Religiöse Gewalt an Tieren: Interdisziplinäre Diagnosen zum Verhältnis von Religion, Speziesismus und Gewalt 9783839453469

Die drei großen monotheistischen Religionen eint ein überwältigender und bis heute nahezu ungebrochener Konsens über die

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German Pages 332 Year 2021

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Inhalt
Zwischen Ritualismus und Nihilismus – Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren
…töten, essen, verleugnen: Phänomenologien religiöser Gewalt an (nichtmenschlichen) Tieren
Über Natur und Übernatur
Anima (de-)forma corporis
Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt
Das Tier als Mitgeschöpf?
…notwendig oder kontingent? Historische, politische und rechtliche Kontexte religiöser Gewalt an Tieren
Eine religionsethologisch-evolutionäre Sicht auf das Phänomen der Gewalt innerhalb des Mensch-Tier-Verhältnisses
Von natürlichen und konstruierten Grenzen
Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?
Schächtung, Xenotransplantation, Stammzellforschung
…unheilbar speziesistisch? Theologische Religionskritik und Gewaltüberwindung
Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik
»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«
Die Souveränität der Tiere
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Religiöse Gewalt an Tieren: Interdisziplinäre Diagnosen zum Verhältnis von Religion, Speziesismus und Gewalt
 9783839453469

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Simone Horstmann (Hg.) Religiöse Gewalt an Tieren

Human-Animal Studies  | Band 25

Simone Horstmann (Dr. phil.), geb. 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie an der Technischen Universität Dortmund. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die theologische Verortung der Mensch-Tier-Beziehung.

Simone Horstmann (Hg.)

Religiöse Gewalt an Tieren Interdisziplinäre Diagnosen zum Verhältnis von Religion, Speziesismus und Gewalt

Gefördert durch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Pixabay Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5346-5 PDF-ISBN 978-3-8394-5346-9 https://doi.org/10.14361/9783839453469 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Zwischen Ritualismus und Nihilismus – Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren Zur Einleitung Simone Horstmann .............................................................................. 7

…töten, essen, verleugnen: Phänomenologien religiöser Gewalt an (nichtmenschlichen) Tieren Über Natur und Übernatur Mutmaßung zur christlichen Kälte gegenüber Tieren Gregor Taxacher .............................................................................. 35

Anima (de-)forma corporis Zur Konstruktion von Tier- und Menschenkörpern durch die Theologie Simone Horstmann ............................................................................ 59

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt Über religiös legitimierte Abwertungen des Nichtmenschlichen und Nichtmännlichen Julia Enxing................................................................................... 77

Das Tier als Mitgeschöpf? Eine Paränese Johann S. Ach ................................................................................ 107

…notwendig oder kontingent? Historische, politische und rechtliche Kontexte religiöser Gewalt an Tieren Eine religionsethologisch-evolutionäre Sicht auf das Phänomen der Gewalt innerhalb des Mensch-Tier-Verhältnisses Ina Wunn .................................................................................... 123

Von natürlichen und konstruierten Grenzen Ein postkolonialer Blick auf die Tiere Jaqueline Jüling .............................................................................. 141

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung? Christian Arleth .............................................................................. 163

Schächtung, Xenotransplantation, Stammzellforschung Religiöse Sichtweisen im kritischen Licht heutiger Rechtsprechung und Ethik Hartmut Kreß .................................................................................199

…unheilbar speziesistisch? Theologische Religionskritik und Gewaltüberwindung Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik Eine kritische Analyse Cornelia Mügge............................................................................... 225

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.« Das Dispositiv der Sklaverei im Christentum Thomas Ruster ................................................................................251

Die Souveränität der Tiere Überlegungen zu einer politischen Tiertheologie Marcus Held.................................................................................. 303

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ........................................... 329

Zwischen Ritualismus und Nihilismus – Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren Zur Einleitung Simone Horstmann

1.

Einleitung: Religiöse Gewalt an Tieren

Am 25. Juni 2020 titelt die Süddeutsche Zeitung: »Coronavirus in Deutschland: Gottesdienst stand offenbar am Anfang der Infektionswelle bei Tönnies«. Innerhalb dieser knappen Titelzeile fügen sich mehrere Faktoren zu einem bemerkenswerten Gesamtbild, das über die eigentliche journalistische Intention des Beitrags hinaus auch theologisch zu denken geben sollte. Immerhin konstelliert dieser Titel einen der größten deutschen Tiertötungsbetriebe einerseits und einen kirchlichen Ritus andererseits so miteinander, dass der damit hergestellte Zusammenhang womöglich weit über die bloß epidemiologische Rekonstruktion eines kausalen Infektionsweges hinausreicht. Die Corona-Epidemie, die bereits an anderer Stelle als Symptom einer umfassenden (Dauer-)Krise im Verhältnis des Menschen zu den anderen Tieren gedeutet wurde1 , ist auch hier möglicherweise nur der Katalysator für ein Gewaltverhältnis, dessen religiöse Wurzeln heute zwar zunehmend spürbar werden, aber binnentheologisch noch weitgehend unaufgearbeitet sind. Dass gleichwohl gute Gründe dafür sprechen, das Gemeinsame der (vor allem: monotheistischen) Religionen nicht zuletzt in der von ihnen legitimierten Gewalt gegenüber nichtmenschlichen Tieren auszumachen, darauf hat zuletzt der Aachener Theologe Simone Paganini hingewiesen, indem er an den Jerusalemer Tempel erinnert: »Der Ort, an dem die Tiere im Kontext eines variablen und dennoch in den wesentlichen Elementen standardisierten Rituals geschlachtet wurden, war der Platz vor dem Eingang des Tempels. Dort stand auf einem Steinfundament der Schlachtopferaltar. Dieser Ort des Leidens und des Sterbens für Millionen von Tieren ist umso problematischer für die Evaluierung der Rolle von Tieren [und, wie man wohl ergänzen kann: für die Rolle der Religionen, Anm. SH], wenn man bedenkt, dass er seit der Zerstörung des

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Vgl. L. Bossert: Globale Krise(n) [Online-Dok.].

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Tempels durch die Römer mit lediglich einer kurzen Unterbrechung in den ersten Jahrhunderten nach Christus als einer der heiligsten Orte für Juden, Christen und Muslime gilt. […] Absolut unkritisch für das Leiden und die Gewalt, die Millionen von Lebewesen angetan wurde, wurde und wird der Ort, an dem diese Gewalt stattfand, immer noch verehrt. Das Problem liegt dabei […] in dem völligen Desinteresse und der absoluten Gleichgültigkeit für die Lebewesen, die dort Gewalt und Tod im Namen eines Gottes erleiden mussten.«2 Den Hinweis auf den Schlachtopferaltar des Jerusalemer Tempels greife ich auch deswegen auf, weil er den gedanklichen Fluchtpunkt für drei m.E. wesentliche Formen religiöser Gewalt an Tieren darstellt, die im Folgenden näher untersucht werden sollen und deren konkrete Bedeutung von den Beiträgen dieses Bandes kritisch reflektiert wird. Im Sinne dreier konzentrischer Kreise beschreibt diese Einleitung die Formen religiöser Gewalt zunächst ausgehend vom (1.) ›innersten Kreis‹, der rituellen Gewalt: Sie scheint die offenkundigste und die vermeintlich am klarsten als religiös zu betrachtende Ausprägungsform religiöser Gewalt zu sein. Einen größeren Blickwinkel nimmt dann die zweite Verortung religiöser Gewalt ein: Mit dem Begriff der (2.) nihilistischen Gewalt sind dabei insbesondere die theologischen Grundlagen für jene letztlich metaphysisch-verankerte Grundüberzeugung bezeichnet, der zufolge (nichtmenschliche) Tiere als weitestgehend bedeutungslos, zumindest aber als strukturell nachrangig gegenüber Menschen zu betrachten seien; ausgehend von dieser Verortung wird sich die Theologie die Frage gefallen lassen müssen, welche Mitverantwortung sie nicht nur für rituelle Gewalt, sondern insbesondere für die nahezu totalitäre Gewalt der modernen Tierindustrie trägt. Den weitesten Bogen spannt schließlich (3.) der äußere Kreis, der hier unter Rückgriff auf Michel Foucaults Konzept der Biomacht rekonstruiert werden soll. Verbunden ist damit die These, dass die von Foucault als spezifisch moderne Form der Macht beschriebene Gewalt über das (zu fördernde wie auch das zu eliminierende) Leben sich bereits in wesentlichen religiösen Kalkülen präfiguriert hat.

2.

Rituelle Gewalt

Ein erster Blick in die vorliegenden Publikationen zum Problem der Gewalthaltigkeit religiöser Riten verdeutlicht dabei zunächst ein gewisses Diskursgefälle: Einerseits finden sich vielfältige, überwiegend soziologische und historische Studien und Verstehensansätze, die mit wenigen Ausnahmen sowohl die religions- und entwicklungsgeschichtliche Genese wie auch die soziale Funktion von religiösen Riten und Opfern meist im Modus einer kritischen Distanz zur Sprache bringen.3 Theologische und häufig selbst noch religionswissenschaftliche Literatur bezieht sich, wenn überhaupt4 , dann eher aus

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S. Paganini: Massentierhaltung und Massentiertötung, S. 233f. Vgl. dazu zuletzt wohl S. M. Olyan: Violent Rituals of the Hebrew Bible. So kennt etwa das »Oxford Handbook of Religion and Violence« auf seinen immerhin fast 700 Seiten kein eigenes Kapitel zur religiösen Gewalt an Tieren: Vgl. M. Juergensmeyer/M. Kitts/M. Jerryson (Hg.): Oxford Handbook of Religion and Violence.

Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren

einem apologetischen Grundanliegen heraus auf das rituelle Opfer bzw. die rituelle Tötung von Tieren.5 Da bis dato nahezu keine (systematisch-)theologischen Studien zur religiös-rituellen Gewalt an Tieren vorliegen, die sich diesem apologetischen Grundanliegen nicht über die Maßen verpflichtet fühlen, orientiere ich mich im Folgenden zunächst an jener nur scheinbar naiven Frage, die der Philologe Walter Burkert bereits 1983 im Hinblick auf die Problematik von gewalthaltigen (Tier-)Opfervorstellungen formuliert hat: »Wieso eigentlich«, so fragt Burkert, »muss man Tiere schlachten, damit Friede sei?«6 Der analytische Vorteil dieser Frage besteht darin, dass sie eine Praxis kontingent setzt, die gerade durch ihren Status als Ritual über wenig Kontingenzverarbeitungskompetenz verfügen dürfte und die insofern besonders geeignet ist, eine für theologische Verhältnisse zunächst ungewohnte Perspektivumkehr einzuleiten.

2.1

Kathartische Gewalt?

Burkerts Frage zielt dabei unmittelbar auf eine erste, klassische Antwort der Religion(sphilosophie): Gewalt an Tieren, so diese Antwort, sei dadurch zu rechtfertigen, dass sie andere, i.d.R. als gravierender erachtete Formen der Gewalt (an Menschen) kanalisiere bzw. unwahrscheinlicher mache. Die markanteste biblische Referenz für diese These ist Gen 9 (im Koran entsprechend: Sure 5, Vers 3 bzw. Sure 6, Vers 145). Hier wird das sog. »Blutverbot« inauguriert, auf das sich Judentum, Christentum und Islam gleichermaßen, wenn auch mit je unterschiedlichen Schwerpunkten und Konsequenzen, beziehen. Der Text erzählt, wie nach der Sintflut das paradiesische Verbot des Verzehrs von Tieren im Rahmen der noachidischen Gebote aufgehoben wird, mit Worten gleichwohl, »die verraten, dass es sich hier um eine Art Kriegsausbruch handelt«7 . Gen 9 scheint dabei zunächst die Worte von Gen 1 zu wiederholen: Gegenüber diesem Prätext, der ein Bild von der leidfreien – veganen – Ernährung aller Tiere einschließlich des Menschen schildert, geht es nun, postlapsarisch, um die gravierende Veränderung, dass »alles, was sich regt und lebt« (Gen 9,3), den Menschen zur Nahrung dienen solle. Das Zugeständnis des Fleischverzehrs scheint hier den Preis darzustellen, den die (außermenschliche) Welt zu zahlen habe, um nicht wieder in jenes Chaos ansteigender Gewalt der Sintflut zu stürzen, das in der biblischen Erzählstruktur den noachidischen Geboten unmittelbar vorausgeht. In diesem Sinne wurde die Erlaubnis, Tiere um ihres Fleisches willen zu töten, häufig als Mittel zur Verminderung von weiterer Gewalt gelesen: Die Gewalt im Inneren der menschlichen Gemeinschaft wurde (vermeintlich) beherrschbar, indem sie externalisiert und reglementiert wurde.8 Der französische Anthropologe René Girard hat diesen Zusammenhang bekanntlich als Sündenbock-Mechanismus beschrieben: Als Sündenbock dient ein menschliches oder tierliches Opfer, an dem sich die Gewalt einer Gruppe entlädt, die durch diese rituelle Handlung gleichwohl innerlich gestärkt und

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Beide Phänomene werde ich im Folgenden eng führen, weil sie bei allen inhaltlichen Differenzen vergleichbare religiöse Wurzeln haben. W. Burkert: Anthropologie des religiösen Opfers, S. 17. K. Marti: Schöpfungsglaube, S. 35. Vgl. S. Horstmann: »Furcht und Schrecken…« (Gen 9,2).

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befriedet wird.9 Rituale, die am Sündenbock-Modell orientiert sind, ermöglichten dies, indem sie ein Opfer symbolisch mit Schuld beladen, das dann in einem, für die Gruppe kathartisch wirkenden Opferritus getötet wird. Girard spricht mehrfach in diesem Zusammenhang von der Erlösung aus einer Epidemie: »Für die Opferungen gibt letztlich stets ein wirkungsvoller ›Opfermechanismus‹ das Modell ab; er gilt als göttlich, weil er tatsächlich einer mimetischen Krise, einer Epidemie nie ablassender und deshalb nicht mehr zu bewältigender Racheakte ein Ende gesetzt hat.«10 Blickt man von diesem Problemkontext her auf die aktuelle, insbesondere exegetische Literatur, die sich mit dem Phänomen des Tieropfers befasst, dann fällt auf, dass sie sich mitunter deutlich stärker auf die heikle strategische Funktion des Opfers bezieht, als dies noch in der Literatur der vorherigen Jahrzehnte zu beobachten war. So haben Yvonne S. Thöne u.a. in der Einleitung zum Sammelband »Opfer – Beute – Hauptgericht« mit Recht darauf hingewiesen, wie sehr rituelle Tiertötungen nicht nur eine Höherwertung des Menschen voraussetzen, sondern diese auch praxeologisch immer wieder neu vollziehen und zur fundamentalen Grenze stilisieren: »Jede Tiertötung stabilisiert aufs Neue die symbolische Andersartigkeit nichtmenschlicher Tiere und inszeniert den Menschen als Herrn bzw. Herrin über Leben und Tod.«11 Trotz dieser kritischen Einschätzung greifen die Autor*innen allerdings dennoch auf die These von der gewaltreduzierenden Wirkung des Opfers zurück, wenn sie behaupten, dass »gerade die ritualisierte Tötung von Tieren im Opfer, die örtlich, zeitlich, sozial und auf wenige Spezies beschränkt ist, zur Regulierung von Gewalt gegenüber Tieren und, in anderer Weise, Menschen dienen [kann]«12 . Strukturell vergleichbar verfährt auch Ute Neumann-Gorsolke, die den Text von Gen 9,2ff. in einem Beitrag mit der Frage konfrontiert, ob er als »dicta probantia für die göttliche Autorisierung unbegrenzter Tiertötung«13 herangezogen werde dürfe. Die abschlägige Antwort, die sie auf diese Frage gibt, skizziert sie entlang einer Einordnung des Textes in seinen kulturgeschichtlichen Kontext. Die Schlachtungen von Tieren seien zur damaligen Zeit und damit anders als heute kein profaner Akt gewesen, sondern hätten in dem Bewusstsein stattgefunden, dass das Tier zu Gott gehöre; das Opfer sei demnach ein genuiner Ort der Gottesnähe.14 Demgegenüber wird man nicht nur fragen müssen, ob Spekulationen über das Bewusstsein derjenigen, die im antiken Israel Tiere töteten, tatsächlich auf dem Boden wissenschaftlicher Reflexion möglich sind und ob nicht selbst noch die textuellen Belege für derartige Motive wesentlich kritischer betrachtet und mit dem Phänomen der nachträglichen Rationalisierung von Schulderfahrungen konfrontiert werden müssten. Es scheint fast so, als verfolge die Einordnung von Gen 9 in seinen historischen Kontext das unausgesprochene Ziel einer (normativen) Relativierung und Normalisierung jener Tötungen; einen theologischen Widerspruch zu der

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Vgl. R. Girard: Das Heilige und die Gewalt; ders.: Ich sah den Satan vom Himmel fallen. R. Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen, S. 104. Y. S. Thöne et al.: Einleitung, S. 17. Ebd., S. 16. U. Neumann-Gorsolke: »In eure Hände sind sie gegeben…«, S. 48. Vgl. ebd., S. 54f.; 59.

Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren

Aussage, dass gerade die Tötung eines Tieres als Ort der Gottesbegegnung verstanden werden kann, sucht man in dem Beitrag dementsprechend vergeblich.

2.2

Begründungslose Gewalt?

Von hier her soll noch eine zweite traditionelle Reaktion auf Walter Burkerts eingangs zitierte Frage – »Wieso eigentlich muss man Tiere schlachten, damit Friede sei?« – angesprochen werden. Sie knüpft an den durchaus nicht selbstverständlichen Begriff des Rituals an. Die Rede von »ritueller« oder »ritualisierter« Gewalt ist dabei begrifflich umstritten, gilt sie doch gelegentlich als ressentimentgeladen.15 Ein Blick in die Arbeiten des Soziologen Niklas Luhmann kann hier weiterhelfen. Luhmanns systemtheoretischer Ansatz führt ihn zu dem Verständnis, dass Rituale »eingeschränkte und alternativlos gemachte Kommunikation[en]« seien16 und als symbolisch-generalisierte Kommunikationsmedien Unwahrscheinlichkeit depotenzierten. Eben diese Tatsache ist auch von Seiten der Critical Animal Studies mehrfach thematisiert worden: Insbesondere eine ritualistische Sprache, die von »Geschenk«, »Opfer«, und dergleichen redet, so das Argument von Nekeisha A. Alexis, verunklare damit systematisch, dass das Töten von Tieren zu Nahrungszwecken vollkommen unnötig ist.17 Luhmann spricht von Ritualen daher auch als »Coupiertechniken«: »Man kann Rituale begreifen unter dem Gesichtspunkt des Coupierens aller Ansätze für reflexive Kommunikation. Die Kommunikation wird als fixierter Ablauf versteift, und ihre Rigidität selbst tritt an die Stelle der Frage, warum dies so ist. […] Rituale sind vergleichbar den fraglosen Selbstverständlichkeiten des Alltagslebens, die ebenfalls Reflexivität ausschalten«18 ; Rituale sollen als »Überzeugungsmittel« eingesetzt werden, mit dem Ziel, »Zweifel und Rückfragen […] auszuschließen«19 . Folgt man Luhmann in seiner Sichtweise, dann deutet sie einerseits an, dass die hier vertretene Unterscheidung von ritueller und (dogmatisch imprägnierter) nihilistischer Gewalt an Tieren keine ganz trennscharfe Unterscheidung sein kann – denn Luhmann sieht gerade in den Dogmatiken Nachfolgeinstitutionen von Ritualen, die »eine gewisse Entritualisierung der Religion« ermöglichen, aber dennoch mit anderen Mitteln auch das Ziel verfolgen, Negationsrisiken ihrer Kommunikation zu minimieren.20 Luhmanns Perspektive erinnert andererseits daran, dass das religiöse (Opfer-)Ritual womöglich die Grundform religiöser Handlungen par excellence darstellt; die Historikerin Barbara Stollberger-Rilinger spricht von der »ursprünglichste[n] heilige[n] Handlung überhaupt«21 . Das Opfer ist daher neben dem »victima« auch das »sacrificium«: Es fällt in einer semantischen Operation mit dem Heiligen zusammen – bereits diese Koinzidenz wird heute zum Problem, wie Thomas Ruster erläutert: 15

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So bemerkt auch M. Sebastian: Tierliebe im Schlachthof?, S. 109: Rituelles Töten von Tieren sei »besonders normativ aufgeladen« und immer wieder Anlass für Konflikte: »Beide Seiten empfinden dabei jeweils die Gegenseite als moralisch verwerflich.« Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 613. Vgl. N. A. Alexis: There’s something about the blood, S. 54. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 613. Ebd., S. 614. Vgl. N. Luhmann: Funktion der Religion, S. 86. B. Stollberg-Rielinger: Rituale, S. 77.

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»Durch den religiösen Vollzug wird das Opfer heilig gemacht. Was heilig ist, ist unantastbar und darf nicht aufgegeben werden. Im Falle der Opfer: die Gewalt.«22 Ruster weist deutlich darauf hin, dass das religiöse Opferverständnis auch deswegen derart prekär ausfällt, weil es zwischen einer inhaltlichen Leere einerseits und dem Beharren auf der Notwendigkeit der vernichtenden Gewalt andererseits changiert: »Zum Opfer gehört nun einmal destructio, die Zerstörung der Opfergabe, dies steht den Theologen vor Augen. Zwar gibt man erstaunlicherweise zu, dass theologischerseits gar nicht ganz klar ist, was ein Opfer überhaupt ist, aber es gilt doch als ausgemacht, dass destructio unbedingt zum Opfer gehört.«23 Eben diese sachliche Unklarheit des Opfers und damit vielfach auch des rituellen Tötens bringt m.E. die zweite theologische Strategie, auf die sich Religionen bis heute berufen, um das von ihnen produzierte Leiden von Tieren zu rechtfertigen, auf den Punkt: Das (rituelle) Töten sei ganz einfach Teil der (normativ verbindlichen und identitätsstiftenden) Tradition, so dass sich eine sachhaltige Begründung darüber hinaus nicht nur erübrige: Mitunter wird im Anschluss an dieses Argument bereits die diskurs- (und kontingenz!-)eröffnende Frage nach der normativen Richtigkeit dieser Praxis als Frontalangriff gewertet; legitime und wissenschaftlich angemessene Religionskritik wird dann mitunter zur Religionsfeindlichkeit stilisiert.24 Wenn es hingegen zu einer Antwort kommt, dann wird das (rituelle) Töten stattdessen verklärt und mystifiziert, bis hin zu dem Moment, an dem die reine Vernunftwidrigkeit gerade ihren Offenbarungscharakter belegen soll.25

2.3

Rituelle Gewalt: Dekonstruktion und Konstruktion

In gewisser Hinsicht zeichnen damit gerade die soziologischen Analysen sehr deutlich jene Blockadesituation nach, in die hinein sich eine theologische, und eben nicht allein religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem religiös-ritueller Tiertötungen unabwendbar hineinzumanövrieren scheint: Während heutige (säkulare) Anfragen vorrangig das wohl unbestreitbare massive Leiden und die kaum vorstellbaren psychischen und körperlichen Qualen der betroffenen Tiere als Argument gegen religiös-rituelle Formen der Tötung ins Feld führen26 , scheint diese Kritik aus binnenreligiöser Perspektive stets strukturell nachrangig gegenüber dem zentralen Traditionsargument zu sein, und zwar selbst dort, wo religiöse Akteur*innen bereit sind, Tiere als moralisch berücksichtigenswert anzuerkennen, was schon an sich zweifelsohne noch viel zu selten der Fall ist. Möglich ist diese theologische Blockade auch deswegen, weil sie von tieferliegenden Grundhaltungen getragen wird (vgl. dazu Kap. 3). Neben deren

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26

T. Ruster: Tote Tiere auf dem Altar?, S. 247. Ebd., S. 250. Vgl. J. Burt: Conflicts around Slaughter, S. 133-136. Vgl. D. Williger: Reinheitsvorstellungen, o.S. [Zitation aus dem Manuskript]: »Rationale Begründungen für die Gebote sind nicht erforderlich und theologisch oft unerwünscht. Dennoch wurden und werden immer auch rationale Begründungen für Gebote gesucht und angeführt. Wer den offenbarten Geboten bedingungslos folgt, geht mit Gott.« Vgl. Deutscher Tierschutzbund: Positionspapier [Online-Dok.].

Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren

Überwindung bzw. theologischer Aufarbeitung kann eine gleichermaßen dekonstruierende wie konstruktive theologische Auseinandersetzung mit dem Problem ritueller Gewalt m.E. an folgende, hier knapp und bilanzierend zusammengefasste Strategien anknüpfen: (1) Pazifistische Ansätze wie die des US-amerikanischen (christlichen) Theologen Walter Wink haben daran erinnert, dass die vermeintlich kathartische Wirkung der Gewalt stets einer zutiefst prekären Logik folgt, die Wink als den »Mythos von der erlösenden Gewalt« kritisiert.27 Gerade dann, wenn Religion in diesem Sinne für sich in Anspruch nimmt, eine grundsätzlich gewalthemmende Wirkung zu entfalten und keine kriegstreiberischen Ambitionen zu hegen, dann gilt für sie als Desiderat, was Jan Assmann im Rahmen der von ihm angestoßenen Diskussion um die Gewalthaltigkeit des Monotheismus gefordert hat: Gerade die vermeintlich ›normale‹ oder ›kanalisierte‹ Gewalt muss kritisch reflektiert werden – erst recht gilt dies als binnentheologisch bzw. binnenreligiös zu leistende Aufgabe.28 Diese Kritik richtet sich nicht zuletzt gegen die theologieübergreifende Tendenz, den eigenen Standpunkt überschussfrei mit dem der Tradition zu identifizieren, und zwar unabhängig von der Frage, wie gewalthaltig letztere auch ausfallen mag. Es gibt immer noch eine starke theologische (Zwangs-)Solidarität mit einer gewalthaltigen Tradition, die sich fatal für binnentheologische Reflexionsprozesse auswirkt und die die Theologie(n) mit vollkommen berechtigter Kritik von außen konfrontiert. Ganz offenbar fällt es theologischen Ansätzen aller Kritikfähigkeit zum Trotz dennoch sehr schwer, sich von jenem Opferdenken grundsätzlich zu distanzieren, von dem Thomas Ruster in wünschenswerter Klarheit schreibt: »Der Begriff des Opfers ist eigentlich überflüssig. Die gesellschaftliche, steinzeitliche Konstruktion, nach der einige geopfert werden müssen, um das Leben der anderen zu erhalten, braucht nicht aufrechterhalten zu werden.«29 (2) Eine andere wichtige Strategie kann darin bestehen, – entgegen den historischnivellierenden Ansätzen der Exegese – die Gewalt in den Texten möglichst klar zu benennen und sichtbar zu halten als Teil des eigenen Erbes, das nicht schöngeredet oder erst historisch kontextualisiert werden muss, sondern das es zu erinnern und auszuhalten, aber nicht zu reproduzieren gilt. In christlicher Hinsicht kann man darin den Versuch sehen, die Kreuzeslogik als Hermeneutik auf die biblischen Texte anzuwenden: Um zu heilen, muss das Unheil, muss die Gewalt der eigenen Tradition sichtbar bleiben. Nur dadurch kann sie faktisch in Gewaltfreiheit transformiert werden. In gewisser Weise liegt in dieser Logik die Umkehrung des klassisch-exegetischen Anliegens, Gewalt in biblischen Texten durch (wenn auch sachlich berechtigte) Hinweise auf den sozio-historischen Kontext und die Umstände der Textgenese ›wegzuerklären‹. Damit ist nicht gesagt, dass diese exegetischen Hinweise falsch und irreführend seien, sie speisen im Gegenteil wichtige Deutungslinien in die Diskussionen ein. Gleichwohl müssen auch die exegetischen Kommentare ihre Rezeption systematisch einbeziehen, mitunter antizipieren und ethisch verantworten.

27 28 29

Vgl. W. Wink: Verwandlung der Mächte. Vgl. J. Assmann: Monotheismus und Gewalt, S. 52. T. Ruster: Tote Tiere auf dem Altar?, S. 254.

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(3) Wenn schließlich das rituelle Töten von Tieren – wie ja auch hier – als mystifizierend kritisiert wird und sich diese Kritik selbst noch als theologisch verstehen will, dann sollte sie zumindest zugleich auch von der Beobachtung begleitet werden, dass diese Strategie nicht ausschließlich als Diskursverweigerung zu begreifen ist: Möglicherweise geht die soziologische Einschätzung zu schnell darüber hinweg, dass die Uneindeutigkeiten in der religiösen Kommunikation auch Ausdruck eines Bewusstseins davon sind, dass die Tötung eines Lebewesens stets einen Tabubruch darstellt. Gerade das heute so fremd anmutende Moment des Rituals, das gerade nicht in klare rationalistische Kalküle überführt werden kann, ist auch Ausdruck dieses (Schuld-)Bewusstseins30 , und als solches, aller Gewalt zum Trotz, eine mögliche Brücke in heutige Diskurse, die gleichzeitig zu der Anerkennungsleistung bereit sein sollten, dass Rituale gerade in ihrer Gestalt als mystifizierte Praktiken massive Ambivalenzen versinnbildlichen und insofern nie nur Lösung, sondern vor allem auch Problemmarkierungen sind, die höchst paradoxal dadurch ein Tabu benennen, dass sie den Tabubruch zugleich legitimieren.31 (4) Der letzte Aspekt betrifft die binnenreligiöse Wahrnehmung, dass das rituelle Töten von Tieren vielfach als Schutz vor womöglich massiverer Gewalt aufgefasst werden solle, insofern also als »Schonung« zu betrachten sei. Es ist anzunehmen, dass diese Einschätzung im Hinblick auf das soziokulturelle und historische Umfeld, in dem diese Praxis entstand, sicher zutreffen mag – nur (!) in diesem historischen Kontext, d.h. im Vergleich mit noch massiveren Formen der Gewalteinwirkung ließe sich von rituellen Tiertötungen als einer Tierschutzmaßnahme sprechen. Nicht erst heute stehen wir gleichwohl vor der Situation, dass sich diese Konstellation nahezu diametral verkehrt hat – die Methodik des rituellen, betäubungslosen Tötens blockiert gerade das, was sie als Motiv stark machen will. Ähnlich betont es auch die jüdische Philosophin Hanna Rheinz, wenn sie an die Korrelation von Absicht und Zeitgemäßheit erinnert: »Trotz seiner ursprünglich tierschonenden Absichten«, so Rheinz, sei das Schächten »nicht mehr zeitgemäß«32 . Wenn die Kritik, die hier geübt wird, ihrem eigenen Selbstverständnis nach immer auch etwas von dem bewahrt, was jeweils kritisiert wird, dann muss dieses Moment m.E. gerade in diesem ursprünglichen, heute aber mit dem zugeordneten Mittel keinesfalls mehr realisierbaren Motiv eines sorgsamen Umgangs mit anderen Lebewesen gesehen werden; hierin kann das eigentliche und einzige in der Tat wertvolle Erbe dieses Phänomens liegen.

3.

Nihilistische Gewalt

Es wäre nun wohl fahrlässig, das Phänomen der religiösen Gewalt an Tieren einzig auf die rituelle Gewalt hin engzuführen: Diese Fokussierung beizubehalten, würde 30 31

32

Vgl. E. Rudolf: Schuld. Vgl. M. Fenske: Wenn aus Tieren Personen werden, S. 128, die mit Blick auf »säkulare Rituale« gegenüber Tieren, wie etwa der Gabe von hochwertigem Futter vor dem Transport zum Schlachthof oder der Verabschiedung vom Tier, betont, dass gerade die Ambivalenzen aus Nähe und Zuneigung einerseits und dem Gewinnstreben andererseits »durch kulturelle Praktiken und Rituale gelöst« werden. H. Rheinz: Kabbala der Tiere, S. 253.

Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren

nicht nur Gefahr laufen, antisemitische und antimuslimische Ressentiments zu schüren, sondern würde auch dem realen Ausmaß des Problems nicht gerecht. Dennoch wird es jenseits des relativ klar definierten Suchrasters ritueller Formen von Religion hermeneutisch schwieriger, in ihrem Erscheinen anders geartete Formen der Gewalt an Tieren mit religiösen Ursächlichkeiten zu assoziieren. Worin also sollte etwa das – im Folgenden unterstellte – spezifisch Religiöse jener Formen der Gewalt bestehen, die insbesondere die moderne Tierindustrie verkörpert? Eine Antwort muss m.E. berücksichtigen, dass das Spezifikum jener Gewalt, wie sie die moderne Tierindustrie an den Tag legt, in der nahezu vollständigen Einnormalisierung dieser Gewaltförmigkeit besteht: Das in der rituellen Gewalt, oder genau: in der Theorie dieser Gewalt zumindest noch ahnbare Bewusstsein eines Tabubruchs ist den Formen den tierindustriellen Tötung grundlegend abhandengekommen – gerade das entindividualisierte und entindividualisierende, mechanische Töten belegt die dahinter sichtbar werdende Überzeugung von der existentiellen Bedeutungslosigkeit und der grundsätzlichen Tötbarkeit33 der (anderen) Tiere.34

3.1

Deformierte Eschatologien

Diese Überzeugung wird m.E. von zwei wesentlichen theologischen Säulen getragen, um die es im Folgenden gehen soll und die hier dezidiert auf die christliche Theologie bezogen sind, aber sicher auch Verbindungspunkte mit den anderen Religionen aufweisen. Die erste Säule besteht in der fundamentalen Exklusion tierlichen Lebens aus der eschatologischen Theologie, die mit der Ewigkeitsfähigkeit der Tiere implizit auch den profanen Wert ihrer Lebendigkeit grundsätzlich in Abrede gestellt hat35 : Von der vermeintlich fehlenden Vernunftseele der Tiere bis zu ihrer realen Auslöschung ist es nur ein kleiner Schritt, der gleichwohl den Unterschied markieren kann zwischen einem Leben, das zählt, und einem anderen Leben, das nicht zählen soll: Schon die Titel vieler eschatologischer Publikationen führen vor Augen, dass die in der Traktatordnung zumeist am Schluss entwickelte Eschatologie nicht nur in temporaler Hinsicht »die letzten Dinge« reflektiert, sondern auch eine qualitative Antwort auf die Frage nach der Vollendung der Wirklichkeit und damit Auskunft darüber gibt, was (und wer) am Ende zählt. Dass die nichtmenschlichen Tiere hier in aller Regel nicht vorkommen, ist von daher nicht mehr als bloßes Versäumnis zu werten, sondern als fundamentale Verurtei-

33

34 35

Nicht, dass wir töten, hat dazu geführt, dass wir so viele Tiere vernichten, sondern dass wir ermöglicht haben, dass man sie töten kann, so V. Despret: Was würden Tiere sagen, S. 116: »Der ethische Veganismus zollt der notwendigen Wahrheit Tribut, dass unsere angeblich normale Beziehung zu den Tieren von ungeheurer Brutalität ist.« M. Kurth: Ausbruch aus dem Schlachthof, S. 180. Die Frage nach einem Weiterleben der Tiere »im Himmel« sei auch aus säkularer Sicht wichtig, weil sie anzeigt, wie wichtig die Tiere einer Gesellschaft oder Kultur sind, so M. DeMello: Mourning Animals, S. xix: »Es ist eine Sache, Tiere in unserem Haus willkommen zu heißen, aber eine andere, ihnen Zugang zu unseren spirituellen Ressourcen zu gewähren.«

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lung zur Bedeutungslosigkeit36 , die vielleicht nirgendwo anders so klar kommuniziert wurde wie in der Lehre von der annihilatio mundi: Die ›Auslöschung der (irdischen) Welt‹ war das Programm einer Theologie, die die gesamte nichtmenschliche Wirklichkeit am Ende der Tage ins Nichts verabschieden wollte, weil sie doch schon zuvor zu wenig mehr denn als Kulisse für das große Heilsdrama zwischen Gott und Mensch dienen sollte. Selbst dort, wo Tiere versuchsweise in eschatologischen Nischen untergebracht wurden, lassen sich diese Versuche entweder als schlecht getarnte anthropozentrische Manöver lesen, oder sie führen die massiven Probleme des gesamten eschatologischen Bauwerks vor Augen.37 Die zweite Säule neben der eschatologischen Exklusion der (anderen) Tiere konstituiert sich aus einer parallelen, ebenfalls dogmatischen Überzeugung, der zufolge Tiere nicht nur nicht ewigkeitsfähig, sondern zudem nicht erlösungsbedürftig38 seien: Gerade weil wir in einer theologischen Tradition stehen, die von der Sünd- und Schuldlosigkeit der Tiere ausgeht, verfestigt sich diese Tradition selbst in ihren vermeintlich vollkommen profangeschichtlichen Ausläufern.

3.2

Problemkomplex I: Seelenbegriff

Die (klassische) Eschatologie gilt dabei längst auch unabhängig von der »Tierfrage« als Krisen-Traktat, und dies nicht allein aufgrund ihres schwierigen und spekulativen wissenschaftstheoretischen Status’, den Karl Rahner bekanntlich als ›Endzeitreportage‹ geißelte: Sie ist sehr deutlich individualistisch konzipiert, fragt nach dem Seelenheil des Einzelnen, und lässt zumindest in ihrer klassischen Form wenig Raum für universale oder kosmologische Dimensionen von Vollendung. Mitursächlich für die Verkürzung der Eschatologie auf den (gerade in seiner vermeintlichen Unterschiedenheit zu den Tieren definierten) Menschen dürfte nun zunächst die klassische theologische Seelenlehre und mit ihr das heute ohnehin prekäre Konzept einer essentialistisch verstandenen Seele sein, die qua Vernunft als vermeintliches menschliches Alleinstellungsmerkmal aufgefasst wurde: Der für die Tradition prägende Unterschied, den insbesondere der scholastische Kirchenvater Thomas von Aquin dann zwischen Tier- und Menschenseele einzieht, besteht in der Behauptung, dass allein die menschliche Seele sich selber trage, also Subsistenzstatus innehabe. Eben dieser Anspruch dürfte die Selbstimmunisierung wie auch die inhaltliche Vagheit des thomistischen Vernunftbegriffs auszeichnen, den Richard Heinzmann wie folgt kommentiert

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38

Vgl. dazu auch C. Kimball: When Religion becomes Evil, der fünf Faktoren unterscheidet, die religiöse Gewalt begünstigen, dazu zählt er auch die Strategie »Establishing the ›Ideal‹ Time«, die Berufung auf einen proto- und eschatologischen Idealzustand, der normative Wirkung entfaltet. Vgl. K. Steel: How to Make a Human, S. 106: »Animals could not have piety of their own; they could not matter in themselves, but rather belonged entirely to humans; whatever they suffered or however they worshiped, they would be abandonned to mortality, to a death of such unimportance that human would hardly consider it death […]. Death counts as death when people take notice of it […].« Weil diese, letztlich gnadentheologische Problematik in diesem Band von Gregor Taxacher näher beleuchtet wird, konzentriere ich mich im Folgenden auf die Eschatologie.

Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren

und damit ein passendes Bild der dem scholastischen Vernunftbild innewohnenden Anthropozentrik zeichnet: »Alle Eigenständigkeit, Eigenwertigkeit und Eigenwirksamkeit der Welt sammelt sich gewissermaßen im Menschen, in der Autonomie der Vernunft. Es ist die gottgeschaffene Natur der menschlichen ratio, aus eigener Initiative Wahrheit erkennen zu können, ohne dazu einer besonderen illuminatio zu bedürfen. Der gesamten Wirklichkeit zugeordnet zu sein, auf alles bezogen zu sein, was ist, auf das Sein bezogen zu sein, ist das Wesen des menschlichen Erkenntnisvermögens. Diese Grundrelation von Denken und Sein ist gemeint, wenn von der Geistseele gesagt wird, sie sei quodammodo omnia […].«39 Tatsächlich kann man den Eindruck gewinnen, dass die stark formalistische Fassung des Vernunftbegriffs bei Thomas eine gewisse theologiegeschichtliche Verselbstständigung erfahren hat: Wenn man bei Heinzmann, der an anderer Stelle den Vernunftbegriff des Thomas erläutert, etwa liest, dass der Mensch durch das natürliche Licht der Vernunft »das Kontradiktionsprinzip also und das Identitätsprinzip sowie der Satz vom ausgeschlossenen Dritten«40 erfasse, dann sind damit aus heutiger Sicht eben nicht nur formallogische Prinzipien benannt, sondern längst material-wirksame Verhältnisbestimmungen zum vermeintlichen Anderen, ›dem Tier‹, als dem ausgeschlossenen Dritten gegenüber Mensch und Gott.

3.3

Problemkomplex II: Teleologie

Eng verbunden mit dem Problem der traditionellen Seelenlehre ist auch die streng teleologische Orientierung der Eschatologie, die im Rahmen der (neu-)scholastischen Theologie entlang der aristotelischen scala naturae konzipiert ist. Was das konkret für die nichtmenschlichen Tiere bedeutet, erläutert der (neuscholastische) Mainzer Dogmatiker Johann B. Heinrich: »Obwohl die vernunftlosen Geschöpfe an sich Gott nicht formaliter verherrlichen können, so sollen sie doch den vernünftigen Creaturen, insbesondere dem Menschen, als Mittel zur formalen Verherrlichung Gottes dienen. […] Dieses ist insofern vollkommen richtig, als die vernünftigen Wesen ihr Ziel nur in Gott, nicht aber in einem Geschöpfe haben und haben können, während die vernunftlosen Creaturen, obwohl auch sie objektiv Gott unmittelbar verherrlichen, doch ihr nächstes Ziel in den vernünftigen Creaturen haben, und für sie Mittel zur formalen Verherrlichung Gottes sind.«41 Ähnlich klingt dies schon in der Summa contra gentiles des Thomas: »Jedes andere Geschöpf also ist von Natur aus der Knechtschaft unterworfen: allein das geistige Wesen ist frei. In jeder beliebigen Herrschaft aber wird für die Freien um ihrer selbst willen gesorgt, für die Knechte aber, damit sie den Freien dienen. […] Hierdurch wird der Irrtum derer ausgeschlossen, die behaupten, der Mensch begehe eine Sünde, wenn er wilde Tiere tötet. Denn sie sind aus göttlicher Vorsehung in natürlicher

39 40 41

R. Heinzmann: Thomas von Aquin Einführung, S. 27. R. Heinzmann: Thomas von Aquin Autonomie, S. 176. J. B. Heinrich: Dogmatische Theologie, S. 163. Interessant ist auch, dass Heinrich im unmittelbaren Zusammenhang damit eine Verbindung zur Opferlogik sieht: »Und auch das ist richtig, dass die Bestimmung der vernunftlosen Creaturen, den vernünftigen als Mittel zur formalen Verherrlichung Gottes zu dienen, Materie ihres Lobopfers zu sein, […] ihre vorzüglichste und höchste Bestimmung ist.« (ebd., S. 164).

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Ordnung auf den Nutzen des Menschen hingeordnet. Daher gebraucht sie der Mensch nicht zu Unrecht, sei es, wenn er sie tötet, oder sei es in jeder beliebigen anderen Weise.«42 Blickt man von heutiger Warte aus auf die teleologische Struktur der klassischen Eschatologie, dann beweist sie ihre Wirkmächtigkeit mitunter gerade dort, wo sie in vorgeblich säkularen Kontexten zutage tritt. Tierleben werden auch heute allenthalben auf den Menschen hin re-teleologisiert; insbesondere die Tierindustrie rühmt sich mitunter sogar damit, dass sie Tiere ganz und gar und vollkommen verbraucht: Dieses Ziel gilt dies nicht selten als Ausweis und Gütekriterium etwa der Vivisektionslabore.43 In diesem Sinne bemerkt Markus Kurth, dass gerade auch die Tierindustrie wie eine große, teleologische Maschine zu funktionieren scheint: Ihr Ziel sei es nicht nur, den Widerstand der Tiere zu brechen und sie zu bloßen Mitteln zu degradieren, indem insbesondere ihre Individualität ausgelöscht würde, vor allem aber bestehe »die konkrete Auslöschung in Form der Schlachtung bereits vor der Geburt des Tieres als Plan, den es zu vollenden [!] gilt.«44 Tatsächlich wird sich die Theologie fragen lassen müssen, ob sie mit der (Über)Strapazierung der antik-aristotelischen Teleologie nicht jene Narrative gestiftet hat, die heute gerade im Verhältnis zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren als Problem aufbrechen: Dies betrifft nicht nur die massiv und mit haarsträubenden Argumenten verteidigte Anthropozentrik45 , die unterstellt, der Mensch sei das Ziel der (anderen) Tiere, sogar der gesamten Wirklichkeit46 ; so behauptet Thomas von Aquin in der Summa contra gentiles, dass der Mensch deswegen nackt geboren werden, weil das Ziel der Tiere darin bestehe, ihn mit Leder und Fellen zu bekleiden.47 Vor allem dürfte diese Absurdität auch die Vorstellung betreffen, dass Tiere diese selbstlose Entäußerung als Mittel zum menschlichen Gebrauch nahezu freiwillig, zumindest aber natürlich vollzögen: Gerade jene – letztlich auch religiös aufgeladenen – Stereotype von Tieren, die freiwillig in die Schlachtmesser springen oder die sich bedenkenlos schlachten lassen48 , 42 43 44 45

46

47 48

Thomas von Aquin: ScG, lib. 3, cap. 112, nr. 12. Dies wird etwa in einem »Informationsvideo« der Initiative »Tierversuche verstehen« mit dem Titel »Warum brauchen wir Tierversuche« so behauptet [Online-Quelle]. M. Kurth: Ausbruch aus dem Schlachthof, S. 188. Vgl. H.-J. Werner: Vom Umgang mit den Geschöpfen, S. 214, der der »Annahme der Naturnutzung« nicht nur bescheinigt, sie sei u.a. innerhalb der thomistischen Theologie von Anfang an Teil der Schöpfungsordnung, sondern der auch bemerkt, dass diese Annahme »zu der einigermaßen kruden Ansicht führen [müsse], der Fuchs habe deswegen ein so dichtes Fell, damit der Mensch sich daraus Kleidung machen könne«. Vgl. G. Greshake: Die Leib-Seele-Problematik, S. 176: »Soweit ich sehe, stimmen alle Theologen darin überein, dass vom Sinn der Schöpfung überhaupt nur im Hinblick auf den Menschen gesprochen werden kann, in dessen Freiheit und Geist Schöpfung sich ausspricht und auf Gott hin finalisiert wird. […] Ein Sonnensystem X beispielsweise, das niemals vom Menschen erspäht wird, dessen Wirkung sich nicht und niemals bemerkbar macht, das sozusagen nur für und vor Gott ist, ist in sich sinnlos […].« Vgl. Thomas von Aquin: ScG, lib. 3, cap. 22, nr. 8. Vgl. M. Kayman: Fest der Nähe [Online-Dok.] – der Autor beschreibt das muslimische Opferfest und gibt wichtige Verstehenshinweise, verunklart die Situation aber auch in fragwürdiger Weise, wenn er dem getöteten Tier unterstellt, seiner eigenen Tötung freiwillig beizuwohnen, sie sogar zu forcieren: »Ich habe in meiner Jugend diese Momente miterlebt. Ich war dabei, wie ein Opfertier

Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren

haben auch hier ihren Ursprung. Hinzu kommt auch das grundsätzliche Problem, dass die Prägekraft des teleologischen Denkens die Theologie vielfach gegenüber anderen Lebensformen, die sich nicht (in erster Linie) in zielbestimmten Resultaten manifestieren, blind gemacht hat. Diese nichtresultativen Lebensformen und -normen sind, wie der Philosoph Michael Hampe formuliert, »für Menschen, die ein an Resultaten orientiertes Leben führen, nur sehr schwer verständlich. Sie können die Frage nicht suspendieren, worauf das Ganze denn hinausläuft, was dabei rauskommt. Auch das Leben der Tiere ist Ihnen nur insofern verständlich, als es in ihm vermeintlich darum geht, sich selbst oder die Art zu erhalten. Die meisten Rezeptionen der aristotelischen Teleologie und der biologischen Funktionsanalyse können das Leben nur resultativ betrachten.«49 Es ist wohl vor allem die umfassende »Ver-Wertung« von Tieren, die damit als zentrales Problem auf den Plan gerufen scheint, weil die Nutzung von Tieren gerade auch unter theologischen Vorzeichen als restloser und überschussfrei auf den Menschen hin angelegter Verbrauch konzeptualisiert wurde. Das, was heute »Tierindustrie« heißt, ist – zumindest in materialer Hinsicht – ein nahezu restloses und damit vollständig ver-wertendes Unterfangen: Die Körper der Tiere werden »vom Fleisch bis zu Dünger, Seife und Schuhcreme in verschiedene Produkte überführt«50 . In diesem Sinne können die anthropozentrische Teleologisierung der Tiere wie auch ihre theologisch-ratifizierte Seelenlosigkeit wohl als Legitimationsdiskurse für jene Formen der Nutzbarmachung verstanden werden, die heute eine nahezu nihilistische Form der Verwertung von Tieren zum Ideal verklären. Auch an dieser Stelle zeigt sich, warum gerade auch theologische – und hier insbesondere: metaphysische – Denkmuster zum Verständnis dieser Wirklichkeit heranzuziehen sind. Sie sind nicht nur notwendig, um die gedanklichen Präkonzepte der heutigen Ausprägungsformen der Tierindustrie historisch und ideell zu kontextualisieren, sondern sie eignen sich vor allem dafür, die mitunter massiven Ambivalenzen der gesellschaftlich einnormalisierten Überzeugungen zu beleuchten. Ich möchte diesen Gedanken an einem Beispiel verdeutlichen: Die in Berlin ansässige Heinrich-Böll-Stiftung gibt (gemeinsam mit dem B.U.N.D und der Le Monde Diplomatique) regelmäßig den »Fleischatlas« heraus, der Rahmenbedingungen und Zustände in der Tierindustrie dokumentiert, kommentiert und dabei einem (mehr oder weniger) kritischen Selbstverständnis folgt. In der Ausgabe von 2018 findet sich dabei folgender Passus, der als eine von mehreren Handlungsempfehlungen formuliert ist: »Wird das ganze Tier gegessen und nicht nur seine besten Stücke, steigt dessen Wertschätzung – und das Verscherbeln der verschmähten Teile in die ganze Welt geht zurück.«51 Während eine global und ökologisch angelegte Ökonomie diesem Gedanken wohl zustimmen muss, zeigt sich für die Logik der Metaphysik ein ganz anderes Bild:

49 50 51

auf dem Viehmarkt erworben und auf einem Pferdekarren in den Innenhof unseres Hauses in der Türkei verfrachtet wurde. Das Schaf wurde dort mehrere Tage umsorgt und gepflegt, getränkt und gefüttert. Am Tag der Hausschlachtung am ersten Feiertag lief es ohne geführt zu werden an den Ort der Schlachtung, setzte sich unmittelbar neben die Grube, in der das Blut aufgefangen werden sollte und blickte uns, die wir um das Tier herum standen, mit einer Ruhe an, die ich niemals vergessen werde.« M. Hampe: Lehren der Philosophie, S. 81. Jonathan Burt: Conflicts around Slaughter, S. 121 (eig. Übers.). Heinrich-Böll-Stiftung: Fleischatlas 2018, S. 9 [Online-Dok.].

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Sie schreckt wohl eher vor dem zum Ideal erhobenen Zustand des Nicht-(mehr-)Seins zurück, in dem sie das Moment radikaler Negation des Lebens erkennt. Vergleichbar ist hier auch das mittlerweile vielfach diskutierte und auch praktizierte Modell des sog. »Zweinutzungstiers« – es reagiert auf die ›überschüssigen‹ Tiere, die die Tierindustrie etwa in Form der geschredderten männlichen Küken oder der Milchkuh-Kälber zu Millionen erzeugt. Auch hierauf nimmt der »Fleischatlas« Bezug und kommentiert die Situation wie folgt: »Doch endlich weiß auch die Öffentlichkeit um die weit darüber hinausgehenden Grausamkeiten der Spezialisierung. Allein in Deutschland werden jährlich bis zu 50 Millionen männliche Küken am ersten Lebenstag getötet, in der EU sind es über 300 Millionen. Der Grund: Die Brüder der Hennen der Legehybridlinien setzen kaum Fleisch an. Im Vergleich zu den auf extrem schnelles Wachstum gezüchteten Masthybridhühnern gelten sie als ökonomisch wertlos.«52 Möglicherweise überrascht es, dass die Schlussfolgerung aus dieser Beobachtung nun gerade nicht darin bestehen soll, das System insgesamt infrage zu stellen – der »Fleischatlas« setzt den geschilderten Problemen der ›überschüssigen‹ Tiere, deren Schicksal zuvor noch als Grausamkeit gebrandmarkt wurde, gerade keine systemische Antwort entgegen, sondern forciert mit den »Zweinutzungstieren« sogar noch jenes umfassende Paradigma der Verwertung, das zur geschilderten Misere überhaupt erst beigetragen haben dürfte. Nicht zuletzt sind es auch Phänomene wie die sog. Weideschlachtung, die die Bedeutung eschatologischer und insofern metaphysischer Grundannahmen nicht nur für eine Tiertheologie im engeren Sinne, sondern auch noch für säkulare Tierrechtstheorien besonders deutlich machen. Unter »Weideschlachtung« versteht etwa der ›Bio-Hof Ketteler‹, »dass die Ochsen […] bei uns in gewohnter Umgebung auf der Weide – während sie fressen oder ruhen – überraschend durch einen Schuss in den Kopf betäubt [werden]. Nach Kontrolle der Vitalzeichen werden sie durch Blutentzug getötet. Die anderen Ochsen reagieren auf den Schuss minimal bis gar nicht. Im Fleisch sind weniger Stresshormone (Adrenalin und Noradrenalin). Das führt zu einer höheren Fleischqualität und einem besonders feinen Geschmack.«53 Dieser Beschreibung wird man zugutehalten müssen, dass sie die Motivation für die ›Weideschlachtung‹ sehr klar auf den Punkt bringt: »Kein Stress gibt besseres Fleisch«54 , heißt es dort lapidar. Wer einmal entsprechende Bilder oder Videos von sog. Weideschlachtungen im Netz sucht, wird vielleicht beim Betrachten von Szenen Bedenken verspüren, die neben idyllischen Berglandschaften, grünen Wiesen, blühenden Pflanzen und aufmerksam in die Kamera blickenden Rindern eben stets auch einen Menschen zeigen, der einem (anderen) Tier einen Gewehrkolben an den Kopf hält. Diese ›Idylle mit tötendem Menschen‹ zeigt vielleicht in aller Deutlichkeit die Diskrepanzen, um die es hier geht: Natürlich mag man eine solche Form der Tötung gemessen an den klassischen tierethischen Kalkülen als die weniger leid- und schmerzvolle Variante bewerten können, zumindest wenn man sie mit der konventionellen Tierhaltung vergleicht (und nicht mit der ebenso denkbaren Option, auf die Tötung ganz zu verzichten). Das tiefe Unbehagen, das derartige Bilder trotzdem – oder gerade deswegen? – vermitteln, hängt aber auch damit zusammen, 52 53 54

Ebd., S. 30. Ohne Autorenangabe: Weideschlachtung [Online-Dok.] Ebd.

Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren

dass sie eine Tötungshandlung derart einnormalisieren, dass sie hier kaum noch als das Übel inszeniert und verstanden wird, das sie de facto doch immer noch darstellt. Der als natürlich inszenierte Tod der Tiere, der hier und an vielen anderen Stellen immer wieder als vermeintlich angemessene Deutungsfolie insinuiert wird, ist in gewisser Hinsicht nur das – gleichermaßen säkularisierte wie zutiefst theologische – Erbe einer Tradition, für die das Leben der Tiere nicht nur teleologisch vollständig auf den Menschen hin ausgerichtet ist, sondern die gerade mit dem Ausschluss der Tiere aus der Eschatologie dieses Bild eines ›natürlichen Todes‹ gestiftet hat.

4.

Theologische Biomacht

Neben dem inneren Kreis der rituellen Gewalt beschreibt die These von der nihilistischen Gewalt ein umfassenderes, dogmatisch-getragenes Bedingungsgefüge, das sich in der rituellen Gewalt zwar der Sache nach bereits andeutet, insofern Tiere auch hier als grundsätzlich tötbar verstanden werden müssen. Trotzdem radikalisiert die nihilistische Gewalt dieses Moment zugleich auch, weil sie der ursprünglichen Motivlage hinter der rituellen Tiertötung widerspricht. Die (möglichen) Gründe für diese Radikalisierung sollen abschließend mit Michel Foucaults Konzept der Biomacht thematisiert werden.

4.1

Foucaults Konzept der Biomacht

Foucaults Ansatz setzt voraus, dass sich Machtverhältnisse und die Formen der Machtausübung im Übergang zur Moderne grundlegend neu darstellen. Während für die Vormoderne noch der Typus repressiver, d.h. auf den individuellen Körper einwirkender Macht die Norm darstellt, der im Falle von Abweichungen (körperliche) Strafsanktionen vorsah, beobachtet Foucault mit der Moderne eine Phasenverschiebung: Nicht mehr die Drohung mit dem Tod oder anderen (Marter-)Strafen sei nun Merkmal von (nicht nur: staatlicher) Macht, sondern die systematische Steigerung des Lebens: Insbesondere die (auch theologisch oft und gern aufgegriffene) Rhetorik von der »Verantwortung für das Leben«55 schaffe der Macht in der Moderne Zugang zu den Körpern: »Sie konstituiert eine Regierungsweise, in der sich die Anregung des Lebens zu Wachstum und Reproduktion mit einem epidemiologischen [!] Weltbild verschränkt, das die Gefahren und Bedrohungen des als schutzbedürftig und verletzlich begriffenen Lebens identifiziert und diese unter Kontrolle zu bringen sucht. […] Das Leben wird hier als Vermögen begriffen, das dem Tod entgegensteht, und dessen Entfaltung zugleich befördert als auch vor schädlichen Einflüssen abgesichert werden muss. In der Biomacht verschränken sich folglich Praktiken, die darauf zielen, ›das Leben aufzuwerten, seine Dauer zu verlängern, seine Möglichkeiten zu vervielfachen‹, mit Praktiken, die darauf zielen, ›seine Mängel zu kompensieren‹ und ›Unfälle fern zu halten‹.«56 55 56

M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 170. M. Laufenberg: Sexualität und Biomacht, S. 112; die Binnenzitate stammen aus M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 300.

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Dieses moderne Lebensmanagement, das von einem mehr oder weniger subtilen System von Anreiz und Warnung ausgeht57 , setzt Foucault der vormodernen Verbotslogik entgegen.58 Während also die vormoderne Macht der Logik des »leben lassen und sterben machen« folgt, durchläuft diese Struktur Foucault zufolge mit der Moderne eine radikale Transformation: Eine »relative Herrschaft über das Leben beseitigte einige der Drohungen des Todes«59 – vielleicht auch deswegen, weil der Tod etwa mit dem 18. Jahrhundert zwar immer noch präsent im Leben der Menschen ist, ihm aber nicht mehr beständig etwa durch Pest- oder Hungerkatastrophen »auf den Fersen zu sein scheint«60 . So wandelt sich die Struktur des »leben lassen und sterben machen« in das spiegelbildliche Recht »sterben zu lassen und leben zu machen«. Mit der modernen Entdeckung der Steigerbarkeit und Vermehrbarkeit des Lebens wie auch der zumindest gelegentlichen Abwendbarkeit des Sterbens deutet sich jener fundamentale Wechsel hin zu einer Macht an, die sich fortwährend dazu anschickt, das »Leben im ganzen zu steigern, ohne dessen Unterwerfung zu erschweren«61 . Was das konkret bedeutet, hat die Darmstädter Philosophin Petra Gehring auf den Punkt gebracht: »Die Biomacht entdeckt die Bevölkerungspolitik, die sozialhygienische Gattungsverbesserung, die genetische Qualität des Einzelnen und der Art. Sie erfindet den biologischen Mehrwert.«62 Anders als es der Begriff vielleicht nahelegt, ist die Biomacht dabei keine Machtform, die sich durch eine besondere Gewaltlosigkeit auszeichnet: Auch sie übt ihr Recht zu töten aus, und birgt, wie der Jenaer Soziologe Mike Laufenberg formuliert, »ihren Umschlag in eine ›Todes-Macht‹ im modernen Staat als permanente Möglichkeit in sich […]«63 . Die Anlässe für diesen Umschlag macht Laufenberg dabei am Motiv des Rassismus fest, einer Form der Abwertung also, die bereits an vielen anderen Stellen mit speziesistischen Denkmustern verglichen wurde. Töten könne der liberale, biomächtige Staat dabei nicht nur im wörtlichen Sinne, sondern auch im Sinne von indirekten Formen – Laufenberg nennt u.a. staatliche bzw. machtpolitische Optionen wie die Vertreibung, Abschiebung, die sonstige Erhöhung des Todesrisikos, den politischen (und wohl auch: sozialen) Tod.64 Die moderne Biomacht führe zwar zu einer stärkeren Begründungsbedürftigkeit der Todesstrafe, gleichwohl ermöglicht auch, dass rechtens jene Lebewesen getötet werden könnten, »die für die anderen eine Art biologische Gefahr darstellen«65 . Diesen Maßnahmen stehen jene Formen der Biomacht gegenüber, die in anderes Leben investieren, indem sie dessen Qualität oder Quantität vergrößern, und die das Leben, um es in Schutz zu nehmen, bürokratisch erfassen, beobachten 57 58

59 60 61 62 63 64 65

Vgl. P. Gehring: Was ist Biomacht, S. 15. Ein weiterer Typus von Macht, wie sie Foucault im Übergang zur Moderne beschreibt, ist die Disziplinarmacht, die ebenfalls bereits tiertheoretisch beleuchtet wurde, vgl. S. Thierman: Apparatuses of Animality, S. 96-104, der Schlachthäuser als Orte radikaler Disizplinarmacht deutet. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 137. Ebd. Ebd., S. 136. P. Gehring: Was ist Biomacht, S. 10. M. Laufenberg: Sexualität und Biomacht, S. 112. Vgl. ebd., S. 114. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 134.

Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren

und diagnostizieren.66 Zwischen beiden Waagschalen besteht dabei ein offensichtlicher Zusammenhang, der heute ebenso auf das Verhältnis zwischen »dem Menschen« und »dem Tier« anzuwenden ist, und der mitunter sogar unterschwellig religiöse Semantiken heraufbeschwört: »Der Tod des Anderen bedeutet nicht einfach mein Überleben in der Weise, dass er meine persönliche Sicherheit erhöht; der Tod des Anderen […] wird das Leben im allgemeinen gesünder machen; gesünder und reiner [!].«67

4.2

Theologische Biomacht

Foucaults Konzept der Biomacht wäre dabei wohl noch weit über den Kreis der Tiertheologie hinaus auf seine Schnittmengen mit der (insbes. katholischen) Theologie hin zu befragen, hat aber im Rahmen unserer Überlegungen die Funktion, die Formen und Normen jener Machtanstrengungen und Gewalthandlungen gegenüber Tieren als Ausdruck des Bestrebens zu deuten, die zu verschwimmen drohende Trennlinie zwischen Menschen und (anderen) Tieren stets aufs Neue und im Sinne der biomächtigen Produktion des Humanums zu befestigen. Die Formen religiöser Gewalt müssen demnach an Wesen erprobt und systematisch durchexerziert werden, die dem Menschen einerseits nah sind und über vergleichbare Ausdrucksformen des Leidens verfügen68 , die aber durch die ihnen angetane Gewalt immer aufs Neue in ihrem Status an bloßes Tier bestätigt werden. Mit dem – unverstellten – Blick auf das Leben der Tiere in unserer modernen Gesellschaft, das mit sehr wenigen Ausnahmen von einer derart unvorstellbaren und permanenten Gewalt geprägt ist, zeigt sich dann sehr deutlich, dass die Kehrseite der biomächtigen Beförderung menschlichen Lebens, seiner Auszeichnung und Erhebung zum ›animal rationale‹, der Stewardship-Ethik der biopolitischen Schöpfungsbewahrung, und vielen anderen, selbsteingeflüsterten Mantras, in einer derart grauenerregenden Realität jener Wesen besteht, die zur Aufrechterhaltung dieses Selbstbildes dem Tod und Schlimmerem geweiht wurden. Biopolitik ist daher stets als eine Machtform zu verstehen, die notwendigerweise Formen der Nekropolitik betreibt, wie es die italienische Philosophin Rosi Braidotti beschreibt: »Foucaults Begriff der Biomacht schärft […] nicht nur unseren Blick für die alles durchdringenden Techniken der Kontrolle und Überwachung einschließlich denen der Selbstkontrolle, sondern führt uns vor allem die paradoxe Nähe der Biomacht zu sozialen Praktiken vor Augen, die mit dem Tod im Sinne von Eliminierung, Ausschluss und Ausrottung zu tun haben. […] Bei der Biomacht handelt es sich also um ein brutales Regime gradueller, alles durchdringender Selektion, die sich in Form der Kontrolle des Rechts auf »Leben«, verstanden als Überleben, vollzieht. […] Nekro-Politik und Biomacht sind zwei Seiten einer Medaille.«69 Diese These, dass der Mensch zur Bestätigung seiner unbedingten Gewolltseins, seiner Einmaligkeit, seiner Superiorität einer möglichst effektiven Kontrastfolie in Form

66 67 68 69

Vgl. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 103f. M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 302. Vgl. K. Steel: How to Make a Human, S. 59: »No one’s humanity is reassured by destroying a rock.« R. Braidotti: Zur Transposition des Lebens, S. 110.

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›des Tieres‹ bedarf, ist nun alles andere als neu.70 Was gleichwohl noch selten bemerkt wurde, ist die substanzielle Bedeutung, die die Gewalt an Tieren gerade auch für die theologische Herausbildung des menschlichen Selbstverständnisses besitzt. Diese Rolle der Tiere innerhalb der traditionellen Anthropologie im Einzelnen nachzuzeichnen bzw. kritisch zu rekonstruieren, wäre die Aufgabe für weitere umfassende Arbeiten; ich beschränke mich an dieser Stelle auf punktuelle Sichtungen. Es genügt wohl, eine beliebige theologische Anthropologie aufzuschlagen, um dieser Konstellation ansichtig zu werden. Während im beinahe 700seitigen »Handwörterbuch Theologische Anthropologie« der Begriff »Tier« erst gar nicht vorkommt71 , beziehen sich in der »Einführung in die theologische Anthropologie« von Wolfgang Schoberth72 ausnahmslos alle zwölf Registereinträge zum Stichwort »Tier« auf Aspekte des Menschseins, die als defizitär (»Die Sonderstellung des Menschen […] ist erst mit der Dimension erfasst, die sich gerade nicht als ›Natur‹ beschreiben lässt und nicht mehr als Stufe des Lebens erfasst werden kann«73 ) oder gar als moralisch korrumpiert (»Herrschaft über die eigene Tierheit«74 ) betrachtet werden. Selbst die hier bereits anklingende Wahrnehmung der menschengemachten ökologischen Katastrophe wird hier noch – fatalerweise – als menschliches Alleinstellungsmerkmal gepriesen: »Während nämlich Tiere in je spezifische[n] ökologischen Bedingungen eingepasst sind, dokumentiert bereits die Verbreitung des Menschen über fast den gesamten Globus seine Fähigkeit zur Erschließung der verschiedensten Lebensräume.«75 Wenn sich die Theologie tatsächlich als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Glauben versteht, dann teile ich das Erschrecken über die letztlich wissenschaftsfeindliche Apologie, mit der gegen jede Evidenz des Gegenteils bis heute an unhaltbaren Setzungen wie der fundamentalen Opposition von ›Mensch‹ und ›Tier‹ festgehalten wird. Angesichts der oben geschilderten Befunde dürfte eine weiterführende Auseinandersetzung mit den anthropologischen, d.h.: anthropozentrischen Ansätzen kaum in einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den entsprechenden Vorschlägen bestehen – legt man die Irritationsresistenz zugrunde, mit der diese verteidigt werden, dann dürfte vielmehr die Frage hilfreich sein, warum eigentlich so viele – insbesondere religiöse – Menschen die Abwertung anderer Lebewesen zur Sicherung ihres eigenen Selbstverständnisses zu benötigen scheinen. Woher rührt das Bedürfnis für eine derartige Suche nach Unterscheidungen – gerade im Angesicht einer epochalen Krise, die wie vielleicht keine zuvor die Folgen des ökologischen Selbstentzugs des Menschen zu tragen hat? Warum ist den anthropologischen Entwürfen an keiner einzigen Stelle der teilweise 70 71 72 73

74 75

Vgl. G. Agamben: Das Offene, S. 21f. Vgl. B. Stubenrauch et al. (Hg.): Handwörterbuch Theologische Anthropologie. Vgl. W. Schoberth: Einführung Anthropologie. Ebd., S. 63. Prototypisch für die vergleichbare katholische Sichtweise dürfte wohl Rahners Bemerkung sein, die die Offenheit des Menschen auf Gott hin als Alleinstellungsmerkmal verstehen will, selbstverständlich auch hier bedingt durch die notwendig werdende Kontrastfolie »des Tieres«: Wenn diese Transzendenzbeziehung wegfiele, so Rahner, »würde [der Mensch] aufhören, ein Mensch zu sein. Er hätte sich zurückgekreuzt zum findigen Tier.« K. Rahner: Grundkurs des Glaubens, S. 57f. W. Schoberth: Einführung Anthropologie, S. 29. Ebd., 64.

Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren

mehrere hundert Seiten langen Texte die positive Erwähnung der Nähe von Menschen und (anderen) Tieren auch nur eine Randbemerkung wert? Warum nimmt eine ganze akademische Zunft derart hanebüchene Argumente seit Jahrzehnten und länger noch vollkommen kritiklos hin und ergeht sich stattdessen in narzisstischen Selbsteinflüsterungen? Möglich ist all dies wohl nur, weil die Theologien auch heute noch in dem Bewusstsein agieren, was mit der verteufelten Tierheit des Menschen auf dem Spiel zu stehen scheint. Vor allem muss es heute um eine Auseinandersetzung mit der strategischen Bedeutung der klassischen Anthropologie gehen. Von daher dürfte alsbald deutlich werden, dass mit der Abwertung der Tiere die Exklusivität menschlicher Erlösung herauszustellen war. Die Möglichkeit der Solidarität mit den (anderen) Tieren schien von dieser Warte her lange Zeit derart absurd, dass einzig die Option auf die Bekämpfung nicht nur des Tierlichen, sondern der Tiere überhaupt zu bestehen schien, an der sich auch die Theologie nicht nur ausgesprochen erfolgreich, sondern auch unter Bereitstellung entscheidender und bis heute nachwirkender Dispositive der Gewalt beteiligt hat. Eine Theologie, die die heute meist aus anderen Disziplinen an sie herangetragenen Anfragen zu ihrem elitären Menschenbild ignoriert, das sie mit großem Aufwand, aber stets auf Kosten der (anderen) Tiere etabliert hat, handelt mehr als fahrlässig – »und es gibt«, darin ist dem Religionskritiker Christoph Türcke zuzustimmen, »immer noch ganze Fakultäten, an denen solche Fahrlässigkeit Einstellungsbedingung ist.«76

5.

Zu den Beiträgen dieses Bandes

Dieser Band versammelt Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen und Kontexten, die sich kritisch mit der Rolle der Religion(en) und ihrem theoretischen wie praktischen Umgang mit den nichtmenschlichen Tieren befassen. Insbesondere weil die Forderungen nicht nur nach mehr Tierschutz, nach einer umfassenderen rechtlichen Berücksichtigung tierlicher Interessen, sondern auch nach einer grundlegenden Revision des Verhältnisses von Menschen und anderen Tieren bis dato fast ausschließlich von außen an die Theologie(n) getragen werden mussten, folgen die einzelnen Beiträge dem Selbstverständnis einer multiperspektivischen und kritischen Rekonstruktion religiöser Gewalt an (nichtmenschlichen) Tieren:   Gregor Taxachers Beitrag befasst sich mit den dogmatischen Gründen für die »christliche Kälte gegenüber Tieren« und verortet diese Gründe in der klassischen gnadentheologischen Ständelehre, deren geistesgeschichtliche Ausläufer weit über die binnentheologischen Diskussionen hinausreichen, wie ein Vergleich mit Nietzsches Ideal des Übermenschen belegt: Die Vorstellung des zu einem übernatürlichen Endziel berufenen Menschen bildet demnach jene christliche Formation, die zur beständigen Abwehr alles ›nur Natürlichen‹ und damit auch der Tiere Anlass gab und die oft noch bis heute »das Sündige und Verlorene mit dem Animalischen gleichsetzt«.

76

C. Türcke: Gott – inexistent, aber unabweisbar, S. 117.

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Mein eigener Beitrag rekonstruiert die Gewalt an Tieren ausgehend von der Dimension der Körperlichkeit: Unter Rückgriff auf die (neu-)scholastische anima-forma-corporisLehre hat die Theologie die Unterscheidung von Menschen und Tieren nicht nur in kognitiven Merkmalen wie der Vernunft gesucht, sondern letztere stets auch mit der Annahme verknüpft, dass menschliche und tierliche Körper substantiell verschieden seien: Theologisch produziert wurde auf diese Weise ein unverletzbarer, nicht konsumierbarer menschlicher Körper auf der einen, sowie ein grundsätzlich verzehrbarer und deformierbarer Tierkörper auf der anderen Seite – und damit eine Sicht auf das Verhältnis von Menschen und (anderen) Tieren, die sich längst über die binnentheologischen Diskurse hinaus verselbstständigt hat.   Julia Enxing untersucht die strukturelle Nähe zwischen der Gewalt an nichtmännlichem und nichtmenschlichem Leben: Gewalt an Tieren erfährt immer noch gesellschaftliche Akzeptanz und wird mitunter als notwendiger Bestandteil in der Herausbildung des menschlichen, insbesondere aber männlichen Selbstbildes konzeptualisiert. Dies führt auch dazu, dass Frauen wie Tiere verstärkt Opfer von Gewalt werden: »Ein Grund für die Überschneidung der Gewaltfelder liegt in der Konstruktion von Andersartigkeiten, mit der nicht nur Tiere, sondern auch Frauen belegt sind.« Enxing zeigt daher entlang von zwei wirkmächtigen christlichen Narrativen auf, wie diese ein Othering des Nichtmenschlichen betrieben haben, und fragt zugleich nach alternativen Schöpfungsnarrativen, die diese Gewaltstrukturen überwinden.   Johann S. Ach rekonstruiert in seinem Beitrag die strategische Funktion der theologischen Formel von der »Mitgeschöpflichkeit«, die von theologischen Stellungnahmen und kirchlichen Verlautbarungen gleichermaßen gern aufgegriffen wird und nicht selten als Ausweis einer besonderen kirchlichen ›Tierfreundlichkeit‹ verstanden wird. Ach attestiert dieser Formel, dass sie »in verhängnisvoller Weise an der großen speziesistischen Erzählung teilhat«, die Gewalt an Tieren bis heute legitimiert. Ausgehend von der EKD-Studie »Nutztier und Mitgeschöpf!« von 2019 zeichnet der Beitrag nach, wie der Begriff der Mitgeschöpflichkeit theologisch so instrumentalisiert wird, dass sich nahezu jeder Umgang mit Tieren auf diesen Begriff berufen kann, der damit letztlich allein der Rechtfertigung des gewalthaltigen Status quo dient.   Ina Wunn beleuchtet in ihrem Beitrag das Phänomen der Gewalt an Tieren aus einer religionsethologischen und evolutionären Perspektive. Im Verhältnis zu den nichtmenschlichen Tieren lässt sich auch das religiöse menschliche Verhalten als ökonomisch motiviert verstehen: »Ist das Mitgeschöpf, das Tier, eine potenzielle Ressource, so wird der Mensch seinem Überleben bzw. Wohlergehen eine gewisse Aufmerksamkeit widmen. Ist das Tier jedoch ein Nahrungskonkurrent, wird es als Schädling wahrgenommen und gnadenlos verfolgt.« Von dieser Überlegung her stellt sich für Wunn die Frage, ob nicht auch die aktuellen, zaghaften Neuansätze innerhalb der Religionen im Angesicht der ökologischen Krise von diesem Kalkül beherrscht sind.   Jaqueline Jüling untersucht in ihrem Beitrag das Phänomen religiöser Gewalt an Tieren aus der Perspektive der Postcolonial Studies: Während Edwards Saids, Gayatri Cha-

Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren

kravorty Spivaks und Homi Bhabhas Beiträge zur postkolonialen Theoriebildung einerseits herangezogen werden, um die Konstruktion ›des Tiers‹ bzw. des Tierlichen auch in theologischen Entwürfen umfassender kritisieren zu können, plädiert Jüling zugleich dafür, zur Überwindung dieser Gewalt die Impulse einer ökologischen und animalischen Theologie als Korrektiv für den Postkolonialismus zu begreifen: »Für die beiden Forschungsdisziplinen ist es daher bedeutsam, dass das Kollektiv der Schöpfungsgemeinschaft in den Vordergrund rückt.«   Christian Arleth stellt in seinem Beitrag die Frage, ob religiöse Gewalt an Tieren und insbesondere das religiöse, betäubungslose Schlachten als grundrechtskonform gelten kann. Der Beitrag rekonstruiert dabei nicht nur die historische Genese und die juristische Dimension dieses Problems, sondern zeichnet auch nach, in welchem Ausmaß Religionen bis heute dazu beitragen, dass Tiere objektifiziert und ihrer Würde beraubt werden. Rituelles betäubungsloses Schächten, so Arleth, muss angesichts des Ausmaßes an tierlichem Leiden sowie angesichts der rechtlichen Versäumnisse deshalb notwendigerweise als Verstoß gegen den »ordre public« und als Usurpation des staatlichen Gewaltmonopols verstanden werden: Grundrechtlich sollte es entsprechend weder als Religionsausübung (i.S.v. Art. 4 Abs. 2 GG) noch als Ausübung eines anderen Grundrechts wie der Berufs- oder allgemeinen Handlungsfreiheit verstanden werden.   Hartmut Kreß beleuchtet das Phänomen religiöser Gewalt aus dem Spannungsfeld von binnenreligiösen und säkularen Diskursen: Im Fokus steht dabei zunächst die binnenreligiös-legitimierte Gewalt des religiösen Schlachtens sowie die Frage danach, wie diese Gewalt säkularrechtlich bewertet wurde. Zudem wird die weitestgehend religionsexterne Gewalt an Tieren im Kontext moderner biotechnologischer Verfahren wie der Xenotransplantation bzw. der Stammzellforschung daraufhin befragt, wie sie von Vertreter*innen der Religionen rezipiert wurde: Bis in die jüngste Gegenwart hinein, so zeigt dieser umfassende Blickwinkel, »tragen Religionen dazu bei, dass Gewalt an Tieren gesellschaftliche Normalität zu bleiben droht«.   Cornelia Mügge analysiert in ihrem Beitrag das Verhältnis der Theologie zu der Forderung nach Tierrechten: Ausgehend vom protestantischen Diskurs zeichnet sie dabei zunächst nach, mit welchen Argumenten diese Forderung vielfach zurückgewiesen wird. Auf der Grundlage einer fundierten Kritik der Diskussion um einen eigenschaftsorientierten Gerechtigkeitsbegriff, um die Bedeutung der (tierlichen) Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme sowie um die Relevanz ›realistischer‹ Maßstäbe innerhalb der Ethik zeigt Mügge, dass die restriktive Haltung der meisten theologischen Ethiken kaum überzeugt: Weitaus mehr Gründe sprechen dafür, »Gewalt gegenüber Tieren als grundsätzlich falsch zu betrachten. Es ist daher«, so Mügge, »eine wichtige Aufgabe theologischer Ethik, Ansätze zu entwickeln, die bei einer […] grundlegenden Gewaltkritik ansetzen.«   Thomas Rusters Beitrag gilt dem Zusammenhang zwischen der menschlichen und tierlichen Sklaverei: Während letztere gerade auch aufgrund ihrer Parallelität zur Versklavung von Menschen zwar in außerchristlichen Kontexten, insbesondere von Seiten der

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Tierrechtsbewegung wahrgenommen und kritisch rekonstruiert wurde, haben weder Theologie(n) noch Kirche(n) Kritik oder Befreiungsimpulse angesichts der Versklavung von Tieren entwickelt. Ruster sieht die Gründe dafür in der tiefen und strukturellen Verankerung des Sklaverei-Dispositivs im Christentum, das mitunter selbst noch die Erlösung aus der Sklaverei als einen bloßen Herrschaftswechsel in den Bereich Gottes als einzig legitimem ›Herrn‹ interpretierte. An einem neuen, gewaltfreien Dispositiv können Christ*innen erst beteiligt sein, »wenn sie zuvor ihre Bindung an die Formen des früheren Sklaverei-Dispositivs reflektiert und überwunden haben«.   Dem Konzept der (tierlichen) Souveränität widmet sich Marcus Held in seinem Beitrag: Auch angesichts der Schwierigkeiten, die der Begriff der (Tier-)Würde dort, wo er rechtlich implementiert wurde, mit sich gebracht hat, diskutiert Marcus Held, inwiefern die Vorstellung tierlicher Souveränität, wie sie insbesondere Jacques Derrida in seinen Werken entfaltet hat, geeignet ist, diese Probleme konzeptuell zu überbrücken: Aus den vorgestellten Überlegungen erwächst die Forderung nach einer (theologischen) Anerkennung dieser Souveränität und der »Zustimmung zu einer grundlegenden Freiheitsdimension – von Tieren als Mitgliedern unserer demokratischen Grundordnung«.   Ein Sammelband ist stets das Ergebnis vieler unterschiedlicher Stimmen, die hier zusammengefunden haben, um ein gleichermaßen unterbelichtetes wie drängendes Problem zu untersuchen. Als Herausgeberin danke ich allen Beteiligten nicht nur für die Zeit und die Arbeit, die sie in die Erstellung ihrer Beiträge investiert haben. Vor allem bedanke ich mich für das gemeinsame Engagement in der Sache wie für den fachlichen Austausch. Meinen Dortmunder Kolleg*innen am Lehrstuhl für Systematische Theologie – Prof. Dr. Thomas Ruster, Dr. theol. habil. Gregor Taxacher und Lisa-Marie Kaiser, M. Ed. – gilt ein besonderer Dank: Es ist ein Glücksfall, gemeinsam an dem Projekt der Aussöhnung der Theologie mit den (anderen) Tieren arbeiten zu dürfen. Unverzichtbar für diesen Band war in besonderer Weise auch meine Kollegin Laura Skowronek: Sie hat mit großer Übersicht, noch größerer Sorgfalt und beeindruckendem Engagement die Arbeit an der Drucklegung des Bandes begleitet, dafür danke ich ihr sehr herzlich.   Der VolkswagenStiftung (Hannover) danke ich für die großzügige finanzielle wie ideelle Förderung, die diesen Band ermöglicht hat.   Ein großer Dank gebührt schließlich auch Frau Katharina Kotschurin vom transcript Verlag für die stets verlässliche und engagierte verlegerische Begleitung.                                                                                                                                                Dortmund, im November 2020                                                                                                                                                                      Simone Horstmann

Dekonstruktionen religiöser Gewalt an nichtmenschlichen Tieren

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…töten, essen, verleugnen: Phänomenologien religiöser Gewalt an (nichtmenschlichen) Tieren

Über Natur und Übernatur Mutmaßung zur christlichen Kälte gegenüber Tieren Gregor Taxacher

1.

