die beiden mantischen Szenen − desto weniger versteht Oedipus, worum es eigentlich geht. Die Spannung zwischen dem Wunsch, schuldlos zu sein, und seiner Furcht, verurteilt zu werden, wie sie sich noch ins Unerträgliche hin steigern wird, ist dabei von Anfang an leitend (Oed. 206-209):211. Horrore quatior, fata quo vergant timens, trepidumque gemino pectus affectu labat: ubi laeta duris mixta in ambiguo iacent, incertus animus scire cum cupiat timet.
Von Horror werde ich geschüttelt, voller Angst, wohin sich das Schicksal wenden könnte, und es schwankt das unruhige Herz in doppelter Erregung: Wo das Freudige mit dem Grausamen vermischt im Ungewissen liegt, fürchtet sich mein unsicherer Sinn zu wissen – obwohl er es begehrt.
Insofern ist die eingangs geäußerte Vermutung, das Leben sei ihm nicht nur um des Lebens, sondern um der Strafe willen erhalten worden (29-31; 76f.212), ebenso berechtigt wie der Wunsch, unter diesen Bedingungen lieber sterben als leben zu wollen (Oed. 71-74):213 Adfusus aris supplices tendo manus matura poscens fata, praecurram ut prior patriam ruentem neve post omnis cadam fiamque regni funus extremum mei.
210
Hingestreckt vor den Altären strecke ich meine bittflehenden Hände aus und erbitte mein vorzeitiges Schicksal, damit ich meiner stürzenden Stadt noch zuvorkomme und nicht nach allen anderen falle und nicht zum letzten Toten meines Reiches werde.
Wiener: Stoische Doktrin [wie Anm. 198], S. 109-114. Vgl. ebd., S. 109-111. 212 S. oben, S. 100. 213 Vgl. auch Iocastas Bemerkung quid sera mortis vota nunc demens facis? | licuit perire (103f.). 211
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Dabei beruht der Wunsch zu sterben nicht auf Egoismus. Es geht vielmehr um zweierlei: Zum einen jagt ihm der besondere Status, der ihm durch sein Überleben angezeigt wird, Furcht ein. Zum anderen kann und will sich Oedipus nicht der Verantwortung entziehen, die ihm offensichtlich zufällt: Er muß sich also unschädlich machen, um die Stadt von sich zu befreien. Insofern ist der in den folgenden Versen in einer Selbstanrufung geäußerte Imperativ, die Stadt zu verlassen (Oed. 77-81, bes. 80b-81a: profuge iamdudum ocius –| vel ad parentes, „Flieh, aber schnell! – und sei es zu den Eltern“), weniger ein Sinneswandel als Ausdruck einer Alternative, um die Stadt vor der Verunreinigung durch seinen Körper zu befreien. Doch weder das eine noch das andere ist möglich. Denn was dem Wunsch der physischen Beseitigung entgegensteht, sind die sozial und kulturell bedingten Ansprüche, denen sich Oedipus – wie es Iocasta ausdrückt –weder als Gatte (coniunx) noch als König (regium) oder Mann (vir) entziehen darf (Oed. 81-86): Quid iuvat, coniunx, mala gravare questu? regium hoc ipsum reor: adversa capere, quoque sit dubius magis status et cadentis imperi moles labet, hoc stare certo pressius fortem gradu: haud est virile terga Fortunae dare.
Was nützt es, Gatte, das Leid durch Klagen noch zu stärken? Für königlich aber halte ich das folgende: Widrigkeiten zu meistern, und je ungewisser ein Zustand ist, je mehr die Festigkeit einer sinkenden Herrschaft wanken mag, um so bestimmter auf sicherem Fuß, tapfer, aufrecht zu stehen: Es ist nicht männlich, Fortuna den Rücken zu zeigen.
Insofern befindet sich Oedipus in einem Konflikt zwischen der ersehnten physischen Gewalt gegen sich selbst und der von außen an ihn herangetragenen sozialen bzw. kulturellen Gewalt, die sein physisches Überleben und seine Präsenz einfordert.
2.5.2.2 Phoenissae Eine noch umfangreichere Diskussion über die paradoxale Situation einer zwar todeswilligen, aber aus kulturellen oder religiösen Gründen am Tod gehinderten Figur findet sich in den Phoenissae, jener offensichtlich unvollendet gebliebenen Tragödie214 über den Streit zwischen Eteocles und Polynices. Der erste Teil besteht aus einem Gespräch zwischen Oedipus und Antigona. Oedipus, der in
214
Von den Phoenissae sind keine Chorlieder erhalten. Bemerkenswert ist auch der harte Schnitt zwischen dem ersten (1-362, auf dem Cithaeron angesiedelten) und dem zweiten (363-664, in Theben angesiedelten) Teil der Tragödie.
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einem langwierigen Prozeß erkannt hat, daß der bei seiner Geburt verkündete Orakelspruch wahr geworden, daß er seinen eigenen Vater getötet hat und mit seiner eigenen Mutter die Ehe eingegangen ist, hat sich selbst geblendet – er befindet sich also bereits in einem zwischen Tod und Leben angesiedelten Bereich215 – und begibt sich nunmehr in Begleitung seiner Tochter Antigona auf den Weg nach Theben, wo ihn im weiteren Verlauf des Stücks die Aufgabe erwarten wird, zwischen den im Streit liegenden Söhnen zu vermitteln und deren Kampf um die Nachfolge zu schlichten (Pho. 288ff.) Der Aufgabe wird er sich später entziehen. Schon als der Nuntius in Theben mit der Bitte an ihn herantritt, dem brüderlichen Zwist ein Ende zu bereiten, verweigert er sich. Er sei kein gutes Beispiel für den Frieden (magister iuris et amoris pii | ego sum?, 330b331a), im Gegenteil: Wenn es nach ihm ginge, sei es an den Kindern, sich als ihres Vaters würdig zu erweisen (aliquid ut patre hoc dignum gerant, 333b) und seinen Ruhm als Frevler noch zu übertreffen (gloriam ac laudes meas | superate, 335a-336b), indem sie statt eines gewöhnlichen Bürgerkriegs ein Verbrechen gegen die eigene Blutsbande begehen (non satis est adhuc | civile bellum: frater in fratrem ruat, Pho. 354b-355).216 In der 319 Verse umfassenden Eingangsszene, um die es an dieser Stelle gehen soll, konkretisiert Oedipus die Gründe für seinen Todeswunsch. Oedipus möchte die mit seiner Rettung verletzte (kosmische) Ordnung wiederherstellen, und er möchte die Welt, in der er als ein gegen diese Ordnung Überlebender viel Unheil angerichtet hat, von seiner Anwesenheit befreien (Pho. 5b-8b; 30b-39a):217 melius inveniam viam, quam quaero, solus, quae me ab hac vita extrahat et hoc nefandi capitis aspectu levet caelum atque terras. [...]
215
Es ist besser, wenn ich den Weg, den ich suche, alleine finde, einen Weg, der mich aus diesem Leben herausreißen und den Himmel und die Erde von diesem Anblick eines gottlosen Hauptes befreien kann. [...]
Die Blendung des Oedipus ist als Pendant zu seinem Exil passend gewählt, da sie ihn symbolisch in ein Reich zwischen Leben und Tod verbannt und so als Ausgestoßenen brandmarkt. Auf der Ebene von Vergehen und Vergeltung bekommt seine Selbstverstümmelung einen kathartischen Charakter. Vgl. hierzu Gottfried Mader: „Nec sepultis mixtus et vivis tamen/exemptus: rationale and aesthetics of the ‘fitting punishment’ in Seneca’s Oedipus“. In: Hermes 123 (1995), S. 303-319, der diesen Aspekt mit Blick auf den Botenbericht im Oedipus (915-979) hervorhebt. 216 Tatsächlich wird das Gespräch, das Iocasta in der zweiten Hälfte des Dramas mit ihren beiden zum Kampf bereiten Söhnen führen wird, weder den einen noch den anderen von seinem Kampfeswillen abhalten. Am Ende gibt Eteocles für den Erhalt seiner Machtansprüche mit den Worten: Imperia pretio quolibet constant bene (664) alles, selbst die pietas gegenüber der eigenen Familie, auf. 217 Vgl. auch Pho. 9-10a: non video noxae conscium nostrae diem, | sed videor. Oedipus betrachtet sich infolge seiner Schuld als Störfaktor.
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quid moror sedes meas? mortem, Cithaeron, redde et hospitium mihi illud meum restitue, ut expirem senex ubi debui infans. recipe supplicium vetus. semper cruente saeve crudelis ferox, cum occidis et cum parcis, olim iam tuum est hoc cadaver: perage mandatum patris, iam et matris. animus gestit antiqua exsequi supplicia. quid me, nata, pestifero tenes amore vinctum?
Was zögere ich die mir zugedachte Stätte hinaus? Den Tod, Kithairon, gib zurück und stell mir meinen Ruheplatz dort wieder her, damit ich als alter Mann dort, wo ich als Säugling habe sterben sollen, sterbe. Nimm das alte Sühneopfer an! Du, wenn du tötest und wenn du verschonst, du immer Blutiger, Wilder, Grausamer, Trotziger: Dieser Leichnam hier gehört schon lange dir! Vollende den Auftrag des Vaters, jetzt auch der Mutter. Ich sehne mich danach, die alten Sühneopfer zu vollziehen. Warum, Tochter, hältst du mich durch unheilvolle Liebe gefangen?
Daß Oedipus den ihm einst zugedachten Tod nunmehr erfüllen will, impliziert zwar eine ex post gedachte Auflehnung gegen den Willen des Orakels (wäre er als Säugling gestorben, hätte er das Orakel nicht erfüllen können), orientiert sich jedoch formal – gerade in der Anrufung Apolls und auch terminologisch in der Art und Weise der Beschreibung (supplicia, 38) – an der religiösen Vorstellung des Sühneopfers. Zu sterben heißt hier, zu sich selbst zu kommen und das vorbestimmte Schicksal anzunehmen. Zum anderen aber – dies das philosophische Argument – will Oedipus über sein Leben selbst verfügen und das Recht in Anspruch nehmen, seiner physischen Existenz selbständig ein Ende zu bereiten (Pho. 103b-105b): ius vitae ac necis meae penes me est. regna deserui libens, regnum mei retineo.
Das Recht auf mein Leben und auf meinen Tod liegt bei mir. Ich habe gerne mein Königreich verlassen; an der Herrschaft über mich selbst aber halte ich fest.
Die beiden Argumente, die Oedipus für seinen Wunsch zu sterben in Anschlag bringt, beziehen sich also zum einen auf den ihm übergeordneten Kosmos, in dem er als Mensch situiert ist, zum anderen auf die Freiheit, die er als Subjekt auch innerhalb dieses ihn bestimmenden Rahmens noch genießen zu dürfen glaubt. Beide Argumente haben stoische Implikationen. Der vermeintlich gegenläufige Charakter der beiden Argumente – das religiöse zielt auf die Wiederherstellung eines zuvor verletzten Gefüges, das philosophische besteht auf dem Recht des Menschen, über sich selbst zu bestimmen und sich gegebenenfalls gegen die Fügung der Natur zu stellen – löst sich als solcher auf, bedenkt man, daß Oedipus sein Selbstbestimmungsrecht nur deshalb geltend machen zu können glaubt, damit die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt werden kann: Die wenn auch unwissentlich begangenen Verbrechen vor Augen,
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zieht es ihn an den Ursprungsort seiner Schuld zurück; am Cithaeron, dort, wo er schon als Kind hätte sterben sollen, will er sich selbst als Sühneopfer darbringen (31-33218). Der Gang zurück an die Stätte der Kindheit, dorthin, wo er, dem Tod anheimgegeben, gegen den Willen der Götter hatte überleben sollen und wo sein tragisches Schicksal seinen Ausgang nahm, symbolisiert die Rückkehr in jenes Ordnungsgefüge, das durch seine physische Rettung gestört und verletzt worden war. Demgegenüber vertritt Antigona jene Haltung, die wir auch andernorts, etwa in der Schlußpassage des Hercules Furens (z. B. HF 1239219), als ein Kritierum gegen den als Sühne gedachten Selbstmord angeführt finden: Zu sterben, heißt, sich besiegen zu lassen (tantis in malis vinci mori est, Pho. 79b). Im Mittelpunkt des Gesprächs steht nicht nur der Konflikt zwischen physischer und kultureller Gewalt, sondern auch zwischen zwei verschiedenen Ausprägungen kultureller Gewalt: der (religiösen) Verpflichtung, Himmel und Erde von der durch Inzest entstandenen Verunreinigung zu reinigen, einerseits (5-8 und 38f., s. oben), und der (kulturellen bzw. sozialen) Verpflichtung, sich der Verantwortung für das eigene Schicksal zu stellen, andererseits (Pho. 188-192): [Antigona] at hoc decebat roboris tanti virum, non esse sub dolore nec victum malis dare terga; non est, ut putas, virtus, pater, timere vitam, sed malis ingentibus obstare nec se vertere ac retro dare.
[Antigona] Dies aber hätte einem Mann von solcher Stärke gut angestanden, daß er nicht, unter Schmerz und besiegt von seinen Leiden, die Flucht antritt; es ist nicht, wie du glaubst, mein Vater, eine Tugend, das Leben zu fürchten, sondern Tugend ist es, auch gewaltigen Leiden entgegenzutreten und sich nicht abzuwenden und zurückzuziehen.
Hinzu kommt schließlich Oedipus’ Furcht vor einer Reproduktion seiner Verbrechen, die zu begehen oder nicht zu begehen außerhalb seiner Kontrolle liegt (Pho. 48b-50): nullum facere iam possum scelus? possum miser, praedico – discede a patre, discede, virgo. timeo post matrem omnia.
218 219
S. oben, S. 104. S. unten, S. 109.
Bin ich in der Lage, kein Verbrechen mehr zu begehen? Nein, ich kann es, ich unseliger, ich sage es voraus – entferne dich vom Vater, geh weg, mein jungfräuliches Mädchen. Nach allem, was mit der Mutter geschehen ist, fürchte ich alles!
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Indirekt schreibt er mit seiner Furcht vor weiterem Inzest also auch die bereits begangenen Verbrechen ex post seiner durch ihr fatum bestimmten Persönlichkeit zu. Gerade der Umstand, daß sein schuldhaftes Vergehen nicht an seinen subjektiven Willen, sondern an ein fatum gebunden war,220 dessen fortgesetztes Wirken alles andere als ausgeschlossen ist, scheint Oedipus den Tod nur umso drängender zu machen. Denn die Entscheidung zu sterben ist nicht nur mit einer Flucht vor dem Leben oder der Flucht vor weiteren Verbrechen gleichzusetzen. Sie entsteht auch aus dem erwünschten Selbstverständnis als eines willensbegabten Subjekts, das über das eigene Tun selbst verfügen will. Insofern trifft die kulturell bedingte Gewalt – das moralisch begründete Erfordernis, am Leben festzuhalten – den Kern seines Souveränitätsanspruchs und damit gewissermaßen ʻins Herzʼ des Oedipus.
2.5.2.3 Hercules Furens In der Schlußpassage des Hercules Furens (HF 1138ff.) haben wir eine ähnliche Konfliktsituation wie in den Phoenissen. Nachdem der Protagonist, Hercules, durch Iuno angestiftet, im Wahnsinn seine Familie getötet hat, sieht er keinen Anlaß mehr, sein (selbst gegen die Unterwelt verteidigtes) Leben weiter fortzuführen. Allerdings ist Hercules nicht nur der Mörder seiner Frau und seiner Kinder; er ist auch der Sohn des einzig Überlebenden, Amphitryon. Hercules kann sich der Verantwortung für seine Tat daher nicht durch Selbstmord entziehen; er hat eine soziale Verantwortung. Mit der Perspektive, ihn glücklich zu machen (miserum haut potes me facere, felicem potes, HF 1305), bittet ihn sein Vater Amphitryon, sich als einziges noch lebendes Familienmitglied für ihn am Leben zu bewahren.221 Der Konflikt, in den sich Hercules gestellt sieht, resultiert aus seinen eigenen Interessen als eines leidenden Individuums und seiner Pflicht gegenüber einem familiären Gefüge, dessen Zerstörung er selbst – wenn auch nicht willentlich – verursacht hat. Hercules hat nicht etwa irgendeinen Mord begangen. Er hat die Familie zerstört, zu deren Restbeständen auch er selbst gehört und die sein Weiterleben daher fordern darf. Hercules ist nicht nur Täter, sondern auch Teil der Opfergruppe sowie, zugleich, deren potentieller Beschützer – eine Doppelfunktion, die ihn in zwei Richtungen zwingt: Will er für den Mord büßen, so muß er sterben. Will er dafür sorgen, daß seinem Vater wenigstens der Sohn erhalten bleibt, so muß er leben.
220
Zur Bedeutung des fatum gerade auch für den Erkenntnisprozeß vgl. Lisa Sophie Cordes: „Der Weg zur Anagnorisis. Eine personenbezogene Analyse der Kompositionsstrukturen in Senecas Oedipus“. In: Hermes 137 (2009), S. 425-446. 221 Vgl. die Rede des Amphitryon HF 1246-1257 sowie 1303: natum potes servare tu solus mihi.
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In der genannten Schlußpassage, in der auch die vom Chor (HF 1096-1099) schon angesprochene Diskussion über die Schuldfähigkeit des vom furor Besessenen fortgeführt wird, stehen sich drei Figuren gegenüber: Hercules mit seinem Todeswunsch (HF 1267-1272), sowie sein alter Vater Amphitryon mit Theseus, die beide aus stoischer Perspektive dagegenhalten. Hercules ist soeben aus seinem Wahn erwacht und sieht, was er angerichtet hat. Als er erkennt, daß er und niemand anderes der Mörder seiner Frau und seiner Kinder gewesen ist, da niemand anders jemals in der Lage wäre, seine Waffen zu benutzen, um ein solches Verbrechen zu begehen (1193-1198), wird ihm klar, daß er seiner Verantwortung für das Verbrechen wird nachkommen müssen (HF 1199b-1200 a): hoc nostrum est scelus? tacuere: nostrum est.
Ist dies hier mein Verbrechen? Sie [sc. die Leichen der Familie] schweigen: Es ist meines.
Doch noch bevor er in einem klimaktisch angelegten Katalog die in Frage kommenden Strafen anführen kann (1202ff.), macht ihm sein alter Vater ein „Entschuldungs“-Angebot. Er fällt ihm mit dem Hinweis ins Wort, daß nicht er, Hercules, sondern seine Stiefmutter Iuno das Verbrechen zu verantworten habe (HF 1200bf.): Luctus est istic tuus, crimen novercae: casus hic culpa caret
Deine ist diese Trauer hier; das Verbrechen aber ist das der Stiefmutter: Dieses Unglück ist frei von Schuld.
Mit der Differenzierung zwischen culpa und luctus entbindet Amphitryon Hercules von der Verantwortung für seine Tat und lenkt den Fokus auf dessen Rolle als eines Opfers. Hercules soll zwar nicht von den Konsequenzen der Tat, gleichwohl aber von seiner Schuldhaftigkeit entlastet werden. Doch Hercules hält unbeirrt an seiner Ansicht fest. Das leitende Motiv ist dabei ein religiöses. Denn seinen Wunsch, sich selbst zu töten, begründet Hercules nicht etwa mit Scham oder blinder Verzweiflung, sondern mit der recht nüchternen Einsicht, durch das Überschreiten der zwischen Erd- und Totenreich gesetzten Grenzen die religiöse Ordnung verletzt zu haben: Der dem Totenreich widerrechtlich entrissene Körper müsse der Unterwelt zurückgegeben werden: sic, sic agendum est: inferis reddam Herculem (HF 1218). Noch verstärkt wird dieser Aspekt durch Hercules’ Präferenz für eine religiös konnotierte Strafart: Als er begreift, welche Taten er begangen hat, und Zeus darum bittet, bestraft zu werden, erwägt er zwar zunächst, ob er sich als Ersatz für Prometheus hergeben, seinen Leib zwischen die Symplegaden spannen lassen (1204-1218) oder sich durch Selbstverbrennung töten soll (1216-1218), kommt dann aber zu dem Schluß, daß sich die von ihm zerstörte Ordnung der Natur nur dadurch wiederherstellen läßt, daß er seinen Tod als ein Opfer für die Unterwelt inszeniert (HF 1216-1218):
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quin structum acervans nemore congesto aggerem cruore corpus impio sparsum cremo? sic, sic agendum est: inferis reddam Herculem.
Warum sammele ich nicht Holz zusammen, häufe es auf, errichte einen Stoß, und verbrenne dann den von gottlosem Mord befleckten Körper? So, genau so muß ich handeln: Ich werde Hercules den Unterirdischen zurückgeben.
Auch das zweite Differenzierungsangebot, das ihm sein Vater macht, nimmt Hercules nicht an. Die an das aristotelische ἁµαρτία-Konzept mahnende Unterscheidung in error und scelus (Amphitryon: Quis nomen usquam sceleris errori addidit?, 1237), mit der Amphitryon die Tat des Hercules als einen (wenn auch mit schwerwiegenden Folgen verbundenen) Fehler ausweist und das Ausmaß von dessen Verantwortung zu mindern sucht, schlägt Hercules mit den Worten in den Wind: Saepe error ingens sceleris obtinuit locum (1238) – ein Argument, dem (die nach heutigen Maßstäben eher befremdliche Überlegung) vorausgeht, daß die Schwere einer Tat weniger an der Absicht der sie verursachenden Person als an ihren Folgen zu bemessen ist. Erst als Amphitryon mit Selbstmord droht, lenkt Hercules schließlich ein (HF 1310b-1317a)222: [Amphitryon] tam tarde patri vitam dat aliquis? non feram ulterius moram, senile ferro pectus impresso induam: hic, hic iacebit Herculis sani scelus.
[Hercules] Iam parce, genitor, parce, iam revoca manum. succumbe, virtus, perfer imperium patris. eat ad labores hic quoque Herculeos labor: vivamus.
[Amphitryon] Schenkt einer so zögerlich dem Vater das Leben? Nicht werde ich weiterhin Aufschub ertragen, meine altersschwache Brust will ich, das Schwert in ihr versenkend, durchbohren: Hier, hier wird das Verbrechen eines Hercules liegen, der ohne Wahnsinn ist. [Hercules] Halt ein – verschone mich, Vater, nun halte deine Hand zurück! Gib nach, Tugend, erdulde des Vaters Befehle! Möge auch diese Arbeit zu den Arbeiten des Hercules gehören: Ich werde leben!
Nicht die aus der emotionalen Distanz heraus vollzogene, rein kognitive Erfassung der Sachlage (wie sie die beiden Differenzierungsangebote bereitstellen wollen), sondern erst der emotionale Nachvollzug der Situation, in der sich Amphitryon befindet, kann Hercules davon überzeugen, daß es richtig ist,
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Zur Androhung von Folter, Selbstmord u. ä. als eine Form der oder Reaktion auf psychische Gewalt siehe auch unten, Anm. 231.
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sich für seinen Vater am Leben zu erhalten: Der von Amphitryon angedrohte Selbstmord würde Hercules nicht nur ein weiteres Mal zum Täter, sondern ihn, den Sohn, auch einmal mehr zu einem Opfer machen. Amphitryons Schachzug, das eigene Leben als Pfand einzusetzen, um den Lebenswillen des Gegenübers wieder wachzurütteln, ist freilich nur der Auslöser der entscheidenden Wende. Vorbereitet worden war sie nämlich sehr wohl durch rationale Argumente, und zwar durch den von Amphitryon und Theseus gleichermaßen vorgebrachten Appell an die virtus des einst so gerühmten Helden. Nicht nur dürfe Hercules angesichts seiner bisherigen Taten darauf hoffen, daß ihm ein singuläres Vergehen verziehen werde.223 Er sei auch verpflichtet, die Gründe für seinen Ruhm zu bekräftigen und seine virtus erneut unter Beweis zu stellen. Seine Plausibilität bezieht dieser Appell dabei aus einem gedanklichen Dreischritt, dem schon in den vorausgehenden Wortwechseln argumentativ vorgearbeitet worden war: 1) Die Tat wurde von Hercules im Wahn und damit ohne freie Entscheidung begangen. Hercules ist, als unwissender Verursacher, für das Unglück nicht verantwortlich. 2) Der Wahn wurde von Iuno veranlaßt und ist damit in die Reihe jener Herausforderungen zu stellen, deren Bewältigung Hercules den Ruhm eines Helden eingetragen hat. 3) Sich den daraus entstandenen Leiden durch Tod oder Selbstmord zu entziehen, ist keine virtus. Vielmehr besteht die Herausforderung nun darin, die Last des eigenen Leidens zu ertragen und den Zorn gegen sich selbst zu überwinden (HF 1239; 1274b-1277):224 [Amphitryon] Nunc Hercule opus est: perfer hanc molem mali. [...] [Theseus] surge et adversa impetu perfringe solito. nunc tuum nulli imparem animum malo resume, nunc magna tibi virtute agendum est: Herculem irasci veta.
223
[Amphitryon] Jetzt bedarf es eines Hercules: Erdulde diese Last des Leides [...] [Theseus] Steh auf und zerschmettere mit dem gewohnten Elan die Widrigkeiten! Nun gewinne deinen Mut zurück, der jedem Übel gewachsen ist, jetzt mußt du handeln mit deiner großen Tapferkeit! Verbiete es Hercules, in Zorn zu geraten!
Sen. HF 1265f.: Amphitryon: Memoranda potius omnibus facta intuens | unius a te criminis veniam pete. 224 Die Korrespondenzen zu Senecas in den philosophischen Schriften konzipierter Auffassung zum Selbstmord (s. dazu oben, Kap. 1, S. 42) hebt Amy R. Rose: „Seneca and Suicide. The End of the Hercules Furens“. In: Classical Quarterly 60 (1983), S. 109-111, hervor. Ähnlich Anna L. Motto/ John R. Clark: „Maxima virtus in Seneca’s Hercules Furens“. In: Classical Philology 76 (1981), S. 100-117.
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In ihrem Grundtenor entsprechen die von Theseus und Amphitryon ins Feld geführten Argumente also denjenigen, mit denen sich auch Antigona in den Phoenissae gegen die Todessehnsucht ihres Vaters stellt: Wenn Antigona sagt, daß Sterben bedeute, sich besiegen zu lassen (Pho. 79)225, dann heißt das im Umkehrschluß, daß das (Über-)Leben ein Sieg der virtus ist.
2.6
Formen der Ausübung: Psychische Gewalt
Psychische Gewalt spielte in den vorausgegangenen Beispielen insofern eine Rolle, als Physis und Psyche gegeneinander ausgespielt werden – die betroffenen Figuren müssen gegen ihren Wunsch am Leben bleiben, um eine kulturell gegebene Bedingung zu erfüllen. Im Folgenden soll es nun um jene Formen von Gewalt gehen, in denen sich die Gewalt ausschließlich gegen die Psyche richtet, sei es durch Handeln oder Sprechen. Es liegt auf der Hand, daß die verschiedenen Formen des Sprechens in dieser Hinsicht besonders bedeutsam sind. Denn Sprechen heißt nicht nur Diegesis, also erzählendes Verweisen auf einen vorgängigen, vom Sprechakt unabhängigen Gegenstand. Dort, wo es performativen Charakter hat, bedeutet Sprechen auch zu handeln bzw. zum Handeln zu bewegen. Der vermeintlichen Statik, wie sie Senecas Tragödien auf der Handlungsebene auszeichnet, steht somit eine Dynamik entgegen, wie sie durch die Formen des Sprechens und dessen Wirken auf den Fortgang der Handlung hergestellt wird. Es soll jedoch nicht einfach um Sprache als Handlung gehen, sondern um jene Formen des Sprechens, die sich in einem übertragenen Sinne als Verletzung erweisen: Sprechen heißt auch Nicht-Sprechen, sei es, daß nur auf bestimmte Dinge Bezug genommen wird, andere ausgespart werden, sei es, daß bewußt Leerstellen produziert werden (die sich dann in der Anverwandlung des Antwortenden zur Umdeutung mißbrauchen lassen), sei es, daß – im bewußten Schweigen – das Sprechen ganz verweigert wird. Angesichts dessen kann Sprache selbst dort, wo sie in ihrer Verweigerung performativen Charakter hat, eine Form der Gewalt sein.226
2.6.1 Gewalt durch Schweigen In der Phaedra täuscht die Protagonistin ihrem Gatten Theseus nach dessen Rückkehr aus der Unterwelt vor, sie sei während seiner Abwesenheit von ihrem Stiefsohn Hippolytus mißbraucht und entehrt worden. Im Gespräch mit Theseus (Pha. 864-958) vermittelt sie das Bild einer heldenhaften Märtyrerin, die den
225 226
S. oben, S. 105. Vgl. hierzu unten, Kap. 5, S. 257ff. und Anm. 548.
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Tod auf sich nimmt, um sowohl sich als auch Hippolytus vor der bevorstehenden Schande zu bewahren (Pha. 871-880a): [Phaedra] permitte mortem. [Theseus] Causa quae cogit mori? [Ph] Si causa leti dicitur, fructus perit. [Th] Nemo istud alius, me quidem excepto, audiet [Ph] Aures pudica coniugis solas timet. [Th] Effare: fido pectore arcana occulam. [Ph] Alium silere quod voles, primus sile. [Th] Leti facultas nulla continget tibi. [Ph] Mori volenti desse mors numquam potest. [Th] Quod sit luendum morte delictum indica. [Ph] Quod vivo.
[Phaedra] Gestatte mir den Tod [Theseus] Welcher Grund zwingt dich zu sterben? [Ph] Wird der Grund für den Tod ausgesprochen, ist der Gewinn dahin. [Th] Niemand anderes, mich ausgenommen, wird das hören. [Ph] Eine keusche Frau fürchtet allein die Ohren ihres Gatten [Th] Sprich’s aus! Ich werde das Geheimnis in meinem treuen Herzen wahren. [Ph] Wovon du willst, daß es ein andrer verschweige, das verschweige du zuerst. [Th] Eine Möglichkeit zu sterben, wirst du nicht haben. [Ph] Für jemanden, der sterben will, gibt es immer einen Tod. [Th] Sag, welches Verbrechen durch den Tod zu büßen ist. [Ph] Die Tatsache, daß ich am Leben bin.
In ihren Worten gelingt es Phaedra, gegenüber Theseus ihre vermeintliche Keuschheit und Tugendhaftigkeit zu vermitteln. Dabei kann sie den intendierten Eindruck dadurch noch verstärken, daß sie den Grund des Todeswunsches, die angebliche Vergewaltigung, wie auch den Namen des Täters über eine lange Strecke des Gesprächs verschweigt – und zwar unter dem Vorwand, daß die Preisgabe der Daten den eigentlichen Sinn des Todes nichtig mache: Si causa leti dicitur, fructus perit (Pha. 872). Was unter dem von Phaedra angeführten fructus zu verstehen ist, muß für Theseus zu diesem Zeitpunkt eine Leerstelle bleiben. Es ist deutlich, daß Phaedra nicht nur auf die Anonymität, mithin den Schutz des Täters, sondern insbesondere auf die Wahrung ihrer eigenen moralischen Integrität zielt. Das jedenfalls läßt der Hinweis auf ihre sexuelle Reinheit (Aures pudica coniugis solas timet, Pha. 874) vermuten. Und die Tatsache, daß Theseus an ihrer Integrität als Ehefrau in keiner Weise zweifelt, stützt die Vermutung, daß er die Hinweise in eben dieser Richtung auffaßt und wir ihn uns als völlig ahnungslos zu denken haben. Ihre Präferenz für die Wahrung kultureller Integrität, das Bestreben nach Aufrechterhaltung ihrer Ehre, betont und bekräftigt Phaedra aber auch im weiteren Verlauf ihrer Gesprächsbeiträge. Daß sie auf die Frage des
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Theseus: quod sit luendum morte delictum indica (Pha. 879), mit quod vivo (880) antwortet, muß Theseus den Gedanken nahelegen, daß Phaedra durch den (nach wie vor verschwiegenen) Vorfall das Recht auf ihre physische Existenz verloren hat. Die Szene aus der Phaedra zeigt, daß die Ausübung psychischer Gewalt auch durch das Vorenthalten von Informationen vollzogen werden kann.227 Denn anders als der Zuschauer kann Theseus Phaedras dunkle Andeutungen infolge seines defizitären Wissensstands nicht durchschauen. Er ist der von Phaedra lancierten Rollenverteilung – sie die Wissende, er der Unwissende; sie das Opfer, er der Helfer – daher völlig ausgeliefert:228 Phaedras Keuschheit, seine eigene Rolle als ein der treuen Ehefrau zur Seite stehender Gatte – dies alles sind Fiktionen, die zwar die Grundlage seines eigenen Handelns bestimmen, mit den eigentlichen Tatsachen aber alles andere als übereinstimmen. Theseus wird von Phaedra nicht nur durch deren erotische Wünsche betrogen; betrogen wird er auch und gerade um die Souveränität seiner eigenen Persönlichkeit. Dabei erkennt Theseus jedoch recht schnell, daß das Schweigen der Kern des Konflikts ist, und er erkennt auch – das jedenfalls zeigt seine Reaktion –, daß es sich dabei um eine Form von Gewalt handelt, der nur mit Gegengewalt beizukommen ist: Als Phaedra zum wiederholten Male das Schweigen selbst zum Thema macht – indem sie nämlich nicht nur das, was Theseus wissen will, einfach verschweigt, sondern zugleich (als wolle sie das Nicht-Gesagte gleichsam durch den Tod verschwinden lassen) den Wunsch zu sterben mit dem Argument begründet, daß ihre Reinheit nur durch Schweigen wiederherzustellen (und das Schweigen folglich nicht zu brechen) sei, reagiert Theseus mit der Androhung von roher Gewalt (Pha. 881-883):
227
Anders als das bloße Stumm-Sein weist das Schweigen eine kontextuelle Prägung auf und muß als ein der Sprache ebenbürtiges Kommunikationssignal betrachtet werden. Zu den Deutungen aus linguistischer Perspektive vgl. die theoretischen Diskussionen von Melissa De Bruyker: Das resonante Schweigen: die Rhetorik der erzählten Welt in Kafkas Der Verschollene, Schnitzlers Therese und Robert Walsers Räuber-Roman. Würzburg 2008, S. 17-23, sowie die Ausführungen über die Zusammenhänge von Schweigen und Gewalt, ebd., S. 23-25. 228 Über die Charakterzeichnung der Phaedra gibt es unterschiedliche Positionen. Nach Hanna M. Roisman: „A new look at Seneca’s Phaedra“. In: Seneca in performance. Hrsg. von George W. M. Harrison. Swansea 2000, S. 73-86, ist Phaedra keine mit den Leidenschaften kämpfende und tugendhafte Frau, sondern eine „ausgefuchste“, in hohem Maße manipulativ agierende Figur. Daß Phaedra selbst innerlich zerrissen, also nicht ausschließlich manipulativ ist, betont dagegen David J. Bloch: „In Defence of Seneca’s Phaedra“. In: Classica et Mediaevalia 58 (2007), S. 237-257. Es scheint jedoch beides zuzutreffen.
2 Die Thematisierung von Gewalt in den Tragödien [Phaedra] mors optima est perire lacrimandum suis [Theseus] Silere pergit. – verbere ac vinclis anus altrixque prodet quidquid haec fari abnuit.
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[Phaedra] Der beste Tod ist es, als jemand zu sterben, der für die Seinen beweinenswert ist [Theseus] Die schweigt noch immer. – Die Alte, die Amme, wird durch Schläge und Fesseln verraten, was auch immer sie hier [sc. Phaedra] auszusprechen verweigert.
Zwar richtet Theseus die Folterdrohung nicht gegen Phaedra selbst, sondern gegen deren Amme (Pha. 882-885a) – genau darin aber liegt die Raffinesse seiner Strategie: Phaedra wird – ähnlich wie Andromacha in den Troades229 – zur potentiellen Täterin gemacht. Die Taktik zeigt denn auch Erfolg: Kaum hat Theseus seine Diener herbeigerufen, um die Folterung durchführen zu lassen, bricht Phaedra ihr Schweigen: sie selbst wird reden (Ipsa iam fabor, mane, Pha. 885). Theseus’ Verfahren ist dabei als die stellvertretend auf die Amme übertragene Verkörperlichung eines körperlich nicht manifesten, auf seine Psyche aber durchaus wirkenden Gewaltmomentes zu verstehen. Phaedras Schweigen ist ein Ver-Schweigen, das sie deutlich als ein solches ausstellt. Die Behauptung, dass etwas gar nicht existiere, spielt dessen möglicher Existenz eine besondere Aufmerksamkeit zu, verweigert aber gleichzeitig jede sprachliche Verhandlungsmöglichkeit. Gegen das Schweigen der Phaedra kann Theseus infolgedessen nur dadurch vorgehen, daß er es auf einer anderen Ebene, hier allerdings auf sehr brutale Weise,230 in den Bereich des Sichtbaren holt. Die Kommunikation findet nun auf der Ebene der Gewaltausübung statt. So abstoßend sein Verhalten auch ist: Was Theseus mit der Androhung von physischer Gewalt231 versucht, ist, neben dem von Phaedra verschwiegenen Text auch die mit ihrem
229
S. dazu unten, S. 123. Die Brutalität des physischen Moments wird dadurch noch verstärkt, daß Phaedra, wenn sie ihr Schweigen nicht bricht, zugleich die Folterung zuläßt und sich damit an der Gewalt gegen die Amme (mit-)schuldig macht. 231 Einen ähnlichen Effekt angedrohter Gewalt, hier: der Androhung des Selbstmords, zeigt die Szene im Hercules Furens, in der sich Hercules durch eine entsprechende Drohung des Amphitryon von seinem eigenen geplanten Selbstmord abhalten und umstimmen läßt (s. oben, S. 108). Im Oedipus wird dieses Verfahren dagegen durchkreuzt: Als Oedipus das von Creo verschwiegene Wissen unter Androhung von Folter aus diesem herauspressen will (Audita fare, vel malo domitus gravi | quid arma possint regis irati scies, Oed. 518f.), wird er von Creo ersteinmal völlig ignoriert. Erst mit dem Verweis auf seine imperiale Verfügungsgewalt (Oedipus: Imperia solvit qui tacet iussus loqui, Oed. 527) gelingt es Oedipus schließlich, Creo doch noch zum Reden zu bringen (Creo: Coacta verba placidus accipias precor, Oed. 528), vgl. unten, S. 115ff. 230
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Schweigen verbundene psychische Gewalt als eine Form der Gewalt in die Welt des Sichtbaren zu übersetzen und ʻzur Spracheʼ zu bringen.232
2.6.2 Erzeugung von Erwartungsangst Das Verfahren, mit dem Theseus Phaedra zum Reden bringt, stützt sich zu einem großen Teil auf einen Akt der Transkription: die unsichtbare, psychische Gewaltausübung wird in einen potentiell sichtbaren, physischen Gewaltakt übersetzt und auf dieser Ebene beantwortet. Erfolg hat dieses Verfahren jedoch auch deshalb, weil die Gewaltausübung als eine Drohung formuliert wird und Phaedra auf diese Weise dazu gezwungen wird, sich den körperlichen Gewaltakt imaginativ vorzustellen. Theseusʼ Strategie beruht demnach nicht zuletzt auf der Erzeugung von Erwartungsangst:233 Indem er von der bevorstehenden Folterung spricht (Verbere ac vinclis anus | altrixque prodet quicquid haec fari abnuit, Pha. 882f.) und den Dienerinnen die sehr konkrete Anweisung gibt, die Amme in Fesseln zu legen (vincite ferro, 884), erzeugt Theseus in Phaedra das Bild einer körperlichen Gewaltszene, mithin die Erwartung ihrer Realisation. Der Schrecken über die imaginierte Tat, wie ihn die Worte evozieren, übt offensichtlich eine Wirkung aus, die noch viel stärker ist als jede Wirkung, wie sie durch die Tat selbst und ihren physischen Anblick hervorgerufen werden könnte. Ähnlich wie bei der von Seneca in der 14. Epistel234 beschriebenen Wirkung, die der Anblick von Foltergegenständen im Betrachter auslöst, ist es auch hier die Imagination des Angedrohten oder Bevorstehenden, die den emotionalen Umschwung der Phaedra hervorruft. Im Unterschied zu der in der Epistel beschriebenen Szene ist es in der Phaedra-Szene allerdings nicht die Betrachterin (Phaedra), die sich in ihrer Vorstellung als Objekt der Handlung sieht, sondern – wie im Theater oder beim Leseakt – eine vom Betrachter verschiedene, zur Identifikation jedoch geeignete Figur (die Amme). Insofern ist die Szene auch rezeptionstheoretisch von Interesse. Denn sie konstituiert in zweifacher Hinsicht die Wirkung der Imagination. Zum einen, da die reale Wirkung von Worten bzw.
232
Zur Wirkung dieser Szene auf den Zuschauer vgl. die Ausführungen unten, Kap. 5, S. 255f. und 264f. 233 Siehe hierzu Karl Heinz Bohrer: „Erscheinungsschrecken und Erwartungsangst. Die griechische Tragödie als Antizipation der modernen Epiphanie“. In: Ders.: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt a. M. 1994, S. 32-62 (sowie den gleichnamigen Aufsatz in: Merkur 45 H. 506, 1991, S. 371-386); ders.: Das Tragische. Erscheinung, Pathos, Klage. München 2009, S. 37. Die Ausführungen beziehen sich überwiegend auf die Aischyleische Tragödie (die Kassandra-Vision im aischyleischen Agamemnon). Zur Erwartungsangst s. auch Seidensticker: „Distanz und Nähe“ [wie Anm. 1], S. 117f. 234 Sen. epist. 14, 6, s. dazu oben, Kap. 1, S. 49.
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einem durch diese Worte evozierten inneren Bild ausgeht. Zum anderen, weil Phaedra das potentielle Leiden der Amme (die auch im dramatischen Kontext als ihre Stellvertreterin figuriert),235 stellvertretend für ein Leiden imaginiert, das ihr selbst zwar widerfahren könnte, infolge ihres Geschütztseins in ihrer Rolle als Ehefrau aber nicht passieren wird. Das als Leiden ʻzweiter Ordnungʼ erfahrene Leiden, das in einer in doppelter Hinsicht körperlosen Weise induziert wird, verbindet (faktische) Distanz und (emotionale) Nähe, mithin jene beiden Faktoren, die, um hier dem 4. Kapitel vorzugreifen, für die ästhetische Erfahrung konstitutiv sind. Die Kombination von psychischer und physischer Gewalt finden wir schließlich auch im Oedipus – in jener Szene, in der der Protagonist seinen von der zweiten mantischen Befragung236 zurückgekehrten Schwager Creo über deren Verlauf aushorchen will. Auch hier sind es Zeichen (notas, 509), die die Neugier des noch Unwissenden auslösen; und auch hier treffen persistentes Schweigen, und Androhung von physischer Gewalt aufeinander (Oed. 511-528): [Creo] Fari iubes tacere quae suadet metus [Oedipus] Si te ruentes non satis Thebae movent, at sceptra moveant lapsa cognatae domus. [Cr] Nescisse cupies nosse quae nimium expetis. [Oed] Iners malorum remedium ignorantia est. itane et salutis publicae indicium obrues? [Cr] Ubi turpis est medicina, sanari piget. [Oed] Audita fare, vel malo domitus gravi quid arma possint regis irati scies.
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[Creo] Du befiehlst mir auszusprechen, was die Angst mir zu verschweigen anempfiehlt. [Oedipus] Wenn dich das stürzende Theben nicht hinreichend bewegt, dann soll dich dafür die gesunkene Macht des verschwägerten Hauses bewegen. [Cr] Du wirst wünschen, nie gewußt zu haben, was zu erfahren du allzu sehr begehrst. [Oed] Ein untaugliches Heilmittel für Krankheiten ist ihre Unkenntnis. So wirst du einen Hinweis auf das Wohl des Staates zerstören? [Cr] Wo die Medizin nicht schmeckt, ist es nicht schön, geheilt zu werden. [Oed] Sprich aus, was du gehört hast! Oder du wirst, durch schlimmes Leid bezwungen, wissen, was Waffen eines erzürnten Königs auszurichten vermögen.
Würde er ihn nicht als souveränen Ehegatten darstellen wollen, hätte Seneca die Szene auch so gestalten können, daß Theseus statt der Amme Phaedra selbst die physische Gewalt androht. 236 Vgl. Oed. 401f.: Tiresia: Dum nos profundae claustra laxamus Stygis, | populare Bacchi laudibus carmen sonet.
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[Cr] Odere reges dicta quae dici iubent. [Oed] Mitteris Erebo vile pro cunctis caput, arcana sacri voce ni retegis tua. [Cr] Tacere liceat. ulla libertas minor a rege petitur? [Oed] Saepe vel lingua magis regi atque regno muta libertas obest. [Cr] Ubi non licet tacere, quid cuiquam licet? [Oed] Imperia solvit qui tacet iussus loqui. [Cr] Coacta verba placidus accipias precor.
[Cr] Könige hassen die Worte, die auszusprechen sie befehlen. [Oed] Als nichtiges Haupt wirst du zum Wohle aller dem Erebos überantwortet werden, wenn du nicht die Geheimnisse des Opfers mit deiner Stimme aufdeckst. [Cr] Zu schweigen sei erlaubt. Läßt sich eine geringere Freiheit von einem König erbitten? [Oed] Oft steht die stumme Freiheit dem König und dem Königreich mehr im Wege als die Zunge. [Cr] Wo es nicht erlaubt ist zu schweigen: was ist einem dann erlaubt? [Oed] Macht löst aus, wer, auch wenn er gebeten wird zu reden, schweigt. [Cr] Nimm die erzwungenen Worte gnädig auf, ich bitte dich!
Ähnlich wie Phaedra, aber in diesem Fall aus ehrlichem Interesse, will Creo seinem Gegenüber, hier: Oedipus, das Ergebnis der Unterweltsbefragung vorenthalten, um ihn davor zu bewahren, die grausame Wahrheit zu erfahren. Die ihm von Oedipus daraufhin angedrohte physische Gewalt – zunächst noch unspezifisch mit den Worten Audita fare, vel malo domitus gravi | quid arma possint regis irati scies, Oed. 518f. – beeindruckt ihn jedoch nicht im Geringsten.237 Er ist davon überzeugt, daß ihm das Schweigen als das minimale Recht auf Freiheit zusteht: Tacere liceat. ulla libertas minor | a rege petitur? (Oed. 523-524a). Erst nachdem Oedipus mit der tatsächlichen Ausübung seiner imperialen Verfügungsgewalt droht und Creo befürchten muß, unter Folter zur
237
Daß die Androhung von physischer Gewalt ins Leere gehen kann, dann nämlich, wenn das potentielle Opfer seine kulturelle Integrität über das physische Leben stellt, zeigt auch die Szene der Troades, in der Ulixes aus Andromacha die Information über den Verbleib ihres Sohnes herauszupressen sucht. Als Ulixes seiner Gesprächspartnerin physische Gewalt androht (Coacta dices sponte quod fari abnuis, Tro. 573; Magnifica verba mors prope admota excutit, 575), kontert Andromacha mit dem Hinweis, daß sie sich nichts sehnlicher wünsche als zu sterben. Wenn er ihr drohen wolle, solle er ihr mit dem Leben drohen (Tuta est, perire quae potest, debet, cupit, Tro. 574; Si vis, Ulixe, cogere Andromacham metu, | vitam minare: nam mori votum est mihi, 576f.). Ulixes’ Androhung wird damit, wie der weitere Gesprächsverlauf zeigen wird, völlig wirkungslos (578ff.). Erst als er sein Gefolge auf die Suche nach dem angeblichen Leichnam des Astyanax schickt (Tro. 627-629) und gegenüber Andromacha vorgibt, daß man den Leichnam bereits entdeckt habe (630f.), hat er Erfolg.
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Herausgabe der Informationen gezwungen zu werden – als in Oedipus also die Rollen des zu Beschützenden und des potentiellen Folterers zusammenfallen –, läßt sich Creo, nach erneuten Rechtfertigungsversuchen, darauf ein, zu sprechen. Doch hat auch Creo ein Mittel, um Gegengewalt auszuüben: Als er sich – gezwungenermaßen – darauf einläßt, die Befragung zu schildern, beginnt er mit einer quälend langen Ekphrasis, die zwar alle möglichen Details aufruft, nicht aber auch nur eine einzige der Informationen gibt, die Oedipus zu hören wünscht. Während Theseus in der Phaedra auf das Schweigen seiner Gattin mit physischer Gewalt (bzw. deren Androhung) reagiert und der Gewalt des Schweigens auf diese Weise eine sichtbare Form der Gewaltausübung entgegensetzt, begegnet Creo der (angedrohten und damit imaginativ erfahrbaren) Gewalt durch Oedipus mit einer Form (nicht sichtbarer) psychischer Gewalt. Nicht der Inhalt des Gesprochenen ist es, der Oedipus quälen muß, sondern die Tatsache, daß Creo Sprache zwar benutzt, dies aber, ohne das Gewünschte zu sagen: Creo übersetzt sein Schweigen in eine Form des Sprechens, durch die er dem geforderten Verhalten zwar faktisch entgegenkommt (er ‚spricht‘), an der Verweigerung der Informationsvergabe aber zugleich festhalten kann – mit anderen Worten: die Gewalt gegen Oedipus wird gewissermaßen unsichtbar; es gibt weder Körper noch Worte, die Oedipus dazu einladen könnten, zu einem Gegenschlag auszuholen. Was Theseus in der Phaedra gelingt: die Übersetzung unsichtbarer Gewalt in die Welt des Sichtbaren, gelingt Creo auf umgekehrte Weise: Creos Gegengewalt, die Mittel, mit denen er die Gewaltandrohung seines Gegenspielers beantwortet, sind so gewählt, daß sie weder greif- noch hörbar sind, ja, gerade in ihrer Körperlosigkeit und Unsichtbarkeit erst ihren vollen Effekt erzielen.
2.6.3 Unsichtbare Gewalt – Gewalt durch Umdeutung Wie die Phaedra-Passage hat zeigen können, kann Schweigen, sofern es sich als die Verweigerung des Sprechens ausweist, den Gegenstand des Verschweigens als existent markieren und aus diesem paradoxalen Spannungsverhältnis heraus das Nicht-Wissen des Gegenübers ausstellen. Dem, der schweigt, steht es frei, die Differenzen zwischen Wissen und Nicht-Wissen offen zu legen und seinem Gegenüber dadurch eine Angriffsfläche zu bieten, daß dieser das Verschwiegene und die im Akt des Schweigens möglicherweise begründete psychische Gewalt als solche erkennen kann. Demgegenüber zeichnen sich Gesten, in denen das Gewaltverhältnis durch Freundlichkeit oder Entgegenkommen konstituiert wird, durch ihre Unsichtbarkeit aus. Ähnlich wie die Technik Creos, der sogar das Schweigen verschweigt, setzen unter dem Deckmantel von Freundlichkeit und Entgegenkommen lancierte Gewaltakte darauf, daß sie von ihrem Gegenüber nicht enttarnt werden können, daß sie unsichtbar bleiben und folglich nicht
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erwidert werden. Daß eine Äußerung, die für sich genommen als ein Symbol von Freundlichkeit und Fürsorge gelten kann, als eine solche gar nicht intendiert ist, läßt sich in einem solchen Falle erst durch den dramatischen Kontext erschließen. Ein Beispiel hierfür ist der Umgang, den Lycus im Hercules Furens gegenüber der Frau des Hercules versucht. Lycus hat während der Unterweltsfahrt des Hercules die von diesem regierte Stadt Theben usurpiert. Daß Hercules aus der Unterwelt je wieder zurückkehren wird, ist zu diesem Zeitpunkt mehr als ungewiß. Der Usurpator macht der Gattin des abwesenden Regenten, Megara, daher ein Heiratsangebot, das den Frieden zwischen beiden Parteien besiegeln soll (HF 368-371a): pacem reduci velle victori expedit, victo necesse est – particeps regno veni; sociemur animis; pignus hoc fidei cape: continge dextram.
Für den Sieger ist es gut, wenn er den Frieden wiederbringen will, für den Besiegten ist es notwendig – komm als ein Teilhaber an meinem Reich, laßt uns im Herzen uns verbünden! Dies Pfand meiner Treue nimm an: Berühre meine rechte Hand!
Daß es für den Besiegten unabdingbar ist, Frieden anzustreben, oder daß eine verwitwete Regentengattin in den Schutz einer neuen Ehe gestellt werden muß, sind sicherlich keine per se verwerflichen Argumente. Hier aber hat der vermeintliche Beschützer den Schutz erst notwendig gemacht. Es handelt sich also nicht um ein Friedensangebot zwischen zwei wiewohl verfeindeten, so doch paritätischen Parteien, sondern um die lineare Fortsetzung einer mit der Usurpation begonnenen Destruktionshandlung.238 Ähnliches gilt für die körperliche Geste, mit der Lycus sein Ansinnen abrundet: Das Ausstrecken der rechten Hand besiegelt nicht etwa ein von beiden angestrebtes Bündnis, sondern muß von Megara als Fortführung der Unterwerfung gedeutet werden. Und genau so
238
Auch Iason geriert sich im Gespräch mit Medea (Med. 490ff.) als ein Gönner, der durch seine Bitten Creo habe dazu bewegen können, das Todesurteil in ein Verbannungsurteil umzuwandeln (490f.), und bereit ist, Medea weitere Begünstigungen zu verschaffen (si quid ex soceri domo | potest fugam levare solamen, pete, Med. 538f.). Während Medea sich mit Iason als eine Einheit begreift (vgl. Med. 497f.: Iason: obicere tandem quod potes crimen mihi? – Medea: quodcumque feci), zieht Iason eine klare Trennlinie zwischen sich als Teil der neuen Familie und Medea als einer Fremden bzw. zwischen sich als eines unschuldig Verfolgten und Medea als einer schuldigen Verbrecherin (498f.). Grundlage für diese Argumentation ist die Umdeutung der Schuldzuschreibung: Der erwirkte Gnadenakt setzt voraus, daß Iason, weil er nicht selbst an den Verbrechen beteiligt war, schuldlos, und Medea allein verantwortlich ist – eine gedankliche Konstruktion, die Medea mit dem Argument aushebelt, daß auch der Nutznießer eines Verbrechens an diesem Verbrechen Schuld hat (Med. 497ff.).
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wird es von Megara, wie ihre nach anfänglichem Schweigen formulierte Antwort deutlich demonstriert, auch verstanden (HF 371b-373a): [Lycus] quid truci vultu siles? [Megara] Egone ut parentis sanguine asperam manum fratrumque gemina caede contingam?239
[Lycus] Warum schweigst du so mit trotzigem Gesicht? [Megara] Ich soll die Hand ergreifen, die von meines Vaters Blut, vom zweifachen Mord an meinen Brüdern befleckt ist?
Megara erkennt die Gewalt, die von der vermeintlich freundlichen Geste ausgeht, und bestätigt damit ex post den ironischen Gestus, mit dem Lycus ihre Unterwerfung hatte inszenieren wollen. Nicht immer aber ist es dem Opfer möglich, seinen Opferstatus zu erkennen und zu reklamieren. Gewalt so einzusetzen, daß sie als Gewalt idealiter nicht mehr benannt oder doch zumindest nicht gesehen werden kann, ist eine Strategie, die unter dem Deckmantel der „Hilfe“ arbeiten kann. Hilfe oder Freundlichkeit sind jedoch nur zwei Spielarten dieses Verfahrens. Die krasseste Form eines solchen Rückzugs in die Unsichtbarkeit, nämlich die als moralisches Handeln umgedeutete (oder getarnte) Täterschaft, durch die zugleich die Rolle des Opfers eine Umdeutung erfährt, finden wir in der Phaedra. Mit ihrer Ankündigung, der liebeskranken Herrin beizustehen, verschleiert die Amme nicht nur die teuflisch-folgenreichen Dimensionen ihres Plans (selbst ihrer eigenen Herrin scheint die Täterschaft der Amme anfangs zu entgehen).240 Nachdem sie den Verleumdungsplan gefaßt hat (Pha. 719-724), tritt sie in ihrer (Trug-)Rede gegenüber der Dienerschaft (725735) auch als moralische Instanz auf (Pha. 719-735):
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Es folgt eine Reihe von Adynata. Nach dem Gespräch, in dem Phaedra Hippolytus ihre Liebe gestanden hat und dieser daraufhin geflohen ist, ermuntert sich die Amme in einer Art Selbstgespräch zur Tat (anime, quid segnis stupes?, Pha. 719b). Die Worte der Amme dienen in erster Linie dazu, den Zuschauer über die anderweitig nicht darstellbaren Gedanken der Amme zu informieren, möglich wäre es sogar, daß sie, wie Schmidt vermutet, a parte gesprochen werden, vgl. Ernst A. Schmidt: „Aparte. Das dramatische Verfahren und Senecas Technik.“ In: Rheinisches Museum N.F. 143 (2000), S. 400-429, hier: S. 413. Das spätere Gespräch mit Theseus setzt Phaedras Kenntnis über den Plan der Amme allerdings voraus. Völlig abwesend ist Phaedra also nicht, sondern wie im Verlauf der Nutrix-Rede deutlich wird, ebenso verwirrt wie aktiv damit beschäftigt, sich unter den Blicken der umstehenden athenischen Frauen Verletzungen zuzufügen (Nutrix: quid te ipsa lacerans omnium aspectus fugis, Pha. 734; omnium verweist auf die herbeigerufenen Athenae, 725): Wahrscheinlicher ist es daher, daß Phaedra, ähnlich wie Medea in der pantomimusartigen Szene Med. 380-396 (zu Seneca und dem Pantomimus vgl. unten, Kap. 3, S. 164), für eine Interaktion mit ihrer Amme zwar nicht wirklich zugänglich ist, beide Figuren aber dennoch wie bei einer Szenenreportage auf der selben Bühnenebene zu denken sind (zur Szenenreportage s. unten, Kap. 5, S. 211ff., bes. S. 212). 240
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[Nutrix] Deprensa culpa est. anime, quid segnis stupes? regeramus ipsi crimen atque ultro impiam Venerem arguamus: scelere velandum est scelus; tutissimum est inferre, cum timeas, gradum. ausae priores simus an passae nefas, secreta cum sit culpa, quis testis sciet?
Adeste, Athenae! fida famulorum manus, fer opem! nefandi raptor Hippolytus stupri instat premitque, mortis intentat metum, ferro pudicam terret – en praeceps abit ensemque trepida liquit attonitus fuga. pignus tenemus sceleris. hanc maestam prius recreate. crinis tractus et lacerae comae ut sunt remaneant, facinoris tanti notae. perferte in urbem! – Recipe iam sensus, era. quid te ipsa lacerans omnium aspectus fugis? mens impudicam facere, non casus, solet.
[Amme] Die Schuld ist aufgedeckt: Mein Herz, warum bleibst du träge? Laßt uns jenem selbst die Schuld zuschieben und die gottlose Venus nach der anderen Seite hin beschuldigen. Ein Verbrechen muß man durch ein Verbrechen verhüllen. Wenn du Furcht hast, ist es am sichersten, einen Schritt nach vorn zu gehen. Ob wir als erste den Frevel gewagt oder ihn erlitten haben, welcher Zeuge weiß das schon, da deine Schuld geheim ist? [an den Chor] Herbei, ihr Frauen aus Athen! Treue Dienerschar, bringt Hilfe! Hippolytus, Verführer in einer gottlosen Schändung, setzt ihr zu und verfolgt sie, droht mit Todesfurcht, versetzt die Keusche mit dem Schwert in Angst und Schrecken! – Da! Er macht sich auf und davon, und läßt entsetzt, in ängstlicher Furcht sein Schwert zurück! Ein Pfand des Verbrechens halten wir in Händen. Die aber, die Unglückliche, stellt wieder her! Ihr mißhandeltes Haar und ihre zerrauften Locken mögen bleiben, wie sie sind, als Indizien der gewaltigen Tat. Bringt die Nachricht in die Stadt! – Nun faß dich wieder, Herrin! Warum fügst du dir selbst Verletzungen zu und weichst den Blicken aller aus? Die Gesinnung macht dich schamlos, nicht das Unglück.
Der Plan, mit dem die Amme Phaedras Ehre retten will, basiert zunächst auf der Verleumdung des Hippolytus: Da niemand etwas von Phaedras Geständnis gegenüber ihrem Stiefsohn weiß (und auch nicht wissen soll), beschließt sie, in einer rückwirkenden Re-Interpretation des Sachverhalts,241 Hippolytus der
241
Gemeint ist das Gespräch zwischen Hippolytus und Phaedra (Pha. 589-718), in dem Phaedra ihrem Stiefsohn in einem mühsamen Wandlungsprozeß von der Rolle der Mutter zur potentiellen Geliebten ihre Liebe gesteht und dieser daraufhin das Schwert gegen sie richtet (stringatur ensis, 706), das er jedoch schon wenig später, infolge der durch die Berührung mit Phaedra entstandenen Befleckung (hic | contactus ensis deserat castum latus, 713f.), am Ort zurückläßt.
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sexuellen Nötigung zu bezichtigen. Sie zitiert die Dienerschaft herbei, ruft sie zur Zeugenschaft auf und bittet sie, die Nachricht in der Stadt zu verbreiten (Pha. 733). Um der gesteuerten Fehldeutung eine materielle Basis zu geben, verleiht sie dem von Hippolytus zurückgelassenen Schwert sowie dem desolaten körperlichen Zustand ihrer Herrin kurzerhand eine neue Bedeutung. So wie die körperliche Manifestation des Leidens, Phaedras zerraufte Haare, in ihrem Zustand belassen werden sollen, um Hippolytus’ Angriff zu dokumentieren (731f.), so soll das Schwert, mithin als Zeichen für die Vergewaltigung resemantisiert, dazu dienen, die Aussage der Amme zu beglaubigen (728-730). Nun hat Hippolytus Phaedra mit seinem Schwert zwar tatsächlich angegriffen; doch dies nicht etwa, um sie zu vergewaltigen, sondern im Gegenteil, um die von Phaedra ausgehenden Zudringlichkeiten abzuwehren. Auch der Grund dafür, daß er es neben Phaedra hat liegen lassen, ist ein anderer als der, den die Amme nahelegen will. Denn Hippolytus hat es nicht „in hastiger Flucht“ (praeceps, 728) wie ein Ertappter dort vergessen, sondern ganz bewußt von seiner Seite genommen, da er es nach der Berührung mit dem Körper Phaedras für befleckt gehalten hat.242 Das Schwert ist zwar tatsächlich ein Indiz; nicht aber ein Indiz für die Vergewaltigung der Phaedra, sondern im Gegenteil: des radikalen Reinheitsgedankens, der Hippolytus’ Leben bestimmt. Nicht nur explizit – durch den unberechtigten Vorwurf an Hippolytus, sondern auch in symbolischer Hinsicht arbeitet der Plan der Amme also mit der Umdeutung gegebener Zeichen. Was die Amme inszeniert, ist keine Veränderung des Sachverhalts. Sie fügt keine weiteren Handlungen hinzu und sie erfindet keine Geschichten, für die es keine Plausibilität gäbe – Hippolytus hat seine Stiefmutter tatsächlich an den Haaren gepackt und ihr, auch wenn er sie de facto nicht verletzt hat, mit dem Schwert gedroht. Doch sie legt den Grundstein dafür, daß den Symptomen eines überwiegend psychischen Gewaltverhältnisses – dem zurückgelassenen Schwert, den zerrissenen Haaren – eine ins Physische gewendete Deutung gegeben wird. Hippolytus’ im Zustand des Entsetzens und mit Blick auf den Reinheitsgedanken hinterlassenes Schwert wird so zu einem Angriffsinstrument umgedeutet, mit dem er auf die völlig schuldlose Phaedra losgegangen sei. Hippolytus wird also nicht nur durch verbale, explizite Hinweise an die athenische Dienerschar zum Täter deklariert (725-728). Er wird auch dazu gezwungen – und dies, ganz ohne von dem Zwang zu wissen –, sich selbst als Täter auszustellen – ein Plan, der, wie die Reaktion des Theseus später zeigen wird, auf tragische Weise in Erfüllung geht: Als Phaedra nach einer Vielzahl dunkler Andeutungen auf das Schwert hinzeigt, erkennt Theseus in dem vermeintlichen Angriffsinstrument sofort die Waffe seines Sohnes (Pha. 896-901a):
242
S. dazu unten, Kap. 5, S. 250.
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[Phaedra] hic dicet ensis quem tumultu territus liquit stuprator civium accursum timens. [Theseus] Quod facinus, heu me, cerno? quod monstrum intuor? regale parvis asperum signis ebur capulo refulget, gentis Actaeae decus. sed ipse quonam evasit?
[Phaedra] Dies Schwert hier, welches mein Vergewaltiger, erschrocken durch den Aufruhr und aus Furcht vor dem Zulauf der Bürger zurückgelassen hat, wird es erzählen. [Theseus] Was für eine Tat, oh weh mir, sehe ich? Auf welche Greuel blicke ich? Das königliche Elfenbein, am Schwertgriff rauh durch zierliche Zeichen, erglänzt, die Zierde des Aktäischen Stammes. Aber er selbst, wohin entkam er?
Die Umdeutung der Zeichen hat Erfolg: Die bekannten Konsequenzen wird Theseus ziehen, ohne eine weitere Prüfung der Vorwürfe vorzunehmen. Er wird den eigenen Sohn verfluchen und damit zum Agenten eines ihm verborgenen Plans werden, in dem er – obwohl selbst ein Opfer – die Rolle des Täters einzunehmen hat.
2.6.4 Das Opfer als (mutmaßlicher) Täter Nicht nur in der Figur des Theseus, auch in der Figur des Hippolytus werden die Grenzen zwischen Täter und Opfer auf paradoxale Weise aufgelöst: Hippolytus wird zum Opfer, indem er trotz seiner Unschuld als Täter (eines nie in dieser Weise vollzogenen Verbrechens) markiert wird. Und er hat, als Opfer seiner Stiefmutter und deren unbotmäßiger Liebe, die sichtbaren Indizien für die vermeintliche Täterschaft, wenn auch nicht willentlich, so doch aktiv bereitgestellt – das Schwert, das als Indiz benutzt wird, hatte er selbst und (aus seiner Perspektive: aus gutem Grund) an Phaedras Seite zurückgelassen. Was ihm fehlt, ist jedoch die Kenntnis über die spätere Deutung dieser Situation. Hippolytus bleibt bis zum Schluß ein seinen Deutern hilflos ausgeliefertes Objekt, das sich den verschiedenen Semantisierungen, die seinen Handlungen und Spuren widerfahren, nicht widersetzen kann. Er hat demnach auch keine Möglichkeit, die ihm auferlegte Täterschaft abzulehnen oder zu bestreiten. Während die Interpreten seiner Zeichen infolge ihrer Fehldeutungen in einen inneren Konflikt getrieben werden und psychisch oder physisch daran zugrundegehen – Theseus, der sich, entgegen der Empfehlung Phaedras243 nicht
243
Vgl. Pha. 1199f.: Theseus: Quid facere rapto debeas gnato parens, | disce a noverca: condere Acherontis plagis. Die Worte koinzidieren zeitlich mit Phaedras eigenem Selbstmord.
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töten wird, wird doch den Sohn betrauern müssen, den er als vermeintlichen Verbrecher selbst in den Tod gejagt hat; Phaedra selbst wird sich, der tragischen Folgen ihrer Strategie bewußt, ins Schwert stürzen –, wahrt Hippolytus seine moralische Integrität. Dabei muß offen bleiben, inwieweit Hippolytus auch als Täter anzusehen ist. Denn die moralische Integrität ist zwar der Auslöser für die Gewalt der Deutungen, mit denen über ihn verfügt wird. Die radikale und forcierte Konsequenz, mit der er an ihr festhält, macht ihn jedoch noch nicht im eigentlichen Sinne zu einem Täter. Weitaus deutlicher wird die Überblendung von Opfer- und Täterstatus in den Troades thematisiert, in denen es dem griechischen Heer vor Troja ja nicht nur gelingen muß, Polyxena zu opfern, sondern auch Astyanax, den Sohn von Hector und Andromacha. Erst beider Opfer kann die Rückkehr der Griechen in die Heimat sichern. Um an Astyanax, der natürlich von seiner Mutter davor bewahrt werden soll, heranzukommen, wird Ulixes von den Griechen daher darauf angesetzt, Andromacha mit einer List zur Herausgabe ihres Sohnes zu bewegen: Ulixes stellt sie vor eine dilemmatische Wahl: Sie soll entweder Astyanax herausrücken, oder Hectors Grabhügel wird geschleift. Anders als Hippolytus, der nie ein Täter war, sondern der Täterschaft lediglich bezichtigt wurde, wird Andromacha durch Ulixesʼ Machenschaften tatsächlich dazu gezwungen, selbst Täterin zu werden. Daß sie sich dabei aktiv und aus vollem Bewußtsein, wenn auch unter Zwang entscheiden muß, macht sie genau genommen zu einem Opfer ihrer eigenen Täterschaft: Denn Andromacha hat keine Wahl, ob sie zur Täterin werden will oder nicht; sie hat lediglich die Wahl, in welcher Form: Durch das Einwirken des Ulixes wird sie dem Dilemma ausgesetzt, sich zwischen zwei Varianten einer Täterschaft entscheiden zu müssen. Vorausgegangen ist ein Traumgesicht, in dem Hector seine Gattin vor der geplanten Ermordung des Astyanax warnt und sie darum bittet, den Jungen vor den Feinden in Sicherheit zu bringen (438-460). Gemeinsam mit dem Senex versteckt Andromacha daraufhin ihren Sohn in Hectors Grabhügel.244 Als Ulixes auftaucht, um Astyanax zu holen (524ff.), versucht Andromacha ihn in mehreren Trugreden von seinem Vorhaben abzubringen.245 Ihre Täuschungsversuche, in denen sie zunächst behauptet, daß ihr Sohn verschollen (556-567), dann, daß er schon tot sei (Tro. 594-597), weiß der gerissene Ulixes246 jedoch dazu zu nutzen, um genau jenen Konflikt herzustellen, der Andromacha schließlich dazu nötigen wird, an der Gewaltausübung der Griechen selbst mitzuwirken: Er zwingt Andromacha, statt des angeblich toten Sohnes die Asche ihres Gatten Hector zu
244
Vgl. die Anrede Andromachas an ihren Sohn, Tro. 498-512. Astyanax befindet sich anfangs noch auf der Bühne, bevor er 509-510a (sanctas parentis conditi sedes age | aude subire) die Bühne verläßt, um sich zu verstecken, s. unten, Anm. 531. 245 S. dazu unten, Kap. 5, S. 258. 246 Vgl. dazu die der strategischen Wende des Ulixes vorausgehende Selbstanrede nunc advoca astus, anime, nunc fraudes, dolos | nunc totum Ulixen (Tro. 613-614a).
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opfern (634-641) und stürzt sie mit der Drohung, das Grabmal zu schleifen, in das Dilemma, sich zwischen der Preisgabe des eigenen Sohnes und der Schändung des Grabmals (also zwischen der Verletzung entweder physischer oder kulturell-religiöser Integrität) entscheiden zu müssen.247 Das Gespräch zwischen Ulixes und Andromacha in den Troades (524-813) ist jedoch nicht zuletzt ein gutes Beispiel für die Wirkung strukturell bedingter Gewalt. Denn Ulixes tritt nicht etwa als Privatperson, sondern im Auftrag des griechischen Heeres auf, dessen Weisung sich wiederum auf den Willen der Götter berufen kann. Auf die Verantwortungsbereiche, in deren Kontext der von ihm vorgetragene Beschluß entstanden ist, weist Ulixes gleich zu Beginn seines Auftritts: Er vertritt (1.) nicht seine individuelle Position, sondern die Position der Griechen, während er selbst nur als Übermittler des Schicksals fungiert (Tro. 524-528a): Durae minister sortis hoc primum peto, ut, ore quamvis verba dicantur meo, non esse credas nostra: Graiorum omnium procerumque vox est, petere quos seras domos Hectorea suboles prohibet[.]
Als Diener eines harten Loses bitte ich dich um dies zuerst, daß du, auch wenn die Worte aus meinem Munde kommen, nicht glaubst, sie seien meine. Es ist die Stimme aller Griechen und ihrer Anführer, die der Nachkomme des Hector daran hindert, ihre Heimat, wenn auch spät, zu erreichen.
Er folgt (2.) einem nicht menschlichen, sondern göttlichen Willen (Tro. 528b):248 hanc [sc. Hectorea suboles, i.e. Astyanax] fata expetunt
Den hier [sc. Astyanax] Schicksalssprüche.
fordern die
Vgl. Andromachas Selbstgespräch, Tro. 642-662, hier 642-644a: Quid agimus? animum distrahit geminus timor: | hinc natus, illinc coniugis sacri cinis. | pars utra vincet?. Wie aus ihrer Rede an Astyanax hervorgeht, betrachtet Andromacha den tumulus geradezu als Stellvertreter für ihren Gatten, Tro. 507-508a: en intuere, turba quae simus super: | tumulus, puer, captiva. Daß sie das Leben des Sohnes gegen die Ehre des Mannes abzuwägen hat, führt denn auch dazu, daß sie sich die Frage stellt, wen von beiden sie mehr liebt und wer den Griechen besser schaden kann, und sich auf die von Ulixes lancierte Kosten-Nutzen-Rechnung einläßt (vgl. Tro. 642-662). Erst ihre weiteren Überlegungen – die Schleifung des Grabhügels ginge auch aus Sicht der Griechen über jede Zweck-Mittel-Relation hinaus und würde demnach eine reine Destruktionstat bedeuten; der Tod des darin verborgenen Astyanax läßt sich in beiden Fällen nicht vermeiden (Tro. 686ff.) – können schließlich verhindern, daß sich Andromacha auf die geforderte Entscheidung tatsächlich einläßt. 248 Vgl. auch das Argument, mit dem Ulixes Andromachas Bitte ausschlägt, Astyanax doch, statt ihn zu morden, zu versklaven: Non hoc Ulixes, sed negat Calchas tibi, 749. 247
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Und er steht (3.) unter dem strategischen, aber auch religiösen Zwang, den Frieden, eine religiös-politische Notwendigkeit, sichern zu müssen: Erst wenn der letzte Rächer der Troer beseitigt ist, können die Griechen dem „Frieden“ (529) vertrauen (Tro. 529-533):249 sollicita Danaos pacis incertae fides semper tenebit, semper a tergo timor respicere coget arma nec poni sinet, dum Phrygibus animos natus eversis dabit, Andromacha, vester. augur haec Calchas canit ;250 et, si taceret augur haec Calchas, tamen dicebat Hector, cuius et stirpem horreo.
Die quälende Gewissheit eines unsicheren Friedens wird die Danaer immer im Bann halten, immer wird die Angst in ihrem Nacken sie dazu zwingen, zurückzuschauen und die Waffen nicht niederzulegen, solange euer Sohn, Andromacha, den gestürzten Phrygern Mut einflößt. Dies sagt der Seher, Kalchas. Und wenn Kalchas dies verschweigen würde, dann sagte es dennoch Hektor; auch dessen Nachkommen fürchte ich.
Für Andromacha bedeutet die Argumentation nicht nur, daß sie ihre eigene Lage aus der Perspektive der Sieger betrachten, ihre troische Identität hintanstellen und von der Siegermacht letztendlich ideologisch vereinnahmt werden soll. Indem Ulixes seine Position entindividualisiert und sich zum Sprachrohr einer höheren Ordnung251 deklariert, zwingt er sie auch, die Ermordung ihres Sohnes aus der Täterperspektive zu befürworten. Schließlich, und dies ist die Krönung seiner Argumentation, macht er in einer cleveren Verdrehung von dessen Ruhm sogar Hector selbst zu einem Agenten ihres Unglücks. Während die physische Destruktion der Polyxena und des Astyanax ihren Schrecken verlieren wird – beide werden den Tod heroisch und aus scheinbar freien Stücken auf sich nehmen –, wird die eigentliche Gewalt, wie sie im Zentrum des Stückes steht, in Form von psychischer Gewalt geübt: Für beide
Vgl. dazu auch Tro. 550bf.: Ulixes: magna res Danaos movet, | futurus Hector: libera Graios metu. 250 Der zweite Halbvers, 533b, wird in den Handschriften E und A der Andromacha zugewiesen. In diesem Falle wäre er als eine (Nach-)Frage zu verstehen. 251 Sabine Föllinger: „Die Gestalt des Odysseus in Senecas Troades“. In: Seneca: philosophus et magister. Hrsg. von Thomas Baier/ Gesine Manuwald/ Bernhard Zimmermann. Freiburg 2005, S. 105-115, stellt die Kehrseite dieser Charakterisierung heraus: Odysseus zeichnet sich nicht nur durch seinen Intellekt aus (bzw. die Anerkennung dessen, was hier als „kulturelle Gewalt“ beschrieben wird), sondern auch durch die bedingungslose Loyalität eines Befehlsempfängers. Auf die infolge ihrer Stellung am Kaiserhof loyal agierenden Zeitgenossen bezogen, gewinnt diese Figurenzeichnung politische Dimensionen. Politische Dimensionen hebt auch Meinolf Vielberg: „Necessitas in Senecas Troades“. In: Philologus 138 (1994), S. 315-334, hervor. 249
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Tötungsakte gilt, daß sie mittels Ausübung von psychischer Gewalt von langer Hand vorbereitet werden,252 und der Raum, der den entsprechenden Szenen in den Tragödien geschenkt wird, weitaus größer ist als die Darstellung der an den betreffenden Figuren verübten physischen Gewalt. Das close reading der hier behandelten Passagen zeigt zunächst einmal, daß auch die Thematisierung physischer Gewalt in die Darstellung ihrer durch psychische oder strukturelle Gewalt bestimmten Kontexte eingebettet ist. Hinzu kommt jedoch, daß neben dem, was auf der Bühne dargestellt wird, oftmals noch eine zweite Ebene angelegt ist, die für den Rezipienten zwar nicht sicht- und auch nicht hörbar ist, für die Erfahrung (und Beurteilung) der physischen Gewaltakte jedoch konstitutiv ist. Dazu zuletzt ein Beispiel aus der Phaedra, das zugleich auf die im 5. Kapitel untersuchten poetischen Verfahren der Ästhetisierung und deren Wirkung auf den Zuschauer vorausweisen soll: Die Gewalt, von der der Bote in der Phaedra berichtet (Pha. 991-1114a), die Zerstückelung des Hippolytus, hat ihren Ausgangspunkt und Kern nicht etwa in dem grauenvollen Auftauchen des Stieres oder dem Zerreißen der Glieder,253 sondern in Phaedras Schweigen, einem Verhalten, dem in der Konzeption des Stücks infolge dessen eine hohe Bedeutung zukommt. Die Szene selbst jedoch, in der dem Zuschauer dies Schweigen präsentiert wird, gestaltet sich als ein nahezu gewaltfreies Geschehen, nämlich das Gespräch zweier Eheleute, in dem sich der heimkehrende Gatte beinahe rührend um seine aufgelöste Gattin sorgt. Daß Phaedras Schweigen nicht nur eine Form der psychischen Gewalt, sondern auch der Auslöser für die von Theseus angedrohte bzw. initiierte physische Gewalt gegen die Amme bzw. gegen seinen Sohn Hippolytus ist, weiß zum Zeitpunkt des Gesprächs keine der beteiligten dramatis personae (auch Phaedra ist sich dessen nicht bewußt). Erfassen kann es nur der Zuschauer, der aufgrund seines souveränen Wissens die Tragweite der Szene erahnt. Die Erfahrung, die die Szene auslöst, speist sich demnach nicht ausschließlich durch das, was dem Zuschauer auf der Bühne durch Worte und Handlungen präsentiert wird, sondern auch durch die inneren Bilder, die ihm in der Erinnerung an das Komplott der Amme, über das er durch die vorausgehende Bühnenhandlung in Kenntnis gesetzt ist, bzw. in der Vorausahnung der physischen Gewaltakte vor seinem inneren Auge entstehen und die ihn in der Szene nicht den Retter Theseus, sondern das Opfer einer Destruktionshandlung erkennen lassen. Die Leistung, die Seneca dem Rezipienten der Tragödie bei der Erfassung beider Ebenen und
252
Die Gewaltakte werden durch das genannte Gespräch zwischen Andromacha und Ulixes (Astyanax) bzw. die Trugrede der Helena (Polyxena) vorbereitet. Zu der Trugrede, mit der Helena, selbst ein Opfer dieser Tat, die Opferung der Polyxena in die Wege leitet, s. oben, Anm. 163, sowie unten, Kap. 5, S. 268. 253 Hier ist zwischen dem Grauenvollen oder Grausamen, wie es Fuhrmann: „Grausige und ekelhafte Motive in lateinischer Literatur“ [wie Anm. 23] untersucht hat, und dem Begriff der Gewalt zu unterscheiden.
2 Die Thematisierung von Gewalt in den Tragödien
127
bei der Herstellung des eigentlichen ʻTextesʼ abverlangt, impliziert damit eine Kritik an der rein sinnlichen Erfahrung einerseits bzw. der rein kognitiven Erfahrung andererseits. Senecas Anspruch, beide Erfahrungsformen miteinander zu verbinden, steht dabei nicht zuletzt im Kontext der zeitgenössischen Theaterpraxis und wahrnehmungstheoretischen Überlegungen, wie ich sie daher im folgenden Kapitel in den Blick nehmen will.
3
Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Senecas Tragödien
Im folgenden Kapitel soll kurz auf das praktische und theoretische Umfeld eingegangen werden, in dem die Tragödien entstanden sind – und auf das sie in ihren Verfahren der Ästhetisierung, wie zu vermuten ist, reagieren. Mit den Entgrenzungen von Kunst, ästhetischer und außerästhetischer Lebenswelt, wie sie sich in der Kaiserzeit manifestierten, waren auch die Grenzen zwischen politisch-realen Handlungsvollzügen einerseits und dem, was wir im Sinne einer nach-kantischen Ästhetik einem ,Sonderbereich Kunst‘ zuweisen würden, nicht mehr deutlich voneinander zu scheiden. Im Kontext einer Theaterpraxis, in der die Grenzen zwischen den Rollen der Zuschauer und der Akteure zuweilen fließend waren, war eine Kunst, die sich von diesen Handlungsvollzügen frei sehen wollte, darauf angewiesen, die Verweise auf ihre Artifizialität sowie die Differenzen zwischen fiktivem Bühnengeschehen und realer Betrachtung deutlich stärker zu markieren als in der attischen Tragödie. Die Senecanischen Tragödien entstehen zudem in einer Zeit, in der neben der „Theatralisierung“254 (ich würde eher sagen: Ästhetisierung) der Lebenswelten auch die Rhetorisierung ein wesentlicher Teil der Produktionsbedingungen ist. Der großen Bedeutung, die der Sprache in diesem Zusammenhang zukommt, steht im theatralen Bereich eine Aufführungspraxis entgegen, die mit ihrem Starkult,255 der Konzentration auf Körperlich- und Bildlichkeit sowie Musik256 gerade die Sprache in ihrer Bedeutung zurückdrängt. Die Veränderungen der Aufführungspraxis (mit ihrer Präferenz für Pantomimus und Mimus257 und der allmählich zum Erliegen
254
Hierzu Shadi Bartsch: Actors in the Audience. Theatricality and Doublespeak from Nero to Hadrian. Cambridge, Mass. 1994. 255 Vgl. hierzu Otto Weinreich: Epigramm und Pantomimus. Heidelberg 1948; Antje Wessels: Niet echt? – net echt! Grenzeloze kunst op het Romeinse toneel. Leiden 2013, S. 10-15. 256 Vgl. hierzu Wolf-Lüder Liebermann: „Musikalische Elemente als Mittel poetischer Gestaltung in antiker Dichtung“. In: Musik und Dichtung. Hrsg. von Michael von Albrecht und Werner Schubert. Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 63-86. 257 Zum Mimus grundlegend: Helmut Wiemken: Der griechische Mimus. Aufführungspraxis der griechischen Mimen in der Kaiserzeit (Diss. Göttingen 1951). Bremen 1972; Rudolf Rieks: „Mimus und Atellane“. In: Das römische Drama. Hrsg. von Eckard Lefèvre. Darmstadt 1978, S. 348-377, bes. 361-368, und Ernst Wüst: „Mimos“. In: RE 15.2 (1932), Sp. 1727-1764. Zusammenstellung der Fragmente und Zeugnisse bei Mario Bonaria: Romani Mimi. Rom 1965 (= Poetarum Latinorum Reliquiae, Bd. 6.2). Vgl.
130
3 Produktions- und Rezeptionsbedingungen
kommenden Tragödienproduktion)258 zeigen, daß in inhaltlicher wie formaler Hinsicht die Sprache im Bereich des Theatralen ihre repräsentativen bzw. performativen Funktionen einbüßt. Ihren Niederschlag finden diese Veränderungen nicht nur in dem geringen Ausmaß an zeitgenössischer dramatischer Produktion, sondern auch im Umgang mit bereits etablierten Texten; statt ganzer Stücke werden verstärkt einzelne Szenen (auch aus griechischsprachigen Dramen) aufgeführt, an die Stelle der Inhalte und Reflexionen ihrer Stoffe tritt als primäres Interesse die sinnlich-körperlich, häufig auch musikalisch umgesetzte Darstellung. Was die Sprache (und hier vor allem die rhetorische Sprache) gerade mit Blick auf die Bildproduktion und die sinnliche Erfahrung leisten kann und welche Rolle vice versa der Bild- und Sinnlichkeit im Akt der Reflexion zukommt, zeigen jedoch die in der philosophischen, rhetorischen sowie literaturtheoretischen Tradition geführten Diskussionen zur phantasía und enárgeia, die insofern für die Beurteilung von Senecas Ästhetisierungsstrategien wichtig sind, als auch in den Tragödien die beiden scheinbaren Extreme: eine rhetorisch extrem durchgefeilte Sprache einerseits und eine stark visuelle Präsenz andererseits in einer essentiellen Weise zusammentreffen. Beide Aspekte: die Entgrenzung der ʻLebensbereicheʼ inklusive ihrer Bedeutung für die Aufführungspraxis sowie die theoretischen Reflexionen zum Verhältnis von Sinneswahrnehmung und Erkenntnisprozeß sollen daher im Folgenden kurz
ferner: Werner Weismann: „Antiquarisches Interesse für den Mimus und Pantomimus“. In: Theater, Theaterpraxis, Theaterkritik im kaiserzeitlichen Rom. Kolloquium anlässlich des 70. Geburtstages von Prof. Dr. Peter Lebrecht Schmidt, 24./25. Juli 2003, Universität Konstanz. Hrsg. von Joachim Fugmann/ Markus Janka u.a. München 2004, S. 175-192. Werner A. Krenkel: Caesar und der Mimus des Laberius. Göttingen 1994. Zum Hintantreten des sprachlichen Aspekts zugunsten des Visuellen im zweiten nachchristlichen Jahrhundert s. Bruno Zucchelli: „Mimus halucinatur … Il teatrospettacolo del II secolo“. In: Storia letteratura e arte a Roma nel secondo secolo dopo Cristo. Florenz 1995 (= Atti del convegno: Mantova 8-9-10 ottobre 1992), S. 295-319. 258 Die Produktion dramatischer Dichtung (Tragödien) ging nach L. Accius im wesentlichen zuende. Der Versuch einer Wiederbelebung in augusteischer Zeit blieb ohne Erfolg, auch weil es Usus wurde, ältere Dramen aufzuführen oder zu rezitieren, und die dramatische Produktion dadurch gelähmt wurde (vgl. Hor. epist. 2, 1, 60). Vgl. hierzu die Ausführungen von Jürgen Blänsdorf: „Einführung: Theater und Gesellschaft im Imperium Romanum“. In: Theater und Gesellschaft im Imperium Romanum. Hrsg. von Jürgen Blänsdorf. Tübingen 1990. (Mainzer Forschungen zum Drama und Theater, Bd. 4), S. 718, bes. S. 8f. Vgl. ferner Sander M. Goldberg: „The Fall and Rise of Roman Tragedy“. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 126 (1996), S. 265-286. Henry A. Kelly: „Tragedy and the Performance of Tragedy in later Roman Antiquity“. In: Traditio 35 (1979), S. 21-42. Boris Warnecke: „Gebärdenspiel und Mimik der römischen Schauspieler“. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 25 (1910), S. 580-594. Materialien bei Ilona Opelt: „Das Drama der Kaiserzeit“. In: Das römische Drama. Hrsg. von Eckard Lefèvre. Darmstadt 1978, S. 427-457.
3 Produktions- und Rezeptionsbedingungen
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skizziert werden, bevor im Anschluß daran noch einmal ein Blick auf die Diskussionen zu der Frage geworfen wird, ob Senecas Tragödien zur Aufführung bestimmt bzw. aufführbar waren.
3.1
Zur zeitgenössischen Aufführungspraxis und ihren Entgrenzungstendenzen
Das Theater war schon durch seine institutionellen Rahmenbedingungen vom Beginn seiner römischen Geschichte an kein unpolitischer oder gar autonomer Ort.259 Die von den Magistraten organisierten Theateraufführungen waren vielmehr fester Bestandteil des römischen Festkalenders260 und damit Teil einer symbolisch hoch aufgeladenen Zeremonie, deren Impetus ein nicht nur religiöser, sondern auch genuin politischer war.261 Angesichts der äußeren Expansion und der wachsenden sozialen Distanz im Inneren hatten die ludi schon in früher Zeit der Stabilisierung einer römischen Identität sowie der Herstellung eines sozialen Konsenses gedient und fungierten zudem als ein sozialer Ort der direkten Kommunikation zwischen Aristokratie und Plebs, zwischen Herrschenden und Beherrschten. Die politische Kommunikation verlief dabei auf zwei Ebenen: Zum einen als direkte Kommunikation zwischen den in der cavea versammelten Zuschauergruppen – so war es üblich, Senatoren beim Betreten des Theaters auszupfeifen oder zu bejubeln oder auch gegenüber einzelnen Senatsbeschlüssen Zustimmung oder Ablehnung zu bekunden (eine Gepflogenheit, die wiederum so mancher Politiker als Beliebtheitsbarometer nutzte262). Zum anderen über die Interaktionsachse zwischen Bühnenraum und Publikum – so etwa wenn sich während einer Aufführung eine bestimmte
259
Die folgenden Ausführungen gehen zurück auf meinen Betrag Theater und Realität in der römischen Kaiserzeit [wie Anm. 7]. 260 Hierzu gehören die (seit 366 v. Chr. gefeierten) ludi Romani, die (238 v. Chr. gegründeten und seit 173 v. Chr. jährlich gefeierten) ludi Florales und die ludi Plebeii (gegründet 220 v. Chr.), die (aufgrund eines Augur-Spruchs nach der Schlacht bei Cannae 212 v. Chr. gegründeten) ludi Apollinares sowie die ludi Megalenses (gegründet 204 v. Chr.). Hinzu kamen die Cerales sowie die außerordentlichen, zu speziellen Anlässen ausgerichteten ludi (die ludi votivi bzw. ex voto oder die zu Ehren berühmter Verstorbener veranstalteten ludi funebres). S. dazu Jürgen Blänsdorf: „Voraussetzungen und Entstehung der römischen Komödie“ [Kap. III.1: „Die Organisation des Theaterwesens. Die Festspiele (ludi)“]. In: Lefèvre (Hrsg.): Das römische Drama [wie Anm. 257], S. 112-116. 261 S. hierzu die ausführliche Analyse von Egon Flaig: Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom. Göttingen 2003, Kap. 11: „ʻSpieleʼ und politische Integration“, S. 232-260. 262 Cic. Att. 2, 19, 3; ad. fam 8, 2, 1. S. dazu ausführlich Flaig: Ritualisierte Politik [wie Anm. 261], S. 237-239.
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3 Produktions- und Rezeptionsbedingungen
Textpassage als Kommentar auf die zeitgenössische Politik umdeuten ließ263 und die Zuschauer daraufhin laut zu klatschen, zu klagen oder von den Schauspielern zu fordern begannen, die Verse noch einmal zu wiederholen. Wie sehr Ästhetisches und Politisch-Reales schon im Vorfeld ineinandergeschmolzen waren, zeigt schließlich die gelegentlich festzustellende Auflösung der gemeinhin erwarteten Differenz zwischen dem phänomenalen und dem semiotischen Körper des Schauspielers, also zwischen dem zeichengebenden Schauspieler und dem Schauspieler als Zeichenträger:264 So zeigte der Schauspieler Aesopus keine Hemmung, bei der Wiederaufführung einer altlateinischen Tragödie die Gelegenheit zu ergreifen, das Stück für ein Plädoyer für den verbannten Cicero zu nutzen.265 Die politische Bedeutung der einzelnen Aufführungen ergab sich, ebenso wie deren besonderer Präsenzcharakter,266 insbesondere dadurch, daß das aktuelle tagespolitische Geschehen einerseits in die Aufführungen hineingetragen, andererseits zu großen Teilen von den die einzelnen Aufführungen konstituierenden Ereignissen bestimmt wurde. Alles in allem: Die Spiele trugen, wie Paul Veyne und in jüngerer Zeit ausführlich Egon Flaig gezeigt hat, weniger zur Ablenkung als zur Politisierung des Volkes bei.267 In der Kaiserzeit nun wird die kommunikative Funktion, wie sie das Theater bis dahin innegehabt hatte, zunehmend dazu mißbraucht, Rahmen und Inhalte
263
Cic. Sest. 115-123, hier: 122; Att. 2, 19, 3. Zu dieser Form des aktiven Zuschauerverhaltens hat sicher nicht zuletzt die Tatsache beigetragen, daß sich die Zuschauer, da der Theaterraum nicht verdunkelt war, wechselseitig beobachten und in ihren Reaktionen bestärken konnten. 264 Zum Begriff s. Erika Fischer-Lichte: „Einleitung. Theatralität als kulturelles Modell“. In: Dies., Christian Horn, Sandra Umathum und Matthias Warstat (Hrsg.): Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften. Tübingen/ Basel 2004 (= Theatralität, Bd. 6), S. 1822. 265 Um welches Stück es sich handelte (möglicherweise eine Wiederaufführung von Accius’ Eurysaces?), ist unklar. Daß der Vorfall ausgerechnet durch Cicero überliefert ist (Sest. 122: sed tamen illud scripsit disertissimus poeta pro me, egit fortissimus actor, non solum optumus, de me, cum omnes ordines demonstraret, senatum, equites Romanos, universum populum Romanum accusaret: exulare sinitis, sistis pelli, pulsum patimini), mag als ein schlechtes Argument für seine Authentizität erscheinen. Doch hätte Cicero gegenüber seinen Hörern wohl kaum glaubwürdig erscheinen können, wenn er mehr als nur übertrieben hätte. 266 Zum Begriff der Präsenz vgl. grundlegend: Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004, bes. das sechste Kapitel: „Die Aufführung als Ereignis“ (S. 281-314). 267 Paul Veyne: Le Pain et le Cirque. Sociologie historique d’un pluralisme politique. Paris 1976, S. 84-94; Flaig: Ritualisierte Politik [wie Anm. 261], S. 232ff., hier: S. 234: „Die ,Spiele‘ entpolitisierten das Volk keineswegs, sie politisierten es.“
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der Aufführungen268 für die Repräsentation von politischer und militärischer Macht zu funktionalisieren. War schon mit dem Bau des ersten Steintheaters,269 das Pompeius 55 v. Chr. in Rom hatte errichten lassen, die repräsentative Funktion des Theaters architektonisch gefestigt worden – Pompeius benutzte das Gebäude für die prunkvolle Darstellung seiner militärischen Erfolge und schmückte den Theaterkomplex darüber hinaus zum Andenken seiner Siege mit einem Tempel der Venus Victrix –, so wird das Theater im ersten nachchristlichen Jahrhundert mit den Konventionen des Herrscherkults und der Präsenz des Kaisers zu einem politischen Instrument der Machthaber. Von seiten des Hofes wird es zur Verbreitung kaiserlicher Propaganda, von seiten der Munizipialmagistrate als Forum für Panegyrik und damit zur Gewinnung der
268
Vgl. etwa Ciceros indignierten Bericht darüber, daß Pompeius in die Festaufführung von Naevius’ Equos Troianus und Accius’ Clytemestra seinen eigenen Triumphzug einblendete (Cic. ad fam. 7, 1, 2), oder Suet. Iul. 84, über die an Caesars Leichenspielen aufgeführten Stücke aus Pacuvius’ Armorum iudicium und Atilius’ Electra, die man zu Anspielungen auf den Tod des Diktators umformuliert (accomodata) hatte. Mit der Funktionalisierung der Bühne als politischer Kommunikationsraum erhöhte sich spätestens in augusteischer Zeit auch der Inszenierungsaufwand – eine Entwicklung, die nicht nur positiv beurteilt wurde. Bezeichnend ist Horaz’ Kritik an der zeitgenössischen Theaterpraxis (Hor. epist. 2, 1, 188-200), die ganze Reiterscharen und Elefantenhorden mit einem Riesengetöse über die Bühne jage, während die Dichter ihre Geschichten „tauben Eseln“ erzählten; 188 spricht Horaz davon, daß sich das Vergnügen am Drama ad incertos oculos et gaudia vana, also (von den Ohren) zu den „unstet schweifenden Augen und nichtigem, inhaltslosem Genuß“, verlagert habe, vgl. zu dieser Stelle Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas, Bd.1: Das Theater der Antike und des Mittelalters. Salzburg 1957, S. 203) – ein Urteil, das zwar auch jenen Kritikern vorarbeitet, die in der Bild- und Körperlichkeit des Theaters eine Konkurrenz für die kognitive Verarbeitung von Wirklichkeit und das Wirkungspotential der bonae artes sehen wollen (hierzu unten, Anm. 388, zum antitheatralen Diskurs), jedoch insofern nicht unberechtigt ist, als die zum Pomp gesteigerte bildliche Vermittlung zunehmend dazu dienen wird, den Theaterbetrieb massenwirksam mit politischer Selbstdarstellung zu verbinden. 269 In den Anfängen der Theaterkultur (und gelegentlich auch später noch) war es üblich, die Aufführungen auf provisorisch errichteten Holzbühnen stattfinden zu lassen. Die Holzbühne ließ sich leicht an jedem Ort, wo man sie brauchte, im Circus, am Tempel etc. errichten, wobei sich das Publikum während der Vorstellung um die Schauspieler sitzend oder stehend herumdrängte (vgl. hierzu Antje Wessels: „Expositionen bei Plautus“, in: Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik. Hrsg. von Andrea Polaschegg/ Claude Haas. Freiburg 2012, S. 59-74.). Zur Architektur der (festen) römischen Bühne s. grundlegend: Margarete Bieber: The History of the Greek and Roman Theater. London 1961; Frank Sear: Roman Theatres. An Architectural Study. Oxford 2006; In scaena: Il teatro di Roma antica. Hrsg. von Nicola Savarese. Mailand 2007; Theatra et spectacula. Les grands monuments des jeux dans l'antiquité. Hrsg. von Michael E. Fuchs/ Benoît Dubosson. Lausanne 2011 (= Etudes des lettres, Bd. 288).
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kaiserlichen Gunst genutzt.270 Zwar macht sich das Volk die Anwesenheit des Kaisers gerne zunutze, um politischen Dissens anzumelden. Die im Rahmen der licentia theatralis271 erhobenen sozialpolitischen Forderungen272 und die (spontanen oder geplanten) Demonstrationen, die das Publikum veranstaltet, um seiner Abneigung gegenüber der herrschenden Macht Ausdruck zu verleihen,273 befriedigen freilich allenfalls die Bedürfnisse des kaiserlichen Machtapparats, dem es um nichts anderes zu tun ist, als das Volk durch einen Anschein von Freiheit für sich zu gewinnen und die soziale Ordnung auf diese Weise zu festigen.274 Das Theater wird damit endgültig zu einem Ort, in dem Politik nicht nur kommentiert,275 sondern in erster Linie gemacht wird.276
270
Tac. ann. 4, 2, 3; 12, 3, 2; 12, 41, 2. S. dazu Blänsdorf: „Einführung: Theater und Gesellschaft im Imperium Romanum“ [wie Anm. 258], S. 14; Jürgen Deininger: „Brot und Spiele. Tacitus und die Entpolitisierung der plebs urbana. In: Gymnasium 86 (1979), S. 287. Plin. paneg. 34, 1 beklagt sich schließlich darüber, daß die Schauspieler unter Trajans Vorgängern dem Kaiser so erbärmlich schmeichelten wie die Senatoren in der curia. 271 Tac. hist. 1, 72, 4. Zur licentia theatralis s. Traugott Bollinger: Theatralis licentia. Die Publikumsdemonstrationen an den öffentlichen Spielen im Rom der früheren Kaiserzeit und ihre Bedeutung im politischen Leben. Winterthur 1969. 272 Vgl. die bei Dio Cass. 59, 13, und Flav. Jos. ant. Jud. 19, 24 erwähnten Petitionen zur Zeit Caligulas. Ferner: Tac. ann. 6, 13, 1; hist. 1, 72, 3, Suet. Dom. 13. Vgl. dazu auch Deininger: „Brot und Spiele“” [wie Anm. 270], S. 287. 273 Dieser Politisierung des Theaters entsprach auch die 194 v. Chr. eingeführte Regel, den Senatoren gesonderte Plätze zuzuweisen, die Augustus dahingehend erweiterte, daß er die Theaterbesucher nach Alter, Geschlecht und sozialem Stand getrennt sitzen ließ (zu letzterem s. Suet. Aug. 44): Indem die Anordnung der Zuschauer die sozial-politische Struktur repräsentierte, bedeutete die cavea eine beständige Anregung zum sozialen Aufstieg. S. dazu Jean Marie André: „Die Zuschauerschaft als sozial-politischer Mikrokosmos zur Zeit des Hochprinzipats“. In: Blänsdorf (Hrsg.): Theater und Gesellschaft im Imperium Romanum [wie Anm. 128], S. 165-173. 274 Vgl. Tac. ann. 1, 77, 1; 11, 13, 1; 13, 24, 1. 275 Das Thematisieren von politisch relevanten Inhalten war vor allem von der Tragödie ausgegangen. So diente die praetexta (die auf römische historische Stoffe zurückgreifende Tragödie) einer bis zur Panegyrik gesteigerten Dramatisierung von historischen, für das römische Selbstverständnis bedeutsamen Ereignissen. Daß auch die eine Generation zuvor, 240 v. Chr., eingeführte crepidata (die auf mythische Stoffe zurückgreifende Tragödie) versucht hat, durch die Wahl ihrer mythischen Stoffe auf die nationale Identitätsbildung und die Propagierung spezifisch römischer Werte hinzuwirken, läßt sich aufgrund der äußerst dünnen, meist auf wenige Fragmente, zuweilen sogar lediglich auf die Titel beschränkten Überlieferung allenfalls vermuten. Deutlich ist jedoch, daß die Entscheidung der kurulischen Ädilen, für die ludi Romani 240 v. Chr. die lateinische Fassung eines griechischen Dramas (Tragödie oder Komödie) in Auftrag zu geben, einen kulturpolitischen Hintergrund hatte (vgl. hierzu Gesine Manuwald: Roman Republican Theatre. Cambridge 2011, S. 135-137). 276 Vgl. dazu Kindermann: Theatergeschichte Europas [wie Anm. 40], S. 130f.
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Gelegentliche Auswirkungen zeitigte diese Entwicklung schließlich auch hinsichtlich der Einstellung gegenüber den Inhalten der zur Aufführung gebrachten Textgrundlagen – zu denken ist hier an die rezipientenseitige Politisierung von Bühnentexten, die die Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks a priori auf die (bevorzugt: mythische) Codierung der politischen Wirklichkeit reduziert (wie das etwa der in der Geschichtsschreibung mehrfach berichteten Praxis zugrunde liegt, Autoren gegebenenfalls wie Hochverräter mit Tod oder Exil zu bestrafen277) – sowie, im Bereich der Aufführung selbst, hinsichtlich der Bedeutung, die zuweilen dem Auftritt als Schauspieler zugekommen ist: So zeigt die von Nero vorgenommene Nötigung finanziell sanierungsbedürftiger Bürger, sich gegen entsprechendes Entgelt durch einen Auftritt als Schauspieler öffentlich zu entehren,278 eine ebenso große Bereitschaft, die Aufführung selbst in einen politischen Akt zu wandeln, wie sie wohl auch die von Sueton zur Veranschaulichung der kaiserlichen Hemmungslosigkeit angeführte Anekdote durchblicken lassen möchte, Nero habe während seiner eigenen Auftritte279 alle Ausgänge sperren lassen, so daß sich hochschwangere Frauen genötigt sahen,
277
Suet. Tib. 61, 3. Vgl. auch Tac. ann. 3, 49ff.; ebd. 4, 34ff. (über die Verbrennung der Bücher des Cremutius Cordus im Jahre 25 n. Chr.), ebd. 6, 29, 3f.; Dio Cass. 57, 22, 5 und 58, 24, 3 über Aemilius Scaurus, der von Tiberius, da sich Verse seiner Atreus-Tragödie auf den Kaiser beziehen ließen, mit den Worten „Bin ich Atreus, so werde ich ihn zum Aias machen“, zum Selbstmord getrieben wird; Suet. Cal. 27, 4 über Caligula, der einen Atellanendichter wegen eines Scherzes noch auf der Bühne verbrennen läßt, Suet. Nero 39, 3 über Nero, der den Atellanendichter Datus wegen einer Anspielung auf den Muttermord in die Verbannung schickt; Sen. Rhet. contr. 10, pref. 3 und 5ff. 278 Tac. ann. 14, 14, 3f: [Nero] notos quoque equites Romanos operas arenae promittere subegit donis ingentibus, nisi quod merces ab eo, qui iubere potest, vim necessitatis adfert, und ebd. 14, 20.4: principe et senatu auctoribus [...] vim adhibeant, ut proceres Romani specie orationum et carminum scaena polluantur. Vgl. auch Iuvenals Spott über Mitglieder vornehmer Familien, die sich freiwillig als Schauspieler verdingen und angesichts der Ehrlosigkeit dieses Berufsstandes ihren moralischen Untergang in Kauf genommen haben (Iuv. sat. 8, 189-199, bes. 198f.: res haut mira tamen citharoedo principe mimus nobilis). Zum sozialen Status des Schauspielers siehe Michele Ducos: „La condition des acteurs à Rome. Données juridiques et sociales“. In: Blänsdorf (Hrsg.): Theater und Gesellschaft im Imperium Romanum [wie Anm. 258], S. 11-33. Tenney Frank: „The Status of Actors at Rome“. In: Classical Philology 26 (1931), S. 11-20. Abel H. J. Greenidge: Infamia. Oxford 1894 (Nachdruck: Aalen 1977). Max Kaser: „Infamia und ignominia in den römischen Rechtsquellen“. In: ZRG 73 (1956), 220-278. Zum geringen sozialen Ansehen des Schauspielers s. Catharine Edwards: „Beware of Imitations: Theatre and the Subversion of Imperial Identiy“. In: Mattingly, Potter (Hrsg.): Life, Death, and Entertainment in the Roman Empire [wie Anm. 44], S. 83-97. 279 Zu Nero als Kitharöden s. Bartsch: Actors in the Audience [wie Anm. 254], S. 36-62 (= Kap. 2: „The Invasion of the Stage: Nero Tragoedus“), und Timothy Power: The Culture of Kitharodia. Cambrige, Mass. 2006 (= Hellenic Studies, Bd. 15), S. 90-103; 148-152.
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ihre Kinder im Theater zur Welt zu bringen, und manchem des Lobens müde gewordenen Zuschauer nichts anderes übrig blieb als über die Mauern zu springen oder sich in einem Pseudobegräbnis hinaustragen zu lassen.280 Daß sich zwischen dem Schauspieler als Medium und dem Schauspieler als realem Wesen in dem einen wie anderen Fall nicht mehr trennen läßt, ist nur die letzte Konsequenz einer tief verinnerlichten Haltung, die zwischen ästhetischer und außerästhetischer, politischer Wirklichkeit nicht mehr zu differenzieren weiß.281 Als einen geschützten Raum, in dem sich der Zuschauer aufgrund bestimmter Spielregeln, etwa der Differenz von Körper und Rolle, Wirklichkeit und fiktiver Welt, in Sicherheit wiegen konnte, läßt sich das Theater unter diesen Voraussetzungen jedenfalls nicht bezeichnen. Auf die beschriebenen Entgrenzungsphänomene hat Seneca in seinen Tragödien reagiert. Seine Tragödien bringen sofern sie zur Aufführung bestimmt waren – und hierfür spricht eine ganze Menge282 – die körperliche Präsenz in ihrer krassesten Form, nämlich als physische Verletzung auf die Bühne. Und sie kommen – etwa durch die manierierte Opulenz der Darstellungen, ihren Bilderreichtum und die geradezu hemmungslose Freude an den Details, wie sie vor allem die Botenberichte zeigen – den Erwartungen nach Bildlichkeit entgegen. Dabei arbeiten Senecas Ästhetisierungstechniken in beiden Fällen mit bzw. durch die Sprache und verlangen dem Rezipienten neben der rein sinnlichen Erfahrung eine kognitive Leistung ab. Bei der Präsentation des Physischen stellt die Sprache gewissermaßen die Distanz her, die durch die Präsentation des Körperlichen in Frage steht. Bei der imaginativen Bildproduktion wiederum ist sie, vermittelt durch das Hören, das Instrument, durch das Bilder vor dem inneren Auge entstehen können. Die Sprache wirkt der sinnlichen Erfahrung also nicht nur entgegen – etwa indem sie den visuellen Akt untergräbt und die Unmittelbarkeit seiner Wirkung (etwa im Kommentar) unterbricht – sie befördert auch das Sehen.283 Indem sie das physische Sehen steigert oder das physisch nicht Sichtbare durch die sprachlich erzeugten Imaginationen vor dem inneren Auge der Zuschauer entfaltet, arbeitet sie der sinnlichen Erfahrung sowie der emotionalen Nähe auch in ganz besonderer Weise zu. In theoretischer Hinsicht sind diese beiden Verfahren dabei an zwei Diskussionen gekoppelt: zum einen an die Überlegungen über das Verhältnis, in dem die Wahrnehmungsformen des Hörens (von Sprache) und Sehens zueinander stehen, zum anderen an das im Zusammenhang mit den Begriffen der
280
Suet. Nero 23, 2. Hierhin gehört auch die von Sen. dial. 3 (= De ira 1), 21 erwähnte Anekdote, Kaiser Caligula, der bei seinen Ballettvorstellungen lieber Mitwirkender als Zuschauer gewesen sei, habe während einer solchen Aufführung angesichts eines Wetterumschlags Iupiter unter Zitation eines Homerverses (Il. 23, 724) zum Kampfe herausgefordert. 282 S. dazu unten, S. 160. 283 S. dazu unten, Kap. 4, S. 176.
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137
phantasía und enárgeia geführten Diskussionen über Zusammenspiel von physischem und imaginativem Sehen, die zudem die Frage einschließen, inwieweit das Miteinander dieser Wahrnehmungsformen auch im Erkenntnisprozeß eine relevante Bedeutung hat.
3.2
Zur antiken Wahrnehmungstheorie: Sehen und Hören
Die beiden Wahrnehmungsformen des Sehens und Hörens spielen für die Rezeption eines Dramas natürlich in besonderer Weise eine Rolle. Denn sie stehen hier nicht nur in einem Konflikt zueinander, sondern spielen sich, gerade dadurch, in produktiver Weise einander zu. In der antiken Wahrnehmungstheorie betont wird freilich meist ihr Konkurrenzverhältnis, die Überzeugung, daß einer der genannten Sinne eine stärkere Empfänglichkeit besitze. So gibt Horaz in der Ars poetica284 zu bedenken, daß die Augen empfänglicher seien als die Ohren und daß sichtbare (physische) Gewalt auf der Bühne strikt zu unterlassen sei. In seiner Abhandlung περὶ τοῦ ἀκούειν (De audiendo) entwirft Plutarch285 ein anderes Bild und berichtet davon, daß der Aristoteles-Schüler Theophrast den Hörsinn als den „emotionalsten“ aller Sinne bezeichnet habe (τῆς ἀκουστικῆς αἰσθήσεως ἣν ὁ Θεόφραστος παθητικωτάτην εἶναι φησιν πασῶν, 38 a). In welcher seiner Schriften Theophrast dies behauptet haben könnte, ist nicht bekannt – im überlieferten Textcorpus ist eine derartige Aussage nicht erhalten; doch erfahren wir aus dem Referat des Plutarch immerhin die Begründung, die der Zitierte seinem Statement beigegeben haben soll: Weder das, was wir sehen, noch das, was wir schmecken oder tasten können, könne unsere Seele so sehr in Aufruhr, Erregung und Furcht versetzen wie „Krach, Lärm und Getöse“, wenn sie unseren Hörsinn treffen (κτύπων τινῶν καὶ πατάγων καὶ ἤχων τῆι ἀκοῆι προσπεσόντων, 38 a). Gegen die referierte Beschreibung hat Plutarch erhebliche Einwände: Der Hörsinn, so seine Gegenthese, sei nicht emotionaler, sondern eher rationaler: ἔστιν δὲ λογικωτέρα µᾶλλον ἢ παθητικωτέρα, 38 a). Denn während die Schlechtigkeit (ἡ κακία) durch sämtliche Teile des Körpers hindurch in die Seele dringen könne, stehe der Tugend nur ein einziger Zugang (ἡ λαβή, eigentlich die
Hor. ars 179-189, bes. 180-180b. S. oben, Anm. 17. Inwieweit Plutarchs Schrift De audiendo auch als eine Quelle stoischer Positionen verwendet werden kann, wird in der Forschung nach wie vor ausgiebig diskutiert. Zu Plutarchs Auseinandersetzung mit Positionen der Stoa siehe Daniel Babut: Plutarque et le Stoïzisme: Paris 1969 (rez. Phillip H. De Lacy. In: Classical Philology 68. 3 [1973], S. 227-229). Tatsache ist, daß Plutarch an einer Vielzahl von Stellen (auch mit Hinweis auf bestimmte Autoren) auf stoisches Gedankengut verweist und sich (in recht ausführlichen Darstellungen) eine Reihe von Überlegungen und Positionen finden, die in Senecas Prosaschriften nur angerissen oder gestreift werden. 284 285
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„Schwachstelle“) offen: der durch die Ohren. Das Ohr hält Plutarch daher für dasjenige Organ, über das sich die Sittlichkeit der Jugend in besonderem Maße beeinflussen läßt. Bleiben die Ohren der Jugend rein (καθαρά) und werden sie nicht von Schmeicheleien verweichlicht (ἄθρυπτα κολακείαι) oder von schlechten Worten berührt (λόγοις ἄθικτα φαύλοις, mor. 38 b), so findet die Tugend über das Hören den Eingang in die Seele; umgekehrt bestehe gerade in der verbal-akustischen Vermittlung die größte Gefahr – eine Diagnose, der, so fügt Plutarch seinen Bemerkungen hinzu, Xenokrates mit dem (sicher nicht ganz ernst gemeinten) Vorschlag habe Rechnung tragen wollen, doch lieber den jungen Kindern als den Athleten Ohrenschützer zu geben, da letztere andernfalls zwar Schläge, erstere jedoch ernsthaften Schaden an ihrem Charakter in Kauf zu nehmen hätten (mor. 38 b).286 Nun hat Plutarch mit diesen Ausführungen unterschlagen, daß das Hören, wie es Theophrast beschreibt, die akustische Wahrnehmung von Krach oder Getöse meint, während es in seiner eigenen Deutung dem Vorgang entspricht, der im Vernehmen einer verbal geäußerten Sprache dem inneren Sehen vorausgeht. Der Gegensatz, in den er sich zu Theophrast bei seiner Differenzierung zwischen einem emotionalen und einem rationalen Charakter des Hörsinns stellt, ist daher erst einmal irreführend. Der Hörsinn hat nämlich auch bei Plutarch eine offensichtlich emotionalisierende, die Seele beeinflussende Wirkung. Deutlich wird dies in seiner Schrift De audiendis poetis, in der er über die Rolle der Dichtung bei der philosophischen Erziehung junger Menschen spricht und sich mit der Frage auseinandersetzt, wie sich aus einer maßvollen Ansprache an die Sinne etwas Nützliches gewinnen läßt und unter welchen Bedingungen die ästhetisch lustbringende Vermittlung von Erziehungsinhalten der trockenen Übermittlung von philosophischen Botschaften überlegen ist.287 Denn im Paragone zwischen Poesie und Prosa werden gerade die enormen Vorteile des Hörens und damit die Bedeutung einer klanglichen Ansprache der Sinne bei der Erfassung des Rationalen herausgestellt.288 Plutarchs Überlegungen, die gerade die Gattungsfrage in einen wirkungstheoretischen Zusammenhang stellen, reißen damit ein Problem an, das für die Frage nicht nur wie, sondern auch warum überhaupt ein Philosoph, zumal ein Stoiker wie Seneca, Tragödien geschrieben hat, von zentraler Bedeutung ist.
286
Erneut zitiert bei Plut. mor. (= quaestiones convivales) 706c. Vgl. hierzu die einschlägige Untersuchung von Rainer Hirsch-Luipold: Plutarchs Denken in Bildern. Tübingen 2002 (= Studien und Texte zu Antike und Christentum, Bd. 14), hier bes. S. 73-86, sowie Georg von Reutern: Plutarchs Stellung zur Dichtkunst. Interpretationen der Schrift „De audiendis poetis“. Diss. Kiel 1933. 288 Kommentar: Plutarch: How to Study Poetry (de audiendis poetis). Hrsg., übersetzt und kommentiert von Richard Hunter/ Donald Russell. Cambridge 2011. 287
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Die Frage, in welcher Form – in Prosa oder Dichtung – sich Inhalte effektvoller gestalten ließen, hatte laut Philodems De musica289 und Senecas eigenem Zeugnis bereits der Stoiker Kleanthes aufgeworfen.290 Laut Sen. epist. 108, 10,291 sprach sich Kleanthes dafür aus, daß sich eine verknappte, auf den Punkt gebrachte Ausdrucksweise weitaus besser einpräge als (so müßte man ergänzen:) die in die Breite gehende prosaische Form der Rede.292 Was Kleanthes, der selbst – als Autor des berühmten Zeus-Hymnos293 – mit seiner These ernst gemacht hat, anspricht, ist die Prägnanz, zumal die Macht der Sprache, die (Prägnanz hier literaliter verstanden) ihr semantisches Potential und somit auch ihre Wirkung aus der Verdichtung heraus entfaltet.294 Nicht zuletzt die Analogisierung von Dichtung und Musik, auf die sich seine Argumentation beruft, läßt darauf schließen, daß neben der Prägnanz und Schärfe vor allem an das sinnliche Moment gedacht war. Grundsätzlich zeigt sich die Stoa in ihrem Urteil über die Bedeutung der Dichtung allerdings ambivalent. Sie sieht in der Poesie einen didaktischen Wert; die Gefahren, die von der Poesie ausgehen – etwa die Infektion und Beeinflussung noch zarter und ungebildeter Gemüter295–, werden aber nicht unterschlagen.296
289 Dank ihrer Attacken gegen alles Stoische enthalten Philodems Schriften auch viel Wissen über das Stoische. 290 Philodem weist in seiner Schrift de musica (col. 28, 1 p. 79 Kemke = SVF 1, 486) darauf hin, daß Kleanthes Musik bzw. Poesie für weitaus wirkungsvoller hielt als das nackte Wort. 291 Vgl. Seneca epist. 108, 10 (=SVF I, 487): Nam ut dicebat Cleanthes, „quemadmodum spiritus noster clariorem sonum reddit cum illum tuba per longi canalis angustias tractum patentiore novissime exitu effudit, sic sensus nostros clariores carminis arta necessitas efficit.“ 292 Vgl. hierzu Alessandro Schiesaro: „Passion, reason and knowledge in Seneca’s tragedies“. In: The Passions in Roman Thought and Literature. Hrsg. von Susanna Morton Braund und Christopher Gill. Cambridge 1997. S. 89-111 und Bibliographie: S. 242-256, hier: S. 102-109. 293 Stob. ecl. 1, 1, 12, p. 25, 3 (= SVF I, 537). 294 Vgl. auch Senecas eigenes Statement epist. 8, 8. Hier trennt Seneca zwischen Mimus und Tragödie, hält die Tragödie aber grundsätzlich für geeignet (s. unten, Anm. 393). 295 Cic. leg. 1, 17, 47: animis omnes tenduntur insidiae, vel ab iis quos modo enumeravi [sc. poetis], qui teneros et rudes cum acceperunt, inficiunt et flectunt, ut volunt, vel ab ea, quae penitus in omni sensu implicata insidet, imitatrix boni, volputas, malorum autem mater omnium […] (= SVF III, 229b). Vgl. auch Sen. epist. 7, 6 (s. unten, Kap. 4, S. 185). 296 Vgl. dazu Philip De Lacy: „Stoic Views of Poetry“. In: American Journal of Philology 69 (1948), S. 241-271; Teun L. Tieleman: Galen and Chrysippus. Argument and Refutation in the “De Placitis”. Utrecht 1992, S. 219-248; Schiesaro: Passions in Play [wie Anm. 22], S. 228-235.
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In ihrer Studie über das Verhältnis der Stoiker zu den Leidenschaften und zur Dichtung hat Martha Nussbaum daher von einem „Paradox“ gesprochen:297 Die Stoiker haben einerseits eine extrem feindselige Haltung gegenüber den Leidenschaften entwickelt und diese aus dem menschlichen Leben völlig verbannen wollen;298 andererseits hat sich keine andere antike Schule so offen gegenüber den „feeders of passions“, den Dichtern, gezeigt wie die Stoa. So weit wie Michael Franz, der in der Stoa Ansätze zu einer Autonomie der Ästhetik erkennen will,299 wird man wohl nicht gehen. Für die Tatsache, daß der Dichtung keine unwesentliche (und nicht nur gefährdende) Rolle beigemessen wurde, spricht aber vielleicht die Fülle der Abhandlungen, die ihr gewidmet worden sind: Zenons περὶ ποιητικῆς ἀκροάσεως (Über den dichterischen Vortrag), περὶ λεξέων (Über die Ausdrucksweisen) und περὶ προβληµάτων Ὁµηρικῶν πέντε (Über fünf homerische Probleme);300 Chrysipps περὶ ποιηµάτων πρὸς Φιλοµaτῆ (Über die Gedichte an Philomathes), die Schrift περὶ τοῦ πῶς δεῖ ποιηµάτων ἀκούειν (Darüber, wie man Gedichte anhören muß)301 des Diogenes von Babylon περὶ φωνῆς (Über die Stimme), περὶ µουσικῆς (Über Musik);302 sowie die Schriften des Ariston von Chios303 – nicht zu vergessen Kleanthes, der nicht nur περὶ τοῦ ποιητοῦ (Über den Dichter) und περὶ τῆς αἰσθήσεως, (Über die Wahrnehmung) schrieb,304 sondern auch selbst als Dichter tätig war.305
297
Martha C. Nussbaum: „Poetry and the Passions: Two Stoic Views“. In: Passions & Perceptions. Studies in Hellenistic Philosophy of Mind. Proceedings of the Fifth Symposium Hellenisticum. Hrsg. von Jacques Brunschwig und Martha C. Nussbaum. Cambridge 1993, S. 97-149, hier: S. 98f. Einschlägig ist die Arbeit von De Lacy: „Stoic Views of Poetry“ [wie Anm. 296]. 298 Vgl. hierzu Martha C. Nussbaum: „The Stoics on the Extirpation of the Passions“. In: Apeiron 20.2 (1987), S. 129-158. 299 Siehe hierzu Michael Franz: Von Gorgias bis Lukrez. Antike Ästhetik und Poetik als vergleichende Zeichentheorie. Berlin 1999, S. 339-385 (= Kap. 14: „Begründung der Axiologie durch die Stoa als Voraussetzung einer selbständigen Entwicklung der Ästhetik“) und S. 495-517 (= Kap. 19: „Die Poetologie des Philodem“). 300 Diog. Laert. 7, 4 (= SVF I, 41). 301 Vgl. Diog. Laert. 7, 200 (= SVF II, 13). 302 Von Diogenes von Babylon (ca. 240 – 150 v. Chr.) sind 37, aus Philodems περὶ µουσικῆς stammende Fragmente erhalten (SVF III, 54-90). 303 Vgl. hierzu Christian Jensen: „Zur Poetik des Stoikers Ariston von Chios (Kol. XIII 28 – Kol. XXI 22).“ In: Philodemos Über die Gedichte. Fünftes Buch. Griechischer Text mit Übersetzung und Erläuterungen. Berlin 1923, S. 128-145; zu Philodem, De poematis: Dirk Obbink: Philodemus and Poetry. Poetic Theory and Practice in Lucretius, Philodemus and Horace. New York/ Oxford 1995. Übersetzung bei: Philodemus. On Poems. Hrsg. von David L. Blank. Oxford 2000. 304 Vgl. Diog. Laert. 7, 173 (= SVF I, 481). 305 S. oben, S. 139.
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Physisches und imaginatives Sehen – zur Bedeutung der phantasía
Daß in der Stoa – ganz unabhängig von ihrer Position zur Dichtung – die sinnliche Erfahrung sehr wohl einen Platz hat, zeigt ihre Diskussion der Erkenntnisprozesse im Zusammenhang mit ihrer Auseinandersetzung mit dem Begriff der phantasía.306 Dabei ist die phantasia-Konzeption für die Untersuchung der Tragödien in zweifacher Hinsicht relevant. Zum einen stellt sie, in einem weiteren Sinne, ein Konzept bereit, das Sinn und Sinnlichkeit, kognitive und ästhetische Erfahrung in ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis setzt; es könnte damit die Vermutung stützen, daß sich Senecas Tragödienproduktion, und zwar gerade angesichts ihrer auf Extreme angelegten Charakteristik (i.e. der auffallenden Engführung von hochgradigem Pathos und extrem stark ausgeprägter Reflexion) wie sie die Wissenschaftsgeschichte so irritiert hat,307 zumindest in rezeptionstheoretischer Hinsicht mit Senecas philosophischen Ansprüchen als denen eines Stoikers verbinden läßt. Zum anderen spielt das Konzept der phantasía in der auch für die Tragödienproduktion relevanten, literaturtheoretischen und rhetorischen Diskussion eine bedeutsame Rolle mit Blick auf die Frage, wie sich innere Anschauungen bzw. das, was sich mit den eigenen Augen nicht sehen läßt, sichtbar machen bzw. wirkungsästhetisch effektvoll vermitteln lassen. Insofern bietet das phantasia-Konzept einen weiteren Zugang zu der Frage, inwiefern sich Seneca vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Aufführungspraktiken gegen bestehende Sehgewohnheiten hat durch-
306
Zum Stoischen Konzept der φαντασία s. Andrew A. Long: Stoic Studies. Berkley 1996 (= Hellenistic Culture and Society, Bd. 36), S. 264-285. Zur Geschichte des Begriffs vgl. Gerard Watson: „The Concept of ‘Phantasia’ from the Late Hellenistic Period to Early Neoplatonism“. In: ANRW II, 36.7 (1994), S. 4765-4810, hier: S. 4774-4777; Giorgio Camassa: Art. „Phantasia“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter/ Karl Gründer. Basel 1989, Bd. 7, Sp. 516-522. Zur ἐνάργεια einschlägig: Ruth Webb: „Imagination and the arousal of the emotions in Greco-Roman rhetoric“. In: The Passions in Roman Thought and Literature. Hrsg. von Susanna Morton Braund und Christopher Gill. Cambridge 1997, S. 112-127; Ansgar Kemmann: Art. „Evidentia, Evidenz“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen 1996, Bd. 3, Sp. 33-47; Gyburg Uhlmann-Radke: „Über eine vergessene Form der Anschaulichkeit in der griechischen Dichtung“. In: Antike & Abendland 55 (2009), S. 122, und dies.: „Phantasia als Organon – Rationalität und Anschaulichkeit in der Platonischen Wissenschaftstheorie“. In: Anschaulichkeit in Kunst und Literatur. Wege bildlicher Visualisierung in der europäischen Geistesgeschichte. Hrsg. von Arbogast Schmitt/ Gyburg Radke-Uhlmann. München/ Leipzig 2011 (= Colloquium Rauricum, Bd. 11), S. 153-179. 307 Vgl. hierzu etwa das Urteil von Friedrich Leo, s. unten, Anm. 469, sowie oben, Einleitung, S. 18.
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setzen wollen und inwiefern die seinen Tragödien inhärente Rezeptionsästhetik, mithin die kombinierte Adressierung sinnlicher und kognitiver Erfahrungsmodi auch dem Interesse zuarbeiten sollte, auf die ethische Haltung und die Erkenntnisprozesse der Rezipienten langfristig wirken zu können. Der Begriff der phantasía ist in der Antike sowohl in Philosophie und Rhetorik,308 als auch in der Kunst- und Dichtungstheorie vielfach diskutiert worden, umfaßt in den jeweiligen Kontexten jedoch die unterschiedlichsten Bedeutungen: Das Spektrum reicht von der geistigen oder sinnlichen Fähigkeit zur Produktion von Vorstellungen, über den von außen auf diese Fähigkeit einwirkenden Stimulus bis hin zu dem künstlerischen Produkt der Vorstellungen und der sympathetischen Reaktion der Rezipienten bei der Reproduktion des im Kunstwerk Produzierten. Der Begriff wurde also mal kreativ-produktiv, mal reproduktiv gefaßt und dabei mal auf das Subjekt, mal auf das Objekt, mal auf den Prozeß der Herstellung bzw. dessen äußere Ursache bezogen. In der vorplatonischen Theorie war zwischen den äußeren Sinneseindrücken und den inneren Bildern dieser Sinneseindrücke nicht unterschieden worden.309 Erst Platon differenziert deutlich zwischen αἴσθησις (im Sinne eines äußeren Sinneseindrucks) und φαντασία (dem inneren Bild des Sinneseindrucks, d.h. der Vorstellung).310 Bei Aristoteles311 wird die φαντασία ansatzweise zu einem reflektierenden Vermögen, und zwar insofern, als das menschliche Urteilsvermögen sie auf die αἴσθησις anwendet. Die φαντασία ist das Mittelglied
308
Für die kaiserzeitliche Literatur spielt die Rhetorik eine ähnliche Rolle wie für die europäische Literatur vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert: Über den Rhetorikunterricht wurde nicht nur die literarische Tradition vermittelt. Rhetorik – das war auch die maßgebliche Lehre von der Textproduktion und der Wirkung ihrer verschiedenen Verfahren auf die Rezipienten. Neben den in produktionsästhetischer Hinsicht relevanten Leistungen: etwa der Systematisierung von Sprachmodellen und Argumentationsmustern, leistete die Rhetorik einen Beitrag zur sozialen Praxis. Gerade mit Blick auf die Affekttheorie nehmen die rhetorischen Lehr- und Handbücher eine prominente Rolle ein. Denn als ein genre, das im wesentlichen auf seine Wirksamkeit bedacht und größtenteils in einem konkreten Sinne handlungsweisend ist, hat die Rede die potentiellen Reaktionen des Publikums in besonderem Maße zu berücksichtigen. 309 Murray W. Bundy: The Theory of Imagination in Classical and Medieval Thought. Urbana 1927, S. 13. Vgl. hierzu beispielsweise die gegen die Identifikation von αἰσθάνεσθαι und φρονεῖν gerichteten Ausführungen bei Aristot. de an. 3, 3, 427 a 17- b 7. 310 Plat. Tim. 28 a und b (mit den Kommentaren von Proklos und Porphyrios), soph. 260 c – 264 a, Theait. 152 a – c (Vgl. die Übers. Schleiermachers: aisthesis = Erscheinung, phantasia = Wahrnehmung). Vgl. dazu Giorgio Camassa: „Phantasia da Platone ai Neoplatonici“. In: Phantasia – Imaginatio. V° Colloquio Internazionale Roma 9-11 gennaio 1986. Hrsg. von M. Fattori und M. Bianchi. (Lessico Intellettuale Europeo XLVI). Rom 1988, S. 23-55. 311 Vgl. hierzu Jessica Moss: Aristotle on the Apparent Good: Perception, Phantasia, Thought & Desire. Oxford 2012, S. 48-99, bes. 92ff.
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zwischen αἴσθησις und φαντάσµατα:312 Sie übersetzt die Sinneswahrnehmung (αἴσθηµα) in ein Vorstellungsbild (φάντασµα) und steht insofern zwischen Wahrnehmung und Intellekt. Dabei hängt die φαντασία von uns selbst ab (πάθος ἐφ’ ἡµῖν ἐστίν):313 Während allen Lebewesen die Fähigkeit zur αἴσθησις und innerhalb der graduellen Abstufung der verschiedenen φαντασία-Formen auch allen Lebewesen314 eine sinnlich bedingte φαντασία αἰσθητική315 zugestanden wird, ist der Mensch darüber hinaus in der Lage, die φαντάσµατα auch zu beurteilen (κρίνειν) und auf ihre Wahr- oder Falschheit hin zu prüfen. Das ist insofern notwendig, als die φαντάσµατα (anders als die νοήµατα, also das, was wir kraft unseres νοῦς wahrnehmen) zwar wahr sein können, aber meistens falsch sind,316 die Seele ohne φαντάσµατα jedoch niemals denken kann: οὐδέποτε νοεῖ ἄνευ φαντάσµατος ἡ ψυχή,317 da der νοῦς (das immaterielle Denken) eines sinnlichen Vehikels bedarf, um die geistigen Vorstellungen in die νοήµατα, d.h. Gedanken transformieren zu können.318 Auch wenn der νοῦς innerhalb des Verstehensprozesses die letzte Instanz bleibt,319 hat die φαντασία innerhalb der ontologischen Abstufung von αἴσθησις,
312
Dan Flory: „Stoic Psychology. Classical Rhetoric, and Theories of Imagination in Western Philosophy“. In: Philosophy and Rhetoric 29.2 (1996), S. 146-167, hier: S. 147. 313 Aristot. de an. 3, 3, 427 b 17f. 314 Zu den wenigen Einschränkungen vgl. Aristot. de an. 3, 3. 428 a 9-11. 315 Aristot. de an. 3, 10, 433 b 29f.: φαντασία δὲ πᾶσα ἢ λογιστικὴ ἢ αἰσθητική. ταύτης µὲν οὖν καὶ τὰ ἄλλα ζῶια µετέχει und ebd. 11, 434 a 5-7: ἡ µὲν οὖν αἰσθητικὴ φαντασία, ὥσπερ εἴρηται, καὶ ἐν τοῖς ἄλλοις ζώιοις ὑπάρχει, ἡ δὲ βουλευτικὴ („die zur Beratung gehörende phantasía“) ἐν τοῖς λογικοῖς. Die Differenzierung zwischen der sinnlich bedingten φαντασία αἰσθητική und der logisch bedingten φαντασία λογιστική läßt sich unter Heranziehung weiterer Stellen (u.a. aus Aristotelesʼ Nicomachea ethica und De insomniis) in ein insgesamt fünf Klassen umfassendes Schema weiter untergliedern, s. hierzu die Ausführungen und Belege bei Hubertus Busche: „Hat die Phantasie nach Aristoteles eine interpretierende Funktion in der Wahrnehmung?“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Hrsg. von Otfried Höffe. Redaktion: Christof Rapp, Bd. 51 (1997), S. 565-589, hier: S. 568-571. 316 Camassa: „Phantasia da Platone ai Neoplatonici“ [wie Anm. 310], hier: S. 30-37, bes. S. 34f. 317 Aristot. de an. 3, 7, 431 a 16f. 318 Aristot. an. post. 81 a 38f.: φανερὸν δὲ καὶ ὅτι, εἴ τις αἴσθησις ἐκλέλοιπεν, ἀνάγκη καὶ ἐπιστήµην τινὰ ἐκλελοιπέναι. Wenn sinnliche Wahrnehmung fehlt, dann fehlt zwangsläufig auch Wissen. Vgl. dazu Gerard Watson: Phantasia in Classical Thought. Galway University Press 1988, S. 28. Gregor Vogt-Spira: „Visualität und Sprache“. In: Klassische Philologie inter disciplinas. Aktuelle Konzepte zu Gegenstand und Methode eines Grundlagenfachs. Hrsg. von Jürgen Paul Schwindt. Heidelberg 2002. (Bibliothek der klasisschen Altertumswissenschaften N.F. 2. Reihe, Bd. 110), S. 25-39, hier: S. 33-35. 319 Vgl. die von Busche („Hat die Phantasie nach Aristoteles eine interpretierende Funktion in der Wahrnehmung?“ [wie Anm. 315], S. 589) gegen Martha C. Nussbaum („The Role of Phantasia in Aristotle’s Explanation of Action”. In: Aristotle’s De motu
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φαντασία und νοῦς doch immerhin eine Übersetzungsfunktion. In der epistemologischen Hierarchie ist sie damit von der einfachen Sinneswahrnehmung zu jener erkenntnistheoretisch relevanten Größe aufgestiegen, als die sie in unterschiedlichen Ausprägungen die nacharistotelische antike Theorie weitgehend bestimmen wird und für die vorliegenden Zusammenhänge interessant ist. Ganz frei von negativen Konnotationen320 scheint der Begriff jedoch auch in der Antike nicht gewesen zu sein, zumal er sich auch wortgeschichtlich in einem durchaus ambivalenten Umfeld befand.321 In der antiken Theorie hat die
animalium. Hrsg. von Martha C. Nussbaum. Princeton/ N.J. 1978, S. 221-269. S. 261:„It is only in virtue of phantasia, and not aisthesis alone, that I apprehend the object as an object“) wiedereingeführte These, daß „nicht die phantasia, sondern der nous diejenige Instanz [ist], die das Wahrgenommene interpretiert“ (S. 589). 320 Das ist insofern bemerkenswert, als dem Begriff der phantasía offensichtlich erst im 18. Jh., in der Nachfolge von Alexander Gottlieb Baumgarten, jene Bedeutung zuwächst, die für das moderne Verständnis konstitutiv geworden ist. Zwar mißt ihr Baumgarten selbst ein zunächst ausschließlich reproduktives Moment bei: phantasia perceptiones reproducuntur, et nihil est in phantasia, quod non ante fuerit in sensu (Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica, 7. Aufl., Halle 1779, 557-571, hier 559, zitiert nach Alexander Gottlieb Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Lateinisch-deutsch. Übers. und hrsg. von Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983, S. 28-34, hier: S. 28). Indem er die phantasía jedoch zugleich als ein Vermögen bestimmt, das es dem Menschen erlaubt, sich in der Hervorbringung des bereits Empfundenen als Subjekt zu (re-)konstituieren, bereitet er eine Unterscheidung in phantasía und Einbildungskraft vor. In der Folge werden dem Begriff der Phantasie die negativen Seiten der Einbildungskraft zugeschlagen. Während die Einbildungskraft nunmehr mit der kreativen Dicht- und Erfindungskraft in Verbindung gebracht wird, verliert die Phantasie ihre positiven Konnotationen, um schließlich mit Träumerei und Phantasterei oder Zerstreuung in eins gesetzt zu werden (vgl. Jochen Schulte-Sasse: Art. „Phantasie“. In: Lexikon der ästhetischen Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck u.a. Stuttgart/ Weimar Bd. 4: Medien – Populär, 2002, S. 786). Erst die Romantik, namentlich Friedrich Schlegel (vgl. Gespräch über die Poesie [1800]. In: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Erste Abteilung. Kritische Neuausgabe, Bd. 2. Hrsg. von Hans Eichner, München/ Paderborn/ Wien/ Zürich 1967, S. 319, und Literarische Notizen [entst. 17971801]. Hrsg. von Hans Eichner. Frankfurt a.M./ Berlin/ Wien 1980, S. 211) hat den Begriff der Phantasie zeitweilig wieder aufgewertet und ihr eine erkenntniskritisch relevante oder sogar der Reflexion überlegene Funktion zugewiesen. 321 Die doppelte Stoßrichtung, die der Begriff im Laufe seiner späteren Geschichte einschlagen wird, ist bereits etymologisch in dem Bedeutungsspektrum der auf die griech. Wurzel φα* zurückgehenden Bildungen angelegt, die von φαίνειν („scheinen“) über φαντάζεσθαι („sichtbar werden“) und φάος („Licht“) bis φάντασµα („Traumgesicht“) reichen und damit ein Moment nicht nur der Erhellung von Wahrheit erkennen lassen. Vgl. Alessandra Manieri: L’immagine poetica nella teoria degli antichi. Phantasia ed enargeia. Pisa/ Rom 1998, S. 17-19 und 25. Die lateinischen Übersetzungen von φαντασία, i.e.: imago bzw. imaginatio einerseits und visum bzw. visio andererseits (vgl.