Katholische Familienaufstellung mit Katzen

Gewiss waren wir eine tierliebe Familie. Wir Kinder setzten irgendwann Wellensittiche durch und weiße Mäuse. Es gab Meerschweinchen. Und Katzen. Katzen hatten schon in der Kindheit meines Vaters eine große Rolle gespielt. Sein Liebling war Bummel gewesen, ein nie recht erwachsen gewordener Kater, der ihm gern seine aufgestellten Zinnsoldaten durcheinander fegte. Noch heute, mit 90 Jahren, erzählt mein Vater davon, wie er Bummel verlor, zurücklassen musste, weil die Familie umzog. Bummel blieb bei den neuen Bewohnern. Mein Vater aber war so unglücklich, dass meine Oma versuchte, den Kater nachzuholen; doch das wollten die neuen Besitzer nicht mehr. So brachte sie dem Sohn eine andere Katze mit; »das falscheste, was sie machen konnte«, sagt mein Vater. Sein Kater war also, wie die Katze Derridas1 , kein literarisches Tier, auch kein Exemplar, sondern ein Individuum. Warum war er dann später beim Katzenkonflikt in Österreich so harsch? In meiner Kindheit fuhren wir fast jährlich in die Sommerfrische auf einen Bergbauernhof im Salzburger Land. Ein Spielparadies für uns Kinder: Wiesen, Bach, Heuböden, Stall und der Hof mit der Kuhtränke aus einem ausgehöhlten Baumstamm, in deren Wasser wir vielfältige Kleinlebewesen fanden. Die Kühe wechselten täglich zwischen Stall und Weide. Das Jungvieh stand auf einer Hochalm, die wir erwanderten; sie war so weitläufig, dass wir kaum eines der Kälber fanden. Auch ein in der Wiese vor der Mähmaschine gerettetes Rehkitz wurde einmal auf dem Hof aufgezogen, stand da zutraulich und staksig zwischen den trinkenden Kühen. Die Truthühner gibbelten stets ängstlich auf, wenn sich am Himmel der Schatten eines Greifvogels zeigte und verzogen sich schnell in ihren Unterstand. Und natürlich Katzen. Einmal hatte eine Katze einen großen Wurf Junge, wir hatten sie im Heu gefunden und fasziniert beobachtet. Aber dann sickerte aus den Gesprächen der Erwachsenen durch, dass der Bauer die Jungen töten würde. Es waren aus seiner

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Vgl. J. Derrida: Das Tier, das ich also bin, S. 23-34.

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Sicht zu viele auf dem Hof. Wir waren entsetzt und schmiedeten vergebliche Pläne, die Jungen zu entführen, zu verstecken, zu retten. Und da reagierte mein Vater, der sonst durchaus kein besonders strenger Erzieher war, für uns erschreckend hart. Er wollte von diesen Sentimentalitäten nichts hören. So sei das eben auf einem Bauernhof. Ich habe manchmal darüber nachgedacht, was diese Szene mit der Religiosität des Vaters zu tun haben könnte. Der Zusammenhang fiel mir schon damals auf dem Bauernhof auf. Er war – in den 70er Jahren noch eine Seltenheit – ein Bio-Betrieb und zog deshalb manche ökologisch gesinnte Urlauber an, u.a. ein älteres Ehepaar, das wir Kinder »die Yogafritzen« nannten, weil sie täglich in der Pension ihre Matten ausbreiteten und ihre Übungen machten. Sie waren Vegetarier und verwickelten, nachdem sie erfahren hatten, dass er Religionslehrer war, meinen Vater in ein Gespräch über Jesus und die Tiere. Sie wollten sich nicht vorstellen müssen, dass Jesus tatsächlich »das Osterlamm gegessen habe«. Aber für meinen Vater war dieses Problem völlig unverständlich. Jesus war, so erwiderte er, historisch-kritisch geschult, eben ein Jude seiner Zeit. Fleischkonsum war ihm nicht problematisch. Vegetarismus insgesamt, aber erst recht aus religiösen Motiven, war für uns etwas Absonderliches für absonderliche Leute, Yogafritzen eben. Und das, obwohl meines Vaters Mutter Vegetarierin war! Meine Oma war stark beeinflusst durch die Reformbewegung der 20er Jahre. An Pflanzen durfte »keine Chemie«, gekocht wurde »Vollwert«. Salz und Zucker hielt sie für »Gift«. Bei letzterem allerdings machte sie für uns Kinder sehr sympathische Ausnahmen. Oma konnte Süßigkeiten einfach nicht widerstehen. Phasen größeren Süßkonsums, auch Kaffeeklatsche mit Sahnetorten wurden in der Familie »sündigen« genannt: »Da haben wir heute aber wieder ordentlich gesündigt!« Die Formulierung habe ich in katholischen Kreisen oft gehört; sie wurde stets auf Zuckerhaltiges bezogen, nie auf Fleisch. Auch meine Oma war Vegetarierin wohl nicht aus tierrechtlichen Überlegungen. In der Kriegszeit und kurz danach hielt die Familie Stallkaninchen, mitunter sogar ein Schwein zur Selbstversorgung. Die Urgroßmutter hatte lange in der Landwirtschaft gearbeitet. Eine bäuerlich-pragmatische Einstellung zu Nutztieren spielte bei der Haltung meines Vaters also sicher auch eine Rolle. Aber auch die ist ja typisch ländlichkatholisch. Das wird nicht weiter theologisch reflektiert, auch bei einem Religionslehrer nicht. Doch dass dies nicht nötig war, gehört eben auch zur katholischen Formation. Bis heute erlebe ich, dass Tierrechtsfragen und Kritik an Fleischkonsum katholischen Gemeinden sehr fremd bleiben. Bringt die Jugend einen Verzicht auf den großen Grillstand auf dem Pfarrfest ins Gespräch, fühlen sich die Ehrenamtlichen missachtet, die ihn jahrelang unter großem Einsatz betrieben haben. Veganer sind erst recht das, was uns Yogafritzen waren. Auch für mich, dem Vater im Theologiestudium folgend, spielten Tiere im religiösen Denken lange keine Rolle. Sie kamen da einfach nicht vor, hatten da irgendwie auch nichts zu suchen. Beim Glauben ging es um Gott und die Menschen. Heute denke ich darüber nach, warum das so ist. Warum ›Sentimentalität‹ gegenüber Tieren gerade für traditionell gläubige Menschen suspekt ist, warum man gerade als Katholik*in zu Tieren ein eher sachliches Verhältnis hat. Und warum schon die Andeutung eines Verwischens der Unterschiede zwischen Tieren und Mensch (etwa beim Mitbegraben eines Hundes) im Verdacht der Irrlehre steht. Was hängt für den Katholizismus – jedenfalls wie ich ihn kennengelernt habe – an der scharfen Trennung von

Über Natur und Übernatur

Menschen und nichtmenschlichen Tieren? Und inwieweit ist diese religiöse Konstellation mitverantwortlich für den brutalen, industriell verbrauchenden Umgang unserer Zivilisation mit Tieren? Denn schließlich sind wir doch alle eigentlich durchaus tierlieb.

2.

Nietzsche, das Pferd und der Übermensch

Das Nachdenken über diese Fragen hat mich auf einen Umweg geschickt ausgerechnet zum selbsternannten »Antichristen« Friedrich Nietzsche. Von der letzten Zeit seines Lebens in Turin im Jahr 1889 wird von ihm berichtet, er habe einmal »die Arme um den Hals des Pferdes einer Mietkutsche geschlungen und wollte ihn nicht mehr loslassen. Er hatte gesehen, wie der Kutscher den Vierbeiner geschlagen hatte und dabei einen so ungeheuren Schmerz empfunden, dass er sich veranlasst sah, dem Tier seine Zuneigung zu bezeugen.« Die Geschichte wird nirgends von Nietzsche selbst berichtet; auch sein Freund Franz Overbeck, der den in Wahnsinn abgeglittenen Philosophen in Italien aufsuchte und nach Basel zurückholte, erwähnt sie nicht, sondern erst 1932 der Turiner Journalist Ugo Podach, der sich auf mündliche Überlieferung in der Stadt beruft. Jedenfalls gehört sie nicht zu den späteren manipulativen Eingriffen seiner Schwester Elisabeth FörsterNietzsche in Nietzsches Biografie.2 Nietzsches späte Wendung zu den Tieren findet sich in seinem Werk jedoch anderweitig dokumentiert: »Ich suche mir ein Tier, das mir nach tanzt und ein ganz klein bisschen mich – liebt …«3 , notiert er Mitte 1888. In Dramenfragmenten, die er später noch in Basel entwirft, stirbt Empedokles »mit einem Tier«4 . Und in seinem Weihnachtsbrief an die Mutter, also wenige Wochen vor dem Zusammenbruch, bezeichnet er sich selbst nicht nur als »ein ungeheuer berühmtes Thier«, sondern nennt sich auch mehrfach »Dein altes Geschöpf«5 . Vor allem jedoch hat Nietzsche eine etwas andere Episode mit einem Pferd in Turin noch selbst in einem Brief berichtet, am 13. Mai 1888 an Reinhart von Seydlitz in München – allerdings als eine Fiktion, die er sich selbst vorstellt: »Winterlandschaft. Ein alter Fuhrmann, der mit dem Ausdruck des brutalsten Cynismus, härter noch als der Winter ringsherum, sein Wasser an seinem eigenen Pferd abschlägt. Das Pferd, die arme geschundne Creatur, blickt sich um, dankbar, sehr dankbar –.«6

2

3 4 5 6

Zur schwierigen historischen Verifizierung der Szene vgl. W. Ross: Der ängstliche Adler, S. 784f.; vgl. ebenfalls H. Althaus: Friedrich Nietzsche, S. 552, und insgesamt A. Kilb: Das alte Geschöpf, S. 37ff. (dem das Zitat entnommen ist). Zitiert nach W. Ross: Der ängstliche Adler, S. 784. Ebd., S. 785. G. Colli, Giorgio/M. Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche – Briefe, S. 542-544. Ebd., S. 314.

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Dankbar ist das Pferd offenbar wegen der Wärme des Urins, eine in der Kälte natürlich nur ganz kurze Erleichterung. Die Dankbarkeit des Pferdes läuft ins Leere; sie antwortet auf die nicht durchschaute Brutalität und Erniedrigung durch den Halter. Ein Zugpferd, einen brutaler Kutscher und das Sich-Einfühlen in das Pferd, welches in eine innere Identifikation drängt, haben die von Nietzsche vorgestellte Szene und die über ihn berichtete gemeinsam. Dennoch kann die Briefstelle kaum die Kutscherpferdszene beeinflusst, vielleicht gar als Mythos angestoßen haben – denn die Turiner samt dem Journalisten Podach kannten diesen privaten Brief nicht. Das macht die Umarmungs-Szene eher wahrscheinlich: Sie lag der Vorstellungswelt Nietzsches kurz vor dem offenen Ausbruch seiner Geisteskrankheit nahe. Das »alte Geschöpf« und die »geschundne Creatur«, ein Mensch am Abgrund seiner Selbstauflösung und das erniedrigte Nutztier begegnen einander, berühren sich, gehören irgendwie zusammen. Jean-Christophe Bailly erinnert ohne Bezug auf Nietzsche an eine recht genau hundert Jahre ältere Romanszene, die der Turiner sehr verwandt erscheint: Karl Philipp Moritz schildert von seinem Protagonisten Anton Reiser (1785), er habe immer wieder die Kälber beim Schlachter aufgesucht, und »er lehnte sich, wie er es bei fremden Menschen machte, so dicht wie möglich an dasselbe an, oft mit dem törichten Wahn, ob es ihm nicht vielleicht möglich würde, sich nach und nach in das Wesen eines solchen Tieres hineinzudenken […], dass er wirklich glaubte, auf einen Augenblick die Art des Daseins eines solchen Wesens empfunden zu haben.«7 Ich deute die Szene ein wenig anders als Bailly (der ganz auf den Blick-Kontakt zwischen Mensch und Tier abhebt). Anton Reiser hat zuvor einer Hinrichtung beigewohnt. Dieses Trauma »löst für ihn die Grenze auf, die den Menschen vom Vieh trennt«8 , was der Roman in einem Zitat aus Kohelet 3,19 ausdrückt: »der Mensch ist wie das Vieh; und wie das Vieh stirbt, so stirbt er auch.« So sucht Reiser auch nicht irgendwelche Kälber auf, sondern jene, die schon ausgesondert sind für die Schlachtung. Die Annäherung an das Innere des Tieres findet also statt in einer Solidarität der leidenden Geschöpfe, denen Gewalt angetan wird. Das verbindet die Szene mit der von Turin. Der Romanerzähler kommentiert die Annäherungsversuche des Protagonisten als »törichten Wahn«; so wie auch die Turiner Szene(n) in die unmittelbare Vorgeschichte von Nietzsches sich anbahnenden Wahn gehören. Offenbar gehört die Annäherung an das Tier in dieser körperlichen Emphase – des Anlehnens und Umarmens – und in dieser Intensität der seelischen Solidarität im europäischen kulturellen Kontext als markante Grenzüberschreitung in die Nähe des Wahnsinns. Denn hier wird etwas aufgekündigt, was die europäische Vernunft konstituiert, was sie festhält. So heißt es von Raiser in seiner wahnhaften Suche nach dem Inneren des Kalbes zugleich: »Es lag ihm alles daran, den Unterschied zwischen sich und dem Tier zu wissen.«9 Reiser will sich gleichzeitig in das Kalb hineindenken und sich des Unterschiedes zu ihm vergewissern, da ihm ja genau dieser seit der Hinrichtung fraglich geworden ist. Die Konstruktion seiner Identität steht in diesem Experiment auf dem Spiel, so wie sie bei Nietzsche in Turin psychisch tatsächlich ins Wanken gerät. 7 8 9

Zitiert nach J.-C. Bailly: Der Blick der Tiere, S. 42. Ebd. (Baillys Formulierung). Zitiert nach ebd.

Über Natur und Übernatur

Auf die Nietzsche-Rezeption hat die Turiner Szene aber wohl auch deshalb so nachhaltigen Eindruck gemacht, weil sie in einem so offensichtlichen Missverhältnis zu den großen Slogans des Denkens Nietzsches steht: Was könnte dem Polemiker gegen christliche »Sklaven- und Mitleidsmoral«, dem Denker eines »Willens zur Macht« – »jenseits von Gut und Böse« –, dem Proklamateur der »Umwertung aller Werte« ferner liegen als solch ein ausuferndes Mitgefühl mit den Sklaven der Sklaven, den unter ihren durch eigene Erniedrigung hart gewordenen Haltern leidenden Tieren? »Ich lehre euch den Übermenschen«, sagt Nietzsches Zarathustra: »Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss.«10 Tatsächlich ist dieser Übermensch deutlich in ein Dreiecksverhältnis zwischen ihm, Mensch und Tier eingeschrieben. Gleich in der Vorrede setzt sich diese philosophische Prophetie unüberlesbar ins Verhältnis zu der gerade aktuellen Debatte um den Darwinismus: »Alle Wesen schufen etwas über sich hinaus«, predigt Zarathustra den Menschen, und schließt den Vorwurf an: »Und ihr wollt […] lieber noch zum Thiere zurückgehen, als den Menschen überwinden?« Der Mensch soll einmal für den Übermenschen das sein, was jetzt der Affe für den Menschen ist: »ein Gelächter und eine schmerzliche Scham.« Diese Scham gehört in die Diskussion um die neue Abstammungslehre, die des Menschen Eitelkeit mit dem Nachweis seiner Verwandtschaft mit den Affen beschämt. Zarathustra streut Salz in diese frische Wunde: »Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe.«11 Erst mit dem Projekt des Übermenschentums lässt sich diese Beschämung überwinden. »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, ein Seil über einem Abgrunde.« Menschen, welche das Projekt annehmen, sind »Pfeile der Sehnsucht nach dem anderen Ufer.«12 Wenn der Mensch sich ausstreckt nach einem neuen Menschsein, muss sein altes dem Untergang geweiht werden. Was zu vergehen hat, nennt Zarathustra den »letzten Menschen«, den er als klein, genügsam und verächtlich zeichnet: »wie der Erdfloh«13 . Dieser Mensch hält sich für glücklich und gesund, ist aber ein gleichgemachtes Herdentier – eine Karikatur des Spießbürgers. Ihm, aber auch Zarathustra selbst wird in der Vorrede refrainartig der »Untergang« geweissagt. »Ich liebe den, der über sich selbst hinaus schaffen will und so zu Grunde geht«14 , heißt es später. Die Gegenwart erscheint als »der große Mittag«, ein Zenit und Kipppunkt zugleich, »da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch«15 . Wer sich in dieser Mitte erkennt, der distanziert sich schon von seinen Mitmenschen, so wie der Mensch entwicklungsgeschichtlich sich vom Tier

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G. Colli/M. Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche – Zarathustra, S. 14. Alle Zitate ebd. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 83. Auch: »Die Sorglichsten fragen heute: ›wie bleibt der Mensch erhalten?‹ Zarathustra aber fragt als der Einzige und Erste: ›wie wird der Mensch überwunden?‹« (ebd., S. 357); eine Formulierung, die an heutige Debatten um Transhumanismus erinnert (wirkungsgeschichtlich wohl nicht zufällig). Ebd., S. 102.

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distanzierte; er »wandelt unter den Menschen als unter den Thieren. Der Mensch selber aber heißt dem Erkennenden: das Thier, das rothe Backen hat«16 . Die Theologie kann in dieser Versuchsanordnung unschwer eigene traditionelle Motive verfremdet wiedererkennen: Auch im Christlichen geht es (in paulinischen Formulierungen) um die Überwindung, ja das Sterben des ›alten Menschen‹, um ein zu gewinnendes neues Menschsein. Auch hier gibt es das Sich-Ausstrecken nach einem anderen Ufer, die eigene vorläufige Existenz in einer eschatologischen Spannung zwischen ›Schon‹ und ›Noch nicht‹. Allerdings will Nietzsche mit der Verkündigung des Übermenschen gerade diese traditionelle Formation aufbrechen: »Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehre ich euch sagen: Übermensch.«17 Der Übermensch erscheint hier als neue inhaltliche Bestimmung der Transzendenzerfahrung – eine echte »Umbesetzung«18 im Sinne Hans Blumenbergs. Doch welche neue Position erhalten die Tiere in dieser Umbesetzung, wenn es des Menschen Aufgabe ist, »dass er dem Übermenschen das Haus baue und zu ihm Erde, Thier und Pflanze vorbereite«19 ? Muss die außermenschliche Natur auf dem Weg zum Übermenschen irgendwie mitgenommen und umgestaltet werden? Schließlich sind Tiere – etwa Adler und Schlange, das stolzeste und das klügste20 – Zarathustras Begleiter! Nietzsche thematisiert dies ausgerechnet in dem Zusammenhang, der für die Turiner Szenen von entscheidendem Belang ist: In Zarathustras Rede »Von den Mitleidigen«21 polemisiert er gegen das sentimentale Mitleiden, das sich zum Leid hinabbeugt, sich dadurch selbst erniedrigt und nichts ändert. Es geht hier keineswegs darum, Helfen und Liebe abzuschaffen, keineswegs um eine erbarmungslose »Herrenmoral«, auf die man Nietzsche später festlegen wollte. Nietzsches Zarathustra weiß, dass echtes Helfen und wirksame Liebe »eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden ist«, tätig und ändernd, und dass eine gute Selbstsorge oft besser mit Leidvermeidung korrespondiert als verkrampfte Selbstlosigkeit. Dennoch werden die Mitleidigen und Barmherzigen letztlich kritisiert, weil es ihnen an »Scham« gebreche – also genau an dem, was die Menschen angesichts der Tiere und den Übermenschen angesichts der Menschen befällt. Scham angesichts des Leidenden zielt darauf, sich nicht zum Leidenden identifizierend hinab zu beugen, sondern die leidende Kreatur sozusagen abzuschaffen, nämlich umzuschaffen: »Alle große Liebe […] will das Geliebte noch – schaffen.« Demnach wäre auch die natürliche Umgebung des Übermenschen, die genannte Trias von Erde, Tier und Pflanze, etwas, was der Mensch noch zu schaffen hat. Sie wird damit in das einbezogen, was auch den Menschen, nämlich die Mitmenschen betrifft. Zarathustras Rede über das Mitleiden korrespondiert der zur Nächstenliebe: Auch die traditionelle christliche »Selbstüberwindung«22 wird umbesetzt, neu konfiguriert: Sie ist nun aktive Selbstgestaltung, und diese heißt bei Nietzsche dann eben »Wille zur

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Ebd., S. 113. Ebd., S. 109. H. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 541f. G. Colli/M. Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche – Zarathustra, S. 17. Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 113-116. Die nächsten Zitate aus diesem Abschnitt. Ebd., S. 146-149.

Über Natur und Übernatur

Macht!«23 Dieser korrespondiert die Umformulierung des Gebotes der Nächstenliebe, nicht so sehr in die plakative Alternative der »Fernstenliebe«24 , sondern genauer in die Arbeit am Menschen (wie an der Natur): »Schone deinen Nächsten nicht! Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss.«25 In theologischer Terminologie hieße das Neuschöpfung, nun aber durch den kreativen Menschen selbst. Es geht mir auf diesem Umweg meiner Erkundung über Nietzsche weder darum, ihn der bösartigen Destruktion der christlichen Gehalte von Geschöpflichkeit und Liebe zu zeihen, noch darum, die Turiner Szene apologetisch als Zusammenbruch, als eine Art Dementi von Nietzsches philosophischer Prophetie zu deuten. Vielmehr erkenne bzw. erahne ich in Nietzsches Rede vom Übermenschen eine erstaunliche Ähnlichkeit zur christlichen Konfiguration des Verhältnisses von Gott, Mensch und Tier, welche Nietzsches Überwindung und Umbesetzung immer noch paradox bestätigt. In den Turiner Szenen würde sich dann keineswegs die christliche Schwäche, die überwunden geglaubte Mitleidsmoral erneut melden. Vielmehr bräche hier etwas viel Tieferes auf, was schon das bekämpfte Christliche des lutherischen Pfarrerssohnes Nietzsche zugleich eingesperrt und so negativ bedeutsam gemacht hat.26

3.

Der erlöste Zwang zur Übernatur

Um dieser Ahnung nachzugehen, werfe ich einen näheren Blick auf die im ÜbermenschenKonzept zu überwindende christliche Konfiguration des Verhältnisses von Natur, Mensch und Gott – allerdings nicht in der lutherischen, sondern in der mir vertrauteren, katholischen Version. Die Spur, der ich folge, scheint mir in dieser konfessionellen Gestalt sogar ausdrücklicher hinterlassen – und sie wird uns weit hinter die Spaltung der konfessionellen Denkweisen zurückführen. Die Spur besteht zunächst einmal in der semantischen Nähe von Nietzsches Begriff des Übermenschen zu dem theologischen Terminus der ›Übernatur‹. Ich schlage dafür in einem dogmatischen Lehrbuch nach, welches katholische Studierende bis zum II. Vatikanischen Konzil nachhaltig geprägt hat und das gerade in seiner mangelnden Originalität einen Blick in die traditionelle theologische Konfiguration erlaubt. Nach dieser ist das Übernatürliche »weder ein Teil der Natur […] noch aus der Natur«, sondern eben jenes Sein, das »über das Sein, die Kräfte und die Ansprüche der Natur hinausgeht«27 . Doch gerade dies natürlich Unerreichbare ist die Bestimmung des Menschen: »Gott hat dem Menschen ein übernatürliches Endziel gesetzt.«28 Zwar setzt dieses Endziel die Natur – nach dem berühmten thomistischen Grundsatz »gratia 23 24 25 26

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Ebd., S. 149. Ebd., S. 77-79. Ebd., S. 249. Dies ist selbstverständlich nicht psychologisierend gemeint. Wir wissen nicht, was sich in Turin »in« Nietzsche ereignete und so geht es auch nicht um einen »Fall Nietzsche«. Die Deutung bezieht sich auf die in den Beschreibungen rund um diese Szene gegebene Semantik und ihr Verhältnis zu der bei »Zarathustra« gefundenen Semantik. L. Ott: Grundriss der Dogmatik, S. 116. Ebd., S. 118.

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supponit naturam« – des Geschöpfes Mensch voraus, aber ohne dessen Begabung mit der göttlichen Gnade ist es diesem Geschöpf von sich aus unmöglich, sein Ziel, nämlich seine Vollendung bei Gott, zu erreichen. Diese paradoxe Bestimmung eines geschöpflichen Daseins-Zieles, das dieses Geschöpf doch aus sich, natürlich, nicht zu erreichen vermag, dient theologisch dem Schutz des Gnadencharakters der Gnade: Es besteht kein natürlicher Anspruch auf die Gnade, sie bleibt stets ungeschuldetes Geschenk. Um dieses Gnadenbegriffs willen verdoppelt die traditionelle Theologie gewissermaßen das Bild der Wirklichkeit: Es gibt eine natürliche und eine übernatürliche Ordnung. In der rein natürlichen Ordnung können die geschöpflichen Verhältnisse sehr wohl geordnet sein und funktionieren; sonst wäre die Natur ja ohne die Gnade gar nicht zu denken und damit im Umkehrschluss die Gnade gewissermaßen naturalisiert. Andererseits aber hat diese natürliche Ordnung keinen wirklichen Sinn in sich selbst: »Die gesamte natürliche Ordnung ist nur Mittel zur Erreichung des übernatürlichen Endziels.«29 Doch dieses übernatürliche Endziel ist unter allen Geschöpfen nur dem Menschen zugedacht! Also besteht nach diesem Grundsatz die gesamte natürliche Schöpfung letztlich nur um des übernatürlichen Endziels eines bestimmten Geschöpfes (biologisch: einer Spezies) willen. Alle anderen Geschöpfe sind in dieser Logik nur Mittel zur Erreichung eines Ziels, für das sie selbst gar nicht bestimmt sind. Das wird so ausdrücklich nicht formuliert – bekäme doch auch der traditionelle Dogmatiker dann Schwierigkeiten mit der Vorstellung einer eschatologischen neuen Schöpfung, einer neuen Welt.30 Aber faktisch verengt sich die Schöpfungslehre mit der Erschaffung des Menschen gänzlich auf diesen. Wirklich kompliziert wird das Verhältnis von Natur und Übernatur allerdings erst dadurch, dass der Mensch durch den Sündenfall deren ursprünglich harmonisch angelegtes Verhältnis zerstört hat. Der Mensch des Paradieses war so mit der übernatürlichen Gnade geeint, dass ihm eine sozusagen natürlich-übernatürliche Integrität zukam.31 Diese paradiesische Integrität bestand in der Freiheit von der Begierlichkeit oder Versuchlichkeit (Konkupiszenz), in der leiblichen Unsterblichkeit, der Leidenslosigkeit und in einem ›eingegossenen‹ Wissen um Gott.32 Dieses Bild entsteht gewissermaßen aus einem Schlussverfahren ex negativo, aus den mit der Austreibung aus dem Paradies

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Ebd. Otts Dogmatik endet mit dem Lehrsatz: »Die gegenwärtige Welt wird am Jüngsten Tage neugestaltet werden.« (Ebd., S. 566) Doch was dies für die außermenschliche Schöpfung heißen mag, darüber weiß er keine Auskunft zu geben. Sicher sei aber nach Thomas von Aquin, dass die Dinge der Welt, sofern sie verklärt in der Vollendung wieder auftauchen, wiederum den geretteten Menschen dienstbar zugeordnet werden (vgl. ebd., S. 567). Zur Problematik »tierfreier« Eschatologie vgl. auch mein Kapitel »Tiereschatologie« in: S. Horstmann/Th. Ruster/G. Taxacher: Alles, was atmet, S. 261-272. Ott nennt diese, angesichts der Schwierigkeit, dass sie ja weder rein natürlich noch rein übernatürlich zu nennen ist, hilfsweise »außernatürlich« (L. Ott: Grundriss der Dogmatik, S. 122 bei § 19.1.a). Er übersetzt damit eine neuscholastische Terminologie, die erst im 19. Jahrhundert (M. J. Scheeben) aufkam, die schärfer als die historische Scholastik unterscheidend zwischen der natürlichen und der übernatürlichen noch die »präternaturale« Ebene einschob. Vgl. dazu J. Auer: Die Welt – Gottes Schöpfung, S. 461f. Vgl. J. Ott: Grundriss der Dogmatik, S. 119-121.

Über Natur und Übernatur

ausgesprochenen Strafen: Erst durch den Sündenfall wird der Mensch erbsündlich vorbelastet und so stets zur Sünde hingezogen, erst durch die Sünde kommt der Tod ins Leben, wird das Leben Arbeit, Mühe und Schmerz und aus seiner Harmonie mit Gott herausgerissen.33 Waren dann aber nicht in diesem integren Urzustand natürliche und übernatürliche Ordnung eins, jedenfalls im Menschen vereint? Diese Vorstellung hätte jedoch die heiligmachende Gnade in die ursprüngliche Geschöpflichkeit selbst integriert. Der Mensch des Paradieses hätte dann sein Endziel im Grunde schon erreicht – und auch nicht verfehlen können. Um diese Konsequenz zu umgehen, wird nun auch im integren Urstand zwischen Natur und Übernatur unterschieden. In dieser paradiesischen Integrität gibt es dann sehr wohl eine »natürliche Gotteserkenntnis und Gottesliebe«, ja eine »natürliche Beseligung des Menschen«34 , und doch sind diese mit ihrer jeweiligen übernatürlichen Vollendung nicht identisch. Es gibt nun gewissermaßen alles doppelt: eine Natur des Menschen, die ursprünglich sehr wohl dessen theo-logische Bestimmungen umgreift (also keineswegs mit einer biologistisch-reduktionistischen Sicht, einem physisch-materialistisch beschriebenen Menschsein identisch wäre) – und eine gnadenhafte Übernatur, die diese erst vollendet und zu ihrem eigentlichen Ziel bringt. Diese Verdoppelung der Wirklichkeit um des Gnadencharakters der Gnade willen hat Karl Rahner die »Stockwerk-Theologie« der Neuscholastik genannt und eingehend kritisiert.35 Die klassische Konfiguration mit ihren filigranen Unterscheidungen ist danach aus der theologischen Diskussion weitgehend entschwunden, auch wenn sie in einer traditionsorientierten katholischen Theologie weiterhin gelehrt wurde.36 Man könnte sie deshalb ad acta legen, theologiegeschichtlich bei einer überwundenen Neuscholastik archivieren. Doch würde dann vorschnell übersehen, welche grundlegende Formation sich auch in der transzendentaltheologischen Konzeption heimlich durchhält und auf neue Weise auswirkt. Zunächst einmal: Die traditionelle Dogmatik war sich ihrer Kritikwürdigkeit sehr wohl bewusst. Ihre eigene theologiegeschichtliche Überwindung hat sie gewissermaßen vorweggenommen, indem sie den »Stand der reinen Natur« (den von Rahner attackierten status naturae purae) unter die »bloß möglichen Stände« rechnet37 : Hier wird nur reflektierend metaphysisch unterschieden, was in der Wirklichkeit niemals geschieden anzutreffen ist. Sie hat sogar noch schärfer auch die zweite Seite der Me-

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Zu einer neuen Lesart dieser Urstandsspekulation vgl. Th. Ruster: Die paradiesische Wissenschaft, hier insbesondere S. 55-60. J. Ott: Grundriss der Dogmatik, S. 118. Grundlegend schon in einem Vortrag von 1950 unter dem feineren Kritik-Begriff »Extrinsecismus«; vgl.: K. Rahner: Über das Verhältnis von Natur und Gnade, S. 323-345. Im Ergebnis zusammengefasst in: K. Rahner: Grundkurs des Glaubens, S. 132-139. Vgl. J. Auer: Die Welt – Gottes Schöpfung, S. 461-473, der sich in Nuancen von Otts Neuthomismus unterscheidet und einer stärker augustinisch-franziskanischen Tradition folgt: Die Begnadung im Urstand wird von der heiligmachenden Gnade der Erlösung in Christus stärker unterschieden, was jedoch das hier dargelegte Prinzip der Ständelehre nicht tangiert. So L. Ott: Grundriss der Dogmatik, S. 122. Wenn Rahner am Ende seiner Neukonfiguration von Natur und Gnade die natura pura einen bloßen »Restbegriff« nennt (K. Rahner: Über das Verhältnis von Natur und Gnade, S. 340-342), folgt er im Grunde noch dieser Einordnung.

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daille als rein hypothetischen, gewissermaßen u-topischen Begriff reflektiert: den der unversehrten Natur, des status naturae integrae, an dem sich die transzendentaltheologische Kritik nicht so intensiv abgearbeitet hat wie an dem der natura pura. Dieser Status ursprünglicher Integrität zählt ebenfalls zu den »bloß möglichen«, also niemals wirklichen Ständen, denn der paradiesische Mensch war nicht nur keine reine, reduzierte natura pura, er war auch nicht nur integer natürlich, da er ja ohne Sünde gleich im Stand der heiligmachenden Gnade, der übernatürlichen Berufung lebte. Der Stand natürlicher Integrität wäre (rein hypothetisch) also »ein Zustand, in dem der Mensch zu seiner Natur hinzu die pränaturalen Gaben der Integrität besitzen würde, um sein natürliches Endziel sicher und leicht zu erreichen«38 . Hier wird also nochmals um des Gnadencharakters der Gnade willen ein hypothetischer Zustand natürlicher Glückseligkeit gedacht, der niemals wirklich war – weil Gott den Menschen ja übernatürlich beschenken wollte –, in dem rein hypothetisch, »bloß möglich«, der Mensch jedoch natürlich glückselig hätte sein können. Wir erinnern uns: Sogar natürliche Gotteserkenntnis und -liebe würden dazu gehören! Wäre dies nicht ein Zu-Stand des Menschlichen, in dem dieses Geschöpf in seiner ganzen Besonderheit dennoch wirklich harmonisch unter den anderen Geschöpfen, insbesondere unter den Tieren des Paradieses hätte leben können, nicht bedürftig einer übernatürlichen Entfremdung von ihnen, eines Wegzugs in das zweite, höhere Stockwerk der Übernatur? Die traditionelle Dogmatik reflektiert dies nicht, hat sie doch an dieser Stelle die Tiere längst aus den Augen verloren. Sie reflektiert dies aber auch deshalb nicht, weil die Frage sich mit dem Sündenfall, also dem wirklichen Stand der gefallenen Natur (status naturae lapsae) erledigt hat. Es gibt keine Rückkehr in den paradiesischen Stand der Integrität, selbst via übernatürlicher Gnade nicht mehr! Die in der Erlösung durch Christus wiederhergestellte, wieder begnadete Natur begabt den gefallenen Menschen zwar mit der Übernatur, so dass er sich wieder auf den Weg zur himmlischen Vollendung machen kann, »nicht aber die Gaben der Integrität besitzt«39 . Dies ist die für meine Spurensuche entscheidende Pointe: Nach der klassischen Ständelehre ist der Mensch auf die Verwirklichung seines übernatürlichen Endziels bei Strafe der Verdammung angewiesen: »Verfehlt er es, so kann er auch das natürliche Ziel nicht erreichen.«40 Ein Rückweg, eine Regression in eine integre Natürlichkeit ist ihm verwehrt. Allerdings würde die traditionelle Theologie mein »zwar« am Ende des vorigen Abschnittes als skandalös erachten: Die übernatürliche Erlösung des gefallenen Menschen erhöht ihn doch in einen Stand weit ›über‹ natürlicher Integrität. Darin besteht doch die ›felix culpa‹, die im Oster-Exsultet besungene »glückliche Schuld Adams«, die Christus als Erlöser herbeirief. Der Himmel ist mehr als das Paradies! Die Erlösung durch Inkarnation »begründet eine Teilnahme an der göttlichen Natur«41 . Mein melancholisches »zwar« schmuggelt den diesem Diskurs fremden Zweifel ein, ob

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L. Ott: Grundriss der Dogmatik, S. 123. Ebd., S. 122. Ebd., S. 118. Ein Lehrsatz der Gnadentheologie, ebd., S. 296, zu dessen Begründung Ott einen Grundsatz der griechischen patristischen Theologie nach Athanasius zitiert: »Der Logos ist Mensch geworden, damit wir Gott (= vergöttlicht) würden.«

Über Natur und Übernatur

der Himmel wirklich erstrebenswerter sei als ein irdisches Paradies. Die Trauer um eine verlorene unversehrte Natur mag mitunter stärker sein als die Sehnsucht nach einer übernatürlichen Vollendung. Und die unversehrte Natur neuscholastischer Theologie ist ja mehr als nur verloren; sie hat real nie existiert, nicht etwa wegen einer entmythologisierenden Enthistorisierung des Paradieses, sondern in ihrer eigenen Logik, nach welcher die unversehrte Natur nur einen bloß möglichen Stand beschreibt, der auch im realen Paradies schon sozusagen überschrieben war durch die übernatürliche Gnadenberufung. Es gab kein Halten in diesem Stand, nur den Weg nach oben oder die Flucht nach unten, in den Sündenfall. Was die Kontroverse mit den reformatorischen Theologien angeht – dies sei auch im Blick auf den Protestanten Friedrich Nietzsche angemerkt –, bezog diese sich stets auf die Frage, wie radikal die Zerstörung der menschlichen geschöpflichen Natur durch den Sündenfall zu denken sei. Für die Reformatoren gibt es keine heil gebliebene natura pura, keine gewissermaßen Gut und Böse gegenüber neutrale natürliche Zone mehr, an welche die Gnade anknüpfen könnte. So dekretiert die lutherische Confessio Augustana gleich in ihrem zweiten Artikel (nach der Lehre »von Gott«), dass nach dem Fall »alle von Mutterleibe an voll böser Lust und Neigung sind und von Natur aus keine wahre Gottesfurcht und keinen wahren Glauben an Gott haben können: dass auch dieselbe angeborene Seuche und Erbsünde wahrhaftig Sünde sei.« Aus der Sicht der Neuscholastik verwechselt diese Lehre von der völligen Verderbnis der menschlichen Natur die Erbsünde mit ihren Wirkungen, trägt die Versuchlichkeit der Natur (Konkupiszenz) in die Konstitution der gefallenen Natur selbst ein.42 Die Ablehnung einer Metaphysik des Übernatürlichen lässt nur die Alternative heiler oder verderbter Natur zu.43 Die Unwiederbringlichkeit integrer Natur wird weniger positiv metaphysisch von der Übernatur, sondern stärker negativ anthropologisch von der Sünde her begründet. Doch die Formation bleibt im Kern dieselbe. So hat die reformierte Theologie und später auch die protestantische Orthodoxie durchaus den Grundsatz festhalten können, die Verderbnis der ursprünglichen Natur bedeute den Verlust des Übernatürlichen.44

4.

Übernaturmensch Christus

Und dieses Beibehalten der Formation gilt nochmals auf andere Weise eben auch für die Überwindung der neuscholastischen Theologie durch Rahners Transzendentaltheologie. Hier soll der Stockwerk-Dualismus von Natur und Übernatur überwunden werden, indem die Gnade jedenfalls im Modus ihres Angebotes, als Ruf an den Menschen, als »übernatürliches Existenzial« tiefer in die faktische Natur des Menschen eingeschrieben wird. Dadurch wird jedoch der status integritatis, dieses merkwürdige hypothetische natürliche Heilsein des Menschen im Paradies, noch unwirklicher, noch entschiedener durchgestrichen.

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So L. Ott: Grundriss der Dogmatik, S. 125. Vgl. zu Luther: H. Köster: Urstand, Fall und Erbsünde – Reformation, S. 6f. »Naturalia corrupta, supernaturalia ablata«; vgl. ebd. S. 18 und S. 29.

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Rahner ist entschieden ein supralapsarischer Theologe45 , d.h.: Er möchte das Erlösungsgeschehen und damit die Christologie nicht völlig abhängig sein lassen vom Sündenfall. Was Gott mit dem Menschen vorhat, rührt tiefer als ein Reparaturbetrieb für die natura lapsa. Damit aber ist die von der Neuscholastik erwogene natürliche Glückseligkeit des Menschen noch radikaler eine Un-Wirklichkeit, nicht nur durch die Austreibung aus dem Paradies, sondern schon von der Schöpfungsberufung her überholt. Rahner denkt das Erlösungsgeschehen als »Christologie innerhalb einer evolutiven Weltanschauung«46 . So wird der Gedanke vom übernatürlichen Existenzial, von der im Menschen immer schon rufend-öffnend wirkenden Gnade kollektiviert: Gnade, übernatürliche Bestimmung ist sozusagen schon der transzendentale Motor der Evolution und der Weltgeschichte. Das Übernatürliche ist für Rahner nicht eine metaphysische Verdoppelung der Wirklichkeit, sondern der theologische Innen-Aspekt der einen Wirklichkeit: Was diese auf geschöpflicher Ebene sehr wohl aus sich, evolutiv, im Menschen dann frei wirkend hervorbringt, ist von Gott her gesehen sein Schöpfungs- und Gnadenhandeln. Es könnte im weltlichen Werden nichts wirklich mehr, nichts wirklich Neues werden, gäbe es nicht eine transzendente Quelle. Dieses Neuwerden nennt Rahner deshalb »aktive Selbsttranszendenz«47 : eine Überschreitung des gegebenen, die zugleich das Geschöpf wirkt und die doch von Gott her be-wirkt ist. Christus als ›hypostatische Union‹ göttlicher und menschlicher Natur – theologisch salopper auch ›Gottmensch‹ genannt – ist dann kein isoliertes Über-Wunder der Heilsgeschichte, sondern der konsequente Gipfel dieser Selbsttranszendenz: Ankommen des Menschen bei Gott, weil Gottes beim Menschen – von Rahner gefasst in dem Begriff des »absoluten Heilbringers«48 . Christus ist das, worauf die Evolution und die menschliche Freiheitsverwirklichung hinstreben, zugleich aber jener Begegnungspunkt mit Gott, der immer schon – auch in der Evolution, auch in den freien Taten der Menschen – nur aufgrund von Gnade, von Gottes Wirken wirklich wird. Merkwürdige Analogie zur Prophetie des Zarathustra bei Nietzsche: Dort ist der Mensch nur eine Brücke, die überschritten werden muss zum Übermenschen. Hier ist der nur natürliche Mensch eine durchzustreichende Fiktion; Menschsein findet sein wirkliches Ziel nur im Gottmenschen. Der Atheist wollte den Menschen im Blick übers Meer die Vision Gottes austreiben, ersetzen durch die des Übermenschen. Aber ist er darin wirklich ein Anti-Christ? Sieht nicht auch der Christ dort nicht einfach transzen-

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Vgl. dazu M. Weisser: Der Heilige Horizont des Herzens. K. Rahner: Christologie; systematisch eingeordnet in: K. Rahner: Grundkurs, S. 180-202. Ausdrücklich knüpft das natürlich an Pierre Teilhard de Chardin an, indirekter aber auch an Ernst Bloch. An anderer Stelle spricht Rahner auch vom »Experiment Mensch« und von der »Selbstevolution der Menschheit«. Vgl. dazu: R. A. Siebenrock: Experiment Mensch, S. 201-220. So erscheint es auch nicht als abwegig, Rahner neben Teilhard de Chardin als den modernen Theologen vorzustellen, von dem aus sich eine Brücke zu Visionen des Transhumanismus schlagen ließe. Vgl. G. Gasser: Überwindung des Menschen?!, S. 221-238. K. Rahner: Christologie, S. 190-195 und K. Rahner: Grundkurs des Glaubens, S. 185-188. K. Rahner: Christologie, S. 201-212 und K. Rahner: Grundkurs des Glaubens, S. 193-202. Teilhard de Chardin nannte dies den »universalen Christus« oder auch »Punkt Omega«. Vgl. P. Teilhard de Chardin: Der göttliche Bereich, S. 44f., S. 127f., S. 140-151.

Über Natur und Übernatur

denten Nebel über den Wellen, sondern die konkrete Gestalt eines vergöttlichten Menschen? Indem die Transzendentaltheologie die substanz-metaphysische Stockwerkdenkweise der Neuscholastik dynamisiert zu einem vom Ziel her angetriebenen Prozess, indem sie dies ausdrücklich mit dem Evolutionsgedanken verbindet, betreibt sie eine Modernisierung der alten Formation von Natur und Übernatur, die der atheistischen Version Nietzsches parallel läuft: Auch hier geht es um eine neue Liebe zum Diesseitigen, zur Welt, zum Projekt ihrer Verbesserung, die ihr Subjekt in einem Menschsein hat, welches ein Sein im Überschreiten ist, das einem gerade sich verwandelnden Schmetterling gleich seine Natur nur als Kokon, als Puppe verstehen kann. Der zum Übernatürlichen berufene Mensch scheint eine im abendländischen Denken und seiner Religiosität zutiefst verwurzelte Formation zu sein, so tief, dass auch der »Tod Gottes« nur proklamiert werden kann dadurch, dass diesem Übernatürlichen im Über-Menschlichen eine Umbesetzung geboten wird. Diese so überaus angestrengte Anthropologie bleibt auch in der Transformation eines metaphysischen Hochhauses in eine evolutionäre Autobahn erhalten. Die ihr inhärente Anstrengung bildet in meinen Augen den Kern der christlich-abendländischen anthropologischen Maschine49 , die deshalb nur in andauernder Abgrenzung vom Tier, welches der Mensch ja auch nach altgriechischer Philosophie ist, funktioniert. Wenn Menschsein nach oben oder/und nach vorn, nur in einem Über-Sich-Hinaus zu verwirklichen ist – wenn die Alternative einen tiefen Fall, eine Verdammung oder doch das Zurückbleiben als »letzter Mensch« bedeutet –, dann gilt es, das Tier im Menschen möglichst abzuspalten als jenes gefährliche Kontergewicht, das uns nach unten und hinten zieht. Das Tier ist dann die gefährliche Erinnerung für den transzendierenden Menschen, Erinnerung an sein Dasein als »Erdfloh«, als »Tier mit roten Backen«. Der Mensch, der seine Selbsttranszendenz – für den Glaubenden: auf Gott hin – vergäße, wäre für Karl Rahner »zurückgekreuzt zum findigen Tier«50 . Aus dieser Formation entsteht die christliche (und noch nach-christliche) Furcht vor der Nähe zum Tier. In der harschen Ablehnung allzu sentimentalen Mitleids mit den Tieren, in der Ablehnung einer Tiere einschließenden Religiosität, wie ich sie an meinem Vater erlebte (und in mir selbst noch kenne), sichert sich ein Menschsein ab, das seiner Natur – als durchgestrichener, nur hypothetischer oder als gefallen-verdorbener – nur sicher sein kann in der Orientierung zur Übernatur. Dass Gott Mensch und nicht Tier geworden sei51 , mag dann der Theologie wie der Gewölbeschlussstein 49 50

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Vgl. zu diesem Ausdruck: G. Agamben: Das Offene, S. 42-48. K. Rahner: Grundkurs des Glaubens, S. 58. An anderer Stelle spricht Rahner vom Zurückkreuzen »auf die Stufe einer technisch intelligenten und selbstdomestizierten Australopithekusherde«. Zitiert nach: G. Gasser: Überwindung des Menschen?!, S. 235. Vielleicht ist das, was sich Rahner hier in einer Art Dystopie des Theologen vorstellt, nicht so weit weg von der »posthistorischen Epoche« eines spätkapitalistischen way of life, über die Giorgio Agamben nachdenkt, in welcher der Mensch zwar noch homo sapiens bliebe, aber allen geschichtlichen politischen Projekten abschwörend im guten Fristen seines biologischen Lebens Genüge fände. Vgl. G. Agamben: Das Offene, S. 18-22 und S. 84-86. Mit dieser Feststellung beginnt Gunther Wenz seine Besprechung von »Alles was atmet«: G. Wenz: Rez. zu: Alles, was atmet, Sp. 494.

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erscheinen, ohne den das Dach einstürzt, oder wie der christologische Eckstein, auf den alles erbaut wird.

5.

Christliche und neuzeitliche Maschine – christliche und neuzeitliche Gewalt

Die christliche anthropologische Maschine ist dabei noch deutlich anders konstruiert als die philosophisch-wissenschaftliche, mit welcher sie im Abendland allerdings zuengst verschaltet war. Die Anthropogenese, der Giorgio Agamben von Aristoteles bis Heidegger nachspürt, funktioniert durch die immer erneuerte »Zäsur […] zwischen Humanem und Animalischem […] allererst im Inneren des Menschen«52 . Diese Zäsur muss in die Natur eingetragen werden – via Seele, Ratio und Vernunft, Freiheit, Personalität. Die Zäsur, die durch den christlichen Menschen läuft, ist dagegen die zwischen natura pura (welche durchaus Vernunftseele wäre) und Orientierung ins Übernatürliche. Beide Maschinen sind zu unterscheiden, aber in der abendländischen Geschichte haben sie sich gegenseitig Energie übertragen. Und sie haben so zusammengeschaltet ihre vereinte negative Abstoßungsenergie auf die Tiere gerichtet. Noch in der Kritik dieser Geschichte, in der Dekonstruktion abendländischen Vernunftpathos’ und christlicher Gottesorientierung, borgt sich Zarathustras Übermensch von dieser Energie ebenso wie von dieser Abstoßung. Die doppelte anthropologische Maschine läuft bei Nietzsche, trotz all seiner Dekonstruktion idealistischer Wahrheits- und Moralkonzepte, trotz seines Gespürs für das verleugnete animalische im Humanen, auf Hochtouren – und seine gegenläufige Idee von der ewigen Wiederkehr mag eine sorgenvolle Maßnahme angesichts ihres Überhitzens sein, Leerlauf nach dem höchsten Gang. Die verdoppelte Abstoßungsenergie gegenüber den Tieren bekommen diese tatsächlich in der Neuzeit zu spüren. René Descartes’ Maschinen-Paradigma wird immer wieder dafür angeführt.53 Es zeigt eine tatsächliche Wandlung im Verhältnis zu den Tieren an, und ein tatsächlich sich furchtbar zuspitzendes Schicksal der Tiere innerhalb der menschlichen Zivilisation. (Und heute, im Anthropozän, gibt es für sie ein wirkliches Außerhalb dieser nicht mehr.) So schwer und stets zweifelhaft es ist, hier Epochen zu gliedern und Veränderungen nachzurechnen, so teile ich doch den Eindruck von Jacques Derrida und Jean Bailly54 , dass es – von der Vorgeschichte des Jägers und Sammlers homo sapiens hier zu schweigen55 – zwischen dem alt-eingeschliffenen neolithischen Verhältnis des Menschen zu den Tieren56 und seiner neuzeitlichen Transformation einen gravierenden Unterschied gibt.

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G. Agamben: Das Offene, S. 87. Auch bei J. Derrida: Das Tier, das ich also bin, S. 111-133. Vgl. ebd., S. 49f. und J.-C. Bailly: Der Blick der Tiere, S. 99-102. Ergänzend: U. Brand/M. Wissen: Imperiale Lebensweise, S. 101f. Vgl. dazu G. Taxacher: Bruchlinien, S. 376-378. Dazu ebd., S. 321-330.

Über Natur und Übernatur

Das neolithische Verhältnis der Domestikation (samt bleibendem Kampf mit den Wildtieren) spiegelt sich in der berühmt-berüchtigten Unterwerfungs-Weisung von Genesis 1,28. Es ist zweifellos hierarchisch und gewaltförmig. Tiere werden zu Kreaturen des Menschen, ausgebeutetes Dasein von der Zucht an. Außerdem überschreitet die neolithische Kultur das gerade in Genesis 1 noch vorausgesetzte Tötungstabu: Tiere leben nicht nur, sie sterben auch für Menschen. Doch diese (ganz überwiegend) einseitiggewalttätige Beziehung bleibt eine Beziehung der Nähe. Derrida und Bailly verweisen beide auf die biblischen Opfer, in denen sich gerade die Schwierigkeit des Tabubruches dokumentiert. Der neolithische Mensch lebt mit den unterworfenen Tieren, in gewusster gegenseitiger Abhängigkeit. Diese Beziehung ist alles andere als ein Idyll, sie ist von vielfältiger Brutalität und Quälerei geprägt, und doch schließt sie Sorge ein, lässt gar Zärtlichkeit zu. (Die biblische Sabbatruhe der Tiere mag mehr als Symbol dafür sein.) In der schon zitierten Szene aus dem Roman »Anton Reiser« spiegelt sich beides: Die intime Begegnung mit dem Tier ist eine mit dem Schlachtvieh kurz vor der Schlachtung. So gesehen ist diese Szene des 18. Jahrhunderts auch eine Abschiedsszene. Was ihr folgt, ist die Industrialisierung der Tierproduktion. Sie ist nicht nur den Zahlen nach etwas nie Dagewesenes. Die Hochleistungskuh der Gegenwart unterscheidet sich von der Kuh eines vormodernen Rinderhirten mehr als jene von einem wilden Rind – ihr Leben auch. Industrielle Tierzucht und -produktion samt industriellem Tierverbrauch machen Tiere tatsächlich zu Maschinen, zu Sachen, zu Konsumgütern. Die ununterbrochener Gewalt und Qual ausgesetzten Tiere verschwinden jedoch gleichzeitig aus der menschlichen Gesellschaft. Sie werden unsichtbar. Und parallel dazu werden die Wildtiere nicht mehr nur gejagt (obwohl auch dies noch in nun ebenfalls industriellem Ausmaß), sondern artenweise verdrängt und ausgerottet. Das moderne Verhältnis des Menschen zu Tieren ist eines des Verbrauchs und der Vernichtung. Wenn nach den religiösen Ab-Gründen dieser Gewalt gefragt wird, müssen also die beiden anthropologischen Maschinen des Abendlandes in ihrer Zusammenschaltung analysiert und doch auch unterschieden werden.57 Wenn ich deshalb Derridas Identifizierung »jener cartesianischen Tradition« mit einer »griechisch-jüdisch-christlichislamische(n) Tradition«58 widerspreche, dann nicht aus einer theologischen Apologetik heraus, sondern um den christlichen Faktor an diesem Gesamtkomplex schärfer erfassen zu können.59

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Dabei bleibt hier unbedacht, dass die geistesgeschichtlich-religiöse Formation natürlich in soziale, technische und ökonomische Kontexte verwoben ist. Ich bin weit davon entfernt, hier eine idealistische Kausalität zu behaupten. Die begrenzte Aufgabe dieses Aufsatzes besteht darin, den theologischen Faden in einem Gewebe zu verfolgen. Breiter historisch analysiert in diesem Band der Beitrag von Thomas Ruster. J. Derrida: Das Tier, das ich also bin, S. 89. Diese große Vierfach-Bindestrich-Koppelung fällt so merkwürdig aus Derridas sonst stets die Differenz stark machenden Dekonstruktionen heraus, dass sie geradezu ihrerseits zur Dekonstruktion auffordert. Was genauer macht Zusammenhang und Unterschied zwischen der »gewaltigen Verleugnung« der Tiernähe, »deren Logik die gesamte Menschheitsgeschichte durchzieht« (ebd., S. 35, dann also auch noch über die griechisch-biblische Tradition weit hinaus!), und »einer bestimmten ›Epoche‹, sagen wir von Descartes bis in unsere Tage« (ebd., S. 34), aus?

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Descartes und auch Kant, die rationalistisch-idealistische Moderne also, betreiben die anthropologische Maschine im Interesse des autonomen Ichs, des Subjekts als Selbsthabe. Diese Autonomie vollstreckt, exemplifiziert der moderne Mensch geradezu an der außermenschlichen Natur, an »›Sachen, dergleichen die vernunftlosen Tiere sind‹«60 . Begründet liegt dies in der Identifikation der Subjektivität mit dem Bewusstsein, dem Denken. Frei ist das Subjekt als res cogitans, dinglich als res extensa.61 Tiere sind für Descartes Maschinen, weil reine res extensa, ohne Bewusstsein. Und deshalb kann man nach dem großen Ethiker Kant mit ihnen »›nach Belieben schalten und walten‹«62 . Was Adorno scharf als den perversen Hass der Kantianer auf die Tierheit kritisiert, gründet darin, dass ausgerechnet die menschliche Personwürde – stets Zweck, nie Mittel zu sein – sich beweist an der Behandlung der Tiere als bloßer Mittel.63 »Diese Macht über das Tier ist das Wesen des ›Ich‹ oder der ›Person‹, das Wesen des Menschen.«64 Doch dieses Schalten und Walten entspricht nicht einfach »dem göttlichen Befehl […] in der Genesis«65 . Denn alle beteiligten Faktoren sind zwischen diesen beiden Verhältnissen nochmals verschoben: Das biblische Herrschen ist kein tabuloses Schalten und Walten, die Tiere sind dort keineswegs Sachen und der Mensch ist dort kein autonomes Subjekt. Es ist im Gegenteil Theo-Heteronomie (»dem göttlichen Befehl«!), welche den Menschen in eine allerdings autoritäre Position der Verantwortung gegenüber den Tieren bugsiert. Der Mensch der Genesis ist keineswegs ›Krone der Schöpfung‹, um derentwillen die Tiere nur existieren würden, sondern Bild, also Statue/Stellvertreter Gottes in einer Schöpfungsordnung, welche dem Schöpfer den Genuss der Ruhe des siebten Tages, der Vollendung, ermöglichen soll.66 Der Plan misslang. Der Mensch brachte Gott um seine Ruhe und die Tiere um ihren Frieden, so dass sie einbezogen werden als Täter und Opfer in eine Kaskade der Gewalt, welche die Urgeschichte von Genesis 3-9 beherrscht. Nicht dies kann ich hier weiterverfolgen, sondern nur die spätere christliche Konstellation des misslungenen Plans und seiner Reparatur ins Verhältnis setzen zur neuzeitlichen Subjektphilosophie. Letztere destruiert gerade, was ich zuvor erkundet habe: die Aufteilung des Menschen in Natur und Übernatur. In der modernen Umbesetzung kehrt das Übernatürliche als transzendentaler, über-empirischer (intelligibler) Kern des Menschseins wieder: Der dimensionslose Ich-Punkt der Subjektivität, der ortlose Sitz von Freiheit und Vernunft hebt den Menschen, und ihn allein, aus der Natur heraus. Das Übernatürliche ist hier

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Ebd., S. 140, mit Zitat aus Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«. Das Subjekt, welches sich selbst vom Körper scheidet, ist dabei im Subtext männlich – mit dem Animalischen gehört auch das Weibliche auf die Seite des Körpers, der Unfreiheit. Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 30f. – und in diesem Band den Beitrag von Julia Enxing. J. Derrida: Das Tier, das ich also bin, S. 140, mit Zitat aus Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«. Vgl. dazu ebd., S. 152-154 (mit dem Hinweis, dass gerade Nietzsches Moralkritik diese Perversität geahnt habe!) Ebd., S. 140. Ebd., S. 141. Vgl. die Exegesen bei G. Fischer: Genesis 1-11, S. 148-172, vgl. ebenfalls A. Schüle: Die Urgeschichte, S. 42-48.

Über Natur und Übernatur

zu seiner Natur geworden, einer Natur jedoch, welche der Natur im anderen – empirischen bis romantischen – Wortgebrauch übergangslos, in intelligibler Diskontinuität, gegenübersteht. Die Heteronomie eines Herrschaftsauftrages und die übernatürliche Berufung sind (so theologisch diese Bewusstseinsphilosophie in weiten Teilen auch noch gedacht hat) so nicht mehr nötig, sie sind als Definition des Humanen gänzlich ins Subjekt hineinverlegt. Die christliche Natur-Übernatur-Dramatik ist hier keineswegs verschwunden; sie kehrt im Kampf zwischen den Trieben und den Maximen, zwischen dem biologischen und dem vernünftigen Menschen, zwischen empirischem Determinismus und intelligibler Freiheit, später zwischen Essenz und Existenz immer wieder. Aber diese neue Dialektik wird nicht mehr als die von Natur und Gnade gelesen. Entsprechend aus der Zeit gefallen wirkt ab jetzt die Theologie, welche sich katholischerseits in der Neuscholastik ganz bewusst zu einer anachronistischen geistigen Parallelwelt gestaltet. Doch trotz dieser Fremdheit lässt sie die neue anthropologische Subjekt-Maschine gewissermaßen in ihrer Natur-Gnaden-Dialektik stets mitlaufen. Es ist der Mensch als Vernunftwesen und Person, als Schauplatz der Freiheit, welcher gewissermaßen die Bedingung der Möglichkeit des Gnaden-Dramas bildet. Diese Verschaltung der beiden anthropologischen Maschinen liegt so nahe, dass darüber der aufgeklärte Neuprotestantismus sogar die reformatorische »verderbte Natur« weitgehend vergessen kann.

6.

Menschsein, den Engeln nah oder »vertiert«

Nun ist die bisher analysierte Natur-Übernatur-Konstellation im Blick auf die gesamte Geschichte christlichen Denkens nicht uralt. Eine metaphysische Lehre vom Übernatürlichen im Dienst des theologischen Prinzips einer gegenüber der Natur ungeschuldeten Gnade entstand erst in der Scholastik des 13. Jahrhunderts.67 Gnade wird erst in der seit Thomas von Aquin terminologisch klar gefassten Lehre des Supernaturalen von einer Vokabel für ein Verhältnis Gottes zu den Geschöpfen zu einer ontologischen Kategorie (»geschaffene Gnade«); das deutsche Substantiv »Übernatur« soll Heinrich Seuse geprägt haben.68 Wenn man genauer hinsieht, besteht diese theologische Innovation der Hochscholastik eigentlich jedoch nicht in der Entdeckung des Übernatürlichen, sondern paradoxer Weise in einer neuen Wertung des Natürlichen! Insbesondere durch den neuen Aristotelismus wird der Eigenstand einer in sich funktionierenden Natürlichkeit betont; diese muss dann von jeder Berufung über sie hinaus, vom Übernatürlichen also, unterscheidbar sein.69 Das viel ältere Erbe christlicher Anschauung des Menschen 67 68 69

Vgl. dazu H. Köster: Urstand, Fall und Erbsünde – In der Scholastik, S. 18, S. 61-68. Vgl. ebd., S. 68. Das lässt sich etwa daran ablesen, dass die aristotelischen Scholastiker, insbesondere Thomas von Aquin, den Menschen des Urstandes als »ganz natürlichen« Menschen gewürdigt sehen wollen, wozu etwa auch seine Geschlechtlichkeit, auch die ausgeübte Sexualität gehört (vgl. ebd., S. 25), während die platonisch orientierte Patristik Adam im Paradies, wenn nicht die Geschlechtlichkeit überhaupt (vgl. M. Hauke: Urstand, Fall und Erbsünde, S. 25f. zum syrischen »Liber Graduum«, und ebd., S. 203f. zu Maximus Confessor, der damit Gregor von Nyssa rezipiert; außerdem M. Stickel-

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besteht in dessen Berufung und Bestimmung zu einem Dasein, einem Leben über alles Natürliche der außer-menschlichen Natur hinaus. Dies kann dann ebenso als seine ursprüngliche geschaffene heile Natur (im Gegensatz zu ihrer Verderbnis durch den Sündenfall) oder schon als übernatürliche Dimension bezeichnet werden.70 Unsere Archäologie des christlichen »Über-(Natur-)Menschen« hat also zu fragen, woher diese der Patristik geradezu natürliche Anschauung rührt, denn – so möchte ich hier einmal mutig ohne weiteren exegetischen Aufwand behaupten: genuin biblisch ist sie nicht. Die Bibel kennt zwar die Berufung des Menschen durch Gott, sie sieht seine Selbstverwirklichung an die Befolgung besonderer Gebote gebunden. Doch selbst wo ihre späteren prophetischen bis apokalyptischen Erwartungen auf ein messianisches Reich, auf das Reich Gottes, ja auf die Auferstehung zielen, zeichnet sie nicht das Bild eines Menschen, der eigentlich nicht für die Erde, sondern für eine himmlische Existenz berufen und somit im Grunde ein Fremdling innerhalb der nichtmenschlichen Natur sei. Es ist ein Konglomerat (hier) nicht zu entwirrender Einflüsse aus Stoa71 und neuerem Platonismus, aus Gnosis und Manichäismus72 , welches das spätantike christliche Bild eines Menschen prägt, der wie ein der Erde anheimgefallener Engel wirkt, bestrebt, sein »engelgleiches Leben«73 wiederzuerlangen, das er selbstverschuldet verloren hat. Dass die patristische Theologie weitgehend eine Theologie von männlichen Asketen, von zölibatären Mönchen ist, gibt diesem kultur- und geistesgeschichtlichen Hintergrund noch eine besondere existenzielle Dringlichkeit.74 Für diese ging es »allein um die Rettung der Seele. […] Die Natur hatte kein theologisches Gewicht, ja, sie war verdorben, gnadenlos, diente nicht zum Vollzug der Gottesliebe. Das ›Übernatürliche‹ galt mehr, näherte sich freilich oft dem Widernatürlichen: Abtötungen, Fasten und die Ablegung der Mönchsgelübde als das christliche Ideal.«75 Wenn aber der ideale, der paradiesische Mensch weltflüchtig den Engeln gleich wäre, dann lässt sich sein Fall durch die Sünde dadurch beschreiben, dass er den Tieren ähnlich wird. Den status naturae lapsae, die verdorbene sündige Natur des Menschen

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broeck: Urstand, Fall und Erbsünde, S. 57f. zu Johannes Scotus Eriugena), so doch die sexuelle Lust (vgl. L. Scheffczyk: Urstand, Fall und Erbsünde, S. 167 zu Johannes Chrysostomus und ebd., S. 205 zu Augustinus) als etwas schon zur verderbten Natur Gehöriges absprachen. So reißt Gott den Menschen in der Terminologie des Origenes »über die menschliche Natur« hinaus und wandelt ihn »zu einer besseren und göttlichen Natur um (zitiert bei: L. Scheffczyk: Urstand, Fall und Erbsünde, S. 77), während der Kappadozier Basilius eben diese himmlische Berufung des Menschen als das eben seiner ursprünglichen Natur entsprechende Leben ansieht (vgl. ebd., S. 134). Etwa bei Laktanzius (vgl. L. Scheffczyk: Urstand, Fall und Erbsünde, S. 106-112). Vgl. M. Hauke: Urstand, Fall und Erbsünde, S. 19-44 zum ostkirchlich einflussreichen »Messalianismus«. So überschreibt Peter Brown bekanntlich seine große Analyse über »Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum« mit dem Titel »Die Keuschheit der Engel«. Dass die Folge des Sündenfalls als »Konkupiszenz« nicht nur bei Augustinus weitgehend anhand der Leiblichkeit, der nicht beherrschbaren Sexualität verhandelt wird, ist theologiegeschichtlich so bekannt (und etwa in den hier herangezogenen Faszikeln von Band II des »Handbuch der Dogmengeschichte« breit dokumentiert), dass es hier nicht weiter ausgeführt zu werden braucht. P. Trigo: Schöpfung und Geschichte, S. 145.

Über Natur und Übernatur

als animalisch, also tierisch zu beschreiben, zieht sich tatsächlich durch die gesamte Theologiegeschichte. Das Motiv findet sich schon bei den frühen Apologeten, wenn etwa nach Tatian der Sündenfall Adams den Menschen seiner Ebenbildlichkeit Gottes berauben »und ihn beinahe auf die Stufe der Tiere hinuntersetzen«76 soll. Nach der »Großen Katechese« des Gregor von Nyssa verfällt der Mensch »mit der Sterblichkeit der Natur der unvernünftigen Tiere«77 – also hatte er zuvor an dieser keinen Anteil. Für Ambrosius ist der sündige Mensch nicht mehr Bild Gottes, sondern »Bild des Irdischen« und als solches »den Tieren nahe«78 , weshalb wir auch nach seinem großen Schüler Augustinus nun »als animalische Menschen leben«79 . Der Origenist Hesychius von Jerusalem kann den Sündenfall des Menschen »Vertierung«80 nennen. Auch an der Schwelle zur frühen westeuropäischen Scholastik gehört für Johannes Scotus Eriugena das »Animalische und Irdische«81 nicht ins Paradies. Und so übersteht dieser Refrain der Ständelehre auch deren skizzierte Modernisierung durch den neuen Aristotelismus: Auch nach der Summe des (Pseudo-)Albertus Magnus liegt die Teufelssymbolik der Schlange in ihrer kriechenden Animalität, in der sie schon den Sünder darstellt, der ihr erliegt: »Der in der Gottebenbildlichkeit aufrecht stehende und gehende, zum Himmel schauende Mensch entartet zu Tierähnlichkeit.«82 Hier wird der Fall von der natura integritatis zur natura lapsa geradezu in einem die bekannten modernen Darstellungen der Entwicklung des aufrecht gehenden Menschen aus dem gebückten Affen umdrehenden Bild gefasst. Auch noch in der Neuzeit, etwa bei Scholastikern der Gegenreformation, wird der paradiesische Mensch als über die eigene Sinnlichkeit erhaben geschildert, da »diese Verfassung dem Menschen geziemte, weil er sonst ins Tierische abgleitet«83 . Später wirken solche Formulierungen wohl eher anachronistisch. Doch das Grundmotiv verfällt nicht dadurch, dass es, wie skizziert, sich nun amalgamiert mit dem neuzeitlichen Konzept des autonomen Subjekts, das sich gewinnt in Abgrenzung vom verdinglichten Tier. Darin eingetragen bleibt die christliche Angst, welche das Sündige und Verlorene mit dem Animalischen gleichsetzt. Sie bleibt bis in die moderne, nach-nietzscheanische Warnung vor der Rückkreuzung zum »findigen Tier« wirksam.

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L. Scheffczyk: Urstand, Fall und Erbsünde, S. 50. Ausgerechnet der protestantische Theologe Emil Brunner sieht damit schon im 2. Jahrhundert das Übernatur-Schema entdeckt, habe doch »Tatian bereits eine ausführliche Theorie des Sündenfalls und seiner Folgen […] entwickelt, gemäß der der Mensch durch den Fall Adams das verlor, was später dona supernaturalia hieß«. (Zitiert nach ebd.) Zitiert nach ebd., S. 146. Ebd., S. 184. Ebenso formulieren Gregor von Nyssa, Basilius und später Maximus Confessor; vgl. M. Hauke: Urstand, Fall und Erbsünde, S. 104, S. 108 und S. 128. L. Scheffczyk: Urstand, Fall und Erbsünde, S. 202. M. Hauke: Urstand, Fall und Erbsünde, S. 66. M. Stickelbroeck: Urstand, Fall und Erbsünde, S. 56f. H. Köster: Urstand, Fall und Erbsünde – Scholastik, S. 102. H. Köster: Urstand, Fall und Erbsünde – Reformation, S. 21 (zu Bertold von Chiemsee und Ambrosius Catharinus).

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7.