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Polyvalenz des Begriffs daher schon früh zu dem Versuch geführt, ihn von den Assoziationen zu ähnlichen Ausdrücken zu reinigen und das Bedeutungsfeld zu vereindeutigen. In die Reihe solcher Versuche fällt die stoische Systematik, die der Doxograph Aëtius im ersten nachchristlichen Jahrhundert in seinen Placita („Lehrmeinungen“) mit Verweis auf Chrysipp überliefert hat.322 Chrysipps Systematik weist auf zwei Tendenzen hin: Zum einen erscheint die φαντασία als ein positiver Begriff, der mit den φαντάσµατα, den trügerischen Wahn- und Traumbildern, alles andere als identisch ist; zum anderen bezeichnet sie nicht etwa die Produktion der Bilder oder deren Entstehung vor dem inneren Auge, sondern den „Eindruck“ (τύπωσις)323, den das φανταστόν in der Seele hinterläßt, mithin die „Veränderungen“, denen die Seele durch den Akt der Vorstellungen ausgesetzt ist. Der Begriff der τύπωσις ist dabei – wie der Doxograph Diocles Magnes, eine der wichtigsten Quellen des Diogenes Laertios, erklärt, als „eine übertragene Bezeichnung“ zu verstehen, „hergenommen von den eigentlichen (wirklichen) Eindrücken, die durch den Siegelring im Wachs entstehen“.324 Der stoische φαντασία-Begriff erschöpft sich jedoch nicht in seiner Bestimmung als τύπωσις. Seine verschiedenen Spielarten stehen vielmehr in einem komplexen hierarchischen Verhältnis, deren differenzierteste Systematik
Quint. inst. 6, 2, 29) sind in etymologischer Hinsicht eindeutiger. Der Begriff der imago läßt aufgrund seiner Verwandtschaft mit dem als Übersetzung für µίµησις verwendeten Begriff der imitatio (vgl. Manieri, S. 20, mit Verweis u.a. auf Paul. Fest. 112: imago ab imitatione dicta) auf eine Gewichtung der erkenntnisrelevanten Aspekte schließen; visio dagegen verweist als Begriff vornehmlich auf die „Scheinhaftigkeit“ der Vorstellungen. 322 Aët. plac. 4, 12, 1 (= DDG, p. 401, 14 [Documenta Doxographorum Graecorum. Hrsg. von Hermann Diels. Berlin 1879] = SVF II, 54 [Stoicorum Veterum Fragmenta. 4 Bde. Hrsg. von Hans von Arnim. Leipzig 1905]). In seinem Werk περὶ ψυχῆς trennt Chrysipp demnach zwischen φαντασία, φανταστόν, φανταστικόν und φάντασµα. Dabei werden φαντασία und φανταστόν auf der einen Seite und φανταστικόν und φάντασµα auf der anderen Seite jeweils als Begriffspaar verstanden und in ein analoges Bedingungsverhältnis gesetzt: Während das φανταστόν die wirkende Ursache beschreibt (τὸ ποιοῦν τὴν φαντασίαν· οἷον τὸ λευκὸν καὶ τὸ ψυχρὸν καὶ πᾶν ὅτι ἂν δύνηται κινεῖν τὴν ψυχήν), ist die φαντασία selbst das durch sie bewirkte Produkt. Gleiches veranschlagt Chrysipp, im Bereich der Wahnvorstellungen, für das φανταστικόν und das φάντασµα. 323 Diocles Magnes (1. Jh. v. Chr.) bei Diog. Laert. 7, 50 = SVF II, 55: φαντασία δέ ἐστι τύπωσις ἐν τῆι ψυχῆι, τουτέστι ἀλλοίωσις, ὥς ὁ Χρύσιππος ἐν τῆι β περὶ ψυχῆς ὑφίσταται; wiederum anders: Sext. Emp. adv. math. 7, 372 (= SVF II, 56), der von ἑτεροίωσις spricht. 324 Diog. Laert. 7, 45f., hier: 46 (= SVF II, 53): τὴν δὲ φαντασίαν εἶναι τύπωσιν ἐν ψυχῆι, τοῦ ὀνόµατος οἰκείως µετενηνεγµένου ἀπὸ τῶν τύπων ἐν τῶι κηρῶι ὑπὸ τοῦ δακτυλίου γινοµένων; vgl. auch Alex. Aphr. an., p. 72, 5 Bruns (= SVF II, 58); Sext. Emp. adv. math. 7, 227 (= SVF II, 56) und ebd. 236 und 251. Das platonische Bild des Wachsabdrucks findet sich in dieser Weise schon bei Aristot. de an. 2, 12, 424 a 17-20.
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im 2. Jh. n. Christus Sextus Empiricus überliefert hat:325 Nach Sextus Empiricus kannte die Stoa eine reiche Fülle an verschiedenen Formen, von denen allerdings nur vier Grundtypen und Unterformen der φαντασίαι wesentlich gewesen seien: a) die glaubwürdigen b) die unglaubwürdigen c) die, die sowohl glaubwürdig als auch unglaubwürdig sind und d) die, die weder glaubwürdig noch unglaubwürdig sind (τούτων γὰρ αἱ µέν εἰσι πιθαναί, αἱ δὲ ἀπίθανοι, αἱ δὲ πιθαναὶ ἅµα καὶ ἀπίθανοι, αἱ δὲ οὔτε πιθαναὶ οὔτε ἀπίθανοι, 7, 242).326 Ergänzt wurde dieses System um eine Typologie ihrer Aufnahme, derzufolge die φαντασίαι in die über die Sinnesorgane (δι’ αἰσθητηρίου ἢ αἰσθητηρίων) und die über den Verstand (διὰ τῆς διανοίας) vermittelten φαντασίαι unterteilt wurden: Bei der sinnlichen Wahrnehmung würden demnach ausschließlich die körperlichen, materiell faßbaren Dinge empfangen, bei der verstandesmäßigen Auffassung dagegen die unkörperlichen Dinge (ἀσώµατα), also das, „andere, was nur durch den Verstand erfaßt wird“ (τῶν ἄλλων τῶν λόγωι λαµβανοµένων, Diocl. Magn. apud Diog. Laert. 7, 51 [= SVF II, 61]). Die verschiedenen Systematiken lassen unschwer erkennen, daß das stoische φαντασία-Konzept seinen gedanklichen Ort im Bereich der Dialektik, also der ἐπιστήµη ἀληθῶν καὶ ψευδῶν καὶ οὐδέτερων,327 hat. Während die im Kontext der Rhetoriktheorie diskutierte φαντασία letztlich einem psychagogischen Verfahren unterstellt wird, bei dem das Abwesende vor allem deshalb veranschaulicht (evidentia, ἐνάργεια) bzw. „ins Licht gerückt“ (illustratio) werden soll, um es dem Hörer plastisch vor das innere Auge zu führen (sub oculos subiectio) und auf diese Weise Einfluß auf seine Affekte zu nehmen, und während hinter ihren Funktionsbestimmungen in der Dichtungstheorie letztlich immer wirkungspsychologische Überlegungen zu finden sind, mißt die in der stoischen Dialektik entwickelte Konzeption der φαντασία nicht etwa nur eine erkenntnisbefördernde Relevanz zu: Die φαντασία dient hier vielmehr als das entscheidende Differenzkriterium, durch das die Wahrheit der Dinge überhaupt erst erkannt wird.328 Gegenüber dem sehr mechanisch gedachten Vorgang der τύπωσις setzt die Leistung des Geistes (διάνοια) überhaupt erst mit der
325
Sext. Emp. adv. math. 7, 241-252 (= SVF II, 65). Dabei werden die glaubwürdigen wiederum in a) die wahren, b) die falschen, c) diejenigen, die sowohl wahr als auch falsch sind, und d) diejenigen, die weder wahr noch falsch sind (τῶν δὲ πιθανῶν φαντασιῶν αἱ µὲν εἰσιν ἀληθεῖς, αἱ δὲ ψευδεῖς, αἱ δὲ ἀληθεῖς καὶ ψευδεῖς, αἱ δὲ oὔτε ἀληθεῖς οὔτε ψευδεῖς Sext. Emp. adv. math. 7, 243f.), und die wahren schließlich je nach der Art der τύπωσις in die sogenannten kataleptischen und nicht-kataleptischen eingeteilt (τῶν δὲ ἀληθῶν αἱ µὲν εἰσι καταληπτικαὶ αἱ δὲ οὐ, 7, 247). Zur Systematik vgl. Danielle Lories: „Phantasia: Aperçu sur le Stoicisme ancien“ In: De la Phantasia à L’Imagination. Hrsg. von Danielle Lories und Laura Rizzerio. Louvain/ Namur/ Paris/ Dudley 2003, S. 47-77, bes. S. 69-73. hier: S. 70. 327 Diocles Magnus bei Diog. Laert. 7, 62 (= SVF II, 122). 328 Diog. Laert. 7, 49 (= SVF II, 52): κριτήριον, ὧι ἡ ἀλήθεια τῶν πραγµάτων γινώσκεται. 326
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Zustimmung bzw. Ablehnung der eintreffenden Vorstellungen sowie der Artikulation ihrer Bilder und deren Transformation in eine nach außen hin vermittelbare Sprache ein (Diog. Laert. 7, 49 = SVF II, 52): ἀρέσκει τοῖς Στωϊκοῖς τὸν περὶ φαντασίας καὶ αἰσθήσεως προτάττειν λόγον, καθότι τὸ κριτήριον, ὧι ἡ ἀλήθεια τῶν πραγµάτων γινώσκεται, κατὰ γένος φαντασία ἐστί, καὶ καθότι ὁ περὶ καταλήψεως καὶ νοήσεως λόγος, προάγων τῶν ἄλλων, οὐκ ἄνευ φαντασίας συνίσταται· προηγεῖται γὰρ ἡ φαντασία, εἶθ’ἡ διάνοια ἐκλαλητικὴ ὑπάρχουσα, ὃ πάσχει ὑπὸ τῆς φαντασίας, τοῦτο ἐκφέρει λόγωι.
Die Stoiker halten es für richtig, zunächst die Lehre von der phantasía und der aisthesis aufzustellen, weil das Kriterium, durch das die Wahrheit der Dinge erkannt wird, seiner Art nach die phantasía ist und weil die Lehre von der Zustimmung (συγκατάθεσις), dem Begreifen (κατάληψις) und dem Denken (νόησις), da sie die Vorbereitung für alles andere ist, nicht ohne phantasía zustandegebracht werden kann. Denn die phantasía geht allem voraus, dann erst kommt der Verstand (διάνοια), der das Vermögen hat, etwas auszusprechen, und das durch das Wort nach außen trägt, was er durch die phantasía erfährt (ὃ πάσχει ὑπὸ τῆς φαντασίας).
Daß ausgerechnet eine solchermaßen verstandene φαντασία zu einem für die Erkenntnis relevanten Phänomen werden konnte,329 läßt sich dabei vor dem Hintergrund der stoischen Physik und Psychologie verstehen. Beide haben von der Vorstellung einer immateriellen Welt im wesentlichen absehen wollen: So wie κόσµος, λόγος und νοῦς ist auch die ψυχή stofflich gedacht. Der λόγος, der in der Funktion eines vorsorgenden, zuweilen göttlich gedachten Organisationsprinzips330 das gesamte Universum „durchströmt“ (spiritus permeator universitatis331), ist eine höchst feine und energiereiche Materie, eine Art Feuer, von dem auch der am λόγος partizipierende Mensch durchdrungen ist. Ähnliches gilt für das Organisationsprinzip des Menschen, die Seele: Auch sie ist stofflich, ein warmer Hauch (πνεῦµα), der den Menschen durchdringt wie der λόγος das Weltall.332 Insofern ist die φαντασία als ein sowohl physischer wie auch passivreproduktiver Akt zu verstehen.
329
Vgl. hierzu Flory: „Stoic Psychology“ [wie Anm. 312], S. 151ff. πρόνοια, providentia oder im Sinne einer göttlichen Vernunft: Zeus, vgl. den bei Stobaios ecl. I, 1, 12, p. 25, 3 (= SVF I, 537) überlieferten Zeus-Hymnos des Kleanthes, Übers. bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Reden und Vorträge, Bd. 1. 4. Aufl. Berlin 1925, S. 327-329. 331 Tert. apol. 21 (= SVF I, 533). 332 Zur Bedeutung der Kosmologie vgl. Stefan Büttner: Antike Ästhetik. Eine Einführung in die Prinzipien des Schönen. München 2006, S. 108-127, hier: S. 111. Die Begründung 330
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Für die Frage, wieso ein stoischer Philosoph wie Seneca Tragödien geschrieben hat, ist die Tatsache entscheidend, daß die Stoa die sinnliche Erfahrung – auch wenn sie der Leistung des Geistes (διάνοια) letztlich Priorität einräumte – in den Erkenntnisprozeß einschloß. Gleichwohl zeigt auch Seneca eine große Ambivalenz in seiner Haltung gegenüber der Dichtung. In seinen expliziten Äußerungen eher kritisch,333 arbeitet er in der Praxis durchaus mit poetischen Mitteln. So zeigen die Prosaschriften, allen voran die Epistulae morales, schon durch ihre formale Getaltung, ihre Repetitivität und Anschaulichkeit, daß sich der Verstehensprozeß ebenso wie moralisches Einsehen und Erkenntnis eben nicht ausschließlich auf rationalem Wege herstellen läßt, sondern neben dem Verstand auch die sinnliche Erfahrung des Adressaten aktiviert werden muß. Seine konzeptionelle Unterfütterung bezieht der Anspruch auf Anschaulichkeit aus den Konzeptionalisierungen der phantasía und enárgeia, wie sie in der Rhetorik, vor allem bei Cicero, entwickelt worden sind und später, von Quintilian besonders ausführlich formuliert werden sollten. Die Frage, wie sich ein Text (hier: eine Rede) möglich anschaulich (d.h. durch enárgeia) gestalten lasse (und wie der Redner die Voraussetzungen für eine solche Anschaulichkeit durch phantasía erwerben kann), behandelt Quintilian in den Büchern 6 und 8 der Institutio oratoria im Zusammenhang mit der Aufgabe des Redners, gegenüber seinen Adressaten etwas außerhalb der Gegenwart Liegendes zu vergegenwärtigen, also etwas (noch) Abwesendes präsent und (so etwa zur Beförderung des intendierten Urteils) emotional erfahrbar zu machen. Der Adressat der Rede (z.B. der iudex) dürfe das Gesagte nicht nur mit den Ohren wahrnehmen. Vielmehr müsse vor seinem inneren Auge ein Bild entstehen (inst. 8, 3, 62):334 Magna virtus res ‹de› quibus loquimur clare atque ut cerni videantur enuntiare. Non enim satis efficit neque, ut debet,
Eine große Leistung ist es, die Dinge, von denen wir reden, klar und so darzustellen, daß es so scheint, als sähe man sie vor sich.
ist jedoch nicht ausschließlich eine kosmologische. Sie ist auch – wie die bei Alex. Aphr. an. mant., p. 117 Bruns (= SVF II, 792) zusammengestellten Argumente zeigen können – logischer Natur, dort nämlich, wo die Überlegung ins Spiel gebracht wird, daß Körperliches und Unkörperliches grundsätzlich unvereinbar sind. In seiner Darstellung der Lehre des Kleanthes faßt Nemesios diesen Gedanken folgendermaßen zusammen (nat. hom. 2, p. 32 [= SVF I, 518]): οὐδὲν ἀσώµατον συµπάσχει σώµατι, οὐδὲ ἀσωµάτωι σῶµα, ἀλλὰ σῶµα σώµατι· συµπάσχει δὲ ἡ ψυχὴ τῶι σώµατι νοσοῦντι καὶ τεµνοµένωι· καὶ τὸ σῶµα τῆι ψυχῆι. und ebd., p. 46 [= SVF II, 790]): οὐδὲν δὲ ἀσώµατον ἀπὸ σώµατος χωρίζεται. [...] σῶµα ἄρα ἡ ψυχή. 333 S. dazu unten, Kap. 4, S. 167. 334 Übersetzungen hier und im folgenden teilweise in Anlehnung an: Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. und übers. von Helmut Rahn. 2 Bde. Darmstadt 1972-1975.
3 Produktions- und Rezeptionsbedingungen plene dominatur oratio si usque ad aures valet, atque ea sibi iudex de quibus cognoscit narrari credit, non exprimi et oculis mentis ostendi.
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Denn die Rede hat keine ausreichende Wirkung und herrscht nicht in dem Maße wie das sein soll, wenn sie nur die Ohren erreicht, und wenn der Richter von den Dingen, über die er Kenntnis erlangen soll, glaubt, daß sie ihm erzählt werden, und nicht, daß sie sich anschaulich und vor dem geistigen Auge zeigen.
Da dem Redner abgesehen von Indizien keine materiellen Mittel zur Verfügung stehen, muß er, um dem Hörer das (noch) Abwesende vor Augen zu führen, auf die Techniken der verbalen Bildproduktion, also auf die Sprache zurückgreifen. Dabei überbietet die Sprache die Leistungen, die ein materielles Indiz erbringen könnte. Denn mit der Sprache kann der Redner über das Ergebnis der Handlung hinaus auch die Handlung selbst in ihren Einzelheiten darstellen und damit aus der Abwesenheit herausführen. Die Anschaulichkeit gelingt dabei in einem ersten Schritt durch eine klare, d.h. den realen Vorgängen adäquate Darstellung (naturam intueamur, hanc sequamur, inst. 8, 3, 71). Erfundenes oder Falsches ist nicht „verboten“, darf aber nur dann in die Ausführungen hineingenommen werden, wenn es dem Wahrscheinlichen (quidquid fieri solet) nicht widerspricht (inst. 8, 3, 70). Dabei kann sich die Darstellung der Handlung entweder auf einen einzelnen entscheidenden Ausschnitt konzentrieren – etwa eine bestimmte, für den Gesamtverlauf repräsentative Bewegung335 – oder die Einzelheiten entfalten. In besonderem Maße gesteigert wird die Intensität des inneren Bildes, wenn der statische Gesamteindruck in seine ursächlichen Elemente zergliedert wird (inst. 9, 2, 40): Illa vero, ut ait Cicero [sc. Cic. De orat. 3, 53, 303; orat. 139.] sub oculos subiectio tum fieri solet, cum res non gesta indicatur, sed ut sit gesta ostenditur, nec universa, sed per partis.
Jenes, wie Cicero es bezeichnet, „Unmittelbar vor Augen Stellen“ tritt gewöhnlich dann ein, wenn nicht nur angegeben wird, was geschehen ist, sondern gezeigt wird, wie das geschehen ist, und zwar nicht allgemein, sondern in seinen Details.
Quintilian demonstriert dies unter anderem an der Beschreibung der Eroberung einer Stadt.336 Spräche man lediglich von einer „Eroberung“, so seien zwar in der
335
Quint. inst. 8, 3, 63 [...] Est igitur unum genus, quo tota rerum imago quodam modo verbis depingitur: „constitit in digitos extemplo arrectus uterque“ [= Verg. Aen. 5, 426] et cetera, quae nobis illam pugilum congredientium faciem ita ostendunt, ut non clarior futura fuerit spectantibus. 336 Quint. inst. 8, 3, 61-70, hier : 61. 66-68: Ornatum est, quod perspicuo ac probabili plus est. Eius primi sunt gradus in eo quod velis exprimi †exprimendo†, tertius, qui haec
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Bezeichnung selbst schon alle wesentlichen Details enthalten: sie umfasse die Plünderung und Zerstörung der Gebäude, die Gefangennahme oder Tötung der Bewohner, das über die Stadt hereinbrechende Flammenmeer. Die Wirkung des Wortes aber beschränke sich auf die einer reinen Information (brevis nuntius, inst. 8, 3, 67). Viel besser sei es daher, die Details im einzelnen aufzufächern, oder, anders ausgedrückt, den Blick an die diversen Ereignisse „heranzuzoomen“: Erst das Krachen der einstürzenden Dächer, die Schreie der Mütter und Kinder, die Umarmungen der Bedrängten und die Furcht der von den Siegern herumgescheuchten Gefangenen könnten das eindrückliche Bild einer Eroberung vermitteln (vgl. 8, 3, 67-70); erst durch diese Einzelheiten vermag die eigentliche Botschaft in die Gefühle der Hörer zu dringen (in adfectus penetrat, 8, 3, 67) und die intendierte emotionale Wirkung zu entfalten. Zu den weiteren Techniken, die Quintilian in diesem Zusammenhang anführt, gehören die Vergleiche (similitudines, 8, 3, 72) oder die Emphase (ἔµφασις, 8, 3, 83). Die verbale Bildproduktion ist jedoch erst der zweite Schritt. Denn um ein Bild, wie hier: das Grauen einer Eroberung, sprachlich vermitteln zu können, muß zunächst einmal dem Redner selbst ein inneres Bild vor Augen stehen. So wie sich bei den Adressaten bestimmte Gefühlsregungen nur dadurch herstellen lassen, daß auch der Redner die intendierten Emotionen annimmt (summa enim, quantum ego quidem sentio, circa movendos adfectus in hoc posita est, ut moveamur ipsi, 6, 2, 26), so funktioniert auch die Evokation der Bilder auf dem Weg der Aufnahme und Übertragung. Hier nun kommt die φαντασία zum Einsatz. Denn sie erlaubt es dem Redner, die in ihrer Verbalisierung zu vermittelnden Emotionen bzw. Bilder und Vorstellungen erst einmal in sich selbst aufzunehmen (φαντασία in concipiendis visionibus, inst. 8, 3, 88). Sie ist das „Feuer“, das am Anfang des Prozesses steht und ihn in Gang bringt (inst. 6, 2, 28-30):
nitidiora faciat, quod proprie dixeris cultum. itaque ἐνάργειαν, cuius in praeceptis narrationis [sc. 4, 2, 63-65] feci mentionem, quia plus est evidentia vel, ut alii dicunt, repraesentatio quam perspicuitas, et illud patet, hoc se quodam modo ostendit, inter ornamenta ponamus. [...] [66] Interim ex pluribus efficitur illa quam conamur exprimere facies, ut est apud eundem [sc. Ciceronem (De Gallio, frg. orat. 6, 1 Schütz; Crawford, p. 150)] [...] in descriptione convivii luxuriosi: „videbar videre alios intrantis, alios autem exeuntis, quosdam ex vino vacillantis, quosdam hesterna ex potatione oscitantis. Humus erat inmunda, lutulenta vino, coronis languidulis et spinis cooperata piscium.“ [67] Quid plus videret qui intrasset? Sic ‹et› urbium captarum crescit miseratio. Sine dubio enim qui dicit expugnatam esse civitatem complectitur omnia quaecumque talis fortuna recipit, sed in adfectus minus penetrat brevis hic velut nuntius. [68] At si aperias haec, quae verbo uno inclusa erant. apparebunt effusae per domus ac templa flammae et ruentium tectorum fragor et ex diversis clamoribus unus quidam sonus, aliorum fuga incerta, alii extremo complexu suorum cohaerentes et infantium feminarumque ploratus et male usque in illum diem servati fato senes[.]
3 Produktions- und Rezeptionsbedingungen nec incendit nisi ignis nec madescimus nisi umore ʻnec res ulla dat alteri colorem quem non ipsa habetʼ, primum est igitur, ut apud nos valeant ea, quae valere apud iudicem volumus, adficiamurque antequam adficere conemur.
[29] At quo modo fiet, ut adficiamur? Neque enim sunt motus in nostra potestate. Temptabo etiam de hoc dicere. Quas φαντασίας Graeci vocant (nos sane visiones appellemus), per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur; [30] has quisquis bene ceperit is erit in adfectibus potentissimus.
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Nur Feuer kann einen Brand entfachen, nur durch Feuchtigkeit werden wir naß: „nichts kann auf etwas anderes abfärben, wenn es nicht selbst die betreffende Farbe hat“. Das erste ist es also, daß bei uns selbst die Regungen stark sind, die bei dem Richter stark sein sollen, und daß wir uns selbst ergreifen lassen, ehe wir Ergriffenheit zu erregen versuchen. Aber wie kann bewirkt werden, daß wir uns ergreifen lassen? Die Gemütsbewegungen stehen doch nicht in unserer Macht! Ich werde versuchen, auch hierüber zu sprechen. Jeder, der das empfangen hat, was die Griechen φαντασίαι nennen (wir könnten visiones dafür sagen) – durch die φαντασίαι werden die Bilder abwesender Dinge so im Geiste vergegenwärtigt, daß wir sie mit den Augen wahrzunehmen scheinen und glauben, sie leibhaftig vor uns sehen – jeder also, der diese φαντασίαι empfangen hat, wird bei den Emotionen sehr viel ausrichten können.
Der Begriff der φαντασία umfaßt also nicht nur die produktive Kraft der Bildentfaltung, die der Redner leisten muß, bevor er die Bilder in sprachliche Formen transformieren und anschaulich (mit ἐνάργεια) darstellen kann, sondern auch den ursächlichen Stimulus, mit dem die Hervorbringung von Bildern ihren ersten Anfang nimmt. Anders als die Stoa interessiert sich Quintilian kaum für die epistemologischen Aspekte der φαντασία. Ihm geht es, dem Anliegen des Redners entsprechend, in erster Linie um ihre wirkungspsychologische Funktion. Gleichwohl dient auch die φαντασία Quintilians einem Erkenntnisinteresse. Denn ihren Einsatz findet sie nicht etwa in der Erfindung von Neuem, Unmöglichem oder gar Phantastischem. Ziel ist vielmehr die „Vergegenwärtigung“ (repraesentatio) von – wenn auch abwesenden, so doch realen bzw. wahrscheinlichen – Inhalten, denen in Ermangelung ihrer physischen Präsenz Plastizität zu verleihen ist. Insofern läßt sich die φαντασία zwar nicht als eine gesteigerte Erkenntnisform, aber doch immerhin als ein Mittel begreifen, einen Sachverhalt zu verdeutlichen und durch denkende Anschauung „erfahrbar“ zu
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machen, denn es folgt aus ihr „die ἐνάργεια, die Cicero illustratio (,Ins-LichtRücken‘) und evidentia (Anschaulichkeit) nennt.“337 Demgegenüber rücken in der Konzeption ps.-Longins die wirkungsästhetischen Implikationen in den Vordergrund. Denn die unter dem Namen des Longin bekannte, möglicherweise zwischen 25 und 40 n. Chr. entstandene338 Schrift De sublimitate geht mit ihrem Begriff der φαντασία über eine reine „Vergegenwärtigung“ weit hinaus.339 Longin will die φαντασία340 nicht einfach, „wie das manche tun“ mit der εἰδωλοποιΐα, der Produktion von Bildern, gleichsetzen; sie ist nicht einfach eine Bezeichnung für „die Fälle [...] wo man das Gesagte in Begeisterung und leidenschaftlich erregt zu schauen meint und es den Hörern vor Augen stellt“ (15, 1),341 sie verweist vielmehr auf die Fähigkeit, neben ἐνάργεια auch ἔκπληξις, also Erschütterung, hervorzubringen. Longin unterscheidet zwischen dem Ziel der Rhetorik, wo es um ἐνάργεια geht, und dem der Dichtung (ps.-Long. sublim. 15, 2): ὡς δὲ ἕτερόν τι ἡ ῥητορικὴ φαντασία βούλεται καὶ ἕτερον ἡ παρὰ ποιηταῖς οὐκ ἂν λάθοι σε, οὐδ’ ὅτι τῆς µὲν ἐν ποιήσει τέλος ἐστὶν ἔκπληξις, τῆς δ ἐν λόγοις
Daß jedoch die rhetorische Phantasie etwas anderes will als die dichterische, wird dir nicht entgangen sein, auch nicht, daß das Ziel der dichterischen Phantasie
337 Quint. inst. 6, 2, 32: Insequetur ἐνάργεια, quae a Cicerone [sc. Cic. part. 6, 20] inlustratio et evidentia nominatur, quae non tam dicere videtur quam ostendere, et adfectus non aliter quam si rebus ipsis intersimus sequentur. 8, 3, 61, s. oben Anm. 336, und 8, 3, 62 (s. S. 148). Die Rede hat also die Aufgabe, in die Emotionen der Zuhörer einzudringen (in adfectus penetrare) bzw. die Zuhörer zu bezwingen und zu beherrschen (dominatur); letzteres gilt im Übrigen auch für ps.-Long. sublim. 15, 9 (δουλοῦται), s. dazu unten, S. 153. 338 Datierung und Autorschaft sind umstritten. Für die o. g. Datierung spricht die Einschätzung der zeitgenössischen Rhetorik in sublim. 44. Erwogen werden auch verschiedene Zeiträume zwischen 25 v. und 150 n. Chr. Eine Zuweisung zu Longin versucht neuerdings wieder Malcom Heath: „The Ancient Sublime“. In: The Sublime: From Antiquity to the Present. Hrsg. von Timothy M. Costelloe. Cambridge 2012, S. 11-23. 339 Die entscheidende Passage ist ps.-Long. sublim. 15. Vgl. auch die Stildiskussionen 3, 1; 7, 1; 9, 13; 43, 3. 340 Vgl. hierzu Thomas G. Rosenmeyer: „Phantasia und Einbildungskraft. Zur Vorgeschichte eines Leitbegriffs der europäischen Ästhetik“. In: Poetica 18. 3-4 (1986), S. 197-248, hier: S. 199-214. 341 Ps.-Long. sublim. 15, 1: Ὄγκου καὶ µεγαληγορίας καὶ ἀγῶνος ἐπὶ τούτοις, ὦ νεανία, καὶ αἱ φαντασίαι παρασκευαστικώταται. οὕτω γοῦν ‹ἡµεῖς›, εἰδωλοποιίας ‹δ’› αὐτὰς ἔνιοι λέγουσι·καλεῖται µὲν γὰρ κοινῶς φαντασία πᾶν τὸ ὁπωσοῦν ἐννόηµα γεννητικὸν λόγου παριστάµενον· ἤδη δ’ ἐπὶ τούτων κεκράτηκε τοὔνοµα ὅταν ἃ λέγεις ὑπ’ ἐνθουσιασµοῦ καὶ πάθους βλέπειν δοκῆις καὶ ὑπ’ ὄψιν τιθῆις τοῖς ἀκούουσιν.
3 Produktions- und Rezeptionsbedingungen ἐνάργεια, ἀµφότεραι δ’ ὅµως τό τε *342 ἐπιζητοῦσι καὶ τὸ συγκεκινηµένον.
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Erschütterung ist, das der rhetorischen aber Deutlichkeit, beide freilich in gleicher Weise [...] und Erschütterung erstreben.343
Wiewohl Longin die Wirkungsintentionen der Poesie und der Rhetorik differenziert, gibt es, wie das wohl auch die korrupte Textpassage hatte andeuten wollen, Gemeinsamkeiten und Überschneidungen. Denn beide Formen der φαντασία stehen im Zeichen einer Wirkungspoetik, die sich die ἐνάργεια (Rhetorik) bzw. ἔκπληξις (Dichtung) zunutze macht, um eine gesteigerte Erfahrung – eine besondere Art des Sehens bzw. der Emotionen – hervorzurufen. Ebenso wie es dem Dichter gelingen kann, seine Hörer dazu zu „zwingen“ (ἀναγκάζειν), das Bild seiner eigenen Phantasie zu schauen,344 so ist es auch Aufgabe der Rhetorik, Phantasiebilder in die Sachbeweise hineinzustreuen (κατακιρναµένη ταῖς πραγµατικαῖς ἐπιχειρήσεισιν, 15, 9), um die Emotionen der Zuhörer kontrolliert zu steuern und zu beherrschen. Denn „die rhetorischen Phantasiebilder [...] überzeugen den Hörer nicht nur, sondern überwältigen ihn sogar“ ἡ ῥητορικὴ φαντασία [...] οὐ πείθει τὸν ἀκροατὴν µόνον, ἀλλὰ καὶ δουλοῦται oder, das δουλοῦται ganz wörtlich genommen: sie machen sich den Hörer zum Sklaven.345 Die phantasía-Konzeption wieder unter das Stichwort der εἰδωλοποιΐα gefaßt und damit eine von Ps.-Long. sublim. 15, 1 möglicherweise angesprochene Tradition fortgesetzt346 hat schließlich der kynisch-stoische Popularphilosoph und Redner Dion Chrysostomos (Dion von Prusa). Zwar spricht Dion nicht explizit von φαντασία. Doch in seiner 12., der sogenannten „Olympischen“
342
Donald A. Russell: Longinus. On the Sublime. Oxford 1964, ad loc.: ‹παθητικὸν›. Rosenmeyer: „Phantasia und Einbildungskraft“ [wie Anm. 340], S. 205, Anm. 25, konjiziert [ἐπίδηλον „Klarheit“. 343 Übersetzung in Anlehnung an: Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch – Deutsch. Übers. und hrsg. von Otto Schöneberger. Stuttgart 1988, S. 45. 344 Ps.-Long. sublim. 15, 2 heißt es über die zuvor zitierten Verse Eur. Or. 255f. und Eur. Iph. Taur. 291: ἐνταῦθ’ ὁ ποιητὴς αὐτὸς εἶδεν Ἐρινύας· ὃ δ’ ἐφαντάσθη, µικροῦ δεῖν θεάσασθαι καὶ τοὺς ἀκούοντας ἠνάγκασεν („Hier sah der Dichter [sc. Euripides] selbst die Erinnyen und zwang auch fast die Hörer, das Bild seiner Phantasie zu schauen.“). 345 Vgl. zu diesem Aspekt Webb: „Imagination and the arousal of the emotions in GrecoRoman rhetoric“ [wie Anm. 306], S. 112-127, hier: S. 117f. 346 Die entsprechende Passage, ps.-Long. sublim. 15, 1, ist korrupt: αἱ φαντασίαι [...]. οὕτω γοῦν * εἰδωλοποιΐας αὐτὰς ἔνιοι λέγουσι· καλεῖται µὲν γὰρ κοινῶς φαντασία πᾶν τὸ ὁπωσοῦν ἐννόηµα γεννητικὸν λόγου παριστάµενον[.] Daß ps.-Longin hier eine Tradition anspricht, in der der Begriff der εἰδωλοποιΐα als ein Äquivalent für die φαντασία gesetzt wurde, vertreten Donald A. Russell: Longinus. On the Sublime [wie Anm. 342], S. 120, und Winfried Bühler: Beiträge zur Erklärung der Schrift vom Erhabenen. Göttingen 1964, S. 109, Anm. 1.
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3 Produktions- und Rezeptionsbedingungen
Rede,347 einer Art Vorlesung (διατριβή), die er ca. 105 n. Chr.348 während der Olympischen Spiele hält (vgl. or. 12, 25-26a), stellt Dion sich die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Kunst sowie von Bild und Sprache – moderner ausgedrückt: nach der Ins-„Bild“-Setzung (d.h. der Transformation und Realisation) der religiösen Vorstellungen und der Differenz der hierfür bereitstehenden Medien. Anlaß ist ihm die Zeusstatue des Phidias,349 die nicht nur ein religiöses Weihgeschenk, sondern auch ein Kunstwerk von höchster Vollendung und Schönheit ist (or. 12, 25). Im Kunstwerk lasse sich das Göttliche symbolisch zur Darstellung bringen. Die bildende Kunst bzw. die Fertigkeit, Weihestatuen und Abbilder von Gottheiten überhaupt herzustellen (ἡ πλαστική τε καὶ δηµιουργικὴ τῶν περὶ τὰ θεῖα ἀγάλµατα καὶ τὰς εἰκόνας, or. 12, 44), sei daher neben den natürlich angeborenen und den durch Philosophie, Dichtung und Gesetzgebung erworbenen Vorstellungen350 eine der fünf Entstehungsfaktoren für die Wahrnehmung des Göttlichen.351 Dabei geht es Dion nicht allein um Herleitung und Beweis der Gottesvorstellungen oder um das theologische Problem der Legitimation anthropomorpher Götterbilder, sondern in erster Linie, in einem kunsttheoretischen Sinne, um Fragen der Produktionsästhetik. Ausgehend von der Frage, was der menschlichen Vorstellung vom Göttlichen352 Form verleihen und ihr zur Darstellung verhelfen kann, bzw. welches Medium in
347 Text und Übersetzung in: Dion von Prusa. Olympische Rede oder über die erste Erkenntnis Gottes. Eingeleitet, übersetzt und interpretiert von Hans-Josef Klauck. Mit einem archäologischen Beitrag von Balbina Bäbler. Darmstadt 2000 (= Sapere, Bd. 2). Zur Phantasia bei Dion vgl. Irmgard Männlein-Robert: „Zum Bild des Phidias in der Antike. Konzepte zur Kreativität des bildenden Künstlers“. In: Imagination – Fiktion – Kreation. Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie. Hrsg. von Thomas Welt und Thomas Dewender. München/Leipzig 2003, S. 45-67, hier: S. 63-65. Watson: „The Concept of ‘Phantasia’“ [wie Anm. 306], hier: S. 4777-4780; zu 12, 64-79: S. 4778f.; zum Verhältnis zu Philostrat: S. 4781ff. 348 Zur Datierung s. Klauck: Dion von Prusa. Olympische Rede [wie Anm. 347], S. 25-27. 349 Zur Bedeutung des Phidias in der phantasía-Diskussion vgl. Männlein-Robert: „Zum Bild des Phidias in der Antike“ [wie Anm. 347], S. 45-67. Im Hellenismus ist der PhidiasPhantasia-Komplex zuerst bei Kallimachos im 6. Iambus greifbar. „Der Zeus des Phidias“ gilt „bereits Kallimachos als repräsentatives Kunstwerk“, das „Anlaß zu disziplinenübergreifender aemulatio wie zur Konstituierung des eigenen, literarischen Programms bietet.“ (Männlein-Robert, a.a.O., S. 45. 47f., hier: S. 47). 350 Vgl. Dion. Chr. or. 12, 39: ἡ ἔµφυτος ἅπασιν ἀνθρώποις ἐπίνοια bzw. ἡ ἐπίκτητος ‹ἐπίνοια› τε καὶ µύθοις καὶ ἔθεσι. Erworben werden die Gottesvorstellungen durch Philosophie (Logos), Dichtung (Mythos) und Gesetzgebung (Ethos), also die drei Größen der theologia tripertita, vgl. dazu Klauck, Dion von Prusa. Olympische Rede [wie Anm. 347], S. 187-190. 351 Dion Chr. or. 12, 44: προκείµεναι γενέσεις τῆς δαιµονίου παρ’ ἀνθρώποις ὑπολήψεως. 352 Dion Chr. or. 12, 26.
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dieser Hinsicht überlegen ist, diskutiert Dion das Differenzverhältnis von bildender Kunst und Literatur: Beide betreiben die Produktion von Bildern, εἰδωλοποιΐα (or. 12, 45) – die Dichter, indem sie das Gehör ansprechen (δι’ ἀκοῆς), die Künstler über den Gesichtssinn (δι’ όψεως, 46). Allerdings sind die Dichter den Künstlern – selbst bei der Bildproduktion – überlegen.353 Wenn ein Künstler etwas Nichtdarstellbares zur Darstellung bringen möchte, etwa ein Abstractum oder eine Emotion, so ist er gezwungen, das Nichtdarstellbare zu materialisieren bzw. an etwas materiell Darstellbares zu binden (Dion. Chr. or. 12, 59)354: Νοῦν γὰρ καὶ φρόνησιν αὐτὴν µὲν καθ’ αὑτὴν οὔτε τις πλάστης οὔτε τις γραφεὺς εἰκάσαι δύνατὸς ἔσται· ἀθέατοι γὰρ τῶν τοιούτων καὶ ἀνιστόρητοι παντελῶς πάντες. τὸ δὲ ἐν ὧι τοῦτο γιγνόµενόν ἐστιν οὐχ ὑπονοοῦντες, ἀλλ’εἰδότες, ἐπ’ αὐτὸ καταφεύγοµεν, ἀνθρώπινον σῶµα ὡς ἀγγεῖον φρονήσεως καὶ λόγου θεῶι προσάπτοντες, ἐνδείαι καὶ ἀπορίαι παραδείγµατος τῶι φανερῶι τε καὶ εἰκαστῶι τὸ ἀνείκαστον καὶ ἀφανὲς ἐνδείκνυσθαι ζητοῦντες, συµβόλου δυνάµει χρώµενοι.
Verstand und Denkvermögen direkt und an sich vermag ja kein Bildhauer oder Maler abzubilden, sind doch alle Menschen völlig außerstande, Derartiges zu sehen oder zu erforschen. Das Wesen aber, in dem dies realisiert ist, erahnen wir nicht nur, sondern kennen es und nehmen folglich zu ihm unsere Zuflucht. Wir schreiben Gott also einen menschlichen Leib, den wir als eine Art Gefäß für Denkvermögen und Vernunft auffassen, zu. Aus purer Not und in Ermangelung eines besseren Beispiels versuchen wir so, mit Hilfe des Sichtbaren und Darstellbaren das Nichtdarstellbare und Unsichtbare zu gestalten, wobei wir uns der Evokationskraft des Symbols (δύναµις συµβόλου) bedienen.
Ganz andere Möglichkeiten dagegen habe der Dichter. Während sich der bildende Künstler auf einen einzigen Eindruck beschränken müsse, könne der Dichter „durch die Dichtkunst jede Art von Vorstellung beim Menschen erzeugen“ (εἰς πᾶσαν ἐπίνοιαν ἄγειν διὰ τῆς ποιήσεως, or. 12, 57). Auf die Quellen, die Dion benutzt hat, bezieht sich offensichtlich auch Philostrat, der dessen Werk gut kannte.355 Wie Dion (or. 12, 64-79) diskutiert
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Dion in or. 12, 64-79. Der Passus ist Teil der fiktiven Verteidigungsrede des Phidias, 55-83, in der dieser seine bildkünstlerische Leistung vor dem Hintergrund der medienspezifischen Darstellungsmöglichkeiten aufwertet. Interpretation von Dion Chr. or. 12, 64-79 bei Watson: „The Concept of ʻPhantasiaʼ“ [wie Anm. 306], S. 4778f. 354 Übers. Klauck: Dion von Prusa. Olympische Rede [wie Anm. 348]. 355 Analyse bei Watson: „The Concept of ʻPhantasiaʼ“ [wie Anm. 306], S. 4781ff. Auf welche Quellen Philostrat (ca. 160/170 – ca. 244/ 249 n. Chr.) zurückgreift, ist in der Forschung umstritten. Vgl. dazu den in den 1930-er Jahren geführten Disput zwischen
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Philostrat das Problem mit Blick auf den Paragone von Literatur und Malerei und äußert sich mehrfach zu kunsttheoretischen Fragen.356 In seiner Biographie über den pythagoreischen Wundertäter und Philosophen Apollonios von Tyana, der Vita Apollonii, kommen die jeweils spezifischen Eigenarten von bildender Kunst und Dichtung sowie die Beziehung zwischen mímesis und phantasía zur Sprache.357 Letzteres entfaltet Philostrat in dem anekdotenhaften Gepräch zwischen dem Protagonisten Apollonios und dem ägyptisch-äthiopischen Gymnosophisten Thespesion (6, 19).358 Kontext und Aufhänger ähneln der Diskussion in Dions
Bernhard Schweitzer: „Der bildende Künstler und der Begriff des Künstlerischen in der Antike.“ In: Neue Heidelberger Jahrbücher N. F. Heidelberg 1925, S. 28-132, der stoische Einflüsse geltend machen wollte, und Ella Birmelin: „Die kunsttheoretischen Gedanken in Philostrats Apollonios“ (I). In: Philologus 88 (1933), S. 149-180; dies.: „Die kunsttheoretischen Gedanken in Philostrats Apollonios“ (II). In: Philologus 88 (1933), S. 392-414 (bes. S. 399), die Philostrats phantasía-Begriff als eine Transformation und Fortführung des aristotelischen mímesis-Konzeptes auffaßte, sowie Schweitzers Replik auf die „ausgezeichnete Wiederlegung“ (Rosenmeyer: „Phantasia und Einbildungskraft“ [wie Anm. 122], S. 238) seiner Überlegungen bei: Ella Birmelin: „Bernhard Schweitzer: Mimesis und Phantasia“. In: Philologus 89 (1934), S. 286-300. In der jüngeren Forschung hat sich Flory: „Stoic Psychology“ [wie Anm. 312], S. 149-151, wieder für stoische Einflüsse ausgesprochen. Eine die verschiedenen Aspekte miteinander versöhnende Quellenanalyse betreibt Rosenmeyer: „Phantasia und Einbildungskraft“ [wie Anm. 122], S. 236-240, hier: S. 240: „Philostrats Vita Apollonii scheint auf einen aus der platonischen und aristotelischen Tradition geschöpften, allerdings vulgarisierten Gebrauch des terminus zu rekurrieren.“ 356 S. hierzu die Übersicht bei Birmelin: „Die kunsttheoretischen Gedanken in Philostrats Apollonios“ (I) [wie Anm. 355], S. 150f. Vgl. auch die Zusammenstellung der Hinweise auf Dichterstellen bei Karl L. Kayser: Flavii Philostrati opera, 2 Bde. Leipzig 1870-1871, Bd. 2, S. 544ff. (Index auctorum). 357 I. Über Kunst und Posie: 4, 7 (Vergleich Kunst - Poesie); 6, 11 (Schmuck als wesentliches Moment in Kunst und Poesie); 8, 7 – II. Über Kunst: 2, 20; 2, 22 (malerische Mimesis); 6, 19 (Phantasia), 8, 7; 4, 28. III. Über Poesie: 4, 25 (Dichtung ist Schein der Wirklichkeit) – 3, 25 (Dichter verderben die Tugend), 6, 40 (Tadel der Dichter) etc. (vornehmlich über Homerisches). 358 Philostr. vit. Apoll. 6, 19. Text nach Kayser: Flavii Philostrati opera [wie Anm. 356]. Übersetzung nach: Philostratos. Das Leben des Apollonios von Tyana. GriechischDeutsch. Hrsg., übers. u. erl. von Vroni Mumprecht. München/ Zürich 1983, hier: S. 646649. Zur Interpretation der Stelle s. Männlein-Robert: „Zum Bild des Phidias in der Antike“ [wie Anm. 347], S. 48-54. Gerard Watson: „Discovering the Imagination. Platonists and Stoics on phantasia“. In: The Question of „Eclecticism“. Studies in Later Greek Philosophy. Hrsg. von John M. Dillon und Anthony A. Long. Berkeley/ Los Angeles/ London 1988, S. 208-233, hier: S. 208-212, bes. S. 209f., sowie die beiden Aufsätze von Birmelin: „Die kunsttheoretischen Gedanken in Philostrats Apollonios“ (I) und „Die kunsttheoretischen Gedanken in Philostrats Apollonios“ (II) [wie Anm. 355].
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Olympischer Rede: Ausgehend von der künstlerischen Leistung eines Phidias geht es um die Frage des Bildkultes, d.h. der bildkünstlerischen Darstellung des Göttlichen. Als Thespesion danach fragt, wie es möglich gewesen sei, die Götter in der Kunst darzustellen – „οἱ Φειδίαι δὲ“ εἶπε „καὶ Πραξιτέλεις µῶν ἀνελθόντες ἐς οὐρανὸν καὶ ἀποµαξάµενοι τὰ τῶν θεῶν εἴδη τέχνην αὐτὰ ἐποιοῦντο, ἢ ἕτερόν τι ἦν, ὃ ἐφίστη αὐτοὺς τῶι πλάττειν;“
„Sind denn Leute wie Phidias und Praxiteles“ fragte Thespesion, „in den Himmel hinaufgestiegen und haben die Götter dort nachgebildet und zu Kunstwerken gemacht? Oder was hat sie sonst zu ihrer Darstellung geführt?“
– gibt ihm Apollonios zur Antwort, daß bei der Darstellung der Götter nicht etwa µίµησις, sondern φαντασία am Werke sei. Denn während die µίµησις nur das reproduzieren könne, was man gesehen hat, könne die φαντασία auch das hervorbringen, was man noch nicht gesehen hat: „ἕτερον“ ἔφη „καὶ µεστόν γε σοφίας πρᾶγµα.“ „ποῖον;“ εἶπεν „οὐ γὰρ ἄν τι παρὰ τὴν µίµησιν εἴποις.“ „φαντασία“ ἔφη „ταῦτα εἰργάσατο, σοφωτέρα µιµήσεως δηµιουργός· µίµησις µὲν γὰρ δηµιουργήσει, ὃ εἶδεν, φαντασία δὲ καὶ ὃ µὴ εἶδεν[.]
„Etwas anderes“, erklärte Apollonios, „etwas, das voller Weisheit ist.“ „Was denn?“ wollte Thespesion wissen. „Du hast doch nichts anderes als die Nachahmung anzuführen.“ „Die Phantasie hat dies bewirkt“, lautete die Erklärung, „eine Künstlerin, die weiser ist als die Nachahmung. Diese wird darstellen, was sie gesehen hat, die Phantasie aber auch, was sie nicht gesehen hat[.]
Zwar seien beide, µίµησις und φαντασία, δηµιουργοί. Doch weist die φαντασία, wie Philostrat im Folgenden näher ausführt, in doppelter Hinsicht über die µίµησις hinaus: 1. Sie ist gegenüber der reproduktiven µίµησις produktiv, also schöpferisch, indem sie das Gesehene durch analogische Übertragung weiterführt. 2. Anders als die µίµησις wird die φαντασία durch nichts zurückgeschreckt oder behindert: µίµησιν µὲν πολλάκις ἐκκρούσει ἔκπληξις, φαντασίαν δὲ οὐδέν (6, 19 231 K.). Ihre Kraft entfaltet sie dabei gerade in der Distanz gegenüber dem Gegenstand. Da sie von der Erschütterung und „Betäubung“ (ἔκπληξις), wie sie von den realen Gegenständen ausgeht, frei ist, kann sie ungehindert auf das zugehen, was sie sich „vorgenommen“ hat: χωρεῖ γὰρ ἀνέκπληκτος πρὸς ὃ αὐτὴ ὑπέθετο. Die φαντασία ist demnach nicht als Antithese zur, sondern als eine Steigerung der µίµησις zu verstehen. Als Thespesion seinen Gesprächspartner danach fragt, wie die φαντασία zu ihren Bildern kommen kann, wo sie doch das
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Nichtwirkliche, das Nichtgesehene darstellen soll, erklärt ihm Apollonios, daß sie die Vorstellungsbilder gemäß einer vergleichenden Übertragung der Wirklichkeit, d.h. in Analogie zu dem realiter Seienden entwickele: ὑποθήσεται γὰρ αὐτὸ πρὸς τὴν ἀναφορὰν τοῦ όντος (6, 19).359 Apollonios/Philostrat verstehen die φαντασία also als einen Prozeß, der den Akt der µίµησις nicht etwa unterläuft, sondern fortführt. Philostrats Begriff der φαντασία ist somit weit entfernt von einer Identifikation mit den φαντάσµατα. Nicht nur deshalb, weil seine φαντασία nicht das Produkt, sondern das Agens beschreibt; sondern insbesondere deshalb, weil auch sie (ähnlich wie bei Dion Chrysostomos) eine erkenntnisbefördernde Größe ist. Die „hypothetische, nach Analogie von Wirklichkeitseindrücken gestaltende Tätigkeit der Phantasie“ ist dennoch, wie schon Ella Birmelin herausgestellt hat, „keine willkürliche, sondern hat die Aufgabe, ihrem Bilde innere Wahrheit zu verleihen“:360 Wer sich Zeus vorstellen wolle, müsse sich auch all jene Dinge vorstellen, die mit seiner Figur zusammenhängen: Himmel, Jahreszeiten, Gestirne; wer sich wiederum Athene vorstellt, muß an Feldlager, an Klugheit, Künste und ihre Geburt aus dem Haupt des Zeus denken (6, 19). Zwar kommt an das im Geist gestaltete Bild keine auch noch so gute künstlerische Realisation heran – das geistige Bild ist vorzüglicher als seine Verwirklichung im Kunstwerk (ἀναγράφει γάρ τι ἡ γνώµη καὶ ἀνατυποῦται δηµιουγίας κρεῖττον, 6, 19) – ein Gedanke übrigens, der auch in Ciceros Orator (Cic. orat. 2, 7) auftaucht.361
359
Übers. Birmelin: „Die kunsttheoretischen Gedanken in Philostrats Apollonios“ (II) [wie Anm. 355], S. 396: ὑποθήσεται heißt „Sie wird sich (αὐτό, das, was sie nicht sah) in Ansatz bringen, nämlich im Denken, d.h., sie wird ein Bild erfinden“; zum Terminus der ἀναφορά im Sinne von „Analogie“ vgl. ebd., S. 396f. 360 Ebd., S. 397f. mit Hinweis auf (die vermutlich von einem Namensvetter des Autor der vita Apollonii verfaßten) Eikones, Philostr. imag. 2, p. 340, 35ff. K.: τὰ γὰρ συµβαίνοντα οἱ µὴ γράφοντες οὐκ ἀληθεύουσιν ἐν ταῖς γραφαῖς. 361 Im Zusammenhang mit seinem Entwurf des vollkommenen Redners spricht Cicero davon, daß das Ideal des Redners nur „in Gedanken und im Geist“ erfaßt werden könne. Denn wie bei den Kultbildern des Phidias gebe es immer noch etwas, das schöner sei, das nämlich, „von dem jenes Werk wie ein Abdruck von einem Gesicht genommen ist“, Cic. or. 2, 8: sed ego sic statuo nihil esse in ullo genere tam pulchrum, quo non puchrius id sit unde illud ut ex ore aliquo quasi imago exprimatur. quod neque oculis neque auribus neque ullo sensu percipi potest; cogitatione tantum et mente complectimur. („Ich aber stehe auf dem Standpunkt, daß nichts auf irgendeinem Gebiet so schön ist, daß nicht dasjenige noch schöner wäre, von dem jenes betreffende Werk wie ein Abdruck von einem Gesicht genommen ist; das kann man weder mit Augen noch mit Ohren noch mit irgendeinem Sinn wahrnehmen, wir können es nur in Gedanken und im Geist fassen.“, Übers.: Cicero: Orator. Übers. u. hrsg. von Harald Merklin. Stuttgart 2004, S. 23). Zu Cic. or. 2, 7 - 3, 10 vgl. die Interpretation bei Männlein-Robert: „Zum Bild des Phidias in der Antike“ [wie Amn. 347], S. 54-60. Aus welchen Quellen Cicero den Gedanken geschöpft hat, ist umstritten. Laut Birmelin: „Die kunsttheoretischen Gedanken in
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Doch genießt der Künstler anders als die gewöhnlichen Menschen, denen ausschließlich die Fähigkeit zur µίµησις zugestanden wird, die vorzügliche Begabung, sich dem Vollkommenen im Akt der phantasía zu nähern.362 Die schöpferische Kraft der phantasía liegt also nicht etwa in der willkürlichen Erfindung von Neuem, sondern in der denkenden Ausgestaltung363 und Umsetzung des zwar nicht Sichtbaren, aber Vorhandenen. Anders ausgedrückt: Das produktive Moment der phantasía dient nicht der Überschreitung des Gegebenen, sondern dessen Erkenntnis. Angesichts dieser nicht zuletzt von der Stoa beeinflußten Positionen und der von ihnen gesetzten Zusammenhänge von Erkenntnis, Imagination und Sinnlichkeit, erscheint es also als denkbar, daß Seneca mit der Produktion von Tragödien eine Form suchte, die die Sinne, zumal die Imagination, anspricht, um Erkenntnis durch Anschauung zu befördern. Insofern wären die Tragödien tatsächlich als ein Teil seines philosophisch-pädagogischen Projekts aufzufassen,
Philostrats Apollonios“ (II) [wie Amn. 355], S. 404, bezieht sich Ciceros explizite PlatonReferenz (ebd. 3, 10) auf Plat. Tim. 28 a (vgl. Proclus, Comm. ad Plat. Tim. 28a b I, p. 256 18, Diehl). Anders Wilhelm Kroll: M. Tullii Ciceronis Orator. Berlin 1913, Nachdruck: Berlin 1958, der „die Berufung auf Platons Ideenlehre als rein ‚feuilletonistische‘ Wendung ansieht“ (Männlein-Robert: „Zum Bild des Phidias in der Antike“ [wie Anm. 347], S. 55, Anm. 54). Ciceros Academica 1, 40 und 2, 18 (im übrigen der früheste römische Beleg für das phantasía-Konzept, vgl. Peter Flury: „Phantasia und imaginatio im Bereich des antiken Lateins“. In: Phantasia – Imaginatio. V° Colloquio Internazionale Roma 9-11 Gennaio 1986. Hrsg. von Marta Fattori und Massimo Bianchi. Rom 1988, S. 69-79, hier: S. 70f.), wo sich Cicero im Zusammenhang der Lehre von den Sinneswahrnehmungen auf Zenon bezieht, lassen eher stoischen Einfluß vermuten. Dafür spräche auch die Verlagerung der bei Platon noch transzendenten Idee in die menschliche Seele. Für ein „Konglomerat von platonischen, aristotelischen und stoischen Elementen mittelplatonischer Prägung“ spricht sich Männlein-Robert a.a.O., S. 54ff., hier: 57, aus. 362 Philostr. vit. Apoll. 2, 22 (65 K.) δίττα ἄρα ἡ µιµητική, ὦ ∆άµι, καὶ τὴν µέν ἡγώµεθα οἵαν τῆι χειρὶ ἀποµιµεῖσθαι και τῶι νῶι, γραφικὴν δὲ εἶναι ταύτην, τὴν δ’ αὖ µόνωι τῶι νῶι εἰκάζειν: Alle Menschen sind zur Nachahmung nicht nur fähig, als Betrachter der Gemälde der Kunst bedürfen sie geradezu der Fähigkeit zur Nachahmung (µιµητικῆς δεῖσθαι), da sie die Darstellung eines Gegenstandes nur würdigen können, wenn sie in der Lage sind, sich den Gegenstand vorzustellen, dem das Gemälde nachgebildet ist (οὐ γὰρ ἐπαινέσειέ τις τὸν γεγραµµένον ἵππον ἢ ταῦρον µὴ τὸ ζῶιον ἐνθυµηθεὶς ὧ εἴκασται, 66 K.); demgegenüber sind die Künstler darüber hinaus in der Lage, die im Geist gestaltete Anschauung in sinnfälligen Mitteln zu veräußerlichen. Zwischen dem Künstler und dem gewöhnlichen Menschen besteht daher kein qualitativer, sondern ein nur quantitativer Unterschied. 363 Beide Vorgänge, den der φαντασία wie den der ihr vorausgehenden µίµησις, versteht Philostrat denn auch als einen Akt des ἐνθυµεῖσθαι und ἐννοεῖν, vgl. dazu Birmelin: „Die kunsttheoretischen Gedanken in Philostrats Apollonios“ (I) [wie Anm. 355], S. 166. Philostrat sieht das „Wesen der visuellen Kunst“ in der „zur Erkenntnisform erhobenen Mimesis“ (ebd.).
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allerdings weniger, weil sie im Sinne einer repraesentatio stoisches Gedankengut vermitteln, als vielmehr deshalb, weil sie das Ineinandergreifen von visueller, imaginativer und kognitiver Ansprache in einer Weise betreiben, wie es sowohl für die Evokation einer ästhetischen Erfahrung als auch im Anschluß an die stoische Wahrnehmungstheorie für jeden mentalen Verstehensprozeß konstitutiv ist.
3.4
Zur Aufführungsfrage
Über die Frage, in welcher Form die Tragödien ihre Adressaten gefunden haben und an welche Adressaten sich die Tragödien richteten, läßt sich allenfalls spekulieren. Über Senecas Tragödien ist aus der Antike praktisch nichts bekannt – genau genommen, so wenig, daß noch Sidonius Apollinaris davon ausgehen konnte, daß der Prinzenerzieher und Autor der philosophischen Schriften mit dem Seneca tragicus nicht identisch ist.364 Das einzige Zeugnis, das sich überhaupt als Hinweis auf die Existenz der Tragödien deuten läßt,365 ist neben Quintilians Bemerkungen366 der Hinweis des Tacitus in den Annales, Neros künstlerische Interessen hätten Seneca in einer Art Konkurrenzkampf dazu bewogen, seine dichterische Produktion zu steigern (Tac. ann. 14, 52): obiciebant etiam eloquentiae laudem uni sibi adsciscere et carmina crebrius factitare, postquam Neroni amor eorum venisset.
Sie warfen ihm [sc. Seneca] sogar vor, daß er sich allein den Ruhm der Eloquenz anmaßen wolle und häufiger poetische Texte produzierte, seitdem Nero eine Leidenschaft dafür entwickelt hatte.
364 Sidon. carm. 9, 232-238. Vgl. dazu Winfried Trillitzsch: „Seneca tragicus: Nachleben und Beurteilung im lateinischen Mittelalter von der Spätantike bis zum Renaissancehumanismus“. In: Philologus 122 (1978), S. 120-136, hier: S. 122f. Bei Ttrillitzsch findet sich auch eine Zusammenstellung der Zitationen aus den Tragödien bei Augustinus, Prudentius und anderen, die freilich allesamt nur auf Kenntnis der Tragödien weisen, ohne den Namen des Autors zu nennen. 365 Daß das in der „Casa del Moralista“ (III 4,2.3) in Pompeji erhaltene Wandbild den Senecanischen Oedipus darstellt, hat Volker M. Strocka („Senecas Oedipus in Pompeji – ein archäologisches Märchen“. In: Dramatische Wäldchen – Festschrift für Eckard Lefèvre zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ekkehard Stärk. Hildesheim 2000, S. 189-201) überzeugend widerlegen können. 366 Quint. inst. 8, 3, 31 (über das Gespräch, das Seneca und Pomponius über die Frage geführt haben sollen, ob man in einer Tragödie „gradum eliminat“ sagen dürfe); ebd. 10, 1, 125-131, vor allem 128-129: tractavit etiam omnem fere studiorum materiam: nam et orationes eius et poemata et epistulae et dialogi feruntur. Möglicherweise wird hier auf die Produktion von Tragödien angespielt.
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Eine weitere Überlegung hat James Ker in seiner kleinen Studie über Seneca, Man of Many Genres367 ins Spiel gebracht: Ker macht darauf aufmerksam, daß der Verfasser der Seneca zugeschriebenen Octavia den darin auftretenden Seneca als einen Philosophen und Dramatiker darstellt, und zieht daraus den – nicht unberechtigten – Schluß, daß die zeitgenössische Öffentlichkeit dieses Bild zumindest akzeptiert haben muß. Daß Senecas Tagödien für die Bühne bestimmt waren, ist früh bezweifelt worden. 1817 ließ August Wilhelm Schlegel vernehmen, die Tragödien seien „über alle Beschreibung schwülstig und frostig, ohne Natur in Charakter und Handlung, durch die widerlichsten Unschicklichkeiten empörend und so von aller theatralischen Einsicht entblößt, daß ich glaube, sie waren nie dazu bestimmt, aus den Schulen der Rhetoren auf die Bühne hervorzutreten“,368 und schon 1904 kann Martin P. Nilsson369 auf eine lange Tradition dieser Diskussion verweisen: „Wenige haben im Ernste geglaubt, daß sie je gespielt worden sind oder für die Bühne geschrieben worden sind.“ Daß die Tragödien nicht nur nicht spielbar, sondern für die Bühne gar nicht erst bestimmt gewesen seien, behauptet auch Max Pohlenz: „Ein Bühnendichter war Seneca freilich nicht; er hat nur Lesedramen geschrieben und nie an die Wirkung für das Auge gedacht.“370 Ende der 60er Jahre schließlich hat Otto Zwierlein371 mit seiner Dissertation Die Rezitationsdramen Senecas die Diskussion auf eine neue, freilich mehr als problematische Grundlage gestellt. Zwierlein unternahm mit seiner Untersuchung zum ersten Mal den Versuch, der Aufführungsfrage durch eine
367
Vgl. hierzu James Ker: „Seneca, Man of Many Genres“. In: Volk/ Williams (Hrsg.): Seeing Seneca Whole [wie Anm. 84], S. 19-41, hier: S. 23 (Tacitus) und S. 20 (Quintilian), S. 22f. (Ps.-Seneca Octavia). 368 August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur [wie Anm. 14]. 369 Martin P. Nilsson: Zur Geschichte des Bühnenspiels in der römischen Kaiserzeit. In: Acta Universitatis Lundensis 40 (1904), Lund 1906. 370 Max Pohlenz: Die Stoa (1948). Göttingen 1964, S. 324. 371 Otto Zwierlein: Die Rezitationsdramen Senecas: mit einem kritisch-exegetischen Anhang. Meisenheim am Glan 1966 (= Beiträge zur Klassischen Philologie, Bd. 20). Rezensionen von Eckard Lefèvre. In: Gnomon 40 (1968), S. 782-789; Rudolf Rieks. In: Poetica 1, 1967, S. 567-571; Auseinandersetzungen ferner bei Cecil J. Herington: „Senecan Tragedy“. In: Arion 5 (1966), S. 422-447; Albrecht Dihle: „Seneca und die Aufführungspraxis der römischen Tragödie“. In: Antike & Abendland 29 (1983), S. 162171. Grundlegend schließlich die Einwände von Ludwig Braun: „Sind Senecas Tragödien Bühnenstücke oder Rezitationsdramen?“. In: Res publica litterarum 5 (1982), S. 43-52. Vgl. zuletzt, mit überzeugenden Argumenten für die Aufführbarkeit, Speyer: Kommunikationsstrukturen in Senecas Dramen [wie Anm. 135], S. 281-300, sowie Wilfried Stroh: „Staging Seneca: The Production of Troas as a Philological Experiment“. In: Fitsch (Hrsg.): Seneca [wie Anm. 40], S. 195-220 (mit umfassender Diskussion der verschiedenen Forschungspositionen).
162
3 Produktions- und Rezeptionsbedingungen
umfassende und systematische Analyse von Unstimmigkeiten zu Leibe zu rücken. Es ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, daß der eigentliche Gewinn von Zwierleins Argumentationen – seine auf textimmanenter Basis372 gewonnene Beobachtung etwa, daß sich Senecas Medea in der Zauberszene zeitgleich auf und hinter der Bühne befinden müßte –, weniger in ihren sachlichen Ergebnissen als in den indirekten Folgen lag. Denn die von Zwierlein als „Unstimmigkeiten“ ausgewiesenen Spezifika machten nur umso deutlicher, daß sich die mit dem attischen Drama verbundene Bühnenpraxis nur sehr bedingt auf die Kaiserzeit übertragen läßt373 und mit Senecas Dramen eine dramatische Konzeption vorliegt, deren Tradition wir wegen der schlechten Überlieferung der römischen Tragödien kaum rekonstruieren können und deren Spezifika daher allzu schnell in einen Vergleich mit den Konzeptionen der attischen Tragödie gerückt werden. Drei der für die anti-aristotelische Form charakteristischen Spezifika will ich im Folgenden kurz benennen: a) An- und Abwesenheit: Die genannte Szene aus der Medea könnte darauf hinweisen, daß die An- oder Abwesenheit eines Schauspielers auf der Bühne nicht zwingend mit der Präsenz der von ihm dargestellten Figur gleichzusetzen ist, die Figur sich also nicht physisch von der Bühne entfernen muß, um als abwesend zu gelten. b) Die spezifische Raum- und Zeitökonomie in Senecas Tragödien,374 z. B. in den Phoenissae oder in den Troades, verletzt das in der aristotelischen
372
Vgl. dazu die Kritik bei Peter L. Schmidt: „Nero und das Theater“. In: Theater und Gesellschaft im Imperium Roman. Hrsg. von Jürgen Blänsdorf. Tübingen 1990 (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Bd.4). S. 149-163. 151. 373 Vgl. Zimmermann: „Seneca und der Pantomimus“ [wie Anm. 11], S. 166: „Eine Interpretationsmethode, die Senecas Tragödien ständig am Leisten der attischen Tragödie des 5. Jahrhunderts v. Chr. mißt, muß unweigerlich zu einer Verkennung wesentlicher Elemente der Dramen führen, die sich aus der Literatur und dem Theaterbetrieb der frühen Kaiserzeit erklären lassen.“ Ähnlich bereits Nilsson: Zur Geschichte des Bühnenspiels [wie Anm. 368], Kelly: „Tragedy and the Performance of Tragedy in Late Roman Antiquity“ [wie Anm. 258], Dihle: „Seneca und die Aufführungspraxis der römischen Tragödie“ [wie Anm. 370], Joachim Fugmann: Römisches Theater in der Provinz. Eine Einführung in das Theaterwesen im Imperium Romanum. Stuttgart 1988 (= Schriften des Limesmuseums Aalen, Bd. 41). Zu den neueren Diskussionen zur Aufführungbarkeit vgl. neben Speyer: Kommunikationsstrukturen in Senecas Dramen [wie Anm. 135] die Beiträge von Patrick Kragelund („Staging Seneca: The Production of Troas“) und Wilfried Stroh („Staging Seneca: The Production of Troas as a Philological Experiment“) in dem von John G. Fitch herausgegebenen Band Seneca [wie Anm. 40], S. 181-194 bzw. S. 195-220, sowie die in oben, Anm. 10, erwähnte Arbeit von Kugelmeier. 374 Zu spezifischen Raum- und Zeitkonzeption s. die Analyse von Schmidt: „Zeit und Raum [wie Anm. 186].