Verwandlungen der Scham

Durch meine Erkundungen zieht sich untergründig das Motiv der Scham. Der moderne Mensch schämt sich seiner Abstammung vom Affen. Der Übermensch schämt sich seiner Noch-Ähnlichkeit zum Normalmenschen. Das autonome Subjekt schämt sich seiner empirischen Determiniertheit. Der Christ schämt sich seiner Konkupiszenz, seiner erbsündlichen Verfallenheit an die tierische Sinnlichkeit in ihm. Jacques Derridas Annäherungen an das »Tier, das ich also bin«, kreist immer wieder um seine Scham, die ihn angesichts des Blicks seiner Katze befällt, welche ihn im Bad nackt sieht. An einer Stelle bringt er diese Erfahrung mit der theologischen Ständelehre – ohne sie als solche zu nennen und zu analysieren – zusammen: »Nun wollte ich mich aber an die Nacktheit vor der Katze erinnern, von der Zeit her, einer vorgängigen Zeit im Bericht der Genesis her, von der Zeit her, da Adam alias Isch den Tieren vor dem (Sünden-)Fall ihre Namen zuruft, nackt, aber bevor er sich dieser Nacktheit schämte.//Ich spreche also von dieser Zeit her. Meine Passion für das Tier erwacht in/zu diesem (Zeit-)Alter. Vorhin habe ich gestanden, mich meiner Scham zu schämen. Meine Verwirrung, diese Scham über meine Scham, nackt vor dem Tier oder den Tieren, konnte mich also nur verwundern, wenn ich mich auf eine Zeit von vor dem (Sünden-)Fall, vor der Scham und der Scham über die Scham bezog. Vor dem Bösen (mal) und vor den Übeln. Kann man vom Tier (animal) sprechen? Kann man sich dem Tier nähern, und sich vom Tier her nackt erblickt sehen? Vom Tier her vor dem Bösen und vor den Übeln?«84 Die mit Scham besetzte, nackte Begegnung mit seiner Katze lässt den Philosophen sich zurückversetzen in den paradiesischen status naturae integrae. Es ist dies biblisch der Seinsstatus, in welchem der Mensch (Isch, der Mann!) selbst nackt ist wie die Tiere, diese benennt, ohne sich dessen zu schämen – ist doch die Scham über die eigene Nacktheit ausdrücklich eine Folge der Sünde (Gen 3,7). Angesichts dieser Rückversetzung wundert er sich über die eigene Scham, ja die Scham über seine Scham vor der Katze. Diese Scham entlarvt sich jetzt als Kennzeichen des status naturae lapsae, als ein Zustand der Gebrochenheit, deren Bruch-Charakter nirgends so ursprünglich aufgeht wie in der Entfremdung von den Tieren. Gleichzeitig spricht Derrida von seiner Passion für die Tiere, welche aus dieser VorZeit des Paradieses herrühre. Passion ist ein hoch aufgeladener Begriff, er führt eine heimliche christologische Konnotation mit sich und verspannt den status naturae integrae damit mit dem der Erlösung. Durch die Passion Christi wird nach der Statuslehre zwar nicht der status naturae integrae wiederhergestellt, aber der status naturae lapsae überwunden. Derridas Passion für die Tiere wäre dann theologisch eine Erfahrung der Gnade, der Erlösung. Deshalb kann die Begegnung mit dem Tier (kenntlich gemacht durch das französische Wortspiel von mal und animal) gewissermaßen zurückführen in eine Integrität vor dem Bösen und den Übeln. In Derridas indirekter philosophischer Reflexion der Status-Lehre wird deren von mir analysierte Drift jedoch gleichzeitig von innen her umgekehrt – und auch dies in 84

J. Derrida: Das Tier, das ich also bin, S. 43f.

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der Reflexion der Scham. Die Scham vor der eigenen Nacktheit und damit auch die Scham vor der Tiernähe geht auf als Folge des Sündenfalls, als Kennzeichen unserer natura lapsa. Diese biblisch vermittelte Einsicht steht aber gerade gegen die theologische Tradition, in welcher die Scham vor der eigenen Leiblichkeit, Sinnlichkeit, Animalität ja wohlbegründet ist, Scham des Sünders angesichts seiner nun in Erbsünde getauchten Natur. Eben diese Scham, diese Peinlichkeit angesichts der nackten Gemeinschaft mit den nackten Tieren wird entlarvt als Haltung des gefallenen Menschen. Nicht unsere Vertierung, der Verfall an unsere Animalität wäre dann Kennzeichen der gefallenen Natur, des Sündenfalls, sondern unsere krampfhafte Distanzierung vom Tier in und neben uns, unsere mit Scham besetzte Entfremdung. Rückübersetzt in die Statuslehre reflektiert Derrida hier jenen nur hypothetischen bzw. »bloß möglichen« status naturae integrae, welchen der Neuthomist Ludwig Ott kurz vermerkt, ohne ihm weiter Beachtung zu schenken. Diese Nichtbeachtung entspricht einer tiefen Fremdheit der scholastischen Tradition gegenüber dem Paradies-Gedanken, einer Fremdheit, die einem angesichts der komplexen, diffizilen Reflexionen der Theologen über den Urzustand leicht entgehen mag. Da der Mensch für den Thomisten von Anfang an zur Erhebung in den Stand der heiligmachenden Gnade bestimmt ist, hat er für die Existenz im Paradies eigentlich keine wirkliche Verwendung. Wäre der Mensch ohne Sündenfall dort geblieben, hätte er ja sein höheres Ziel nie erreicht. Das Paradies erscheint dem Scholastiker so eigentlich nur als eine göttliche Versuchsanordnung, eine Prüfung, deren negativen Ausgang der Allmächtige auch noch vorhersah. Hätten Adam und Eva die Prüfung bestanden, so hätte Gott sie dennoch aus dem Paradies wieder entnehmen müssen, um sie ihrer eigentlichen Bestimmung zuzuführen. So wusste es schon Hugo von St. Viktor: »Hätte also der Mensch in diesem Gehorsam ausgeharrt, dann hätte er nach einer von Gott gesetzten Frist ohne den Schmerz des Todes, mitsamt seinen Söhnen und Töchtern nach ihm, zu dem im Himmel bereiteten Gut hinüberwechseln sollen: zu einem himmlischen Leben in Gemeinschaft der seligen Engel für immer.«85 Die Schlussformulierung macht deutlich, wie tief diese Überlegung in der skizzierten patristischen Tradition eines ursprünglich nichtirdischen Menschen wurzelt. In dieser Tradition ist das irdische Glück des Paradieses dem Menschen theologisch nicht gegönnt. Er hat sich den Engeln zuzurechnen, nicht den Tieren. Im »nur möglichen« status naturae integrae hat die Scholastik dieses paradiesische »irdische Vergnügen in Gott«86 jedoch gleichsam eingeklammert bewahrt. Wie wichtig diese Bewahrung für eine Theologie der Tiere ist, mag man etwa daraus ersehen, dass Thomas von Aquin sich das paradiesische Verhältnis zu den Tieren als eines frei von äußerem Nutzen dachte, frei also vom neolithischen Sklaven- wie vom modernen Verbrauchs-Verhältnis: »Der Mensch hätte im Urstand von den Tieren eigentlich nur geistig profitiert. Sie hätten auf der Ebene der Erfahrung seine eingegossene Naturerkenntnis ergänzt. Leiblich hätte

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De sacramentis, lib. 1 p.6 c.29; zitiert nach: H. Köster: Urstand, Fall und Erbsünde – Scholastik, S. 97. Vgl. P. Rühmkorf: Irdisches Vergnügen in g. Der Titel spielt an auf den des Barockdichters Barthold Heinrich Brockes, »Irdisches Vergnügen in Gott« (1721). Zur Bedeutung dieser Dichtungen für eine Theologie der Tiere vgl. meine Anmerkungen in S. Horstmann/T. Ruster/G. Taxacher: Alles, was atmet, S. 153-155.

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er sie nicht nötig gehabt: weder als Reittiere, denn er wäre wegen seiner guten körperlichen Kondition selbst hinreichend bewegungsfähig gewesen; nicht als Nahrung, denn dazu hatte er die Bäume des Paradieses; nicht zur Kleidung, denn dank seiner Herrschaft über die Sinne drückte ihn keine schamvolle Blöße.«87 Einmal abgesehen von der sozusagen zwischen Thomas und Derrida strittigen Frage, ob der Mensch sich seiner Nacktheit nun wegen der Beherrschung der Sinnlichkeit oder wegen seiner Nicht-Entfremdung von ihr nicht zu schämen brauchte (und vielleicht wäre dies, tiefer geblickt, gerade für den der Natürlichkeit sehr zugewandten Thomas von Aquin auch gar kein Gegensatz!): Hier ist Adam ein nackter Veganer, der uns heute an den edlen, gesunden Wilden eines Urzustandes à la Rousseau erinnern mag.88 Tatsächlich lässt sich der Naturzustand bei Rousseau ebenso als eine rückdatierte Utopie lesen wie die Paradieserzählung der Genesis als eine mythologisch und protologisch verkleidete Eschatologie. Dann wäre der status naturae integrae keine von Gott und Mensch auf unterschiedliche Weise verworfene, vergangene Möglichkeit, sondern eine schöpfungstheologische Utopie über das, was wir sein sollten – mit Derrida gesprochen: vor dem Bösen und vor den Übeln. Um das gewaltförmige abendländische Verhältnis zu den Tieren zu verändern, käme es theologisch also darauf an, die in Vergessenheit geratene, unser christliches Bewusstsein jedoch tief prägende Ständelehre einer weit radikaleren Revision zu unterziehen, als es die Transzendentaltheologie tat. Dogmatisch gesehen steht dies offen, hat doch auch das Konzil von Trient bei seinen Ausführungen zur Erbsünde die damit einhergehenden augustinischen und thomistischen Konzepte über Natur und Übernatur nicht mit definiert, insbesondere nicht die des Verhältnisses vom paradiesischen Urzustand zum Stand der heiligmachenden Gnade.89 Diese theologische Revision würde eine Therapie der christlichen Scham bedeuten. Und sie würde die Stellung des Menschen zwischen Tieren und Engeln, zwischen Erde und Himmel neu ausloten. Vorerst mag ein Bild andeuten, wohin diese Therapie führen könnte. Es ist von Caravaggio und findet sich in einem Ausschnitt abgebildet in Jean Baillys Essay über den Blick der Tiere.90 Bailly meditiert dem Thema seines Essays gemäß über den tatsächlich faszinierend hypnotisierenden Augen-Blick des Esels in dieser Szene der »Ruhe auf der Flucht nach Ägypten«91 . Mich fasziniert jedoch mindestens genauso die Beobachtung, dass hier das Tier zwischen dem Menschen (Josef) und dem Engel platziert ist und nicht der Mensch zwischen beiden. Das nämlich entspräche der traditionellen theologischen Anordnung. Der Mensch ist hier einmal nicht ein Mittelwesen zwischen Irdischem und Himmlischem, auch keine Brücke zu irgendetwas Übermenschlichem.

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H. Köster: Urstand, Fall und Erbsünde -Scholastik, S. 40f., mit Bezug auf Sth. I-I q.96 a.1. Während die andere Seite der Aufklärung stets das Joch gewaltsamer Beherrschung bereithält, unter dem »Tier, Kind und Primitiver« (man müsste noch hinzufügen: und Frau) »zur Vernunft zu bringen« sind. (So P. Trigo: Schöpfung und Geschichte, S. 78.) Vgl. H. Köster: Urstand, Fall und Erbsünde – Reformation, S. 55. Vgl. J.-C. Bailly: Der Blick der Tiere, S. 56. Ebd., S. 54f.

Über Natur und Übernatur

Gewiss, Josef schaut den Engel an. Er tut dies gemeinsam mit seinem Esel. Er ist also nicht allein. Das Tier ist hineingenommen in seinen Bezug zur Transzendenz. Und dieser Transzendenzbezug hat deshalb nichts von der üblichen gespannten Dualität, sondern spielt in einem Dreieck, wirkt deshalb auch völlig unangestrengt. Josef realisiert ihn in einem schlichten Dienst: Er hält dem musizierenden Engel die Noten. Die »Ruhe auf der Flucht« wird so zu einer Szene wiedergewonnenen Paradieses, einer nach-weihnachtlichen Szene eben, einer Szene der Erlösung. Nur dass diese Erlösung die erlöste, befreite, frei aufspielende, die integre Natur darstellt. Ihr Übernatürliches ist allein ihr Frieden.

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Gregor Taxacher

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Anima (de-)forma corporis Zur Konstruktion von Tier- und Menschenkörpern durch die Theologie Simone Horstmann

1.

Gewalt und Tierkörper

Das schwierige Verhältnis der (christlichen) Theologie(n) zum Körper bzw. zur Körperlichkeit ist hinlänglich bekannt; mitunter wird es bereits als vermeintliches Relikt der Tradition behandelt und für überwunden erklärt. Dass dieser tradierte Problemkomplex gleichwohl in die aktuelle Theologie hineinwirkt1 , darauf hat unlängst beispielsweise Gregor Etzelmüller hingewiesen: »Das Christentum und seine Theologien«, so Etzelmüller, »haben über Jahrhunderte hinweg und bis in die Gegenwart hinein dualistische Menschenbilder gestützt und gepflegt. Wie im Blick auf die Geschichte der Philosophie so lässt sich auch im Blick auf die Theologiegeschichte eine starke Körpervergessenheit und teilweise sogar Körperverachtung beobachten.«2 Für die Frage nach der religiösen Gewalt an (nichtmenschlichen) Tieren gewinnt Etzelmüllers Feststellung vor allem dadurch an Brisanz, dass die Gewalthaltigkeit des Christentums gerade auch aus einer Körperfeindlichkeit erwächst, die bei Etzelmüller gänzlich unerwähnt und insofern auch ungebrochen wirkmächtig bleibt. Womöglich hat sich überhaupt erst auf dem Rücken der modernen theologischen Abwehr jener

1

2

M. Rölli: Spinoza gegen Descartes, S. 163f., bemerkt dazu, dass gerade die unkörperlich konzeptualisierte Epistemologie der Moderne in gewisser Weise einen unkörperlichen, zuschauerartigen Ort – einen Gottesstandpunkt? – voraussetzt: »Es ist ein wenig paradox. Die Wissenschaft hat lange Zeit auf Geltungsbedingungen ihrer Erkenntnisse und Wahrheiten insistiert, die wie Allgemeinheit und Notwendigkeit auf Kriterien referieren, die über den operationalen Bezugsrahmen ihrer experimentellen Praxis weit hinausreichen. Sie handelt von Körpern, von nichts als Körpern, möchte man sagen, und doch will sie diese so erkennen, wie sie kein Körper erkennen kann – von einem quasi körperlosen Ort aus, als unbeteiligter Zuschauer von oben herab. Als ob es etwas geben würde, das offensichtlicher und wirklicher ist, eine Quelle der Evidenz, die Selbstgewissheit eines Bewusstseins, das ganz bei sich verweilt.« G. Etzelmüller: Verkörperung, S. 219.

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Simone Horstmann

Körperfeindlichkeit, von der Etzelmüller spricht und die sich allein auf den menschlichen Körper bezieht, eine strukturanaloge Form der Körperfeindlichkeit etablieren können, die gleichwohl nicht (nur) den Menschen, sondern (vor allem) den Körper der (nichtmenschlichen) Tiere betrifft. Um diese Gewalt, die sich bis heute ungebrochen am Körper der Tiere entlädt und die den ›Tierkörper‹ als solchen immer auch zugleich mitkonstituiert, soll es im Folgenden gehen. Das hier vorgetragene Argument ist dabei nur sekundär von (tier-)ethischer Natur; es fragt vor allem nach den dogmatischen Bedingungsstrukturen für die Formen und Normen, mit denen die heutige akademische Theologie den (nichtmenschlichen) Tieren begegnet. Der Körper der (menschlichen wie nichtmenschlichen) Tiere kann daher als Aushandlungsort, mitunter als »Missionsgebiet«3 theologischen und religiösen Wissens begriffen werden – vielleicht sogar, so zumindest eine These des australischen Philosophen Dinesh Wadiwel, als Austragungsort eines Krieges. Dieser Krieg des Menschen gegen die Tiere zielt Wadiwel zufolge in erster Instanz auf den Körper der Tiere – er verdeutlicht dies anhand der sog. Live-Hangs, jenen Aufhängvorrichtungen, an die täglich viele tausende Hühner kopfüber gehangen werden, bevor sie, nach einem kurzen und qualvollen Leben in abgedunkelten Industriehallen, in den Schlachtanlagen der Tierindustrie entweder (wie im Fall der an Körpermasse armen sog. »Legehennen«) als bloße Biomasse entsorgt oder (im Fall der sog. »Masthühner«) weiter ›verarbeitet‹ werden. Das tierindustrielle Procedere sieht vor, dass die in aller Regel über viele Stunden und in kleinen Käfigen dicht gedrängt zum Schlachthof transportierten Tiere, die aufgrund ihres im Vergleich zum Menschen wesentlich schnelleren Stoffwechsels ausgehungert und dürstend sind, von Arbeiter*innen gepackt und mit den Beinen, also kopfüber, an den Schließmechanismen der Fließbänder fixiert werden. Ab diesem Moment sind die Tiere allein, sie sterben, ohne dass Menschen davon Notiz nähmen. Die Tierindustrie hat diesen Tötungsprozess so angelegt, dass die Tiere am Fließband mit Kopf und Hals durch ein Wasserbad fahren, durch das Strom gejagt wird, wodurch die Tiere betäubt werden sollen; anschließend werden ihnen die Hälse durch mechanische Schlachtmesser aufgeschnitten, damit sie ausbluten. Schließlich werden die Tiere in Brühbäder mit nahezu kochendem Wasser gefahren. Wadiwel kommentiert eben diesen Prozess: »Der ›Live-Hang‹ [d.i. das Fließband] ist für Hühner alles andere als ein schmerzfreier Prozess; die Geschwindigkeit der Operation macht das Leidenspotenzial noch extremer. Die Vögel erleiden Verletzungen und Schmerzen, und aufgrund der Schnelligkeit des Prozesses werden viele Vögel falsch aufgehängt (z.B. an einem statt an zwei Beinen). Einige Vögel werden im elektrischen Wasserbad nicht betäubt. Infolgedessen wird ihnen dann der Hals bei vollem Bewusstsein durchtrennt oder, schlimmer noch (wenn ihre Hälse nicht richtig durchtrennt und sie nicht getötet werden), sie werden lebendig in den Brühtanks gekocht. Annie Potts erinnert uns daran, dass in Großbritannien ›bis zu 50 Vögel pro Stunde bei Bewusstsein sind, wenn ihre Kehle durchgeschnitten wird, und bis zu 9 von 1.000 Vögeln die Klingen überleben und in den Brühtanks

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Vgl. dazu L. Ratschiller/S. Weichlein: Der schwarze Körper als Missionsgebiet, S. 5-39.

Anima (de-)forma corporis

sterben‹. Unabhängig davon, welche Art von Tod den Vögeln bevorsteht, rollt die Maschine reibungslos weiter.«4 Dass diese Wirklichkeit der industriellen Tiertötung als Krieg gedeutet werden kann, begründet Wadiwel u.a. damit, dass sie sich an Techniken der Folter bediene. Die Industrie nutze die Körper der Tiere gegen sie selbst und verwende damit jene Logik, wie sie auch der Folter zugrunde liegt: Je mehr Widerstand, desto grausamer Leid und Tod. Auch die »Live-Hangs«, die Fließbänder der Tierindustrie, machen sich diese Logik zunutze: Die Beine und Füße der Tiere, die ihnen normalerweise Stabilität und Mobilität verleihen, werden zu Waffen gegen sie selbst, weil ihre Anatomie die Befreiung aus den Haltegriffen der Fließbänder verunmöglicht. Und gerade dann, wenn die Hühner sich ein letztes Mal aufbäumen, um dem Elektroschockbad entkommen, steht ihnen mit diesem letzten Akt des Widerstands ein umso schrecklicherer Tod bevor. An allen Punkten dieser Maschinerie, so Wadiwel, »an intimate story of conflict and resistance, struggle and restraint, is being told: between the chickens and their forms of containment, the workers in the live hang, and the limits of the chickens’ own body, as they are finally propelled towards the inescapable abyss of death«5 . Diese Konstellation, die sich täglich tausendfach wiederholt, könne Wadiwel zufolge nicht anders denn als grundsätzliche Feindlichkeit, als Krieg beschrieben werden – in der Tierindustrie, aber auch in den Gefangenenlagern der Zoos, in der Jagd auf Tiere, in Tierlaboren.6 Wadiwels These vom Krieg des Menschen gegen die Tiere, der sich vor allem auf deren Körper richtet und sich gerade nicht in einer bloß ideellen Abwertung von Tieren erschöpft, gewinnt dadurch an Plausibilität, dass sie die umfassende und totalitäre Rolle menschlicher Gewalt an Tieren in nahezu allen erdenklichen Beziehungsformen auf einen gemeinsamen Nenner bringt.7 Selbst das vielleicht intuitive Erschrecken vor bzw. die damit verbundene Abwehr dieser These belegen dann nur aufs Neue, wie eingeschliffen und normalisiert diese Gewalt eine gesamte Gesellschaft durchzieht. Philip Armstrong sieht daher in der Thematisierung der Gewalt als Krieg eine Technik der Defamiliarisierung, ein Mittel, um gegenüber der Selbstverständlichkeit dieser Gewalt Distanz zu gewinnen.8 In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Bedeutung von Frieden in neuem Licht: Krieg, so Wadiwel, erscheint den überlegenen Menschen, die über ihre Opfer triumphieren, gerade in seinen Extremformen vielfach als Friede, und Gewalt an Tieren findet sich umgekehrt in Konfigurationen wieder, die 4 5 6

7

8

D. Wadiwel: War against Animals, S. 2 (eig. Übers.). Ebd., S. 3. Vgl. P. Armstrong: War Against Animals [Review], S. 238: »It seems difficult to disagree with this, once we consider the extent to which modern societies structure humans’ relationship to animals as one of absolute domination, in ways that are almost always enacted violently or guaranteed by the possibility of violence.« D. Wadiwel: War against Animals, S. 22, bindet dies alles an die von Foucault kritisierte Konzeption von Souveränität, die den Menschen zu der unanfechtbaren Überzeugung geführt hat, er sei im Vollbesitz der Verfügungsgewalt über alles Nichtmenschliche. Daher kritisiert er auch, dass die klassische Tierethik die Massivität dieser Hintergrundannahme nahezu ständig übersieht und dass sie stattdessen gezwungen ist »to questions of how we use this dominion; that is, how we use animals, rather than whether we should use them in the first place«. P. Armstrong: War against animals [Review], S. 239.

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Gewaltfreiheit oder ›Tierwohl‹ suggerieren: Gerade das sog. ›humane Töten‹ zeichne sich dadurch aus, dass es den physischen Widerstand seiner Opfer maximal breche: Deswegen, so Wadiwel, »we must look for war precisely where it is discursively coded as ›peace‹«9 . An Wadiwels These möchte ich im Folgenden anknüpfen, indem ich nach den theologischen Hintergrundannahmen und den theologischen Ermöglichungsstrukturen für einen derart umfassenden Kriegszustand des Menschen gegen die (anderen) Tiere, und insbesondere nach dem theologischen Verständnis des Tierkörpers frage.10

2.

Ausgangsthese: Anima (de-)forma corporis

Die Mitschuld der Theologie(n) an der nahezu totalitären Gewalt an anderen Tieren wird dabei häufig in jenen Topoi gesucht, mit denen die unterstellte Einzigartigkeit des Menschen theologisch behauptet wurde – sowohl der Verweis auf die menschliche Vernunftseele, auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26), auf seinen Auftrag zur Herrschaft über die (anderen) Tiere (Gen 1,28) oder auf die ihm unterstellte Transzendenzfähigkeit wären dabei wohl an erster Stelle zu nennen. Die hier angestellten Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei der Beobachtung, dass diese weitestgehend kognitionslastig und unkörperlich konzeptualisierten Alleinstellungsmerkmale, die die Theologie zur Abgrenzung von Menschen gegenüber anderen Tieren herangezogen hat11 , in einer Hinsicht tatsächlich noch nahezu unausgewertet sind: Indem nämlich diese Argumente der Tradition das Humanum gerade von den unterstellten kognitiven bzw. intellektuellen und letztlich auch metaphysischen Unterschieden ›vom Tier‹ her bestimmen, zeichnen sie zugleich – mal explizit, mal implizit – das Bild eines substantiell vom Menschenkörper unterschiedenen Tierkörpers. Diese Verbindung wird gestiftet durch die (neu-)scholastische Adaption des aristotelischen Hylemorphismus, der sich insbesondere in der anima-forma-corporis-Lehre niedergeschlagen hat. Was ursprünglich als Abwehr streng dualistischer Körper-Geist-Konzeptionen gedacht war12 , entpuppt sich angesichts der heutigen Probleme im Verhältnis von Menschen und (anderen) Tieren jedoch zugleich als ein fatales, weil Dualismen-induzierendes Erbe: Letztlich nämlich unterstellt die antidualistische Spitze der anima-forma-corporis-Lehre nicht nur, dass die Seele Form des Körpers sei, sondern – so zumindest die hier diskutierte These – dass die unterstellte Art der jeweiligen Seele die Art bzw. die Form des Körpers determiniert. Der Körper eines Vernunftwesens, das gemäß der aristotelischen bzw. scholastischen Tradition über eine anima rationalis bzw. intellectiva verfügt, müsste demnach grundsätzlich anders geartet sein als der Körper eines Tieres, das in diesem Sinne lediglich mit einer anima sensitiva ausgestattet sei. Die anima-forma-corporis-Lehre wäre 9 10 11 12

D. Wadiwel: War against animals, S. 18. Vgl. dazu auch J. Derrida: The Animal that therefore I am, S. 101, der von einer »Judeo-ChristianoIslamic tradition of a war against the animal« spricht. Zu den Gründen für diese Abgrenzung vgl. insbes. die Beiträge von Julia Enxing und Gregor Taxacher in diesem Band. Vgl. R. Heinzmann: Anima unica forma corporis, S. 236-259. Vgl. ebenfalls T. Kläden: Anima forma corporis, S. 253-270.

Anima (de-)forma corporis

demnach auch eine Lehre, die eine Aufwertung des menschlichen bzw. eine Abwertung, eine regelrechte Deformierung des tierlichen Körpers nahelegt – anima (de-)forma corporis. Das Erbe der (neu-)scholastischen Theologie für eine heutige Auseinandersetzung mit den nichtmenschlichen Tieren besteht m.a.W. darin, dass diese Tradition unter der Hand von der Überzeugung geprägt ist, dass menschliche und tierliche Körper grundlegend verschieden seien. Wenn sich diese These bewahrheitet, dann bestünde ihr explanatorischer Gehalt vor allem (1.) darin, dass sie einerseits die Hintergründe für die weitgehende Wirkungslosigkeit, teilweise sogar die massive Abwehr pathozentrischer, d.h. auf die körpergebundene Leidensfähigkeit zielender Argumente innerhalb der Theologie beleuchten könnte. Gerade weil die pathozentrischen Argumente (ebenso aber auch viele Argumente der Phänomenologie) auf den Körper bzw. auf die Erfahrung von Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit abheben und ihre Plausibilität nicht zuletzt aus der körperlich-geteilten Evidenz von Leid und Schmerz ziehen, stoßen sie im Kontext einer traditionellen Theologie dort an eine Grenze, wo letztere von der (nicht immer ausgesprochenen) Annahme flankiert wird, dass menschliche und tierliche Körper von grundsätzlich anderer Natur seien. Zudem wirft die hier unterstellte These (2.) neues Licht auf den weit über die Theologie hinaus bedeutsamen Anthropomorphismus-Vorwurf: Warum eigentlich verbietet dieser Vorwurf ausgerechnet eine Ähnlichkeit in der Form, nicht bspw. in der ontologischen Substanz oder in kognitiven Fähigkeiten oder bestimmten Eigenschaften? Zumindest scheint die Vorstellung nicht gänzlich von der Hand zu weisen zu sein, dass gerade die theologisch behauptete materielle Andersartigkeit des Menschen zur Ablehnung anthropo-morpher Tiervorstellungen führen würde – Vorstellung von Tieren also, deren Form der des Menschen ähnele. Schon die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston hat darauf hingewiesen, dass der Anthropomorphismus zuallererst ein religiöser Vorwurf war, lange bevor er zu einem wissenschaftstheoretischen Knockoff-Kriterium avancieren konnte.13 Während Daston sich dabei auf vermenschlichte Gottesvorstellungen bezieht, kehrt das hier vertretene Argument diese Logik gewissermaßen um: Die unterstellte Andersartigkeit des Menschenkörpers ist theologisch vor allem deswegen problematisch, weil sie einen vergöttlichten Menschenkörper und einen deformierten Tierkörper insinuiert.

3.

»Formen der Seele«

3.1

Der Menschenkörper

Ein erster Anhaltspunkt für diese Vermutung liegt bereits in der Argumentation Gregor Etzelmüllers, der schon eingangs zitiert wurde. Selbst bei Etzelmüller, der sich dezidiert um eine Neuorientierung hin zu einer christlichen Wertschätzung von (menschlicher) Körperlichkeit bemüht, wird die Abwertung des Tierkörpers dadurch impliziert, dass 13

Vgl. L. Daston: Intelligences: Angelic, Animal, Human, S. 39. Vgl. dazu ebenfalls S. Horstmann/R. Hagencord: Malum anthropogenum?, S. 291-304.

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er zwar den Geist des Menschen – wohlgemerkt nicht seine Seele – »in evolutionärer Kontinuität« sieht und sich damit bewusst von den klassischen theologischen Anthropologien abgrenzen will. Er betont aber auch, dass es »durch evolutionäre Entwicklungen zu markanten Veränderungen im Organismus des Menschen [komme], die dann den Menschen als Ganzes von anderen Organismen unterscheiden«14 . Über singuläre Bemerkungen, die wie diese auf eine vermeintlich andere Körperlichkeit des Menschen abheben, mag man zunächst vielleicht hinweglesen; folgt man der Fährte jedoch systematisch, dann zeigt sich das – wie ich meine: durchaus erschreckende – Bild einer Tradition, die tatsächlich immer wieder darauf insistiert hat, gerade zwischen den Ausprägungen menschlicher und tierlicher Körperlichkeit eine fundamentale Grenze ziehen zu wollen. Dazu seien nur einige wenige Belege angeführt, die hier genealogisch zurückverfolgt werden sollen. Die vielleicht einschlägigste und wohl auch umfangreichste theologische Anthropologie der vergangenen Jahre stammt vom Münsteraner Dogmatiker Thomas Pröpper. Er diskutiert in seiner Anthropologie ausführlich das dem Menschen zugesprochene Prädikat als Ebenbild Gottes – und er wendet sich zunächst, vielleicht überraschend, dezidiert gegen jene Versuche, die Gottesebenbildlichkeit in abstrakten, intellektualistisch verstandenen Gehalten zu suchen: »Lange Zeit«, so Pröpper, ist die theologische Anthropologie »gleichsam apriorisch vorgegangen und hat den Bildcharakter des Menschen [mithin also seine behauptete Sonderstellung, Anm. SH] selbstverständlich in dem gesucht, was ihn über die Tiere erhebt: Selbstbewusstsein, Vernunft, freier Wille, Personhaftigkeit, Verantwortlichkeit […]. Und so sind diese Vorstellungen geradezu Allgemeingut geworden und […] entsprechende Deutungen auch in den exegetischen Kommentaren allgegenwärtig.«15 Nun ist es nicht so, dass Pröpper diese Bestimmungen prinzipiell zurückweist; allein deren Ursprung in der griechischen Philosophie und der »Einfluss hellenistischen Denkens«16 stören ihn, weil letzteres zu stark von der Plastizität des biblischen Denkens abstrahiere – die auf der Ebenbildlichkeit Gottes beruhende Sonderstellung des Menschen, so folgert Pröpper, müsse die Bedeutung des Bildes als »Statue, Rundplastik, Schnitzwerk« ernstnehmen und insofern »die Gottesebenbildlichkeit des Menschen in seiner Leibgestalt […] vermuten.«17 Vereint mit der geballten Autorität der (alttestamentlich-)anthropotheologischen Tradition folgert Pröpper dann, eben diese Leibgestalt des Menschen »als ein ›Abbild der Gottesgestalt‹ anzusehen (Zimmerli), den Begriff säläm in einem ›rein morphologischen‹ Sinn aufzufassen (Humbert) und die Gottesebenbildlichkeit ›vornehmlich leiblich zu verstehen‹ (von Rad), also ›in erster Linie auf den Körper des Menschen‹ zu beziehen (Gunkel) und zwar namentlich auf die ›aufrechte Gestalt‹ (Köhler).« In diesem Sinne, so Pröpper, sei schon Augustinus bereit, »die aufrechte Gestalt als sichtbaren Ausdruck für die gottesebenbildliche Seele gelten zu lassen«18 .

14 15 16 17 18

G. Etzelmüller: Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie, S. 230. T. Pröpper: Theologische Anthropologie, Bd. 1, S. 154. Ebd. Ebd. Ebd., S. 154f.

Anima (de-)forma corporis

Diese Annahme, dass sich die unterstellte Sonderrolle des Menschen durch seine spezifische Körperlichkeit begründen lasse, zeigt sich bereits in den vorkonziliaren Dogmatiken. So liest man in der einschlägigen Dogmatik des Münsteraner Neuscholastikers Franz Diekamp, dass es zwar »keine ihrer Natur nach böse Materie« gebe; Diekamp sagt aber auch: Der nächste Zweck der materiellen Schöpfung sei es, »dem Menschen zu dienen in der Erfüllung seiner Aufgaben. […] Die Materie hat nicht wie der Geist einen in ihr selbst ruhenden Zweck. Der Mangel des Selbstbewusstseins und der freien Selbstbestimmung ordnet sie dem Geiste unter.«19 Mit Blick auf die abstammungsbedingte, körperliche Nähe von menschlichen und nichtmenschlichen Tieren hält Diekamp fest: Auch wenn die Seele des Menschen nicht vom Tier stammen könne, sei dies für den Leib zwar »nicht ganz unmöglich«, aber er ergänzt sofort mit Verweis auf eine andere Quelle: Die bisher für die Tatsächlichkeit dieses Vorganges vorgebrachten Beweise seien »sehr schwach, ja geradezu ungenügend«20 . Diekamp scheint jedenfalls, das machen seine Ausführungen deutlich, sehr an der Besonderheit des menschlichen Körpers zu liegen, wenn er mehrfach betont: »Es ist den Evolutionisten nicht gelungen, die vorausgesetzten Mittelglieder, die Übergangsformen von dem Tier- zu dem Menschenleibe nachzuweisen. […] Der Mensch tritt unvermittelt in der Diluvialzeit auf. Keine jemals bekannt gewordene Tierart weist in ihrem Körperbau eine so nahe Verwandtschaft mit dem Menschen auf, dass dessen Abstammung von den Tieren wahrscheinlich wäre. Überall gibt es durchgreifende Verschiedenheiten, so dass eine Stammesverwandtschaft zwischen Mensch und Tier im höchsten Maße unwahrscheinlich ist.«21 Die gut drei Jahrzehnte später erschienene Dogmatik von Ludwig Ott formuliert immer noch tendenziell ablehnend, aber im Grundtenor dennoch etwas vorsichtiger: »Abzulehnen ist die materialistische Entwicklungslehre, wonach sich der Mensch seinem ganzen Wesen, nach Leib und Seele, mechanisch aus dem Tierreich entwickelt hat. Die Seele des ersten Menschen wurde von Gott unmittelbar aus Nichts erschaffen. Bezüglich des Leibes lässt sich die unmittelbare Bildung desselben aus anorganischem Stoff durch Gott nicht mit Sicherheit behaupten. Grundsätzlich ist die Möglichkeit zuzugeben, dass Gott die geistige Seele einem organischen Stoff, d.h. einem ursprünglich tierischen Leib, einhauchte. Es sprechen tatsächlich beachtenswerte, wenn auch nicht entscheidende paläoanthropologische und biologische Gründe für einen genetischen Zusammenhang des menschlichen Leibes mit den obersten Formen des Tierreichs. Die

19 20 21

D. Diekamp: Dogmatik, S. 73. Ebd., S. 85. Ebd. Auch liest Diekamp die Erschaffung der Eva aus der Rippe Adams parallel zur Benennung der Tiere durch Adam, und folgert hinsichtlich der körperlichen Ähnlichkeiten: »Unter den Tieren findet Adam kein Wesen, das ihm ähnlich ist, aber in Eva, die aus seiner Seite genommen wurde, erblickt er eine ihm wesensgleiche »Männin«. Diese Gleichheit«, so Diekamp weiter, »ist jedoch mit einer Überordnung des Mannes in der Ehe verbunden, da das Weib nach dem Manne, aus ihm und um seinetwillen hervorgebracht wurde; auf diese Weise schreibt Diekamp unmittelbar in die zuvor behauptete Wesensgleichheit doch wiederum eine essenzielle Ungleichheit ein. Vgl. ebd., S. 86f.

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Simone Horstmann

Enz[yklika] ›Humani generis‹ Pius’ XII. (1950) […] mahnt zur sorgfältigen Prüfung der für und gegen die Entstehung aus einem schon belebten Stoff sprechenden Gründe und warnt vor der Annahme, dass durch die bisherigen Ergebnisse der Ursprung des menschlichen Leibes aus einem organischen Stoff sicher feststehe und bewiesen sei und dass sich aus den Offenbarungsquellen nichts ergebe, was in dieser Frage größte Zurückhaltung und Vorsicht verlange. […] Der Gedanke, dass die Geistseele einem Tierleib eingeschaffen wurde, liegt der Hl. Schrift und ebenso auch den Vätern noch fern.«22 Und nicht zuletzt auch Thomas von Aquin, der bekanntlich die aristotelische Philosophie für die christliche Theologie adaptiert, spekuliert in seiner Summa contra gentiles über die Frage, »wie eine geistige Substanz Form eines Körpers sein kann«. Thomas stellt hier, bereits in einer gewissen Überstrapazierung des Hylemorphismus, fest, dass »je vorzüglicher eine Form ist, sie [umso mehr] in ihrem Sein über die Materie hinaus [geht]«23 . Er spricht also m.a.W. von einem materiellen Körper, der bedingt durch seine ›vorzügliche Form‹ immer schon mehr als bloß materieller Körper sei. Wenige Kapitel später spitzt Thomas diesen Gedanken noch weiter zu und formuliert unter der Überschrift »Mit keinem anderen Körper außer dem menschlichen ist eine geistige Substanz als Form vereint«: »Und so muss das, was die edelste Form, nämlich eine geistige Substanz, hat, wenn es ein gemischter Körper ist, der ausgewogenste sein. Daher sehen wir auch, dass Weichheit des Fleisches und Güte des Tastsinnes, die eine Ausgeglichenheit des Gefüges zeigen, ein Zeichen guten Verstandes sind. Das im höchsten Grade ausgeglichene Gefüge aber ist das Gefüge des menschlichen Körpers.«24 Und in einem späteren Buch der Summa contra gentiles heißt es bei Thomas dann schließlich: »Die Seele eines Menschen unterscheidet sich mehr vom Körper eines Wesens einer anderen Art als vom Körper eines anderen Menschen.«25 Es lohnt daher, die Spur des stets vom Tierkörper unterschiedenen Menschenkörpers weiter zu verfolgen; neben den historischen Belegen ist dieses Thema gerade in den eschatologischen und gnadentheologischen Traktaten auffindbar: Dass die klassische Theologie demnach nicht nur den verklärten Körper des Menschen mit einem gewissen Leistungsupgrade – den sog. Brautgaben bzw. dotes – versehen dachte, zeigt etwa auch ein Blick auf die Vorstellung einer »übernatürlichen Ausstattung der ersten Menschen« – diese Lehre wird in den Dogmatiken in der Regel mit dem (höchsten) Gewissheitsgrad »de fide« versehen und umfasst der Sache nach verschiedene »Gaben der

22 23

24 25

L. Ott: Grundriss Dogmatik, S. 114. Thomas von Aquin: Summa contra gentiles, lib. 2, cap. 68, nr. 6. Vgl. auch ebd., nr. 9: »Denn das geistige Erkennen geschieht nicht durch ein körperliches Organ. Deswegen darf jenes Prinzip, durch das der Mensch erkennt, welches die geistige Seele ist und das über die Seinsverfassung der körperlichen Materie hinausgeht, nicht wie die anderen materiellen Formen gänzlich von der Materie durchdrungen oder in sie eingetaucht sein.« Ebd., lib. 2, cap. 90. Ebd., lib. 4, cap. 84, nr. 9.

Anima (de-)forma corporis

Integrität«, u.a. das donum immortalitatis, d.i. die Gabe der leiblichen Unsterblichkeit, sowie das donum impassibilitatis, d.i. die Gabe der Leidensfreiheit.26 Selbstverständlich bilden Vorstellungen wie diese stets auch die Hoffnung auf ein Ende des körperlichen Leidens ab, dies ist ihnen sicher zugute zu halten. Sie haben sich aber offenbar zugleich dahingehend verselbstständigt, dass sie – wie der US-amerikanische Mediävist Karl Steel betont, der ähnliche Beobachtungen an anderen, vorwiegend mittelalterlichen Texten macht – eine Vergöttlichung des irdischen Menschenkörpers behaupten.27 Steel liefert unter dem Titel »How to Make a Human« eine beeindruckend akribische und gleichermaßen umfangreiche Studie zur Gewalt an Tieren – immer wieder, so Steel, sei er bei der Auswertung der Quellen auf irritierende Hinweise etwa zur besonderen Qualität menschlichen Fleisches gestoßen; dieses sei, so eine von ihm zitierte Quelle »better than pork or fat vension. No piglet’s flesh could be as good as this«; auch das Jagd-Handbuch des Edward von York aus dem 15. Jahrhundert, auf das Steel verweist, formuliert ganz ähnlich: »Man’s flesh is so savory and so pleasant that when [wolves] have taken to man’s flesh they will never eat the flesh of other beasts, though they should die of hunger.«28

3.2

Der Tierkörper

Was die Vergöttlichung des Menschenkörpers wiederum für Tiere und für die theologische Konstruktion des Tierkörpers bedeutet, lässt sich regelrecht spiegelbildlich zum oben Gesagten verstehen. Mich interessiert an dieser Stelle weniger die zweifellos ebenfalls bemerkenswerte Strategie der Verteufelung des Tierkörpers.29 Vielmehr möchte ich den Blick auf zwei Hintergrundannahmen lenken, die für die ungleiche Konstellation aus vergöttlichtem Menschenkörper und deformiertem Tierkörper prototypisch sein dürften. Der verzehrbare Tierkörper Die erste und vielleicht entscheidendste Konsequenz dieses theologisch-bedingten Gefüges besteht darin, dass (nichtmenschliche) Tiere bis heute gleichermaßen als tötbar30

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So z.B. bei L. Ott: Grundriss Dogmatik, S. 125ff. Vgl. K. Steel: How to Make a Human, S. 46. Vgl. dazu auch C. J. Adams: Zum Verzehr bestimmt, S. 30: »Bis ins 20. Jhd. hinein überlebte die Auffassung, dass Fleischessen zur Überlegenheit der westlichen Welt beitrug. Publizisten eines Fleischunternehmens schrieben in den 40ern: ›Wir wissen, dass fleischessende Rassen in ihrem aufwärtsgerichteten Kampf durch die Zeiten führend im Fortschritt der Menschheit waren und sind.‹« K. Steel: How to Make a Human, S. 120f. Vgl. dazu T. Macho: Die Tiere des Leibhaftigen, S. 255-263. Nicht, dass wir töten, hat dazu geführt, dass wir so viele Tiere vernichten, sondern dass wir ermöglicht haben, dass man sie töten kann, so V. Despret: Was würden Tiere sagen, S. 116: »Der ethische Veganismus zollt der notwendigen Wahrheit Tribut, dass unsere angeblich normale Beziehung zu den Tieren von ungeheurer Brutalität ist.« Wichtig wäre in diesem Zusammenhang auch die Beobachtung, dass über die (Körper der) Tiere selbst heute noch vielfach so medial berichtet wird, dass man daraus schließen müsste, dass Tiere gar nicht sterben, sondern lediglich ›verenden‹ – auch dieser Begriff verweist letztlich auf die o.g. Seelenlehre, deren Quintessenz auch darin be-

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wie als verzehrbar gelten.31 Diese einfache Feststellung, die gemessen an den üblichen sozialen Normen zunächst kaum mehr als eine Selbstverständlichkeit formuliert, wird vor dem Hintergrund der hier verhandelten These als Ergebnis einer theologisch-legitimierten Profanisierung des Tierkörpers lesbar.32 Die Bedeutung insbesondere der allgemein unterstellten und praktizierten ›Essbarkeit‹ des Tierkörpers bringt der bereits zuvor erwähnte Mediävist Karl Steel auf den Punkt: Von der überwiegenden Mehrzahl der mittelalterlichen Texte – und man wird hier ergänzen müssen: auch der meisten theologischen Überlegungen – her, zeigt sich die vielleicht wichtigste Unterscheidung zwischen Mensch und Tier darin, dass gegessene Tiere Teil des Menschenkörpers werden und in diesem menschlichen Körper rückstandslos aufgehen bzw. verschwinden – Menschen hingegen (man denke nur an die hier prototypische biblische Erzählung von Jona im Bauch des Fisches) gelten in diesen Texten als nicht essbar bzw. genauer: als nicht verdaubar und nicht verstoffwechselbar – ihr Körper wird, so er denn trotzdem einmal ›irrtümlich‹, d.h. naturrechtswidrig von einem Tier gefressen wird, wieder ausgespien, oder zumindest im Jenseits als verklärter Leib restituiert; möglicherweise trägt selbst noch das säkulare Pendant der Gottesebenbildlichkeit, nämlich die Würdeformel, eine Spur dieses Denkens, wenn sie durch die ›Unantastbarkeit‹ dieser Würde konkretisiert wird und man diese Unantastbarkeit dem ursprünglichen Wortsinne nach auffasst. Das Ergebnis dieser ebenso simplen wie in der Regel übersehenen Logik besteht darin, dass gegessene Tiere zu menschlichem Fleisch werden, gegessene Menschen aber Mensch bleiben (was wiederum erklärt, warum gerade der Kannibalismus theologisch derart verurteilt wurde – er bringt das geschilderte System ins Wanken, weil der Mensch hier gleichermaßen als verzehrbar wie als verzehrend gedacht werden müsste). Das Ergebnis ist, wie Steel bemerkt, wenig mehr als ein unverwundbarer, nicht konsumierbarer Mensch.33 Die theologische Figur des von allem losgelösten, verabsolutierten Sünders – »homo incurvatus in se ipsum« – ist auch ein »homo invulnerabilis«, der selbst noch das verbindende, gemeinsame Fleisch in die Trennungslogik zwischen dem Humanen und dem Animalen überführt. Steel zufolge ist diese Denkfigur gerade auch deswegen historisch derart wirkmächtig geblieben, weil sie unterstellt, dass menschliche Gewalt dazu führen kann, dass Tiere in menschlichem Fleisch verschwinden – und es dadurch geradezu vermehren: »One kind of violence, that of humans, can form, defend, and expand polities, including the little polity of the human body, and the other kind of violence, that of animals

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steht, den Tieren ihren Tod zu verwehren, ihm jegliche metaphysische Bedeutung abzusprechen. Vgl. dazu S. Horstmann: Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?. Vgl. dazu ausführlicher S. Horstmann: Konturen einer Animalogie. Ganz ähnlich beschreiben auch L. Ratschiller/S. Weichlein: Der schwarze Körper als Missionsgebiet, S. 16, dass säkulare Räume von religiösen Missionaren geschaffen wurden: »Säkularisierung wurde damit zu einem Teil von Mission und Religion und nicht zu ihrem Gegenteil.« K. Steel: How to Make a Human, S. 117. Vgl. ebenfalls ders.: Meat Me in Paradise, S. 4: »Resurrection doctrine wants a body without what it means to be a body, without any of the vulnerability, interdependence, prosthesis, supplementarity, hauntology, parasitism, symbiosis and symmateriality of actual bodies.«

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(and animalized humans), can only temporarily disturb the smooth workings of the reasonable polity before being put down […].«34 Auf der Linie dieser Kritik hat unlängst der Augsburger Philosoph Jens Soentgen unter dem Titel »Ökologie der Angst« einen »ökologischen Selbstentzug« des Menschen kritisiert35 – und diese Bemerkung dabei explizit mit der Vorstellung der leiblichen Auferstehung verknüpft: Der Mensch, so Soentgen, »sieht sich gern als ein Gegenüber der Natur und versucht, sich den ökologischen Kreisläufen zu entziehen. Seine Toten beerdigt er in Särgen und beschwert die Gräber mit Steinen, um zu verhindern, dass die Leichname von wilden Tieren verzehrt und damit Teil des allgemeinen Kreislaufs werden. Die Ökologie zeigt, wie sinnlos dies ist; denn der Mensch ist schon durch Atmung, Verzehr und Ausscheidung in übergreifende ökologische Systeme eingebunden. Entfernt er sich, etwa als Raumfahrer, aus der Biosphäre, kann er nur mit höchstem technischen Aufwand und selbst dann nur für kurze Zeit überleben.«36 Das Paradigma für diesen ökologischen Selbstentzug sei die Religion, insbesondere die Lehre von der leiblichen Auferstehung.37 Auch wenn Steel und Soentgen in ihrer Argumentation jeweils unterschiedliche Schwerpunkte legen, verbindet sie doch für das hier vertretene Anliegen ein entscheidender Punkt: Der kritisierte ökologische Selbstentzug des Menschen, der sich wohl am deutlichsten in der Unverzehrbarkeit seines Körpers bzw. in der zur Notwendigkeit verklärten Verzehrbarkeit des Tierkörpers zeigt, ist auch ein theologischer Selbstentzug, der aufs Engste mit der vorgängigen Unterscheidung in der Seelenfrage verknüpft scheint. Der deformierbare Tierkörper Mit der letztlich theologisch zu verantwortenden Differenzierung zwischen essbaren und nichtessbaren Körpern ist die vielleicht gravierendste Folge der anima-(de-)formacorporis-Lehre benannt. Die Deformierung des Tierkörpers reicht aber darüber hinaus: Seine Deformierbarkeit scheint zu einer regelrecht epistemologischen Grundüberzeugung geworden zu sein, wie sich beispielsweise an den Ausführungen Ulrich Lükes zeigen lässt. Der Aachener Systematiker Ulrich Lüke hat einen Sammelband mit dem vielsagenden Titel »Der Mensch – ein Tier. Und sonst?« herausgegeben. Er selbst füllt eben diese Frage nach dem »und sonst?« im eigenen Beitrag mit dem Hinweis auf die Transzendenzfähigkeit des Menschen38 und begründet seine Position mit der Intuition,

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K. Steel: How to Make a Human, S. 118. J. Soentgen: Ökologie der Angst. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Soentgen hält dem das Beispiel Alfred Nobels entgegen, der verfügte, dass sein Leichnam in Schwefelsäure aufgelöst und mit Kalk gelöscht werden sollte, bevor das Produkt dieser Reaktion als Dünger verwendet werden sollte. Soentgens Kritik wäre gleichwohl nochmal mit dem katholischen Paradigma von Ernährung schlechthin, der Transsubstantiationslehre, ins Gespräch zu bringen, vgl. dazu T. Ruster: Wandlung. Vgl. U. Lüke: Aspekte der Differenz von Tier und Mensch.

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dass »niemand […] beim Besuch eines Zoos oder eines Forschungszentrums für höhere Primaten (»Herrentiere«) auch nur einen Augenblick lang in Zweifel darüber geraten [wird], wer als Mensch und wer als Tier anzusehen ist […].«39 Es ist wohl bezeichnend, dass Lüke mit dem Verweis auf Zoos und tierexperimentelle Labore ausgerechnet zwei wesentliche Orte der Gewalt an Tieren anspricht; Orte also, an denen Tierkörper immer schon der menschlichen Verfügungsgewalt ausgeliefert sind und daher auch immer schon als deformierbar gelten müssen. Lükes Argument baut also gerade auf einer Situation extremer, gewalthaltiger Asymmetrie, die er dennoch heranzieht, um von ihr her eine Aussage über Unterschiede zwischen Menschen und (anderen) Tieren abzuleiten. Die Möglichkeit, dass diese Unterschiede, die Lüke behauptet, nicht zuletzt an diesen Orten der Gewalt produziert und stets aufs Neue konstituiert werden, sieht Lüke gleichwohl nicht, was sich auch an der despektierlichen Beschreibung der in den Versuchen genutzten Tiere als »Herrentiere« zeigen dürfte, die einen an Absurdität kaum noch zu überbietenden Anspruch auf Herrschaft durch diese Tiere selbst noch im Angesicht ihres systematisch betriebenen Missbrauchs behauptet. Ich greife dieses Beispiel hier deswegen auf, weil es besonders deutlich sichtbar macht, wie verzerrt selbst noch der vermeintlich unbefangene Blick der (insbesondere: Systematischen) Theologie auf die Wirklichkeit der (anderen) Tiere vielfach ist. Eben diese Verzerrung, die von einem offenkundigen epistemischen Anthropozentrismus geprägt ist40 , formt nicht nur die Wahrnehmung des Tierkörpers, sondern auch dessen ganz handfeste Wirklichkeit. In den Augen und Händen der Theologie werden (andere) Tiere nicht (allein) zu Objekten – dieser Status würde ihnen zumindest dem Begriff nach ein gewisses Maß an Widerständigkeit zugestehen –, sie werden vielmehr zu einem entindividualisiertem Rohstoff von nahezu kultischer Dimension, dessen gesellschaftlicher Herstellungsprozess an bekanntester Stelle wohl von Carol J. Adams kritisiert wurde, die vom »absent referent« spricht und damit die Tatsache beschreibt, dass immer dann, wenn vom Fleisch die Rede ist, das eigentliche Tier hinter diesen Begriff zurückzutreten hat: Indem sie getötet werden, werden Tiere scheinbar zu Fleisch, zum Ergebnis jener großen Transsubstantiation41 vom lebendigen, individuellen Tier in den beinahe metaphysischen Rohstoff ›Fleisch‹. Vielleicht lässt sich diese metaphysische Verfleischlichung an keinem anderen Tier so deutlich festmachen wie am Schwein – jenem Tier, von dem Steel schreibt, es wäre

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Ebd., S. 125. Vgl. T. Tyler: CIFERAE. Dass die Übertragung dieses theologischen Konzepts auf die Wirklichkeit der heutigen Tierindustrie durchaus berechtigt ist, bezeugt bspw. der u.a. von der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebene »Fleischatlas«: Bereits im Inhaltsverzeichnis findet sich dort der Begriff der »Verwandlung« wieder: »Wer möglichst viele Teile eines Tieres in Speisen verwandeln will, ist in Hofschlachtereien richtig« (ebd., S. 4); ebenso beschreibt der »Fleischatlas« genetische – transsubstantiierende – Manipulationen an Tieren, oder auch das vollkommen vom Tier-Individuum gelöste Konzept des Invitro-Fleisches (ebd., S. 4f). Gleichermaßen verwendet der Atlas immer wieder verunklarende Formulierungen, die bewusst nicht von Tieren, sondern von Fleisch sprechen, und dies gerade dort, wo doch eigentlich nur Tiere gemeint sein können, so z.B. in der Kapitelüberschrift: »Das Fleisch und seine Flächen« (ebd., S. 4).

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»the most animal of animals«42 , weil das Fleisch anderer Tiere stets nur das sekundäre ›Produkt‹ war: Kühe und Ziegen wurden zuerst wegen ihrer Milch gehalten, Ochsen und Pferde wegen ihrer Zugkraft, Hühner wegen der Eier. Mit dem Schwein tritt erstmals eine neue Art der Beziehung auf, insofern dieses Tier vom Menschen einzig und allein seines Fleisches willen genutzt wird – selbst in mittelalterlichen Darstellungen tauchen Schweine Steel zufolge fast immer nur als Ferkel oder sehr junge Tiere auf, weil sie alsbald getötet wurden. Zudem sei bereits im Mittelalter die unheimliche – heute auch genetisch feststellbare – Nähe des Schweins zum Menschen bekannt gewesen: Ein Grund mehr, warum sich gerade an ihm eine derart massive Form der Gewalt entlud, schien es doch gerade in dieser Ähnlichkeit immer weiter zur vielleicht radikalsten Bedrohung des Humanums zu werden. Das Fleisch dieser ersten vollständig verfleischlichten Tiere gleicht daher in gewisser Hinsicht einer neuen, vorher unbekannte Substanz – etwas davon zeige sich womöglich noch in der anagrammatischen Nähe der Worte »porcus« und »corpus«, so Steel.43 Wie sehr selbst noch (spät-)mittelalterliche und frühneuzeitliche Tischbräuche bzw. Rezepte von diesem Muster zeugen, das belegt auch die konzise Analyse von Karen Raber44 , die Rezeptbücher/-texte dieser Zeit untersucht hat und dabei einen Schwerpunkt auf die – nicht leicht zu ertragenden und hier ausgesparten45 – Rezepte zur Zubereitung lebendiger Tiere legen. Interessant ist aber vor allen Dingen, dass Raber diese Praktiken mit einer Veränderung der Begrifflichkeiten in Verbindung bringt: Erst zu einem recht späten historischen Zeitpunkt, so merkt sie an, bekam der Begriff »Fleisch« [meat] die spezifische Bedeutung »totes, zum Verzehr bestimmtes Tierfleisch«; vor dem fünfzehnten Jahrhundert – also vor dem historischen Kontext dieser Rezepte – war Fleisch hingegen der generische Begriff für Nahrung [food] und bezog sich bisweilen auch noch auf menschliche Körper. Parallel dazu lasse sich erkennen, dass zusätzlich zu den biologischen Namen der Tiere kulinarische Begriffsäquivalente entstanden: ›sheep‹ und ›pig‹ wurden ›mutton‹ und ›pork‹; ganz so, wie heute kaum noch von Schinken, sondern eher vom Anglizismus ›Bacon‹ die Rede ist, nicht mehr von Huhn, sondern von ›Chicken‹ oder den ›Chickenwings‹: »The etymologies of meat‹ and ›flesh‹ thus suggest that something was happening culturally in the early modern era that required the role of dead animals at the table to be recoded, to be divided off from other categories of food and bodies.«46

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44 45 46

K. Steel: How to Make a Human, S. 180. Vgl. ebd., S. 181-184. Steel berichtet auch von der mittelalterlichen Textform »tierlicher Testamente«; besonders bekannt sei das »Testamentum porcelli«: Ein Schwein soll seinen letzten Willen verfassen, nachdem ihm der Metzger erklärt hat, dass er es töten wird. Interessant ist hier laut Steel, dass der Lesende beide Rollen einnimmt, denn der Text ist aus Sicht des Tiers verfasst; der Lesende muss also Schwein werden, aber zugleich auch am Ende des Textes der Logik des Metzgers folgen, der das Tier tötet. Der Leser hat in sich zugleich die Stimme des Tiers, wie die des gesetzgebenden Metzgers, dessen Messer gewinnt, in sich. (Vgl. ebd., S. 206) Vgl. K. Raber: Animals on the table, S. 107-122. Vgl. dazu ausführlicher: S. Horstmann: Konturen einer Animalogie. K. Raber: Animals on the table, S. 108f.

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Gleichwohl sorgte dieser neue Status für dezidiert totes Fleisch für Probleme bei der Feststellung, was genau nun dazu führe, dass »Fleisch« aus dem Tier entsteht: »Ist das lebende Tier bereits am Anfang Fleisch? An welchem Punkt in seiner Metamorphose wird ein Tier zu Fleisch: Beim Schlachten, beim Zerteilen durch den Metzger, beim Kochen, beim Verzehr?«47 Offenbar, so Raber, wurde das Fleisch von Tieren durch seine vagabundierende, sich ständig verändernde Materialität verstanden, die eine klare Antwort auf diese Frage nahezu verunmöglichte. Erstaunlich viele »Fleischpraktiken« könnten als »performing meat« beschrieben werden, das den Tisch zum Ort der Verwandlung, zur Spielfläche für den (gerade nicht eindimensional gedachten) Übergang zwischen Leben und Tod machte. Dies gelte sowohl für das »Zombie-Fleisch« eines betäubten Vogels, der während seiner ›Zubereitung‹ bei Tisch wieder zu Bewusstsein kommen sollte, aber vor allem für sog. Engastrations-(Koch-)Techniken, bei denen der Koch die Überreste eines Tieres in ein anderes Tier hineinzustopfen hatte. Zu den nach dieser Methode zubereiteten Gerichten gehört das sog. ›Turducken‹, bei dem Hühnerfleisch zuerst in einen Entenkadaver und dann so in einen Truthahn gefüllt wird, dass ein mehrschichtiges ›Fleischensemble‹ entsteht; oder auch das sog. ›re-dressed‹-Fleisch, das so hergerichtet wird, dass das Fleisch wie das lebendige Tier bzw. wie dessen Körperteile aussieht, die mit den Teilen anderer Tiere vernäht wurden; ebenso beliebt seien Torten gewesen, aus denen beim Anschnitt lebendige Vögel herausfliegen sollen. Aus heutiger Sicht sollte man nicht zu vorschnell mit der Verurteilung derartiger Kochpraktiken als antiquiert sein: Ein kurzer Rundweg durch die ausufernden Fleischtheken der heutigen Supermärkte macht schnell deutlich, dass das Stichwort ›Engastration‹ auch heute sehr passend beschreibt, was man dort vorfinden kann – von der sog. ›Bärchenwurst‹ bis zur ›Kalbsleberwurst‹ aus Schweinefleisch über die unzähligen Versuche, das Produkt ›Fleisch‹ vom Gesamt des Tierkörpers zu entfremden, lassen sich hier vielfältigste Varianten einer vorschnell als mittelalterlich abgekanzelten Esskultur finden. Sie bilden die – letztlich auch theologische – Überzeugung ab, dass der Tierkörper zu einer beliebig wandelbaren Rohmasse degradiert wurde, die je nach Vorstellung des (menschlichen) Küchenchefs mal diese, mal jene Gestalt anzunehmen vermag. Lediglich am Körper des Menschen endet diese endlose Verwandlung, die Metamorphose des fleischlichen Wunderstoffs – er erweist sich als immun gegenüber der performativen Kraft des Fleisches, er bleibt mit sich identisch, und vollzieht den Stoffwechsel der Ernährung selbst dort, wo er tierliches Fleisch konsumiert, wenn überhaupt so beinahe als Maschine, die das tierliche Fleisch zwar passiert, aber unverändert zurücklässt. Das Bild, das insbesondere die traditionelle Eschatologie vom stoffwechselbefreiten Menschen im Paradies gezeichnet hat, ist längst irdische Wirklichkeit geworden. Sie hat ihn, gerade um seine Lebendigkeit zu retten, zur unverletzbaren Maschine, zu einem Monstrum gemacht.

47

Ebd., S. 109 (eig. Übers.).

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4.

Fazit

Gerade der Hylemorphismus, der sich in der anima-forma-corporis-Lehre ausdrückt und als dezidiert antidualistische Konzeption des Seele-Körper-Verhältnisses gedacht war, verstärkt – so das Argument dieses Beitrags – fatalerweise gerade den heute ohnehin prekären Dualismus von ›Mensch‹ und ›Tier‹. Die vorangegangenen Überlegungen haben versucht zu zeigen, zu welchem Ergebnis diese Logik führt: Während die offiziellen theologischen Diskurse um die Bedeutung der (anderen) Tiere in aller Regel stark an der Frage nach den intellektualistisch-konzipierten Fähigkeiten oder Eigenschaften von Tieren orientiert sind, unterschlagen sie vielerorts, dass mit dieser Perspektive in theologischer Hinsicht stets nur eine von zwei wesentlichen, einander bedingenden Perspektiven beleuchtet wird. Aus diesem Grund hat der Beitrag zunächst dargelegt, dass die theologische Tradition, sofern sie der – lehramtlich bis heute unwidersprochenen – Vorstellung unterschiedlicher Seelenvermögen bei ›Tier‹ und ›Mensch‹ anhängt, damit eben nicht nur eine fragwürdige Vorannahme affirmiert, der bereits dadurch beizukommen wäre, dass man sie qua ihrer metaphysischen Verfasstheit als nicht mehr wissenschaftsfähig zurückweist. Eine solche Reaktion übersieht, dass diese Tradition an einer Überzeugung mitgewirkt hat, die aus der ihr innewohnenden Logik heraus von einer grundlegend anderen Körperbeschaffenheit von Mensch und Tier ausgehen muss, so unplausibel diese Unterscheidung heute wirken mag. Theologisch produziert wurde ein unverletzbarer, nicht konsumierbarer menschlicher Körper auf der einen, sowie ein grundsätzlich verzehrbarer und deformierbarer Tierkörper auf der anderen Seite, und damit im Ganzen eine Sicht auf das Verhältnis von Menschen und (anderen) Tieren, die sich längst über die binnentheologischen Diskurse hinaus verselbstständigt hat. Gerade für die Theologie ist es daher womöglich entscheidend, dass sie die Diskussion um ihr Verhältnis zu den (anderen) Tieren ausgehend von der Körperlichkeit von Menschen und (anderen) Tieren führt und dabei die Anerkennung der gemeinsamen Körperlichkeit allen graduellen Unterschieden zum Trotz in ihre theologischen Plausibilitätsstrukturen einbringt; womöglich eröffnen sich erst über diesen vermeintlichen Umweg auch theologisch anerkannte Neujustierungen in der dogmatisch entscheidenden Seelenfrage. Letzteres ist auch deswegen möglich, weil die oben skizzierte Struktur bei Weitem keine ungebrochene Tradition darstellt – insbesondere das Eucharistieverständnis setzt hier einen starken Kontrapunkt, wenn es davon ausgeht, dass Christus selbst zum Mahl für andere wird48 , das Bild vom unverletzlichen und unverzehrbaren Körper also grundlegend unterläuft49 ; ganz so, wie Michael Seewald unlängst darauf hingewiesen hat, dass die für das Christentum grundlegend bedeutsame Entäußerung Gottes (Kenosis) dem altgriechischen Wortlaut nach durchaus als Gestaltwandel gedacht wurde, also dezidiert die Form des Körpers thematisiert: Der zentrale Philipperhymnus (Phil 2) spricht davon, dass Christus in der ›Form Gottes‹ (morphé theou) exisitiert, daran aber nicht festgehalten habe, und sich stattdessen entäußerte und die Form eines Sklaven (morphé doulou) angenommen habe.50 In eine ähnliche Richtung 48 49 50

Vgl. S. Horstmann: »Furcht und Schrecken«, S. 221ff. Vgl. dazu auch G. Antunes/B. Reich/C. Stange: Die Sicht des Hinkenden, S. 9-33. Vgl. M. Seewald: Dogma im Wandel, S. 99.

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weist auch der Vorschlag von Catherine Keller, den zentralen Begriff der Inkarnation (der bezeichnenderweise vielfach als ›Menschwerdung‹ übersetzt wird, dem Wortlaut nach aber einzig ›Fleischwerdung‹ bedeutet), durch das von ihr vorgeschlagene Konzept der »Interkarnationen« zu adaptieren und damit die einseitige Relation zwischen Gott und Mensch zugunsten eines demokratisierten und multispeziesfähigen Interkarnationsverständnisses aufzubrechen.51

Literaturverzeichnis Adams, Carol J.: Zum Verzehr bestimmt. Eine feministisch-vegetarische Theorie, Mühlheim a. d. Ruhr: Guthmann Peterson 2002. Antunes, Gabriela/Reich, Björn/Stange, Carmen: »Die Sicht des Hinkenden – Zum Verhältnis von Wahrnehmung und Körperdeformation: Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.), (De)formierte Körper 2 – Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter, Göttingen: Univ. Verlag 2014, S. 9-33. Armstrong, Philip: »Dinesh Wadiwel. The War Against Animals [Review]«, in: Animal Studies Journal 6,2 (2017), S. 237-247. Daston, Lorraine: »Intelligences: Angelic, Animal, Human«, in: Dies./Gregg Mitman (Hg.), Thinking with animals. New perspectives on anthropomorphism, New York 2005, S. 37-58. Derrida, Jacques: The Animal that therefore I am, N.Y.: Fordham Univ. Press 2008. Despret, Vinciane: Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen?, Münster: Unrast 2019. Diekamp, Franz: Katholische Dogmatik nach den Grundsätzen des Heiligen Thomas. Zum Gebrauche bei Vorlesungen und zum Selbstunterricht, Bd. 3: Die Lehre von der Schöpfung – Die Lehre von der Erlösung durch Jesus Christus – Die Lehre von der Gnade, 3. Aufl., Münster: Aschendorff 1921. Etzelmüller, Gregor: »Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie«, in: Ders./Annette Weissenrieder (Hg.), Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie, Berlin: De Gruyter 2016, S. 219-242. Heinzmann, Richard: »Anima unica forma corporis. Thomas von Aquin als Überwinder des platonisch-neuplatonischen Dualismus«, in: Herrmann Krings et al. (Hg.), Philosophisches Jahrbuch Bd. 93, Freiburg i.Br. 1986, S. 236-259. Horstmann, Simone: Konturen einer Animalogie. Erkundigungen über die Diskursfähigkeit der Theologie im Angesicht der Tiere, Regensburg: Pustet [erscheint 2021]. Dies.: Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen? Eine theologische Spurensuche, Regensburg: Pustet 2020. Dies./Hagencord, Rainer: »Malum anthropogenum? Überlegungen zu einer Epistemologie der Theologischen Zoologie im Anthropozän«, in: MThZ 70 (2019), S. 291-304. Horstmann, Simone: »›Furcht und Schrecken…‹ (Gen 9,2). Christen und das Töten und Essen von Tieren«, in: Dies./Thomas Ruster/Gregor Taxacher: Alles, was atmet. Eine Theologie der Tiere, Regensburg: Pustet 2018, S. 204-225. 51

Vgl. C. Keller: The Becoming of Theopoetics, S. 105-118.

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Keller, Catherine: »The Becoming of Theopoetics. A Brief, Incongruent History«, in: Dies.: Intercarnations. Exercises in theological possibility, Fordham: Univ. Press 2017, S. 105-118. Kläden, Tobias: »Anima forma corporis. Zur Aktualität der nichtdualistischen Sicht des Menschen bei Thomas von Aquin«, in: Georg Gasser/Josef Quitterer (Hg.), Die Aktualität des Seelenbegriffs. Interdisziplinäre Zugänge, Paderborn: Schöningh 2010, S. 253-270. Lüke, Ullrich: »Aspekte der Differenz von Tier und Mensch: Transzendenzfähigkeit«, in: Ders./Georg Souvignier (Hg.), Der Mensch – ein Tier. Und sonst? Interdisziplinäre Annäherungen (= QD 307), Freiburg i.Br.: Herder 2020, S. 124-151. Macho, Thomas: »Die Tiere des Leibhaftigen«, in: Michael Weinrich et al. (Hg.), »Dies ist mein Leib«: Leibliches, Leibeigenes und Leibhaftiges bei Gott und den Menschen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, S. 255-263. Ott, Ludwig: Grundriss der Dogmatik, 10. Aufl., Freiburg i.Br.: Herder 1981. Pröpper, Thomas: Theologische Anthropologie, Bd. 1, Freiburg i.Br.: Herder 2011. Raber, Karen: »Animals on the table. Performing meat in early modern England and Europe«, in: Sarah Cockram/Andrew Wells (Hg.), Interspecies Interactions. Animals and Humans between the Middle Ages and Modernity, London: Routledge 2018, S. 107-122. Ratschiller, Linda/Weichlein, Siegfried: »Der schwarze Körper als Missionsgebiet 18801960. Begriffe, Konzepte, Fragestellungen«, in: Dies. (Hg.), Der schwarze Körper als Missionsgebiet. Medizin, Ethnologie, Theologie in Afrika und Europa 1880-1960, Köln: Böhlau 2016, S. 15-39. Rölli, Marc: »Spinoza gegen Descartes. Oder warum man den Körper nicht ausblenden kann«, in: in: Arno Böhler/Krassimira Kruschkova/Susanne V. Granzer (Hg.), Wissen wir, was ein Körper vermag? Rhizomatische Körper in Religion, Kunst, Philosophie, Bielefeld: transcript 2014, S. 163-183. Ruster, Thomas: Wandlung. Ein Traktat über Eucharistie und Ökonomie, Ostfildern: Grünewald 2006. Seewald, Michael: Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Freiburg i.Br.: Herder 2018. Soentgen, Jens: Ökologie der Angst (= Fröhliche Wissenschaft 117), Berlin: Matthes & Seitz 2019. Steel, Karl: How to Make a Human. Animals and Violence in the Middle Ages, Columbus, Ohio: Univ. Press 2011. Thomas von Aquin: Summa contra gentiles/Summe gegen die Heiden, hg. v. Karl Albert et al., 4. Aufl., Lambert Schneider/WBG 2013. Tyler, Tom: CIFERAE. A Bestiary in Five Fingers, Minneapolis, Minnesota: Univ. Press 2012. Wadiwel, Dinesh: War against Animals (= Critical Animal Studies 3), Leiden/N.Y.: Brill 2015.

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Online-Quellen Heinrich-Böll-Stiftung et al. (Hg.): Fleischatlas 2018, o.A., zuletzt abgerufen am 02.11.2020 unter https://www.boell.de/sites/default/files/2019-10/fleischatlas_2018 _V.pdf?dimension1=ds_fleischatlas_2018 Steel, Karl: Meat Me in Paradise, o.A., zuletzt abgerufen am 02.11.2020 unter: https://www.academia.edu/1684997/Meat_Me_in_Paradise

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt Über religiös legitimierte Abwertungen des Nichtmenschlichen und Nichtmännlichen Julia Enxing

1.

Gewalt »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.« (Albert Schweitzer)

Die Frage, ob wir anderen Gewalt antun, ob, inwiefern und unter welchen Umständen dies erlaubt sein könnte, führt schnell zur ethischen Grundsatzdebatte: Was ist überhaupt Gewalt? Im Folgenden unternehme ich Annährungsversuche an das überaus komplexe Feld der Gewaltforschung. Dass es moralisch verwerflich und ethisch nicht geboten ist, anderen Menschen Gewalt anzutun – von wenigen Ausnahmen wie etwa Notwehr einmal abgesehen – ist zumindest theoretisch Konsens, weshalb das Recht auf körperliche Unversehrtheit unter anderem gesetzlich verankert ist (GG, Art. 2).1 Das dramatische Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen, wie sie derzeit besonders Menschen auf der Flucht sowie in Kriegs- und Krisengebieten erleben, ist uns durch persönliche und mediale Berichte präsent. Weniger bewusst ist die Dunkelziffer häuslicher Gewalt, seelischen und körperlichen Missbrauchs, sowie – und hierauf möchte ich den Fokus legen – die Gewalt an nichtmännlichem und nichtmenschlichem Leben.2

1

2

Sören Frickenhaus danke ich herzlich für das formale »Shaping« des Textes sowie konstruktiv-kritische Anmerkungen, die sowohl zur besseren Lesbarkeit als auch inhaltlichen Präzisierung des Textes beigetragen haben. Für weiterführende Hinweise danke ich zudem Cornelia Mügge. Selbstverständlich ist das Thema der Gewalt an »nichtweißem« Leben ein nicht minder dringliches. Ich habe mich an anderer Stelle schon (ein wenig) mit dem Zusammenhang von Speziesismus und Rassismus beschäftigt, konzentriere mich hier allerdings auf die Themen Speziesismus und Sexismus. Vgl. J. Enxing: Schöpfungstheologie im Anthropozän, S. 173-177.

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Da sich die Minimaldefinitionen von Gewalt auf körperliche Verletzungen beschränken, ist die Voraussetzung für das Erfahren von Gewalt ein verletzbarer Körper.3 Dem Fokus dieses Sammelbandes entsprechend, konzentriere ich mich auf tierliche Körper, ohne damit auszudrücken zu wollen, dass Pflanzen, Steine und andere nichtmenschliche Entitäten keinen Körper hätten. ›Körper‹ ist hierbei nicht im rein mathematisch-physikalischen Sinne zu verstehen, sondern vielmehr als lebendiger, sensitiver – also empfindungsfähiger – Körper. Gewaltdefinitionen, die eine solche Empfindungsfähigkeit auf die Bereiche ›Mensch‹ und/oder ›Person‹ beschränken4 , greifen daher zu kurz. Die Frage, ob nichtmenschliche Tiere Gewalt erfahren können, entscheidet sich in einer sehr eng geführten Debatte an der Frage nach ihrem Personenstatus, in einer weiter geführten Debatte an der Frage ihrer Empfindungs- beziehungsweise Leidensfähigkeit oder anders: an ihrer Sensitivität.

1.1

Diskursethische und kritische Tiertheorien

In den aktuellen tiersensiblen wissenschaftlichen Debatten sind – grob gesprochen – zwei Stränge auszumachen: Die diskurstheoretische tierethische Debatte klinkt sich exakt in die angestoßenen Begründungszusammenhänge ein. Sie würde nun also nach dem Status von nichtmenschlichen Tieren fragen, im besten Fall nachweisen, dass sie durchaus als Personen anerkannt werden können, u.U. somit also Personenrecht einklagen könnten (wie beispielsweise im bekannten Fall des Primaten Hiasl).5 Weiterhin würde ein Kriterienkatalog erarbeitet und erstritten, der Begründungsmaßstäbe für die Schmerzempfindlichkeit von Tieren aufführt. Hierbei könnte auf die mehrfach im Laborversuch nachgewiesenen entsprechenden Fähigkeiten mancher (mit einem dem Neo-Cortex des Menschen ähnelnden Gehirnareal ausgestatteten) Tiere verwiesen werden. Deshalb, so die Folgerung, sollten Tiere vor Gewalt bewahrt werden. Je nach Empfindungsfähigkeit würde sich daraus eine abgestufte Tierschutzpflicht ergeben. Eine andere Herangehensweise verfolgt die kritische Tiertheorie oder die kritischen Tierstudien. Methodisch liegen ihre Wurzeln in der kritischen Theorie. Ist ihre Argumentation auch eine andere als die der diskursethischen Begründungsansätze, liegen die Ergebnisse beider womöglich sehr nahe. Vertreter:innen der kritischen Tierstudien sehen das oben beschriebene Vorgehen bereits im Ansatz als potentiell gewaltvoll an. Denn: Wer entscheidet, was Gewalt ist und wer Gewalt erfährt? Wer hat das Recht, Gewalt, je nach Objekt, auf das sie gerichtet ist, mit einem unterschiedlichen Grad an Legitimität zu versehen? Wer sich dieser anthropozentristischen6 Herangehensweise bedient, erklärt bestimmte Formen von Gewalt für illegitim – in der Regel durch den Nachweis

3 4 5 6

Vgl. M. Sebastian: Art. Gewalt, S. 132. Vgl. G. Nunner-Winkler: Überlegungen zum Gewaltbegriff, S. 21; vgl. P. Imbusch: Der Gewaltbegriff, S. 38. Vgl. E. Franzinelli: Das Sachwalterverfahren für den Schimpansen Hiasl [Online-Dok.]; vgl. auch M. Balluch: Der Hund und sein Philosoph, S. 71-90. Vgl. G. Steiner: Anthropozentrismus, S. 28-32.