3 Produktions- und Rezeptionsbedingungen
163
Tragödientheorie angelegte Ideal der Einheit von Ort und Zeit375 und erinnert beinahe schon an das postdramatische Theater mit dessen Aufhebung von Zeitlogik, Kausalität und Handlungssinn.376 c) Auffallend ist schließlich die für das strukturelle Gefüge der Senecanischen Dramen charakteristische lose Addition von Szenen, die es möglich machte, einzelne Teile herauszuschneiden und gesondert aufzuführen.377 Unter diesen formalästhetischen ,Regelverstößen‘ ist gerade das (vermeintliche) Zerfallen der Stücke in autarke Einzelszenen in der Rezeptions- und Forschungsgeschichte lange Zeit als Defizit verunglimpft worden: Auch wenn die Diskussion zwischen den sogenannten „Analytikern“ und „Unitariern“378 noch in der Folge anhielt,379 so hatte Wolf Hartmut Friedrich380 mit seinem in seiner Dissertation über Senecas dramatische Technik darlegten, in der Sache von Otto Regenbogen381 angeregten Ansatz die entscheidende Wende in die Diskussion gebracht. Friedrichs Überlegungen zur Einzelszene wurde denn auch in der neueren Forschung, etwa bei Bernhard Zimmermann und Wilfried Stroh,382 bis hin zu der Annahme fortgeführt, daß die Senecanischen Tragödien nicht nur in Ausschnitten, sondern auch in Form von Pantomimen aufgeführt bzw. für eine solche Aufführungsform konzipiert worden seien. Für diese Stoßrichtung spricht einiges: Einzelne Szenen vermögen ihre Wirkung auch
375
Siehe hierzu Jo-Ann Shelton: „Problems of Time in Seneca's Hercules Furens and Thyestes“. In: California Studies in Classical Antiquity 8 (1975), S. 257-269. Weitere anti-aristotelische Aspekte der Tragödienkonzeption arbeitet Hidefumi Onishi: „Theseus’ curse at the end of Seneca's Phaedra. A study in the endings and the scenes of persuasion in Senecan tragedies“. In: Classical Studies 2 (1986), S. 63-88, heraus. 376 Zur Differenzierung von prädramatischem, dramatischem und postdramatischem Theater s. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999, S. 11-39. 377 Das gilt insbesondere für die Chorlieder, vgl. hierzu Wilhelm Marx: Form und Funktion der Chorlieder in den Seneca-Tragödien. Diss. Heidelberg 1932; John A. Stevens: The Chorus in Senecan Tragedy: The uninformed Informer. Durhum 1992. 378 Vgl. hierzu Seidensticker: Die Gesprächsverdichtung in den Tragödien Senecas [wie Anm. 23], S. 13. 379 Zu den Verfechtern der dramatischen Einheit der Tragödien gehören etwa Wolf Steidle: „Zu Senecas Troerinnen“. In: Philologus 94 (1941), S. 266-284, ders.: „Bemerkungen zu Senecas Tragödien“. In: Philologus 96 (1943), S. 250-264, und Gerhard Müller: „Senecas Oedipus als Drama“. In: Hermes 81 (1953), S. 447-464. Demgegenüber zeigt Malcom Heath: Unity in Greek Poetics. Oxford 1989, daß „Einheit“ in der antiken Literaturtheorie wenger streng verstanden wurde als heute. 380 Vgl. hierzu Wolf Hartmut Friedrich: Untersuchungen zu Senecas dramatischer Technik. Borna/Leipzig 1933. 381 Otto Regenbogen: „Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas“ [wie Anm. 23], bes. S. 188 (zur Emanzipation der Einzelszene). 382 Wilfried Stroh: „Staging Seneca“ [wie Anm. 371]; Zimmermann: „Seneca und der Pantomimus“ [wie Anm. 11].
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kontextunabhängig zu entfalten, und die Inhalte der Chorlieder sind teilweise so allgemein formuliert, daß sie zuweilen auch in ein anderes der Stücke eingefügt werden könnten. Daß diese Besonderheiten weniger einem Kunstfehler als vielmehr Senecas Absicht zuzuschreiben sind, dem Ideal der zeitgenössischen Bühnenpraxis entgegenzukommen, läßt sich durch folgende Beobachtungen stützen: 1) Die Phoenissae, die ihre Etikettierung als einer „unvollendet“ gebliebenen Tragödie der Tatsache verdanken, daß sie nicht ein einziges Chorlied enthalten, legen zumindest nahe, daß Seneca zunächst die einzelnen Akte seiner Tragödien komponierte, bevor er die Texte seiner Chorlieder hinzufügte. Inwieweit dies nicht nur einen Einblick in die Arbeitsweise des Dichters, sondern auch in die Aufführungspraxis vermittelt, muß freilich offen bleiben. 2) Die wenigen Zeugnisse, die wir über die zeitgenössische Theaterpraxis haben, legen nahe, daß das Interesse an der dramatischen Handlung und an einer schlüssigen Entwicklung des Geschehens (von seiten des Publikums) keineswegs so bedingungslos war, wie es Zwierleins Argumente gegen eine Aufführung der Senecanischen Stücke voraussetzen. Vielmehr war es üblich, einzelne Ausschnitte aus Epen oder Tragödien aufzuführen, und dies zuweilen auch in griechischer Sprache, mithin auf die Gefahr hin, daß das Publikum nicht alles präzise verstand. Sollten Senecas Tragödien „nur“ rezitiert worden sein, wie Zwierlein glaubt, dann zum einen im Sinne einer ʻBuchpräsentationʼ (also zur Vorbereitung oder Ankündigung, nicht aber als Ersatz für die Aufführung),383 zum anderen nicht in der Form einer Lesung, wie sie uns aus dem modernen Literaturbetrieb vertraut ist. Rezitation bedeutete nicht etwa die Beschränkung auf eine rein verbal und auditiv vermittelte Bilderzeugung, sondern umfaßte auch die Inszenierung visuell wahrnehmbarer Effekte, sei es durch den Rezitator selbst – etwa durch Gesten –, sei es, ähnlich wie im Pantomimus, durch den Auftritt von dem Rezitator an der Seite stehenden Personen, die entsprechende Bewegungen vollzogen. Diesen letzten Aspekt hat – in expliziter Abwendung der von Zwierlein in seinem Kapitel „Stummes Spiel – Beschreibung der Handlung“384 geäußerten Bedenken gegen den Bühnencharakter der Tragödien – am deutlichsten Bernhard Zimmermann in seinem Aufsatz Seneca und der Pantomimus herausgearbeitet.385 Die pantomimischen Sequenzen der Tragödien unterscheidet Zimmermann in drei Darstellungsformen: 1) „Regelrechte Pantomimen“ (Med. 849ff., Ag. 710ff., HF 1082ff.), in denen der Chor die Bewegungen eines Schauspielers beschreibt; 2) Eine Modifikation der „regelrechten Pantomimen“ (z. B. Med. 382ff.), in denen die Rolle des Beschreibenden nicht dem Chor, sondern einem Schauspieler zukommt (hier: der Amme, die die
383
Vgl. hierzu Stroh: „Staging Seneca“ [wie Anm. 371]. Zwierlein: Die Rezitationsdramen Senecas [wie Anm. 371], S. 56-63. 385 Zimmermann: „Seneca und der Pantomimus“ [wie Anm. 11]. 384
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165
möglicherweise durch die Maske schauspielerisch nicht darstellbaren mimischen Veränderungen ihrer in Wahnsinn geratenden Herrin beschreibt); und 3) „pantomimische Kurzkommentare“, in denen in knappen Worten die Bewegungen einer auf- oder abtretenden Figur eingegangen wird (Pha. 583-586).386 Inwieweit diese Beobachtungen einen Schluß auf die Aufführung der gesamten Tragödien zulassen, muß offen bleiben. Neben der möglicherweise auch tänzerischen Darstellung spielte jedenfalls auch die musikalische Umsetzung eine Rolle, und dies vermutlich nicht nur bei den Chorliedern, sondern auch bei den Arien (etwa der Prolog-Arie des Hippolytus in der Phaedra). Das seit Lessings Seneca-Aufsatz387 wiederholt monierte Stagnieren oder auch Auseinanderfallen der dramatischen Handlung läßt sich also durch die Aufführungsmodalitäten erklären und hierin nicht zuletzt mit dem bisweilen unterschätzten Part, der der Musik dabei zukam.388 Gleichwohl kann nicht oft genug betont werden, daß wir über Senecas Tragödien, schon infolge der sowohl in diachroner wie in synchroner Hinsicht bestehenden Verluste ihrer Tradition und Kontexte kaum mehr wissen als das, was sie uns selbst sagen – und die Tragödien selbst scheinen, wie das in Kapitel 5 anhand eines close reading noch gezeigt werden soll, eher auf etwas anderes hinzuweisen: Daß Seneca nämlich
386
Zu den „pantomimischen Szenen“ s. auch. unten, Kap. 5 (im Zusammenhang mit der Szenenreportage), S. 212f. 387 Gotthold Ephraim Lessing: „Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind“ [wie Anm. 1], vgl. hierzu Winfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973. 388 Auch Seneca verweist einmal in seinem 84. Brief (epist. 84, 10) auf die Übermacht der Musik im Theater: in commissionibus nostris plus cantorum est quam in theatris olim spectatorum fuit. Cum omnes vias ordo canentium implevit et cavea aeneatoribus cincta est et ex pulpito omne tibiarum genus organorumque consonuit […]. Daß die Vorliebe für visuelle Medien und eine überwiegend körperlich vermittelte Repräsentation von Inhalten ebenso zugenommen wie im Zuge dessen das Interesse für bestimmte Gegenstände, etwa die der Wissenschaften, rapide nachgelassen habe, ist Teil eines antitheatralen Diskurses, wie er in der Kaiserzeit, etwa bei Tacitus (vgl. Tac. dial. 29, 3: iam vero propria et peculiaria huius urbis vitia paene in utero matris concipi mihi videntur, histrionalis favor et gladiatorum equorumque studia: quibus occupatus et obsessus animus quantulum loci bonis artibus relinquit?), über die Spätantike, etwa in den Res gestae des Ammianus Marcellinus (Amm. 14, 18f.: paucae domus studiorum seriis cultibus antea celebratae nunc ludibriis ignaviae torpentis exundant vocabili sonu perflabili tinnitu fidium resultantes. denique pro philosopho cantor et in locum oratoris doctor artium ludicrarum accitur et bibliothecis sepulchrorum ritu in perpetuum clausis organa fabricantur hydraulica et lyrae ad speciem carpentorum ingentes tibiaeque et histrionici gestus instrumenta non levia) bis in die zeitgenössische Moderne mit dem Aufkommen je neuer Medien mit wiederkehrenden Argumenten geführt worden ist. S. hierzu den Band zu Theaterfeindlichkeit und Antitheatralität. Hrsg. von Stefanie Dieckmann/ Christopher Wild. München 2011.
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3 Produktions- und Rezeptionsbedingungen
gerade im Zusammenspiel von sprachlichen und visuellen Reizen eine Form des ästhetischen Erfahrens konstituiert, wie er sie in Amphitheater oder Spektakel gefährdet sieht.389
389
S. unten, Kap. 4, S. 185.
4
Senecas implizite Poetologie
4.1
Seneca über die Dichtung
Nimmt man Senecas Prosaschriften in den Blick, so ergibt sich ein einigermaßen kritisches Bild über die Wirkung der Dichtung.390 Die Dichtung wird als Beförderin der Leidenschaften desavouiert – was durchaus stoischer Doktrin entspricht;391 doch wird sie, so die Implikation etwa der 115. Epistel, in ihrer Wirkung letztlich nur als eine Steigerung der Alltagserfahrung gesehen. Eine deutliche Trennung zwischen Kunst- und Alltagserfahrung läßt die folgende Bemerkung (epist. 115, 12) über die Wirkung dichterischer Aussagen jedenfalls nicht erkennen: Accedunt deinde carmina poetarum, quae adfectibus nostris facem subdant, quibus divitiae velut unicum vitae decus ornamentumque laudantur. Nihil illis melius nec dare videntur di inmortales posse nec habere. Regia Solis erat sublimibus alta columnis, clara micante auro. [= Ov. met. 2, 1f.] Eiusdem currum aspice: Aureus axis erat, temo aureus, aurea summae curvatura rotae, radiorum argenteus ordo. [= Ov. met. 2, 107f.]
Hinzu kommen nun noch die poetischen Texte, die unsere Leidenschaften schüren und den Reichtum loben, als wäre dieser der einzige Reiz und Schmuck des Lebens. Nichts Besseres als das scheinen die unsterblichen Götter geben und besitzen zu können: „Hoch ragte auf erhabenen Säulen die königliche Burg des Sonnengotts, hell von schimmerndem Gold.“ – Und schau dir nur seinen Wagen an: „Gold war die Achse, gold die Deichsel, gold auch der äußerste Kranz des Rades, aus Silber die wohlgeordneten Speichen.
Die Bemerkung impliziert die Deckungsgleichheit von Autormeinung, dichterischer Aussage (auf der Produktionsebene) und der durch diese Aussage generierten Überzeugung des Rezipienten. Der literarische Text wird also nicht als ein semantisch durch seinen generischen Kontext bestimmter Text, sondern als ein Sprachrohr des Dichters verstanden, der seine eigenen Überzeugungen bedingungslos in die Gedanken- und Gefühlswelt seines Rezipienten einschleust.
390
Zum stoischen Verhältnis zur Dichtung vgl. oben, S. 139 sowie den von Katharina Volk und Gareth D. Williams herausgegebenen Band: Seeing Seneca Whole [wie Anm. 84], und Gregory A. Staley: Seneca and the Idea of Tragedy. Oxford 2010. 391 S. dazu oben, Kap. 3, S. 140.
168
4 Senecas implizite Poetologie
Die vermeintliche Relativierung dieses Ansatzes, wie sie die sich daran anschließende Passage anklingen läßt, erweist sich als Trug. Wenn es im Folgenden (epist. 115, 14f.) heißt, daß das Publikum bei einer Aufführung „des euripideischen Bellerophontes“392 geschockt gewesen sei, weil in einer Passage des Stücks der Reichtum verherrlicht worden und daraufhin der Dichter selbst aufgestanden sei, um darauf hinzuweisen, daß das Publikum doch erst den weiteren Verlauf des Stücks abwarten solle, dann ist damit zwar impliziert, daß Einzelbemerkungen in einem tragischen Stück nicht für bare Münze zu nehmen sind und für ihre Deutung der Kontext bzw. Ausgang einer Handlung entscheidend ist. Daß dieser wiederum als eine inhaltliche Ansicht oder gar Forderung des Dichters zu fassen ist, steht aber noch lange nicht im Widerspruch zu den vorausgehenden Implikationen: Was auf der Bühne erzählt wird (d.h. die Bühnenwirklichkeit), ist letztlich, so die Senecas Ausführungen zugrunde liegende Prämisse, mit der Alltagswirklichkeit und ihren Forderungen kohärent. In eine ähnliche Richtung geht Senecas Bemerkung, daß auch Dichter Philosophisches zu sagen haben (epist. 8, 8): quam multi poetae dicunt quae philosophis aut dicta sunt aut dicenda!
Wie vielen Dichtern verdanken wir Aussprüche, die aus dem Munde von Philosophen gekommen sind oder kommen sollten.
Zwar bezieht Seneca seine Aussage hier nicht auf die Aufführung dramatische Werke.393 Doch läßt die Bemerkung erkennen, daß Seneca den fiktionalen Rahmen literarischer Werke ausblendet – oder doch davon ausgeht, daß dieser von den Rezipienten nicht zwingend berücksichtigt wird.
392
Die von Seneca epist. 115, 14, 11-15, zitierten bzw. aus dem Griechischen übersetzen Verse entstammen höchstwahrscheinlich, anders als von Seneca angegeben (ebd., 15: Dabat in illa fabula poenas Bellerophontes quas in sua quisque dat), nicht dem Euripideischen Bellerophon, sondern dessen Danae, so schon August Nauck (Tragicorum Graecorum Fragmenta. Leipzig 1856, frg. 324). Richard Kannicht (in seiner 2004 erschienenen Neuausgabe der Euripidesfragmente, TrGF, Bd. 5, frg. 324) und Ioanna Karamanou (Euripides. Danae and Dictys. Introduction, Text and Commentary. München/ Leipzig 2006, S. 37: Eur. Danae, frg. 7), sind ihm darin gefolgt. 393 Vgl. den Fortgang der oben zitierten Stelle, Sen. epist. 8, 8f.: Non attingam tragicos nec togatas nostras (habent enim hae quoque aliquid severitatis et sunt inter comoedias ac tragoedias mediae): quantum disertissimorum versuum inter mimos iacet! quam multa Publilii non excalceatis sed coturnatis dicenda sunt! Unum versum eius, qui ad philosophiam pertinet et ad hanc partem quae modo fuit in manibus, referam, quo negat fortuita in nostro habenda […]. Im Anschluß Zitate aus den Sprüchen des Mimendichters Publilius Syrus und dem Werk des Satirikers Lucilius.
4 Senecas implizite Poetologie
169
Die vielleicht ausführlichste Auseinandersetzung mit der Dichtung – oder besser: zum Umgang mit der Dichtung – findet sich im 88. Brief, dem Brief, in dem sich Seneca den studia liberalia zuwendet und in diesem Zusammenhang auch die grammatike und ihre Methoden durchgeht.394 Seneca mokiert sich hier über die Vereinnahmung Homers durch verschiedene Philosophenschulen: Die einen wollen ihn zum Stoiker, die anderen zum Epikureer, andere wieder zum Peripatetiker oder zum Akademiker machen; Homer gehöre, wenn die Unterstellungen der Philosophen richtig sind, in Wirklichkeit aber überhaupt keiner philosophischen Richtung an (Apparet nihil horum esse in illo, quia omnia sunt; ista enim inter se dissident, epist. 88, 5), und ohnehin sei es nutzlos, sich über die Irrfahrten des Odysseus Gedanken zu machen, wenn man die eigenen Irrfahrten des Lebens nicht im Griff habe (Quaeris Ulixes ubi erraverit potius quam efficias ne nos semper erremus?, 88, 7). Auch habe Homer selbst noch keinen Dichter als Lehrmeister haben können. Er war also ein weiser Mann, nicht aber aufgrund der Lektüre von Dichtung (die es vor ihm, als vermeintlich erstem Dichter ja nicht gegeben haben könne), sondern durch seine anderweitig erworbene sapientia. Auch diese – nicht unwitzige – Kritik an der Homerphilologie zeigt letztlich jedoch ein schlichtes Verständnis von der Wirkung der Dichtung. Denn Seneca reduziert die Aufgabe der idealen Literatur hier – ähnlich wie der Protagonist des Platonischen Ion395 – auf ihren vermeintlich unmittelbaren Lehrcharakter: Dichtung als Vermittlung von Wissen. Die an die Dichtung implizit herangetragene Forderung eines philosophischen Erkenntniswerts zeigt auch die 104. Epistel (104, 15f.), in der der spielerische Umgang des Dichters den Wissenschaften gegenübergestellt wird, letztlich aber doch nur die Wissenschaften als geeignet befunden werden, um den Weg zu bereiten, „auf dem unser Geist aus der traurigsten Knechtschaft in Freiheit gesetzt wird“ (epist. 104, 16).396 Die Dichtung erweist sich demnach nicht als eine Alternative zu den Wissenschaften, sondern als defizitär. Es gibt in Senecas Œuvre keine Schrift, die die Differenzen zwischen ästhetischer und Kunst-Erfahrung in den Blick nimmt. Eine Unterscheidung, die Seneca dagegen durchaus trifft, ist die zwischen den unwillkürlichen Erregungen
394
Sen. epist. 88, 4-8. Vgl. hierzu Martin Vöhler: „Dichtung als Begeisterungserfahrung. Zur Konzeption des Platonischen ‚Ion‘“. In: Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich. Hrsg. von Gert Mattenklott. Hamburg 2004 (= Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderband), S. 195-210. 396 Vgl. Sen. epist. 104, 15f.: ut Maeander, poetarum omnium exercitatio et ludus, implicatur crebris anfractibus et saepe in vicinum alveo suo admotus, antequam sibi influat, flectitur: ceterum neque meliorem faciet neque saniorem. [16] Inter studia versandum est et inter auctores sapientiae ut quaesita discamus, nondum inventa quaeramus; sic eximendus animus ex miserrima servitute in libertatem adseritur. 395
170
4 Senecas implizite Poetologie
des Gemüts, die unvermeidbar sind (inevitabiles), und den unter Zustimmung (adsensio) des Verstandes vonstatten gehenden Erregungen. Zur ersten Gruppe gehören Erregungen, denen sich der Mensch unmöglich entziehen kann, wie der Schauder, wenn wir mit kaltem Wasser bespritzt werden, unser Widerwille bei gewissen Berührungen, das Aufsträuben der Haare, wenn wir eine schlimme Nachricht hören, das Erröten, wenn wir uns schämen.397 Zur zweiten Gruppe gehören Erregungen – darunter der Zorn398 –, die durch Maßnahmen des Verstandes beseitigt werden können. Entscheidend ist dabei der Begriff des „Urteils“ (iudicium399), mit dem das Eingreifen in und Unterbinden des Entstehungsprozesses bezeichnet wird, wie es in der zweiten und dritten Entwicklungsstufe, nach dem Eintreffen des ersten heftigen Sinneseindrucks, erfolgen soll.400 Denn während die Seele zu Beginn dieses Prozesses machtlos ist, ist es ihr im weiteren Verlauf möglich, den Prozeß zu unterbinden und gegen die unwillkürlich eingetretenen Reaktionen (anstatt sich ihnen hinzugeben) vorzugehen. Seneca unterscheidet also zwischen authentischen, den Körper affizierenden Erregungen des Gemütes, gegen die selbst der Verstand nicht ankommen kann, und den aus der Distanz heraus entstehenden ,unechten‘ affektiven Zuständen, über die der Verstand sehr wohl verfügen kann.401 Dabei gilt die Differenzierung bemerkenswerterweise jedoch sowohl für die reale Alltagserfahrung als auch für die ,sekundäre‘ ästhetische oder auch Kunst-Erfahrung, wie sie in der Begegnung mit Musik, bildender Kunst, literarischen Texten oder im Theater entsteht: Folgt man den Ausführungen im zweiten Buch von De ira (dial. 4, 2, 1), so setzt Seneca für das Erleben von Kunst genau denselben Prozeß voraus: Wie bei der außerästhetischen Erfahrung wird auch hier davon ausgegangen, daß die in der Begegnung mit dem Gegenstand hervorgerufenen Gefühlsregungen nicht etwa
397
Vgl. Sen. dial. 4 (= De ira 2), 2, 1: Ut sciamus quid sit ira;nam si invitis nobis nascitur, numquam rationi succumbet. Omnes enim motus qui non voluntate nostra fiunt invicti et inevitabiles sunt, ut horror frigida adspersis, ad quosdam tactus aspernatio; ad peiores nuntios surriguntur pili et rubor ad inproba verba suffunditur sequiturque vertigo praerupta cernentis: quorum quia nihil in nostra potestate est, nulla quominus fiant ratio persuadet. 398 Vgl. Sen. dial. 4 (= De ira 2), 2, 2: Ira praeceptis fugatur; est enim voluntarium animi vitium, non ex his quae condicione quadam humanae sortis eveniunt ideoque etiam sapientissimis accidunt, inter quae et primus ille ictus animi ponendus est qui nos post opinionem iniuriae movet. Hic subit etiam inter ludicra scaenae spectacula et lectiones rerum vetustarum. 399 Sen. dial. 4 (= De ira 2), 4, 2: Primum illum animi ictum effugere ratione non possumus, sicut ne illa quidem quae diximus accidere corporibus, ne nos oscitatio aliena sollicitet, ne oculi ad intentationem subitam digitorum comprimantur: ista non potest ratio vincere, consuetudo fortasse et adsidua observatio extenuat. Alter ille motus, qui iudicio nascitur, iudicio tollitur. 400 Sen. dial. 4 (= De ira 2), 2, 4, s. dazu das nachfolgende Zitat. 401 Sen. dial. 4 (= De ira 2), 3, 1.
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171
sekundär, aus der Distanz heraus entwickelt werden, sondern unwillkürlich im Betrachter entstehen, dial. 4 (= De ira 2), 2, 4: cantus nos nonnumquam et citata modulatio instigat Martiusque ille tubarum sonus; movet mentes et atrox pictura et iustissimorum suppliciorum tristis adspectus; inde est quod adridemus ridentibus et contristat nos turba maerentium et effervescimus ad aliena certamina. Quae non sunt irae, non magis quam tristitia est, quae ad conspectum mimici naufragii contrahit frontem, non magis quam timor, qui Hannibale post Cannas moenia circumsidente lectorum percurrit animos, sed omnia ista motus sunt animorum moveri nolentium nec adfectus sed principia proludentia adfectibus.
Bisweilen regt uns ein Gesang auf und das rasche Tempo eines Musikstückes sowie der Schall der Kriegstrompete. Ein schauerliches Gemälde sowie der traurige Anblick von Hinrichtungen, mögen sie auch noch so gerecht sein, verfehlt nicht seinen erschütternden Eindruck auf unser Gemüt, daher auch das Mitlachen beim Lachen anderer und die unwillkürliche Mittrauer in einem Kreise von Trauernden, sowie unsere leidenschaftliche Teilnahme an den Wettkämpfen anderer. Das alles sind nicht Zornesausbrüche, ebensowenig wie es Traurigkeit ist, wenn der Anblick eines geschauspielerten Schiffbruches unser Antlitz verfinstert, ebensowenig auch, wie es Furcht ist, was des Lesers Gemüt durchfährt, wenn Hannibal nach der Schlacht von Cannae die Mauern der Hauptstadt umlagert; sondern all dies sind unwillkürliche Gemütserregungen, sind nicht Leidenschaften, sondern nur Anfänge und Vorspiele von Leidenschaften.
Es ist auffallend, daß Seneca bei der Wahl seiner Beispiele in der zitierten Passage zwischen Kunst und Alltag überhaupt nicht differenziert, daß er, im Gegenteil, die Betrachtung von Gemälden oder Hinrichtungen, den Besuch von Schauspielen oder die Lektüre von Geschichtswerken unterschiedslos in eine Reihe stellt. Seneca macht nicht das Objekt für den jeweiligen Erfahrungsmodus verantwortlich, sondern den Rezipienten. Eine dagegen durchaus differenzierende Beurteilung von Kunst und Nichtkunst vermittelt eine spätere Passage derselben Schrift. Im Zusammenhang mit seinen Hinweisen, wie ein zorniger Mensch seinen Zorn wieder loswerden könne, empfiehlt Seneca, sich von ernsthafteren Dingen fernzuhalten und stattdessen dem Genuß von lieblichen Künsten hinzugeben, dial. 5 (= De ira 3), 9, 1-2: Studia quoque graviora iracundis omittenda sunt aut certe citra lassitudinem exercenda, et animus non inter dura versandus, sed artibus amoenis
Auch vor zu schweren geistigen Anstrengungen müssen sich Zornmütige hüten oder sie wenigstens nur soweit treiben, wie es ihre Spannkraft zuläßt; ihr Geist sollte
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tradendus: lectio illum carminum obleniat et historia fabulis detineat; mollius delicatiusque tractetur. Pythagoras perturbationes animi lyra componebat; quis autem ignorat lituos et tubas concitamenta esse, sicut quosdam cantus blandimenta quibus mens resolvatur?
sich nicht mit allzu beschwerlichen Dingen beschäftigen, sondern muß sich an das schöngeistige Gebiet halten: Die Lektüre dichterischer Werke soll besänftigend auf ihr Gemüt wirken, und die Geschichte soll mit ihren Erzählungen den Geist fesseln, recht mild und fein soll er behandelt werden. Pythagoras beschwichtigte seine Gemütserregungen durch die Leier. Wer weiß denn nicht, daß Signalhörner und Trompeten Aufregungsmittel sind, so wie andererseits bestimmte Gesänge Besänftigungsmittel, durch die der Geist entspannt wird?
Die Kunst, hier ausgewiesen als ein Therapeutikum, das den Geist zu beschwichtigen vermag,402 wird demnach auch in ihrer Wirkung von der sogenannten Nichtkunst deutlich unterschieden – auch wenn nicht weiter darauf eingegangen wird, worin die Differenz mit Blick auf das Objekt, von dem die Wirkung ausgeht, im einzelnen besteht.
4.2
Kunsterfahrung – ästhetische Erfahrung – Alltagserfahrung
Die Frage, wie sich Kunst als Kunst bestimmen läßt und was eine Kunsterfahrung von einer ästhetischen bzw. einer außerästhetischen Erfahrung unterscheidet, erweist sich auch aus moderner Perspektive als schwierig. Mögliche Kriterien für die Bestimmung eines Kunstwerks als Kunst wären dessen äußere Rahmung oder durch das Kunstwerk selbst hergestellte Rahmungen wie der selbstreferentielle Verweis auf Artifizialität oder die Einbeziehung des Betrachters in die produktive Gestaltung.403 Ein Kunstwerk nur deshalb als ein Kunstwerk zu bezeichnen, weil es eine Kunsterfahrung evoziert, wäre dagegen der klassische Fall eines Zirkelschlusses.404 Gleichwohl
402
Vgl. auch Dingel: Seneca und die Dichtung [wie Anm. 24], S. 42. Vgl. hierzu Michael Lüthy: „ʻSehenʼ contra ʻErkennenʼ. Die Erschießung Kaiser Maximilians und Die Eisenbahn von Édouard Manetin“. In: Mattenklott (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste [wie Anm. 395], S. 83-101. 404 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst (amerikan. Orig.: The Transfiguration of the Commonplace. Cambridge/ Mass. 1981). Frankfurt a.M. 1984, S. 143ff., vgl. bes.: S. 143: „Wenn das Wissen, daß etwas ein Kunstwerk ist, einen Unterschied in der ästhetischen Reaktion gegenüber einem Objekt ausmacht – wenn es unterschiedliche ästhetische Reaktionen auf ununterscheidbare 403
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erscheint gerade diese Bestimmung in ihrer Offenheit als besonders zutreffend. Denn ein Gegenstand bezieht seinen Kunstcharakter nicht nur aus sich selbst heraus, sondern auch aus dem Erfahrungsraum, in dem er situiert ist; daß ein solcher Erfahrungsraum entsteht, setzt aber wiederum voraus, daß der Gegenstand, der ihn herstellt, zunächst einmal als Kunst erkannt und akzeptiert wird.405 Ein entscheidendes Moment der Kunsterfahrung liegt also in der Vorannahme oder anders ausgedrückt: dem Vor-Urteil, daß der Gegenstand der Rezeption dem Bereich der Kunst angehört.406 Ähnliches gilt für die Bestimmung eines Gegenstandes bzw. einer Erfahrung als eines ästhetischen Objekts bzw. einer ästhetischen Erfahrung. Auch hier läßt sich weder das eine noch das andere absolut, also los-gelöst voneinander, oder gar unabhängig von seiner räumlichen Bezogenheit als ein solches beschreiben. Vielmehr konstituiert sich das ʻÄsthetischeʼ erst in der dynamischen Interaktion zwischen Subjekt und Objekt – oder anders ausgedrückt: Die Bestimmung einer Erfahrung als ästhetischer Erfahrung bzw. eines Objekts als eines ästhetischen Objekts basiert auf einer gedanklichen ʻSchleifeʼ: Nur dadurch, daß ein Objekt als ästhetisches wahrgenommen oder bestimmt wird, wird auch die Erfahrung, wie sie mit und in der Begegnung mit dem Objekt entsteht, zu einer ästhetischen; umgekehrt wird ein Objekt erst dann als ästhetisches Objekt bestimmbar, wenn die durch dieses Objekt hervorgerufene Erfahrung als eine ästhetische Erfahrung wahrgenommen bzw. bestimmt wird.407 Es muß also in beiden Fällen eine Art Stimulus geben, der dafür sorgt, daß diese gedankliche Schleife in Gang gesetzt wird. Wenn es um eine Aufführung geht, ist das entscheidende Stichwort in diesem Zusammenhang der „Rahmen“ – eine Kategorie, die der Soziologe Erving
Objekte gibt, von denen eines ein Kunstwerk ist und das andere ein Naturgegenstand –, dann droht in jeder Definition von Kunst, bei der irgendeine Bezugnahme auf die ästhetische Reaktion eine zentrale Rolle spielen soll, die Gefahr eines Zirkels.“ 405 Vgl. hierzu Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen [wie Anm. 404], S. 157. 406 Veranschaulichen läßt sich dies auch an Phänomenen des Alltags – etwa im kulinarischen Bereich – sowie anhand jener Grenzbereiche, in denen der Kunstcharakter eines Gegenstandes oder einer Handlung erst durch eine entsprechende von außen an ihn herangetragene Zuschreibung entsteht – etwa bei der Photographie. Einschlägig hierzu die Studien von Pierre Bourdieu: Eine illegitime Kunst: Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt a.M. 1983, und Thierry De Duve: Kant nach Duchamp. Aus dem Französischen übersetzt von Urs-Beat Frei und Michael von Killisch-Horn (überarbeitete, ergänzte und verbesserte Fassung von zwei französischen Originalausgaben: Au nom de lʼart sowie Résonance du Readymade). München 1993 (= Texte zur Kunst, Bd. 4). 407 Vgl. hierzu die Einleitung in dem von Anke Hennig, Brigitte Obermayr, Antje Wessels und Marie-Christin Wilm herausgegebenen Band: Bewegte Erfahrungen. Zwischen Emotionalität und Erfahrung. Zürich/ Berlin 2008, S. 1-3.
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Goffman im Anschluß an Gregory Bateson408 weiterentwickelt und für seine Theorie einer Soziologie des Alltags fruchtbar gemacht hat. In seiner 1974 erschienenen Studie Frame Analysis, an Essay on the Organization of Experience409 benutzt Goffman den Begriff des „Rahmens“ im Sinne eines Kriteriums, das es einer handelnden Person ermöglicht, in einer bestimmten Situation zu entscheiden, ob ein Handeln ernsthaft, ironisch oder eine bloße Verstellung ist, und auf dieser Grundlage dem Handeln einen Sinn geben bzw. entsprechend reagieren zu können. Im Erkennen eines Rahmens, so Goffmans These, liegt die entscheidende Voraussetzung für eine funktionierende Interaktion. Bezogen auf die ästhetische Erfahrung bedeutet dies, daß wir Kenntnis davon besitzen müssen, in welchem Rahmen der von uns wahrgenommene Gegenstand bzw. die Handlung, die wir beobachten, situiert ist. Bezogen auf eine Aufführung, bei deren Betrachtung wir eine ästhetische Erfahrung machen wollen, bedeutet es, daß wir in der Lage sein müssen, zu erkennen, daß es sich um eine Aufführung handelt. Hierzu kann die Tatsache gehörten, daß es eine Bühne gibt, daß wir Teil eines Publikums sind oder daß wir erkennen, daß die auf der Bühne agierenden Körper Schauspielern gehören und die Körper der Schauspieler mit den Körpern, die sie darstellen, nicht identisch sind, die Handlungen also nicht dem Bereich der Realität, sondern dem der Fiktion angehören. Kunst- und ästhetische Erfahrung sind demnach nicht nur gegenstands-, sondern auch ʻraum-gebundenʼ. Dabei kann der Raum in einem eher materiellen Sinne ein Museum, ein Theater oder – insofern hiermit ganz bestimmte Erwartungen verbunden sind – die äußere Gestaltung eines Buches sein; es kann sich aber auch in einem übertragenen Sinne um einen sozialen Raum handeln, durch den die Beziehung eines Betrachters zu dem betrachteten Gegenstand definiert wird.410 Damit ein Gegenstand als Kunstwerk gelten kann, muß der Rezipient gewiß nicht unmittelbar präsent sein; auch ist es zunächst einmal nicht zwingend, daß sich der Gegenstand selbst als Kunstwerk ausweist. Ein Kunstwerk kann
408 Gregory Bateson: „A Theory of Play and Fantasy“. In: Psychiatric Research Reports 2, American Psychiatric Association, Dezember 1955, S. 39-51; wiederabgedruckt in: Ders.: Steps to an Ecology of Mind. New York 1972, S. 177-193. Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen (amerikan. Orig.: Frame Analysis, an Essay on the Organization of Experience. New York/ London 1974). Frankfurt a.M. 1980, S. 15; 19. 409 Goffman: Rahmen-Analyse [wie Anm. 408], hier bes. S. 142-158. 410 Einschlägig, freilich in erster Linie auf die französische Gesellschaft bezogen, ist Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede (frz. Orig.: La distinction, 1979). Frankfurt a.M. 1982. Vgl. auch Peter L. Berger/ Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M. 1980; Beate Krais/ Gunter Gebauer: Habitus. Bielefeld 2002.
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unabhängig davon, ob es tatsächlich betrachtet wird oder nicht, ein Kunstwerk sein – dann etwa, wenn es aufgrund einer langen Tradition in den Kanon eingegangen oder nur noch in Museen aufzufinden ist, und es kann auch unabhängig davon, ob es eine Kunsterfahrung auslöst oder nicht, diesen Status erlangen. Es muß allerdings im Vorfeld, aus welchem Grund auch immer, einem Sonderbereich ʻKunstʼ zugewiesen worden sein. Ein klassisches Beispiel hierfür sind die Bauwerke, Statuen oder Vasen der Antike. Niemand würde bestreiten wollen, daß der Parthenon ein hervorragendes Kunstwerk ist. Für die athenische Bevölkerung des fünften vorchristlichen Jahrhunderts war er jedoch in erster Linie ein Bestandteil des religiösen Lebens.411 Wenn wir diese Gegenstände heute wie selbstverständlich als Werke der Kunst betrachten, dann liegt dies also zumindest auch daran, daß sie in einem musealen Kontext situiert sind und ihre früheren Funktionsbestimmungen in der Erfahrungswelt ihrer jetzigen Betrachter keinen Platz mehr haben.412 An einem Tempel bewundern wir die architektonische Leistung oder die bildkünstlerische Umsetzung von Darstellungen; aber er befördert, jedenfalls im Normalfall, nicht die Nähe zu der Gottheit, der der Tempel ursprünglich geweiht war. Die ready-mades Marcel Duchamps haben zeigen können, daß es zuweilen ausreicht, einen Gegenstand durch seine Situierung oder Rahmung (etwa die Signatur des Künstlers) zu einem Kunstwerk werden zu lassen.413 Ein Garderobenständer, der in einem Museum steht und statt der Kleidung der Besucher die Signatur eines Künstlers trägt, hat seine Funktion als Garderobenständer verloren. Er löst, mit Kant gesprochen,414 ein ʻinteresseloses Wohlgefallenʼ aus; der Besucher hat nun nicht mehr die Absicht, den Garderobenständer zu benutzen und seinen Hut dort abzulegen, sondern betrachtet diesen als ein Kunstwerk. In anderen Fällen kann der Rahmen, in dem ein Gegenstand situiert ist, bewußt offen gehalten werden. So hat der kubanische Künstler Félix González Torres 2006 im Eingangsbereich des „Hamburger Bahnhofs – Museum für Gegenwartskunst“ in Berlin ein gewaltiges Bonbonfeld errichtet, das er mit der Bemerkung versah: „Die Bonbons dürfen gegessen werden“. Für den Besucher des Museums bedeutet das Zusammenspiel der einander widersprechenden Zeichen eine Irritation. Das Bonbonfeld ist, durch eine museumstypische Tafel,
411 Eine Vielzahl von Beispielen für diesen Prozeß findet sich bei John Dewey: Art as Experience. London 1934. 412 Zur Geschichte des Museums und der Repräsentationsfunktion des Sammelns vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Berlin 1998. 413 De Duve: Kant nach Duchamp [wie Anm. 406]. 414 Immanuel Kant: „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“, § 2. In: Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 5: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Darmstadt 1983, S. 280f.
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als das Werk eines Künstlers ausgewiesen; zugleich aber ist es mit dem Aufruf versehen, sich an den Teilen, die das Kunstwerk ausmachen, schadlos zu halten. Der Besucher ist nicht nur dazu aufgerufen, sich an der Vernichtung eines Kunstwerks zu beteiligen (die im Übrigen nie stattfinden wird, da das Bonbonfeld täglich wieder gefüllt wird); er muß sich auch fragen, ob es sich überhaupt noch um ein Kunstwerk oder nicht viel eher um eine Begrüßungsgeste des Museums handelt: Soll er sich dem betrachteten Gegenstand ʻohne alles Interesseʼ nähern, oder macht er sich lächerlich, wenn er sich mit dem gewohnten Respekt vor das Feld stellt, ohne eines der ihm angebotenen Bonbons herauszugreifen? Torres’ Aufruf ist ein Spiel mit Kants Bestimmung des autonomen Kunstwerks, und es ist ein Spiel mit der Bedeutung des Rahmens. Zwischen Kartenverkauf und Garderobe einerseits und eigentlichem Ausstellungsbereich andererseits, gewissermaßen im „Dazwischen“ aufgestellt, befindet sich das Bonbonfeld in einem transitorischen Raum und hält sich damit für die Deutungen offen,415 die ihm der Rezipient zu geben bereit ist. Doch auch ohne dieses bewußte Spiel mit den Grenzen, wie sie zwischen den Räumen von Kunst und Nichtkunst gezogen werden können, lassen sich die Übergänge zwischen Kunst- bzw. ästhetischer und außerästhetischer Erfahrung oft nur schwer bestimmen. So wird sich die Betrachtung beispielsweise eines Landschaftsbilds auch auf die sinnliche Wahrnehmung auswirken, die sich bei der Betrachtung einer realen Landschaft einstellt. Sei es nun im Modus des Vergleichs (und somit der Reflexion) – „wie ein Bild von Caspar David Friedrich!“ bzw. nur: „als wäre es gemalt!“ – oder auch im Modus der Überblendung und Einswerdung mit der ihr vorgängigen Kunsterfahrung oder schließlich im Sinne einer von der Bildbetrachtung durch und durch gesteuerten Seherfahrung: Die sinnliche Wahrnehmung der realen Landschaft, der Akt ihrer Betrachtung und die Reize, die von ihrer Betrachtung ausgehen, werden unweigerlich auch durch die in den Erfahrungsschatz bereits eingegangenen Bilder reguliert. Auf diese Weise wird die rein sinnliche Erfahrung zu einer ästhetischen, und sie kann der Kunsterfahrung schließlich insofern nahekommen, als nunmehr auch Momente ins Spiel kommen, wie sie für die rein sinnliche Erfahrung eher untypisch sind: die interesselose Distanz gegenüber dem Gegenstand, das Gefühl seiner Erhabenheit oder, falls es sich um etwas potentiell Bedrohliches handelt, die Lust am Schrecklichen. Die Unsicherheit, ob die Erfahrung, wie sie sich bei der Betrachtung eines Gegenstandes einstellt, nun eine sinnliche, eine ästhetische oder eine Kunsterfahrung ist, muß demnach nicht ausschließlich durch die Auflösung oder Verunschärfung des sogenannten
415
Vgl. hierzu Sandra Umathum: „ʻDas große Bonbonfeld darf aufgegessen werdenʼ – Über Wohl und Übel von Tafeltexten in zeitgenössischen Kunstausstellungen“. In: Sprachen ästhetischer Erfahrung. Hrsg. von Gert Mattenklott und Martin Vöhler. Berlin 2006 (= Paragrana – Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 15, Heft 2), S. 43-50.
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Rahmens bedingt sein. Sie entsteht auch dann, wenn im Akt der Betrachtung unterschiedliche Erfahrungsschätze zusammentreffen oder miteinander konfligieren: Ein realiter prasselndes Feuer kann Wohlgefallen auslösen, wenn in seine Betrachtung die Reminiszenz an dessen künstlerische Darstellung hineingeblendet wird. Umgekehrt kann die Distanz bei der Betrachtung eines solchen Bildes durch eine vorgängige reale Erfahrung wieder aufgelöst werden und jenen Schrecken im Betrachter reproduzieren, den die reale Erfahrung einst hervorgerufen hatte. Ob wir bei der Betrachtung von etwas Schrecklichem Vergnügen empfinden, hängt also nicht etwa davon ab, ob es sich dabei um ein alltägliches, ein ästhetisches Objekt oder gar um ein Kunstobjekt handelt. Entscheidend ist vielmehr, daß wir zu dem betrachteten Objekt auch in einem Distanzverhältnis stehen – und bleiben. Distanz allein reicht allerdings nicht aus.416 Um ein ästhetisches Vergnügen empfinden zu können, muß die Distanz gegenüber dem Gegenstand mit dem Empfinden von Nähe gepaart sein, wie sie im Bereich des Dramatischen nicht nur das Geschehen selbst, sondern auch durch die sprachliche Vermittlung dessen, was wir nicht sehen können, erzeugt werden kann.
4.3
Nähe und Distanz – zum „Vergnügen am Schrecklichen“
Wenn wir über ein Geschehen etwas erfahren wollen – z.B. die Eroberung einer Stadt –, dann stehen uns verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, uns einen Zugang zu verschaffen. Wir können uns gewissermaßen physisch in die Stadt hineinbegeben – was aber sicher nicht ganz ungefährlich wäre, wir können der Eroberung aus einer sicheren Entfernung, aber doch mit unseren eigenen Augen zuschauen, oder – wir können uns das Ganze einfach nur von einem Zeugen berichten lassen und, während wir die Ohren spitzen, vor dem inneren Auge in unserer Vorstellung vergegenwärtigen. Je nachdem, wofür wir uns entscheiden, werden wir in eine mehr oder weniger große Nähe oder Distanz zu dem Geschehen treten. Unser emotionales Verhältnis zu dem Geschehen wird mal stärker und mal schwächer ausfallen, und die Fähigkeit, das Geschehen zu beurteilen oder darüber zu reflektieren, demnach verschieden ausgeprägt sein. Es scheint auf der Hand zu liegen, daß die größte Nähe dann entsteht, wenn unser Körper von dem Geschehen direkt affiziert wird oder werden könnte (während wir zum Beispiel das Prasseln des Feuers um uns sehen und hören), und daß umgekehrt die Distanz am größten ist, wenn wir einem Bericht lauschen und dessen Gegenstand zeitlich oder räumlich weit von uns entfernt ist, so daß wir sicher sind, von keinerlei Gefahr bedroht zu werden.
416
Zum Nähe-Distanz-Problem vgl. die beiden einschlägigen Arbeiten von Konrad Paul Liessmann: Ohne Mitleid. Zum Begriff der Distanz als ästhetische Kategorie mit ständiger Rücksicht auf Theodor W. Adorno. Wien 1991, und Reiz und Rührung. Über ästhetische Empfindungen. Wien 2004.
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Es kommt allerdings darauf an, wie uns das Ganze berichtet wird. Quintilian erklärt das folgendermaßen: Wenn wir nur eine knappe Mitteilung bekommen, einen brevis nuntius (inst. 8, 3, 67417), dann kann es sein, daß uns die Sache völlig kalt läßt. Der Bericht entspräche dann, um den brevis nuntius in unsere moderne Welt zu übersetzen, einer lapidaren Zeitungsnotiz, die uns – literaliter wie auch translate – nicht berührt, weil uns die nötigen Informationen fehlen, um uns in das Geschehen hineinzuversetzen und in unserer Imagination ein Teil davon zu werden. Gleichwohl muß unsere körperliche Abwesenheit nicht zwingend bedeuten, daß wir uns mit dem Geschehen nicht identifizieren oder daran Anteil nehmen können. Im Gegenteil: Wird uns das ganze nämlich so berichtet, daß vor unserem inneren Auge Bilder aufgerufen werden, deren Plastizität die Illusion hervorruft, daß wir selbst zugegen sind, so kann uns das Geschehen durch das Hören des Berichts sogar näher gehen, als wenn wir es mit eigenen Augen betrachten. Der Bericht vermag unser inneres Auge zu lenken und unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge zu richten, die wir mit bloßem Auge vielleicht gar nicht wahrnehmen würden. Durch die Mittel der Sprache lassen sich Bilder erzeugen, die die Abwesenheit der Dinge, die absentia rerum, nicht nur überbrücken, sondern so stark und eindringlich sind, daß wir – für einen Moment wenigstens – die Illusion haben, in einem lebendigen Geschehen zu sein, und vielleicht sogar vergessen, daß uns überhaupt etwas erzählt wird. Und doch ist es gerade die Erzählung, die unser Erleben steuert. Während wir mit bloßem Auge vielleicht nur ein heilloses Durcheinander sehen würden, kann der Bericht die einzelnen Details zueinander in Beziehung setzen und zu einer Erzählung zusammenfügen, so daß wir, anders als beim physischen Sehen, auch die (vermeintlichen) Bedeutungen der einzelnen Details und ihr Verhältnis zueinander zu begreifen glauben. Wenn wir von Dingen hören, die gar nicht anwesend sind, sondern nur durch eine sprachliche Äußerung als Bild vor unserem inneren Auge entstehen, können uns diese Dinge also weitaus näher gehen, als wenn wir sie gewissermaßen ʻungesteuertʼ, mit bloßem Auge, anschauen. Im Theater wird mit den verschiedenen Formen der Wahrnehmung und den unterschiedlichen Graden der Nähe und Distanz, die sie jeweils produzieren, in besonderer Weise gespielt: Wir sehen eine Handlung, die sich auf der Bühne vollzieht, wir hören – in Teichoskopie oder Botenbericht – von Dingen, die sich außerhalb der Bühne vollziehen (oder schon vollzogen haben), und wir können – etwa in der Szenenreportage – Dinge sehen und zeitgleich hören, was eine der Figuren darüber zu sagen hat. Und das alles, wohlwissend, daß wir uns selbst dann noch, wenn wir uns auf das Geschehen völlig einlassen, in einem geschützten Raum befinden und nach der Vorstellung wieder nach Hause dürfen. Ein brennendes Haus auf der Bühne zu sehen, kann uns erschüttern, ohne daß wir
417
Zum Kontext der Stelle: Quint. inst. 8, 3, 61-70, vgl. oben, Kap. 3, S. 149f.
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um unser Leben fürchten müssen – denn wir können uns vorstellen, daß wir dabei sind, und wissen doch, daß wir es nicht sind; eine Rede wiederum, deren Gegenstand ganz weit entfernt ist, kann uns, obwohl wir nichts als Sprache hören, glauben machen, der Gegenstand sei in unserer Nähe; und doch können wir uns nur deshalb auf diese Illusion einlassen, weil wir wissen, daß da de facto nichts weiter ist – als eine sprechende Figur. Das „Vergnügen an tragischen Gegenständen“,418 von den Engländern sinnigerweise „the tragic paradox“ genannt, lebt von genau diesem produktiven Widerspruch von Nähe und Distanz. Nur weil wir durch entsprechende Hinweise die gebührende Distanz gegenüber dem Geschehen aufrechterhalten können, ist es uns möglich, uns dem Spiel auf der Bühne hinzugeben, eine emotionale Nähe zu den Figuren und deren Taten zu entwickeln und uns mit ihnen zu identifizieren. Aber auch nur deshalb, weil wir mit den Figuren fühlen und ihr Erleben für eine begrenzte Zeit zu unserer eigenen Sache machen, können wir die Handlung verstehen, darüber reflektieren und auf dieser Grundlage wieder in Distanz dazu treten. Reflexion und Emotionalität, Sinn und Sinnlichkeit, gehen also eine nahezu untrennbare Verbindung miteinander ein – eine Verbindung, die es dem Rezipienten möglich macht, in einem doppelten Sinne eine Erfahrung zu machen: die scheinbar leibliche Erfahrung, wie sie mit der Nähe zum Gegenstand entsteht, und die durch die Reflexion beförderte Erfahrung, die – idealiter – bewirkt, daß wir den Gegenstand auch auf Verstandesebene erfassen. Die Urszene, auf die alle späteren Diskussionen zum „Vergnügen“ direkt oder indirekt zurückgreifen, ist das von Lukrez in De rerum natura formulierte Bild des am Ufer stehenden Betrachters eines Schiffbruchs, der an der Betrachtung des Unglücks deshalb Vergnügen empfindet, weil er weiß, daß sein eigenes Schicksal von dem Geschehen unberührt bleibt.419 Die bei Lukrez auf ein real gedachtes Ereignis bezogene Haltung des Betrachters läßt sich auf die Situation eines Kunstbetrachters übertragen: Auch hier ist es die Mischung aus Distanz und Nähe, die bei der Betrachtung des Schrecklichen Vergnügen, ein „angenehmes Grauen“, evoziert. In der modernen Diskussion, wie sie seit dem 18. Jahrhundert420 geführt wird, sind für das Phänomen dieses Vergnügens
418
Friedrich Schiller: „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen“ (1792). In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hrsg. von Benno von Wiese. Weimar 1962. Unveränderter Nachdr. 2001, S. 133-147. 419 Lucr. 2, 1-4: Suave, mari magno turbantibus aequora ventis | e terra magnum alterius spectare laborem; | non quia vexari quemquamst iucunda voluptas, | sed quibus ipse malis careas quia cernere suave est. Vgl. dazu Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher (1979). Frankfurt a.M. 1997. 420 Als poetologischer Begriff ist das „angenehme Grauen“ im deutschen Raum seit 1743 greifbar: Anonymos [Johann Andreas Cramer?]: „Abhandlung von den Ursachen des Vergnügens, welches uns die Beschreibungen unvollkommner Dinge bey den Rednern
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verschiedene Erklärungsmodelle entworfen worden. Zusammenfassend lassen sie sich, in einer Kategorisierung Carsten Zelles, folgendermaßen systematisieren: a) die mimesistheoretische Konvention, b) der emotionalistische Neuansatz, c) der illusionstheoretische Kompromiß und d) die sympathetische Remoralisierung.421 Folgt man den mimesistheoretischen Erklärungsmodellen, so besteht die Wirkung ästhetisierter Gewalt in der Depotenzierung des übermächtigen Schreckens der Wirklichkeit: Die Bühne verwandelt das Schreckliche in Bilder, die sich aus sicherer Position betrachten lassen, und erlaubt damit eine Distanzierung gegenüber dem Geschehen, das erfahrbar ist, ohne zu bedrohen. Die Bannung ins Zeichen – um einer gedanklichen Figur Aby Warburgs zu folgen – bedeutet: „Du lebst und tust mir nichts.“422 Das genossene Vergnügen bleibt – wie übrigens auch die Neugier423 – ohne Folgen. Der Rezipient hat also das reine Vergnügen der Affekterregung, da er zugleich von allen schmerzlichen Empfindungen, die in der Wirklichkeit damit verbunden wären, entlastet ist. Dabei wird davon ausgegangen, daß das ästhetische Kunstwerk nur dann Affekte bewirken kann, wenn auch der reale Erfahrungshintergrund dies zu leisten vermag. Noch weiter geht der sympathetische Ansatz, der das Vergnügen dadurch gegeben sieht, daß sich der Zuschauer für einen Augenzeugen der tragischen Bühnenhandlung hält und in der Empfindung von Mitleid mit seinen Mitmenschen innerlich verbündet.424 Beiden Ansätzen geht eine implizite Nivellierung der Differenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit voraus: ästhetische Erfahrung wird auf Bestehendes rückbezogenen, dem ästhetischen Kunstwerk wiederum das Potential abgesprochen, über eine bestehende Affektkultur hinaus neue oder überraschende Erfahrungsmodi anzusprechen.
und Dichtern geben“. In: Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, Bd. 1. Halle 1743. St. 3, S. 159-178. 163. 421 Carsten Zelle: „Über den Grund des Vergnügens an schrecklichen Gegenständen in der Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts (mit einem bibliographischen Anhang)“. In: Schönheit und Schrecken. Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien. Hrsg. von Peter Gendolla und Carsten Zelle. Heidelberg 1990. S. 55-91, hier: S. 79. 422 Aby Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht. Hrsg. von Ulrich Raulff. Berlin 1988. Vgl. dazu Hans Bredekamp, „,Du lebst und thust mir nichts‘. Anmerkungen zur Aktualität Aby Warburgs“. In: Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990. Hrsg. von Horst Bredekamp, Michael Diers und Charlotte Schoell-Glass. Weinheim 1991, S. 1-10. 423 Vgl. die Ausführungen von Voltaire s. v. „Curiosité“ in dessen Philosophischem Wörterbuch und im Anschluß daran Ferdinando Galiano an Louise Florence Pétronille de Tardieu d’Esclavelles d’Epinay, Neapel 31. Aug. 1771; s. dazu Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer [wie Anm. 419], S. 40ff. 424 S. dazu Zelle: „Über den Grund des Vergnügens“ [wie Anm. 421], S. 79.
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Man muß nicht die radikale Position Richard Alewyns (Die Lust an der Angst)425 beziehen, um zu behaupten, daß das Vergnügen am Schrecklichen auch und besonders dann gegeben sein kann, wenn die ästhetisierte Darstellung von Gewalt mit den realiter gegebenen Bedrohungen oder Erfahrungen (in quantitativer Hinsicht) gerade nicht übereinstimmt. Das Phänomen des Vergnügens am Schrecklichen hat vielmehr auch Erklärungsansätze gefunden, die zwar einen Zusammenhang, nicht aber eine zwingende Korrelation von alltäglicher und ästhetischer Erfahrung vermuten lassen. So führt etwa Dubos’ ästhetizistische Erklärung die Lust am Schrecklichen (in Anspielung auf ein berühmtes Diktum Blaise Pascals) auf das Bedürfnis nach Überwindung der Langeweile (ennui) zurück: Der Mensch, der unfähig sei, ruhig in einem Zimmer zu bleiben, unternehme „die mühsamsten und beschwerlichsten Arbeiten [...], um sich von der Folter dieses Übel zu überheben.“ Ein schmerzhafter Affekt sei dem unerträglichen Überdruß allemal vorzuziehen.426 Von absoluter Distanz und Teilnahmslosigkeit schließlich gehen die ästhetizistischen Ansätze aus, bei denen dem Zuschauer jede Form der ethischen Verantwortung abgesprochen und stattdessen eine Haltung unterstellt wird, die ihn die Darstellungen von Gewalt allein als Träger ästhetischer Qualitäten aufnehmen lasse.427 Im Ästhetizismus – einem Begriff, dem schon durch die
425
Richard Alewyn: „Die Lust an der Angst“. In: Ders.: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a.M. 1974, S. 307-330, vertritt einen kompensatorischen Ansatz: Zivilisationsschub und Domestizierung der Natur führten dazu, daß zahlreiche Ängste verschwinden (so sei etwa die Angst vor der Nacht mit der Erfindung der Glühbirne/ Straßenlaterne gebannt). Das „fixe Angstpotential“, dessen Existenz von Alewyns Kritikern (z. B. Jürgen Habermas, s. Alewyn: „Die literarische Angst“, [Diskussion], S. 53-60) im Übrigen bestritten wird (weil an die Stelle der alten Ängste immer wieder neue Ängste, in der Moderne etwa die Angst vor Waffen- und Kerntechnik usw. träten), werde ebenso wie das Bedürfnis nach Angst, weil für den seelischen Haushalt des Menschen unentbehrlich, in den Bereich des Ästhetischen überführt. Alewyn versteht die Schreckensliteratur (etwa den Schauerroman im 18. Jh.) daher als Surrogat für die im Leben verlorene Unsicherheit: „So kann man beides haben, die Sekurität im Leben und die Angst in der Literatur“ (Alewyn: „Die Lust an der Angst“, a.a.O., S. 329). Ähnlich Begemann, demzufolge das angenehme Grauen auf einen Schwellenbereich zwischen beherrschter und unbeherrschter Natur verweist (Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1987, bes. S. 97-164. 118. 157). 426 Jean-Baptiste Dubos, Réflexions critiques sur la poesie et la peinture. Paris 1719, Bd., 1, Kap. 1, S. 6ff. (vgl. dazu Zelle, „Über den Grund des Vergnügens“ [wie Anm. 421], S. 73). 427 Vgl. dazu Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (1982). 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1997, S. 34f., der als Beispiel Flauberts Frédéric Moreau heranzieht, der aus purer Neugier in Straßenkämpfe gezogen wird und dabei die Haltung
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Wortbildung ein abwertendes Moment eingeschrieben ist – wird die ethische Verantwortung gegenüber dem Betrachteten gegen eine psychische Distanz eingetauscht, die dem Gegenstand nicht mehr angemessen ist. Der Zuschauer, der sich seiner ethischen Verantwortung durch seine teilnahmslose Betrachtung entzieht, wird selbst zum grausamen Subjekt. „Es gibt Fälle“, schreibt Arthur C. Danto in der Verklärung des Gewöhnlichen, „bei denen es falsch oder unmenschlich wäre eine ästhetische Einstellung einzunehmen und bestimmte Realitäten in Distanz zu rücken – eine Demonstration, bei der Polizisten Demonstranten niederknüppeln, als eine Art Ballett zu sehen, oder explodierende Bomben vom Flugzeug aus, das sie abwirft, als geheimnisvolle Chrysanthemen.“428 Im Ästhetizismus geht die Bestimmung eines Gegenstandes als ʻKunstʼ nicht vom Objekt bzw. dessen Rahmen, sondern ausschließlich vom betrachtenden Subjekt aus. Der Ästhetizist verläßt sich nicht auf äußere Hinweise, die ihm sagen, daß es sich bei dem Gegenstand der Betrachtung um eine Illusion oder um eine Fiktion handelt, sondern er tritt aus eigenem Ermessen heraus zu einem Gegenstand in Distanz und gliedert ihn aus seinem Verantwortungsbereich aus, um ihn seinem ästhetischen Erleben einzuverleiben. Die ethische Grenzwertigkeit eines solchen Verhaltens haben in jüngster Zeit die Reaktionen demonstriert, die der Komponist Karlheinz Stockhausen mit seiner Bemerkung über den Terroranschlag auf das World-Trade-Center auslöste. In einem Kommentar zu diesem Ereignis hatte Stockhausen den Einschlag der Flugzeuge als das größte (Zerstörungs-)Kunstwerk bezeichnet, das es je gegeben habe. Was er mit dieser unglücklichen Formulierung hatte ansprechen wollen, war die enorme Bildhaftigkeit, wie sie nicht einmal ein Kunstwerk erreichen kann429 – eine Interpretation, die angesichts der realen Erschütterung für blankes
eines Flaneurs einnimmt, wodurch sich der blutige Ernst der Geschichte in ein bloßes Schauspiel verwandelt. 428 Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen [wie Anm. 404], S. 46. 429 Die damalige Hamburger Kultursenatorin Christina Weiss: „Angesichts des Leids und der Trauer bei unseren amerikanischen Freunden hat in diesen Tagen keiner mehr Verständnis für verbale unbedachte Entgleisungen. Sätze wie die gesagten sind durch ein Dementi nicht aus der Welt zu schaffen. Deshalb sind wir aus dem Gefühl der Verantwortung für die politische Kultur der Stadt und der Bundesrepublik mit der ZeitStiftung der Überzeugung, dass die Konzerte abgesagt werden müssen. Nur so kann größerer Schaden vom Musikfest und von Hamburg abgewendet werden. Karlheinz Stockhausen sagte am Sonntag im Rahmen einer Pressekonferenz u.a.: ‚Was da geschehen ist, ist – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat. Dass Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen können, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert und dann sterben. Das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts als Komponisten.‘ Noch während der Pressekonferenz distanzierte sich der für sein weltfremdes Kunstverständnis bekannte Komponist von diesen Äußerungen. Gestern kam ein offizielles
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Entsetzen gesorgt hat. Die in dieser Hinsicht klassische Szene der Antike ist das Gebaren des römischen Kaisers Nero während des großen Brandes 64 n. Chr.: „Sechs Tage und Nächte“, so berichtet uns Sueton,430 „wütete das Feuer. Das Volk war gezwungen, Denkmäler und Grabstätten als Zufluchtsorte aufzusuchen. Damals verbrannten neben einer ungeheuren Zahl Mietwohnungen auch die Häuser der Generale von früher, noch geschmückt mit feindlichen Rüstungen, die Tempel, die von den Königen und später in den Punischen und Gallischen Kriegen gelobt und geweiht worden waren, und alles, was an Sehenswürdigkeiten und Erinnerungsstücken die Zeiten überdauert hatte.“ Nero betrachtete diese Katastrophe, bei der nicht nur Menschenleben, sondern auch zahlreiche die kulturelle und politische Identität Roms konstituierende Erinnerungsorte und Symbole zerstört wurden, „vom Turm des Maecenas aus, und erfreut, wie er sagte, ʻdurch die Schönheit der Flammen’, sang er die Eroberung Troias [sc. ein Werk, das er selbst komponiert hatte]431 im entsprechenden Theaterkostüm.“432 Neros zwischen Verantwortungslosigkeit und Kunstempfinden sich gerierendes Verhalten, das Sueton in genretypischer Verdichtung in das memorable Bild des Ästhetizisten faßt, markiert den traurigen Höhepunkt einer Entwicklung, die bislang meist unter das Stichwort einer theatralisierten Gesellschaft gefaßt wurde.433 Eine solche Beschreibung wird der Situation freilich nur bedingt gerecht: Denn gegenüber der Theatralisierung des alltäglichen Umgangs, wie sie beispielsweise Erving Goffman für die Moderne beschrieben hat434 und wie sie
Dementi, er habe an die Rolle der Zerstörung in der Kunst erinnern wollen. Zu spät.“, s. den Beitrag von Gabriele Helbig: http://www.nmz.de/nmz2/kiz/Forum1/HTML/002760. html (Zugriff 26. Feb. 2012) und Joachim Mischke: „Eklat um StockhausenÄußerungen“. In: Hamburger Abendblatt, 18. 9. 2001, S. 7. 430 S. unten, Anm. 432. 431 Iuv. sat. 8, 220f. ([anders als Nero] in scena numquam cantavit Orestes, | Troica non scripsit). Das Werk, das Nero später (65 n. Chr.) auch bei einem Dichterwettbewerb präsentieren sollte, erscheint bei Iuvenal als eine seiner großen Schandtaten. 432 Suet. Nero 38: Per sex dies septemque noctes ea clade saevitum est ad monumentorum bustorumque deversoria plebe compulsa. Tunc praeter immensum numerum insularum domus priscorum ducum arserunt hostilibus adhuc spoliis adornatae deorumque aedes ab regibus ac deinde Punicis et Gallicis bellis votae dedicataeque, et quidquid visendum atque memorabile ex antiquitate duraverat. Hoc incendium e turre Maecenantina prospectans laetusque ʻflammaeʼ, ut aiebat, ʻpulchritudineʼ Halosin Ilii in illo suo scaenico habitu decantavit. Vgl. dazu auch die Berichte bei Tac. ann. 15, 38-41, und Dio Cass. 62, 16-18. 433 Vgl. dazu Florence Dupont: L’acteur-roi, ou le théâtre dans la Rome antique. Paris 1985. Zum Begriff der Theatralisierung s. Fischer-Lichte: „Einleitung. Theatralität als kulturelles Modell“ [wie Anm. 264], S. 7-26. 434 Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag (amerikan. Original: The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959), München 1969.
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dem auf das lateinische persona („Maske“435) zurückgehenden Begriff der Person gewissermaßen eingeschrieben ist, erweist sich Neros theatrale Gebärde als ein Instrument nicht etwa der Verständigung, sondern der Vernichtung: Was die Situation während des Brandes auszeichnet, ist weniger Neros eigenes theatrales Auftreten, als seine (durch die Rezitation des Epos allenfalls noch gesteigerte) ästhetische Distanz, mit der er aus sicherer Position heraus dem brutalen Geschehen begegnet. Mag man die Szene auch, wie das offensichtlich schon Tacitus hat nahelegen wollen,436 dahingehend interpretieren, daß Nero sich selbst wie auch dem vom Brand betroffenen Volk eine Doppelrolle zugesteht – sich selbst, indem er sich durch sein Theaterkostüm und die Rezitation des Troia-Epos als Schauspieler, beim Anblick der brennenden Stadt aber als Betrachter eines Spektakels ausweist; den durch die brennenden Gassen rennenden Menschen, indem er in ihnen einerseits einen Teil der Bühnenhandlung, andererseits das Publikum seiner Gesangsdarbietung erkennen will –, so steht doch fest, daß das Volk, das damit beschäftigt war, das eigene Leben zu retten, den theatralen Gebärden des Kaisers nichts entgegensetzen konnte. Anders als im sozialen Spiel blieb es allein Nero vorbehalten, das ʻStückʼ zu gestalten: Nur er konnte den realen Schrecken der Szene ausblenden, ihren tödlichen Ernst in ein Schauspiel verwandeln und das Geschaute in unangemessener Weise allein als Träger ästhetischer Qualitäten erfahren. Nun zeichnen sich die genannten Erklärungsmodelle zum Vergnügen am Schrecklichen, abgesehen von dem des Ästhetizismus, allesamt dadurch aus, daß sie Kunst- und Alltagswelt in ein Differenzverhältnis setzen. Der Zuschauer, so die ihnen gemeinsame Prämisse, weiß, daß das von ihm betrachtete Objekt artifiziell ist, daß es ihn nicht ʻangreiftʼ und daß es sich um eine in Zeichen transformierte Wirklichkeit handelt, deren Semiotik von den sie tragenden „phänomenalen“ Körpern437 zu unterscheiden ist. Das Feld der Kunst aber ist, wie die Ausführungen im 3. Kapitel haben zeigen sollen, in der frühen römischen Kaiserzeit nicht immer mit einem ʻgeschützten Raumʼ gleichzusetzen, und es läßt sich dementsprechend zwischen Kunsterfahrung, ästhetischer und
435 Die Etymologie des Wortes ist nicht geklärt. Als persona wird zum einen die Maske bezeichnet; in der Bedeutung „Rolle“, also über den Raum des eigentlichen Theaters hinaus, findet das Wort persona jedoch bereits bei Cicero in der in De officiis im Anschluß an Panaitios entwickelten Rollentheorie (Cic. off. 1, 107-151) Verwendung, vgl. hierzu Richard Weihe: Die Paradoxie der Maske: Geschichte einer Form. München 2004, S. 329-331. 436 Tac. ann. 15, 39, bezeichnet die turris Maecenatiana als scaena domestica – so als habe die Stadt die Rezitationen des Kaisers bewundern müssen. S. dazu Schmidt: „Nero und das Theater“ [wie Anm. 372], S. 149f. 437 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004, S. 129-186, bes. S. 141ff.; Denis Diderot: Œuvres esthétiques. Textes établis, avec introductions, bibliographie, notes et relevés de variantes. Hrsg. von Paul Vernière. Paris 1959, S. 306.
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Alltagserfahrung nicht immer eindeutig differenzieren. Denn so wie ästhetische und außerästhetische Produktionsfelder ineinandergreifen – Kunst und Politik, Kunst und Religion, Kunst und Rhetorik, um nur einige zu nennen –, so auch die Erfahrungsbereiche, die innerhalb dieser Felder angesprochen werden. Das heißt zwar nicht, daß die Begriffe der Kunst und der Kunsterfahrung in allen diesen Fällen verabschiedet werden müßten. Aber es bedeutet, daß zwischen Kunst- und ästhetischer Erfahrung stärker zu trennen ist und Kriterien dafür gefunden werden müssen, wie sich diese beiden Erfahrungsmodi unterscheiden könnten. Dem Kriterium, das mir mit Blick auf Senecas (in den Tragödien implizierter) Konzeptualisierung das entscheidende zu sein scheint, will ich im Folgenden näher nachgehen: dem Appell an den Zuschauer in seiner Rolle als eines Zuschauers (d.h. als eines rezipierenden Subjekts) oder, um dem letzten Kapitel vorzugreifen, der diesem Appell zugrunde liegenden Differenzierung in den Erfahrungsraum des Kunstwerks einerseits und dem Erfahrungsraum, aus dem heraus ein Kunstwerk durch den Rezipienten betrachtet und damit als ein Objekt der Betrachtung ausgewiesen wird.
4.4
Wirkungstheoretische Überlegungen
4.4.1 Die Rolle des Zuschauers In seinen Prosaschriften zeigt Seneca wenig Vertrauen in die Souveränität des Zuschauers. Ein zentraler Kritikpunkt an theatralen Veranstaltungen ist dabei die Dynamik, wie sie sich im Kontext einer Massenveranstaltung, namentlich im Amphitheater, entfaltet. So diagnostiziert er im 7. Brief (epist. 7, 1-8) die starke Interaktion bei öffentlichen Veranstaltungen als Ursache für eine Infektion des einzelnen Zuschauers (transitur ad plures, 7, 6),438 mithin den in der Masse sich erzeugenden Kontrollverlust über die eigenen Emotionen (epist. 7, 1-6): quid tibi vitandum praecipue existimem, quaeris: turbam [...] (2) Inimica est multorum conversatio [...] Utique quo maior est populus, cui miscemur, hoc periculi plus est. Nihil vero tam damnosum bonis moribus quam in aliquo spectaculo desidere; tunc
438
Du fragst, was du nach meiner Meinung besonders zu meiden hast. Das Menschengedränge [...] Der Umgang mit der Menge übt eine feindliche Wirkung aus [...] Kein Zweifel: Je zahlreicher die Menge ist, unter die wir geraten, desto größer die Gefahr. Nichts aber ist so gefährlich für die guten Sitten wie bei einem Spektakel zu hocken;
Die medizinischen Metaphern von Krankheit und Infektion benutzt Seneca selbst, indem er, z. B. epist. 7, 2, von einem Heilungsprozeß der Seele bzw. der Krankheit (morbus) spricht, von der die Seele geheilt werden müsse. Zur Metapher der Infektion s. auch die oben, in Anm. 295 zitierte Bemerkung Ciceros.
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enim per voluptatem facilius vitia subrepunt. [...] (6) Subducendus populo est tener animus et parum tenax recti: facile transitur ad plures.
denn da schleichen sich, durch die Lust befördert, die Laster leichter ein. [...] Ein zartes und im Guten noch nicht hinreichend gefestigtes Gemüt muß man dem Einfluß der Menge entziehen: leicht wird es dazu verführt, sich der Mehrheit anzuschließen.
Die Zurufe der Zuschauer an die Akteure der Arena etwa, die ja zunächst einmal die Interaktion zwischen Publikums- und ʻBühnenʼ-raum dokumentieren,439 deutet Seneca als Teil eines eigendynamischen Prozesses, in dem sich die Zuschauer in ihrer Erhitzung wechselseitig bestärken, mit den Akteuren in einen identifikatorischen Kontakt geraten und das Geschehen in der Arena zugleich als Masse zu beeinflussen suchen. Die Dynamisierung der Affekte führe nicht nur zu einer ungebremsten Steigerung der Emotionen, sondern auch dazu, daß sich das Publikum dazu hinreißen läßt, die für diese Emotionen verantwortlichen Kräfte zu potenzieren und an der Gewaltausübung aktiv teilzunehmen. In seinem Traktat über die Gewalt hat Wolfgang Sofski die Bedeutung der Inkorporation des Zuschauers in den Massenkörper sowie die Macht kollektiver Emotionen in seiner Interpretation des Briefes herausgearbeitet.440 Demnach führt die körperliche Nähe zwischen den einzelnen Betrachtern, das Überspringen der emotionalen Energie zu einer Anonymisierung des einzelnen Zuschauers. Sie läßt das Publikum zu einem einzigen Körper zusammenwachsen. Es entsteht eine neue Triebkraft der Gewalt, die wiederum aus der Gewalt in der Arena entstanden ist. Das Publikum selbst muß keine Eingriffe befürchten, aber es kann durch Applaus, durch Zurufe der Entrüstung oder durch Demütigungen Einfluß nehmen auf das zwischen Täter und Opfer dargestellte Geschehen. Und indem sich der einzelne in der Masse verliert, entzieht er sich der ethischen Verantwortung. In seiner Auseinandersetzung mit der Annales-Schule, namentlich Paul Veynes 1976 veröffentlichter Studie Le pain et le cirque,441 hat Egon Flaig die Etikettierung der kaiserzeitlichen Gesellschaft als einer Massengesellschaft überhaupt in Frage gestellt und demgegenüber betont, wie sehr die Politisierung des
439 Seneca, epist. 7, 5: ʻOccide, verbera, ure! Quare tam timide incurrit in ferrum? quare parum audacter occidit? quare parum libenter moritur? Plagis agatur in vulnera, mutuos ictus nudis et obviis pectoribus excipiant.ʼ („Töte, schlag, nimm Feuer! Warum rennt der da so änglichst ins Schwert? Warum sticht der so zaghaft zu? Warum stirbt der so ungern? Mit Schlägen wird er ins Blutbad gejagt, mit nackter Brust müssen sie sich den wechselseitigen körperlichen Angriffen entgegenstellen.“) 440 Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt. Frankfurt a.M. 1996, S. 110-118, hier: S. 112 bzw. 115. 441 Veyne: Le pain et le cirque [wie Anm. 267].
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Volks durch den Besuch der Spiele gefördert worden sei.442 Wie auch immer man die Dynamisierung der sogenannten Massen beurteilen mag: Tatsache ist, daß die Zuschauer der kaiserzeitlichen Spiele schon durch die Dynamik und Interaktion innerhalb des Zuschauerraums wesentlichen Anteil an der Gestaltung des dargestellten Geschehens hatten und insofern keine unbeobachteten, rein rezipierenden Beobachter waren. Die Bedeutung des Zuschauers hat Seneca durchaus gesehen: Denn was als Gewalterfahrung einzustufen ist und was nicht, macht Seneca nicht nur von der Beschaffenheit und Legitimation einer Handlung abhängig, sondern auch von der Art und Weise, wie diese betrachtet wird. Während er die Betrachtung und den Genuß eines kunstvoll dargestellten Gladiatorenkampfes durchaus gutheißt, zeigt er sich empört über die Zurschaustellung von „reinen Menschenmorden“ (mera homicidia443), bei denen die – und sei es zu Recht – Exekutierten den Zuschauern zum visuellen Fraße vorgeworfen werden (epist. 7, 3f.): Quid me existimas dicere? avarior redeo, ambitiosior, luxuriosior? immo vero crudelior et inhumanior, quia inter homines fui. Casu in meridianum spectaculum incidi lusus expectans et sales et aliquid laxamenti quo hominum oculi ab humano cruore adquiescant. Contra est: quicquid ante pugnatum est misericordia fuit; nunc omissis nugis mera homicidia sunt. Nihil habent quo tegantur; ad ictum totis corporibus expositi numquam frustra manum mittunt.
[4] Hoc plerique ordinariis paribus et postulaticiis praeferunt. Quidni praeferant? non galea, non scuto repellitur ferrum. Quo munimenta? quo artes? omnia ista mortis morae sunt.
442 443
Was will ich damit sagen? Kehre ich habgieriger zurück, ehrgeiziger, genußsüchtiger? Ja, auch grausamer und unmenschlicher, weil ich unter Menschen war. Durch Zufall geriet ich um die Mittagszeit ins Amphitheater. Ich erwartete allerhand Spiel, Witz und etwas Erheiterung, durch die sich die Augen der Besucher vom menschlichem Blut erholen können Das Gegenteil ist der Fall. Alles, was an Kämpfen vorausgegangen ist, läßt sich als Barmherzigkeit beschreiben. Von Scherzspiel keine Spur mehr, es ist blanker Menschenmord. Ohne jeden Schutz sind sie am ganzen Körper ausgeliefert, und niemals stoßen sie vergeblich zu. Die Menge findet daran größeres Gefallen als an den paarweise und kunstmäßig geordneten Gladiatorenspielen. Warum auch nicht? Durch keinen Helm, keinen Schild wird das Schwert zurückgewiesen. Wozu auch Schutzmittel? Wozu künstliche Vorrichtungen? Alle diese Dinge verzögern nur den Tod.
Flaig: Ritualisierte Politik [wie Anm. 261]. Sen. epist. 7, 3.
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Mane leonibus et ursis homines, meridie spectatoribus suis obiciuntur. Interfectores interfecturis iubent obici et victorem in aliam detinent caedem; exitus pugnantium mors est.
Morgens wirft man die Menschen den Löwen und Bären vor, mittags ihren Zuschauern. Auf ihren Befehl wird, wer eben glücklich einen Mord vollzogen hat, einem kampfbereiten Mörder als Opfer vorgeworfen, und den Sieger sparen sie für den nächsten Mord auf. Wenn alle Kämpfer tot sind, ist das Spiel zuende.
Seneca differenziert zwischen der eigentlichen Qualität eines Objekts und der Qualität, wie sie durch die Interdependenz zwischen Sub- und Objekt entsteht. Die Tötung von Menschen ist nicht dasselbe wie die Tötung von Menschen, die zugleich betrachtet wird. Erst dadurch, daß sie betrachtet wird, vor allem aber: durch die Art, in der sie betrachtet wird, gewinnt die Tötung ihr eigentlich abstoßendes Moment. Die Konsequenz zieht Seneca im 95. Brief: Die Betrachtung von Gewalttaten, so heißt es da, kann nur dann akzeptiert werden, wenn sie durch ethische Reflexion komplettiert wird: His si adiunxerimus praecepta, consolationes, adhortationes, potuerunt valere (epist. 95, 34).444 Damit entsteht nicht nur für die Haltung des Zuschauers, sondern auch von produktionsästhetischer Seite eine Verantwortung. Es ist Aufgabe desjenigen, der den Gegenstand der Betrachtung schafft, ihn so zu schaffen, daß er eine positive Wirkung auf die Betrachter hat. Dabei ist die positive Wirkung freilich nicht dahingehend zu verstehen, daß der Zuschauer die Erfahrungsinhalte des Bühnengeschehens im emotionalen Nachvollzug reproduziert, sondern daß er sich im Akt der Rezeption als ein bewußt betrachtendes, die Handlung reflektierendes Subjekt der Beobachtung erfährt. Ob und gegebenfalls wie Seneca dies in den Tragödien reflektiert, soll nun, im Ausgang dieses Kapitels anhand einiger Szenen aus den Tragödien untersucht werden.
444 Sen. epist. 95, 33-35: Homo, sacra res homini, iam per lusum ac iocum occiditur et quem erudiri ad inferenda accipiendaque vulnera nefas erat, is iam nudus inermisque producitur satisque spectaculi ex homine mors est. In hac ergo morum perversitate desideratur solito vehementius aliquid quod mala inveterata discutiat: decretis agendum est ut revellatur penitus falsorum recepta persuasio. His si adiunxerimus praecepta, consolationes, adhortationes, poterunt valere: per se inefficaces sunt. Si volumus habere obligatos et malis quibus iam tenentur avellere, discant quid malum quid bonum sit, sciant omnia praeter virtutem mutare nomen, modo mala fieri, modo bona.
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4.4.2 Die Rolle des Zuschauers auf der Bühne – Zur Inszenierung wirkungspoetischer Reflexionen in den Tragödien Innerhalb der Senecanischen Tragödien sind wiederholt poetologische Reflexionen konstatiert worden. So hat Alessandro Schiesaro unter anderem die mit der Öffnung der Unterwelt verbundene Nekromantie im Oedipus als eine dramatisch in Szene gesetzte Reflexion über den Prozeß der Sichtbarmachung als einer zentralen Funktion der Dichtung lesen wollen.445 Auch Anthony James Boyle hat in seinem 2006 erschienenen Buch Roman Tragedy446 unter dem Stichwort „Senecan Metatheatre“ auf verschiedene Passagen hingewiesen, die sich als die In-Szene-Setzung theatertheoretischer Reflexionen oder als Stellungnahmen zur Entwicklung der römischen Theaterpraxis deuten lassen. So sei das Zerreißen („dismemberment“447) und die Wiederzusammenfügung der Gliedmaßen des Hippolytus poetologisch auf das Zusammenführen von Euripides’ Hippolytus und Bacchen zu beziehen, die Überführung von Fragmenten in eine neue theatrale Welt.448 In der Parodos des Oedipus erscheine die Pest in ihrer ganzen unvorhersehbaren transformativen Kraft,449 die ebenso infektuös sei wie das Theater.450 Reflektiert werde schließlich auch die Figur des Schauspielers, und zwar in jenen Rollen, in denen einzelne Figuren vor anderen „spielen“ – etwa Medea vor Iason (Med. 551ff.), Phaedra vor Theseus (Pha. 864ff.), Clytemestra vor Aegisthus (Ag. 239ff.) oder Atreus vor Thyestes (Thy. 491ff.). Die Tragödien reflektieren jedoch nicht nur poetische und darstellerische Aspekte, also die Wirkung aus der Perspektive ihrer Produktion, sondern auch die Wirkungen, die die Darstellungen (nicht nur von Gewalt) auf den Betrachter haben. In diesem Zusammenhang rückt nun das Nähe-Distanz-Verhältnis in den Blick, mithin die Rolle, die die emotionale Haltung gegenüber dem Gegenstand sowie dessen kognitive Erfassung für den Erfahrungsmodus des Betrachters spielen. Ich will das im Folgenden anhand von vier Szenen zeigen: dem zweiten Botenbericht der Troades, in denen die Wirkung eines Spektakels und die sehr unterschiedlichen Reaktionen der Zuschauer zur Sprache kommen, dem Bericht des Eurybates im Agamemnon, der zwei extreme Formen von Nähe und Distanz
445
Schiesaro: Passions in Play [wie Anm. 22], S. 16-19, hier: S. 18f. Anthony J. Boyle: Roman Tragedy. London/ New York 2006. 447 Vgl. Most: „Disiecti membra poetae“ [wie Anm. 119]. 448 Boyle: Roman Tragedy [wie Anm.446], S. 208. 449 Vgl. das Bacchus-Lied des Chores, Oed. 403-508. 450 Boyle: Roman Tragedy [wie Anm.446], S. 209. Die infektuöse Wirkung der Pest und die Transformation der menschlichen Körper beschreibt der Chor in der Parodos, Sen. Oed. 180-201. Der Vergleich mit der Wirkung des Theaters wird durch den Text allerdings nur dadurch gestützt, daß Bacchus, der mit der Stadt Theben eng verbundene Gott des Theaters, in den Eingangsversen, 110-116, explizit adressiert wird (carpitur letu tuus ille, Bacche, | miles, Oed. 113-114a). 446
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gegeneinanderstellt, die Reaktion des Theseus auf den Bericht von der Todesnachricht in der Phaedra, in dem sich das durch die scheinbar perfekte Mischung von Nähe und Distanz anfänglich eingestellte Vergnügen am Schrecklichen durch den plötzlichen Distanzverlust in Entsetzen wandelt, sowie zuletzt anhand der Tiresia-Manto-Szene des Oedipus, in der die Bedingungen der verschiedenen Wahrnehmungsformen des Sehens und Hörens nicht nur auf der Bühne, sondern auch mit dem Zuschauer reflektiert werden.
4.4.2.1 Troades: Zuschauer und Spektakel Im Zentrum des zweiten Botenberichts der Troades (1068-1197) stehen zwei Opferszenen: die Opferung des Astyanax (1068-1120) und die der Polyxena (1121-1197).451 Beide Opferszenen hat Seneca – wenn auch lediglich in der Sprache des Boten – als einen nicht etwa im Stillen vollzogenen Ritus, sondern als ein Spektakel inszeniert.452 Dem Boten, den er die beiden Szenen sukzessive erzählen läßt, legt Seneca dabei zwei Perspektiven in den Mund: die auf Autopsie beruhende Schilderung der eigentlichen Opferhandlung, zu der das mutige Verhalten der beiden Protagonisten gehört, und die Beschreibung der Zuschauer, ihres Verhaltens und ihrer Reaktionen. Beide Berichte führen den Rezipienten jeweils von außen nach innen. Dem Bericht über die Orte, an denen die Zuschauer Platz genommen haben (1068-1087 bzw. 1118-1125), folgt eine Beschreibung des Geschehens auf der ʻBühneʼ und der emotionalen Wirkung, die dieses Geschehen auf seine Betrachter ausübt (1088-1103 bzw. 1132-1164). Dabei steht der mitunter zynische Bericht – etwa über das viele Volk, das an den Bäumen hängt (et tota populo silva suspenso tremit, 1083) – in erster Linie im Zeichen einer Anklage an die Macht des Zuschauers, der, wenn auch physisch unbeteiligt, durch seine Betrachtung wesentlicher Teil der Gewaltausübung ist. Denn die Opferung wird nicht nur als mythische Notwendigkeit dargestellt, die so schmerzlos wie möglich abgegolten werden muß, sondern vor allem als das Objekt der Blicke lustvoll sich daran ergötzender Betrachter. Daß die Zuschauer das Geschehen von Orten aus betrachten, die den Troern als emotionsgeladene Erinnerungsorte gelten – etwa von dem Turm aus, von dem aus Priamos das
451
Zum metatheatralen Charakter der Szene s. Cedric A. J Littlewood: Self-representation and Illusion in Senecan Tragedy. Oxford 2004, S. 172-175. 452 Vgl. dazu Andrew Bell: Spectacular Power in the Greek and Roman City. Oxford/ New York 2004; Jo-Ann Shelton: „The Spectacle of Death in Seneca’s Troades“. In: Seneca in Performance. Hrsg. von George W. M. Harrison. London 2000, S. 87-118; Filippo Amoroso: „Seneca uomo di teatro? Le Troiane e lo spettacolo“. Palermo 1984, Elaine Fantham: Seneca’s Troades. A Literary Introduction with Text, Translation, and Commentary. Princeton 1982, ad loc., und William H. Owen: „Time and event in Seneca’s Troades“. In: Wiener Studien 4 (1970), S. 118-137.
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Kriegsgeschehen betrachtet hatte, in einem Fall sogar vom Grabhügel Hectors aus (atque aliquis (nefas) | tumulo ferus spectator Hectoreo sedet, Tro. 1086b1087), exemplifiziert das Entsetzen, mit dem der Bote diese Haltung quittiert: Astyanax, der sich bereits auf dem Felsvorsprung befindet, von dem er herabgestoßen werden soll, ist dem Spott dieser Gesten ausgeliefert. Er wird von einem handelnden Subjekt – durch seinen Tod schafft er die Voraussetzung für die Heimkehr der Griechen – zu einem Objekt lustvoller Siegerblicke degradiert. Nur indem er angstlos und ohne zu Zögern auf die Mauer steigt (nec gradu segni puer | ad alta pergit moenia, 1090b-1091; intrepidus animo, 1093a), und freiwillig in den Tod springt, noch bevor Odysseus die Präliminarien der Opferhandlung abschließen kann, löst er sich aus dieser Situation (Tro. 1099b-1103): [Nuntius] non flet e turba omnium qui fletur; ac cum verba fatidici et preces concipit Ulixes vatis et saevos ciet ad sacra superos, sponte desiluit sua in media Priami regna.
[Bote] Von allen, die da sind, weint nur er nicht, er, der beweint wird; und als Ulixes die Worte des Sehers und die Bitten bekanntgibt und die grausamen Götter zu den Opfern ruft, da springt er, aus eigenem Entschluß, mitten in Priamos’ Reich hinab.
Zugleich reflektiert die Szene die Wirkung, die mit der Auflösung der Distanz verbunden ist. Durch seine freiwillige Opferung, mit der er (auch wenn das aus der Perspektive des Rezipienten nicht seiner Intention entspricht) der Logik der griechischen Interessen zu folgen scheint,453 vermag es Astyanax, das Verhältnis zwischen Opfer und Täter umzukehren. Er rührt seine Zuschauer zu Tränen und bewegt selbst Odysseus (moverat vulgum ac duces| ipsumque Ulixen, Tro. 1098b-1999a; flevit Achivum turba quod fecit nefas, 1119), den (nicht nur) die Rezipienten der Troades als Prototypen des gerissenen, ja nachgerade kaltherzigen Helden kennen. Auch der zweite Teil der Rede, die Schilderung der Opferung Polyxenas (Tro. 1120-1164), setzt mit der Schilderung der Außenperspektive ein und wirft den Blick zunächst auf das Verhalten der umstehenden Personen. Dabei werden die anwesenden Griechen und Trojaner nicht etwa als aktive Teilnehmer eines Rituals, sondern als Beobachter und Zuschauer eines Spektakels gekennzeichnet. Wie ein Theater – theatri more (Tro. 1125) –, so bemerkt der Bote, sei schon die Architektur des Ortes angelegt gewesen, an dem sich das Volk versammelt habe (Tro. 1123-1125).454 Und wie in ein Theater, so läßt sich mit Blick auf
453
S. dazu oben, Kap. 2, S. 125. Zu theatralen Szenerien in den Tragödien vgl. auch Frederick M. Ahl: „The Rider and the Horse. Politics and Power in Roman Poetry.“ In: ANRW II, 32.1. Berlin/ New York 1984, S. 40-110, hier: S. 105f. 454
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entsprechende Beschreibungen der theaterbegeisterten Römer ergänzen,455 seien eben jene Menschen, die soeben noch den Tod des Astyanax beweint hätten, zum Schauplatz der zweiten Opferung zusammengeströmt (Tro. 1118-1121a): Praeceps ut altis cecidit e muris puer flevitque Achivuum turba quod fecit nefas, idem ille populus alius ad facinus redit tumulumque Achillis.
Eben ist der Junge kopfüber von der hohen Mauer gestürzt und es hat die Schar der Argiver den Frevel beweint, den sie begangen hat; da kehrt eben jenes Volk zu einem weiteren Frevel, zum Grabhügel Achills zurück.
Als sie dort ankommen, füllt der Zustrom den ganzen Strand (concursus frequens | implevit omne litus, 1125b-1126a). An dieser Stelle verweist der Bote allerdings auf die unterschiedlichen Haltungen der Anwesenden. Ein Teil begreift die mythische Notwendigkeit des grausamen Opfers (Zweck-MittelRelation) und hat in erster Linie die durch das Opfer ermöglichte Heimkehr im Blick, ein anderer ergötzt sich an der Gewalt gegen den besiegten Feind. Eine dritte, als „wankelmütig“ bezeichnete Gruppe der Griechen schaut (aus purer Lust an der Grausamkeit?) zu, obwohl sie das Geschehen verabscheut. Die vierte Gruppe schließlich sind die Troer, die ihren eigenen Untergang voller Furcht miterleben (Tro. 1126b-1131): hi classis moram hac morte solvi rentur, hi stirpem hostium gaudent recidi. magna pars vulgi levis odit scelus spectatque; nec Troes minus suum frequentant funus et pavidi metu partem ruentis ultimam Troiae vident[.]
Die einen glauben, daß sich das Aufhalten der Flotte durch diesen Tod beheben läßt, die anderen freuen sich darüber, daß der Stamm der Feinde gefällt wird, ein großer Teil der wankelmütigen Menge haßt das Verbrechen und schaut doch zu. Und die Troer gehen nicht weniger zahlreich zu ihrem Begräbnis, und zitternd vor Angst betrachten sie den letzten Teil des stürzenden Troja.
Durch ihr Auftreten – pudor (1138), decor (1139), animus fortis et leto obvius (1146) – und die Umstände ihres Todes – mollis aetas (1145), vagae rerum vices (1145) – vermag Polyxena (die ihr wahres Schicksal bereits kennt und es der von Helena in der Trugrede zunächst angekündeten Ehe mit Pyrrhus vorzieht, vgl. Tro. 935-948) alle vier Gruppen zu bewegen. Wie Astyanax unterläuft auch
455
Vgl. z. B. Ov. ars 1, 89-98. 93-97: ut redit itque frequens longum formica per agmen | granifero solitum cum vehit ore cibum, | aut ut apes saltusque suos et olentia nactae | pascua per flores et thyma summa volant, | sic ruit ad celebres cultissima femina ludos.
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Polyxena die an ihr geplante Gewalt, indem sie das ihr auferlegte Schicksal zu ihrer eigenen Entscheidung macht: Indem sie sich nicht widersetzt (non tulit retro gradum, Tro. 1151b), ist sie es, die das Geschehen bestimmt; sie ist es, die jeweils den ersten Schritt macht, die Pyrrhus vorausgeht und sich dem Opfer darbietet (Pyrrhum antecedit, 1147a;456 conversa ad ictum, 1152a). Auf diese Weise dreht sie nicht nur das Machtverhältnis um, sondern macht mit ihrer Wandlung vom Opfer zur Heroine – wie schon Astyanax – den Griechen ein Identifikationsangebot. Pyrrhus wird unschlüssig (novumque monstrum est Pyrrhus ad caedem piger, 1154), und die emotionale Ergriffenheit der Täter übersteigt nun sogar die Nähe, die die Trojaner mit dem Geschehen verbindet: Mehr noch als die im eigentlichen Sinne von dem Verlust ihrer Königstochter betroffenen Troer weinen die Griechen um Polyxena (clarius victor gemit, 1161b). Die Szene veranschaulicht, wie sehr das ästhetische Vergnügen am Schrecklichen an die Distanz geknüpft ist, mit der der Zuschauer dem Geschehen begegnet, und daß die Auflösung dieser Distanz die (interesselose) ästhetische Erfahrung unterläuft.
4.4.2.2 Agamemnon: Distanz oder Nähe? Wie sehr eine ästhetische Erfahrung davon abhängt, daß der Betrachter zu dem von ihm betrachteten Gegenstand in einem ausgewogenen Verhältnis von Distanz und Nähe steht, wie entscheidend also das Ineinandergreifen, mihin die Mischung von Nähe und Distanz für die Konstitution eines solchen Erlebens ist, zeigt paradigmatisch der Botenbericht des Eurybates im Agamemnon (Ag. 421578). Eurybates schildert die Freude, schließlich das Entsetzen, das die heimkehrenden Griechen nach ihrem Sieg über Troja während ihrer Abfahrt und der zunehmenden Entfernung vom Festland erleben. Mit großer Detailfreude zeichnet der Bote zunächst das Bild eines auf das schwarze, noch brennende Troja blickenden, gleichwohl heiteren und entspannten griechischen Soldaten (iuvat [...] | iuvat [...], 435f.) nach, der sich langsam von der Küste entfernt und uneingedenk des trojanischen Unglücks in die liebliche Welt eines maritimen locus amoenus eintaucht. Das Meer ist glatt und friedlich (431-434); der Wind weht allenfalls so stark, daß er die Schiffe schon bald treiben läßt und den Ruderern Entspannung gönnt (437-448), tanzende Fische umspielen die Schiffe (449-455), und die Trübseligkeit des zurückgelassenen, noch brennenden Troja entschwindet langsam den Blicken und Gedanken der Soldaten. Der ästhetizistische Blick,457 mit dem sich die
456 Zwierlein hat Tro. 1145 in der OCT-Ausgabe allerdings athetiert, zur Begründung vgl. Otto Zwierlein: „Versinterpolationen und Korruptelen in den Tragödien Senecas (Bruno Snell octogenario)“. In: Würzburger Jahrbücher N.F. 2 (1976), S. 181-217, hier: 188. 457 Zum ästhetizistischen Blick vgl. oben, S. 181.
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Sieger im wahrsten Sinne des Wortes von dem Grauen auf dem Festland distanzieren und den zurückgelassenen Schrecken aus dem Blick verlieren, die blanke Gleichgültigkeit, die sich abgesehen von der erzählerischen Reproduktion des eigenen Heldentums (bella narrat, 446a) jedes Verhalten gegenüber dem Leiden der Besiegten versagt, symbolisiert den Prozeß einer Ent-Emotionalisierung und die Gelassenheit, ja das Bei-Sich-Sein des Betrachters, der sich vom Pathos der entschwindenden Szenerie nicht mehr berühren läßt. Zwischen die Soldaten, die sich entspannt auf ihren Bänken fläzen (fususque transtris miles, 444a), und das Geschehen, das die griechischen Soldaten, gerade ihre Körper, nicht mehr affizieren kann – ein Umstand, dessen erfreuliche Wirkung schon zu Beginn der Schilderung benannt wird (iuvat videre nuda Troiae litora, | iuvat relicti sola Sigei loca, 435f.) – schiebt sich schließlich, beschrieben in der Metaphorik des Wetters, eine Wand (litus omne tegitur, 456), die den Gegenstand in der Unsichtbarkeit versinken läßt. Trojas Rauch, die Präsenz des Schreckens, wandelt sich zu einem schwarzen Mal, einer nota, also einem Zeichen, das nur ein durchdringender Blick, eine pervicax acies, noch sehen kann (Ag. 456-459): iam litus omne tegitur et campi latent et dubia pereunt montis Idaei iuga; et vix (quod unum pervicax acies videt) Iliacus atra fumus apparet nota.
Schon wird die Küste ganz verhüllt und die Felder sind nicht mehr zu sehen und undeutlich verlieren sich die Joche des Idäischen Berges aus dem Blick, und es erscheint (was nur ein beharrlich scharfes Auge sieht) der Rauch von Ilium nur noch als schwarzes Mal.
Der ins Zeichen gebannte Schrecken, das mit zunehmender Entfernung, mithin der räumlichen und emotionalen Distanz, aus dem Blick geratene Grauen, entfaltet sich jedoch in dem Moment, in dem die Soldaten selbst von einem plötzlichen Unwetter heimgesucht werden, das sie unmittelbar betreffen wird (Ag. 462-464): exigua nubes sordido crescens globo nitidum cadentis inquinat Phoebi iubar; suspecta varius occidens fecit freta.
Eine winzige Wolke, die zu einem schwarzen Ball wächst, verdüstert den strahlenden Glanz des untergehenden Phoebus. Sein schillernder Untergang macht das Meer verdächtig.
Auch hier ist es wieder eine Wolke, die den Erfahrungsraum herstellt. Die kleine, anfangs unscheinbare nubes entwickelt sich in offenbar kürzester Zeit zu einer Bedrohung, die die Sicherheit der Soldaten und ihrer Schiffe unmittelbar gefährdet. Gleichsam eingehüllt, auch hier wieder von einer Wolke, wie sie gerade eben noch zwischen das brennende Troja und die schwindenden Schiffe
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getreten war, werden die Soldaten zu einem Teil eben des Geschehens, das sie zugleich betrachten – ja, sie sind so stark in das Wirken der sie umgebenden Winde und Stürme eingebunden, daß sie es nicht einmal wirklich betrachten können (Ag. 491-494a): nec hoc levamen denique aerumnis datur, videre saltem et nosse quo pereant malo: premunt tenebrae lumina et dirae Stygis inferna nox est.
Nicht einmal diese Linderung wird ihrer Mühsal gewährt, wenigstens zu sehen und zu erkennen, durch welches Unheil sie zugrunde gehen. Das Dunkel drückt auf ihre Augen und es herrscht die tiefe Nacht der finsteren Styx.
Sie können nichts sehen (videre) und sie können nichts erkennen (nosse, 492). Die allzu große Nähe, in der sie sich gegenüber dem Unglück befinden, verhindert nicht nur das Sehen (das ja ebenfalls ein Mindestmaß an Distanz verlangt), sondern vor allem das Erkennen: das Begreifen und kognitive Erfassen dessen, was um sie herum vor sich geht. So wie das Erzählen der Heldentaten die Soldaten erfreut, während die Tat selbst Schrecken auslöst (wie das in der anfänglichen Freude, Troja soeben entronnen zu sein, noch nachhallt), so ist auch die ästhetische Erfahrung erst aus der Mischung von Distanz und Nähe möglich – oder wie es im Hercules Furens formuliert wird: quae fuit durum pati, | meminisse dulce est (HF 656b-657a) – was in der realen Erfahrung schrecklich ist, ist als Erinnerung, also in der durch innere Bilder vermittelten Anschauung, wieder „süß“.458
4.4.2.3 Phaedra: Das Vergnügen am Schrecklichen wandelt sich in Entsetzen Welche Bedeutung dem Verlust der Distanz zukommt, zeigt auch die Wirkung des Botenberichts in der Phaedra (Eingangsgespräch mit Theseus, Pha. 991-999; Botenbericht, 1000-1117).459 Theseus ist begierig, von dem Boten die Einzelheiten über den Tod des Hippolytus zu erfahren. In der Überzeugung, den Tod seines Sohnes zwar in die Wege geleitet zu haben (vgl. 903-959), dies allerdings
458
Die Worte richtet Amphitryon an den soeben aus der Unterwelt zurückgekehrten Theseus mit der Bitte, das soeben Erlebte in Worte zu fassen (Pervince, Theseu, quidquid alto in pectore | remanet pavoris neve te fructu optimo | frauda laborum: quae fuit durum pati, | meminisse dulce est. fare casus horridos, HF 654-657). Die Bemerkung zielt hier also auch auf den Zweck des Erzählens als einer Voraussetzung für die Distanzierung. 459 Zur affektiven Wirkung der Meldung vgl. Volker Wurnig: Gestaltung und Funktion von Gefühlsdarstellungen in den Tragödien Senecas. Interpretationen zu einer Technik der dramatischen Stimmungserzeugung. Frankfurt a.M./ Bern 1982, S. 168-176.
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mit gutem Recht, hat Theseus keine Scheu, sich einer detaillierten Erzählung auszusetzen (Pha. 991-999): [Nuntius] O sors acerba et dura, famulatus gravis, cur me ad nefandi nuntium casus vocas? [Theseus] Ne metue cladis fortiter fari asperas: non imparatum pectus aerumnis gero. [Nun] Vocem dolori lingua luctificam negat. [Th] Proloquere, quae sors aggravet quassam domum. [Nun] Hippolytus, heu me, flebili leto occubat. [Th.] Gnatum parens obisse iam pridem scio: nunc raptor obiit. mortis effare ordinem.
[Bote] Oh bitteres und hartes Los, schwerer Dienst, warum rufst du mich als Boten des unsäglichen Unglücks? [Theseus] Hab keine Scheu, das schreckliche Unheil tapfer vorzutragen! Ich bin auf das Leid nicht unvorbereitet. [Bote] Die Zunge verweigert dem Schmerz das trauerbereitende Wort. [Th] Sprich heraus, welches Los das schon erschütterte Haus beschwert. [Bote] Hippolytus, weh mir, erlag einem beweinenswerten Tode. [Th] Daß der Sohn dahin ist, weiß ich, der Vater, schon längst. Jetzt ist der Vergewaltiger gestorben. Erzähl die Reihenfolge seines Sterbens.
Doch Theseus’ anfänglicher Wunsch, an den Ereignissen als Hörer teilzuhaben, die Unruhe, mit der er den Boten dazu anhält, ihm alles sofort zu berichten, währt nicht sehr lange. Am Ende des 115 Verse umfassenden Berichts ist sie einem tiefen Bedauern über den Verlust des Sohnes gewichen. Theseus bricht in Tränen aus (Pha. 1114b-1117): O nimium potens quanto parentes sanguinis vinclo tenes natura! quam te colimus inviti quoque! occidere volui noxium, amissum fleo.
Oh allzu mächtige Natur, mit welch starker Fessel des Blutes hältst du die Eltern gefangen! Wie sehr verehren wir dich, wenn auch wider Willen! Daß der Schuldige untergeht, das habe ich gewollt; daß er verloren ist, aber beweine ich.
Zwar kann Theseus die eigentliche Tragik des Geschehenen auch jetzt noch nicht begreifen – bis zum Ende des Botenberichts muß er weiterhin davon ausgehen, daß Phaedra recht hat und Hippolytus schuldig ist; doch scheinen ihm die detaillierten Schilderungen so nahe gegangen zu sein, daß Hippolytus ein „Gesicht“ erhält. Nachdem er ihn anfangs als Sohn, dann aber nur noch als den Vergewaltiger seiner Gattin wahrgenommen hat (parens ... iam scio, 998 nunc raptor, 999), sieht Theseus nunmehr wieder den Sohn vor sich.
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Als der Bote den Tod des Hippolytus meldet, ist Theseus, als Auftraggeber des inszenierten Unfalls, über das Geschehen längst im Bilde. Er ahnt zwar noch nichts von seiner tragischen Schuld. Daß Hippolytus zu Tode gekommen ist, weiß er aber natürlich. Und doch fordert er den Boten auf, das Geschehene der Reihe nach zu berichten (Pha. 998f.). In einer ganz vordergründig formalen Hinsicht dient seine Aufforderung natürlich lediglich als Einsatzsignal für den nun folgenden Botenbericht. Sie liefert aber zugleich einen „Lektürehinweis“, eine Anweisung an den Rezipienten, während des Botenberichts die emotionale Wirkung, die das Berichtete auf Theseus hat, im Auge zu behalten: Es bereitet Theseus offensichtlich Lust, über die blanke Information hinaus auch weitere Details zu hören. Nicht das Ergebnis der Handlung, sondern die Einzelheiten ihrer Entstehung460 sind für ihn von Bedeutung. Auf einer ersten Ebene liegt hier eine Poetisierung des „Vergnügens am Schrecklichen“ vor.461 Als der Bote auftritt, um Theseus und den Athenern den Tod des Hippolytus zu melden, befinden sich die dramatis personae und die Rezipienten jedoch auf einem unterschiedlichen Informationsstand. Theseus kennt zwar den Inhalt von Phaedras Verleumdungen, hält die Anschuldigungen zu diesem Zeitpunkt jedoch noch für berechtigt. Der Rezipient dagegen kennt die Differenz zwischen der Wirklichkeit und Phaedras Darstellung, auf der die von Theseus veranlaßte Tötung des Hippolytus beruht. Das Vergnügen am Schrecklichen, das auf der Ebene des inneren Kommunikationssystems anhand der Theseus-Figur entfaltet wird, wird damit auf der Ebene des äußeren Kommunikationssystems wieder gebrochen. Gerade dadurch, daß sich Theseus dem Geschehenen in hohem Maße ausliefert, wird dem Rezipienten die Tragik der ästhetischen Lust, die Theseus anfangs noch empfindet und herausfordert, in besonderer Weise bewußt. Theseus’ Vergnügen daran, die Einzelheiten zu erfahren, beruht auf einer völlig falschen Voraussetzung. Er hält den Tod seines Sohnes für gerecht und empfindet darüber Genugtuung, und er glaubt, dem Geschehen gegenüber genügend Distanz zu haben, um die Einzelheiten seines Todes genießen zu können. Seine tatsächliche Nähe zu dem Geschehenen, namentlich die Tatsache, daß seine an Hippolytus geübte Gewalt nicht das Ende, sondern den Beginn seines eigenen Leidens markiert, er selbst also alles andere als ein unbeteiligter Zuhörer, nämlich ein Opfer dieser Gewaltausübung ist, das alles ist ihm – anders als den Rezipienten – während des Botenauftritts noch nicht bewußt.
460 461
S. hierzu oben, Kap. 3, S. 148 und 177, zu Quintilians Ausführungen zur enárgeia. S. hierzu oben, S. 179.
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4.4.2.4 Oedipus: Zwischen Hören und Sehen Wie Seneca das Verhältnis der verschiedenen Wahrnehmungsformen beurteilt und wie er das Zusammenspiel ihrer verschiedenen Potenzen für seine didaktischen Interessen zu nutzen versucht, will ich abschließend anhand der Deutung einer Szene zeigen, in der Seneca dies dem Zuschauer, wie ich meine, nicht nur als ein Geschehen auf der Bühne, sondern gewissermaßen in praxi vorführt und veranschaulicht. Es ist die Szene im Senecanischen Oedipus, in der der blinde Seher mit seiner Tochter Manto die Bühne betritt, um anhand einer Eingeweideschau462 Näheres über die Ursache der Pest zu erfahren, die über Theben hereingebrochen ist (Oed. 288-402). Die Szene steht im Kontext mehrerer Befragungen, die die Ursache der Pest, die selbst ein Zeichen ist, erklären sollen. Ihr vorausgegangen ist ein Gespräch, in dem Creo, der Schwager (und Onkel) des Protagonisten Oedipus von seiner Befragung des Orakels berichtet. Die für den wissenden Zuschauer recht eindeutigen Hinweise, die Creo mitbringt, bedeuten die Schuld des Oedipus, können den Protagonisten selbst jedoch nicht erreichen. Oedipus geht von falschen Voraussetzungen aus – daß seine Frau Iocasta auch die eigene Mutter ist, kann er nicht wissen, da er seine Pflegeeltern in Korinth für seine wahren Eltern hält. Das Aufspüren der Ursache – Oedipus’ Mord an seinem Vater Laius und die Heirat mit der eigenen Mutter – scheitert. Dem Bericht des Creo folgt also mit dem extispicium ein zweiter Versuch. Noch während Creos Erläuterungen betritt der Seher Tiresia die Bühne, um die Zeichen des Phoebus durch eine Eingeweideschau zu deuten. Um das extispicium vornehmen zu können, werden zwei Tiere, ein Stier und eine junge Kuh, geopfert. Während des Opfers schließlich werden die Details der Erscheinungen – die Bewegungen des Feuers, die Lage der Eingeweide – auf ihre Bedeutung hin befragt. Das Opfer nimmt jedoch einen unerwartet schaurigen Verlauf. Die Eingeweide liegen am völlig falschen Platz, es zeigt sich in der jungen, bereits toten Kuh neues Leben: Schrecklich anzusehende Leibesfrüchte sind paradoxerweise in dem noch unbegatteten Tier entstanden, zwei unschön anzusehende kleine Rinder, die sich unter ungeheuerlichen Lauten aufbäumen, aus dem Mutterbauch erheben und zu guter Letzt über die am Altar stehenden Opferdiener herfallen. Gegenüber dem sophokleischen Vorbild der Szene tritt hier, bei Seneca, neben dem Seher Tiresia noch eine zweite Figur auf: Manto, die Tochter des Tiresia, ebenfalls, wie ihr Name schon andeutet, mit Seherkraft begabt, aber anders als ihr Vater nicht blind. Da Tiresia nicht sehen kann, was sich während des extispicium vollzieht, ist sie es, die ihm das Geschehen schildert. Tiresia
462
Zur Manto-Szene s. Thomas Rosenmeyer: „Seneca’s Oedipus and Performance: The Manto Scene“. In: Theater and Society in the Classical World. Hrsg. von Ruth Scodel. Michigan 1993, S. 235-244. Zu den nekromantischen Aspekten der Szene vgl. Wiener: Stoische Doktrin [wie Anm. 198], S. 103-129.
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wiederum, der Blinde, deutet und analysiert ihren Bericht. Auf die Bühne gebracht werden also zwei verschiedene Wahrnehmungsformen, wie sie auch für den Zuschauer im Theater zentral sind: das physische Sehen, verkörpert durch Manto, und das durch Mantos Bericht vermittelte Hören, auf das sich ihr Vater Tiresia „beschränken“ muß. Was mir an dieser Szene als besonders interessant erscheint, ist das durch die Leistungen von Manto und Tiresia dargestellte Verhältnis zwischen sinnlicher und kognitiver Wahrnehmung. Manto, die die Vorgänge mit ihren eigenen Augen sehen kann, hat zwar eine bestimmte Nähe zu dem, was sie sieht. Sie erschrickt über die eigentümliche Entwicklung, die während des Vorgangs eintritt und entwickelt in diesem Zusammenhang starke Emotionen. Ihre Rolle aber ist zunächst einmal die einer Vermittlerin. Den eigentlichen Reflexionsakt leistet Tiresia, der das von ihr Beschriebene hört und es sich vor seinem „inneren Auge“ vergegenwärtigt. Seine physische Blindheit führt dazu, daß er gegenüber den Vorgängen eine Distanz entwickelt, aus der heraus sein „geistiges Auge“ geschärft wird. Nur: Hätte Tiresia diese Leistung auch ohne die der Manto erbringen können? Er selbst sagt, gleich zu Anfang seines Auftritts, daß dem, der nicht sehen kann, ein großer Teil der Wahrheit verborgen bleibt: visu carenti magna pars veri latet (Oed. 295). Ohne Manto wäre es für Tiresia unmöglich, aus der Eingeweideschau irgendetwas Sinnvolles zu erschließen. Anders als bei Horaz,463 der die beiden Formen des Wahrnehmens in ein implizites Konkurrenzverhältnis setzt und die Substitution des Hörens durch das Sehen als einen Niedergang deutet, begründet das von Seneca inszenierte Zusammenspiel von Manto und Tiresia ein Bedingungsverhältnis: Ohne Manto kein Tiresia, ohne die visuell-sinnliche Anschauung keine Erkenntnis. Doch figuriert Manto nicht nur als eine Stellvertreterin des Sehens. Zwar sieht sie, was Tiresia nicht sehen kann, formt ihre visuellen Eindrücke in Sprache und schafft somit die Voraussetzung für Tiresias Leistung, den visuellen Eindrücken einen Sinn beizumessen. Aber sie beschreibt dabei nicht ihre eigenen Eindrücke. Vielmehr folgt sie in ihrer Beschreibung den Fragen, die Tiresia an sie richtet (Oed. 307-314): [Tiresia] Quid flamma? largas iamne comprendit dapes? [Manto] Subito refulsit lumine et subito occidit.
463
[Tiresia] Was ist mit der Flamme? Hat sie schon das reiche Opfermahl erfaßt? [Manto] Sie erstrahlte in plötzlichem Aufstrahlen und plötzlich ging sie zugrunde.
S. dazu oben, Anm. 17 (Hor. ars 179-188) und Anm. 268 (zu Hor. epist. 2, 1, 188200).
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[Tir] Utrumne clarus ignis et nitidus stetit rectusque purum verticem caelo tulit et summam in auras fusus explicuit comam? an latera circa serpit incertus viae et fluctuante turbidus fumo labat?
[Ma] Non una facies mobilis flammae fuit.
[Tir] Ging das Feuer klar und glänzend nach oben und trug es seinen reinen Scheitel aufrecht dem Himmel zu und entfaltete es, in die Lüfte ergossen, ganz oben einen Strahlenkranz? Oder schlängelt es sich seines Weges unsicher seitwärts vorbei und wankt unruhig vom wirbelndem Rauch? [Manto] Kein einheitliches Bild ergab die bewegliche Flamme.
Es ist also Tiresia, nicht Manto selbst, der ihren Blick steuert und durch sein gezieltes Nachfragen ihre Aufmerksamkeit auf die Details lenkt und diesen Bedeutung zuweist. Er ist es, der durch sein Eingreifen und durch die Deutungen, die ihm Manto abverlangt (quid sit, parens, effare, 328a), das Szenario in eine Ordnung bringt. Und in der Macht des Tiresia schließlich steht es, durch die Fragen die Orientierung des Betrachters und auf diese Weise sein Verständnis zu bestimmen: Denn durch die Worte des Tiresia gelingt es – in einem für jede Form des Sprechens charakteristischen Verfahren – die Fülle des Faßbaren zu ʻbeschneidenʼ – oder weniger grob gesagt: zurechtzuschneiden –, es in einzelne Elemente (zeitlich oder räumlich) zu zergliedern (man denke an die doppelte Bedeutung des Begriffs der ʻArtikulationʼ) und Beziehungen (z.B. kausale Verbindungen) zwischen den Elementen herzustellen. Teresia wendet also genau jene Strategien des Erzählens an, von denen ich eingangs im Zusammenhang mit dem Berichten gesprochen hatte: In der Artikulation wird nicht nur zergliedert und zerschnitten. Die in der Zergliederung sichtbaren Details werden auch zusammengeführt, geordnet, hervorgehoben, und somit wird dasjenige zur Sprache gebracht, was sich der rein visuellen Wahrnehmung entziehen könnte. Die Bildausschnitte, die in den Vordergrund (ins ʻBlickfeldʼ) geraten, werden nicht von Manto (als Vertreterin der visuellen Wahrnehmung), sondern von Tiresia (als Impulsgeber der sprachlichen Bilderzeugung) gewählt bzw. in eine (narrative) Ordnung gebracht.464 Die Szene veranschaulicht damit nicht nur jenen Transformationsprozeß, bei dem etwas visuell Sichtbares in Sprache und schließlich in ein inneres Bild und dessen Deutung gewandelt wird bzw. – auf Rezipientenseite – physisches Sehen zu Hören und schließlich innerem Sehen führt. Sie veranschaulicht auch die Tatsache, daß wir nur sehen können, wonach wir fragen. So wie der Reflexion eine sinnliche Erfahrung vorausgeht, geht auch der sinnlichen Erfahrung ein Reflexionsakt voraus: Manto
464 Als vates steht Tiresia damit zugleich für zwei Figuren ein: zum einen für die Figur des Rezipienten, der den Text seinen eigenen Deutungsverfahren unterwirft, zum anderen für die Figur des Dichters (Produzenten), der sein Objekt durch die Gestaltung verändert. So schon Schiesaro: The Passions in Play [wie Anm. 22], S. 19.
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sieht nicht das, was sie sieht oder was sie sehen könnte; sie sieht das, worauf Tiresia, durch seinen Verstand geleitet, ihren Blick lenkt. Natürlich ist die Opferszene zunächst einmal ein gutes Beispiel für die Vorliebe Senecas und seiner Zeitgenossen, dem Rezipienten auch ekelhafte Details zuzumuten (und die beschriebenen Details sind wirklich ekelhaft). Wir kennen das aus anderen Texten und Genres der frühkaiserzeitlichen Epoche, allem voran aus Lucans Bürgerkriegs-Epos Pharsalia. Was an der Szene jedoch auffällt, ist die Bedeutung, die bei der Schilderung dieser Details dem Akt der Zergliederung des Opfertieres und schließlich der Gewalt zukommt, die die sezierte Kuh auf ihre Betrachter, vor allem auf die Opferdiener, ausübt. Die junge Kuh, die mit dem Zweck des extispicium geopfert wird und nunmehr tot auf dem Altar liegt, um auf die Zukunft des thebanischen Königshauses hin befragt zu werden, ist mehr als nur ein einfaches Opfertier, das auf erschreckende Weise Zeichen des Lebendigen zeigt: Sie ist vielmehr ein Text, der zwar gelesen, verstanden und gedeutet werden soll, der sich dem Stillstand, der dabei von ihm verlangt wird, jedoch verweigert. Denn im Zentrum des extispicium steht nicht nur die Repräsentation einer verletzten räumlichen Ordnung, wie sie sich in den Fehlstellungen der Eingeweide zeigt, sondern auch das paradoxe Widerspiel von Leben und Tod, Stillstand und Bewegung (Oed. 353-355, 366-368a, 371, 373-375a): [Manto] Genitor, quid hoc est? non levi motu, ut solent, agitata trepidant exta, sed totas manus quatiunt novusque prosilit venis cruor. [...] mutatus ordo est, sede nil propria iacet, sed acta retro cuncta[.] [...] natura versa est; nulla lex utero manet. [...] quod hoc nefas? conceptus innuptae bovis, nec more solito positus alieno in loco, implet parentem[.]
[Manto] Vater, was ist denn das? Nicht in leichter Bewegung, wie sie es gewöhnlich tun, zucken die aufgestörten Eingeweide, sondern sie schütteln ihre sämtlichen Zotten, und Blut spritzt frisch aus ihren Adern. [...] Die Ordnung ist gestört, nichts liegt am angestammten Platz, sondern alles liegt widernatürlich gebildet. [...] Die Natur ist verkehrt, kein Gesetz bleibt dem Mutterleib. [...] Was ist das für ein Greuel? Eine Leibesfrucht des Rindes, das doch ungepaart ist und an einer fremden Stelle auf ungewöhnliche Art gebettet, erfüllt den Mutterleib.
Die tote Kuh, die auf dem Opfertisch seziert wird und von der es ausdrücklich heißt, daß sie noch nie begattet wurde (innuptae, Oed. 373) zeigt neben den unbotmäßigen Formen ihrer Eingeweide auch eine zweite Störung der Ordnung
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an. Die Eingeweide sind nicht nur nicht am rechten Platz (alieno in loco, Oed. 374). Sie haben auch vorher schon damit angefagen, Neues auf neue Art hervorzubringen (353-355). Die Eingeweide selbst haben somit nicht nur Verweischarakter; sie verweisen nicht nur auf eine außerhalb ihrer selbst liegende gestörte Ordnung (366f.; 371). Sondern sie gebärden sich selbst aktiv und feindlich wie ein lebendiges Wesen: Die aufgestörten Eingeweide zucken stärker als das (nach einer Schlachtung) normal wäre, sie schütteln ihre „Zotten“ (353f.) und bringen auf aktive Weise immer wieder Neues hervor: Neues, frisches Blut spritzt aus den Adern (354f.), die Leber schäumt (et felle nigro tabidum spumat iecur, 358), zwei Köpfe heben sich heraus (en capita paribus bina consurgunt toris, 360), ein Leberlappen stellt sich kraftvoll auf und streckt gleich sieben Adern vor (hostile valido robore insurgit latus | septemque venas tendit, 363-364a). Und zur Bewegung gesellt sich schließlich – als ein weiteres Zeichen der Verlebendigung des Opfers – die Stimme: Unter dem Stöhnen des Feuers versucht sich das junge Rind über den ihm zugemessenen Raum hinauszubewegen (Oed. 375b, 381-383): membra cum gemitu movet[.] [...] neque ista, quae te pepulit, armenti gravis vox est nec usquam territi resonant greges: immugit aris ignis et trepidant foci.
Die Glieder bewegt es unter Stöhnen. [...] Und nicht stammt dieser stumpfe Laut, der dich getroffen hat, vom Vieh, und es lassen sich auch keine erschreckten Herden hören: Es brüllt auf den Altären das Feuer, und es zittern die Opferherde.
Die Glieder des Rindes richten sich auf. Schließlich, im Augenblick des größten Grauens, überschreiten sie den ihnen gesetzten Raum und dringen in den (vermeintlich geschützten) Bereich des Zuschauers hinein (Oed. 378-380): temptantque turpes mobilem trunci gradum, et inane surgit corpus ac sacros petit cornu ministros; viscera effugiunt manum.
Die scheußlich verstümmelten Rinder versuchen sich einen wankenden Schritt, und ihr gewaltiger Leib erhebt sich und greift die Opferdiener mit dem Horn an. Denen entgleiten die Eingeweide aus der Hand.
Die Grenze zwischen Betrachter und Betrachtetem ist überschritten. Mit seinen Hörnern greift ein Rind die Opferdiener an, und die Eingeweide, die diese eben noch gehalten haben, gleiten den Opferdienern daraufhin aus ihren Händen (Oed. 379f.). – Man könnte sagen, die Betrachter haben ihr Objekt nicht mehr ʻim Griffʼ. Für den Zuschauer – auf einer ersten Ebene: die Opferdiener, die die Eingeweide erkunden wollen; auf einer zweiten: Manto, die die ganze Szenerie
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beobachtet – haben sich die Eigenschaften des Objekts nicht einfach nur gesteigert. Das Objekt hat auch ungeahnte Qualitäten angenommen: Es hat sich verselbständigt, fortgepflanzt und gewandelt. Das Objekt der Betrachtung, (in dem von mir schon angesprochenen Sinn: der Text, den es zu deuten gilt), ist von einem bloßen Objekt zu einem Subjekt geworden, das dem Betrachter eigenständig entgegentritt und ihn im wahrsten Sinne des Wortes erschüttert und ʻberührtʼ. Gestört ist also nicht nur die Ordnung dessen, was betrachtet wird (nämlich die verschobene Position der einzelnen Eingeweide als Zeichen einer gestörten Zukunft), sondern auch der Akt der distanzierten, unbeobachteten Betrachtung. Die Grenze zwischen Betrachtern und Betrachtetem ist aufgehoben. Ähnlich wie bei jedem Akt der Rezeption sind Subjekt und Objekt miteinander in Interaktion getreten. Aus der Begegnung zwischen Sub- und Objekt wird ein ästhetisches Ereignis. Auf einer ersten, intradiegetischen Ebene hat die Szene unbestritten die semantische Funktion einer Botschaft; die einzelnen Erscheinungen, die sich den Blicken der Betrachter darbieten, sind als Hinweise auf das Schicksal Thebens zu verstehen. Das Nachwachsen der Eingeweide muß zunächst einmal als Zeichen für etwas verstanden werden, als ein Zeichen nämlich für die unheilvolle Zukunft, die den Nachkommen des Oedipus bevorsteht.465 Außerhalb dieser eigentlichen dramatischen Funktion hat die Szene jedoch auch eine wirkungstheoretische und poetologische Bedeutung: Die Akteure des Opfers sezieren und benutzen die geopferte Kuh wie einen toten Text, den sie erforschen, um über einen Gegenstand, hier: die Hintergründe der Pest, etwas zu erfahren. Sie verstehen den Text als Repräsentation eines außerhalb seiner selbst sich vollziehenden Geschehens. Die junge Kuh jedoch verweigert diese Zeichenoder Referenzfunktion und zeigt sich stattdessen als wandlungsfähig und dynamisch. Die Szene ist somit auch eine anschauliche Beschreibung dessen, was im Umgang mit einem Text bzw. einem ästhetischen Objekt vor sich geht. Denn was die ʻLeserʼ der Eingeweide zunächst gedanklich ausblenden, ist die Unabschließbarkeit der Zeichen, denen sie sich zuwenden. Sie glauben, das Opfertier auf etwas hin befragen zu können, für das sie als Zeichen zwar einstehen, als Erscheinungen selbst jedoch nicht relevant sind. Auf das Opfertier als Text bezogen: Sie halten es nicht für lebendig, sondern für tote Materie – und sie verkennen, daß es sich bewegen und die Betrachter erschüttern muß, um ein Verständnis der Wahrheit zu ermöglichen. Erst der Angriff des Neugeborenen signalisiert, daß das gewählte Verfahren, den ʻTextʼ ausschließlich als ein Referenzsystem zu lesen, höchst problematisch ist. Erst in dem Moment, in dem das extispicium zum ästhetischen Ereignis wird, in dem der ʻTextʼ auch Schrecken und Entsetzen und damit eine gesteigerte Erfahrung auslöst, wird es überhaupt möglich, sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen. Aber dies eben
465
S. dazu Wiener: Stoische Doktrin [wie Anm. 198], S. 103-129.
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auch nur dann, wenn das Entsetzen mit der Distanz einhergeht, wie sie von Tiresia verkörpert wird. Während der körperliche Zugang der Opferdiener für die Erkenntnis alles andere als erfolgreich ist – das viscera effugiunt manum (380b) steht gewissermaßen symbolisch für das Scheitern, den Kontrollverlust und das Mißlingen der Befragung –, und während Manto nur sieht, was ihr die Fragen des Tiresia nahelegen, hat Tiresia die nötige Distanz, um das Vorgehen zu begreifen – dies wiederum allerdings ist ihm nur unter der Bedingung möglich, daß die Opferdiener körperlich präsent sind und daß Manto ihre Augen einsetzt, um das Geschehen in Sprache zu transformieren und sprachlich zu vermitteln. Erst als die Grenze zwischen Sub- und Objekt physisch überschritten wird, als das Objekt der Betrachtung in den Bereich des betrachtenden Subjekts – auch körperlich – hineindringt und die Distanz in jeder Hinsicht auflöst, sind auch die Grenzen überschritten, innerhalb derer die ausgewogene Balance von Nähe und Distanz, das Ineinandergreifen von sinnlicher und geistiger Erfahrung möglich ist. Die drei Figuren symbolisieren somit drei Erfahrungsmodi, wie sie im Theater gefordert, für sich genommen jedoch unzulänglich wären. Keine der Figuren wäre mit ihrer Art des Zugangs allein erfolgreich dabei gewesen, die Befragung auch nur durchzuführen. In ihrem Zusammenspiel stellen sie jedoch genau die Vermögen bereit, die der Rezipient von Senecas Tragödien in sich vereinen muß: die Opferdiener können sich dem Text physisch nähern, ihn zerschneiden und nach eindeutigen Zeichen suchen, haben aber nicht die gebührende Distanz. Manto, als Figuration des Auges, beobachtet aus der Distanz, bleibt daher physisch unbehelligt, sieht aber noch ohne die Ordnungskraft des Verstandes – trotz ihrer physischen Sinne kann sie nicht verstehen; Tiresia schließlich kann zwar alles mit dem Verstand betrachten und deuten, das Geschehen, das er sich hierfür vor seinem ʻinnere Augeʼ vergegenwärtigen muß, muß ihm jedoch sprachlich erst von jemandem vermittelt werden, der es physisch sehen kann. Das Vermögen, das er in sich trägt, kann er nur dadurch zur Geltung bringen, daß er hört, was Manto sagt. Auf die Bühne gebracht ist also – auf drei verschiedene Figuren verteilt – der Zuschauer, wie er sich dem Geschehen auf der Bühne nähert. Mit anderen Worten: Der (reale) Zuschauer, der die Senecanische Szene als ein Bühnengeschehen betrachtet und den Worten der Figuren lauscht, sieht und hört sich selbst und die Prozesse, die seine eigene Wahrnehmung des Geschehens und die Deutung dessen, was er wahrnimmt, ausmachen. Er hört die Worte, mit denen das Geschehen durch Manto berichtet wird, und er kann das Geschehen mit seinen eigenen Augen sehen. Wie in einer mise en abyme blickt der Zuschauer mit den verschiedenen Vermögen seiner Sinne in die Spiegelung seiner selbst und beobachtet, anhand des Zusammenspiels der drei Figuren, seine eigene Position. Den Senecanischen Oedipus durchzieht – auf einer zweiten Ebene – eine zum Thema des Stückes, das ja nicht zuletzt den Prozeß des Wahrnehmens und
4 Senecas implizite Poetologie
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Erkennens beinhaltet, nicht ganz unpassende Reflexion. Die Frage, wie wir uns einem Gegenstand nähern müssen, um ihn zu erkennen, welche Sinne wir hierzu bemühen müssen und was das Ineinandergreifen von Nähe und Distanz, von Bild und Sprache, Sehen und Hören in diesem Prozeß zu leisten vermag, wird nicht nur in der Tiresia-Manto-Szene, sondern auch in der darauf folgenden Nekromantie auf subtile Art und Weise immer wieder angesprochen. In der Nekromantie wird (dramatisch als ein dritter Versuch der Wahrheitsfindung motiviert) die Unterwelt geöffnet, um die tote Schattenwelt ans Tageslicht zu holen. Auch hier ist es der Gegensatz zwischen visuellem und innerem Sehen, der die Szene bestimmt. Während die physisch sichtbare und sehkräftige Oberwelt im Dunkeln tappt, wird die Wahrheit mit der Verlebendigung der toten Schatten und der Befähigung des toten Laius, sich auf die sichtbare Welt zuzubewegen und zu sprechen, in die sinnliche Erfahrungswelt geholt. Anders als das extispicium stellt die Nekromantie zwar weniger die verschiedenen Formen der Wahrnehmung als vielmehr die Notwendigkeit heraus, das Unsichtbare sichtbar zu machen und zum lebendigen Sprechen zu bringen. Gleichwohl hat auch sie eine deutlich poetologische – wenn auch wohl eher produktionsästhetische – Dimension. Daß das Chorlied, das die beiden Szenen verbindet, auch noch ausgerechnet Bacchus-Dionysos, und damit nicht zuletzt dem Gott des Theaters gewidmet ist, mag ein schwacher, aber vielleicht zusätzlicher Wink sein, daß es in den mantischen Szenen des Senecanischen Oedipus nicht ausschließlich um die Erkenntnisprozesse des Protagonisten, sondern auch um die Frage geht, wie wir als Zuschauer die auf der Bühne dargestellten Inhalte erkennen können und welche Rolle dabei neben der Reflexion die sinnlich-ästhetische Erfahrung spielt.
5
Poetische Verfahren der Ästhetisierung von Gewalt
5.1
Vorbemerkungen
Das folgende Kapitel will untersuchen, wie sich die durch das zeitgenössische Theater und in Senecas impliziter Poetologie gedachten Bedingungen ästhetischen Erfahrens auf Senecas konkrete Praxis der Ästhetisierung von Gewalt auswirken und welche Bedeutung diese wiederum für die ästhetische Erfahrung des Zuschauers hat. In Kapitel 2 haben wir gesehen, daß Seneca in den Tragödien die Inszenierung physischer Gewaltakte zwar nicht ausspart, die eigentlichen Tötungsakte aber innerhalb des Bühnengeschehens durch andere Gewaltformen kontextualisiert werden. Insofern wendet sich Seneca zwar in der Tat von einem wichtigen Prinzip der Praktiken der attischen Tragödie ab,466 dem auch noch in der Horazschen Ars Poetica geforderten Präsentationsverbot (Hor. ars 179-188);467 die szenische Präsenz des Physischen wird aber durch die Fokussierung auf ihre physisch unsichtbaren Bedingungen konterkariert. Bezieht man die zeitgenössischen Rezeptionsbedingungen (Kap. 3) sowie Senecas wirkungsästhetische Reflexionen (Kap. 4) ein, so muß das rezeptionsgeschichtlich gefestigte Bild nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in formaler Hinsicht korrigiert werden: Bemerkenswert an Senecas Tragödien ist nicht etwa die szenische Präsenz von physischer Gewalt (wie sie in der kaiserzeitlichen Alltagsund Erfahrungswelt ja weithin verbreitet war), sondern die gegenüber der zeitgenössischen Theaterpraxis mit ihrer Präferenz für Mimos und Pantomimus verhältnismäßig starke Bedeutung, die – auch da, wo physische Gewalt auf der Bühne sichtbar wird – der Sprache zukommt.
466
Vgl. dazu Seidensticker: „Distanz und Nähe“ [wie Anm. 1], sowie Simon Goldhill: „Der Ort der Gewalt: Was sehen wir auf der Bühne?“ im selben Band, S.148-168; ders.: „Violence in Greek Tragedy“. In: Violence in Drama. Hrsg. von Dennis Bartholomeusz. Cambridge 1991, S. 15-33. 467 S. oben, Anm. 17. Zwischen Horazʼ Ars Poetica und dem möglichen Aufführungszeitraum der Senecanischen Tragödien liegen immerhin mehr als 50 Jahre und eine bedeutende Entwicklung in der Theaterpraxis, so daß es schon infolge der sehr unterschiedlichen rezeptionsästhetischen Kontexte nicht ganz unproblematisch ist, Senecas (impliziter) Poetologie die Horazsche Poetik zugrunde zu legen, auch wenn festzuhalten ist, daß sich Seneca, was Aktzahl, Chor, Botenberichte, Charaktere und vor allem Metrik angeht, im wesentlichen an die Regeln hält, wie sie bei Horaz formuliert sind. Zu den thematischen Bezügen vgl. Paul Keseling: „Horaz in den Tragödien des Seneca“. In: Philologische Wochenschrift 61 (1941), S. 190-192.
208
5 Poetische Verfahren der Ästhetisierung von Gewalt
Daß Seneca die Bedeutung der Sprache auch in den Tragödien selbst reflektiert, ist im Zusammenhang mit der Untersuchung seiner Poetologie sowie mit Blick auf die rhetorischen Kontexte vielfach gesehen worden. Die poetologischen Reflexionen über die Sichtbarmachung des Unsichtbaren, wie sie durch die Sprache geleistet werden kann, hat Alessandro Schiesaro 2003 in seiner Studie über den Thyestes herausgearbeitet.468 Allerdings geht es Schiesaro überwiegend um die Poiesis, also um die Reflexion von Produktionsprozessen, und weniger um die ästhetische Erfahrung, wie sie im Spannungsfeld von Sehen und Sprache entstehen kann. Die Beurteilung der rhetorischen Dimensionen steht dagegen immer noch in der Tradition von Friedrich Leos Verdikt der Dramen als in Aktform gebrachter Deklamationen, in denen „Ethos nichts, Pathos alles“ sei.469 Leos Beobachtung der rhetorischen Virtuosität ist richtig, aber sie hat auch wesentliche Funktionen der Sprache verdunkelt. Daß die Tragödien rhetorisch virtuos gestaltet sind, heißt nicht zwingend, daß es sich nur um eine spielerische Indienstnahme rhetorischer Darstellungsmittel handelt, die um ihrer selbst willen oder im Sinne einer Überglänzung eingesetzt werden. Die Rhetorisierung der Sprache, wie sie Seneca betreibt, ist nicht als eine Alternative zu einer ‚unrhetorischen‘ Prosa zu denken (falls es so etwas geben sollte); sie ist weder als Spielerei zu verstehen, noch soll sie den Gegenstand auf eine unbotmäßige Weise hübscher, pathetischer oder ekelhafter darstellen, als dies eine knappe Aussage, ein brevis nuntius, zu leisten vermag.470 Senecas Sprache ist vielmehr selbst ein Teil des Gegenstandes, den sie hervorbringt und der infolgedessen in der Sprache erst entsteht. Sie ist nicht nur repraesentatio von etwas, sondern hat auch einen stark performativen Charakter. Mit anderen Worten: Die Sprache dient nicht nur als ein Instrumentarium der Vermittlung von bereits gegebenen Gedanken oder Gegenständen, sondern stellt sich gewissermaßen selbst aus. Insofern liegt hier, anders als von Leo angenommen, mehr vor als die „Versprachlichung“ einer von der Sprache unabhängigen Welt. Darüber hinaus steht die Sprache im Zeichen eines wirkungsästhetischen Programms, das die Erzeugung von Nähe mit der Erzeugung von Distanz von vornherein verbindet und auch dort noch, wo sie einen dramatischen Gegenstand veranschaulicht oder versinnlicht, ein Moment der Reflexion einschreibt. Die Funktion der Sprache steht damit in einer Fluchtlinie mit Senecas – auch
468
Schiesaro: Passions in Play [wie Anm. 22]. Leo: De Senecae tragoediis [wie Anm. 14], S. 158: „[...] istae non sunt tragoediae sed declamationes ad tragoediae amussim compositae et in actus deductae; in quibus si quid venuste vel acute dictum [...], plaudebant auditores, arti satisfactum erat.“; ebd., S. 148: „novum autem genus tragoedia rhetorica inventa est, cuius indoles breviter sic describi potest ut ἦθος in ea nullum, πάθος omnia esse dicatur.“ 470 Quint. inst. 8, 3, 67. Quintilian demonstriert diesen Unterschied im 8. Buch der Institutio oratoria (67-70) anhand der Verfahren, die Eroberung einer Stadt zu beschreiben, s. hierzu oben, Kap. 3, S. 148ff. 469
5 Poetische Verfahren der Ästhetisierung von Gewalt
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poetologisch relevanter – Forderung (epist. 95, 34),471 den Akt des Sehens durch das Hineinstreuen von Reflexionen zu stören und die unmittelbar eindringliche Wirkung des Gesehenen zu unterbrechen: Distanz und Nähe sollen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen – denn: Distanz und Reflexion werden überhaupt erst durch die Erzeugung von Nähe und Pathos, emotionale Nähe wiederum erst durch die Distanz zum Gegenstand möglich.
5.2
Verfahren der Evokation von Nähe und Distanz
In der griechischen Tragödie, die die Darstellung von physischer Gewalt bekanntermaßen nicht offen auf die Bühne bringt,472 steht an Stelle ihrer Sichtbarmachung die Diskussion und Reflexion der Gewaltphänomene im Vordergrund. In seinem Aufsatz Der Ort der Gewalt: Was sehen wir auf der Bühne? hat Simon Goldhill die verschiedenen Strategien herausgearbeitet, wie sich physische Gewalt trotz Vermeidung visueller Effekte sichtbar machen läßt,473 und dabei festgehalten, daß in der attischen Tragödie zwar die Gewalt selbst nur indirekt zur Sprache kommt, der Diskurs über Blindheit und Sehen jedoch, das Betrachten von Gewalt also, eine prominente Rolle spielt:474 [I]ndem die Folgen der Gewalt auf der Bühne sichtbar werden, wird das Sehen dessen, was gerade nicht gesehen wird, zum Thema gemacht. Das ist nicht nur eine Frage der theatralen Selbstreflexion, sondern hängt auch damit zusammen, daß zahlreiche zeitgenössische Intellektuelle das Schauspiel, die Macht des Sehens und die Kontrolle des Sehens problematisiert haben.