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt

einer Ähnlichkeit zum Menschen – bietet damit Kritiker:innen allerdings Angriffsfläche, indem diese darauf hinweisen können, dass Ähnlichkeit eben nicht Gleichheit ist. Wenn Gewalt an ein dem menschlichen vergleichbares oder zumindest ähnliches Spektrum von Schmerzempfinden gekoppelt sein soll, dann setzt dies ebenso voraus, dass das Äußern von Schmerz in einer dem menschlichen Tier verstehbaren Weise geschehen muss. Es suggeriert im Umkehrschluss zudem, dass Gewalt an bestimmten Lebewesen keine Gewalt (und daher vollkommen berechtigt) ist. Letztlich basiert die Begründung der Schutzbedürftigkeit bestimmter Tiere somit auf ihrer Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden; auf der Notwendigkeit, diese Empfindungsfähigkeit des Schmerzes dem Menschen nachweisen zu können sowie diese ihm gegenüber reproduzieren und messbar machen zu können. Die Pflicht, ihr Schmerzempfinden zu beweisen, liegt hier also auf Seiten der Tiere, wobei dies für sie häufig langwierige und in sich gewalttätige Tierversuche bedeutet.7 Doch wer kann mit Sicherheit sagen, dass eine Amöbe keinen Schmerz empfinden kann, dass ein Thunfisch weniger ›schlimm‹ leidet als ein Huhn? Dass das Ausmaß an Gewalt beim Töten eines Schweines ein anderes ist als beim Töten eines Hundes oder Nashorns oder – eines Menschen? Wodurch sieht der Mensch sich und sein eigenes Urteilsvermögen legitimiert? Vertreter:innen der kritischen Tierstudien votieren deshalb dafür, von konstruierten Szenarien und Tests abzusehen, die die Schmerzempfindlichkeit nichtmenschlichen Lebens erst nachweisen müssen, und fragen zurück: Wie kommt der Mensch überhaupt auf die Idee, dass es legitim sein könnte, anderem Leben Gewalt zuzufügen? Oberste Maxime ist hier die Achtung vor dem Leben an sich. Theologisch gesprochen: Die Würde jeder Kreatur ist unantastbar. Zusammenfassend könnte man sagen, dass die kritischen Tierstudien die Begründungslast/-pflicht umkehren: Nicht der Schutz der Tiere ist begründungspflichtig, sondern die Bestrebungen, Gewalt an ihnen zu legitimieren. Nachzuweisen wäre nicht, dass die Fähigkeit, physische und psychische Gewalt als solche zu empfinden besteht, sondern dass sie es nicht tut. Solange dies nicht gelingt, ist ein dem menschlichen Leben vergleichbares Ausmaß an Respekt, Achtung und Rechten für nichtmenschliches Leben erforderlich. Kritiker:innen dieser Position werden auf die ›Bodenlosigkeit‹ eines solchen Vorhabens verweisen, auf die mangelnde Praktikabilität eines daraus folgenden Lebensstils sowie auf die Missachtung der Sonderstellung des Menschen. Für letzteres scheuen selbst die Atheist:innen nicht einen Verweis auf den biblischen Herrschaftsauftrag an den Menschen und dessen schöpfungstheologisch (angeblich) begründete Sonderstellung im Gesamtgefüge des Daseins.8 7 8

Vgl. V. Despret: Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen?, S. 39-60, 121-132, 205-214. Ich erachte es für intellektuell unredlich und verstehe es als ›Kommunikationsstopp‹, wissenschaftliche Argumentationsgänge mit dem Hinweis darauf zu kontern, dass Tierethiker:innen dann wohl nur im Wald leben dürften und selbst da nicht, da dies ja den Bäumen wehtun würde. Zudem sind solche ›einfachen Einwände‹ der Komplexität der Debatte nicht gewachsen. Tiersensible Ansätze sind sich ihrer eigenen Begrenztheit sehr wohl bewusst. So wissen sie, dass auch der/die konsequenteste Tierrechtler:in eines Tages in ein Abwägungsdilemma ohne ›korrekte Lösung‹ geraten wird. Was die Praktikabilität angeht, so ist der Großteil der Menschheit allerdings

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1.2

Inwiefern unterscheidet sich die Gewalt an Tieren von der Gewalt an Menschen? »If humans killed each other at the rate we kill other animals, we’d be extinct in 17 days.«9

Während menschliche und nichtmenschliche Tiere Gewalt ausgesetzt sind – und zwar in all ihren physischen und psychischen Dimensionen –, gibt es dennoch einige Spezifika der Gewalt an Tieren. Neben der Gewalt an Tieren und Gewalt an Menschen tritt eine weitere perfide Form von Gewalt zutage, die tief in die Abgründe menschlicher Existenz blicken lässt: Gemeint sind Fälle, in denen Tieren Gewalt angetan (oder mit der Ausübung von Gewalt an Tieren gedroht) wird, um die sie liebenden Menschen unter Druck zu setzen oder zu bestrafen. Kindern und Erwachsenen wird in solchen Fällen gedroht, das Meerschweinchen zu ertränken, die Hündin zu schlagen oder die Katze auszusetzen, das Pferd anzuzünden oder den Fisch in der Toilette zu versenken, mögen sie sich nicht an den Wünschen und aufgestellten Regeln des jeweils anderen orientieren bzw. diesen entsprechend handeln. Subtilere Formen solcher Gewalt sind beispielsweise aus Familien bekannt, in denen einzelne Familienmitglieder ihren bisherigen Fleischkonsum beträchtlich erhöhen, sobald eines der Familienmitglieder sich für eine vegetarische oder vegane Ernährung entscheidet, oder gar punktuell die neuentdeckte Liebe des Kindes zu Pferden durch einen plötzlichen Konsum von Pferdesalami quittiert wird. Dass diese Form von Gewaltausübung teilweise als weitaus tiefgreifender und traumatisierender erlebt wird als direkte Gewaltausübung ohne Missbrauch eines Dritten, ist auf die enge innerliche, emotionale Verbundenheit von Mensch und Tier zurückzuführen. Ähnliche Fälle von Gewalt in Form von Bedrohung und Erpressung sind aus dem Bereich der menschlichen Tiere gut bekannt – wenn etwa Partner:innen drohen, dem anderen den Kontakt zum gemeinsamen Kind zu untersagen, wenn dieser sich in einer bestimmten Weise entscheidet. Drohszenarien oder mittelbare Gewalt an Kindern und Erwachsenen durch Beschädigung eines für sie bedeutsamen Gegenstandes sind ebenfalls hinlänglich bekannt. Mittelbare Gewalt an tierlichen Lebewesen ist eine weitere Dimension der Gewalt an Mensch und Tier. Es handelt sich hierbei meiner Auffassung nach um eine Gewalt an Mensch und Tier und nicht etwa an Menschen durch die Zuhilfenahme von Tieren, da das Tier in solchen Fällen emotional als Druckmittel missbraucht wird und meist – wiederum aufgrund der emotionalen Verbundenheit zwischen Tier und Mensch – die Bedrohung des menschlichen Gefährten emotional als Leid erlebt.10 Hinsichtlich der unmittelbaren Gewalt an Mensch und Tier sind zahlreiche Gemeinsamkeiten auszumachen: Beide erfahren physische und psychische Gewalt, Bedrohung,

9 10

derart weit von einem ethisch ›korrekten‹ Leben entfernt, dass schon die kleinste Annäherung an ein größeres Gewahrsein dem Leben insgesamt gegenüber als gesamtgesellschaftlicher und gesamtmenschlicher Gewinn zu verbuchen wäre. North American Association for Critical Animal Studies: What is Critical Animal Studies? [OnlineDok.]. Vgl. C. P. Flynn: Women’s best friend, S. 162-177. Vgl. F. R. Ascione/C. V. Weber/D. S. Wood: The Abuse of Animals and Domestic Violence, S. 205-218.

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt

(verbale) Aggression sowie – viel zu wenig beachtet: Gewalt durch Liebesentzug, Isolation und Unter- oder Falschversorgung. Dennoch gibt es einige Spezifika der Gewalt an Tieren.

1.3

Private und institutionalisierte Gewalt an Tieren

Zunächst einmal muss zwischen ›privater‹ und ›institutionalisierter‹ Gewalt unterschieden werden: Marcel Sebastian unterscheidet diese beiden Formen von Gewalt anhand von drei Aspekten: dem der Täter:innenschaft, der Intention und der sozialen Funktion bzw. Legitimität. Bei den Ausübenden privater Gewalt an Tieren handelt es sich meist um Einzeltäter:innen, gemeint sind hiermit Situationen und Fälle, die umgangssprachlich mit dem Begriff ›Tierquälerei‹ bezeichnet werden. Meist tauchen nur in der frühen Phase der Adoleszenz Fälle von Tierquälerei auf, die von mehreren Täter:innen gemeinsam geplant und ausgeführt werden. Private Gewalt an Tieren ist meistens illegitim und von der sozialen Mehrheit ›geächtet‹. Sebastian weist darauf hin, dass Fälle privater Gewalt an Tieren nicht statistisch erhoben werden und unterscheidet hiervon Formen institutionalisierter Gewalt. Hier sind die Gewaltausübenden in einem Kollektiv organisiert. Kollektive Gewalt ist in hohem Maße strukturalisiert sowie sozial und juridisch legitimiert und geregelt. Klassischerweise begegnet uns institutionalisierte Gewalt in Schlachthäusern, Tierversuchslaboren, Mastbetrieben, Jagdsport, Pelzfarmen, Stierkämpfen etc.11 Diese Form von Gewalt wird nicht um der Gewalt willen ausgeübt, womit sie sich von den meisten Fällen privater Gewalt unterscheidet. Institutionalisierte Gewalt ist ein Mittel zum Erreichen eines Zwecks – so z.B. dem Gewinn von Fleisch für die Nahrungsindustrie, der Erzeugung von sogenannten Delikatessen, dem Gewinn von tierischen Materialien für Bekleidung, Accessoires, Möbel, Bettzeug etc. oder zu Zwecken der Dekoration des eigenen Hauses und/oder Selbstbewusstseins mit Hirschgeweihen12 bzw. zu Unterhaltungszwecken wie im Fall von Stierkämpfen (die Liste ließe sich fortsetzen). Obgleich das quantitative Ausmaß an Gewalt in seiner privaten Form nicht ermittelt wird, steht außer Zweifel, dass mehr Tiere Opfer institutionalisierter Gewalt werden. Weiterhin unterscheiden sich die jeweiligen Formen von Kritik, die gegenüber privater und institutionalisierter Gewalt ausgedrückt wird. Während private Gewalt für die gesellschaftliche Mehrheit als verwerflich gilt und deshalb verboten ist oder werden soll (weil Gewalt an sich als schlecht erkannt wird), wird in den Fällen institutionalisierter Gewalt wesentlich stärker abgewogen. Hier geschieht eine Güterabwägung, die der des ›Preis-Leistungs-Verhältnisses‹ vergleichbar ist. Wird es als legitim empfunden, dass Tieren Gewalt angetan wird (Preis), um beispielsweise ein Brötchen mit Bärchenwurst (Leistung) verzehren zu können? Wird diese Frage bejaht, so schließen sich Diskurse um die Möglichkeiten einer Verringerung des Leids der – in diesem Fall – Schweine bis zur Erlangung des Endproduktes ›Bärchenwurst‹ an. Hier geht es um Fragen der Haltungs-, Nahrungs- und Schlachtbedingungen. Debatten um ›artgerechte‹ Tierhal-

11 12

Vgl. S. Buschka/J. Gutjahr/M. Sebastian: Gewalt an Tieren, S. 75-83. Vgl. zum Zusammenhang von Jagd und konstruierter Männlichkeit: B. Luke: Brutal, S. 12. u. ö.

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tung und ›humane‹ Schlachtbedingungen sind hinlänglich bekannt.13 Die Frage, ob es in Deutschland überhaupt legitim erscheint, ein Schwein zu töten, um dann ›Bärchenwurst‹ essen zu können, ist im Falle institutionalisierter Gewalt meist nicht mehr Teil der Debatte. An dieser Stelle muss festgehalten werden, dass die Unterscheidung von privater und institutionalisierter Gewalt keine analytische Differenzierung meint, die sich auf den Bereich des Nichtmenschlichen beschränken ließe. Zweifelsohne könnte man häusliche Gewalt als private Gewalt beschreiben und Folteranstalten, Konzentrationslager, Internierungslager, Arbeitslager, ›Zuchtanstalten‹ etc. als Formen institutionalisierter Gewalt. Analysiert man die Gewalt an Tieren und die Gewalt an Menschen hinsichtlich ihrer Unterschiede, so gilt es zwischen der Rolle der Akteur:innen/Täter:innen und der der Opfer zu unterscheiden. Während in Fällen institutionalisierter Gewalt die tierlichen Opfer klar auszumachen sind, d.h. in den meisten Fällen sogar im Vorhinein, vor dem Gewaltakt, bereits feststehen, ist die Gruppe der Akteuer:innen der Gewalt wesentlich schwerer zu bestimmen. Wird Gewalt als konkrete Handlung von Akteuer:innen bestimmt, so steht die einfach auszumachende Gruppe der tierlichen Opfer einer komplexen Gruppe der Akteur:innen gegenüber.14 Letztere besteht aus vielen potenziellen Akteuer:innen: Denen, die eine bestimmte Form institutionalisierter Gewalt legitimieren, denen, die die Ausführung derselben anordnen, denen, die sie ausführen, denen, die kollaborieren und assistieren, denen, die den entsprechenden Bedarf fördern, signalisieren oder einfordern, denen, die durch mediale Aufbereitung Bedürfnisse wecken, und der sogenannten ›schweigenden Masse‹ – Sebastian spricht vom »stillen Einvernehmen«15 . Kurzum: Im Falle institutionalisierter Gewalt an Tieren führen die Mechanismen der Arbeitsteilung ihrerseits zu einer Diffusion der Verantwortung. Ein weiteres Spezifikum von Gewalt an Tieren ist ihre Normalität.16 Für große Teile der Gesellschaft ist Gewalt an Tieren Konvention und wird als geringeres Übel betrachtet – beispielsweise im Vergleich zum Verzicht auf ›Bärchenwurst‹. Die Normalität und breite Akzeptanz, Alltäglichkeit und Routinisierung der institutionalisierten Form von Gewalt an Tieren ist zum Unterscheidungskriterium schlechthin zwischen Gewalt an Menschen und Gewalt an Tieren geworden. Es ist entscheidend, dass Gewalt an Tieren »nicht trotz, sondern aufgrund der gesellschaftliche [sic!, J.E.] Normordnung vollzogen wird und dass sie sich dabei historisch nicht gegen widerstrebende soziale Kräfte hat durchsetzen und als neue soziale Norm etablieren müssen. Die gewaltsame Nutzung von Tieren stellt eine Konstante in der Zivilgesellschaft dar.«17 Weshalb Gewalt an Tieren eine derart breite gesellschaftliche Akzeptanz erfährt und von der Mehrheit der Gesellschaft als ›normal‹ empfunden wird, wohingegen Gewalt an

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Vgl. M. Sebastian: Tierliebe im Schlachthof?, S. 104f. Vgl. M. Sebastian: Art. Gewalt, S. 133. Ebd. Vgl. S. Buschka/J. Gutjahr/M. Sebastian: Gewalt an Tieren, S. 77. Vgl. zur Normalisierungsstrategien von Gewalt an Tieren: Ebd., hier bes. S. 81. Vgl. zur Normalisierungsstrategien von Gewalt an Tieren: Ebd., hier bes. S. 81. Vgl. zu ›Normalität‹ als ethischem Argument: C. Mügge: Da liegt der Hase im Pfeffer. S. Buschka/J. Gutjahr/M. Sebastian: Gewalt an Tieren, S. 77.

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt

Menschen oder die privatisierte Form von Gewalt an Tieren eher als ›a-normal‹ verstanden wird, ist zum einen nicht umfassend und zum anderen nur unter Berücksichtigung des jeweiligen soziologischen, historischen und kulturellen Umfelds zu beantworten. Wie eine kleinbäuerliche Familie im Subsahara-Afrika die moralischen Ausmaße der Gewalt an tierlichen Lebewesen bewerten würde, muss also von der Frage differenziert werden, wie ein Bürger oder eine Bürgerin der Mittelschicht in einer nordeuropäischen Industrienation diese Frage beantwortet – um nur zwei mögliche Variablen einer ungleich komplexeren Gleichung anzuführen. Die Selbstverständlichkeit, mit der das Leid von Tieren in Kauf genommen und Gewalt an Tieren gerechtfertigt wird, wird in der BRD-Gesellschaft wesentlich deutlicher, in der es zum einen eine Vielzahl an Alternativen gibt – sei es im Bereich der Ernährung, Bekleidung oder Gestaltung des eigenen Umfelds –, zum anderen das Ausmaß an institutionalisierter Gewalt in deutschen Schlachtbetrieben mit bis zu zweitausend Tieren18 (hier: Schweine) und einem durchschnittlichen Verzehr von 86 kg (Deutschland)19 Tier pro Person im Jahr rekordverdächtig ist. Laut Statistischem Bundesamt wurden 2019 in der BRD z.B. rund 59,7 Mio. Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde geschlachtet. Zählt man das geschlachtete Geflügel hinzu, so wurden allein in Deutschland 2019 ca. acht Millionen Tonnen Fleisch ›produziert‹.20 Sebastian führt die breite gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt an Tieren auf einen ideologischen Überbau zurück, der den Menschen nahelegt und von Kindesbeinen an antrainiert, dass Gewalt an Tieren etwas Natürliches sei. Es entspräche demnach geradezu der conditio humana, nichtmenschliches Leben zu unterdrücken, auszubeuten und diesem Gewalt anzutun. Eine Kollegin (*1955) berichtete mir, wie ihr Bruder als Kind mit dem Vater hinters Haus gehen musste, um die Katzenbabys in der Regentonne zu ertränken, damit er lerne, was ein ›richtiger Kerl‹ sei und damit sich seine Männlichkeit entsprechend ausbilden würde.21 Ein solches Vorgehen suggeriert, dass Gewalt an Tieren geradezu als Notwendigkeit verstanden wird, um ein ›richtiger Mensch‹ zu werden. Meines Erachtens fällt ein derartiges Dominanz- und Unterdrückungsbestreben auch heutzutage noch in den Erziehungskonzepten zum Zusammenleben von Mensch und Haustier auf. Während Erpressung, Zwang, körperliche Gewalt und Züchtigung im Bereich der Kindererziehung längst als ›schwarze Pädagogik‹ abgetan werden und hier stärker als bisher auf ein verantwortliches Miteinander gesetzt wird, das die Eigenverantwortlichkeit, d.h. sowohl die Verantwortungskompetenz als auch das Verantwortungsbewusstsein selbst der Jüngsten, stärkt, wird in Hunde- und Reitschulen häufig noch suggeriert, dass es auf Unterwerfung, Dominanzgebaren und die Kontrolle von triebgesteuerten Lebewesen ankomme (Bello müsse endlich mal lernen, ›wer hier die Hosen anhat‹). Häufig werden Gewaltphänomene an Tieren in ihrer historischen Kontinuität aufgewiesen. Bereits der Großvater war ein begnadeter Jäger, weshalb auch die ›gute Stube‹ mit Geweihen und Schädeln unterschiedlicher Tiere ausstaffiert ist. Ganz

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Vgl. Statistisches Bundesamt: Trend zu Großbetrieben in der Landwirtschaft [Online-Dok.]. Vgl. Statistisches Bundesamt: Globale Tierhaltung, Fleischproduktion und -konsum [Online-Dok.]. Statistisches Bundesamt: Fleischproduktion um 1,4 % gegenüber dem Vorjahr gesunken [OnlineDok.]. Vgl. hierzu auch J. Gutjahr: Art. Geschlecht, S. 129-131.

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abgesehen von den Fellen exotischer Tiere im Hausflur, die den Besuchenden gleich im Eingangsbereich das Weltläufige der Gastgebenden eindrücklich vermitteln sollen. Tote Tiere gelten schon lange als Statussymbole, als Symbole für Männlichkeit, Ausdauer und Kraft oder stehen für ein entsprechendes monetäres Polster. So etablierte Statussymbole lassen sich nicht einfach ersetzen, die Sprache der Macht kann nicht so schnell einer Fremdsprache oder einer neuen Grammatik weichen. Von Generation zu Generation wird die Normalität des Tötens von Tieren somit kontinuierlich weitergegeben. Während im Bereich der häuslichen Dekoration das Argument mangelnder Alternativen lächerlich wirkt, greift es vor allem in der Nahrungs- und Bekleidungs- sowie Möbelindustrie nach wie vor. Ähnlich wie bei Gegner:innen umweltethischen Engagements wird hier ein (angeblicher) Mangel an Alternativen suggeriert oder auf die vermeintliche Unabänderbarkeit der Situation verwiesen. Eine vegetarische oder vegane Ernährung sie keine ›wirkliche‹ Alternative, sei gesundheitsschädlich, nur etwas für die Reichen, ein Luxusproblem und außerdem würde damit ›die Welt nicht gerettet‹ werden. Vegane oder vegetarische Nahrung und Kleidung werden als ›unnatürlich‹ stigmatisiert, ihre gewaltförmigen Alternativen hingegen als ›natürlich‹ bezeichnet. Interessant ist, dass im Bereich der Gewalt an Tieren das Argument gilt, dass mit dem Verzicht auf den Verzehr von Tieren man ›das Leid der Tiere‹ insgesamt nicht ändern würde, wohingegen niemand sagen würde, dass mit dem Verzicht auf das Schlagen der eigenen Kinder ›die Gewalt an Menschen‹ insgesamt nicht geändert würde. Zudem sei mit einer ›artgerechten Haltung‹ und einer ›schonenden Tötung‹ das Ausmaß der Gewalt nicht mehr als so gravierend einzustufen. Als weiteren Grund für die breite Akzeptanz institutionalisierter Gewalt an Tieren führt Sebastian räumliche und sprachliche Distanzierungsstrategien an – Massentierhaltung und die Schlachtindustrie befinden sich in der Regel räumlich getrennt von Wohngebieten und geraten somit ›aus dem Blickfeld‹ der Bevölkerung.22 Rein sprachlich verdrängen wir Tiere aus unserem sozialen Nah-Raum und schaffen somit nicht nur eine emotionale Distanz, sondern suggerieren eine ontologische Diskrepanz. ›Ferkel einer Sau‹ kann man einfacher ohne Betäubung ›kastrieren‹ als man den ›Babys einer Schweinemutter‹ ›die Hoden mit einer Zange abquetschen‹ kann.23 Hinzu kommt, dass das Mensch-Tier-Verhältnis als ein so gewachsenes oder etabliertes verstanden wird; dieses sei unabänderlich. Ähnliche Argumente sind der feministischen, der anti-Judaismus-sensiblen und der Rassismus-kritischen Bewegung bekannt. Auch hier wird die fehlende Gleichheit als ›natürlich‹, mitunter als ›so vorgesehen‹ (von wem?) sowie als historisch gewachsen und somit nicht veränderbar dargestellt. Indem die Dominanz des anderen – sei es nichtmenschlichen oder menschlichen – Tieres auf die Anordnung einer übergeordneten Instanz, z.B. einer Gottheit oder eines Staatsoberhauptes, zurückgeführt wird, erfährt diese eine stets gültige Autorisierung und Legitimierung. Obgleich zahlreiche Parallelen und Überschneidungen von Gewalt an Tieren und Gewalt an Menschen ausgemacht werden können, wird Gewalt an Menschen stärker geächtet. Zudem ist der Handlungsspielraum von Menschen im Kampf gegen Gewalt

22 23

Vgl. A. J. Fitzgerald.: A Social History of the Slaughterhouse, S. 60. Vgl. D. A. Nibert: Animal Rights/Human Rights, S. 220. Vgl. J. Dunayer: Animal Equality.

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt

aufgrund der Zugehörigkeit zur selben Spezies größer als der von Tieren, die nur sehr geringe Möglichkeiten des Widerstands haben.24

1.4

Wer sind die anderen? Über Speziesismus und Sexismus »We believe that all oppressions are interconnected: no one creature will be free until all are free – from abuse, degradation, exploitation, pollution, and commercialization. Women and animals have shared these oppressions historically, and until the mentality of domination is ended in all its forms, these afflictions will continue.«25

Schon Simone de Beauvoir wusste: Frauen sind »das andere Geschlecht«26 . Ihre Andersartigkeit dient bis heute als Legitimierungsstrategie für Diffamierungen, soziale Herabsetzungen, Ausgrenzung und Unterdrückung27 sowie der Begründung für die Anwendung von psychischer und physischer Gewalt (»die brauchen das«). Forschungen, die sich der Intersektion28 von Sexismus und Speziesismus widmen, haben zahlreiche Parallelen und Überschneidungen der Gewalt gegenüber Frauen mit der gegenüber Tieren festgestellt.29 Darüber hinaus wurde nachgewiesen, dass Frauen Tieren gegenüber weniger Gewalt ausüben als Männer. Kurzum: Während Frauen wie Tiere verstärkt Opfer von Gewalt sind, sind Tiere wiederum weniger von Gewalt durch Frauen bedroht. Ein Grund für die Überschneidung der Gewaltfelder liegt in der Konstruktion von Andersartigkeiten, mit der nicht nur Tiere, sondern auch Frauen belegt sind und die Frauen wiederum in die Nähe von Tieren rücken. Andersartigkeit wird in diesem Zusammenhang per se mit Minderwertigkeit belegt. Weil sie anders sind, sind sie nicht wie wir, gehören nicht zu uns, weshalb für sie auch nicht die gleichen Rechte und erst recht nicht die gleichen Privilegien gelten. Ein derartiges »Othering«30 ist aus der rassismuskriti24 25 26

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Vgl. S. Hastedt: Die Wirkungsmacht konstruierter Andersartigkeit, S. 208-209. C. J. Adams/J. Donovan: Introduction, S. 3. Vgl. S. de Beauvoir: Das andere Geschlecht. – Ich bleibe in diesem Beitrag im Bereich heterosexueller Binarität. Bei aller berechtigten Kritik an dieser, erachte ich dies zur Klärung meines Anliegens als sinnvoll, bin mir dabei allerdings der größeren Vielfalt an Geschlechtlichkeiten bewusst. Unterdrückung ist nach S. Hastedt – unter Rekurs auf M. I. Youngs Definition »keine tyrannische Macht […], sondern die Benachteiligung und Ungleichbehandlung bestimmter Individuen durch alltägliche, soziale Praktiken […].« (S. Hastedt: Wirkungsmacht, S. 192.) Young nennt fünf Erscheinungsbilder von Unterdrückung: Ausbeutung, Marginalisierung, Ohnmacht, kultureller Imperialismus und Gewalt. Vgl. M. I. Young: Five Faces of Oppression, S. 91-101. Vgl. zum Begriff »Intersektionalität«: K. Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex, S. 139-167. Zu Speziesismus: Vgl. F. Jaquet: Is Speciesism Wrong by Definition?, S. 447-458. Vgl. O. Horta: What is Speciesism?, S. 243-266. Vgl. D. Elstein: The Social Construction of Species and The Moral Indefensibility of Speciesism, S. 4. Mir ist bewusst, dass Sexismus, Speziesismus und Rassismus keinesfalls die einzigen »Kategorien« unserer westlichen Kultursphäre sind, die zu Ausgrenzung und Gewalt führen. Auch Alter, Behinderung, sozialer Status, Religion und viele weitere Faktoren können zur Legitimation von Ausgrenzung und Gewalt herangezogen werden. Häufig verstärken sich die Faktoren gegenseitig. Schachinger spricht deshalb - unter Verweis auf Gamerschlag - von einer »unity of oppression«, vgl. K. Schachinger: Gender Studies und Feminismus, S. 64. Vgl. zum Begriff des »Othering«: G. Ch. Spivak: The Rani of Sirmur, S. 247-272. Vgl. B. Ashcroft/G. Griffiths/H. Tiffin: Post-Colonial Studies, S. 156-157.

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schen Forschung bekannt und alltagssprachlich mit dem Wort »Fremdenfeindlichkeit« gemeint. Weil andere als »Fremde« stigmatisiert werden, rechtfertigt ihr Fremd- oder Anders-Sein einen anderen Umgang und eine andere Behandlung sowie andere Teilhaberechte. »Die sind nicht wie wir!«, »Ich habe nichts gegen Fremde, aber die hier sind nicht von hier!«, »Das sind doch keine Menschen, sondern – Tiere [!]« – »Affen«31 , so tönt es Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund – ›Non-Natives‹ – entgegen. Wer die Intersektion von Speziesismus und Sexismus in den Blick nimmt, kommt an der weiteren Sektion mit Rassismus nicht vorbei. Ich bin in den 80er Jahren geboren und noch in meiner Kindheit sind mir »Nick-Neger« begegnet. Schwarze Kinder kannte ich ausschließlich von Unicef- oder Plan-International-Fundraising-Kampagnen zur Weihnachtszeit, sie wurden mir als »Affen-Kinder« vorgestellt. Der Impetus dieser Sprache war mir bereits als Kleinkind klar (und verhasst), hiermit sollte keine Wertschätzung diesen Kindern gegenüber ausgedrückt werden. Sie waren nicht nur anders als wir, sie waren weniger als wir – nichtmenschlich, was ihrer Verdinglichung gleichkam. An dieser Stelle möchte auf die Intersektion von Speziesismus und Rassismus nicht weiter eingehen.32 Ich habe dies bereits an anderer Stelle getan.33 Eine vertiefte Behandlung des Rassismus-Bereichs würde den Umfang dieses Beitrags sprengen. Gerade die rassismuskritische Forschung hat sich in den letzten Jahren enorm ausdifferenziert und würde hier nicht ausreichend gewürdigt werden können. So, wie ›Geschlecht‹ als soziale Ordnungskategorie dient und alle Bestrebungen, Geschlecht als soziokulturelles Konstrukt zu identifizieren, deshalb auch systemische Erdbeben zu verursachen scheinen, so wird »das Tier« als »anderes« konstruiert und manifest. Entsprechend werden auch hier Forschungsansätze und Wissenschaftler:innen, die die Nähe von Mensch und Tier belegen (möchten), mitunter als Bedrohung wahrgenommen. Systeme, deren Überlegenheitsgefühl durch die eigene Andersartigkeit fortwährend konstruiert wird, sind durch ihre Bestrebungen besonders gefährdet. Es ist daher naheliegend, dass die Katholische Kirche eine der stärksten Gegnerinnen des Great Ape Projects ist.34 Bei der Kategorie ›Geschlecht‹ handelt es sich ebenso wenig um eine wertneutrale Ordnungskategorie wie bei der Kategorie ›Spezies‹. Beide Kategorien begründen Hierarchien, die strukturelle Parallelen aufweisen und sich gegenseitig verstärken.35 Sabine Hastedt spricht deshalb von »konstruierte[n] Spezieskategorien«36 . Die Kategorie ›Geschlecht‹ meint hier nicht primär biologische Merkmale, sondern die mit ihnen in einem hegemonialen sowie binär-heterosexuellen System in Verbindung gebrachten Eigenschaften bzw. sozialen Merkmale. Geschlecht wird somit sozial geformt, ist eine dynamische Kategorie, die ihrerseits stark von historischen Konstruktionen und kultu-

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M. Langer: Persona non grata [Online-Dok.], S. 4. Vgl. zur Intersektion von Speziesismus und Rassismus u.a.: F. Jacquet: Is Speciesism wrong by definition?, S. 447-458. Vgl. J. Enxing: Schöpfungstheologie im Anthropozän, S. 173-177. Vgl. C. Goldner: Art. Great Ape Project, S. 136-138. Vgl. M. Langer: Persona non grata [Online-Dok.]. Vgl. C. Goldner: Grundrechte [Online-Dok.]. Vgl. K. Remele: A Strange Kind of Kindness, S. 142. Vgl. J. Gutjahr: Art. Geschlecht, S. 129. S. Hastedt: Wirkungsmacht, S. 200.

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt

rellen Erwartungen geprägt ist.37 Der Natur-Kultur-Dualismus wird dabei nicht nur zur Begründung einer notwendigen Abgrenzung des Menschen vom Tier herangezogen, sondern auch innerhalb der Spezies38 /Art ›Mensch‹ dazu genutzt, geschlechtsspezifische Abwertungslogiken sowie Herrschaftsprinzipien zu postulieren und sozio-kulturell zu zementieren. Birgit Mütherich zeigt eindrücklich auf, wie Frauen essentialistisch als ›das andere Geschlecht‹ konstruiert wurden/werden und eine Minderwertigkeit von Frauen mit der ihnen zugeschriebenen größeren Nähe zur Natur begründet wird. In dieser Logik fungiert der Mann als kulturnahes und kulturschaffendes, rationales, kontrolliertes und kontrollierendes Wesen und erfüllt somit den Goldstandard ›Mensch‹, während Frauen als naturverbunden, emotional, instinktgesteuert (›Mutterinstinkt‹), unkontrolliert (›hysterisch‹) charakterisiert und damit eindeutig näher am Tierreich platziert werden.39 Hier geht es um das Gegensatzpaar ›Rationalität‹ versus ›Animalität‹, wobei ›die Frau‹ bzw. ›das Weibliche‹ letzterer zugeordnet wird.40 ›Tierreich‹ ist in diesem Konstrukt selbstredend kein neutraler Begriff, sondern expliziert eine Minderwertigkeit. Natur gilt als das im Vergleich zur Kultur Minderwertige. Die mit dem weiblichen Geschlecht in unmittelbaren Zusammenhang gebrachte fehlende Ratio legitimiert/e dann ihrerseits mangelnde Partizipationsmöglichkeiten an gesellschaftlichen und politischen Vorgängen. Neben einer konstruierten ›Natur-Nähe‹ der Frau und des Tieres verleiht das hier betriebene Othering dem ›Anderen‹ (Frau, Nicht-Mensch) den Status eines ›Dings‹ durch das Subjekt (Mann). Eine derartige ›Objektifizierung‹ zementiert ein (im westlichen Kulturkreis patriarchales) Herrschaftssystem, das, indem es Individuen zu Objekten macht, ihre Beherrschbarkeit nahelegt. Während die Ausbeutung und ›Nutzung‹ von Frauen ein patriarchales System stützt, hält die Ausbeutung und ›Nutzung‹ von Tieren ein kapitalistisches System aufrecht, das von industrialisierter Gewalt profitiert.41 Lori Gruen bringt dies wie folgt auf den Punkt: »The categories ›women‹ and ›animal‹ serve the same symbolic function in patriarchal society. Their construction as dominated, submissive ›other‹ in theoretical discourse (whether explicitly so stated or implied) has sustained human male dominance. The

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Butler macht darauf aufmerksam, dass in einem solchen System die eigene geschlechtliche Identität als ›Mann‹ oder ›Frau‹ umso mehr realisiert wird, je mehr sie sich von dem jeweils anderen Geschlecht abgrenzt: »Diese Errungenschaft [den Anderen als einen solchen zu definieren, J. E.] erfordert also eine Differenzierung von der entgegengesetzten Geschlechtsidentität. Demnach ist ein Mann oder eine Frau die eigene Geschlechtsidentität genau in dem Maße, wie er/sie nicht die andere ist, wobei diese Formel die Beschränkung der Geschlechtsidentität auf dieses binäre Paar voraussetzt und zur Geltung bringt.« J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 45. Vgl. D. Zinner: Art. Spezies, S. 315-318. Vgl. B. Mütherich: Die soziale Konstruktion des Anderen. Vgl. V. Plumwood: Feminism and the Mastery of Nature, S. 41-45. Vgl. ebd.; vgl. ebenfalls H. Eaton: Introducing Ecofeminist, S. 38. Donna Haraway u.a. votieren deshalb dafür, statt vom Anthropozän, das suggeriert, in der Vernichtung der Menschheit bestünde die Lösung für die Probleme unserer Zeit, vom Kapitalozän zu sprechen. Letzteres wird mittels der Ausnutzung von Menschen und Tieren aufrechterhalten. Vgl. D. Haraway: Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chthulucene, S. 159-165.

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role of women and animals in postindustrial society is to serve/be served up; women and animals are the used.«42 Weil Frauen und Tiere die anderen sind, werden sie mit einer minderen Wertigkeit belegt, werden sie unterdrückt.43 Bei Aristoteles liest sich dies so: »Endlich verhält sich Männliches und Weibliches von Natur zueinander, dass das eine das Bessere, das andere das Schlechtere und das eine das Herrschende und das andere das Dienende ist. Ganz ebenso muss es nun mit dem gegenseitigen Verhältnis der Menschen überhaupt bestellt sein. Die so weit voneinander abstehen, wie die Seele vom Leibe und der Mensch vom Tiere […], die also sind Sklaven von Natur, und es ist ihnen besser, sich in dieser Art von Dienstbarkeit zu befinden, ganz wie bei den erwähnten Dingen.«44 Insbesondere die Betonung oder Reduktion der Frau auf ihre ›mütterlichen Qualitäten‹ und ›Mutterinstinkte‹ ist ein Phänomen, das auch in der heutigen westlichen Kultursphäre noch stark greift, weshalb selbst die Care-Arbeit an Tieren als ›Frauensache‹ deklariert wird. So gilt es in vielen Familien als nahezu selbstverständlich, dass die Sorge für die Kaninchen von den weiblichen Familienmitgliedern übernommen und als deren Aufgabe angesehen wird, während es den männlichen Familienmitgliedern zukommt, dieselben (später) zu schlachten. Und das auf Youtube kursierende Zoo-Video, bei dem eine Mutter vor einem Orang-Utan-Gehege ihren Säugling stillt und sich eine Orang-Utan-Mutter – durch eine Scheibe getrennt – zu ihr gesellte und die Scheibe ›küsste‹, rührt nicht nur zu Tränen, sondern zeigt wieder einmal die Nähe der Frau (nicht des Menschen) zum Primaten.45 Umgekehrt macht Martin Balluch auf Fälle aufmerksam, in denen gerade ähnliches Verhalten von Menschen (bzw. in diesem Fall sogar einer Frau) und Tieren mit unterschiedlichen Begriffen beschrieben wird, um die Unterschiedlichkeit einer menschlichen Mutter von jener einer tierlichen Mutter deutlich zu machen. Martin Balluch verweist auf einen Zeitungsbericht über eine menschliche Mutter, die ihre Kinder aus einem brennenden Haus gerettet hat. Ihre Mutterliebe und die durch sie mögliche Überwindung der Angst vor dem Feuer werden gelobt, sie wird als Heldin gefeiert. Ein ganz ähnlicher Fall, in dem eine Katzenmutter ihre Kinder aus einem brennenden Haus rettet, wird auf den immensen Mutterinstinkt dieses Tieres zurückgeführt. Was im ersten Fall die Liebe möglich macht, wird im zweiten Fall als instinktives Handeln tituliert. Mit dem semantischen Feld ›Mensch und Tier‹ umzugehen, ist ein äußerst zweischneidiges und schwer einzuordnendes Unterfangen: Während unsere Alltagssprache viel Wert darauflegt, gleiche Handlungen und gleiche familiäre Konstellationen von Mensch und Tier mit unterschiedlichen Termini zu belegen (›essen‹ vs. ›fressen‹; ›gebären‹ vs. ›werfen‹; ›Babys/Kinder‹ vs. ›Welpen/Ferkel/Fohlen/Frischlinge etc.‹; ›trinken‹ vs. ›saufen‹; ›töten/ermorden‹ vs. ›schlachten/erlegen‹; ›stillen‹ vs. ›säugen‹ usw.), ist die 42 43 44 45

L. Gruen: Dismantling Oppression, S. 61, zitiert nach S. Hastedt: Wirkungsmacht, S. 207. Vgl. ebd., S. 197. Aristoteles: Politik, S. 16. Vgl. ohne Autorenangabe: Video Fokus Online [Online-Dok.] –Interessanterweise wird im Video von Focus Online die Gorilla-Frau als »Dame« bezeichnet (und nicht als »Weibchen«).