Ähnliches scheint in den Senecanischen Tragödien vorzuliegen. Auch Senecas Tragödien thematisieren das Sehen und Hören in besonderer Weise und setzen
471
Sen. epist. 95, 33-35, s. hierzu oben, Kap. 4, S. 185. S. dazu die hierfür einschlägigen Arbeiten von Seidensticker und Goldhill [wie Anm. 466]. 473 Goldhill: „Der Ort der Gewalt“ [wie Anm. 466], S. 154f.: „Die griechische Tragödie spricht von Gewalt, treibt ihre Figuren durch Worte zur Gewalt und legt auf schmerzhafte Art und Weise die Bedeutung von Gewalt, ihre Motive und Rechtfertigungen offen, aber im Allgemeinen widerstrebt der antiken tragi|schen Bühne die direkte Darstellung physischer Gewalt. Mit Ausnahme von Sophokles’ Aias, wo sich der Protagonist auf offener Bühne das Leben nimmt, dem Angriff auf die Danaiden in Aischylus’ Hiketiden – wo allerdings der Text so korrupt ist, daß es sehr schwer zu sagen ist, was dort eigentlich genau geschieht –, und vielleicht der Szene, in der Prometheus von Kratos und Bia (einer in passender Weise stummen Figur), an den Felsen genagelt wird, ist selbst die Berührung von Körpern stark eingeschränkt.“ 474 Ebd., S. 156. 472
210
5 Poetische Verfahren der Ästhetisierung von Gewalt
die verschiedenen Wahrnehmungsformen und ihr Verhältnis zueinander – wie die Interpretation der Tiresia-Manto-Szene475 zeigen sollte – auf der Bühne in Szene. Indem sie, anders als die attische Tragödie, auch die Ausübung physischer Gewalt auf die Bühne bringen und sowohl sicht- wie hörbar machen, gehen sie mit der Reflexion der verschiedenen Wahrnehmungs-und Erfahrungsformen über die intradiegetische Ebene hinaus: Bei Seneca wird die Reflexion über das Sehen und Hören jedoch nicht ausschließlich auf der Bühnenebene vorgeführt; sie wird auch – und dies anhand eines Gegenstands, dessen Visualisierung besonders problematisch ist – vom Zuschauer gefordert. Dabei ist im wesentlichen zwischen zwei verschiedenen Formen zu unterscheiden: den körperlichen Darstellungsformen, in denen ein Geschehen durch Handlungen visualisiert wird, und den Darstellungsformen, die mit Sprache arbeiten. Beide Formen kommen nicht gänzlich ohne einander aus, sondern greifen – dies gilt auch für die Wirkung ihres Erscheinens – unweigerlich ineinander: Die körperlichen Darstellungen sind schon deshalb mit Sprache verbunden, weil sie – und sei es nur im Sinne einer Regieanweisung – sprachlich angekündigt oder reflektiert werden müssen; die sprachlichen wiederum sind mit körperlichen Ausdrucksformen verbunden, weil sie – wenn es sich nicht um eine monologische Passage handelt (die anders als z. B. die Zauberszene der Medea nicht in eine Handlung eingebettet ist) – innerhalb einer Handlung situiert sind und folglich von körperlich sichtbaren Reaktionen (beispielsweise der umstehenden Figuren) begleitet werden. Die verschiedenen Formen, in denen sich das Verhältnis von Körperlichkeit und Sprachlichkeit konstituieren kann, will ich nun im Folgenden anhand dreier verschiedener Darstellungstechniken in den Blick nehmen: Szenenreportage, Teichoskopie476 und Botenbericht. Alle drei berühren in jeweils sehr unterschiedlicher Weise das Nähe-Distanz-Problem, wobei nicht nur das Verhältnis von physischem und innerem Sehen, von Körper und Sprache, sondern auch der unterschiedliche Umgang mit dem Verhältnis zwischen erlebter und erzählter Zeit sowie die unterschiedlichen Formen der Perspektivierung (die die Aufmerksamkeit des Zuschauers mal mehr auf den berichteten Gegenstand, mal mehr auf das Geschehen selbst lenkt) in die Techniken der Nähe- und Distanz-Produktion hereinspielen.
475
Vgl. dazu oben, Kap. 4, S. 198ff. Hiervon abzugrenzen wäre das Verfahren der Vision, bei dem der beschriebene Gegenstand zwar insofern präsentischen Charakter hat, als er von der beschriebenden Person als unmittelbar auf ihn einwirkend empfunden wird (vgl. die Visionen des Hercules bzw. der Cassandra im Hercules Furens bzw. Agamemno), vom Zuschauer dagegen auf etwas (sei es zeitlich, räumlich oder gedanklich) Entferntes bezogen wird.
476
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211
5.2.1 Szenenreportage Die im Zusammenhang mit der Erzeugung von Nähe und Distanz vielleicht komplexeste Darstellungsform ist die Szenenreportage.477 Szenenreportagen finden sich entweder als Verknüpfung von Bühnen- und hinterszenischem Geschehen (hierin überschneiden sie sich mit der Teichoskopie) oder als Dokumentation einer auch für den Rezipienten einsehbaren Handlung. Sobald das eigentliche Geschehen in einen hinterszenischen Raum und ausschließlich durch die Szenenreportage, also indirekt vermittelt, präsentiert wird, wird die Gewalt überwiegend in den Bereich der Imagination verlegt. Da der Bericht der auf der Bühne verbleibenden Figur synchron verläuft, ist jedoch klar, daß das vorgestellte (mit dem bloßen Auge nicht sichtbare) Geschehen Teil der aktuellen Wirklichkeit ist. Auch impliziert diese Form der Szenenreportage, daß der berichtete Gegenstand noch Teil des – hier nun allerdings imaginativ erweiterten – Bühnenraums ist. Die Unmittelbarkeit des Geschehens bleibt damit, auch wenn das Geschehen selbst für den Rezipienten nicht sichtbar ist, bestehen. Insofern bedeutet diese Form der Szenenreportage für den Rezipienten keine geminderte, sondern möglicherweise sogar eine gesteigerte Gewalterfahrung. Demgegenüber produzieren jene Szenenreportagen, bei denen – wie etwa bei Electras Ankündigung („entry line“478) der bluttriefenden Clytemestra (Ag. 947950) – das von einer dramatis persona berichtete Geschehen zeitgleich auf der Bühne sichtbar ist, zwei verschiedene Wirkungen: Indem sie das innere Auge und die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf Details zu lenken vermögen, die sich der rein sinnlichen Wahrnehmung entziehen oder die dem nicht weiter gelenkten Blick doch immerhin entgehen könnten, schaffen sie zum einen eine besondere Nähe zu dem in der Reportage dargestellten Gegenstand: Das vor dem inneren Auge entstehende Bild gewinnt in besonderem Maße Plastizität und ist, da es von der Imagination des Rezipienten selbst erzeugt werden muß, diesem besonders nahe. Zum anderen evoziert die Szenenreportage auch Distanz: Jeder, der sich im Rahmen eines wissenschaftlichen Vortrags einen Horrorfilm anschaut und dabei versucht, das Grauen zu empfinden, das der Vortragende
477
Zur Szenenreportage vgl. Victoria Tietze Larson: The role of description in Senecan tragedy. Frankfurt a. M./ Berlin/ Bern/ New York/ Paris/ Wien 1994 (Studien zur Klassischen Philologie, Bd. 84), S. 30f., 63. Zur Szenenreportage geäußert hat sich auch schon Gotthold Ephraim Lessing: Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind. Berlin 1754 [wie Anm. 1]. Als Anhang vollständig und auf der Basis der Erstausgabe wiederabgedruckt in und im Folgenden zitiert nach: Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973, s. dazu unten, Anm. 505. 478 Vgl. Dana F. Sutton: Seneca on the Stage. Leiden, 1986, S. 43 bzw. S. 49 (dort: „entrance line“). Der Begriff bezieht sich auf die Ankündigungen während eines Aktes neu hinzutretender dramatis personae.
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durch seinen Kommentar zu beschreiben versucht, weiß, wie sehr sich die im Akt des Beschreibens vollziehende Reflexion zwischen den Betrachter und das von ihm Betrachtete drängt und dafür sorgt, daß die beschriebene Wirkung (also die Illusion) im Akt des Beschreibens zugleich gebrochen wird (oder sich in ihr Gegenteil verkehrt). Wir finden diese Formen etwa in den Szenen, in denen pantomimisch (oder unter allenfalls unartikulierten Klagelauten etc.) auf der Bühne agiert und das Geschehen zugleich von einer weiteren Bühnenfigur beschrieben und kommentiert wird.479 In den Troades, 945-954, beschreibt Andromacha, wie Hecuba, während sich Polyxena für den Opferritus ankleidet,480 in Ohnmacht fällt und sich schließlich wieder erhebt, in der Medea, 382-396, beschreibt die Amme das Klagen und Schreien ihrer zunehmend in Zorn geratenen Herrin,481 im Hercules Furens, 991-1026a, wird die teils auf, teils hinter der Bühne ausgeführte Wahnsinnstat des Protagonisten durch die Worte des anwesenden Vaters kommentiert. Beschreibung und pantomimisches Tun sind hier aufeinander verwiesen und bereichern sich wechselseitig. Ähnlich wie bei einem einfachen Botenbericht, bei dem der Rezipient dem Berichteten deshalb nicht unmittelbar ausgeliefert wird, weil sich der Bericht auf Bühnenebene an einen Adressaten richtet und die Rezeptionserfahrung dessen Reaktion zwangsläufig einschließt, erschließt sich dem Zuschauer dabei zugleich die Reaktion auf der Bühne sowie die Kommentierung und Deutung des Geschehens, wie sie auf Bühnenebene (durch die Amme) geleistet wird. Dabei kann sich das kommentierte Geschehen auch auf den (hinterszenischen) Innenraum ausdehnen, wie das etwa in der Phaedra, 384-386, und im Thyestes, 901a-919 (möglicherweise auch in der Zauberszene der Medea 670842), der Fall ist.482 In der Phaedra wird der Blick zum Palast hin geöffnet und die liebeskranke Phaedra in ihren Gemächern gezeigt. In den als Regieanweisung fungierenden Worten der Amme heißt es (Pha. 384-386): Sed en, patescunt regiae fastigia: reclinis ipsa sedis auratae toro solitos amictus mente non sana abnuit.
479
Aber siehe da! Es öffnet sich die Giebel der Könisburg. Sie selbst, zurückgelehnt, auf dem Polster ihres vergoldeten Sitzes, verweigert mit ihrem kranken Verstand die gewohnten Gewänder.
S. dazu oben, Kap. 3, S. 164. Gemeint ist der sogenannte „Ankleidepantomimus“, s. dazu Schmidt: „Zeit und Raum in Senecas Tragödien“ [wie Anm. 186], S. 342. 481 Vgl. dazu Schmidt: „Zeit und Raum in Senecas Tragödien“ [wie Anm. 186], hier: S. 342f. (Troades), 343f. (Medea). S. auch oben, Kap. 3 (im Zusammenhang mit der Aufführungsfrage), S. 164. 482 Zur Zauberszene vgl. die Diskussion von Schmidt: „Zeit und Raum in Senecas Tragödien“ [wie Anm. 186], S. 352f. 480
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Zwar findet eine direkte Kommunikation zwischen den beiden Frauen nicht statt. Doch wird aus den Worten des Chores deutlich, daß die Amme483 während der Worte ihrer Herrin (Pha. 387-403) in Wehklagen ausgebrochen ist und auf diese Weise den sich anbahnenden Wahnsinn kommentiert hat (Pha. 404f.): [Chorus] Sepone questus: non levat miseros dolor; agreste placa virginis numen deae.
[Chor] Laß die Klagen! Nicht erleichtert Schmerz die Elenden; besänftige das wilde Walten der jungfräulichen Göttin!
Distanz zu Phaedras Rede wird freilich weniger durch die Reaktion der Amme geschaffen – ihr Wehklagen macht die von Phaedras Verhalten ausgehende Entwicklung allenfalls noch plastischer – als durch den Chor, der anders als die Amme eine nüchterne und optimistisch-prospektive Position einnimmt und damit zugleich ein Rezeptionsverhalten einfordert, durch das die unmittelbare Wirkung des Geschehens in der Begegnung mit dem Kommentar gebrochen und gewissermaßen distanziert wird. In der Szenenreportage arbeiten sich die Wirkungsmechanismen von Nähe und Distanz also in einer idealen Weise zu.
5.2.2 Teichoskopie und Phantasmatoskopie Ähnlich wie die Szenenreportage bezieht sich auch die Teichoskopie484 auf ein zeitgleiches bzw. als zeitgleich zu denkendes Geschehen.485 Im Unterschied zur Szenenreportage, bei der der Gegenstand gegebenenfalls gesehen werden kann, ist der Gegenstand der Erzählung bei der Teichoskopie jedoch in keinem Fall sichtbar. Die beschriebene Handlung spielt sich vielmehr außerhalb des von der Bühne markierten Raums, wenn auch in dessen unmittelbarer Nähe ab. Anders als beim Botenbericht, der sich auf ein räumlich wie zeitlich entfernt liegendes Geschehen bezieht, ist das Geschehen, das in der Teichoskopie beschrieben wird, durch ein komplexes Mischungsverhältnis von Nähe und Distanz bestimmt. Der Berichtende ist durch eine tatsächliche oder imaginäre Mauer von der berichteten Handlung getrennt – eine Mauer, die ihn vor dem Übertritt der Handlung in den
483
Daß die Worte des Chors nicht an Phaedra, sondern an die Amme adressiert sind, zeigt, rein formal, die zweite Hälfte des Imperativs, der von der Amme, V. 406ff. befolgt wird. 484 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Tiresia-Manto-Szene in Kap. 4, oben, S. 198ff. 485 Für die Teichoskopie gibt es in der attischen Tragödie drei Beispiele: Aischylos Hiketiden (710-733), Euripides Phoenissen (88-192) und Euripides Hippolytos (565-599). Das Verfahren entstammt der berühmten Mauerschau in der Ilias (3, 121-244). Zum Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit bei Seneca vgl. Speyer: Kommunikationsstrukturen in Senecas Dramen [wie Anm. 135], S. 212.
214
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Bühnenraum gleichsam ʻbeschütztʼ; er befindet sich also, indem er auf der Bühne ist, in einem Raum, der von dem Geschehen hinter dieser Mauer nicht bedroht werden kann. Zugleich aber kann er das Geschehen mit eigenen Augen sehen und durch seinen Bericht in das Bühnengeschehen integrieren. Die Überschreitung der Bereiche von on- und off-stage wird durch das physische Sehen einerseits und das Sprechen andererseits geleistet: Das Sehen überschreitet die Grenze vom on- hin zum off-Bereich; das Sprechen wiederum holt den offBereich in den on-Bereich hinein. Dadurch, daß der Berichtende sich mal dem Geschehen, mal den Zuhörern auf der Bühne zuwenden muß, zeigt er den Richtungswechsel und wechselseitigen Transformationsprozeß auch körperlich an: Er schaut, von seinen Zuhörern abgewandt, nach draußen, während er sieht, und er redet, indem er sich seinen Zuhörern wieder zuwendet. Ähnliches geschieht bei der Vision, die Augustin Speyer treffend als „Phantasmatoskopie“ bezeichnet hat.486 Die Mauer ist hier nicht als räumliches Trennungsglied zwischen szenischem und hinterszenischem Geschehen, sondern in einem ganz immateriellen Sinne als eine ʻWandʼ zu denken, durch die die ʻrealeʼ Welt von der nur imaginär einer einzelnen Figur zugänglichen Wahnwelt getrennt wird. Was sie dagegen von der Teichoskopie unterscheidet und ihren Präsenzcharakter einerseits verstärkt, andererseits aber auch unterläuft, ist die Tatsache, daß der Zuschauer nicht nur nichts sieht, sondern sich auch dessen bewußt ist, daß er nichts sehen kann. Die physische Präsenz der Cassandra, die in ihrer Vision die synchron verlaufende Ermordung Agamemnons sieht, geht einher mit ihrer psychischen – und damit mehr als jedes physische Hindernis –unüberwindlichen Absenz. Anders als in der Szenenreportage haben bei der Teicho- oder Phantasmatoskopie weder die Zuschauer auf der Bühne, also die Figuren, für die das Geschehen kommentiert wird, noch die realen Zuschauer, also das Theaterpublikum, irgendeinen Zugang zu dem berichteten Geschehen. Beide sind völlig auf die Worte angewiesen, mit denen ihnen das Ganze berichtet wird. Die Bilder, die die Figur, die über die Mauer des Bühnenraums (oder im Falle der Vision: des Wirklichkeitsbereichs) hinweg nach draußen schaut, mit ihren Augen sieht und sprachlich transformiert, die Auswahl der Details, durch die diese Bilder beschrieben werden, und die zeitliche Ordnung, in die diese Details durch die Erzählung gebracht werden, können vom Zuschauer, der ja hinsichtlich dieses Geschehens nur ein Zu-hörer ist, nicht weiter beurteilt werden. Der Zuschauer hat keine Möglichkeit, sich mit seinen eigenen Augen ein ʻBildʼ zu machen und kann das berichtete Geschehen daher mit nichts vergleichen, da er nichts sieht, sondern ausschließlich hört. Im Falle der Phantasmatoskopie steht darüber hinaus auch der vermittelte Inhalt selbst zur Disposition. Während der ʻTeichoskopʼ mit seinen Worten einen theoretisch zugänglichen Raum erschließt,
486
Speyer: Kommunikationsstrukuren in Senecas Dramen [wie Anm. 135], S. 212.
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müssen die Gedanken eines bei physischer Präsenz mental absenten Visionärs487 dem Zuschauer verschlossen bleiben. Was er allerdings sehr wohl sehen kann, ist die Reaktion der Figuren, an die sich der Bericht auf der Bühne richtet. Insofern spiegelt die Bühnensituation seine eigene Rolle als Zuhörer. So wie die Figuren auf der Bühne nichts sehen, sondern nur hören, ist auch der Zuschauer auf seinen auditiven Sinn angewiesen. Die beiden eben genannten Formen – Szenenreportage und Teichoskopie – zeigen aber auch noch etwas anderes: Denn sie unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Sinne, die jeweils angesprochen werden, sondern legen ihren Schwerpunkt, wie bereits angedeutet, auch auf zwei verschiedene Bereiche einer dramatischen Aufführung. Während die Szenenreportage den Gegenstand der Reportage sehen läßt und ihn somit auch für den Zuschauer ins Zentrum der Betrachtung rückt, steht bei der Teichoskopie der Akt der Rezeption im Vordergrund. Der eigentliche Gegenstand, beispielsweise ein Akt der physischen Gewalt, der sich im off-Raum zeitgleich abspielt, wird somit vor allem durch seine Wirkung erfahrbar. Der Zuschauer sieht zwar nicht den eigentlichen Gewaltakt, aber er kann sehen, wie sich das Entsetzen darüber bei der Figur, die durch den Bericht davon erfährt, manifestiert. Insofern kann er also doch etwas vergleichen: Zwar nicht – wie in der Szenenreportage – einen Gegenstand, den er mit eigenen Augen sieht und von dem er zeitgleich hört, wie er beschrieben wird, sehr wohl aber die Reaktion der Figur(en) auf der Bühne und seine eigene Reaktion. Während die Vergleichsmöglichkeit bei der Szenenreportage also auf den Gegenstand bezogen ist, gilt die Vergleichsmöglichkeit bei der Teichoskopie dem Rezeptionsakt, den der Zuschauer sowohl beobachtet (auf der Bühne) wie auch zugleich am eigenen Leib erfährt (indem er dem Bericht zuhört). In beiden Fällen ist der Zuschauer den Figuren auf der Bühne also überlegen.
5.2.3 Botenbericht So wie die Szenenreportage den Akt des Sehens spiegelt, spiegelt die Teichoskopie den Akt der Rezeption und erlaubt es dem Zuschauer somit, seine eigene Tätigkeit während der Betrachtung zu reflektieren. Szenenreportage und Teichoskopie erlauben auch innerhalb der Bühnenwirklichkeit das Gespräch zwischen dem, der berichtet, und den Figuren, die das Berichtete vernehmen. Schon wegen ihres dialogischen Charakters ist beiden Formen ein Moment des Reflexiven eingeschrieben. Das Erzählte wirkt nicht unmittelbar auf den
487
Mehr noch als für Hercules, der ebenfalls seine Wahnideen in Worte faßt, gilt dies für Cassandra, zu deren tragischer Schicksal es gehört, daß sie nicht erhört bzw. verstanden wird.
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hörenden Zuschauer ein, sondern wird durch die Nachfragen oder Kommentare der übrigen Figuren auf der Bühne unterbrochen. Der Eindringlichkeit sind somit Grenzen gesetzt.488 Statt an der Illusion des Zuhörers zu arbeiten und ihm den Eindruck zu vermitteln, an dem Geschehen teilhaben zu können, stellen Szenenreportage und Teichoskopie die Ursachen und Wirkungen vor, in deren Spannungsfeld der Bericht auf der Bühne entsteht. Die Fragen, die an die berichtende Person gestellt werden, strukturieren deren Blick auf das Geschehen und somit die visuelle Rezeption; die Reaktionen auf den Bericht wiederum lassen erkennen, was der Bericht selbst auslöst. Insofern bleiben sowohl das kausale Umfeld wie auch die Folgen des Sprechens präsent. Der Sprechakt als solcher soll nicht in den Hintergrund treten oder gar vergessen werden, sondern in seinen Entstehungs- und Wirkungsprozessen sichtbar werden. Anders verhält es sich beim Botenbericht: Der Botenbericht wird nur sehr selten durch den Einwurf einer anderen Figur unterbrochen. Er ist daher, schon durch seine ununterbrochene(n) Länge(n), den beiden anderen Formen darin überlegen, daß er im Zuhörer eine besondere Nähe gegenüber dem Geschehen zu erzeugen vermag. Dies ist insofern entscheidend, als er von etwas erzählt, was, durch räumliche oder zeitliche Distanz bedingt, weit außerhalb des Bühnenraums geschieht und daher möglichst überzeugend in den on-Bereich der Bühne hineingetragen werden muß. Während sich Szenenreportage und Teichoskopie auf ein Geschehen beziehen, das zwar außerhalb des eigentlichen Bühnenraums, aber doch in unmittelbarer Nähe gelegen ist (es ist ja, bei visueller Überschreitung des Bühnenraums als potentiell Sichtbares zu denken), verweist der Botenbericht auf etwas, das auch bei einer Öffnung des Bühnenraums niemals sichtbar werden könnte, sondern durch seine räumliche oder zeitliche Entfernung von vornherein dem Bereich des Unsichtbaren zugehört. Damit unmittelbar verbunden ist ein zeitliches Moment. Da der Bote das Geschehen vor
488
Die Bedeutung der Ekphrasis ist zwar von Shadi Bartsch und anderen rehabilitiert worden, vgl. Bartsch: „ʻWait a Moment, Phantasiaʼ. Ekphrastic Interference in Seneca and Epictetus“. In: Ekphrasis. Sonderband der Zeitschrift Classical Philology 102 (2007). Hrsg. von Shadi Bartsch und Jan Elsner, S. 88-95. Für die Senecanischen Tragödien sind die Ekphrasis-Passagen jedoch überwiegend als Beweis für die Rezitationstheorie herangezogen werden. Ausführliche Arbeiten liegen in jüngerer Zeit mit den Untersuchungen von Tietze Larson [wie Anm. 477] und Jean Pierre Aygon: Pictor in fabula. L’ecphrasis – descriptio dans les tragédies de Sénèque. Brüssel 2004, vor. Gegenüber dem (erstmals bei Demetrios in Peri Hermeneías – in der Bedeutung: ‚entwickeln‘, ‚etwas lang und breit behandeln/diskutieren‘, ‚etwas in einem geschmückten Stil ausdrücken‘ – erwähnten) Begriff der Ekphrasis schließt die descriptio die zeitliche Ausdehnung des erzählten Gegenstands mit ein. Bei Seneca findet sich beides. Die Hippolytus-Arie in der Phaedra (1-84) oder die Zauberszene in der Medea (670-848) haben ekphrastische Momente. Die Länge der Beschreibung spielt dabei aber keine Rolle. Creos Bericht etwa über die Umgebung, in der Laius ermordet wurde (Oed. 276-285), läßt sich als „Mikro-Ekraphsis“ (Aygon, a.a.O., S. 31) beschreiben.
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dem eigentlichen Bericht gesehen haben muß, entsteht sein Sprechen darüber nicht spontan, sondern kommt in einer bereits strukturierten Form auf die Bühne. Der Bote, der in der Phaedra die Nachricht von Hippolytus’ Tod zu überbringen hat (Pha. 1000-1114), unterbricht den Erzählstrom immer wieder durch kleine Hinweise, die ihn selbst als Beobachter, also als Rezipienten zeigen, und somit in seiner medialen Funktion erkennbar machen.489 Der Bote hat vor seinem Auftritt gesehen, verarbeitet, geordnet und tritt auf die Bühne, um die Bilder, die er bereits in sich trägt, vor den dort Anwesenden zu entfalten. Allerdings ist dies nicht immer der Fall: So wird z. B. der Bote im Senecanischen Thyestes mehrfach von den Fragen des ungeduldigen Chors unterbrochen und dazu angehalten, schneller auf den Punkt zu kommen (non quaero quis sit, sed uter. effare ocius, Thy. 640) oder bestimmte Details näher auszuführen (Quis manum ferro admovet?, 690b). Der geplante Erzählablauf wird also korrigiert und in eine andere Richtung gelenkt. Aber auch durch diese Technik wird – auf paradoxale Weise – eine Nähe zum Geschehen hergestellt. Denn die Fragen des Chors insinuieren, daß dem Boten das Bild des Geschehens unmittelbar vor Augen steht und er seine Aufmerksamkeit auch spontan noch auf genau das, wonach der Chor ihn fragt, richten kann. Was besonders weit weg ist: hier die bereits vollzogene Opferung bzw. Schlachtung der Thyesteskinder, von der der Bote dem Chor berichtet, wird so als ein lebendiges Bild auf die Bühne geholt. Das Beispiel zeigt, daß das Fragen eines Gegenübers den Bericht nicht zwingend im Sinne einer Distanzschaffung unterbrechen muß, sondern auch umgekehrt für Nähe sorgen kann.490
489
Hierhin gehören etwa die den Vergleichen impliziten Reflexionen (non tantus Auster Sicula disturbat freta | nec tam furens Ionius exsurgit sinus | regnante Coro, saxa cum fluctu tremunt | et cana summum spuma Leucaten ferit, Pha. 1011-1114), die zwar einerseits durch die Bilderweiterung zu einer Steigerung der Anschaulichkeit beitragen, andererseits aber auch die (vorgängige) Reflexion des Erzählers ausstellen. 490 Zu den Szenen, in denen auf der Bühne nicht im eigentlichen Sinn gehandelt, sondern etwas auf der Bühne nicht Darstellbares imaginativ in den Innenbereich des Bühnengeschehens geholt werden soll, gehören schließlich auch jene Monologe oder Reden, deren Gegenstände im Bereich des Begrifflichen oder Immateriellen angesiedelt sind. Formal nicht zu den Botenberichten gehörig, sind sie diesen in ihrem Anliegen, ein auf der Bühne nicht präsentes Geschehen imaginativ erfahrbar zu machen, doch insofern ähnlich, als durch ihre Rede die Handlung allenfalls dadurch vorangetrieben wird, daß einem bestimmten Begriff, einer Idee oder einer Charaktereigenschaft Plastizität verliehen wird. Ebenfalls von außen nach innen gekehrt und damit visualisiert wird das für den Zuschauer nicht unmittelbar Einsehbare bei der Beschreibung von Emotionen und Affekten. Man wäre hier vielleicht geneigt, eher umgekehrt davon zu sprechen, daß das Innere nach außen gekehrt wird. Denn aus der Perspektive der Bühnenfiguren, auf einer intradiegetischen Ebene also, wird ein im ʻInnerenʼ verschlossenes Gefühl durch Worte oder Handlungen ge-äußert. Für unseren Kontext entscheidend ist jedoch der materiell bedingte Grenzverlauf zwischen Innen und Außen, wie er sich aus der Perspektive des
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5.3
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Körperliche Verfahren
5.3.1 Direkte Präsentation physischer Gewalt Beginnen wir mit der naheliegendsten Form der Gewalt: der visuellen Darstellung von Personen, deren physische Integrität verletzt wird. In diesem Zusammenhang sind vier Szenen anzuführen, in denen Destruktionshandlungen, die auf die Zerstörung menschlicher Körper zielen, tatsächlich im szenischen Präsens, also weder durch Botenbericht noch durch die Präsentation der Opfer in den on-stage-Bereich gelangen: In der Medea mordet die kolchische Zauberin ihre Kinder (967-1020), im Oedipus (1038f.) stürzt sich Iocasta, wie auch die Heldin in der Phaedra (1197f.), coram publico ins Schwert, und im Hercules Furens bringt Hercules, dem Wahnsinn verfallen, Frau und Kinder um (9911026). Mit einer Mischung aus Deixis und Präteritum dagegen arbeitet die Szene des Thyestes, in der Atreus seinem Bruder die Köpfe und Hände von dessen Söhnen zeigt (970ff.): Hier sind die physischen Überbleibsel der Kinder zwar noch auf der Bühne sichtbar, und durch die unmittelbare Wirkung, die ihr Anblick auf den ahnungslosen Vater ausübt, gewinnt der Mord als Tatsache Präsenz. Der Tötungsprozeß selbst wird jedoch gerade durch den repräsentativen Charakter, mit dem die ʻDokumenteʼ dieser Tat zugleich auf ihre Abgeschlossenheit verweisen, als vergangener markiert. Schließlich finden sich zahlreichen Szenen, die nur in der Erzählung, sei es im szenischen Präteritum, wie in den Botenberichten über die Zerstückelung des Hippolytus (Pha. 9911114), die Schlachtung der Thyestes-Kinder (Thy. 623-788) oder die gewaltsame
Zuschauers ergibt. Hier verläuft die Grenze zwischen dem auf der Bühne Sichtbaren, also dem innerhalb von Bühnenraum (bzw. -zeit) befindlichen ʻInnenʼ, und dem, was auf der Bühne nicht gesehen werden kann und daher einem ʻAußenʼ zugerechnet werden muß. Aus der Perspektive des Zuschauers gehören die Emotionen, sofern sie sich nicht körperlich äußern und infolgedessen sichtbar sind, demzufolge dem Außen an. Ähnlich wie eine Handlung, die sich räumlich oder zeitlich außerhalb des Bühnenorts vollzieht oder vollzogen hat, durch Sprache in den Bühnenraum hineingetragen werden muß, muß eine Emotion überhaupt erst einmal in den Vollzug einer Handlung übersetzt werden, um als solche durch den Rezipienten sichtbar zu werden. Hier geht es darum, es nicht bei einer einfachen Aussage, wie „Venus ist mächtig“, zu belassen, sondern den Kern der Aussage durch Bilder zu konkretisieren. Primär erreicht wird dies durch verschiedene Verfahren der imaginativen Erweiterung des Bezugsgegenstandes: Die Charakterisierung von Macht wird nicht nur in die Beschreibung von Handlungen übersetzt und damit zeitlich und räumlich konkretisiert. Zeit und Raum werden auch in einem über das Notwendige hinausgehenden Maße ausgedehnt (vgl. hierzu die Interpretation von Schmidt: „Zeit und Raum in Senecas Tragödien“ [wie Anm. 186], S. 324f.). Ein zentrales Kennzeichen dabei sind schließlich auch Repetitivität und Variation. Die Hippolytus-Arie zu Beginn der Phaedra (besonders Pha.. 54-72, s. dazu oben, Kap. 2, S. 89) ist hierfür ein anschauliches Beispiel.
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Öffnung des Tartarus (Oed. 530-658), sei es in der semi-präsentischen Vision, wie in Cassandras Schilderung des als zeitgleich vorzustellenden Mords an Agamemnon (Ag. 867-909),491 oder als Szenenreportage, wie Hercules’ Mord an einem seiner Kinder im Hercules (991-1026a), die Wahrnehmung des physischen Gewaltakts ermöglichen. Gerade die zuerst genannten Szenen dienen in der Forschungsliteratur als Beispiel für die brutale Visualisierung körperlicher Gewalt.492 Betrachtet man die genannten Szenen jedoch etwas genauer, so stellt man fest, daß die Nähe zum Gegenstand, wie sie durch die physische Präsentation in visueller Hinsicht (vermeintlich) hergestellt wird, zumeist durch Strategien der Distanzschaffung konterkariert wird.
5.3.1.1 Medea Die Schlachtung der Medea-Kinder vollzieht sich in zwei Schritten: Der erste Mord, als Opfer für die Manen des auf der Flucht aus Kolchis getöteten Bruders deklariert, wird lediglich durch das imperativische utere (969) und das deiktische hac (969) als zeitgleich ausgewiesen (Med. 967-971a):493 Discedere a me, frater, ultrices deas manesque ad imos ire securas iube: mihi me relinque et utere hac, frater, manu quae strinxit ensem – victima manes tuos placamus ista.
Bruder, befiehl den Rachegöttinnen, von mir zu weichen und ohne Sorge zu den untersten Manen zu gehen. Überlasse mich mir und gebrauche diese Hand hier, die das Schwert gezückt hat – deine Manen besänftigen wir durch dieses Opfer da.
Unmittelbar nach diesen Worten, mit denen zugleich der erste Mord vollzogen wird, kündigt sich mit großem Getöse die Ankunft Iasons und seines Gefolges – und somit die Gelegenheit an, das zweite Kind in Iasons Beisein zu töten (Med. 971b-975): Quid repens affert sonus? parantur arma meque in exitium petunt. excelsa nostrae tecta conscendam domus
Was bedeutet das plötzliche Getöse? Waffen werden gerüstet und wollen meinen Untergang. Ich werde auf das hohe Dach
491 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Phantasmatoskopie bei Speyer: Kommunikationsstrukuren in Senecas Dramen [wie Anm. 135], S. 212 (s. dazu oben, S. 214). 492 Vgl. Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero [wie Anm. 202], S. 218. 493 Die Worte imitieren mit ihrer wiederholten Verwendung des langvokalischen –a– zudem das Stöhnen und Leiden der mordenden Mutter.
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caede incohata. perge tu mecum comes. tuum quoque ipsa corpus hinc mecum aveham.
unseres Hauses steigen, nachdem das Morden nun begonnen hat. [zu ihrem zweiten, noch lebenden Kind:] Los auf, sei mein Begleiter! [zu dem bereits getöteten, ersten Kind:] Auch deinen Leichnam will ich mit mir selbst von hier fortbringen.
Die Durchführung des zweiten Mords, zu dessen Durchführung sich Medea auf das Dach des Hauses begeben hat und den sie nun vor Iasons Augen vollziehen wird, dauert etwas länger. Von der ersten Ankündigung (Med. 1001) – hic te vidente dabitur exitio pari
Dieser hier wird – vor deinen Augen – dem gleichen Untergang gegeben werden.
bis zur eigentlichen Durchführung (Med. 1019-1020a) – bene est, peractum est. plura non habui, dolor, quae tibi litarem.
So ist es gut, es ist vollendet. Mehr habe ich nicht, Schmerz, was ich dir opfern könnte.
vergehen 18 Verse, eine auf der Ebene des Bühnengeschehens für Iason als Qual, für Medea als Genuß empfundene Verlängerung des Tötungsakts (Med. 1016): [Med] perfruere lento scelere, ne propera, dolor
Genieße das langsame Verbrechen, eile nicht, mein Schmerz.
Iason, der das ganze betrachtet, soll während dieser quälend langen Rede hoffen dürfen, einschreiten und Medeas Morden noch unterbrechen zu können. Und er versucht dies, wenn auch natürlich ohne Erfolg. Daß er darum bittet, den Sohn zu verschonen, verhallt aber natürlich ebenso im Nichts wie das flehentliche Bitten, ihn als ein Ersatzopfer für seinen zweiten Sohn anzunehmen (Med. 1004f.; 1018): iam parce nato. si quod est crimen, meum est: me dedo morti; noxium macta caput. [...] Infesta, memet perime.
Verschone doch den Sohn. Wenn es eine Schuld gibt, dann ist es meine. Ich übergebe mich dem Tode. Schlachte dieses unschuldige Haupt! [...] Feindliche, mich selbst bring um!
Die Intensität, mit der der Zuschauer das Morden erwartet, wird also von der Aufmerksamkeit überlagert, mit der er zugleich Iason, den Zuschauer auf Bühnenebene, betrachten muß. Der Zuschauer bekommt auf diese Weise seine eigene Rolle als die eines Betrachters vorgeführt – und zwar in all ihren
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positiven und negativen Aspekten: Ein Geschehen aus der Distanz betrachten zu dürfen, so führt es die Iason-Figur exemplarisch vor, beinhaltet nicht nur die Sicherheit, von diesem nicht angegriffen werden zu können. Es bedeutet auch die Machtlosigkeit, in das Geschehen, selbst wenn es nötig ist, nicht eingreifen zu können. So wie Iason der Zugriff auf das Geschehen, das sich ja auf dem Dach des Hauses abspielt, nicht möglich ist, so ist auch der Zuschauer von der Bühne getrennt und seiner Rolle als handlungsunfähiger Zuschauer nicht zuletzt auch ausgeliefert. Für den Zuschauer war das Geschehen dabei bereits zuvor schon dadurch in Distanz gerückt worden, daß es die Protagonistin von Anfang an beständig hinterfragt und reflektiert. Alle ihre Regungen, wie sie sie im Vorfeld des Mordens empfindet, werden von Medea aus der Außenperspektive neu bedacht und abgewogen. Medea steuert nicht etwa geradlinig, in blindem Zorn auf ein festes Ziel zu, sondern bewegt sich von Anfang an innerhalb verschiedener Kräftefelder, die sie mal in die eine, mal in die andere Richtung zerren. Sie schwankt zwischen einander entgegengesetzten Emotionen. In Bezug auf sich selbst und ihre eigene Rolle als Ehefrau und Mutter schwankt sie zwischen horror und ira bzw. furor (Med. 926-944): Cor pepulit horror, membra torpescunt gelu pectusque tremuit. ira discessit loco materque tota coniuge expulsa redit. egone ut meorum liberum ac prolis meae fundam cruorem? melius, a, demens furor! incognitum istud facinus ac dirum nefas a me quoque absit; quod scelus miseri luent? scelus est Iason genitor et maius scelus Medea mater – occidant, non sunt mei; pereant, mei sunt. crimine et culpa carent,
494
Horror hat mein Herz erschüttert, in Frost erstarren meine Glieder, und ein Zittern hat meine Brust befallen. Der Zorn ist von der Stelle gewichen und die Mutter hat die Ehefrau ganz494 vertrieben und ist wieder da. Soll ich das Blut meiner Kinder und meiner Nachkommenschaft vergießen? Besser ist es, ah, wahnsinniger Furor! Nein, von dieser Tat da will ich nichts mehr wissen, und auch von mir bleibe er fern, der gottlose Frevel. Welches Verbrechen werden die Armen büßen? Ihr Verbrechen ist es, daß Iason ihr Vater ist, und ein größeres Verbrechen noch: daß Medea ihre Mutter ist – sie sollen sterben, sie sind nicht die meinigen, sie sollen zugrundegehen, sie gehören mir. Sie sind frei von Verbrechen und Schuld, sie sind
Ob die ganze Mutter die Ehefrau (mater tota) oder die Mutter die ganze Ehefrau (totâ coniuge expulsâ) vertrieben hat (bzw., da tota prädikativ gebraucht wird: welche der beiden Frauen hier – „in ihrer ganzen Fülle“ – gemeint ist), läßt der Text in der Schwebe: die metrische Position von tota erlaubt es, das Ausgangs -a lang oder kurz, also als nom. und/oder als abl. zu verstehen.
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sunt innocentes, fateor: et frater fuit. quid, anime, titubas? ora quid lacrimae rigant variamque nunc huc ira, nunc illuc amor diducit? anceps aestus incertam rapit; ut saeva rapidi bella cum venti gerunt, utrimque fluctus maria discordes agunt dubiumque fervet pelagus, haut aliter meum cor fluctuatur: ira pietatem fugat iramque pietas – cede pietati, dolor.
unschuldig, das gebe ich zu: Aber unschuldig war auch mein Bruder. Was schwankst du so? Was netzen Tränen dein Gesicht und treibt dich Unschlüssige der Zorn bald hierhin, die Mutterliebe bald dorthin? Zwiespältige Glut reißt die Unschlüssige mit sich fort. Wie wenn reißende Winde wilde Kriege führen, von beiden Seiten die Meere die entzweiten Fluten aufrühren und die treibende See sich erhitzt, nicht anders wird mein Herz hin und her gerissen: Der Zorn verscheucht die Liebe und die Liebe den Zorn, gib der Liebe nach, mein Schmerz.
Medea schwankt zwischen amor und ira (938f.) bzw. pietas und ira (943f.); sie ist unschlüssig, welche Rolle ihre Identität bestimmen soll – die der Mutter oder die der Ehefrau (928) –, und sie kann sich nicht darauf festlegen, welchem der beiden Ehepartner die Kinder zugehören (934f.). Infolgedessen kann sie auch nicht sicher entscheiden, ob es wirklich richtig ist, die Kinder zu töten. Hinzu kommt, daß sie die widersprüchlichen emotionalen und gedanklichen Voraussetzungen nicht ausschließlich zu einander entgegengesetzten, sondern teilweise auch identischen Urteilen führen. Medeas Argumentationen zeigen ebenso eristische wie pathologische Qualitäten.495 Und sie lassen nicht nur die Protagonistin selbst bis zu ihrem Abgang unschlüssig, ob sie das Richtige getan hat. Auch der Zuschauer wird auf diese Weise stets aufs Neue davon abgehalten, sich vollständig vereinnahmen zu lassen. Während es ein geradliniges Verhalten der Figur ermöglichen würde, daß der Rezipient sich mit ihrer emotionalen Position identifiziert und in das Geschehen hineinziehen lässt, zwingt das reflexive Moment, wie es Medeas Schwankungen voraussetzen, auch den Zuschauer dazu, eine Außenperspektive einzunehmen, die verschiedenen Positionen abzuwägen und zu der Figur und ihrem Tun Distanz infolge dessen aufzubauen.
495
Die Fokussierung auf die Affekttheorie und ihre repraesentatio in den Tragödien ist in der Forschungsliteratur der häufigste Versuch, sich Wesen und Funktion der Tragödien zu nähern. Vgl. dazu die kritische Beurteilung von Wolf-Lüder Liebermann: „Senecas Tragödien. Forschungsüberblick und Methodik“. In: Liebermann (Hrsg.): Sénèque le tragique [wie Anm. 186], S. 1-61, stellvertretend seine Anmerkung a.a.O., Anm. 66, zu Arbogast Schmitt: „Leidenschaft in der senecanischen und euripideischen Medea“. In: Storia, poesia e pensiero nel mondo antico. Studi in onore di M. Gigante. Neapel 1994, S. 573-599.
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5.3.1.2 Oedipus Nach der Schilderung der Selbstblendung (Botenbericht) und dem Parzenlied (Chorlied) kommt im letzten Akt des Oedipus wieder der Protagonist selbst, sowie, nach Ankündigung des Chors, auch seine Frau und Mutter Iocasta auf die Bühne: Der Auftritt der Iocasta, die körperliche Erschütterung, die ihr stürmischer Schritt verrät, kündigt Unheilvolles an: Die Worte, die der Chor zur Beschreibung ihres Zustandes benutzt, zeigen die Verzweiflung und Verunsicherung, die die Erkenntnis, daß es sich bei Oedipus um den Mörder des Laius und um ihren eigenen Sohn handelt, bei Iocasta ausgelöst hat und von der der Zuschauer befürchten muß, daß sie sich in der nachfolgenden Handlung entladen wird (Oed. 1004-1009): En ecce, rapido saeva prosiluit gradu Iocasta vaecors, qualis attonita et furens Cadmea mater abstulit gnato caput sensitve raptum. dubitat afflictum alloqui, cupit pavetque. iam malis cessit pudor, sed haeret ore prima vox.
Sieh da, mit raschem Schritt kommt voller Wildheit Iocasta hervorgestürzt, so von Sinnen wie die kadmeische Mutter, die verzückt und rasend ihrem Sohn den Kopf abriß und den abgerissenen Kopf bemerkt hat. Sie zögert, den Niedergeschmetterten anzusprechen, sie will es und sich fürchtet sich davor, schon ist die Scham dem Leiden gewichen, aber es stockt auf ihren Lippen noch das erste Wort.
vaecors, attonita, furens auf der einen Seite und dubitat, cupit, pavet und pudor auf der anderen Seite deuten das Spannungsfeld an, in dem sich Iocastas Gemütszustand bewegt. Der geschilderten körperlichen Manifestation ihres von Erregung und Scham geprägten Ausnahmezustands folgt die Rede, die Iocasta an den Protagonisten richtet: Auch hier steht die Verunsicherung, die die Störung der familiären Ordnung hervorgerufen hat, im Vordergrund (Oed. 1009-1011a): Quid te vocem? gnatumne? dubitas? gnatus es: gnatum pudet; invite loquere gnate[.]
Als was soll ich dich ansprechen? Als meinen Sohn? Du zögerst? Du bist mein Sohn: Es schämt den Sohn. Wenn auch gegen den Willen: Sprich, mein Sohn!
Der kurze, heftige Wortwechsel mit Oedipus führt allerdings nicht zum direkten Konflikt. Vielmehr reden beide Figuren in einer Weise aneinander vorbei, die sofort erkennen läßt, daß die Entscheidung über das eigene Leben in jedem der beiden Fälle bereits gefällt ist. Die vermeintliche Unsicherheit zeigt nur ein Zögern, nicht aber den Willen an, sich in irgendeiner Weise noch beeinflussen zu lassen (Oed. 1019f.):
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[Iocasta] Fati ista culpa est: nemo fit fato nocens.
[Oedipus] Iam parce verbis, mater, et parce auribus[.]
[Iokaste] Das da ist die Schuld des fatum: Niemand wird schuldig durch das ihm bestimmte Schicksal. [Oedipus] Spar dir die Worte, Mutter, und verschon mir meine Ohren!
Oedipus wehrt Iocastas (vermeintliche) Gesprächsbereitschaft, ihre gegenüber dem Sohn versöhnliche Anklage an das Schicksal angewidert ab, und es dauert daher nicht lange, bis auch Iocasta zum Ausdruck bringt, daß – wie das ja thematisch in ihrem vorausgegangenen Satz schon angelegt ist –, eigentlich nichts mehr zu ändern ist. Ihr Vorhaben, die geplante Selbsttötung, bringt Iocasta denn auch in einer Selbstanrede offen zur Sprache (Oed. 1027 und 1031b-1038a):
morere et nefastum spiritum ferro exige. […] mors placet: mortis via quaeratur – Agedum, commoda matri manum, si parricida es: restat hoc operi ultimum.– rapiatur ensis; hoc iacet ferro meus coniunx – quid illum nomine haud vero vocas? socer est. utrumne pectori infigam meo telum an patenti conditum iugulo inprimam? eligere nescis vulnus[.]
Stirb [sc. Iocasta] und treib den gottlosen Atem mit dem Schwert heraus! [...] Daß ich sterbe, ist beschlossene Sache. Wie ich sterbe, das ist noch die Frage. Los, leih deiner Mutter deine Hand, wenn du ein Elternmörder bist. Dies letzte fehlt noch deinem Werk. Das Schwert reiß an dich; denn durch dieses Schwert hier ist mein Gatte tot – warum nennst du ihn nicht mit seinem wahren Namen? Er ist dein Schwiegervater. Ich frage mich: Soll ich die Waffe in mein Herz bohren oder lieber tief in meine offene Kehle stoßen? Nein, die Wunde kannst du dir nicht aussuchen.
Spätestens hier ist dem Zuschauer klar, daß er mit einer Selbsttötung auf offener Bühne zu rechnen hat – oder doch wenigstens damit, daß die aus dem Mythos bekannte Selbsttötung unmittelbar bevorsteht. Der Selbstmord wird also durch die mehrfache Ankündigung der Iocasta und – aus der Perspektive des Zuschauers – durch die hierdurch erzeugte Erwartungsangst vorbereitet. Dabei stellt sich dem Zuschauer – in den wenigen Sekunden, die ihm zwischen dem ersten (1038a) und dem zweiten (1038b) Halbvers bleiben – nicht etwa die Frage, ob, sondern lediglich wie sich Iocasta umbringen wird. Der eigentliche Akt der Selbsttötung, bei dem sich Iocasta in
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einer Art „Spiegelstrafe“496 das Schwert des Laius in den Unterleib stoßen wird, ist jedoch ausgesprochen kurz (Oed. 1038b-1039): hunc, dextra, hunc pete uterum capacem, qui virum et natos tulit
Diesen, meine Hand, diesen Unterleib hier, der meinen Mann und meine Kinder aufgenommen hat, den greife an!
Kurz und knapp sind aber nicht nur die Worte, mit denen Iocasta ihren Selbstmord begleitet. Auch die Reaktionen der Beistehenden sind denkbar nüchtern. Der Chor findet nicht mehr als zwei ganze Sätze. Während er den eigentlichen Tod mit zwei nüchternen Worten bedenkt, die ihren Tod lediglich bestätigen, gilt sein ganzes Augenmerk dem offensichtlich grotesk anmutenden Bild der Wunde (Oed. 1040f.): Iacet perempta. vulneri immoritur manus ferrumque secum nimius eiecit cruor
Da liegt sie tot. Inmitten der Wunde stirbt ihre Hand, und mit sich schleudert das allzuviele Blut das Schwert heraus.
Auch Oedipus selbst zeigt sich durch den Tod der eigenen Mutter wenig beeindruckt. Bevor er die letzten Worte des Dramas spricht und seinen Weggang aus Theben ankündigt, mit dem er die Stadt von der Befleckung durch seine Person befreien will, gelten seine Gedanken nicht etwa der Mutter, die er soeben verloren hat. Oedipus richtet seine Worte vielmehr ausschließlich an Phoebus, den er für alles verantwortlich macht (Oed. 1042-1046): Fatidice te, te praesidem veri deum compello: solum debui fatis patrem; bis parricida plusque quam timui nocens matrem peremi: scelere confecta est meo. o Phoebe mendax, fata superavi impia.
Schicksalskünder, dich, dich klage ich an, den Beschützer und Gott der Wahrheit: Dem Schicksal habe ich nur den Vater geschuldet; als zweifacher Elternmörder und schuldiger noch als ich es befürchtet habe, habe ich nun auch die Mutter getötet: durch mein Verbrechen ist sie tot. Oh Phoebus, du Lügner, ich habe deine gottlosen Schicksalssprüche übertroffen.
Die Klage über den Tod der Mutter steht also ausschließlich im Zusammenhang mit Oedipus’ eigener Situation: Die Schuld, in die ihn Phoebus getrieben hat, wurde durch den Selbstmord der Mutter nicht nur einmal mehr vermehrt, sondern sie übersteigt auch das vorgesehene Maß. Die Entpersonalisierung der Iocasta, die weniger Mensch als Stolperstein auf Oedipus’ Weg zur Wieder-
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S. dazu oben, Anm. 179.
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herstellung ist, wird dabei gegen Ende der Szene noch einmal in ein veritables Bild gefaßt: Als Oedipus sich aufmacht, um die Stadt zu verlassen und damit auch den Reinigungsprozeß in Gang zu setzen, droht er, wie seine Selbstanrede zeigt, auch literaliter über den Leichnam zu stolpern (Oed. 1051):497 i profuge vade – siste, ne in matrem incidas.
Geh, brich auf, geh los – halt ein, damit du nicht auf die Mutter fällst.
Was Oedipus besorgt, betrifft also in erster Linie ihn selbst und seinen eigenen (Lebens-)Weg – eine Perspektive, die den Zuschauer abstoßen mag, ihn von der blutigen Tat jedoch auch ablenkt und diese damit – literaliter – aus dessen Blickfeld rückt. Konterkariert aber wird die Brutalität des Tötungsakts, wie er auf der Bühne sichtbar ist, nicht nur durch die Knappheit, mit der er kommentiert wird. Es ging ihm auch im Vorfeld schon ein weiteres distanzschaffendes Moment voraus: Denn Iocasta will sich zunächst nicht selbst töten; sie will von Oedipus getötet werden (1032f.). Entgegen ihrer kurz zuvor noch im Gespräch mit ihm getroffenen Aussage, daß die Verantwortung der Tat allein beim fatum liegt (1019), weist sie Oedipus damit nicht nur die Schuld zu, indem sie ihn zu einer bewußten Reproduktion der beiden begangenen Verbrechen nötigt. Sie zwingt ihn auch, sich zu der (eben noch von ihr relativierten) Schuld zu bekennen und seine Täterschaft zu bestätigen. Statt es ihr zu überlassen, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, soll Oedipus die (begonnene) Zerstörung seiner Mutter nun auch aktiv vollenden (1033). Daß sie Oedipus keine Chance läßt, zu dieser Aufforderung in der einen oder anderen Richtung Stellung zu beziehen und die Selbsttötung schließlich ohne weitere Umschweife oder Erläuterung selbst vornehmen wird, lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers nun in eine unerwartete Richtung: Im Zentrum steht nicht mehr die Brutalität der physischen Verletzung, sondern die Tatsache, daß mit ihrer plötzlichen Vollendung und in der Verweigerung der Kommunikation dem nunmehr seiner Schuld bewußten Oedipus jede Form der Auseinandersetzung verweigert wird. In der Durchführung des Selbstmordes richtet sich die Gewalt demnach nicht nur gegen den Körper Iocastas, sondern in erster Linie gegen Oedipus, der, als nunmehr ʻzweifacher Muttermörderʼ, psychisch in die Knie gezwungen wird (1044f.). Die auf die physische Verletzung bezogene Gewalterfahrung des Zuschauers wird damit gewissermaßen konterkariert. Im Zentrum steht auch dann noch, als auf der Bühne bereits Blut zu sehen ist – und dies offensichtlich nicht zu knapp (vgl. die knappe Szenenreportage des Chors, 1041) – die jede visuelle Erfahrung übersteigende und in erster Linie an die kognitiven Fähigkeiten des Rezipienten appellierende Diskussion der Schuld.
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Dramatisch wird die Gangunsicherheit durch Oedipus’ Blindheit motiviert.
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5.3.1.3 Phaedra Ähnlich wie im Oedipus orientieren sich auch die Reaktionen auf den Selbstmord in der Phaedra überwiegend an der Bedeutung, die die Umstände, die zu dem Selbstmord geführt haben, für die umstehenden Personen haben. Zwar bringt sich die Protagonistin der Phaedra, so wie Iocasta, auf offener Bühne um (Pha. 1197f.): [Phaedra] mucrone pectus impium iusto patet cruorque sancto solvit inferias viro.
[Phaedra] Durch das gerechte Schwert klafft meine ruchlose Brust, und mein Blut zahlt für den unschuldigen Mann das Totenopfer.
Die eigentliche Wirkung aber geht von ihrem Geständnis aus, das Phaedra ihrem Selbstmord unmittelbar vorausgeschickt hatte (Pha. 1192b-1196): [Phaedra] falsa memoravi et nefas, quod ipsa demens pectore insano hauseram, mentita finxi. vana punisti pater, iuvenisque castus crimine incesto iacet, pudicus, insons – recipe iam mores tuos.
[Phaedra] Falsches habe ich verkündet und den Frevel, den ich selbst im Wahnsinn und mit verblendetem Herzen begangen habe, erlogen und ausgedacht. Du hast als Vater Dinge bestraft, die nie stattgefunden haben, und der junge keusche Mann ist tot, der Unkeuschheit bezichtigt, züchtig, schuldlos – nun nimm dein wahres Wesen an!
Von den umstehenden Personen, Theseus und dem Chor, wird der Selbstmord kaum in seiner Blutrünstigkeit wahrgenommen (Pha. 1199f., 1244-1246): [Theseus] Quid facere rapto debeas gnato parens, disce a noverca: condere Acherontis plagis. [...] [Chorus] Theseu, querelis tempus aeternum manet: nunc iusta nato solve et absconde ocius dispersa foede membra laniatu effero.
[Theseus] Was du dem hingerafften Sohn als Vater schuldest, das lerne von der Stiefmutter: Verbirg dich in den Gefilden des Acheron! [...] [Chor] Theseus, für’s Klagen ist noch ewig Zeit. Jetzt aber erweise deinem Sohn die angemessene Ehre und begrabe schnell die durch die bestialische Zerfetzung scheußlich zerstreuten Körperteile!
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5 Poetische Verfahren der Ästhetisierung von Gewalt
Sofern man die Verse 1199f. mit der Handschriftengruppe E der Figur des Theseus zuweist (und nicht dem Schluß der Phaedra-Rede),498 leitet Theseus seine Reaktion mit der Ankündigung ein, Phaedra in den Tod folgen zu wollen, was insofern paßt, als Theseus in der gesamten nun folgende Rede (Pha. 12011243) das eigene Leid, wie es durch Phaedras Geständnis entstanden ist, ins Zentrum stellt. Was Theseus im wesentlichen beschäftigt, ist die Frage, wie und auf welche Weise er dieser Vernichtung am besten begegnen und wie er, möglichst symbolbeladen, sterben kann.499 Im Vordergrund steht also nicht Phaedras physisches Sterben, sondern Theseus’ psychische Vernichtung sowie der Wunsch, diese Vernichtung nun auf physischer Ebene zu vollenden. Daß Phaedra physisch nicht mehr existent ist, wird dagegen völlig ausgespart. Auch der Chor erhebt lediglich den sehr pragmatisch gedachten Einwand, daß Theseus seine Klagen über das eigene Leid doch ohne weiteres verschieben könne (12441246), und thematisiert Phaedras Tod damit allenfalls indirekt. Demgegenüber war dem eigentlichen Vollzug der Tat eine lange Sequenz der Diskussion vorausgegangen, in der Phaedra ihren Todeswunsch artikuliert hatte. Der Zuschauer wurde auf ihren Tod also, durch die lange Ankündigung und die damit verbundene Erwartungsangst, gedanklich auf den bevorstehenden Selbstmord vorbereitet. Schon der Auftritt Phaedras, den der Chor mit den Worten ankündigt (Pha. 1154f.) – Quae vox ab altis flebilis tectis sonat strictoque vecors Phaedra quid ferro parat?
Welche klagende Stimme erklingt aus der Tiefe des Hauses,500 und was hat Phaedra, die wahnsinnige, mit dem gezückten Schwert vor?
– weist sicht- und hörbar auf die kommende Tat hin: Das bereits gezückte Schwert, die aufgewühlte Mimik, das offensichtliche Weheklagen lassen keinen Zweifel daran, daß Phaedra etwas Furchtbares vorhat. Und auch die Frage des Theseus, mit der die nachfolgende Diskussion eingeleitet wird, seine
498
Die Handschriftengruppe A hat an dieser Stelle keine neue Sprecherzuweisung vermerkt; demnach wären die beiden Verse noch Teil von Phaedras Rede. 499 Auch hier wird wieder mit dem Motiv der Spiegelstrafe gearbeitet: Theseus, der die Ordnung der Welt gestört hat, indem er heil aus der Unterwelt zurückgekehrt ist, wünscht sich, in der Unterwelt wieder aufgenommen zu werden: Dehisce, tellus, recipe me dirum chaos | recipe, haec ad umbras iustior nobis via est (Pha. 1238f.). Zur Spiegelstrafe s.oben, Anm. 179. 500 Ähnlich wie in Med. 380f. ist auch hier unklar, was man sich unter tectis, genau vorzustellen hat, zumal die Angabe durch das Attribut (altis tectis) hier weiter verunschärft wird: Kommt Phaedra aus dem Inneren des Hauses oder ist mit altus hier die Höhe bezeichnet? Zur Stelle vgl. Sutton: Seneca on the Stage [wie Anm. 478], S. 17f.
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Verwunderung, mit der er das Miteinander von Trauer und Gewaltbereitschaft zur Kenntnis nimmt, machen deutlich, daß mit dieser Szene die entscheidende Wende eintritt (Pha. 1156-1158): Quis te dolore percitam instigat furor? quid ensis iste quidve vociferatio planctusque supra corpus invisum volunt?
Welcher Furor stachelt dich vom Schmerz Gereizte an? Was soll das Schwert da, und was soll das Schreien und das Weheklagen über dem verhaßten Leichnam?
Schließlich läßt auch Phaedra selbst von Anbeginn ihrer Rede (1159-1198) an deutlich erkennen, daß sie sterben will – auch wenn Theseus bis zu ihrem Geständnis, 1192ff., nicht wirklich begreifen kann, weshalb (Pha. 1159-1163, 1176b-1180, 1183-1185b, 1188-1190): Me me, profundi saeve dominator freti, invade et in me monstra caerulei maris emitte, quidquid intimo Tethys sinu extrema gestat, quidquid Oceanus vagis complexus undis ultimo fluctu tegit. [...]
hac manu poenas tibi solvam et nefando pectori ferrum inseram, animaque Phaedram pariter ac scelere exuam. [...] non licuit animos iungere, at certe licet iunxisse fata. morere, si casta es, viro; si incesta, amori. [...]
o mors amoris una sedamen mali, o mors pudoris maximum laesi decus, confugimus ad te: pande placatos sinus.
Mich, mich, wilder Herrscher des tiefen Meeres, geh an, gegen mich schicke die Ungeheuer des dunkelblauen Meeres, was auch immer Tethys in weitester Ferne im innersten Schoß trägt und was Okeanos mit seinen unruhigen Wogen umschließend in der entferntesten Flut birgt. [...] Mit dieser Hand hier will ich dir Buße zahlen und das Schwert in die ruchlose Brust stoßen, und Phaedra von Leben und Verbrechen zugleich befreien. [...] Nicht möglich war es, uns lebendig vereinen, aber es ist gewiß erlaubt, daß wir unsere Schicksale verbinden: Stirb, wenn du keusch bist, für den Gatten; wenn du unkeusch bist, für den Geliebten! [...] Oh Tod, einziger Trost einer elenden Liebe, Tod, größte Zierde, wenn das Schamgefühl verletzt ist: zu dir nehme ich Zuflucht: öffne deinen sanften Schoß.
Phaedras Rede dient jedoch nicht nur der Steigerung der Erwartungsangst. Sie markiert auch den Wendepunkt der bisherigen Täter-Opfer-Konstellation: Phaedra, die bislang als Opfer (des Hippolytus) aufgetreten war, offenbart sich durch das Geständnis, gelogen zu haben, nunmehr als Täterin; Theseus, der
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5 Poetische Verfahren der Ästhetisierung von Gewalt
Hippolytus auf der Basis dieser Lüge in den Tod geschickt hatte, erweist sich als das eigentliche Opfer dieser Tat. Dabei wird die chiastische Symmetrie in beiden Fällen über eine Figuration der Leere hergestellt: Phaedra, die geschwiegen hat, wird durch die Verweigerung der Sprache ex post zu einer Täterin, die Täterschaft des Theseus wiederum wird als ein Kampf gegen ein „Nichts“ desavouiert (die vana, gegen die er seine Strafe gerichtet hat) – ein Nichts freilich, das ausgerechnet durch ein Schweigen, nämlich durch das Schweigen der Phaedra entstanden war. Insofern bleibt Theseus, der bei dem Versuch, ein Opfer zu retten, selbst hatte zum Täter werden müssen, am Ende der Tragödie als das eigentliche Opfer zurück. Der paradoxe Charakter, wie er in der Täter-OpferKonstellation zutage tritt, zeigt sich schließlich auch im Verhältnis von Unsichtbar- und Sichtbarkeit. Denn auf Bühnenebene wird nun gerade das, was zuvor unsichtbar war (die gegen Theseus, indem er zum Täter gemacht wurde, geübte Gewalt), in den Bereich des Sichtbaren geholt; das, was dagegen sichtbar war bzw. schien (der Opferstatus der Phaedra), wird aus dem Blickfeld der Umstehenden und ihrer Aufmerksamkeit weggedrängt. Phaedras Leichnam, auch wenn er für den Zuschauer noch physisch sichtbar auf der Bühne liegt, verschwindet innerhalb des Bühnengeschehens – in der Unsichtbarkeit: Phaedras physische Destruktion wird von den Umstehenden mit einer psychischen Vernichtung gleichgesetzt – eine Korrespondenz, die zwar mit Phaedras eigener Perspektive (vgl. ihre Ankündigung hac manu poenas tibi | solvam et nefando pectori ferrum inseram, Pha. 1176b-1177, sowie die symbolische Wahl des Tötungsinstruments)501 nicht übereinstimmt, in der Schlußszene jedoch im Schweigen und der Gleichgültigkeit der umstehenden Figuren zum Ausdruck kommt. Demgegenüber gelangen nun die vana, das immaterielle Mordinstrument, mit denen Phaedra Theseus – und Hippolytus – zu ihrem Opfer machte, in ihrer materialisierten Wirkung, den Leichenteilen des Hippolytus, in den Bereich der Sichtbarkeit. Bis zum Ende des Stücks wird nicht die Leiche der Phaedra, sondern die Begutachtung der Leichenteile des Hippolytus, die auf Bitten des Theseus (Huc, huc reliquias vehite cari corporis, 1247) in seine Nähe gebracht werden, die Aufmerksamkeit der dramatis personae erfordern. Die szenische Präsenz von blutiger Gewalt, der Selbstmord, den die Figur der Phaedra auf der Bühne übt, wird also durch ein szenisches Präteritum, die Demonstration des zerstückelten Leichnams des Hippolytus, überlagert. Die Leichenteile, die Theseus zusammensuchen läßt (Pha. 1247-1249a) –
501
Das Schwert des Hippolytus, mit dem sie sich tötet (bzw.: auch wenn es nicht dasselbe ist, so verweist die Wahl des Mordinstruments doch auf das Schwert des Hippolytus), war zugleich das Angriffsinstrument, zur „Spiegelstrafe“ vgl. oben, Kap. 2, S. 95 und Anm. 201. Phaedra selbst betrachtet ihre moralische Integrität durch ihren Tod als wiederhergestellt, vgl. Pha. 1176f.
5 Poetische Verfahren der Ästhetisierung von Gewalt [Theseus] Huc, huc reliquias vehite cari corporis pondusque et artus temere congestos date. Hippolytus hic est?
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[Theseus] Hierhier, hierher bringt die Überreste und die Last des lieben Körpers, und gebt die Glieder, die ihr zufällig zusammengetragen habt. Ist dies Hippolytus?
– figurieren dabei gewissermaßen als eine körperliche Dokumentation der durch das Schweigen produzierten Gewalt, die nicht nur Hippolytus die Unversehrtheit seines Lebens gekostet hat. Eine Zuweisung der einzelnen Teile zu ihrem Ganzen erscheint nicht mehr möglich. Die Zusammensetzung der Glieder, zu der der Chor den hilflos trauernd über seinen Sohn gebeugten Vater ermuntern will (Pha. 1256-1258) – disiecta, genitor, membra laceri corporis in ordinem dispone et errantes loco restitue partes[.]
Erzeuger, leg die zerstreuten Glieder des zerrissenen Leibes der Ordnung nach hin und bring die durcheinandergeratenen Teile wieder an ihre Stelle!
– und das Scheitern der Versuche, die ursprünglichen Zuordnungen zu rekonstruieren und die Identität des Körpers wiederherzustellen (Pha. 1261; 1267) – [Chorus] quam magna lacrimis pars adhuc nostris abest! [...] quae pars tui sit dubito, sed pars est tui[.]
[Chor] Wie groß ist der Teil, der bis jetzt noch nicht von uns beweint ist! [...] Welcher Teil von dir das ist, ich weiß es nicht, doch ist es ein Teil von dir.
– fassen in der Metapher der Zerstückelung auch den Verlust der Identität ins Bild, den Hippolytus stellvertretend für Theseus502 unwiederbringlich erlitten hat. Theseus, der mit seiner Schuld leben muß, aber, wie seine Klage zeigt (1201-1243), nicht kann, der seinem Sohn in den Tod folgen will (natum sequor, 1240), aber vom Chor ins Leben zurückgerufen wird, um den Sohn beklagen zu können (1244-1246), erkennt sehr wohl, daß er von einer Gewalt getroffen wurde, die seine Identität zerreißt: Er ist, wie er sehr deutlich schon im ersten
502
Vgl. hierzu die Passage, in der Theseus nicht nur mit dem (an und für sich unnötigen) Bekenntnis seiner Schuld (crimen agnosco meum; | ego te peremi, Pha. 1249f.) Phaedra, die sich ja kurz zuvor noch als Schuldige bekannt hatte, aus dem Wirkungsgeflecht ausklammert (1247-1255), sondern neben seiner väterlichen Liebe vor allem das eigene Leid betont.
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Teil seiner Klagerede sagt, nicht nur ein Opfer und ein Täter; sondern auch als Täter das Opfer (s)eines Verbrechens (Pha. 1208-1210): [Theseus] morte facili dignus haud sum qui nova natum nece segregem sparsi per agros quique, dum falsum nefas exsequor vindex severus, incidi in verum scelus.
[Theseus] Ich bin es nicht wert, auf leichte Art zu sterben, ich, der ich meinen Sohn durch einen neuartigen Tod zerstückelt über die Felder verstreut habe und der ich, als strenger Rächer ein erlogenes Verbrechen strafend, in ein echtes Verbrechen geraten bin.
Phaedras Selbstmord, mag er noch so blutig inszeniert werden, ist demnach nur ein Teil dessen, was für die Gewalterfahrung des Zuschauers bestimmend ist. Denn was der Zuschauer sieht, ist nicht nur das, was auf der Bühne physisch zu sehen ist: der Tötungsakt, Phaedras Leiche, die zerstreuten Glieder des Hippolytus. Der Zuschauer sieht auch das Sehen der Bühnenfiguren, mithin deren Verweigerung des Sehens. Phaedra muß sich auf der Bühne umbringen, damit das Nicht-Sehen der Umstehenden, deren Gleichgültigkeit und die Bedeutung, die ihr im Rahmen der Täter-Opfer-Konstellationen zukommt, vom Zuschauer gesehen werden können. Ein hinterszenischer Vollzug des Tötungsakts hätte diese Pointe der Szene zunichte gemacht.503
5.3.2 Indirekte Präsentation physischer Gewalt 5.3.2.1 Hercules Furens Die Darstellung von physischer Gewalt entfaltet nicht erst dann ihre größte Wirkung, wenn sie auf der Bühne zu sehen ist. Vielmehr können gerade indirekte Präsentationen einen weitaus größeren Effekt erzielen. Hierzu gehören all jene Verfahren, in denen das Gewaltgeschehen ganz oder teilweise in den hinterszenischen Raum verlagert wird und statt der visuell erfahrbaren Darstellung Techniken zum Einsatz kommen, die den Zuschauer in besonderer Weise herausfordern. So zeichnet sich die Darstellung des Familienmords im Hercules Furens zwar durch eine fast brutale Knappheit aus – keinem einzigen
503
Die Diskussionen der Aufführungsfrage, die wie bei William Beare: „Plays for Performance and Plays for Recitation: A Roman Contrast“. In: Hermathena 65 (1945), S. 8-19 [zur Diskussion dieser Szene vgl. S. 14], und Zwierlein: Die Rezitationsdramen Senecas [wie Anm. 371], von (szenen-)technischen bzw. moralischen Aspekten ausgehen, unterschlagen die m. E. doch sehr wichtige Differenzierung, die zwischen der physischen Präsentation von Gewalt einerseits und der Gewalt der physischen Präsentation andererseits zu treffen ist. Das eine muß mit dem anderen nicht zwingend einhergehen.
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der Tötungsakte (HF 1002-1007, 1022f., 1024-1026) werden mehr als sechs Verse gewidmet.504 Doch bringt Seneca hier zwei Techniken ins Spiel, die es auf je verschiedene Weise erlauben, die Wirkung, wie sie durch eine visuelle Darstellung erreichbar wäre, noch zu steigern: die verbale Bilderzeugung sowie die durch den dramatischen Aufbau der Ereignisse erzielte Erzeugung von Erwartungsangst: 1) Zum einen wird das teils hinterszenisch, teils auf der Bühne dargestellte Geschehen in einer Szenenreportage durch Amphitryon in einer zwar knappen, aber bilderreichen Sprache kommentiert: die brutalen Aktivitäten des Täters (etwa die Enthauptung der Megara) und deren Folgen (wie die vom zerspritzten Gehirn des ersten Sohnes triefenden Gemächer) werden dem Rezipienten bildhaft vor das innere Auge geführt. 2) Zum anderen wird die Szene durch die ihr vorausgehenden, zunehmend intensiver und bedrohlicher werdenden Halluzinationen des Hercules (HF 976-991a) von langer Hand vorbereitet; die tragische Handlung, die erwartete Ermordung der Familie, ist lange vor ihrer Durchführung ins Blickfeld des Rezipienten geraten. Das dramatische Arrangement hält einige Argumente dafür bereit, daß Seneca die Gewalterfahrung ganz bewußt verbal, durch die Ansprache an die Imaginationskraft erzeugen will.505 Eine sichtbare Präsentation der Morde wäre selbst bei einer Bühnenaufführung zudem kaum durchführbar: Zwar ließe sich im Fall von Megara, die, ehe ihr Mann sie abschlachten wird, ihr Versteck verläßt und auf die Bühne eilt, das blutrünstige Gebaren des Wahnsinnigen gerade noch als ein Teil des Bühnengeschehens denken. Der von Hercules in der Umnachtung fälschlich für ein Kind des Usurpators gehaltene erste Sohn hält sich jedoch gemeinsam mit seiner Mutter in der Burg verborgen, wohin ihm Hercules unverzüglich folgt (vgl. HF 1001f., 1007-1009) – der Mord findet also hinter der Bühne statt. Und der zweite Sohn stirbt vor Schreck, bevor ihn Hercules auch nur anfassen kann. Die beiden Kernverfahren bilden damit die Szenenreportage, durch deren kommentierendes Moment das Geschehen zwar
504
Zu sprachlichen Verknappung, wie sie, ebenfalls im Hercules Furens, im Zusammenhang mit der Ermordung des Usurpators Lycus, eingesetzt wird, vgl. unten, S. 240ff. Anders als in der vorliegenden Szene ist die Tötung des Lycus allerdings ausschließlich in den hinterszenischen Raum verlagert; der sprachlichen Gestaltung und der hiermit verbundenen Ästhetisierung von Gewalt kommt demnach eine andere Funktion zu. 505 Vgl. hierzu Sutton: Seneca on the Stage [wie Anm. 478], S. 46f., sowie Seneca. Hercules Furens. Einleitung, Text, Übers. und Kommentar von Margarethe Billerbeck. Leiden/ Boston 1999, S. 520f. Zum doppelten Verfahren von körperlicher Präsentation und Bilderzeugung vgl. auch schon Lessing: Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind [wie Anm. 477], S. 123 (zum Vergleich zwischen der euripideischen und der senecanischen Darstellung von Gewalt im Hercules Furens): „Einen anderen Kunstgrif [sic] des lateinischen Dichters habe ich bereits angemerkt; die Art nehmlich [sic], wie er die Grausamkeiten des Hercules zugleich zeigt, und auch nicht zeigt. [...]“.
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5 Poetische Verfahren der Ästhetisierung von Gewalt
intensiviert, aber auch reflektiert wird, sowie die Erwartungsangst, die der Zuschauer, da den Bühnenfiguren die hierfür nötigen Informationen noch fehlen, nur als Zuschauer und nur durch die Souveränität als wissender Betrachter entwickeln kann. Insofern zeigt auch die Szene aus dem Hercules Furens, daß zwischen der Erfahrung der Bühnenfiguren und der des Zuschauers zu unterscheiden ist und beide nicht zwingend koinzidieren oder korrelieren müssen. Es ist daher eine hübsche Pointe, daß Hercules’ Opfer nicht nur auf blutige Weise sterben, sondern einer der Söhne, statt durch die mordende Hand des Vaters allein aus Furcht vor dessen feurigem Blick stirbt (pavefactus infans igneo vultu patris | perit ante vulnus, spiritum eripuit timor, 1022f.). Ähnlich wie das grundsätzlich auch für die Gewalterfahrung eines Zuschauers gilt, hat die Erwartungsangst und die ihr verbundene Vorstellungskraft hier mindestens genauso viel aus- und anrichten können wie die direkte Durchführung von physischer Gewalt.
5.3.2.2 Agamemnon Auch die Darstellung von Cassandras Ermordung im Agamemno setzt ganz auf die Bildwerdung des Tötungsaktes in der inneren Vorstellung des Zuschauers. Dabei wird die Bildwerdung jedoch nicht durch die Erzählung generiert, sondern, im Gegenteil, durch eine, fast brutale, Lücke, hier: das abrupte Ende der dramatischen Handlung. Ähnlich wie der Selbstmord Iocastas im Oedipus findet die Ermordung der Cassandra in der Chronologie des Dramas erst ganz am Ende des Stückes statt. Allerdings ist die Position hier noch etwas krasser: Denn dem mörderischen Imperativ, mit dem Clytemestra die zuvor schon angedrohte Tötung zusammenfaßt, folgt nur noch der Fluch der Seherin (Ag. 1012): [Clytemestra] Furiosa, morere [Cassandra] Veniet et vobis furor
[Clytemestra] Wahnsinnige, stirb! [Cassandra] Auch über euch wird Wahnsinn kommen.
Nach diesen Worten ist das Stück zuende. Dabei ist zumindest nicht auszuschließen, daß die Ermordung Cassandras hinterszenisch stattfindet. Die vorausgehende Weisung Clytemestras, die Dienerschar möge Cassandra wegschleppen, „damit“ sie Agamemnon folge (trahite, ut sequatur coniugem ereptum mihi, 1003), und die darauf folgende Replik Cassandras: „Zieht mich nicht, ich werde von selbst vorangehen“ (Ne trahite, vestros ipsa praecedam gradus, 1004) legt jedenfalls nahe, daß die Seherin die Bühne nicht als Leiche verläßt, sondern während des letzten Verses (1012) bereits hinter der Bühne ist, wo sie auf Zuruf von Clytemestra ermordet wird und, mit ihrem abschließenden Fluch, nur noch als Stimme auf der Bühne präsent ist.
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Der physische Gewaltakt spielt sich damit überwiegend in der Imagination des Zuschauers ab, wobei die Stimme Cassandras, die ja in jedem Fall zu hören ist, dem Geschehen eine besondere Präsenz verleiht. Daß Cassandra – ähnlich wie Astyanax und Polyxena in den Troades – der passiven Opferrolle dadurch zu entgehen verspricht, daß sie ihren Häschern zuvorkommen und in Würde vorausgehen möchte (Ag. 1004 und 1010f.: nihil moramur, rapite, quin grates ago: | iam, iam iuvat vixisse post Troiam, iuvat), mag der zu erwartenden Bluttat einen Teil des Schreckens nehmen.506 Gleichzeitig aber tragen ihre Worte dazu bei, daß der Zuschauer auf die bevorstehende Bluttat noch einmal in besonderer Weise vorbereitet und diese ihm in der Imagination besonders präsent wird. Die Schlußszene des Agamemnon ist dabei insofern außergewöhnlich, als sie den Zuschauer am Ende des Stücks mit der Imagination des Grauens alleine läßt, ohne daß die Wirkung dieses inneren Bildes durch eine Reflexion im Drama wieder unterbrochen werden könnte.
5.3.2.3 Thyestes Der physische Gewaltakt an den Kindern des Thyestes stellt innerhalb der hier genannten Gruppe szenischer Präsentationen von körperlicher Gewalt insofern einen Sonderfall dar, als sich die Darstellung der Ermordung an zwei klassische Verfahren der Präsentation hält: den Botenbericht (hier: 641-788), in dem der Vollzug der ʻOpferungʼ beschrieben wird, und die Präsentation der bereits getöteten Opfer nach dem eigentlichen Gewaltakt (1020b-1039).507 Allerdings geht es in der entscheidenden Szene weniger (im Sinne einer Ecce-Szene) um den stellvertretenden Verweis auf eine Tat, die zwar prinzipiell mit dem Auge erfaßbar, aus bühnentechnischen oder anderen Gründen jedoch verhüllt werden soll, sondern umgekehrt, gerade um die Ermöglichung ihres sichtbaren Hervortretens und ihrer Erscheinung. Denn die eigentlichen Teile der Kinder, für deren Mord von Atreus stellvertretend nur die Köpfe auf der Bühne gezeigt werden, befinden sich schon lange im szenischen Raum – allerdings, für alle unsichtbar, im Bauch des Thyestes, der sie soeben verspeist und damit den entscheidenden Anteil der Gewalt an ihnen – und an sich selbst – begangen hat. Die Gewalttat, die mit dem Kindermord verbunden ist, besteht also nicht nur in der Opferung
506
Dieser Aspekt unterscheidet Senecas Darstellung der Morde von der euripideischen Fassung. In Euripides’ Troerinnen wird die „Die Brutalität der Szene [...] noch durch die unschuldige Reinheit des Opfers verstärkt.“ (Seidensticker: „Distanz und Nähe“ [wie Anm. 1], S. 102, Anm. 35). 507 Vgl. hierzu die Ausführungen von Seidensticker: „Distanz und Nähe“ [wie Anm. 1], S. 112-115. Seidensticker faßt diesen Typus der Präsentation im Anschluß an Gerd Kremer: „Die Struktur des Tragödienschlusses“. In: Bauformen der griechischen Tragödie. Hrsg. von Walter Jens. München 1971, S. 117-140, unter das Stichwort der „Ecce-Szene“.
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der Körper, deren Restdokumente der Zuschauer nun zu Gesicht bekommen soll, sondern in dem erzwungenen Kannibalismus eines unwissenden Vaters, mithin der willentlich durch Atreus hergestellten Ahnungslosigkeit, in der Thyestes zum Täter wird. Die Sichtbarmachung der Überreste richtet sich demnach nicht primär an den Zuschauer, sondern an Thyestes, der in einem grausamen Erkenntnisprozeß508 von Atreus über sein Verbrechen ins Bild gesetzt wird und dem dann gewissermaßen auch die physische Betrachtung seines Zustandes ermöglicht werden soll. Indem Thyestes die Köpfe der Kinder betrachtet, betrachtet er nicht nur die sichtbare Bestätigung seines eigenen Verbrechens, sondern auch sich selbst und seine wahre Identität. Für Thyestes ist die in den Köpfen seiner Kinder sich materialisierende Spiegelung, in der er sein wahres Ich, aber ex post auch den gewaltsamen Trug an sich erkennt, ein ungeheuerliches Verbrechen, aus der Perspektive des Zuschauers ist dieser physische Anblick dagegen nicht zwingend mit einer Gewalterfahrung verbunden. Denn die eigentliche Gewalt der Szene geht, wie ich weiter unten zu zeigen versuche, von den doppelzüngigen Worten aus, mit denen Atreus quälend und in schneidender Schärfe seinen Bruder, dem sich die Doppeldeutigkeiten zunächst gar nicht erschließen können, aus der Ahnungslosigkeit, durch die er ihn in der Gewalt hat, herausführt. Daß Thyestes seinen Zustand erkennt, daß er über das Wissen, das ihm bislang vorenthalten war, nun verfügen kann, ist für den Zuschauer insofern auch eine Befreiung.
5.4
Sprachliche Verfahren
Der leiblichen Repräsentation – sei es durch szenische Präsenz, durch leibliche Verweisobjekte in der Szenenreportage oder die Zurschaustellung von körperlichen Überresten – steht ein reichhaltiges Angebot an Verfahren zur Seite, in denen mit der Sprache gearbeitet wird. Die Sprache erweist sich gegenüber der körperlich vermittelten Darstellung dabei in einer doppelten Richtung als überlegen: Indem sie den inneren Blick des Betrachters auf bestimmte Details lenken kann, die sich dem physischen Sehen unter Umständen entziehen würden, kann sie die Nähe zu dem Dargestellten gegenüber einer visuell sichtbaren Präsentation von Handlungen verstärken. Sie kann die Gedanken des Betrachters aber auch aus der Bühnenwirklichkeit herausführen, ihn das Geschehen von außen betrachten lassen und auf diese Weise eine besondere Distanz herstellen. So läßt etwa die Kommentierung, wie sie die Szenenreportage leistet, den Zuschauer die Handlung aus der Außenperspektive sehen. Aber auch dort, wo die Sprache (wie etwa im Botenbericht) dazu dient, die Gewalterfahrung dadurch zu steigern, daß sie in der Erzählung – in jenem Sinne, wie es in dem rhetorischen
508
Sen. Thy. 970ff.; s. dazu unten, S. 266f.
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Konzept der enárgeia gefordert wird – eine besondere Nähe zum Gegenstand herstellt, figuriert sie zugleich als Mittel, um Distanz zu schaffen. Durch die Sprache wird das innere Auge des Hörers zwar gelenkt und an Dinge herangeführt, die dem physischem Auge unter Umständen entgehen würden (oder sollen).509 Zugleich aber drängt sich die Sprache, indem sie erzählt, Bezüge herstellt, Dinge ordnet, zwischen den Rezipienten und den ihm sichtbar gewordenen Gegenstand. Denn die Sprache bleibt natürlich, da sie als eine gesprochene erscheint, als Medium, als ein Mittel des Erzählens, präsent. Jede Ordnung, die sie herstellt, sei es nun eine kausale Verknüpfung zweier Details, die zeitliche Anordnung oder die kommentierende Wertung eines Gegenstandes, zeigt den Abstraktionsprozeß, den der Sprechende leisten muß, um diese Ordnung herzustellen. Die Sprache bleibt also als die Sprache eines Sprechenden präsent: Selbst dann, wenn die Imagination des Erzählten im Hörer die Illusion erzeugen kann, bei dem erzählten Geschehen selbst zugegen zu sein, so sieht dieser doch die sprechende Figur und ist sich bewußt, daß hier etwas erzählt wird. Und selbst dann, wenn es der Sprache gelingt, zwischen den einzelnen Details eines Geschehens eine Beziehung herzustellen und sie in einer Weise miteinander zu vernetzen, die den Hörer verstehen läßt, was dort passiert, oder die vielleicht sogar noch mehr als das, was sichtbar wäre, die Zusammenhänge und Hintergründe des Geschehens begreifbar macht, dann bleibt die Nähe, die dadurch entsteht, so stark sie auch sein mag, eine Nähe zweiter Ordnung; denn die Zeichen, die sie produziert haben, bleiben in ihrer Zeichenhaftigkeit präsent.
5.4.1 Ausgestaltung durch verbale Bilderzeugung Aristoteles hat in seiner Poetik darauf hingewiesen, daß die emotionale Wirkung der Tragödie nicht etwa durch die Inszenierung (ópsis), sondern durch die narrative Syntax (σύστασις τῶν πραγµάτων) erfolgen müsse.510 Ähnliches gilt
509 Vgl. hierzu den von Aleida und Jan Assmann heraugegebenen Band Aufmerksamkeiten. München 2001. 510 Aristot. poet. 14, 1, 1453 b, 1-10: „Nun können Furcht (φοβερόν) und Mitleid (ἐλεεινόν) durch die Inszenierung (ὄψις), sie können aber auch durch die Zusammenfügung der Geschehnisse (σύστασις τῶν πραγµάτων) selbst bedingt sein, was das Bessere ist und den besseren Dichter zeigt. Denn die Handlung muß so zusammengefügt sein, daß jemand, der nur hört und nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den Vorfällen Furcht und Mitleid empfindet. So ergeht es jemandem, der die Geschichte von Ödipus hört. Diese Wirkungen durch die Inszenierung herbeizuführen, liegt eher außerhalb der Kunst und ist eine Frage des Aufwandes (ἀτεχνότερον καὶ χορηγίας δεόµενόν ἐστιν). Und wer gar mit Hilfe der Inszenierung nicht Furcht, sondern nur das Grauenvolle (τὸ τερατῶδες) herbeizuführen sucht, der entfernt sich gänzlich von der Tragödie.“ (Übers. M. Fuhrmann mit Änderungen). Zur ὄψις s. Georgios M. Sifakis:
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für das Verhältnis von leiblicher Präsentation und verbaler Bilderzeugung. Gegenüber der körperlichen Präsentation von Gewaltakten kann die verbale Bilderzeugung511 den imaginativen Erfahrungsraum des Rezipienten mit Blick auf die zeitliche und räumliche Ökonomie der Bildabfolge weiten, einengen und steuern.512 Der klassische Ort für dieses Verfahren ist natürlich der Botenbericht mit seiner dramatischen Funktion, Bühnenzeit und Bühnenraum nach außen hin zu öffnen. Im Botenbericht wird das ʻAußenʼ, sei es nun, literaliter, ein außerhalb des Bühnengeschehens liegender Schauplatz oder, translate, etwas außerhalb des technisch oder moralisch Darstellbaren, in den Bereich des ʻInnenʼ, also auf die Bühne geholt. Die Ausführlichkeit der Verbildlichung ist dabei meist dadurch gerechtfertigt, daß das im Botenbericht geschilderte, außerhalb des Bühnenszenarios angesiedelte Geschehen, also das NichtDarstellbare, für den dramatischen Ablauf zugleich von besonderer Relevanz ist. Der Zuschauer, dem nichts als der Bote (oder eine andere, als Bote figurierende dramatis persona) vor Augen steht, ist darauf angewiesen, daß es in der Rede gelingt, das, was auf der Bühne nicht darstellbar ist, zu übermitteln; die Aufgabe des Botenberichts liegt also zunächst einmal in der repraesentatio rerum absentium. Was sich aus räumlichen oder zeitlichen Gründen der szenischen Verkörperung verweigert, soll auf sprachlichem Wege auf die Bühne gelangen. Das erzählte Geschehen wird im Botenbericht jedoch nicht einfach abgebildet oder präzisiert; anders als in der rhetorischen Rede dient der Botenbericht nicht nur als Medium, um das außerhalb der Bühne Liegende auf der Bühne zu veranschaulichen.513 Er dient auch als ein Mittel zur Erzeugung von Distanz. Die von Quintilian für den Bereich der Rhetorik geltend gemachte Forderung, der Zuhörer möge in der Erzählung die Mittelbarkeit des Zeichenhaften so sehr vergessen, ne ea sibi narrari credet,514 gilt für den Botenbericht gerade nicht. Im Gegenteil: Der Botenbericht erlaubt es, daß der Bote nicht nur das von ihm Gesehene, sondern auch sich selbst als Übermittler von
„The Misunderstanding of opsis in Aristotle’s Poetics“. In: Performance in Greek and Roman Theatre. Hrsg. von George W. M. Harrison et al. Leiden 2013, S. 45-61, und David Konstan: „Popping up Greek Tragedy. The right use of opsis“, im selben Band, S. 63-75. 511 Zu den ʻBildbeschreibungenʼ in Senecas Tragödien vgl. die grundlegenden Arbeiten von Aygon: Pictor in fabula [wie Anm. 488] und Tietze Larson: The role of description in Senecan tragedy [wie Anm. 477]. Zur Szene vgl. Gottfried Mader: „‘Ut pictura poesis’. Sea-bull and Senecan Baroque (Phaedra 1035-49)“. In: Classica et Medievalia 53 (2002), S. 289-300. 512 Der Botenbericht kann Gleichzeitiges in ein sukzessives Zeitverhältnis auflösen, räumlich Getrenntes zusammenführen oder bei bestimmten Details, denen im realen Zeitablauf nur wenig Bedeutung zukäme, verweilen. 513 S. dazu oben, Kap. 3, S. 141. 514 Quint. inst. 8, 3, 62, s. dazu oben, S. 148.
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Informationen, sprich: als einen Sehenden in Szene setzt (vgl. z. B. Pha. 1034: Nuntius: os quassat tremor). Die Distanz zwischen dem berichteten Geschehen und dem Hörer soll also gerade nicht aufgehoben, sondern durch die Figur des Boten aufrechterhalten werden. Der Bote beschreibt sein eigenes Sehen, seine Reaktion auf das Geschehene, und er hat die Möglichkeit, das Ganze zu kommentieren und zu deuten. Die Imagination des Zuschauers wird dadurch in besonderem Maße gefordert. Er wird vom Zuschauer zu einem Zuhörer, und als Zuhörer muß er im Akt der Imagination aktiv werden, um das gesprochene Wort vor seinem inneren Auge zu einem Bild zu formen. Gleichzeitig bleibt er jedoch auch in visueller Hinsicht ein Beobachter des Bühnengeschehens. Er hört nicht nur, was der Bote selbst zu dem berichteten Geschehen zu sagen hat; er sieht auch, wie die adressierten Figuren auf den Bericht reagieren – und tritt dadurch in eine Distanz zu seinem eigenen Erleben. Mit anderen Worten: In der Betrachtung der Rezipienten auf der Bühne erlebt er die Differenz zu seinem eigenen Erleben, mithin sich selbst als Zuschauer. Denn die im Kopf erzeugten Bilder werden in der Erfahrung, die auf der Bühne dargestellt wird, gespiegelt – oder um ein Wort zu benutzen, das in seiner literalen Bedeutung nichts anderes besagt als dies: sie werden re-flektiert. Wir haben also ein komplexes Interaktionsfeld, in dem verschiedene Formen des ʻInnenʼ und des ʻAußenʼ miteinander kommunizieren: a) Das Geschehen außerhalb und im Bereich der Bühne, b) die durch den Bericht direkt erzeugten Imaginationen des Zuschauers und die visuell für ihn sichtbaren Reaktionen der dramatis personae, und c) die Bereiche des Sehens und des Hörens.515 Kurzum: bei der Rezeption des Botenberichts laufen Bild und Wort, Imagination und Reflexion, Nähe und Distanz in besonderem Maße zusammen.
5.4.2 Verknappung Gegenüber den oben beschriebenen Techniken der physischen oder narrativen Ausgestaltung verfolgen die Verfahren der Verknappung, wie sie im Zusammenhang mit den Selbstmorden der Phaedra und Iocasta bereits angesprochen worden sind, ein ganz anderes Ziel: Während die verbale Bilderzeugung das nicht Sichtbare sichtbar macht, dient die Verknappung als ein Instrument der Beschneidung und Verstümmelung jener Gedanken und Handlungen, die bereits offenbar sind oder offenbar sein könnten; bei der Verknappung besteht das Moment der Gewalt in einem destruktiven Gestus, mit der sich eine dramatis persona gegenüber einem Gegenstand oder einer Figur verhält. Insofern ist die
515
Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart 1991, S. 30-61: Kap.: „Der Tragische Diskurs“, hier bes. S. 44-50: „Sprechen und Hören“.
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verbale Bilderzeugung überwiegend eine Vermittlungsstrategie, durch die bereits vorhandene Gewaltpotentiale an die Oberfläche gebracht werden sollen, die Verknappung dagegen ein sprachliches Instrument, um Gewalt auszuüben. Das eine Verfahren richtet sich in erster Linie an das Publikum und ist damit Teil des äußeren Kommunikationssystems, das andere richtet sich bevorzugt an die Figuren des inneren Kommunikationssystems. Daß diese Zuweisung nicht zwingend ist, soll eine Szene aus dem Hercules Furens zeigen, und zwar die Darstellung des Mordes, den der Protagonist an Lycus, dem Usurpator der Stadt Theben, verübt. Als Hercules in Begleitung des Theseus aus der Unterwelt zurückkommt und erfährt, daß seine Stadt und seine Familie, sein Vater Amphitryon, seine Frau Megara und die Kinder, durch die Gewaltherrschaft des Usurpators bedroht sind, dauert es nicht lange, bis er, unterstützt durch Theseus, den Entschluß faßt, tätlich einzugreifen und Lycus zu ermorden. Die Ankündigung des Mordes besticht dabei durch eine fast brutale Kürze und Beiläufigkeit: Der nüchternen Planung werden gerade einmal elf Verse gewidmet (HF 634-644): [Hercules] mactetur hostis, hanc ferat virtus notam fiatque summus hostis Alcidae Lycus. ad hauriendum sanguinem inimicum feror; Theseu, resiste, ne qua vis subita ingruat. me bella poscunt, differ amplexus parens, coniunxque differ. nuntiet Diti Lycus me iam redisse.
[Theseus] Flebilem ex oculis fuga, regina, vultum, tuque nato sospite lacrimas cadentes reprime: si novi Herculem Lycus Creonti debitas poenas dabit lentum est dabit; dat: hoc quoque est lentum: dedit.
[Hercules] Geschlachtet werden soll der Feind. Ein solches Schandmal möge meine Tapferkeit ertragen, und zum letzten Feind soll Lycus dem Alkiden werden. Ich werde dazu getrieben, das feindliche Blut zu vergießen. Theseus, leiste Widerstand, damit nicht plötzliche Gewalt hereinbricht. Mich fordert der Kampf, spar dir die Umarmungen für später auf, Vater, und auch du, meine Gattin. Dem Dis soll Lycus melden, daß ich wieder da bin. [Theseus] Königin, vertreib aus deinem Augen den traurigen Blick, und du [sc. Amphitryon] unterdrücke die fließenden Tränen, nun, da dein Sohn doch unversehrt ist. So wie ich Hercules kenne, wird Lycus dem Kreon die schuldige Strafe zahlen; zu spät: er zahlt sie; auch zu spät: er hat sie schon gezahlt.
Nach dieser siegesgewissen Ankündigung gerät die Gewalttat jedoch völlig in den Hintergrund. Denn auf Amphitryons etwas unvermittelt wirkende Aufforderung hin geht Theseus erst einmal zu einem unverhältnismäßig langen, nahezu ein Siebtel des Gesamttextes umfassenden und überaus detailfreudigen Report aus der Unterwelt über, der sich lediglich von den gelegentlichen Ermutigungen
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und Zwischenfragen des Amphitryon unterbrechen läßt (HF 650-829). Auf die Tötung des Lycus dagegen, deren Vollzug man sich während Theseusʼ abschließender Worte (poenam ... dedit, 644f.) hinterszenisch vorzustellen hat, kommt erst wieder die lapidar knappe Erfolgsmeldung zurück, mit der der erfolgreiche Mörder nach dem Bericht des Theseus auf die Bühne tritt, um seinen Sieg durch ein Opfer zu ehren (HF 895-899): [Hercules] Ultrice dextra fusus adverso Lycus terram cecidit ore; tum quisquis comes fuerat tyranni iacuit et poenae comes. nunc sacra patri victor et superis feram caesisque meritas victimis aras colam.
[Hercules] Von meiner rächenden Rechten hingestreckt, fiel Lycus mit dem Gesicht auf die Erde. Dann erlag, wer immer ein Begleiter des Tyrannen war, auch als Begleiter von dessen Strafe. Als Sieger will ich meinem Vater und den Göttern jetzt das Opfer bringen und die Altäre ehren. Ein Schlachtopfer haben sie verdient.
Nicht einmal der Phantasie des Zuschauers, durch die sich ein konkreter Nachvollzug des Geschehens imaginativ herstellen ließe, lassen die ablenkenden Worte des Theseus und der mit der Kühle einer Aktennotiz erfolgte Mordbericht des Hercules genügend Raum. Daß die Szene gleichwohl einen brutalen Eindruck macht, liegt demnach nicht an einer expliziten Darstellung von physischer Gewalt, sondern gerade umgekehrt, an der knappen Ausgestaltung, mit der sie geradezu weg-geblendet wird. Die Verknappung des Geschehens und die souveräne Gelassenheit, mit der die Protagonisten ihrem Tun begegnen und die Identität des Opfers aus dem Blickfeld verlieren, vermitteln dem Rezipienten den Eindruck, daß der Akt der Tötung als etwas Selbstverständliches gehandhabt wird, das – jedenfalls innerhalb des inneren Kommunikationssystems – keines weiteren Entsetzens bedarf. Die Gewalterfahrung wird damit komplett auf die Rezipientenebene verlagert. Denn anders als auf die dramatis personae, deren nüchterne Einstellung gegenüber ihrem Tun kein eigenes Empfinden erkennen läßt, wirkt die Kürze der Sprache, die emotionale Kälte, mit der der Mord vollzogen wird und der gelassene Übergang zu anderen Themen, auf den Rezipienten brutal – und dies, obwohl die Ankündigung des Mordes an dem Usurpator, der ja die Rechtsordnung gestört hat und in moralischer Hinsicht damit alles andere als eine Identifikationsfigur ist, weniger Erwartungsangst als (wenn überhaupt) Erwartungsfreude erzeugen müßte. Eingebettet zwischen die kühle Ankündigung des Mordes zu Beginn der Szene und die ebenso kühle Erfolgsnotiz an deren Ende, tut auch der Unterweltsbericht des Theseus, ein Bericht von geradezu störender Länge, der inhaltlich und durch die fast quälende Detailfreude von dem gerade noch präsenten Geschehen wegführt, sein übriges. Ähnlich wie die Figur des Oedipus, der in der gleichnamigen Tragödie durch Creos unverhältnismäßig lange
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ekphrastische Erzählung hin- und von der ersehnten Nachricht abgehalten wird,516 ist der Zuschauer, der eben noch auf ein rasantes Tempo eingestellt ist, der Ausführlichkeit des eingeschobenen Berichts nachgerade ausgeliefert. Zwar hat er die entscheidende Information bereits erhalten: Lycus ist tot; zwar intendiert der Botenbericht sehr wohl auch einen inhaltlichen Bezug zum Bühnengeschehen: So wie Creos Schilderung der Unterweltsbefragung (Oed. 530-658) die Düsternis noch einmal unterstreicht, so bringt Theseus’ Unterweltsbericht (HF 658-829) die unbesiegbare Kraft des Hercules noch einmal anschaulich zum Leuchten, und die Unterwelt ist natürlich just der Ort, wo man sich auch Lycus mittlerweile vorzustellen hat. Gleichwohl stellt die ekphrastische Ausdehnung des Unterweltsberichts – inhaltlich: mit ihrer Ignoranz gegenüber dem eigentlichen Bühnengeschehen und dem scheinbar unbeeindruckten Wechsel des Themas, das nun den früheren Taten gilt; formal: mit ihrem überraschenden Tempowechsel, der dem Entsetzen eine wahre Geduldsprobe folgen läßt – eine der Sache unangemessen erscheinende Form der Darstellung dar, durch die die Gewalterfahrung, wie sie sich beim Zuschauer durch den Bericht des Gewaltakts eingestellt hat, abrupt, und beinahe gewaltsam, abgeschnitten wird.517
5.5
Dramatische Verfahren
Auch wenn sich in der besprochenen Szene aus dem Hercules Furens eher von Erwartungsfreude als von Erwartungsangst sprechen läßt: Die Erzeugung von Erwartungangst gehört zu den wichtigsten dramatischen Verfahren, um eine Gewalterfahrung im Rezipienten vorzubereiten. Erwartungsangst wird nicht nur auf Bühnenebene produziert,518 sondern auch im äußeren Kommunikationssystem. Dabei können formale Mittel wie Veränderungen des sprachlichen Rhythmus’ oder der Akustik, aber auch der Hinweis auf die physische Konstitution der auftretenden Personen bzw. auf den Zustand der Natur die Bedrohlichkeit der Situation hervorheben und die Angst steigern: Lautes Getöse, unsichere Zeichen519 oder die körperlichen Manifestationen eines gestörten Äußeren520 zeigen – sofern sie von den Figuren thematisiert oder durch die
516
S. dazu oben, Kap. 2, S. 116. Zum Verhältnis von Sprache und Gewalt s. ausführlicher unten, S. 257ff. 518 S. dazu oben, Kap. 2, S. 114. 519 Vgl. etwa Thyests Beschreibung der räumlichen Erschütterungen und Veränderungen während des Mahls, Thy. 985-1001 (sed quid hoc? [...]). 520 Vgl. die durch Szenenreportage des Chors bzw. Electras vorbereiteten Auftritte von Cassandra bzw. Clytemestra, Ag. 710-719 bzw. 947-952, in denen auf die Veränderungen des körperlichen Zustandes: die plötzliche Blässe, das Schweigen, das Verdrehen der 517
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Inszenierung physisch sichtbar werden – ebenso wie die metrisch bedingte Beschleunigung der Sprache521 sowohl den Bühnenfiguren wie auch den Zuschauern an, daß etwas Furchtbares bevorsteht. Dabei müssen diese Zeichen jedoch von den Bühnenfiguren bzw. vom Zuschauer nicht gleichermaßen gedeutet werden: Mit zwei unterschiedlichen Wahrnehmungen der akustischen Unterstreichung ist etwa bei der Ankündigung des Auftritts des aus der Unterwelt zurückkehrenden Hercules im Hercules Furens zu rechnen. Amphitryons Beschreibung der Zeichen, die den heimkehrenden Helden ankündigen: das plötzliche Beben, der dröhnende Boden, die lauten Schritte, werden auf Bühnenebene zwar als Anlaß der Freude gedeutet (HF 520b-523): [Amphitryon] cur subito labant agitata motu templa? cur mugit solum? infernus imo sonuit e fundo fragor. audimur! est, est sonitus Herculei gradus.
[Amphitryon] Was wanken von plötzlichem Beben erschüttert, die Tempel? Warum dröhnt der Boden? Aus tiefstem Inneren macht sich der Klang von unterirdischem Getöse breit. Wir werden erhört! Er ist da, es ist der laute Schritt des Hercules!
Und nicht nur auf Bühnenebene (für Amphitryon), sondern auch für den Zuschauer wird die Spannung der hiermit produzierten Erwartung dadurch noch erhöht, daß vor dem eigentlichen Auftritt erst einmal ein Chorlied zu hören ist. Anders als die Bühnenfiguren weiß der Zuschauer jedoch, daß Hercules’ Auftritt nicht nur mit einer Befreiung der von Lycus usurpierten Stadt Theben und der Vernichtung des schrecklichen Usurpators, sondern auch mit dem von Iuno als Selbstzerstörung inszenierten Mord an seiner Familie verbunden ist. Der Wirbel, mit dem sich die baldige Erscheinung des Unterweltshelden ankündigt, ist also nicht nur (wie Amphitryon zu wissen glaubt) ein Ausdruck der Kräfte, mit denen Lycus in die Knie gezwungen werden soll, sondern auch jener virtus und Stärke, die Hercules in dem von Iuno initiierten Wahnsinn schon wenig später gegen seine eigene Familie richten wird.
5.5.1 Agamemnon Ohne Getöse, aber dennoch mit Erwartungsangst geht auch der Auftritt Agamemnons (Ag. 782-807) vor sich, der dem Gespräch mit Cassandra voraus-
Augen (Cassandra) bzw. die bluttriefenden Hände (Clytemestra), besonders hingewiesen wird. 521 Dies gilt etwa für die Metrik in der Zauberszene, Med. 740-842, aber auch insbesondere für die Wahnsinnsarie der Cassandra im Agamemnon: Auch hier zeigt sich die Steigerung der Rhythmen: Iambischer Trimeter, katalektischer iambischer Dimeter.
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geht. Agamemnons Auftritt ist der eines Siegers. Mit Lorbeer bekränzt (vgl. die Ankündigung des Chors: victrice lauru cinctus, Ag. 779) und in Begleitung seines Gefolges (vgl. das spätere famuli attolite, 787),522 demonstriert er auf Bühnenebene seine Überlegenheit – eine Überlegenheit, die er auch Cassandra gegenüber durch ein entsprechend väterliches Gebaren hervorhebt: Er bittet seine Dienerschaft darum, die in ihrem Wahnsinn zu Boden gestürzte Seherin aufzuheben und zu erfrischen, versucht, ihr die Angst vor der ungewissen Zukunft zu nehmen und sie mit rationalen Argumenten zu beruhigen (Ag. 786791a): Quid ista vates corpus effusa ac tremens dubia labat cervice? famuli attollite, refovete gelido latice. iam recipit diem marcente visu. Suscita sensus tuos: optatus ille portus aerumnis adest. festus dies est.
Warum taumelt die Seherin da, den Körper hingestreckt und zitternd mit wankendem Kopf? Ihr Diener, hebt sie auf, erfrischt sie mit eiskaltem Naß. Schon sieht sie wieder das Tageslicht, mit mattem Blick. Richtet ihre Sinne auf: Der in unserem Leid ersehnte Hafen ist erreicht. Es ist ein Festtag.
Die Weissagungen Cassandras kann Agamemnon, der von dem Unglück, das ihn bald erwarten wird, noch gar nichts wissen kann, überhaupt nicht verstehen. Auch hier weiß nur der Zuschauer, daß Cassandra recht hat. Nicht nur, weil er den Ausgang der Ereignisse kennt, sondern auch weil ihm bewußt ist, daß Cassandras Weissagungen grundsätzlich von den Betroffenen nicht ernst genommen werden, aber dennoch richtig sind. Wenn Cassandra behauptet, daß der Aufenthaltsort Troja ist (Ag. 793-795), so hat diese (aus Agamemnons Perspektive natürlich topographisch falsche) Aussage für den Zuschauer eine metaphorische Ebene: Agamemnon befindet sich, aus Cassandras Perspektive, noch mitten in der ʻSchlachtʼ, in der die Umstände des Kampfes um Helena ausgetragen werden. Was auf Bühnenebene Ausdruck von Ohnmacht ist (Cassandras Sturz, ihr körperlicher desolater Zustand), ist aus der Perspektive des wissenden Zuschauers ein Zeichen souveräner Erkenntnis; umgekehrt bereitet das triumphale Gebaren Agamemnons nur die Fallhöhe für dessen tiefen Sturz vor. Nicht nur in körperlicher Hinsicht, auch durch die sprachliche Darstellungstechnik werden die doppelten Ebenen, auf denen das Geschehen sich abspielt, für den Zuschauer immer wieder sichtbar: Der scheinbar Macht Ausübende formuliert, wie in der senecanischen Stichomythie häufig zu beobachten, die Gründe für seine eigene Ohnmacht, allerdings ohne sich dessen bewußt zu sein: Daß die Gedanken, mit denen Agamemnon seine Überlegenheit begründet, auf
522
Die famuli sind als nicht identisch mit dem Chor zu denken, vgl. Kugelmeier: Die szenische Vergegenwärtigung des Bühnenspiels [wie Anm. 10], S. 163f.
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einer zweiten Ebene gelesen, die Gründe für seinen Untergang sind,523 ist nur für den Gegenspieler auf der Bühne (hier: sie Seherin Cassandra) sowie für den (das Geschehen ebenfalls überblickenden) Zuschauer erkennbar. Die Erwartungsangst des Zuschauers wird also gerade nicht durch einen physisch sichtbaren Schrecken erzeugt: der Wahnsinn der Cassandra, den das Bühnengeschehen ins Zentrum stellt, irritiert ihn vermutlich nur wenig; die vermeintliche Souveränität des Agamemnon, dessen Verhalten aus der Perspektive des Zuschauers die Bedingungen für seine Ermordung einmal mehr reproduziert, wird jedoch dazu führen, daß die erwartete und immer näher rückende Bluttat seiner Ermordung auch vor dem inneren Auge des Zuschauers zunehmend präsenter wird.
5.5.2 Hercules Furens Auch der wahnsinnige Hercules der gleichnamigen Tragödie erzeugt im Zuschauer schon lange, bevor er als Mordender tätig wird, die Erwartung und die Angst, daß das Geschehen bald eintreten wird. Erzeugt wird diese Erwartungsangst in erster Linie durch zwei Verfahren: durch die im Zuge des Wahnsinns einsetzenden Halluzinationen, in denen der Zuschauer eine Manifestation des von Iuno im Prolog annoncierten Plans erkennen kann, sowie durch den eigentlichen Inhalt dieser Wahnvorstellungen: die Verweigerung der Natur, an ihrer natürlichen Ordnung festzuhalten. In seinem Wahnsinn beginnt Hercules gegenüber seinem Vater damit, die in ihm aufsteigenden Bilder in einer sorgfältigen Darlegung der einzelnen Details zu schildern – eine Schilderung, die auf einer zweiten Ebene an die Adresse des Zuschauers gerichtet ist: So meint er einen Rückzug der Sonne (HF 940-945) beobachten zu können,524 die Verdunkelung des Tages, mit der die Sterne sichtbar werden und zum Angriff rüsten, den glühenden Zorn, in dem sich das Sternbild des Löwen zeigt, in der Manier
523
Das betrifft zum einen sein Sicherheitsgefühl: Agamemnon ist in Mycene angekommen und glaubt sich daher außerhalb des Feindeslands zu bewegen (hic Troia non est, Ag. 795). Tatsächlich hat er sich jedoch an denjenigen Ort begeben, an dem ihm die größte Gefahr droht. Zum anderen betrifft es seinen vermeintlichen Siegerstatus: Agamemnon glaubt, als Sieger grundsätzlich nichts mehr fürchten zu müssen. Cassandra macht zwar sehr deutlich darauf aufmerksam, daß ihn gerade diese Furchtlosigkeit – Furchtlosigkeit nicht im Sinne von Heldentum, sondern von Vertrauen – verwundbar macht (Agamemnon: victor timere quid potest? – Cassandra: quod non timet, 799), er aber ignoriert ihren Gedanken, da er ihn für die Spinnerei einer vom Wahnsinn Geschwächten hält (hanc fida famuli turba, dum excutiat deum | retinete ne quid impotens peccet furor, Ag. 800f.). 524 Der Rückzug der Sonne ist in Senecas Tragödien ein wiederkehrendes Motiv, das insbesondere den Thyestes (z.B. 776-788) begleitet. Als erwarteter Zustand findet es sich auch in der Medea (Med. 29-31).
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des real von ihm bezwungenen Löwen auf das Sternbild des Stiers losgeht und dieses zu zermalmen droht (HF 944b-951a):525 primus en noster labor caeli refulget parte non minima leo iraque totus fervet et morsus parat. iam rapiet aliquod sidus: ingenti minax stat ore et ignes efflat et rutilam iubam cervice iactans quidquid autumnus gravis hiemsque gelido frigida spatio refert uno impetu transiliet et verni petet frangetque tauri colla.
Sieh da, der Löwe, meine erste Arbeit, erstrahlt fast überall am Himmel, glüht voller Zorn und rüstet sich zu Bissen. Bald schon wird er irgendein Gestirn reißen. Drohend, mit riesigem Maul, steht er da, schnaubt Feuer und wird, seine rote Mähne mit dem Nacken schüttelnd, mit einem Satz über alles, was der früchteschwere Herbst und am eisigen Himmelsraum der kalte Winter bringt, hinüber springen und den Nacken des Stieres, der den Frühling wiederbringt, packen und brechen.
Hercules’ ʻBerichtʼ, der nicht eigentlich ein Bericht ist, da er sich nicht auf ein gegebenes außerszenisches Geschehen, sondern eine (ʻautobiographischʼ eingefärbte) Vision bezieht und somit der Phantasmatoskopie zuzurechnen ist,526 gehört damit in die Reihe jener Passagen, die etwas per se Unsichtbares (bzw. in den Bühnenraum nicht Integrierbares) in sprachlich evozierten Bildern auf die Bühne holen. Zugleich interpretiert Hercules das halluzinierte Geschehen am Himmel, indem er es – erst ängstlich, dann übermütig – als ein Zeichen dafür deutet, daß nach Erde/ Meer und Unterwelt nun auch dieser Teil des Kosmos zu bezwingen sei (immune caelum est, dignus Alcide labor, HF 957). Der Zuschauer wird dieser Deutung, auch wenn sie rein formal als Kommentar zu fassen ist, nicht ohne Grauen begegnen. Denn er ist darüber im Bilde, daß sich der perfide Plan, mit dem Iuno Hercules zu Fall bringen wird, auf die Unbesiegbarheit des Helden stützt und sich damit gerade dessen virtus zunutze macht: Die unbesiegbaren Kräfte des Hercules werden sich schließlich gegen diesen selbst richten. Die Erfahrung der von der Natur ausgehenden Gewalt stellt sich für Hercules als dramatis persona also völlig anders dar als für den Zuschauer. Während der Zuschauer die Differenz zwischen der Selbsteinschätzung des Protagonisten und der eigentlichen Bedeutung des Geschehens, dem Ineinandergreifen von natürlicher Bedrohung und tatsächlicher Gefahr von Anfang an im Blick hat, meint Hercules in der Steigerung der Widerstände den Appell an eben
525 S. hierzu Wolf H. Friedrich: „Die Raserei des Hercules. Die makrokosmischen Phantasien des rasenden Hercules“. In: Senecas Tragödien. Hrsg. von Eckard Lefèvre. Darmstadt 1972, S. 131-148 (zuerst: Friedrich: Vorbild und Neugestaltung. Sechs Kapitel zur Geschichte der Tragödie. Göttingen 1967, S. 96-111). 526 Vgl. dazu oben, S. 214.
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die virtus erkennen zu dürfen, die – was er, anders als der Zuschauer, nicht weiß – seinen Untergang herbeiführen wird. Herculesʼ fälschlicher Eindruck, von den Göttern freundlich aufgenommen zu werden, weicht zwar der Erkenntnis, daß ihm die Pforte zum Himmel versperrt ist, seine Reaktion darauf äußert sich jedoch in einer übersteigerten Angriffslust, die sich darin ausdrückt, daß er Saturn befreien, die Titanen in den Krieg gegen die Götter führen und auf den übereinander getürmten Bergen Pelion, Ossa und Olymp den Himmel erstürmen will (HF 965-973). In Hercules’ Reaktion realisiert sich also alles, was sich Iuno im Prolog gewünscht hat. Die Differenz zwischen dem Zuschauerwissen bzw. der Erfahrung des Rezipienten einerseits und der Erfahrungswelt, in der sich Hercules befindet, andererseits wird schließlich auch formal unterstützt. Als Hercules glaubt, eine Umwälzung der Natur beobachten zu können, durch die ihm auch die Bewohner der Unterwelt zu Augen kommen – darunter die vermeintlichen Nachkommen des von ihm getöteten Lycus (987-991) –, werden beide Ebenen auf der Bühne zeitgleich sichtbar: Denn anders als es das Wahngesicht Hercules glauben machen will, handelt es sich bei dem „Rest der Brut“ (ceteram prolem, 995) keineswegs um die Nachfahren des Lycus, sondern um Hercules’ eigene Kinder – eine Tatsache, die auch der Kommentar des Amphitryon in einer Mischung aus Anrede und Regieanweisung explizit thematisieren wird (HF 1002b-1009): [Amphitryon] En blandas manus ad genua tendens voce miseranda rogat. scelus nefandum, triste et aspectu horridum: dextra precantem rapuit et circa furens bis ter rotatum misit; ast illi caput sonuit, cerebro tecta disperso madent. – at misera, parvum protegens gnatum sinu, Megara furenti similis e latebris fugit.
[Amphitryon] Sieh, die Hände streckt er schmeichelnd zu deinen Knien aus und fleht mit mitleiderheischender Stimme. Gottloses Verbrechen, traurig und entsetzlich anzusehen. Mit der Rechten hat er den Flehenden ergriffen und ihn, der Wahnsinnige, zwei-, drei Mal im Kreis herumgeschleudert. Jenem aber dröhnte der Kopf, das Haus trieft von dem zerspritzten Gehirn. – Aber die arme Megara, ihren kleinen Sohn mit dem Gewandbausch schützend, flieht einer Rasenden gleich aus ihrem Versteck.
Amphitryons zunächst noch an den bereits stark halluzierenden, also nicht mehr ansprechbaren Hercules, dann zunehmend an den Zuschauer gerichtete Worte527 527 HF 973b-975: Infandos procul | averte sensus; pectoris sani parum | magni tamen compesce dementem impetum; 991b-995b: Quo se caecus impegit furor? | vastum coactis flexit arcum cornibus | pharetramque solvit, stridet emissa impetu | harundo – medio spiculum collo fugit | vulnere relicto.
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haben dabei eine doppelte Funktion: Sie verstärken den Eindruck, daß Hercules unansprechbar ist, daß er sich in einer Wahnwelt528 befindet, die völlig unabhängig von der Welt ist, aus der heraus Amphitryon auf ihn zu wirken versucht − sie markieren also die doppelte Welt, die auf der Bühne dargestellt wird. Und reflektieren damit zugleich in einem weiteren Sinne auf die Differenz zwischen Bühnenwirklichkeit und realer Welt, mithin die imaginäre Wand529 zwischen Bühnen- und Zuschauerraum. Ähnlich wie Amphitryon die Wahnwelt des Hercules zwar beobachten und kommentieren kann, auf das Geschehen aber keinen Einfluß hat, kann auch der Zuschauer das auf der Bühne sichtbare Geschehen zwar sehen und verstehen; aber er ist eben doch kein Teil der Bühnenwirklichkeit und kann sie daher auch nicht verändern.530 Die Konzeption der Erwartungsangst, wie sie durch die Gestaltung der Halluzinationsszene im Hercules Furens erzeugt werden soll, unterscheidet sich dabei von jener Szene der Troades, in der Andromacha ihren Sohn Astyanax vor den Griechen verstecken muß. Andromacha, die durch ein Traumgesicht gewarnt worden ist, weiß, welches Schicksal ihr und ihrem Sohn Astyanax bevorsteht. Auch Astyanax selbst weiß, warum er sich verstecken muß, und wird von seiner Mutter darüber ins Bild gesetzt, daß er aus diesem Versteck unter Umständen nie mehr lebend herauskommen wird (vgl. Tro. 498-512). Beide sind sich über die bevorstehende Bedrohung im Klaren. Als Astyanax vor den Augen der Zuschauer die Bühne verläßt, um sich in Hectors Grabhügel zu verstecken,531 erzeugt dies im Zuschauer daher zwar Erwartungsangst, nicht aber den hilflosen Schrecken, daß die beteiligten dramatis personae nichtsahnend in ihr Schicksal rennen, weil sie das Ausmaß ihrer Situation nicht kennen. Das Wissen der dramatis personae deckt sich hier mit dem Wissen des Zuschauers.
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Vgl. auch Hercules’ Imagination der aufgelösten Grenzen von Raum und Zeit (Hercules wähnt sich in Mycene, HF 996-1002, also bei Eurystheus). 529 Von dem auf Diderot zurückgehenden Begriff der zwischen Zuschauer- und Bühnenraum imaginär gezogenen ‘Vierten Wand’, die den Bühnenraum zu einem geschlossenen Kommunikationsraum macht (Denis Diderot: Œuvres esthétiques [wie Anm. 437], S. 231: „Imaginez au bord du théatre un grand mur qui vous sépare du parterre. Jouez comme si la toile ne se levait pas.“), kann hier natürlich noch nicht gesprochen werden; funktional scheint die oben beschriebene Technik aber genau auf eine solche ‘Wand’ vorauszuweisen. 530 S. dazu unten, S. 266. 531 Astyanax verläßt die Bühne kurz, bevor Andromacha ihre Rede an ihn vollendet hat – vermutlich während 509-510a (s. oben, Anm. 244). Darauf scheint jedenfalls der Kommentar des Senex hinzuweisen (claustra commissum tegunt, 512b).
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5.5.3 Phaedra Ein der Erzeugung von Erwartungsangst recht ähnliches, allerdings komplexeres Verfahren findet sich in jener Szene der Phaedra, in der sich die beiden Protagonisten, Phaedra und Hippolytus, zum ersten Mal begegnen (Pha. 589735).532 Nach einer längeren Phase der doppelsinnigen Anspielungen und Andeutungen533 hat die unglücklich Liebende soeben gestanden, was es mit ihrer Krankheit auf sich hat.534 Das Entsetzen des Hippolytus kennt kaum noch Grenzen. Er erfleht die Verdunkelung des Himmels, den Rückzug der Sonne, den Brand der Erde. Doch seine Bitte an die Götter, dem Frevel durch entsprechende Eingriffe in den Kosmos angemessen zu begegnen, verhallt im Nichts (671-681). Der Himmel bleibt klar, die Sonne scheint, kein Brand ist weit und breit zu sehen. Die kosmische Gleichgültigkeit, das Ausbleiben all jener Strafen, von denen der junge Mann glaubt, rechtmäßig getroffen werden zu müssen (sum nocens, merui mori: | placui novercae, Pha. 683b-684a), führen ihn schließlich zu einer ungewöhnlichen Wende in der Perspektivierung des Geschehens: Nicht er ist schuld an dem Verbrechen. Nicht seine Ähnlichkeit mit dem seinerzeit jungen Theseus535 ist Ursache für die verbrecherischen Emotionen Phaedras, sondern die in Hippolytusʼ Aufruf o scelere vincens omne femineum genus (Pha. 687) angesprochene geschlechtsspezifische Disposition, die seiner Stiefmutter als Frau zwangsläufig zukommt.536 Und eine zweite Disposition kommt noch hinzu: Phaedra ist nicht nur eine Frau, sie ist auch die Tochter der Pasiphae, jener in sexuell perverser Zuneigung einem Stier verfallenen Gattin des Minos, deren Frucht, den Stiermenschen Minotaurus, sein Vater Theseus einst getötet hatte. Sie ist damit gewissermaßen genetisch
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An diese Szene schließt sich die bereits oben, Kap. 2, S. 120, beschriebene Passage an. Picone: „La scena doppia“ [wie Anm. 147], spricht von einer durch die Polysemie der Worte entstehenden „Verdoppelung der Bühne“. 534 Zum Liebesgeständnis s. Marc van der Poel: „Phaedra’s declaration of love to Hippolytus (Seneca, Phaedra 589-719)“. In: Land of dreams. Greek and Latin studies in honour of A. H. M. Kessels. Hrsg. von André Lardinois/ Marc van der Poel/ Vincent Hunink. Leiden 2006, S. 160-174. 535 Vgl. Pha. 646-671a: Phaedra versucht, Hippolytus mit dem Hinweis auf dessen Ähnlichkeit mit dem jungen Theseus zaghaft auf die Wahrheit vorzubereiten: Thesei vultus amo | illos priores, quos tulit quondam puer [... 658a] est genitor in te totus [...]. 536 Vgl. auch das im Gespräch mit der Amme angeführte Argument, Med. 559-564: Sed dux malorum femina: haec scelerum artifex | obsedit animos, huius incestae stupris | fumant tot urbes, bella tot gentes gerunt | et versa ab imo regna tot populos premunt. | sileantur aliae: sola coniunx Aegei, | Medea, reddet feminas dirum genus (s. dazu oben, Kap. 2, S. 73). Allerdings fällt diesem Argument bei weitem nicht das Gewicht zu, das ihm die euripideische Fassung des Mythos beimißt. Von der Haßrede seines euripideischen Vorgängers ist Senecas Hippolytus weit entfernt. 533
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vorbelastet (ille te venter tulit, 693b).537 Mit Hippolytus’ Interpretation der Ursachen für Phaedras perverse Liebe ist der Konflikt nunmehr ganz auf menschlicher Ebene angesiedelt. Nicht die Götter oder ein sonstiges ,Äußeres‘ sind für das Geschehen verantwortlich, sondern – in einem doppelten Sinne – das Geschlecht der Phaedra. Insofern ist es nur konsequent, daß Hippolytus im Folgenden versuchen wird, den Konflikt auch auf einer menschlichen Ebene zu lösen. Nachdem die Götter als Instanz der Rache versagt haben, ist es an ihm, das Übel aus der Welt zu schaffen und auf diese Weise die natürliche Ordnung wiederherzustellen. Im Zusammenhang mit seiner Darstellung der sich anschließenden Handlung arbeitet Seneca mit der Erzeugung von Erwartungsangst einerseits und dem Wissen des Rezipienten andererseits. Die Situation spitzt sich zu, weil Phaedra in Verkennung der spezifischen Eigenarten ihres Gegenübers erneut dazu ausholt, ihrer Liebe Ausdruck zu verleihen. Ungeachtet der für Hippolytus charakteristischen Gefühlsdistanz überfällt sie ihn mit dem Bekenntnis, ihm, wohin auch immer, folgen zu wollen. Mit ihrem Ansinnen, sein keusches Leben als Jäger teilen zu wollen,538 schafft sie eine
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Die genetische Erklärung findet sich auch andernorts im Stück. Daß Phaedra die Bedingungen ihres genus nicht überwinden kann (fatale miserae matris agnosco malum, Pha. 113; nulla Minois levi | defuncta amore est, 127f.; prodigia totiens orbis insueta audiet, | natura totiens legibus cedet suis, | quotiens amabit Cressa?, Pha. 175-177, vgl. auch die ähnliche Argumentation im Zusammenhang mit der Lebensweise des Hippolytus: conubia vitat: genus Amazonium scias, 232) und daß selbst Theseus sie aus dieser Macht nicht wird befreien können (121-123), weiß auch Phaedra selbst. Die letzte Ursache des genetischen Unheils bleibt allerdings unbestimmt, vgl. Pha. 115-117 über die Mutter Pasiphae und deren sodomistische Liebe: genetrix, tui me miseret? infando malo | correpta pecoris efferum saevi ducem | audax amasti. Am ausführlichsten greift Theseus im Zusammenhang mit dem vermeintlichen Verbrechen des Hippolytus auf diesen Erklärungsansatz zurück, vgl. Pha. 905-929. Zur Rolle des Erbfaktors in der Rekonstruktion der Ursachen nicht nur für die perverse Liebe Phaedras (durch Phaedra bzw. Hippolytus), sondern auch für das Verhalten des Hippolytus (durch Phaedra bzw. Theseus) vgl. Peter J. Davies: „Vindicat omnes natura sibi: A reading of Seneca’s Phaedra“. In: Seneca tragicus. Hrsg. von Anthony J. Boyle. Victoria 1983 (= Ramus. Critical Studies in Greek and Roman Literature, Bd. 12.1-2), S. 114-127, hier: 117-120, mit Zusammenstellung der einschlägigen Passagen. Anders Boyle: Roman Tragedy [wie Anm. 446], S. 197-200, der diesen Aspekt (S. 200) in eine Reihe von Analogien zur Vergangenheit (hier das bei Phaedra sich wiederholende Schicksal der Pasiphae) stellt, wie sie auch in Ag., Thy., Med., Tro. zu finden sind. 538 Das Paradox, daß Phaedra in ihrer sexuellen Leidenschaft sogar bereit ist, in sexueller Askese zu leben, hatte sich schon in der domina-nutrix-Szene angedeutet (Pha. 387-403); dort weigert sich Phaedra, Schmuck zu tragen (Removete, famulae, purpura atque auro inlitas | vestes [...], Pha. 387-388a); stattdessen will sie aussehen wie eine Amazone und in die Wälder gehen (laeva se pharetrae dabit, | hastile vibret dextra Thessalicum manus [...] | talis in silvas ferar, Pha. 396b-397; 403b).
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Nähe zu Hippolytus, die ihm ebenso unerträglich ist wie der Gestus, mit dem sie sich ihm, seine Knie umschlingend, unterwirft. Phaedras paradoxe Hoffnung, ihre erotische Sehnsucht nach dem Geliebten könne durch eben jene asketische Lebensweise gestillt werden, die sich gegen die Erfüllung ihrer Liebe gestellt hatte, zeugt von ihrem Willen zur Selbstaufgabe, und es erscheint daher nur konsequent, daß sich Hippolytus, der dies als eine Überschreitung aller Grenzen, ja als eine gewaltsame Verunreinigung seiner Lebenswelt empfinden muß, um eine Wiederherstellung eben dieser Grenzen bemühen wird. Wie wir den Äußerungen des Hippolytus entnehmen können, begegnet er den Zudringlichkeiten seiner Stiefmutter, indem er sein Schwert gegen sie richtet, sie am Schopf packt und ihren Kopf gewaltsam nach hinten biegt (Pha. 704-708a): Procul impudicos corpore a casto amove tactus – quid hoc est? etiam in amplexus ruit? stringatur ensis, merita supplicia exigat. en impudicum crine contorto caput laeva reflexi[.]
Halte deine anzüglichen Berührungen fern von meinem reinen Körper – was ist denn das? Sie fällt mir sogar um den Hals? Gezückt werde das Schwert, es vollstrecke die verdienten Strafen. Hier, das Haar hab ich am Schopf gepackt und den schamlosen Kopf mit der linken Hand nach hinten gebogen!
In konsequenter Fortführung von Phaedras Bitte bietet Hippolytus der Göttin Artemis, jener Verkörperung von Jägertum und Keuschheit, das zu vergießende Blut an (Pha. 708b-709): iustior numquam focis datus tuis est sanguis, arquitenens dea.
Niemals, bogenhaltenden Göttin, ist deinen Altären gerechteres Blut gespendet worden.
Kurzum: Hippolytus kündigt an, seine Stiefmutter in einem rituellen Akt539 zu opfern. Die Szene ist brutal. Doch die Erwartungsangst des Rezipienten, wiewohl mit ihr gespielt wird, dürfte sich gleichwohl in Grenzen halten: 1. Aufgrund der ihm bekannten Bearbeitungen des Mythos ist davon auszugehen, daß Phaedra nicht durch Hippolytus, sondern durch Selbstmord sterben wird. 2. Phaedra selbst hatte bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu verstehen gegeben, daß sie als einzige Alternative zu der Erfüllung ihrer Liebe den eigenen Tod sieht (finem hic dolori faciet aut vitae dies, Pha. 670). Auch in der nun
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Zu den Widersprüchen zwischen der versuchten rituellen Tötung und Hippolytus’ andernorts vertretenem Lebensentwurf als Jäger, mithin zwischen seinen „zivilen“ und „primitiven“ Lebens- und Handlungsformen, vgl. Critelli: „L’Arcadia impossibile“ [wie Anm. 152], S. 73f.
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folgenden Rede macht sie deutlich, daß ihr nichts lieber sei als zu sterben (Pha. 710-712):540 Hippolyte, nunc me compotem voti facis; sanas furentem. maius hoc voto meo est, salvo ut pudore manibus immoriar tuis.
Hippolytos, jetzt erfüllst du meinen Wunsch; du heilst die Wahnsinnige. Dies ist mehr als mein Wunsch: daß ich nämlich, ohne Ehrverlust durch deine Hände sterbe.
3. Gerade durch die Bekräftigung ihres Todeswunsches unterläuft Phaedra das gewaltsame Vorhaben ihres Gegenübers.541 Hippolytus, der sich zu seiner Stiefmutter in ein Verhältnis der Distanz stellen möchte, würde mit der Erfüllung ihres Wunsches die von ihm erstrebte Distanz wieder durchbrechen. Und tatsächlich: Als sie ihn zum Komplizen ihres Anliegens machen will, zieht er sich mit den Worten zurück, daß ihm unter dieser Voraussetzung an ihrem Tod nicht mehr gelegen sei: Abscede, vive, ne quid exores, et hic | contactus ensis deserat castum latus (713f.). Die Strafe, mit der Hippolytus Phaedras Verbrechen ahndet, ist das auch andernorts – etwa von Oedipus in den Phoenissae – als Strafe empfundene Leben, also das krasse Gegenteil von jenen Strafen, deren Grausamkeit mit der Verletzung der physischen Integrität einhergeht.542 4. Im Hauptteil seiner Antwort (713-718) betont Hippolytus die Verunreinigung, die sein Schwert durch die Berührung mit der unkeuschen Stiefmutter erfahren habe. Die Frage, auf die sich all sein Denken konzentriert, gilt damit dem Problem, wie er sich von dieser Beschmutzung wieder reinwaschen kann. Daß es zu einer körperlichen Berührung kommen wird, wie sie ein tätlicher Angriff auf die physische Existenz Phaedras voraussetzen müßte, ist damit so gut wie ausgeschlossen. 5. Wie sich spätestens aus den ausschließlich der Phaedra zugedachten Worten der Amme (719ff.) und zudem rückwirkend aus den Anfangsversen des folgenden Chorlieds (Fugit insanae similis procellae | [...], Pha. 736-740) erschließen läßt, verläßt Hippolytus nach diesen Worten die Bühne. Aber nicht nur die räumlich-physische Trennung der beiden Protagonisten, auch 6. die ersten Worte der Amme, 719ff., tun bereits ihr Übriges: Denn schon mit der zweiten Vershälfte ihrer Rede wird deutlich, daß sie alles daran setzen wird, die Täter-Opfer-Relation in ihr Gegenteil zu verkehren: anime, quid segnis stupes? | regeramus ipsi crimen atque ultro impiam | Venerem arguamus: scelere velandum est scelus (719b-721).543 In dem Plan der Amme ist Hippolytus
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Ähnlich reagiert auch Electra im Agamemnon, als ihr Clytemestra mit den Tod droht (dummodo hac moriar manu. recedo ab aris. sive te iugulo iuvat | mersisse ferrum, praebeo iugulum tibi, 971-973). 541 Vgl. zu dieser Form, Gewalt zu unterlaufen, oben, Anm. 237. 542 Vgl. dazu oben, Kap. 2, S. 96ff. 543 Zur gesamten Szene ausführlich oben, Kap. 2, S. 119ff.
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als der vermeintlich Schuldige vorgesehen. Er soll entgegen dem wahren Tatbestand des sexuellen Übergriffs auf seine Stiefmutter bezichtigt werden. Bereits 725ff., nur rund 20 Verse, nachdem Hippolytus zu seinem Schwert gegriffen hat, setzt die Amme mit ihrem Aufruf an die Athenerinnen ihren Plan in die Tat um. Alles in allem hat der Rezipient kaum die Möglichkeit, sich vor dem Schwert des Hippolytus und der angedrohten körperlichen Gewalt gegen Phaedra ernsthaft zu fürchten. Vielmehr versetzen ihn die genannten Umstände in die Lage, das Geschehen zu reflektieren und den potentiellen Gewaltakt mit jener Distanz wahrzunehmen, derer es bedarf, um das Pathos der Szene in vollem Umfang genießen zu können. Der Begegnung zwischen Phaedra und Hippolytus folgt im dritten Akt der Phaedra (835ff.) der Auftritt des aus der Unterwelt heimgekehrten Theseus. Nach einem kurzen und von Resignation geprägten Bericht über seinen Aufenthalt im Hades wird die Aufmerksamkeit des Theseus unvermittelt auf ein nicht näher bestimmtes Klagen gelenkt (Pha. 850-853): Quis fremitus aures flebilis pepulit meas? expromat aliquis. luctus et lacrimae et dolor, in limine ipso maesta lamentatio? hospitia digna prorsus inferno hospite.
Was für ein Klagen und Stöhnen hören meine Ohren? Sag mir jemand, was da los ist. Trauer, Tränen, Schmerz, schon auf der Schwelle trauriges Gejammere? Eine gastliche Aufnahme, würdig eines Gastes, der gerade aus der Unterwelt zurückkommt.
Theseus, erschöpft und ohne jede Ahnung, was in seinem Haus inzwischen vorgefallen ist, fragt nach der Ursache der Klagerufe, die er, soeben aus der Unterwelt zurückgekehrt, zunächst mit seinem eigenen Auftreten in Verbindung bringt (853). Die Amme wartet mit einer Erklärung auf – und bringt damit die Lüge auf den Tisch: Phaedra sei zum Selbstmord entschlossen, und nichts, auch die Tränen der Amme nicht, könne sie mehr davon abhalten. Ähnlich wie in der Mordszene im Hercules Furens wird auch hier das emotionale Potential, das die Szene bereithält, durch die nüchterne Perspektive einer auf der Bühne befindlichen dramatis persona konterkariert. Durch die an ein Gerichtsverfahren mahnende Reaktion des Theseus und dessen kühle Fragetechnik wird der Szene jedes Pathos entzogen. Quae causa leti?, fragt er mit der Sachlichkeit des Advokaten, reduce cur moritur viro? (Pha. 856) – „Was ist der Grund für den Tod? Warum stirbt sie, wenn der Gatte wiederkommt?“ Die besonnene Klarheit, hinter der Theseus seine möglichen Emotionen verschwinden läßt, kann von der Amme natürlich nicht erwidert werden. Sie hat etwas zu verbergen, und sie verbirgt es, indem sie eine Deutung vorlegt, mit der sie die Uneindeutigkeit des Geschehens für ihre eigenen Zwecke ausnutzen kann: Die Phaedra, die die Amme dem heimkehrenden Gatten mit ihren Worten präsentiert, ist eine ebenso verletzte wie integre Person, eine Frau, die ihr Geheimnis lieber mit ins Grab nimmt als sich zur Denunziantin zu machen, und
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sie ist eine Frau, die lieber den eigenen Tod auf sich nimmt als dem Ehemann zur Schmach zu gereichen. Das Geheimnis, das die Amme zur Grundlage ihres Komplotts gegen Hippolytus machen wird, kommt auf diesem Wege zur Sprache, aber die von der Amme vorgetragenen Andeutungen (Pha. 860f.) – Haut pandit ulli; maesta secretum occulit statuitque secum ferre quo moritur malum.
Niemandem verrät sie es; traurig versteckt sie ihr Geheimnis und hat beschlossen, das Leiden, durch das sie stirbt, mit ins Grab zu nehmen.
– können Theseus nicht ernsthaft Anlaß geben, dahinter etwas zu vermuten, was die Ehre seiner Frau in Frage stellen könnte, auch wenn er durchaus ahnt, daß Phaedras Verhalten in irgendeiner Weise auch mit ihm selbst zu tun haben könnte (Pha. 864-865): O socia thalami, sicine adventum viri et expetiti coniugis vultum excipis?
Gefährtin meines Lagers, so reagierst du auf die Ankunft deines Mannes und den Anblick des ersehnten Gatten?
Der sich anschließende Wortwechsel zwischen Theseus und Phaedra – die Türen zum Schlafzimmer, in dem sich diese befindet, sind zwischenzeitlich zur Bühne hin geöffnet worden – evoziert beim Rezipienten denn auch eine doppelbödige Erfahrung. Theseus, ebenso besorgt wie irritiert über das Verhalten seiner Gattin – sein Verdacht, ihr Todeswille könne mit seiner Rückkehr zusammenhängen, konnte noch nicht ausgeräumt werden –, präsentiert sich in der Rolle des einfühlsamen Gatten; er beschwört sie sanft, ihn in das Geheimnis einzuweihen, bekräftigt seine Verschwiegenheit und beteuert, wie seine jeweiligen Worte in der Stichomythie mit Phaedra zeigen, das Leid, das sie mit ihrem Tod über ihn bringen würde (Pha. 871b; 873; 875; 880b): Causa quae cogit mori? [...] Nemo istud alius, me quidem excepto, audiet. [...] Effare: fido pectore arcana occulam. [...] lacrimae nonne te nostrae movent?
Welcher Grund zwingt dich zu sterben? [...] Niemand anderes, außer mir, wird das da hören. [...] Sprichs aus: Ich werde das Geheimnis in meinem treuen Herzen bergen. [...] Bewegen dich denn meine Tränen nicht?
Dennoch geht Theseus beim Rezipienten mit seiner rührseligen Besorgnis ins Leere. Denn der Rezipient weiß natürlich, daß das Mitleid, das er der Figur des Theseus entgegenbringt, einem Unwissenden und in seiner Fürsorge Betrogenen
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gelten müßte. Auch Phaedras unbedingter Wille, sich zu opfern, die Tragik ihrer Worte – das mit dem Tod verbundene Ansinnen würde mit seiner Benennung zunichte gemacht (Si causa leti dicitur, fructus perit, Pha. 872) – und ihr gegenüber Theseus konsequent markierter Stoizismus, wie sie das Mitgefühl des Gatten, intradiegetisch, allesamt befördern, haben bei dem Rezipienten eine andere Wirkung als innerhalb des Bühnengeschehens. Die gekonnte Doppelzüngigkeit, mit der es ihr gelingt, nicht eine einzige falsche Aussage zu machen – ihr Todeswille ist ebenso wahr wie das soeben erwähnte Paradox, mit dem sie ihr Schweigen begründet; selbst das pudica (874) ist, körperlich besehen, noch nicht falsch –, entlockt dem Rezipienten neben moralischem Ekel eine gewisse Bewunderung für die Handhabung der Sprache, mithin die intellektuelle Freude an der eigenen Souveränität, die Ambiguität der Worte zu erfassen – und genießen zu dürfen. So wird das Pathos dieser herzzerreißenden Szene, in der sich der Unterweltsheld und Kraftkerl Theseus als ein einfühlsamer Gesprächspartner und liebender Gatte erweist und an dem heldenhaften Stoizismus seiner Gattin544 doch zu scheitern droht, durch die beständige Reflexion des Geschehens gebrochen. Das Mitleid für Theseus ist ebenso, wie das für die der Phaedra entgegengebrachten Emotionen gilt, das Ergebnis eines Rezeptionsverhaltens, wie es im reflexiven Umgang mit den Bedingungen der Situation und durch das überlegene Wissen des Rezipienten gebildet und gefestigt wurde und durch das auch das Bewußtsein über die Differenzen zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem stets wachgehalten wird. Es ist daher nicht die Auflösung einer vorgängigen Erwartungsangst, sondern vielmehr ein Erstaunen über die unerwartete Wendung, das sich bei dem Rezipienten einstellen dürfte, wenn Theseus – scheinbar unvermittelt – mit der Anwendung von Folter droht und die Konstellation der Figuren damit völlig verschiebt. Der liebevolle Gestus, den er in der vorausgegangenen Szene noch bewiesen hatte, erweist sich auch auf Bühnenebene als Trug, als ein strategischer Exkurs bei dem Versuch, den Grund des Geheimnisses aus Phaedra herauszupressen. Auch das eben noch feste Bild einer strategisch überlegenen Phaedra bricht in sich zusammen. Denn die Schläge und Ketten, die Theseus androht,545 sollen nicht etwa ihr, sondern ihrer Amme gelten (Pha. 882-885).546 Von Theseus unter Druck gesetzt, bei fortgeführtem Schweigen für die körperliche Gewalt an ihrer Amme verantwortlich zu sein und damit mittelbar an der aktiven
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Daß Phaedra der sexuellen Entehrung den eigenen Tod folgen lassen will, gemahnt zugleich an das Verhalten der Lucretia, vgl. dazu Boyle: Roman Tragedy [wie Anm. 362], S. 204. 545 Zur Androhung von Gewalt, um das Schweigen des Gegenübers zu brechen, vgl. Oed. 518f. Hier ist es Oedipus, der Creo, nachdem dieser die Schatten der Unterwelt über den Grund für die thebanische Pest befragt hat, das Ergebnis der Befragung jedoch verweigert, durch die Androhung imperialer Gewalt zum Sprechen bringen will. 546 Zum Gewaltdiskurs in dieser Szene vgl. ausführlich oben, Kap. 2, S. 113f.
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Gewaltausübung teilzuhaben, mit anderen Worten: unter der Last der gegen sie ausgeübten psychischen Gewalt, läßt sich Phaedra schließlich dazu hinzureißen zu berichten (Ipsa iam fabor, mane, 885b) – wenn auch nicht die Wahrheit, so doch wenigstens die Geschichte, die der Plan der Amme für Theseus’ Ohren vorgesehen hat: Innerhalb von kürzester Zeit (891-902) präsentiert sie unter (Mein-)Eid (vgl. 888-890) den vemeintlichen Hergang der Ereignisse, anfangs nur andeutungsweise mit ihrem namentlich nicht konkretisierten Vorwurf, sexuell belästigt worden zu sein (temptata precibus restiti, 891a), dann durch Vorlage des von Theseus schnell als Schwert des Hippolytus erkannten (899f.) angeblichen Beweisstücks (hic dicet ensis, 896a), schließlich, drittens, durch ihren in trügerischer Absicht vorgebrachten Hinweis auf die vermeintliche Augenzeugenschaft der Diener, die Hippolytus nach der Tat angeblich haben davonstürmen sehen (Hi trepidum fuga | videre famuli concitum celeri pede, Pha. 901b-902). Das eingangs gewonnene Bild von Phaedra wird damit in zweifacher Weise korrumpiert: Ihr Stoizismus, den der Rezipient zu Beginn der Szene für blanke Heuchelei hat halten müssen, läßt sich ex post auch als Versuch deuten, dem Zwang zur Lüge zu entgehen und dem Gatten wie auch sich selbst den Betrug an Hippolytus zu ersparen. Zugleich widerspricht es diesem Stoizismus in vollem Maße, daß sie unter dem Eindruck der bevorstehenden Gewalt die von Theseus verlangten Informationen ohne Zögern herausgibt. Hätte sie nicht konsequenterweise, so wird man sich als Zuschauer fragen, den von ihr angedrohten Freitod wahrmachen müssen, um ihre Amme zu schützen? Das Gespräch zwischen Theseus und Phaedra ist voller Uneindeutigkeiten, und es ist schwer für den Rezipienten, zu einem emotionalen Urteil über ihre jeweiligen Charaktere zu gelangen. Dadurch, daß die Figurenzeichnung kein eindeutiges Identifikationsangebot macht, wird schließlich auch die Brutalität der Folterdrohung unterminiert. Denn ein Mitleid mit Phaedra, wie sie es unter den vorgegebenen Bedingungen in ihrer Lage reklamieren könnte – Theseus’ Drohung wäre in diesem Falle eine Herausforderung an ihre Standfestigkeit und brächte sie in das Dilemma, sich zwischen der physischen Gewalt an der Amme und der Denunziation des Hippolytus zu entscheiden –, wird sich beim Rezipienten ebenso wenig einstellen wie die eindeutige Verurteilung des zu unlauteren Mitteln greifenden Theseus. Die Emotionen des wissenden Rezipienten gelten vielmehr Theseus, der nicht zuletzt in seiner fürsorglichen Haltung betrogen und zum Instrument einer Tat gemacht werden soll, die, von der Amme und Phaedra initiiert und gesteuert, ihn selbst zum Mörder seines eigenen Sohnes machen wird.547
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Der Fluch, den er über Hippolytus in den Versen 929-958 aussprechen wird, setzt den Zuschauer darüber ins Bild, welche Formen von Gewalt Hippolytus erfahren wird: Er soll aus der Gesellschaft ausgegliedert und in einem entfernten Winkel der Welt Einsamkeit und Kälte ausgesetzt werden (Pha. 929-937). Und er wird von Theseus verfolgt werden
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Gewalt durch Sprache
Seneca gelingt es nicht nur, für den Zuschauer physische Gewalt auch ohne deren körperliche Repräsentation erfahrbar zu machen. Er hält auch zahlreiche Mittel dafür bereit, die Sprache selbst als ein Instrument der Gewalterzeugung einzusetzen. Das zentrale Mittel dazu ist der Stil. Karl Heinz Bohrer hat einmal davon gesprochen, daß Gewaltthemen deshalb so oft in der Kunst aufträten, „weil ihre formale Expression der dem großen Künstler eingeborenen Affinität zum Stil, der verwundet, entgegenkommt.“ Es sei also die „Stilaffinität als Affinität zum Effekt, der das Gewaltthema erst zur Gewaltphantasie macht.“548 Verletzung durch Stil und stilistische Verknappung – das ist auch ein Grundverfahren in Senecas Tragödien, und zwar insbesondere dort, wo es, formal besehen, seinen Ort hat: in der Stichomythie:549 Der genuin epigrammatische Charakter der Stichomythie, die ihr eigentümliche gedankliche Disziplin und schließlich die Schärfe, durch die sie sich gegenüber der redundanten, „Müll“ produzierenden oralen Sprechweise auszeichnet,550 bereiten dem Betrachter (oder Leser) selbst – oder gerade – dann Vergnügen, wenn ihre Inhalte gedanklich ins Leere gehen und ihr spielerischer Charakter dem Ernst der Sache nicht mehr angemessen ist. Bei Seneca wird dieses Verfahren noch gesteigert:
(938-944), einer Figur also, deren uneingeschränkte Bewegungsfreiheit durch den soeben erfolgten Besuch der Unterwelt sehr glaubwürdig ist (scis unde redeam, Pha. 941a) und durch die Ankündigung verbal indizierter Schadensmacht noch supplementiert wird. 548 Karl Heinz Bohrer: „Stil ist frappierend. Über Gewalt als ästhetisches Verfahren“. In: Kunst Macht Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität. Hrsg. von Rolf Grimmiger. München 2000. S. 25-42, vgl. besonders S. 26f.: In jedem Stil liege etwas Aggressives, da in der „spezifischen Formentscheidung“, in „diesem buchstäblichen Abschneiden vom Ganzen eine Vereinzelung, ja Verletzung gegenüber dem Ganzen“ (d. h. dem „prallen Leben“) auftritt.“ / „Stil hat ja wohl etwas mit Pointe, mit einer Spitze zu tun.“ (mit Verweis auf Michel de Montaigne: Les Essays. Hrsg. von Pierre Villey. Paris 1992. 2, S. 171, über den Grabspruch des Dichters Lucan: Haec demum sapiet dictio, quae ferit: „Diejenige Rede ist gut, die trifft“; Montaigne stellt den in ferire liegenden Aspekt des Verletzens allerdings weniger heraus als Bohrer). Zum Verhältnis von Gewalt und Sprache s. auch die einschläge Einleitung der Herausgeber in dem Sammelband Sprache der Gewalt – Gewalt der Sprache, Hrsg. von Angelika Corbineau-Hoffmann und Pascal Nicklas. Hildesheim/ Zürich/ New York 2000. S. 1-18. 549 S. dazu Juliane Vogel: „Die Verdächtigung des Wortgefechts. Dialogskepsis in der modernen Rezeption der Tragödie“. In: Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Hrsg. von Bettine Menke und Christoph Menke. Berlin 2007, S. 18-30. Zur stilistischen Verknappung bei Seneca s. Seidensticker: Die Gesprächsverdichtung in den Tragödien Senecas [wie Anm. 18]. In der Stichomythie steckt immer Kampf, Erregung und das Streben, Superiorität zu gewinnen. 550 David Wellbery (mdl. Beitrag auf der am 16./17.12. 2005 vom Sfb 626 in Berlin veranstalteten Tagung über „Tragödie, Trauerspiel, Spektakel“).
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Das Wort wird zur Waffe, zu einem Instrument, durch das sich Machtverhältnisse in der Geschwindigkeit von Halbversen verkehren und restituieren lassen.
5.6.1 Sprache als Entwaffnung In den Troades gelingt es Ulixes, durch die Herstellung einer dilemmatischen Situation, Andromacha dazu zu bewegen, ihren eigenen Sohn gegen ihren Willen und doch aus eigener Entscheidung an die Griechen auszuliefern.551 Bevor es so weit kommt, unternimmt Andromacha zwei gescheiterte Täuschungsversuche. Andromachas erster Täuschungsversuch (Tro. 556-593), in dem sie den vermeintlich verschollenen Sohn beweint (556-567), wird von Ulixes umgehend als ein solcher erkannt.552 Als er ein weiteres Mal nachfragt, wo ihr Sohn denn sei (ubi natus est?, Tro. 571a), läßt sich Andromacha zwar insofern auf die Frage ein, als sie deren formale Struktur aufgreift und die Frage nach dem Verbleib des Jungen um die Nachfrage nach dem Verbleib Hectors und all der anderen Phryger ergänzt (Tro. 571b-572): [Andromacha] Ubi Hector? ubi cuncti Phryges? ubi Priamus? unum quaeris? ego quaero omnia.
[Andromacha] Und wo ist Hektor? Wo sind alle Phryger? Wo Priamus? Du suchst einen einzigen? Ich suche alles.
Auf semantischer Ebene umgeht diese nachäffende Fortführung jedoch den Sinn der eigentlichen Frage, um sie in einen Vorwurf zu wenden. Denn was heißt „ubi Hector?“ anderes als „Was habt ihr nur mit ihm gemacht!“ Der von Ulixes’ gewählten Form eines direkten Sprechakts begegnet Andromacha mit einem indirekten Sprechakt, der die von Ulixes gestellte Frage ex post desavouiert. Indem sie die Gesprächsebene wechselt, entzieht sie sich nicht nur der Beantwortung der eigentlichen Frage; sie gewinnt auch die Oberhand über die Gesprächssituation und vermag auf diese Weise die bestehende Hierarchie der beiden Gesprächspartner in ihr Gegenteil zu verkehren.553
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S. dazu oben, Kap. 2, S. 123ff. Ulixes beruft sich dabei nicht etwa auf ihren ʻTextʼ (Unstimmigkeiten, Widersprüche o. ä.), sondern auf seine eigene Autorität – „einen Ulixes täuscht man nicht so leicht“ (non facile est tibi | decipere Ulixen, Tro. 568-570). Damit greift er auf eine auch aus der modernen Verhörtechnik bekannte Strategie zurück, den vermuteten Gegenstand als bereits bewiesen hinzustellen. 553 Mit einem Wechsel der Gesprächsebenen und damit verbundenen Umdeutungen bereits formulierter Gedanken arbeitet auch die domina-nutrix-Szene der Medea (116178, bes.: 168-173), in der Medea die Einwände der Amme regelmäßig dadurch 552
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Gegenüber einer Argumentation, in der die Gesprächsteilnehmer die Sprache jeweils dazu einsetzen, ihr Verhältnis zu einem bestimmten (außerhalb ihrer selbst stehenden) Gegenstand zu begründen, fungiert in dem Gespräch zwischen Ulixes und Andromacha also auch die Sprache selbst als eine Methode der Ausübung bzw. Abwehr von Gewalt. Denn die Rede insbesondere Andromachas repräsentiert nicht nur einen von der Rede selbst unabhängigen Gedanken, sondern ist in erster Linie selbst Vollzug.
5.6.2 Gewalt durch Umdeutung Die sprachliche Technik der Umdeutung oder Verdrehung findet sich vor allem in der Stichomythie (oder in raschen Wortwechseln) und arbeitet mit den semantischen Leerstellen der gegnerischen Aussage. Die Offenheit des Textes wird dazu genutzt, den vermeintlich selbstverständlichen bzw. vom Gegner intendierten Subtext bewußt auszublenden und das semantische Potential in einer Weise zu öffnen, die es erlaubt, den Satz gegen die von diesem intendierte Aussage zu wenden. Die Technik der Verdrehung zeichnet sich also im Wesentlichen dadurch aus, daß die semantischen Felder bestimmter Begriffe von den beteiligten dramatis personae in unterschiedlicher Weise eingegrenzt, beschnitten oder verschoben und die impliziten Konnotationen eines von der gegnerischen Partei zuvor verwendeten Begriffs damit übergangen und durch neue ersetzt werden, um auf diese Weise der Aussage des Erstverwenders eine ex post nachteilige Bedeutung zuzuschreiben.
5.6.2.1 Agamemnon Ein anschauliches Beispiel für das Verfahren der Verdrehung gibt der Wortwechsel, den Electra mit ihrer Mutter Clytemestra im Agamemnon führt (Ag. 953ff.). Electra hat soeben ihren Bruder Orest außerhalb des Königshauses in die Obhut des Strophius gegeben, um ihn vor dem Zugriff der Mutter zu bewahren, als Clytemestra, nach dem Mord an Agamemnon blutbeschmiert und auf der Suche nach Orest,554 auf die Bühne kommt und sich darüber erbost, daß sich Electra außerhalb der ihr zugewiesenen Grenzen befindet (Ag. 953-960):
„aushebelt“, daß sie die entscheidenden Worte auf ihr eigenes, dem der Amme diametral entgegengesetztes Erlebnisumfeld bezieht: z. B.: Nutrix: ex [sc. Creo] est timendus. – Medea: Rex meus fuerat pater (Med. 168). 554 Vgl. die Vision Cassandras, Ag. 867-909, sowie Electras Ankündigung des Auftritts von Clytemestra: Adest cruenta coniugis victrix sui, | et signa caedis veste maculata gerit. | manus recenti sanguine etiamnunc madent | vultusque prae se scelera truculenti ferunt (Ag. 947-950). Die eigentliche Motiviation ist die Suche nach Orest, vgl. Ag. 965b-967:
260
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[Clytemestra] Hostis parentis, impium atque audax caput, quo more coetus publicos virgo petis? [Electra] Adulterorum virgo deserui domum. [Cl] Quis esse credat virginem – [El] Gnatam tuam? [Cl] Modestius cum matre. [El] Pietatem doces? [Cl] Animos viriles corde tumefacto geris; sed agere domita feminam disces malo. [El] Nisi forte fallor, feminas ferrum decet.
[Clytemestra] Feindin der Mutter, ehrfurchtsloses, freches Haupt, nach welcher Sitte suchst du, eine Jungfrau, öffentliche Plätze auf? [Electra] Jungfrau, die ich bin, habe ich das Haus der Ehebrecher schon verlassen. [Cl] Wer soll schon glauben, daß du eine Jungfrau bist [El] – ich, deine Tochter? [Cl] Sprich maßvoller mit deiner Mutter. [El] Du lehrst Ehrfurcht? [Cl] Männlichen Stolz hegst du in deinem geschwollenen Herzen, aber du wirst, bezähmt durch Leiden, noch lernen, dich wie eine Frau zu benehmen. [El] Wenn ich mich nicht täusche, ziemt sich für Frauen ein Schwert.
Die Brutalität des sich aus Clytemestras Worten heraus ergebenden Wortwechsels liegt dabei gerade nicht in wechselseitigen Beschimpfungen oder in der Gleichgültigkeit gegenüber den Worten des Gegners. Es werden weder Argument an Argument gereiht noch die Argumente des Gegenübers überhört. Vielmehr resemantisieren die Gesprächspartner in ihren Antworten die vorangehenden Worte ihres Gegenübers, indem sie einzelne Bestandteile der Sätze herausgreifen und in einen Kontext stellen, durch den die Bedeutung des Gesagten dem Sprecher rückwirkend zu einem Nachteil gerät. Es werden demnach nicht nur Teile des Gesagten aus ihrem ursprünglichen Gefüge herausgeschnitten, sondern auch in ein neues Gefüge integriert, durch dessen Gesamtaussage die Intention der vorausgehenden Worte zerschlagen wird. So reagiert Electra auf den oben zitierten Vorwurf Clytemestras, sie dürfe als virgo die Grenzen des Königshauses nicht verlassen, mit dem Hinweis, daß sie gerade weil sie eine virgo sei, das Haus der Ehebrecher habe verlassen müssen. Sie greift damit ein Wort auf, das Clytemestra selbst benutzt hatte, deutet es aber in einer ganz bestimmten Richtung. Während Clytemestra lediglich von einem jungen, unverheirateten Mädchen spricht, zielt die dem Wort virgo von Electra beigemessene Bedeutung ausschließlich auf eine jungfräuliche Reinheit, wie sie von der ehebrecherischen Umgebung gefährdet wird. Die für die Argumentation zentralen Begriffe werden inhaltlich neu besetzt und rekontextualisiert, um das
Clytemestra: citius interea mihi | edissere ubi sit gnatus, ubi frater tuus. – Electra: Extra Mycenas. – Clytemestra: Redde nunc gnatum mihi.
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Gesagte in eine unvorteilhafte Aussage zu wenden, oder sie werden in ihrem semantischen Potential so weit ausgeschöpft, daß die unvorteilhafte Aussage als eine lediglich konsequente Ausformulierung des bereits Gesagten verstanden werden muß. Das Verfahren der Verdrehung ist dabei zugleich die in der Arbeit an der Sprache und mit deren Mitteln betriebene Fortschreibung jener Gewaltverhältnisse, in denen das projektierte Opfer selbst zu einem Akteur seiner eigenen Destruktion wird bzw. durch das Material, das er der Deutung seines Gegenübers zur Verfügung stellt, unwillentlich zu seiner eigenen Zerstörung beiträgt.555 Wenn Clytemestra auf Electras eben genannte Antwort hin in Frage stellt, daß diese überhaupt noch eine virgo sei (Quis esse credat virginem –, Ag. 956a), und Electra ihre Mutter mit prägnanten Worten darauf hinweist, daß genetisch bedingte Ähnlichkeiten durchaus vermutet werden könnten (Gnatam tuam?, Ag. 956b), dann werden auch hier die Spitzen aus den gegnerischen Angriffen herausgesponnen. Auf einer inhaltlichen Ebene verhandelt das Gespräch dabei zugleich die Grenzen der familiären Zugehörigkeit und somit in einem weiteren Sinne die Grenzen von Innen und Außen. Dabei wechseln die Positionen beständig. In ihrer ersten Antwort fordert Electra ihre Ausgliederung aus der Familie, mit der zweiten gliedert sie sich, wenn auch ironisch, wieder ein. Es geht also in erster Linie nicht um die konstruktive Bestimmung der Zugehörigkeit, sondern um einen Prozeß des Verhandelns, der, in den Raum des Physischen transkribiert, einem Zweikampf gleicht, bei dem die Gegner aufeinander zugehen, um sich wegzustoßen. Wie im Kampf die Faust, dient hier die Sprache als Waffe – als eine Waffe freilich, von deren Angriffen auch die Angreifer selbst getroffen werden können. Daß es weniger um eine Argumentationstechnik als vielmehr um eine Fortsetzung des Mordens mit anderen Mitteln geht, zeigt vor allem die dramatische Einbettung der Szene. Clytemestra, die eben noch den Mord an Agamemnon vollzogen hat und die Zeichen ihrer Bluttat noch an sich trägt, die auf der Suche nach Orest ist, um ihren potentiellen Rächer zu beseitigen, steht unmittelbar davor, auch ihrer Agamemnon wohlgesonnenen Tochter Gewalt anzutun. Dafür spricht nicht nur ihr blutiges und wildes Äußeres, wie Electra es in der Ankündigung des Szenenauftritts (Ag. 949f.) beschreibt, sondern auch die Tatsache, daß sich ihre verbrecherische Energie schon wenig später tatsächlich in der Todesforderung entlädt. Nachdem sich Electra den Fragen nach dem Aufenthaltsort Orests zunächst entzogen hat, greift Clytemestra nicht etwa zu dem aus der Phaedra (vgl. die der Amme von Theseus angedrohte Folter) oder dem Oedipus (vgl. die von Oedipus dem Creo angedrohte Gewalt)556 bekannte Methode der Informationsbeschaffung, sondern kündigt mit lapidaren und bestimmten Worten
555 556
Vgl. hierzu oben, Kap. 2, S. 77ff. Vgl. hierzu die Ausführungen oben, Kap. 2, S. 113 und 114ff.
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Electras Tod an: morieris hodie (Ag. 971a). Da sie den Verbleib Orests noch nicht kennt und diesen auch nie erfahren wird, wenn sie ihre potentielle Informantin sterben läßt, ist klar, daß der Wunsch, sie zu töten, nicht aus der aktuellen Situation – etwa mit Blick auf eine rational bedachte Relation von Zweck und Mittel –, sondern aus der schon lange zuvor in ihr sich aufbäumenden Wut entstanden ist. Die Szene, in der das Wortgefecht ausgetragen wird, ist demnach eingeklammert in zwei Szenen der Gewalt: die blutrünstige Ermordung Agamemnons, wie sie von Cassandra in ihrer Vision berichtet wird,557 sowie die Electra angedrohte physische Gewalt, die, auch wenn sie, anders als das Clytemnestra Ag. 972 ankündigt, nicht durch Ermordung, sondern durch Verhaftung umgesetzt wird (Ag. 998-1000), so doch als Akt der physischen Gewalt zu werten ist. Das kontextuelle Umfeld und die auf das weitere Geschehen vorausweisenden Spannungen bilden damit einen Hintergrund, der auch die Gestimmtheit und die Erwartungen des Zuschauers beeinflußt und für dessen Erfahrung daher konstitutiv ist. Zwar mag der anfängliche Wortwechsel zwischen Electra und Clytemestra, für sich genommen, als ein rhetorisches Glanzlicht wirken: die schlagfertigen Umdeutungen, die flinken Wechsel, die ungeheure Dichte und der Witz, ja, nicht zuletzt der Spielcharakter, der das Wortgefecht auszeichnet, fordern die kognitive Leistung des Zuschauers, der den rasanten Wendungen folgen muß und mit der Freude über den gelungenen Nachvollzug belohnt wird. Ihr voraus geht jedoch das mit Electras Ankündigung (Ag. 947-950) sich einstellende Grauen, das, insofern es in Clytemestras Aussehen visualisiert wird, auch während des Gesprächs sehr nahe und präsent ist. Die Erfahrung des Zuschauers speist sich demnach aus zwei Formen der Wahrnehmung: Gesehen werden die Zeichen (und Anzeichen) blutiger Gewalt, gehört dagegen der beißende Witz der Worte, mit dem die beiden Frauen im Schlagabtausch einander zusetzen. Beide Ebenen zeigen Verletzungen an – die eine in physischer, die andere in psychischer Hinsicht, und man ist geneigt zu sagen, daß auch hier wieder (ähnlich wie in der oben besprochenen Folterszene in der Phaedra558) das Verfahren der Transkription vorliegt: die im wechselseitigen Morden sich manifestierende blutige, physische Gewalt wird in ein analoges sprachliches Verfahren übersetzt, bei dem, statt leiblicher Körper, nunmehr syntaktische und semantische Einheiten verletzt, zerstört und massakriert werden, wobei die Opfer durch die ihnen inhärenten Deutungsangebote ihre Gegenspieler geradezu einladen, den Schlagabtausch fortzuführen. Auch hier liegt – wenn auch in sublimierter Form – eine Gewaltform vor, in der der Täter nicht aus dem Nichts heraus, sondern in Reaktion auf das vorausgehende
557
Zur Szene vgl. oben, Kap. 2, S. 244f. Vgl. oben, Kap. 2, S. 113 und 114ff. zu Theseus Transkription der von Phaedra verübten psychischen Gewalt in einen Modus der (wenn auch nur angedrohten) physischen Gewalt. 558
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Geschehen zum Schlag ausholt. Ob man dem zustimmen will oder nicht: deutlich ist, daß der Wortkampf mehr ist als eine rhetorische Spielerei und daß die Form, in der er sich darstellt, einen auch inhaltlichen Bezug zum Thema der Tragödie und ihres Gewaltdiskurses herstellt. Gleichwohl stehen sich in der genannten Szene des Agamemnon natürlich sehr wohl blutige Präsenz und kognitive Herausforderung gegenüber und treffen insofern evozierte Nähe und Distanz in glücklicher Weise zusammen: Jedenfalls ist davon auszugehen, daß das Gehörte zu der visuell bestimmten Wahrnehmung im Zuschauer ebensoviel Distanz schafft wie das Gesehene umgekehrt die emotionale Nähe zum Geschehen herstellt, derer es bedarf, um an der Szene ein „Vergnügen am Schrecklichen“ empfinden zu können.
5.6.2.2 Troades Mit sprachlichen Mitteln arbeitet auch die Szene in den Troades, in der Pyrrhus und Agamemnon ihren Streit darüber ausfechten, ob es gerechtfertigt sei, Polyxena für Achill zu opfern. Der Ausgang des Gesprächs ist bereits im zweiten Kapitel im Zusammenhang mit der Bedeutung der Gleichgültigkeit als einer Form der Gewaltausübung besprochen worden.559 Die Szene zeigt aber noch etwas anderes, nämlich die im Vorfeld von Agamemnons plötzlicher Entscheidung, die Götter zu befragen, sprachlich praktizierte Gewalt. Pyrrhus wirft Agamemnon vor, er habe sich als ängstlich und furchtsam erwiesen, als er seinerzeit Ajax und Ulixes vorgeschickt habe, um Achill (der sich im Zorn über Agamemnon aus den Kampfeshandlungen zurückgezogen hatte) wieder für den Kampf zu gewinnen (Tro. 315b-317):560 [Pyrrhus] tu, gravi pavidus metu nec ad rogandum fortis, Aiaci preces Ithacoque mandas clausus atque hostem tremens.
[Pyrrhus] Du, aufgeschreckt von ernster Furcht und im Bitten kein Held, schickst Aiax und den Ithaker vor, um deine Bitten vorzutragen, während du dich selbst versteckt hältst, zitternd vor dem Feind.
Der Begriff der Furcht hat freilich zwei Aspekte. Er kann, wie das von Pyrrhus implizit gedacht ist, als Ängstlichkeit identifiziert werden (metus/ tremens); er kann aber auch auf einen inneren Zustand weisen, der durch den Respekt vor etwas Überwältigendem gekennzeichnet, keineswegs aber mit Angst oder gar Feigheit gleichzusetzen ist. Die Taktik, mit der Agamemnon Pyrrhus’ Vorwurf
559 560
Vgl. oben, Kap. 2, S. 89ff. Gemeint ist die aus Hom. Il. 9 bekannte πρεσβεία πρὸς Ἀχιλλέα.
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auszuhebeln sucht, macht sich die mögliche Verschiebung des Bedeutungsspektrums zunutze. Agamemnon greift den Vorwurf der Furcht auf, aber er redet nicht von metus oder tremere, sondern von timor: Ja, Furcht gezeigt zu haben, könne man Achill in der Tat nicht vorwerfen. Seelenruhig (segnis, 320) habe er mitverfolgt, wie die Griechen hingeschlachtet und ihre Schiffe verbrannt worden seien, und dabei noch munter die Leier geschlagen (Tro. 318-321): At non timebat tunc tuus, fateor, parens, interque caedes Graeciae atque ustas rates segnis iacebat belli et armorum immemor, levi canoram verberans plectro chelyn.
Doch fürchtete sich damals, ich gestehe es, dein Vater nicht, und inmitten der Morde an den Griechen und den verbrannten Schiffen lag er träge da, uneingedenk des Krieges und der Waffen, und schlug mit leichtem Plektron seine wohlklingende Leier.
Rückwirkend wird damit nun auch das Bedeutungsfeld der Furcht, wie es Pyrrhus durch eine entsprechende Wortwahl hatte eingrenzen wollen, in einer Weise wieder geöffnet, die es erlaubt, auch die von Pyrrhus erwähnte Furcht Agamemnons als eine durch Respekt und Sorge getragene Einstellung zu lesen: Denn indem Agamemnon seine Rede mit einer Negation einleitet – At non timebat, tunc tuus, fateor, parens (Ag. 318) –, weist er das Fehlen von Furcht als ein Defizit aus, was im Umkehrschluß dem Besitz von Furcht (timor) jene positive Konnotation verleiht, die es braucht, um das von Pyrrhus über ihn selbst Geäußerte im Nachhinein als etwas Positives zu deuten. Die Furcht Agamemnons wird also ex post mit einer Besorgnis um fremdes Wohl und der daraus resultierenden Motivation zu handeln gleichgesetzt. Daß eben diese Form bei Achill wiederum nicht anzutreffen ist, wird von Agamemnon durch die Charakteristika, die er ihm zuweist und mit denen er sein begriffliches Verständnis unterstreicht, noch einmal bekräftigt: Achill sei segnis und immemor – oder im Klartext: seine Furchtlosigkeit gegenüber den Kampfgenossen verantwortungslos und feige. Mit dieser semantischen Wendung erreicht es Agamemnon, sich nicht etwa entgegen der Behauptung des Pyrrhus, sondern mit deren Unterstützung wieder ins rechte Licht zu setzen.
5.6.3 Gewalt durch Schweigen 5.6.3.1 Phaedra Daß sich Gewaltkonstellationen auf Bühnenebene völlig anders darstellen können als in ihrer Wahrnehmung durch den Zuschauer, mithin die Gewalterfahrung des Zuschauers keineswegs mit dem auf der Bühne sicht- bzw. hörbaren Geschehen korrelieren muß, zeigt das mit Blick auf den intra-
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diegetischen Gewaltdiskurs bereits besprochene Truggespräch der Phaedra:561 Um ihre zurückgewiesene Liebe zu Hippolytus vor ihrem Gatten Theseus zu vertuschen, gibt Phaedra vor, sich aus einem Grund, den zu nennen ihr nicht möglich sei, töten zu wollen. Gemeint ist der angebliche sexuelle Übergriff des Hippolytus, ein physischer Gewaltakt, auf dessen Thematisierung die Protagonistin zwar durch Anspielungen hinarbeitet, der aber, wie der Zuschauer längst weiß, niemals stattgefunden hat. Mit ihren dunklen Andeutungen, die wiederholt auf ihre Reinheit als Motiv hinweisen (aures pudica coniugis solas timet, Pha. 874, mors optima est perire lacrimandum suis, 881),562 als Hintergründe des Todeswunsches aber wahre Abgründe vermuten lassen, weckt sie das Interesse ihres Gesprächspartners, der abgesehen davon, daß er als liebender Gatte (vgl. 881) den Tod natürlich verhindern will, auch wissen möchte, was eigentlich passiert ist. Die Neugier, die das persistierende Schweigen der Phaedra in ihm auslöst, führt letztlich dazu, daß er sich entschließt, aus der daneben stehenden Amme unter Anwendung von Folter das Geheimnis herauszupressen: silere pergit. Verbere ac vinclis anus | altrixque prodet quicquid haec fari abnuit. | vincite ferro. verberum vis extrahat | secreta mentis (Pha. 882885a)563 – eine Drohung, die Phaedra endlich die Gelegenheit gibt, zwei ,Fliegen mit einer Klappe zu schlagen‘: ihren ehrenvollen Charakter durch die explizite Abwendung von physischer Gewalt noch einmal zu bekräftigen und Hippolytus, dessen vermeintliches Verbrechen ja ans Tageslicht gebracht werden sollte, anzuzeigen. Auf der Bühne thematisiert werden also zwei Formen physischer Gewalt: die angebliche Vergewaltigung der Phaedra (die Phaedra, Pha. 894-897, indirekt, indem sie auf dessen Schwert zeigt, dem Hippolytus zuschiebt) sowie die angedrohte Folterung (die auf Bühnenebene Erwartungsangst erzeugt). Die Gewalt, wie sie sich aus der Perspektive des Zuschauers vollzieht, ist jedoch keine physische (was im Übrigen damit korrespondiert, daß ja auch intradiegetisch beide Gewaltakte letztlich nur als sprachlich hervorgebrachte Vorstellung existieren), sondern die durch das Schweigen und die Verweigerung von Informationen hergestellte Gewalt, die Phaedra auf ihren Gatten ausübt (vgl. ihr Bekenntnis Pha. 1192a-1194a: falsa memoravi et nefas, | quod ipsa demens pectore insano hauseram, | mentita finxi).564 Für den Zuschauer, der durch die Unternehmungen der beiden Frauen (Phaedra und deren Amme) über den eigentlichen Sachverhalt im Bilde ist (vgl. den Pha. 719ff. offen artikulierten Plan, Hippolytus aus Rache für die Ablehnung der Vergewaltigung zu bezichtigen) und nicht zuletzt aufgrund der Mythentradition mit einem furchtbaren Ende rechnen muß, besteht die Gewalterfahrung, die die Szene in ihm evoziert, nicht im Nachvollzug dessen, was er sieht bzw. hört, oder in dem
561
Vgl. die Ausführungen in Kap. 2, S. 113ff. und 119ff. S. oben, Kap. 2, S. 113. 563 S. oben, Kap. 2, S. 113. 564 S. oben, S. 227. 562
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Bewußtwerden der tragischen Konsequenzen, die Theseus zur vermeintlichen Rettung ziehen wird: der tödlichen Gewalt an Hippolytus, sondern in der Tatsache, daß er als Sehender und Wissender eine Handlung begleitet, in die er als Zuschauer gerade nicht eingreifen kann. Die Erfahrung der Gewalt entsteht also nicht nur durch die Vergegenwärtigung des baldigen Schreckens, also in der Erwartungsangst bzw. der Supplementierung des Geschehens durch die den dramatis personae noch nicht bekannten Folgen,565 sondern in der Machtlosigkeit, mit der er gewissermaßen in den ‚Zuschauerraum‘ zurückgedrängt wird. Während die Betrachtung einer rohen Gewaltszene ein Vergnügen am Schrecklichen auslöst, sofern der Zuschauer die Garantie hat, von dem Geschehen auf der Bühne physisch nicht belangt zu werden, hat die Betrachtung des von Phaedra praktizierten Schweigens infolgedessen einen gegenteiligen Effekt: Der Zuschauer kann die Distanz zu dem Geschehen und die Unmöglichkeit, in das Geschehen einzugreifen, nicht genießen, sondern wird sich seiner Rolle eines wissenden Subjekts bewußt, das die Theseus vorenthaltenen Informationen kennt und dennoch hilflos dabei zusehen muß, wie dieser, der sich zu diesem Zeitpunkt noch in einer völlig anderen Rolle wähnt, das eigentliche Opfer des Geschehens ist. In gewisser Weise erlebt der Zuschauer hier also eine ähnliche Situation, wie sie im Zusammenhang mit der Wahnsinnszene des Hercules Furens die Figur des effektlos agierenden Amphitryon durchleben muß:566 Die imaginäre Wand, die zwischen Zuschauer und Bühne zu denken ist, bietet eben nicht nur einen Schutz vor der Einbeziehung in das Geschehen (was bei auf der Bühne dargestellter Gewalt als angenehm empfunden werden muß und als die Voraussetzung für das Vergnügen am Schrecklichen gilt); sie führt auch dazu, daß der Zuschauer auch dort, wo er das Bedürfnis hat einzugreifen, dieser Trennung hilflos ausgeliefert ist. Dies – so ließe sich vielleicht hinzufügen – ist der Preis, der er für seine ansonsten angenehme Souveränität zu zahlen hat.
5.6.3.2 Thyestes Mit der Technik des Verschweigens und der Souveränität des Zuschauers arbeitet auch die Szene des Thyestes (970-1031), in der sich Atreus an den ahnungslosen Titelhelden wendet, nachdem dieser in seinem Hause
565
Vgl. hierzu auch die Szene aus den Troades, in der Astyanax im Grabhügel versteckt wird: Vor den Augen der Zuschauer verläßt Astyanax die Bühne, um in Hectors Grabhügel zu verschwinden (Tro. 498-512). Da der Zuschauer weiß, daß Astyanax in der mythischen Tradition getötet wird, ruft die bevorstehende Absenz der Astyanax-Figur im Zuschauer die Angst hervor, daß dieser bald in seinem Versteck gefunden werden wird. 566 Amphityon hat keinerlei Möglichkeit, auf die illusionäre Welt des halluzinierenden Heracles einzuwirken und dessen Handeln zu beeinflussen, s. dazu oben, S. 247f.
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unwissentlich die eigenen Kinder verspeist hat.567 Die Wahrnehmung des Gewaltaktes beruht hier auf der Seite des Zuschauers weder auf einer visuellen Wahrnehmung (physische Gewalt findet ja nicht mehr statt) noch auf einer imaginativ erzeugten Verbildlichung (so etwa bei der Schilderung der Opferung der Kinder im Botenbericht, Thy. 623-788), sondern auf der kognitiven Leistung, durch die er den hämischen Worten, mit denen Atreus auf den Bruder eindrischt, nach Erfassung des satzimmanenten Sinns auch die zweite Bedeutungsebene entnimmt. Wenn sich Thyestes zur Krönung des Mahls die Anwesenheit seiner Kinder wünscht und sein Bruder, Atreus, dazu lapidar bemerkt, daß ihm die Kinder keiner mehr wegnehmen könne (Thy. 974-978) – [Thyestes] augere cumulus hic voluptatem potest, si cum meis gaudere felici datur. [Atreus] Hic esse natos crede in amplexu patris. hic sunt eruntque; nulla pars prolis tuae tibi subtrahetur.
[Thyestes] Diese Steigerung könnte meine Lust noch mehren: wenn es mir Glücklichem gewährt wird, mit den Meinen mich zu freuen. [Atreus] Glaub mir: Hier sind sie, deine Kinder, in der Umarmung ihres Vaters. Hier sind sie, und hier bleiben sie; kein Teil der Kinder wird dir je genommen werden.
– dann weiß der Zuschauer (ebenso wie – auf Bühnenebene: Atreus), daß die Kinder ihrem Vater näher sind als ihm lieb sein kann: Sie befinden sich ja im Bauch des Thyestes. Das rasche Erfassen der semantischen Doppelbödigkeit erlaubt es dem Zuschauer, neben der Grausamkeit auch die irritierend komischgroteske Wirkung, die die Prägnanz der Worte entfaltet, wahrzunehmen. Etwas anderes spielt sich auf der Ebene des Bühnengeschehens, d.h. im inneren Kommunikationssystem ab. Zwar muß Thyestes das an seinen Kindern verübte Verbrechen nicht mitansehen. Doch gelingt es Atreus, indem er ihm das entscheidende Wissen über einen längeren Zeitraum hinweg vorenthält, ein hierarchisches Verhältnis herzustellen und damit die Verfügungsgewalt über ihn zu gewinnen. Die Gewaltausübung gelingt ihm, indem er die entscheidenden Details verschweigt und Thyestes, den unmittelbar Betroffenen, aus der Diskursebene, in der er sich selbst befindet, ausgrenzt. Lustvoll beobachtet er, wie Thyestes erst in einem langsamen Prozeß des Ahnens und Erkennens die semantische Mehrschichtigkeit der Antwort und den grausamen Spott über seine Ahnungs- und damit auch Wehrlosigkeit begreifen kann. Das performative Moment der Atreusworte liegt damit – sowohl auf der Ebene des Bühnengeschehens als auch in Bezug auf die Rezeption durch den Zuschauer – in dem Verschweigen der für Thyestes entscheidenden Sinnebene.
567
S. dazu oben, S. 235.
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5.6.3.3 Troades Im zweiten Kapitel war im Zusammenhang mit der intradiegetischen Gewaltausübung über zwei Szenen gesprochen worden, in denen psychische Gewalt durch den Zwang zur Täterschaft geübt werden soll: In den Troades, 545-555, will Ulixes Andromacha dazu zwingen, entweder an ihrem Mann oder an ihrem Sohn Astyanax Gewalt zu üben;568 im selben Stück, Tro. 861-871, muß Helena gegen ihren Willen Polyxena täuschen, um das Opfer für Achill vorzubereiten.569 Die Gewalt, die Ulixes auf Andromacha ausübt, ist dabei im dramatischen Vollzug angelegt: Sie kann von den dramatis personae zumindest grundsätzlich als solche erkannt und bemessen werden. Die Gewalterfahrung des Zuschauers, dessen Wissen über das der handelnden Figuren nicht hinausgeht, ergibt sich also im wesentlichen aus dem kognitiven oder emotionalen Nachvollzug des Bühnengeschehens. Anders verhält es sich mit den in Kapitel 2 genannten Formen des Verschweigens, der Lüge oder der Verleumdung. Hier handelt es sich um Formen, in denen die Gewalt darauf beruht, daß einer dramatis persona Informationen verweigert (oder vorläufig vorenthalten) werden, über die der Zuschauer infolge seines souveränen Wissens durchaus verfügt. Indem der Zuschauer die von der betreffenden dramatis persona noch nicht erkennbare Gewaltausübung sehr wohl erkennt (sei es durch eigene kognitive Leistung, sei es durch die Hinweise einer Bühnenfigur, mit der er dieses Wissen teilt), zugleich aber durch seine Rolle als Zuschauer handlungsunfähig bleibt, macht er sich unwillentlich zu einem Akteur des Gewaltprozesses. Dem Zuschauer sind, trotz seines souveränen Wissens, die Hände gebunden. Insofern verhalten sich die beiden hier genannten Untergruppen psychischer Gewalt hinsichtlich ihres Effekts auf das innere Kommunikationssystem einerseits und auf das äußere Kommunikationssystem andererseits gewissermaßen chiastisch. Was intradiegetisch (zunächst noch) als geringe Gewaltausübung bewertet werden muß – etwa die „freundliche“ Einladung zur (vermeintlichen) Hochzeit mit Achill, die Helena an die zu opfernde Polyxena richtet (Tro. 871-887) – kann vom Zuschauer, der ja den Kontext und das eigentliche Ansinnen kennt,570 als eine in besonderem Maße gesteigerte Gewalterfahrung bewertet werden. Umgekehrt kann eine intradiegetisch als starke Gewaltausübung erfahrene Handlung (oder Aussage) – etwa der Druck, den Ulixes in der bereits erwähnten Szene auf Andromacha zu üben sucht – vom Zuschauer als geringe Gewaltausübung erfahren werden: In dem Moment, in dem der Zuschauer merkt, daß die von der Gewalt betroffene dramatis persona die auf sie einwirkende Rede oder Handlung als Gewaltakt
568
Vgl. oben, Kap. 2, S. 77 und 123f.; zur Szene ferner oben, S. 258f. Vgl. dazu oben, Kap. 2, S. 77 mit Anm. 163, und unten, S. 268. 570 In der vorliegenden Szene, 861-871a, ist der Zuschauer von Helena in einer Art aparte-Rede nochmals deutlich auf den Trugcharakter hingewiesen worden. 569
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identifizieren kann, in dem der Zuschauer also einem Kommunikationssystem gegenübersteht, dessen Akteuren er an Wissen nicht überlegen ist, kommen inneres und äußeres Kommunikationssystem gewissermaßen zur Deckung: Der Zuschauer erfährt sich zwar als handlungsunfähiger Betrachter – das ist er ja in jedem Fall. Er hat aber auch gar nicht das Bedürfnis, einzugreifen oder den betroffenen Figuren sein Plus an Wissen zu vermitteln. Was bei einer Szene wie der von Helena praktizierten Lüge auf Seiten des Zuschauers zu einem Gefühl der Machtlosigkeit führen könnte – zu dem Bedürfnis etwa, die getäuschte Polyxena an der Wahrheit teilhaben zu lassen – (oder was umgekehrt: zu einem Gefühl der Überlegenheit führen mag), befördert in jenen Fällen, in denen das Wissen der Figuren und das des Zuschauers identisch ist, vor allem die Selbstwahrnehmung des Zuschauers als eines Zuschauenden, der sich außerhalb der Bühnenwirklichkeit befindet. Der Zuschauer, der sich vor der auf Bühnenebene praktizierten Gewalt geschützt weiß, kann (und darf) darüber Vergnügen empfinden, daß er nicht die Figur selbst, sondern eben nur ein unbeteiligter Betrachter ist. Insofern zeigt auch dieses letzte Beispiel, daß die Qualitäten der Gewalterfahrung, wie sie auf Bühnenebene anzunehmen sind, und der Gewalterfahrung, wie sie auf den Zuschauer wirken, – gerade dort, wo es um unsichtbare, psychische Gewalt geht – nicht immer analog zueinander verlaufen.
Fazit Senecas Tragödien entstehen in einer Zeit, in deren Lebenswelt selbst Gewalt stark ästhetisiert ist; die Grenzen zwischen Kunst, Ästhetischem und Alltag verlaufen fließend: Im Theater wird nicht nur Kunst, sondern auch Politik gemacht. In seiner Rolle als Zuschauer ist der Teilnehmer der zeitgenössischen Spektakel daher stets gefährdet – ein Problem, das Seneca auch in den Prosaschriften kritisiert. Das „Vergnügen am Schrecklichen“ setzt jedoch eine ausgewogene Balance von Nähe und Distanz voraus. Damit der Rezipient das theatrale Geschehen emotional nachvollziehen und reflektieren kann, muß die Artifizialität einer Aufführung für ihn erkennbar sein. Seneca reagiert in seinen Tragödien mit einer Poetik, die zwei Extreme der kaiserzeitlichen Lebenswelt aufgreift: Er zeigt blutige Gewalt, und er gibt seinen Figuren eine hochartifizielle Sprache. Im Bereich des Inhaltlichen konterkariert Seneca die szenische Präsenz des Physischen durch die Hineinarbeitung subtiler Formen von Gewalt. Die Präsentation von physischer Gewalt erscheint nun in Zusammenhängen, in denen auch ihre Entstehungsprozesse und ihre Relation zu nicht-physischen Gewaltformen aufgezeigt und reflektiert werden können. Innerhalb dieses differenzierten Spektrums nehmen die Verletzungen des Schweigens und Sprechens einen ebenso wichtigen Platz ein wie kulturelle, soziale oder religiöse Zwänge. Die damit verbundenen Wahrnehmungsmuster werden jedoch irritiert und gestört: So wie physische Gewalt zur Sprache gebracht wird, werden die subtilen, materiell unsichtbaren Gewaltformen nunmehr sichtbar und sinnlich erfahrbar gemacht. Dabei unterscheiden sich die Gewalterfahrungen, wie sie der Zuschauer als ein Betrachter in der Auseinandersetzung mit der Bühnenhandlung macht, deutlich von denen der dramatis personae. Indem er beständig daran erinnert wird, daß er – anders als die Bühnenfiguren – die Differenzen dieser beiden Erfahrungswelten erkennen kann, die diskrepante Informiertheit571 also nicht nur erlebt, sondern als Strukturprinzip reflektieren kann, wird es dem Zuschauer ermöglicht, sich seiner Rolle als souveräner Zuschauer bewußt zu werden und sich der Grenze zwischen Zuschauer- und Bühnenraum zu vergewissern. Dabei geht es nicht darum, daß der Zuschauer eine Erfahrung macht, die die betrachteten Bühnenfiguren machen könnten, sofern sie nur das selbe wüßten wie er selbst. Sondern vielmehr darum, daß er sich selbst als ein Zuschauender
571
S. zu diesem Begriff Pfister: Das Drama [wie Anm. 135], S. 81-83.
272
Fazit
erfährt, also als jemand, der weder von dem betrachteten Geschehen angegriffen werden kann noch, umgekehrt und zwar selbst dann, wenn er dies wünschte, in dieses Geschehen eingreifen kann. Die im Akt der Betrachtung erlebte Grenze garantiert dabei nicht nur die Wiederherstellung des durch die lebensweltlichen Ästhetisierungsprozesse bedrohten Schutzraums zwischen dem Zuschauer und der von ihm betrachteten Bühnenwelt. Sie schafft somit zugleich die Voraussetzung für eine Form des ästhetischen Erfahrens, in der das Eintauchen in die betrachtete Welt – anders als in der ästhetisierten Lebenswelt – aus jener Distanz heraus geschehen kann, wie sie für eine Reflexion des Geschehens notwendig ist.
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Aëtius plac. 4, 12, 1
145A322
Aischylos Hik. 710-733
213A485
Att. 2, 19, 3
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143A318 145A324 142f. 143A317 143A315 237f.A510
Arktinos Iliou Persis
52
Atilius Electra
133A268
Catull carm. 64, 362-370
53
Chrysippus poem. Phil. aud. poet.
140 140
Cicero ac. 1, 24-29 ac. 1, 40 ac. 2, 18
37A64 159A361 159A361
131A262, 132A263
de Gallio, s. frg. orat. fam. 7, 1, 2 133A268 fam. 8, 2, 1 131A262 fin. 3, 16-26 36A56, 37A61 fin. 3, 62-73 36A56 frg. orat. 6, 1 S. 150A336 leg. 1, 17, 47 139A295 nat. deor. 2 36A56, 37f.,39 nat. deor. 2, 127 38A65 off. 1, 107-151 184A435 orat. 2, 7 158 orat. 2, 7 - 3, 10 158f.A361 part. 6, 20 152A337 Sest. 122 132A265 Sest. 115-123 132A263 Tusc. 3, 2 40A71 Dio Cassius 57, 22, 5 58, 24, 3 59, 13 59, 25, 5b-6 62, 16-18
135A277 17A12, 135A277 134A272 47A87 183A432
Diogenes Babylonius περὶ µουσικῆς 140 περὶ φωνῆς 140 Diogenes Laertius 7, 4 7, 45f. 7, 49 7, 50 7, 85 7, 85-88 7, 88 7, 89 7, 173 7, 200
140A300 145A324 147 145A323 36 35A54, 36 38A67 40A72, A73 140A304 140A301
302
Index
Dion Chrysostomos or. 12
153ff.
Ennius Andromacha Aech. Hecuba
53 53
Homer Il. 3, 121-244 Il. 9 Il. 22 Il. 23, 724 Horaz ars 179-188
Euripides Andromache Bacch. 1137ff. Bacch. 1216f. Bacch. 1265-1284 Bellerophontes Danae Hec. Hec. 37-44 Hec. 69-75 Hec. 92-97 Hec. 218 Hec. 420 Hec. 518-582 Hipp. Hipp. 565-599 Hipp. 723 Hipp. 777 Hipp. Kalyptomenos IA IT 291 Kressai Or. 2 Pho. 88-192 Thyestes Troades Tro. 37f. Tro. 264-268 Tro. 622ff.
54 59 59 64 168A392 168A392 53, 55f. 56 56 56 56 56 56 60A123 213A485 95A200 95A200 58 57 153A344 61 153A344 213A485 61 53 54 54 54f.
Flavius Iosephus ant. Iud. 19, 24
134A272
Galen plac. Hipp. Pl. 3, 3 plac. Hipp. Pl. 4, 2 plac. Hipp. Pl. 5, 5
79A167 79A167 39A69
carm. 4, 7 epist. 2, 1, 60 epist. 2, 1, 188-200
213A485 263A560 56 136A281 20A17, 67A144, 137, 199, 207 58A115 130A258 133A268, 199
Hygin fab. 87f.
60f.
Iuvenal sat. 8, 187 sat. 8, 189-199 sat. 8, 220f.
14A4 135A278 183431
Kleanthes De musica Hymn. Iupp περὶ τοῦ ποιητοῦ περὶ τῆς αἰσθήσεως
139 139A293 140 140
Lesches Ilias Parva
53
ps.-Longin subl. 3, 1 subl. 7, 1 subl. 9, 13 subl. 15, 1-2 subl. 15, 9 subl. 43, 3 subl. 44
152A339 152A339 152A339 152f. 152A337, 153 152A339 152A338
Lucan Phars.
201 23A25 179 23A25 58
Hierokles 6, 21 - 7, 21
36f.
Lukrez 1, 935-950 2, 1-4 4, 10-25
Hieronymus epist. 132
80A168
Lykophron Hippolytos
Index Martial spect. 9, 1-4 spect. 6 spect. 10 spect. 24
14f. 15 15 15
Musonius 7, 20ff.
39f.
Naevius Andromacha Equos Troianus
53 133A268
Nemesios nat. hom. 2, p. 32 nat. hom. 2, p. 46
148A332 148A332
Ovid ars 1, 89-97 fast. 6, 73f. her. 4 met. 13, 415-417 met. 13, 439-526 met. 15, 497ff.
192A455 58A115 58 53 53 58A115
Pacuvius Armorum iudicium
133A268
Paulus Diaconus Fest. 112
145A321
Philodemus De musica De poematis
139, 140A302 140A303
vit. Apoll. 8, 7
Philostratos imag. 2, p. 340, 35ff.K. 158A360 Philostratos vit. Apoll. vit. Apoll. 2, 20 vit. Apoll. 2, 22 vit. Apoll. 3, 25 vit. Apoll. 4, 7 vit. Apoll. 4, 25 vit. Apoll. 4, 28 vit. Apoll. 6, 11 vit. Apoll. 6, 19 vit. Apoll. 6, 40
303
155ff. 156A357 156A357, 159A362 156A357 156A357 156A357 156A357 156A357 156ff. 156A357
Platon Ion soph. 260c-264a Theait. 152a-c Tim. 28a-b Plinius nat. 30, 3, 12 paneg. 34, 1
156A357 169 142A310 142A310 142A310, 159A361 30A35 134A270
Plutarch de audiendo, s. mor. 37b-48d de audiendis poetis, s. mor. 14d-37b de Stoic. rep., s. mor. 1033a-1057b quaest. conv., s. mor. 612c-748d mor. 14d-37b 19, 138 mor. 37b-48d 19, 137A285 mor. 38a 137 mor. 38b 138 mor. 706c 138A286 mor. 1035a-b 38A66 Poseidonios frg. 169 E-K frg. 158-173 E-K
39 36A56
Proklos chrest. 52f.A94 comm. Plat. Tim. 28a 159A361 Quintilian inst. 6, 2, 26 inst. 6, 2, 26-36 inst. 6, 2, 28-30 inst. 6, 2, 29 inst. 6, 2, 32 inst. 8, 3, 31 inst. 8, 3, 61 inst. 8, 3, 61-70 inst. 8, 3, 62 inst. 8, 3, 63 inst. 8, 3, 66-68 inst. 8, 3, 67
150 148 150f. 145A321 152A337 160A366 149A336, 152A337 149f., 178, 208A470 148f., 152A337, 238A514 149A335 150A336 150, 178, 208
304 inst. 8, 3, 71 inst. 8, 3, 72 inst. 8, 3, 83 inst. 9, 2, 40 inst. 10, 125-131
Index 149 150 150 149 160A366
Seneca Prosaschriften: benef. 7, 1, 7 38A68 clem. 1, 22 46A85 consolatio ad Helviam, s. dial.12 de ira, s. dial. 3-5 de providentia, s. dial. 1 de tranquillitate animi, s. dial. 9 de vita beata, s. dial. 7 dial. 1,4, 13-16 72A157 dial. 3, 6, 1 46A85 dial. 3, 6, 3f. 46A85, 47 dial. 3, 15, 1 46A85 dial. 3, 16, 1ff. 46A85 dial. 3, 19, 7 46, 46A85 dial. 3, 21 136A281 dial. 3-5 25 dial. 3, 19 45A83 dial. 4, 2, 1-4 170f, dial. 4, 4, 2 170 dial. 4, 15, 1 72A157 dial. 5, 9, 1-2 171f. dial. 5, 14 48f. dial. 5, 17, 1 72A157 dial. 5, 18f. 47A86 dial. 5, 19, 2 47 dial. 7, 20, 3-5 39 dial. 9, 2, 15 43A77 dial. 12, 17,1 33A45 epist. 7, 1-8 185ff. epist. 7, 3-5 33A46, 45 epist. 7, 6 139A295, 185f. epist. 8, 8f. 139A294, 168 epist. 14, 2 44 epist. 14, 6 49f., 114 epist. 17, 9 42A76 epist. 70, 4-6 42f. epist. 70, 11f. 44A79 epist. 70, 20 43f.A78 epist. 70, 24 44 epist. 84, 10 165A388 epist. 88, 4-8. 169 epist. 90,3f. 35 epist. 94, 4ff. 34 epist. 94, 29 40A71
epist. 94, 55 epist. 94, 62-67 epist. 94, 68f. epist. 95, 30 epist. 95, 33-35 epist. 95, 52 epist. 104, 15f. epist. 108, 10 epist. 110, 15 epist. 115, 12 epist. 115, 14f. epist. 116, 1 epist. 121 Seneca Tragödien Ag. 1-56 Ag. 108-140 Ag. 239ff. Ag. 421-578 Ag. 659ff. Ag. 710ff. Ag. 782-807 Ag. 779 Ag. 867-909 Ag. 947-950 Ag. 947-952 Ag. 949f. Ag. 953ff. Ag. 965-967 Ag. 971-973 Ag. 998-1000 Ag. 1003-1012 Herc. Oet. HF HF 1-124 HF 279-308 HF 360-371 HF 371-373 HF 370ff. HF 520-523 HF 634ff. HF 650-829 HF 654-657 HF 656f. HF 658-829
34, 40f. 34 34 48 188, 209 38 169 139 42 167 168 80A168 36A56, 37, 39 85A178 80A167 189 193ff. 210A476, 215A487 164, 242A520 243ff. 244 210A476, 215A487, 219, 259A554 211, 259A554, 262 242A520 261 65, 259ff. 259f.A554 252A540 262 234f. 25 25A29 80f.A170, 82ff. 83A174 118 119 66 243 66, 233A504, 240f. 241 195A458 195 242
Index HF 895-899 HF 940-973 HF 973-975 HF 976ff. HF 987-991 HF 991-995 HF 991-1026 HF 996-1002 HF 1002-1009 HF 1082ff. HF 1096-1099 HF 1138ff. HF 1193-1201 HF 1202-1218 HF 1237ff. HF 1246-1257 HF 1265f. HF 1267-1272 HF 1274-1277 HF 1310-1317 HF 1305 Med. Med. 1-55 Med. 29-31 Med. 116f. Med. 116-178 Med. 168 Med. 179-300 Med. 266 Med. 301-379 Med. 380f. Med. 382-396 Med. 393-398 Med. 431-434 Med. 490-539 Med. 551ff. Med. 559-564 Med. 579-669 Med. 670-848 Med. 740-848 Med. 849ff. Med. 910 Med. 926-944 Med. 967-1020 Med. 992f.
241 245ff. 247f., 266 210A476, 215A487, 233 247 247f., 266 212, 218, 219, 232ff. 248A528 247 164 107 106ff. 107 95A201, 107f. 108f. 106A221 109A223 107 109 108, 113A231 106 81f. 88f., 96f. 245A524 96 258f.A553 259A553 92A194 73A158 74ff. 228A500 164, 212 96A203 98f. 118A238 189 249A536 74 162, 212, 216A488 22A21, 210, 243A521 164 82 82, 221f. 218, 219ff. 98
305 Oed. 1-80 Oed. 81-86 Oed. 103-109 Oed. 110-116 Oed. 180-201 Oed. 206-209 Oed. 276-285 Oed. 288-402 Oed. 401 Oed. 403-508 Oed. 509-528 Oed. 518f. Oed. 518-528 Oed. 530-658 Oed. 915-979 Oed. 1004-1051 Oed. 1034-1039 Oed. 1038f. Oct. Pha. Pha. 1-84
Pha. 40f. Pha. 54ff. Pha. 113f. Pha. 119-129 Pha. 121-123 Pha. 127f. Pha. 173 Pha. 175-177 Pha. 177-194 Pha. 195f. Pha. 232 Pha. 233-235 Pha. 274 Pha. 274-278 Pha. 274-357 Pha. 278 Pha. 384-386 Pha. 387-403 Pha. 435-482 Pha. 483-489 Pha. 483-564 Pha. 498-500 Pha. 525-546 Pha. 550-564
99f. 102 101 189A450 189A450 101 216A488 198ff., 210 115A236 189 115ff. 255A545 113A231 219, 242 95A201, 103A215 223ff. 94f. 218 25 52, 58ff., 69ff. 22A21, 59f., 70A152, 89, 216A488, 218A490 213 59, 218A490 80f., 250A537 80A169 250A537 250A537 79A165 250A537 78f. 80 80A169, 250A537 60 60 78A164 80 59 212 250A538 70 71 70 70A151 70ff. 72ff.
306 Pha. 559 Pha. 583-586 Pha. 589-735 Pha. 652ff. Pha. 685f. Pha. 719-735 Pha. 736-740 Pha. 835-902 Pha. 864ff. Pha. 871-880 Pha. 871-897 Pha. 881-885 Pha. 896-901 Pha. 903-959 Pha. 905-929 Pha. 929-958 Pha. 991-1114 Pha. 1000-1114 Pha. 1007-1037 Pha. 1034 Pha. 1095-1098 Pha. 1114-1117 Pha. 1154f. Pha. 1156-1198 Pha. 1176f. Pha. 1192-1194 Pha. 1192-1243 Pha. 1201-1243 Pha. 1208-1210 Pha. 1238f. Pha. 1244-1246 Pha. 1247-1249 Pha. 1256-1267 Pha. 1197f. Pha. 1199f. Pho. Pho. 1-319 Pho. 12-192 Pho. 31-33 Pho.79 Pho. 288ff. Pho. 330-355 Pho. 664 Thy. Thy. 23-121 Thy. 247ff. Thy. 267
Index 75 165 249ff. 58 87A180 77, 119ff., 265 252 253ff. 189 111 264ff. 112f., 114ff., 117, 262 121f. 195 250A537 256f.A547 126f., 195ff., 218 217 60 239 95 195ff. 228 229f. 230 265 227f. 231f. 232 228A499 227f., 231 230f. 213 218, 227 122A243 102f., 162ff. 103ff. 87 95A201 110 103 103 103A216 52, 60ff. 80f.A170, 85f. 63 62
Thy. 491ff. Thy. 623-788 Thy. 640 Thy. 690 Thy. 776-788 Thy. 901-919 Thy. 970ff. Thy. 985-1001 Thy. 1020-1039 Tro. Tro. 123-128 Tro. 164-202 Tro. 168-202 Tro. 189 Tro. 195f. Tro. 202 Tro. 203-370 Tro. 204f. Tro. 234-236 Tro. 315-321 Tro. 438-460 Tro. 498-512 Tro. 507f. Tro. 509f. Tro. 524-813 Tro. 524-528 Tro. 529-533 Tro. 533 Tro. 545-555 Tro. 556-593 Tro. 550f. Tro. 573-588 Tro. 613f. Tro. 627-631 Tro. 634-641 Tro. 642-662 Tro. 730 Tro. 749 Tro. 861-871 Tro. 871-887 Tro. 903-926 Tro. 935-948 Tro. 945-954 Tro. 1068-1197 Tro. 1068-1120
189 63, 218, 235, 267 217 217 245A524 212 63f., 218, 236, 266f. 242A519 235 52ff., 162f. 56 87f. 57 56 57A113 57A113 57, 88, 89ff. 56A111 56A111 263f. 123 123A244, 248, 266A565 124A247 123A244, 248 20f., 123ff. 124 125 125A250 77, 268 258f. 125A249 116A237 123A246 116A237 123f. 124A247 90A191 124A248 77, 268 57, 77, 268 77A163, 126A252, 269 192 212 190ff. 190f.
Index Tro. 1083 Tro. 1088-1103 Tro. 1120-1164 Tro. 1137-1159 Seneca Rhetor contr. 10
190 57 191ff. 57
SVF II, 13 SVF II, 52 SVF II, 53 SVF II, 54 SVF II, 55 SVF II, 56
135A277
Servius ad Verg. Aen. 3, 489 53A99 Sextus Empiricus adv. math. 7, 227 adv. math. 7, 236 adv. math. 7, 241ff. adv. math. 7, 251 adv. math. 7, 372
307
145A324 145A324 146 145A324 145A323
Sidonius Apollinaris carm. 9, 232-238
160A364
Sophokles Atreus OT Phaedra Polyxena Thyestes Thyestes en Sikyoni
61 94 58 53 61 61
Statius silv. 5, 3, 146ff.
58A117
Stesichoros Iliou Persis
53
Stobaios ecl. 1, 1, 12, p. 25, 3 139A293, 147A330 ecl. 2, p. 65, 7 39A70 Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) SVF I, 41 140A300 SVF I, 537 139 SVF I, 481 140A304 SVF I, 486 139A290 SVF I, 487 139A292 SVF I, 518 148A332 SVF I, 533 147A331 SVF I, 537 139A293, 147A330
SVF II, 58 SVF II,61 SVF II, 65 SVF II, 122 SVF II, 790 SVF II, 792 SVF III, 229b SVF III, 54-90 Sueton Cal. 20, 23, 2 Cal. 27, 4 Cal. 57, 4 Cal. 26-28 Cal. 58, 2 Cal. 59 Claud. 29, 1f. Claud. 34 Dom. 10f. Dom. 13 Galba 20 Iul. 82 Iul. 84 Nero 23, 2 Nero 35, 5-37,2 Nero 38 Nero 39, 3 Nero 49 Tib. 61 Tib. 61, 3 Tib. 62, 2 Tib. 64 Vit. 20 Tacitus ann. 1, 77, 1 ann. 3, 49ff. ann. 4, 2, 3 ann. 4, 34ff. ann. 6, 13, 1 ann. 6, 29, 3 ann. 11, 13, 1
140A301 146A328, 147 145A324 145A322 145A323 145A323, 145A324 145A324 146 146 146A327 148A332 148A332 139A295 140A302 30A36 135A277 14A5 30A36 30A36 30A36 30A36 30A36 30A36 134A272 30A36 30A36 133A268 136A280 30A36 183f. 135A277 30A36 30A36 135A277 30A36 30A36 30A36 134A274 135A277 134A270 135A277 134A272 17A12, 135A277 134A274
308 ann. 12, 3, 2 ann. 12, 41, 2 ann. 13, 24, 1 ann. 14, 14, 3f. ann. 14,52 ann. 15, 38-41 ann. 15, 39 dial. 3, 3 dial. 29, 3 hist. 1, 72, 3 hist. 1, 72, 4
Index 134A270 134A270 134A274 135A278 160 183A432 184A436 62 165A388 134A272 134A271
Tertullian apol. 21
147A331
Vergil Aen. 3, 294ff. Aen. 5, 426 Aen. 6, 440ff.
53 149A335 58A115
Zenon περὶ ποιητικῆς ἀκροάσεως περὶ λεξέων περὶ προβληµάτων Ὁµηρικῶν πέντε
140 140 140