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt

abwertende Bezeichnung von Frauen als ›Luder‹ oder ›Schnalle‹ beispielsweise unmittelbar aus dem Jagd-Jargon importiert. Hier ist ein ›Luder‹ ein totes Tier, das man als Köder zur Anlockung anderer – dann zu schießender – Tiere auslegt. ›Schnalle‹ bezeichnet das Geschlechtsteil einer Füchsin. Enough said. Ein weiterer Bereich, in dem eine geschlechterspezifische Differenz hinsichtlich der Aktualisierung des menschlichen Gewaltpotenzials stattfindet, ist der der Ernährung, genauer gesagt des Konsums von toten Tieren: Dass der Verzehr von Fleisch in gut gesättigten Gesellschaften nicht der reinen Kalorienzufuhr dient, wissen wir. Der Konsum von Fleisch kann weder aus gesundheitlichen Gründen noch aus solchen des Klimaschutzes weiterhin rational gerechtfertigt werden.46 Woran liegt es dann, dass – ironisch gesprochen – ausgerechnet das Geschlecht, dem man die rationaleren Entscheidungen zutraut, mehr totes Tier konsumiert als das weibliche? Denn hier konnte nachgewiesen werden, dass der Konsum von totem Tier durch männliche Menschen jenen der weiblichen Menschen übersteigt: »Bei keinem anderen Nahrungsmittel schlägt sich die Herstellung von Geschlechterdifferenzen so sehr nieder wie beim Verzehr von Fleisch«, heißt es bei Julia Gutjahr.47 Nach Candace West und Don Zimmerman ist Fleischkonsum eine Form von ›Doing Gender‹.48 So kann das Essen von Fleisch der Konstruktion von hegemonialer Männlichkeit dienen.49 Tierfleisch wird dabei als Energielieferant für den ›starken Mann‹ verstanden, bei dem sich die Kraft, Ausdauer, Schönheit und Stärke des schnellen, kräftigen und mutigen Tieres auf den Mann überträgt. Hinzu kommt, dass das Töten und Zerlegen von Tieren sowie deren anschließende Zubereitung und genüsslicher Verzehr kaum zu überbietende Demonstrationen von Kontrolle über das Leben anderer – mithin also Machtdemonstrationen – sind. Mit welcher Inbrunst Vater und Sohn im Sommer auf der Terrasse Steaks und Würstchen grillen und welche Freude der Hightech-Grill ›dem Mann von heute‹ bereiten soll, mutet mitunter extrem befremdlich an. Fast scheint es, als ob die Position am Grill eine der seltenen Situationen ist, in denen einem (heterosexuellen) Mann das Tragen einer Schürze nicht als ›unmännlich‹ verbucht wird. Das brutzelnde Steak, der saftige Burger werden gegessen, das Objekt der sexuellen Lust vernascht – in beiden Fällen geht es um (konstruierte) männliche Begierden. Man muss nicht auf vielen Partys gewesen sein, um schon einmal gefragt worden zu sein, ob denn die Blonde von neulich heute auch käme, da das Gegenüber gerade Appetit auf ›Frischfleisch‹ habe. Zwar steht die Verknüpfung von Speziesismus, Rassismus und Sexismus – wie oben erläutert – nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags, aber an dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch ein Zusammenhang von Fleischverzehr und Rassismus nachgewiesen werden konnte. Martin Balluch verweist auf Studien von Michal Bilewicz et

46 47 48 49

Vgl. ohne Autorenangabe: Cancer [Online-Dok.]. Vgl. R. Bodirsky: Food Demand Model [OnlineDok.]. J. Gutjahr: Art. Geschlecht, S. 131. Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung: Fleischatlas 2018 [Online-Dok.]. Vgl. K. Schachinger: Gender Studies und Feminismus, S. 65-66. Vgl. C. West/D. H. Zimmerman: Doing Gender, S. 125-151. Zum Zusammenhang von Fleischkonsum und Christentum vgl. S. Horstmann: ›Furcht und Schrecken…‹ (Gen 9,2), S. 204-225.

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al., die anhand empirischer Versuche aufgezeigt haben, dass Menschen, die Fleisch essen, sogar im unmittelbaren Moment des Fleischverzehrs sowohl Menschen anderer Hautfarbe als auch Tiere als weitaus minderwertiger und mit weniger Rechten ausgestattet begreifen als eine vegetarisch essende Kontrollgruppe. Ferner fiel – anhand der Studien von Kimberly Costello und Gordon Hodson – folgender Zusammenhang auf: In Familien, in denen eine starke Hierarchie prägend war und ein autoritärer Erziehungsstil vorherrschte, konnten ein erhöhter Fleischkonsum und deutliche Abwertungslogiken sowohl Tieren als auch nichtweißen Menschen gegenüber festgestellt werden.50 Analysiert man den Zusammenhang von Fleischverzehr und Geschlecht, so muss gesagt sein: Die meisten Tiere, die wir essen, sind weiblich. Dies ist insofern bezeichnend, als auch hier das ›Frau‹-Sein – neben dem ›Tier‹-Sein – Risiko und Grund dafür ist, ausgebeutet zu werden. Lisa Kemmerer verdeutlich, dass eine Kuh nicht nur deshalb ausgenutzt wird, weil sie ›nichtmenschlich‹ ist, sondern weil sie zudem ›nichtmännlich‹ ist. Gleiches lässt sich für weibliche Pferde (Stuten), weibliche Schafe (meist Mutterschafe), weibliches Geflügel (Hennen, Puten, Enten, Wachteln etc.), weibliche (wilde) Schweine etc. aussagen. Zwar werden männliche Tiere häufiger aufgrund ihres Phänotyps (Geweihe, Stoßzähne) etc. Opfer menschlicher Gewalt, allerdings werden Tiere nicht wegen ihres Fells oder ihres Geweihs getötet, sondern zur Befriedigung unserer Nahrungspräferenzen.51 Neben dem Gewaltakt des Tötens müssen an dieser Stelle die Haltungsbedingungen der Tiere hinsichtlich ihrer Gewaltförmigkeit hinterfragt werden sowie die ›Zuchtabsichten‹, oder anders: die Reproduktion von tierlichem Leben. Kühe werden in ›Besamungsständern‹ (im Englischen ›rape racks‹) fixiert und gewaltsam befruchtet52 , wobei natürlich auch die Spermiengewinnung auf nicht minder unnatürlichem Wege geschieht. Bedacht werden muss allerdings, dass die Häufigkeit, in der eine Kuh gewaltsam besamt wird u.U. wesentlich häufiger stattfindet als das ›Absamen‹ der männlichen Tiere. Auch die Trennung der Kuhmutter von ihrem Nachwuchs – meist unmittelbar nach der Geburt – ist ein gewaltsamer Akt. Wer dieses Vorgehen aus nächster Nähe miterlebt hat, für den steht das ausgelöste Leid bei Mutter und Kind außer Frage. Solche Szenarien kann man für die unterschiedlichsten ›Nutztiere‹ durchspielen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass weibliche Tiere in der Nahrungsmittelindustrie häufiger Gewalt ausgesetzt sind als männliche: »Die allermeisten der in der Nahrungsmittelindustrie ausgebeuteten Tiere sind weiblich, und sie werden deshalb ausgebeutet, weil sie weiblich sind.«53 Auch was den Fleischverzehr angeht, so wird die Lust auf Fleisch weitgehend durch das weibliche Tier befriedigt: »Ein durchschnittlicher, omnivorer Mensch mit einer Lebenserwartung von 75 Jahren

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51 52 53

Vgl. M. Balluch: Der Hund und sein Philosoph, S. 125-128. Vgl. M. Bilewicz/R. Imhoff/M. Drogosz: The humanity of what we eat, S. 201-209. Vgl. K. Costello/G. Hodson: Explaining dehumanization among children, S. 175-197. Vgl. K. Costello/G. Hodson: The human cost of devaluing animals, S. 34f. Markus Wild verweist auf ähnliche Versuche, die allerdings nicht den Aspekt »Rassismus« mit erhoben: Vgl. M. Wild: Warum es besser ist, kein Fleisch zu essen, S. 59-72, hier bes. die Ausführungen zum »Fleischparadox« auf S. 69-71. Vgl. J. Enxing: Schöpfungstheologie im Anthropozän, S. 173-177. Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung: Fleischatlas 2018 [Online-Dok.]. L. Kemmerer: Art. Feminismus, S. 105. Ebd.

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt

konsumiert in Amerika ca. 2.600 Tiere in seinem Leben – davon sind sage und schreibe 2.576 weibliche Tiere.«54 Doch allzu einfach lässt sich die Nähe von Frau zu Tier nicht dekonstruieren. Untersuchungen bestätigen, dass die meisten im Tierschutz engagierten Menschen weiblichen Geschlechts sind.55 Julia Gutjahr verweist auf Studien von Herzog et al., die bei Frauen eine geringere Gewaltbereitschaft Tieren gegenüber nachweisen konnten.56 Sowohl im Bereich der privaten als auch der institutionalisierten Gewalt sind die Täter mehrheitlich männlichen Geschlechts, ebenso im Bereich der Jagd. Auch arbeiten mehr Männer in Schlachtfabriken als Frauen. Gutjahr zeigt einen möglichen Rückschluss auf soziale Rollenmuster auf: »Das Töten eines Tieres erfordert v.a. die Unterdrückung von Emotionen, die Bereitschaft, physische Gewalt auszuüben, verschiedene Strategien der Rationalisierung sowie die Inszenierung von Härte und Körperkraft. Diese Elemente sind bis in die heutige Zeit hinein zentral für Bilder von (hegemonialer) Männlichkeit.«57 Ein weiterer Faktor kann als Erklärungshilfe für die überwiegend männlichen Arbeiter in Deutschlands Schlachtfabriken angeführt werden: Die meisten Arbeiter, die in Deutschland in Schlachtfabriken arbeiten, sind Menschen aus Osteuropa. Häufig lassen sie ihre Familien in ihren Heimatländern zurück, um hier unter extremen psychischen und körperlichen Bedingungen im Schichtbetrieb zu töten und zu zerteilen. Da auch in ihren Heimatländern Care-Arbeit Frauensache ist, sind sie es, die als schlecht bezahlte Arbeitsmigranten in den Bereichen der institutionalisierten Gewalt tätig sind. Hier zeigt sich dann die Wechselwirkung von soziokultureller Prägung und Geschlecht und die Schwierigkeit einer neutralen Beurteilung. Der Umkehrschluss, dass aufgrund eines jahrhundertelang geltenden und noch immer manifesten essentialistischen Geschlechterverständnisses es schlichtweg nicht mehr möglich ist, hier ein objektives Urteil oder lupenreine Aussagen über eine besondere Nähe von Frau und Tier oder vom Weiblichen zum Tierlichen zu postulieren, ist keinesfalls zum Status quo der Forschung geworden. Sich eine Aussage über den Zusammenhang von Frau und Natur zu versagen, gerade weil ›Frau‹ keine natürliche, sondern eine biologische sowie soziokulturelle Größe ist, hat sich bisher nicht durchsetzen können.58 Wenn einerseits die (konstruierte) Andersartigkeit von Frauen als Legitimationsstrategie für Abwertungsmechanismen herangezogen wird und insofern eine Parallele zu dem Othering von Tieren ausgemacht werden kann, ist damit dennoch kein Rückschluss darauf möglich, ob die andererseits nachgewiesene besondere Nähe von Frauen und Tieren (Engagement im Tierschutz z.B.) durch die Gemeinsamkeiten der ge54 55 56

57 58

L. Kemmerer: Art. Feminismus, S. 105. Vgl. L. Kemmerer: Sister Species, S. 173-185. Vgl. K. Schachinger: Gender Studies und Feminismus, S. 68. Vgl. J. Gutjahr: Art. Geschlecht, S. 130 sowie H. A. Herzog/N. S. Betchart/R. B. Pittman: Gender, Sex-role Orientation and Attitudes towards Animals, S. 184-191. Vgl. Zum Aspekt einer »feministischen Fürsorgeethik« auch die kritischen Stimmen von: C. J. Adams/J. Donovan: Introduction, S. 1-20. J. Gutjahr: Art. Geschlecht, S. 130. Vgl. H. Eaton: Women, Nature, Earth, S. 7-22. Vgl. C. Mügge: Ökologie, Gott und Geschlecht (im Erscheinen).

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teilten Erfahrungen von Ausgrenzung und Abwertung verstanden werden kann, auf die Erfüllung von Rollenerwartungen (Mädchen lieben nun mal Ponys) zurückgeführt werden kann, oder solche Rückschlüsse per se unzulässig sind. Die Möglichkeit, Begründungszusammenhänge herzustellen, rechtfertigt noch lange nicht, dies auch zu tun und schafft längst keine Notwendigkeit hierfür. So muss der Zusammenhang von Männlichkeit und einer mit dem Geschlecht verbundenen höheren Gewaltbereitschaft ebenso kritisch gesehen werden. Auch hier wäre es illegitim, einzig aufgrund des Geschlechts, Männer als die gewalttätig-dominanten Anderen zu stigmatisieren. Zwar weisen zahlreiche Statistiken auf, dass Frauen häufiger Opfer von Männern werden und Tiere ebenfalls häufiger durch von Männern ausgeführte Gewalt zu Opfern werden; aus dem statistisch legitimen Rückschluss, dass die Wahrscheinlichkeit als Frau oder als Tier Opfer von Männern zu werden höher ist als die, Opfer von Frauen zu werden, darf deshalb keinesfalls ein essentialistischer Rückschluss folgen. Auch hier kann nicht geklärt werden, inwiefern oder zu welchen Anteilen die höhere Gewaltbereitschaft von Männern ihrerseits auf die Erfüllung von Rollenerwartungen zurückzuführen ist.

2.

Theologische Abwertungsnarrative – und alternative Gegenentwürfe

Die Geschichte der christlichen Theologie ist eine Historie der Tiervergessenheit, wie Simone Horstmann aufzeigt.59 Während in den meisten anderen Weltreligionen die Rolle nichtmenschlichen Lebens als konstitutiv für das eigene religiöse Selbstverständnis und die eigene religiöse Praxis anerkannt wird, hat sich die christliche Theologie im Laufe ihrer Geschichte weitestgehend vom Nichtmenschlichen verabschiedet. Zwar konnten durch die Ausbildung und Ausdifferenzierung der Natur-, Kultur-, Geistesund Gesellschaftswissenschaften die mannigfaltigen gegenseitigen Abhängigkeiten aller Entitäten auf unserem Planeten sukzessive nachgewiesen werden und damit auch die Verwiesenheit des Homo sapiens auf ein intaktes Miteinander mit nichtmenschlichem Leben. Anstatt auf das nun auch mit empirischen Methoden nachweisbare Gefüge abhängigen Lebens mit einer größeren Ehrfurcht und Achtsamkeit diesem gegenüber zu reagieren, setzte eine zunehmende Ausbeutung des nichtmenschlichen Lebens durch das menschliche Leben ein. Der gegenwärtige Zustand des Oikos Erde gibt Zeugnis von dieser Gemengelage. Aktuell nehme ich in der christlichen Theologie zum einen das Tradieren einer Vorstellung wahr, die die Ausbeutung der nichtmenschlichen Schöpfung zwar nicht forcieren will, aber die Notwendigkeit eines Überdenkens ihrer anthropologischen Grundlagen durch den Verweis auf eine Sonderstellung des Menschen abzuwehren weiß. Ihr begegnet eine Denkbewegung, die diesen Anthropozentrismus hinterfragt und kritisiert. Vertreter:innen dieser Gruppe zeigen alternative Entwürfe des Lebens auf. Es bleibt nicht aus, dass in dieser Überzeugung neu über das Christliche, das Religiöse, das Gottgefällige, den Schöpfungsauftrag und die Frage der Beziehung von Gott und Welt nachgedacht wird. Sich dieser Herausforderung immer wieder neu stellen zu

59

Vgl. S. Horstmann: Die Tiervergessenheit der theologischen Ethik, S. 77-96.

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt

müssen, erleben manche Theolog:innen eher als Zumutung und Provokation denn als Herausforderung. Christliche Schöpfungsnarrative und Anthropologien neigen dazu, den Menschen auf zweifache Weise zu bestimmen: Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes, er wurde in Sorgfalt und aufgrund des göttlichen Schöpfungswillens ins Dasein gebracht. Dieser Akt wird in den meisten Theologien als kontingenter Gnadenakt verstanden. Der Mensch wird aus Erde geformt, somit aus demselben ›Material‹ wie die tierliche Schöpfung. Mit dieser im und durch den Schöpfungsakt verliehenen Würde des Menschen begnügt sich die christliche Theologie keinesfalls. Der weitaus dominantere und wichtigere Teil der christlichen Schöpfungslehre befasst sich mit den menschlichen Besonderheiten – im Vergleich zum nichtmenschlichen Leben: Da wäre das Narrativ der Ebenbildlichkeit Gottes zu nennen, ein Charakteristikum, das für die meisten Theolog:innen nur auf den Menschen zutrifft und durch die Mensch-Werdung Gottes in Jesus (Christus) seinen Höhepunkt erfährt. Wer allerdings die Ebenbildlichkeit als Ausdruck eines Aufeinander-Bezogen-Seins von Gott und Schöpfung versteht, betont gerade das gemeinsame Werden der Geschöpfe und rechtfertigt damit keine Mensch-Tier Distinktion.60 Ferner begegnet uns der an den Menschen im Schöpfungsnarrativ ergangene Auftrag der Herrschaft über die Schöpfung. Dabei erfahren diese religiösen Bestimmungen im biblischen Text keine Wertung. Es gibt keine Stelle, an der Gott zum Menschen gesagt hat »Du bist mein Lieblingstier, Du bist also mehr wert als der Rest der Schöpfung; Du hast mehr Recht, darfst Deinen Schöpfungs- und Lebenswert über den der anderen Kreaturen stellen«. Zudem wird nicht bedacht, dass die Bestimmung des Menschen eine ist, die im Garten Eden verortet ist. Das, was dort über den Menschen erzählt wird, gilt in einem bestimmten Kontext – dem Paradies. Die ›Funktion‹ der Schöpfungsmythen als ätiologisches Erklärungsmuster für ein bereits im 7. bis 9. Jh. v. Chr. als gestört wahrgenommenes Verhältnis, sowohl der Menschen untereinander als auch zwischen Mensch und Tier, gerät schnell in Vergessenheit. Das gesamte Alte Testament wird in den meisten christlichen Anthropologien und Schöpfungstheologien übersprungen. Relevant ist erst die Menschwerdung Gottes in Jesus (Christus) – wieder eine Besonderheit. Zwar heißt es in Joh 1,14, dass Gott ›Fleisch‹ (und nicht Mensch) wurde, doch dieses Detail geriet in Vergessenheit. Es ist die Menschwerdung Gottes in Jesus, die der Mensch erneut als Aufwertung seiner selbst im Vergleich zur nichtmenschlichen Schöpfung versteht. Diese Menschwerdung wird nicht als eine Möglichkeit der Inkarnation verstanden, nicht als bewusste Entscheidung für einen Menschen, diesen Juden Jesus, sondern damit auch als bewusste Entscheidung für den Menschen, den Mann (das Argument, Gott hätte sich, wenn Gott gewollt hätte, schließlich auch in einer Frau inkarnieren können, ist ein beliebter Versuch, die Frage nach dem Priesteramt für die Frau in ihrem Anliegen bereits entkräften zu wollen).61 Das Argument lautet dann: Gott hätte sich auch in einer Frau (oder im Tier) inkarnieren können, hat er (sic!) aber nicht.

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Vgl. M. Mühling: Menschen und Tiere – geschaffen im Bilde Gottes, S. 129-143. Dass dies keine überzeugende Position ist, ist u.a. hier nachzulesen: M. Eckholt/U. LinkWieczorek/D. Sattler/A. Strübind (Hg.): Frauen in kirchlichen Ämtern. Vgl. S. Demel: Frauen und kirchliches Amt.

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Dass Gott dies nicht getan hat, wird dabei nicht als spekulative, sondern als normative Aussage verstanden. Ferner wird deren befreiendes und revolutionäres Potential verkannt: dass Gott in der Inkarnation im Juden Jesus sich durch dessen Leben an die Seite der Unterdrückten und Marginalisierten gestellt hat. Aus dem anti-imperialistischen Vorbild Jesu wurde die das Establishment unterstützende christliche Religion.62 Es geht weiter: Dass Gott dies nicht getan hat, muss also etwas über die unterschiedliche Wertigkeit von Mensch und Nichtmensch aussagen. Und weiter: Gott hätte sich ebenso in einer Frau inkarnieren können, denn er (sic!) kann alles. Dass er (sic!) dies nicht getan habe, wird nicht als Entscheidung für diesen Juden Jesus verstanden, sondern als Entscheidung für ein bestimmtes Geschlecht. Gott hat sich also bewusst in einem Mann inkarniert – und nicht in einer Frau. Diese Argumentationslogik wird selektiv weiter betrieben – Jesus war ein Single-Mann, auch dies wird nicht als Zufall verstanden. Von Jesus sind keine Szenen überliefert, in denen er Geschlechtsverkehr hatte, auch dies bedeute, er habe sexuell enthaltsam gelebt, was wiederum Gottes Wille sein müsse. Andere Akzidenzien wie das Beschnitten-Sein Jesu oder sein nichteuropäischer Phänotyp werden hingegen als das gesehen, was sie sind: Akzidenzien. Die Problematik dieser naturalistischen Fehlschlüsse besteht darin, dass die Aufwertung eines Menschen mit der Aufwertung der Menschheit gleichgesetzt wurde – womit die Abwertung des Nichtmenschlichen im Christentum peu à peu einherging. Ferner wurden sie als Aufwertung eines biologischen Geschlechts verstanden – auch hier folgte die Abwertung anderer Geschlechter. Deutlich wird dies unter anderem in der katholischen Lehre, dass Frau und Mann zwar ›gleichwertig‹, aber nicht ›gleichartig‹ seien.63 Ist die Frau denn von einer anderen Art? Entartet? Die Vorstellung von einem ›Prototyp‹ Mensch, dem Mann, aus dem dann bei ungünstigen Winden die Frau als ›mangelhafter Mann‹ entsteht, mag beim Kirchenlehrer Thomas von Aquin noch überzeugt haben, der Forschung und Kenntnis des 21. Jh. hält diese Auffassung nicht mehr stand. Im Folgenden möchte ich anhand zweier in der christlichen Anthropologie und Schöpfungstheologie dominanter Narrative aufzeigen, wie durch sie ein Othering des Nichtmenschlichen betrieben wird, das nicht nur eine Anderswertigkeit des Nichtmenschlichen zum Ausdruck bringt, sondern eine Minderwertigkeit. Daran anknüpfend stelle ich alternative Schöpfungsnarrative vor, die eine höhere Kompatibilität mit evolutionstheoretischen Erkenntnissen aufweisen und geeigneter sind, eine Sensibilisierung für das Nichtmenschliche zu schaffen, Schöpfung als umfassenden Prozess zu denken und so zur Ausgangsbasis theologisch-ethischer Überlegungen werden können.

62 63

Vgl. J. Rieger: Christ and Empire. Vgl. C. Florin: Herbstmärchen und Schauergeschichte – 1968, S. 49. Vgl. J Knop: Beziehungsweise: Theologie der Ehe, Partnerschaft und Familie, S. 76-85.

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt

2.1

Der Mensch, die Krone der Schöpfung »By admiration, I understand reverence for the infinite connectedness, the naturally sacred order of things, and joy in it, delight. So we admit stones to our holy communion, so the stones may admit us to theirs.«64

In einem DLF-Gespräch von 2011, das den Titel »Der Mensch – die Krone der Schöpfung? Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe über die Hierarchie des Lebens« trägt, verteidigt Höffe die Sonderstellung des Menschen vor den kritischen Fragen des Redakteurs, ob denn nicht die Vorstellung vom Menschen als ›Maß aller Dinge‹ eine selbstgewählte sei.65 Höffe stellt sich in die Tradition der Stufenleiter des Lebens, wie sie von Aristoteles bekannt ist und auch durch Darwins Evolutionstheorien bestätigt wurde: Der Mensch als jenes Wesen, das als einziges in der Stufenleiter des Lebens die oberste Sprosse erklommen habe: Die Krone der Schöpfung. Höffe führt drei Merkmale des Menschen an, die seine gegenüber dem anderen Leben herausragende Position rechtfertigen: »Also wenn man Krone der Schöpfung zunächst etwas neutral nimmt, sehe ich mindestens insgesamt drei Möglichkeiten. Einmal: Der Mensch ist das einzige Wesen, das nutzenfrei, nicht utilitär forscht. Auch nach dem Muster von Aristoteles, wir sind von Natur aus neugierig. Das Zweite ist die Moralfähigkeit, und das ist keine Rangfolge. Und das Dritte aber auch eine überwältigende Fähigkeit zu Technik und Medizin.«66 Nicht nur primatologische Studien konnten jedoch bereit 2011 belegen, dass die hier aufgeführten Charakteristika nicht nur beim Menschen nachzuweisen sind.67 Dass dies der Fall ist, scheint jedoch weder Wissenschaft noch die Gesamtbevölkerung, weder die Politik noch die Kirche (vollends) zu überzeugen. Eher wird jeder Nachweis einer dem menschlichen Können vergleichbaren Fähigkeit im Tierreich als Ansporn und Anlass gesehen, nach weiteren rein menschlichen Charakteristika zu forschen, um die Sonderstellung desselben zu gewährleisten. Skurrilerweise bezieht man sich hier auf ein biblisches Zitat, das als solches in keiner Bibel zu finden ist – in den Schöpfungserzählungen ist nicht von einer ›Krone der Schöpfung‹ die Rede; auch impliziert das biblische Narrativ der Entstehung der Welt keine Rangordnung von den niederen Tieren in den Gewässern hin zu den Wirbeltieren und erst recht nicht eine damit verknüpfte Wertigkeit. Der Mensch ist im biblischen Sinne weder Höhepunkt noch Krone der Schöpfung. Er wurde lediglich im Narrativ des Sechs-Tage-Prozesses als letztes erschaffen. Wenn es so etwas wie einen Schöpfungshöhepunkt gibt, so ist es der Tag, der geheiligt wurde: der siebte Tag – der Ruhe-Tag. Der Shabbat ist die Krone der Schöpfung, mit ihm wird der Schöpfungsprozess vollendet – nicht mit der Erschaffung des Homo sapiens. Zu selten wird die anthropozentrische Perspektive reflektiert, aus der der Mensch (nicht Gott) dem Leben unterschiedliche Wertigkeiten zumisst. 64 65 66 67

Ursula K. Le Guin: Late in the Day. H.-J. Neubauer: Der Mensch – die Krone der Schöpfung? [Online-Dok.]. Ebd. Vgl. nicht zuletzt die Forschung von D. Fossey, B. Galdikas und J. Goodall. Vgl. zudem V. Despret: Was würden Tiere sagen.

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Zu selten hinterfragt die christliche Anthropologie ihre Prämissen. Zu selten stellt das Christentum sich selbst die Frage, weshalb es für seine eigene Identität derart unabdingbar scheint, dass der Mensch gerade kein Tier ist, das Tier beherrschen darf und als eigene Art das Recht auf einen besonderen Lebensschutz hat. Zwar wurde im Christentum im Vergleich zu allen anderen Religionen aufgrund der Menschwerdung Gottes das Mensch-Sein im eigenen Verständnis am stärksten aufgewertet, für ein Othering von Mensch und Tier können allerdings die meisten – auch nichtchristlichen – Anthropologien kritisiert werden. Für Joerg Rieger ist die christliche Religion »the most anthropocentric religion ever«68 . Er verweist auf den bereits 1967 publizierten Aufsatz »The Historical Roots of our Ecological Crisis« von Lynn White Jr., in dem dieser die christlichen Religionen in besonderem Maße für eine das irdische, nichtmenschliche Leben vernachlässigende Haltung verantwortlich macht und den naiven Fortschrittsoptimismus und das Vertrauen in eine zunehmende Technisierung der Lebensbereiche kritisiert.69 Mensch und Tier werden gegenübergestellt, um ›den Menschen‹ bzw. ›das Menschliche‹ zu definieren.70 Es ist das Prinzip des »Othering«, dass das Andere »benannt und geschaffen [wird], um das Eine zu benennen und zu definieren«71 . Die Katholische Kirche ist eine der größten Gegnerinnen des Great Ape Projects, wie oben bereits erwähnt wurde.72 Im Great Ape Project wurde u.a. nachgewiesen, dass die Gene des Menschen denjenigen eines Schimpansen ähnlicher sind als die des Schimpansen denen des Gorillas.73 Die Katholische Kirche sah ihr Bild vom Menschen durch das Great Ape Project zutiefst bedroht. Obgleich dieses auch unter den Aspekten von Tierschutz und Tierrechten zu kritisieren ist, bleibt doch die offene Frage: Weshalb ist es für das katholische (christliche) Selbstverständnis derart essentiell, dass es keine Spezies geben darf, die dem Menschen derart nahekommt? Woher nimmt die christliche Theologie ihre Gewissheit der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des menschlichen Lebens? Denksysteme, die mit derart konstruierten Dualismen operieren, implizieren damit immer auch Hierarchien, die ihrerseits zur Legitimation von Herrschaftsverhältnissen herangezogen werden. Val Plumwood spricht von einer »identity of the master«, die hierdurch gebildet wird. Je weiter entfernt Lebewesen von der »identity of the master« sind, desto mehr büßen sie Macht und Einfluss ein. In der westlichen Kultursphäre wird die »identity of the master« durch den (weißen) heterosexuellen ›Mann‹ repräsentiert.74 68 69 70 71

72

73 74

W. Bauman/U. Vaai: Intersections in Economics, Ecology and Religion [Online-Dok.]. »Especially in its Western form, Christianity is the most anthropocentric religion the world has seen.« L. Jr. White: The Historical Roots of our Ecological Crisis, S. 1203-1207. Vgl. S. Hastedt: Wirkungsmacht, S. 196. Vgl. M. Wimmer/C. Wulf/B. Dieckmann: Grundlose Gewalt, S. 21-22. Ebd. Vgl. ebenfalls S. de Beauvoir: Das andere Geschlecht, S. 13f.: »Das Subjekt setzt sich nur, indem es sich entgegensetzt: es hat den Anspruch, sich als das Wesentliche zu behaupten und das Andere als das Unwesentliche, als Objekt zu konstituieren. […] Nicht das Andere definiert das Eine, indem es sich selbst als das Andere definiert: es wird von dem Einen, das sich als das Eine versteht, als das Andere gesetzt.« Vgl. C. Goldner: Art. Great Ape Project, S. 136-138. Vgl. M. Langer: Persona non grata [OnlineDok.]. Vgl. Ohne Autorenangabe: Grundrechte für Menschenaffen [Online-Dok]. Vgl. K. Remele: A Strange Kind of Kindness, S. 142. M. Langer: Persona non grata [Online-Dok.]. Vgl. V. Plumwood: Feminism and the Mastery of Nature, S. 41-45.

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt

So, wie sich derartige Master-Narrative und die mit ihnen verbundenen Geschlechtsidentitäten als soziale Konstruktionen erweisen, so verhält es sich mit der Konstruktion von ›Spezies‹ und ›Animalitäten‹. Beide Kategorien sortieren einzelne Lebewesen in Wertschemata ein. Die ›Kategorie‹ Spezies ist insofern labil und für die Ableitung bestimmter Rechte (oder die Rechtfertigung der Nicht-Anwendung von Rechtsschutz auf diese/Einschließungs- und Ausschließungsmechanismen) ungeeignet, da sie schlichtweg Ergebnis einer ›Einsortierung‹ von Lebendigem durch Menschen dienen soll, die ihrerseits bereits in bestimmten (Master-)Narrativen situiert sind. ›Spezies‹-Kategorien fehlt ein eigentlicher ›Kern‹, die Kategorisierung selbst beruht auf erlernten Wertesytemen: »Species has no essential nature; therefore, to make moral distinctions based on species in itself, without reference to what species consists of, is to make moral distinctions based on nothing.«75 Sabine Hastedt macht – u.a. unter Verweis auf Jacques Derrida – die Funktion konstruierter Speziesgrenzen deutlich und zeigt damit auch den umwälzenden Charakter einer Infragestellung derselben auf: »Die Speziesgrenze, die ›Mensch‹ und ›Tier‹ trennt, ist konstruiert. Den einen Bruch, der benutzt wird, um Menschsein zu definieren, gibt es nicht. Er ist nicht vorgängig existent, sondern wird erschaffen und durch diskursive Mittel stets wiederholt und hervorgebracht. Die Selbstbenennung des Menschen reproduziert die Vorstellung der Sonderstellung des Menschlichen – eines ›human exceptionalism‹«76 – und grenzt damit einhergehend jene Lebensformen aus, die dem Tierlichen zugeordnet sind. »Die Speziesgrenze ordnet ›Mensch‹ und ›Tier‹ in homogenen Räumen an und erweckt so den Eindruck von Einheit in den Kategorien. Dadurch werden sowohl die große Vielfalt als auch Differenzen innerhalb dieser Räume nicht sichtbar gemacht. Indem die implizierte Homogenität des Tierlichen als Illusion entlarvt wird, erweist sich auch der Ursprung dieser Annahme als Konstruktion: Die Grenzziehung zwischen ›Mensch‹ und ›Tier‹.«77 Die Vorstellung einer derartigen Hierarchisierung des Lebens wird den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Gemeinsamkeiten, Intersektionen und Abhängigkeiten des Lebens nicht gerecht. Der Schöpfungsprozess ist ein ko-evolutives Geschehen. Catherine Keller spricht vom »Genesiskollektiv«, wobei alles Leben in seiner Ko-Kreatürlichkeit aufeinander angewiesen ist.78 Es ist die Weltenseele bei Platon, die solch eine Vorstellung zum Ausdruck gebracht hat. Wenn Gottes Geist das All erfüllt (um in der Sprache eines bekannten Kirchenliedes zu sprechen), dann ist dieses

75 76 77 78

D. Elstein: Species as a Social Construction: Is Species Morally Relevant? [Online-Dok.], S. 4. C. Deane-Drummond: Deep History, Amnesia, and Animal Ethics, S. 263. Vgl. J. Enxing: Schöpfungstheologie im Anthropozän, S. 161-173, bes. S. 163. S. Hastedt: Wirkungsmacht, S. 200. Vgl. C. Keller: On the Mystery, S. 45-68. Vgl. C. Keller: Talking Dirty: Ground is not Foundation, S. 75 u.ö. Zur Weltenseele bei Platon s.u.a.: D. Dombrowski: Hartshorne, Platon und die Auffassung von Gott, bes. S. 55-61.

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Durchwirken ein allumfassendes. Gottes immanent-transzendentes Wesen muss dem Leben als solchem innewohnen, wenn es das Leben im Dasein erhalten will. Denn: Keine Entität ist auf sich gestellt lebensfähig. Theologie hat somit die (Auf-)Gabe, die im Schöpfungsnarrativ begonnene gemeinsame Geschichte des Lebens als eine solche zu tradieren. Verweise auf eine Sonderausstattung des Menschen, wie sie Höffe unternimmt, wollen per se eine höhere Wertigkeit des Menschen ausdrücken. Weshalb ist immer der Mensch der Maßstab für einen Vergleich?. Inwiefern ist die Sprache des Menschen als ›besser‹ oder ›wertiger‹ anzusehen als die von Tieren? Dass es wiederum der Mensch ist, der diese Wertigkeit als Prämisse eingezogen hat, sollte zumindest hinsichtlich der Überzeugungskraft des Arguments skeptisch machen. Zudem verkennt Höffe beispielsweise die Diskontinuität der Sprachkompetenzen innerhalb seiner eigenen ›Spezies‹. Die Sprache anderer Lebewesen allein deshalb als minderwertig zu begreifen, weil sie nicht die unsere ist, ist ein Muster, das Gefahr läuft, das ›Andere‹ per se abzuwerten. Ein solche Auffassung hält nur stand, solange der Blick bewusst vom anderen Leben ab- und zugunsten der eigenen Gruppe dieser zugewandt wird. David Abram betont hingegen die Sprachkompetenzen anderer Lebewesen: »Obviously, these other beings do not speak with a human tongue; they do not speak in words. They may speak in song, like many birds, or in rhythm, like the crickets and the ocean waves. They may speak a language of movements and gestures, or articulate themselves in shifting shadows.«79 Albert Schweitzer drückt diese Überzeugung bereits in seiner »Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben« aus. Treffend mahnt er zur Demut angesichts der Vorstellung, Leben an sich sei (von Gott) mit unterschiedlichen Wertigkeiten versehen worden: »Besonders befremdlich findet man an der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, dass sie den Unterschied zwischen höherem und niederem, wertvollerem und weniger wertvollem Leben nicht geltend mache. Sie hat ihre Gründe, dies zu unterlassen. Das Unternehmen, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen zu statuieren, läuft darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserm Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen, was ein ganz subjektiver Maßstab ist. Wer von uns weiß, was das andere Lebewesen an sich und in dem Weltganzen für eine Bedeutung hat? Im Gefolge dieser Unterscheidung kommt dann die Ansicht auf, dass es wertloses Leben gäbe, dessen Schädigung und Vernichtung nichts auf sich habe. Unter wertlosem Leben werden dann, je nach den Umständen, Arten von Insekten oder primitive Völker verstanden.«80

2.2

Der Mensch, der Herrscher über die Schöpfung Da sprach Gott: »Wir wollen Menschen machen – als unser Bild, etwa in unserer Gestalt. Sie sollen niederzwingen die Fische des Meeres, die Flugtiere des Himmels,

79 80

D. Abram: Becoming Animal, S. 10. A. Schweitzer: Die Ehrfurcht vor dem Leben, S. 157.

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das Vieh, die ganze Erde, alle Kriechtiere, die auf dem Boden kriechen.« Da schuf Gott Adam, die Menschen, als göttliches Bild, als Bild Gottes wurden sie geschaffen, männlich und weiblich hat er, hat sie, hat Gott sie geschaffen. Dann segnete Gott sie, indem Gott zu ihnen sprach: »Seid fruchtbar, vermehrt euch, füllt die Erde und bemächtigt euch ihrer. Zwingt nieder die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels und alle Tiere, die auf der Erde kriechen.«81 Auch eine schöpfungssensible Theologie kommt nicht an dem sogenannten biblisch begründeten »Herrschaftsauftrag« (Gen 1,26ff.) – das dominium terrae – vorbei. Exegetische Versuche, das hebräische ›kabasch‹ nicht mit ›herrschen‹ oder ›niederzwingen‹ zu übersetzen und stattdessen von ›verwalten‹ zu sprechen, sind zwar aufgrund ihres Anliegens zu würdigen, ändern an der grundsätzlichen Hierarchisierung des Lebens allerdings nichts. Celia Deane-Drummond und Christoph Baumgartner greifen in diesem Zusammenhang das Konzept des ›Hütens‹ bzw. ›stewardship‹ kritisch auf, das gerade in jüngerer Zeit als alternative Interpretation von Gen 1,26ff. häufiger angeführt wird. ›Stewardship‹ knüpft an die Metapher des guten Hirten an, der seine Schafe natürlich nicht ausnutzt und unterdrückt, sondern insofern ein guter Hirte ist, als dass er mit diesen eine Art Bio-Symbiose eingeht – eine Lebensgemeinschaft der gegenseitigen Achtung.82 Diese Interpretation trägt dem Bewusstsein Rechnung, dass das Leben eines in Gemeinschaft ist. Albert Schweitzer drückte es mit dem berühmt gewordenen Satz aus: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.«83 Die Herausforderung besteht allerdings darin, dass im biblischen Urtext nun mal nicht ›walten‹ oder ›hüten‹ oder ›hirten‹ steht, sondern ›herrschen‹ bzw. ›niederzwingen‹. Auch Hinweise darauf, dass der antike Herrscher nun mal kein Willkürherrscher war, sondern stets zum Wohle aller entschieden habe, richten wenig aus, wie die Situation unseres Planeten beweist. Heather Eaton distanziert sich deshalb von jedem Bemühen, dieses biblische Narrativ (konstruktiv) zu deuten. Vielmehr sieht sie es als weiteres Indiz dafür, wie problematisch ein unkritischer Anthropozentrismus und ein selektiver Rückgriff auf einzelne Verse der Heiligen Schrift sind. Hierbei handele es sich um biblische Passagen, die dann plötzlich doch als verbalinspiriert verstanden werden.84 Othmar Keel hat diesen anthropo- bzw. androzentrisch-selektiven Zugang in Bezug auf die so genannten ›Strafsprüche‹ (Gen 3,14-19) entlarvt: 81 82

83 84

Gen 1,26-28 (Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache). Vgl. C. Deane-Drummond: A Primer in Ecotheology.S. 23-24, 91-103, 147. Vgl. C. Deane-Drummond: Eco-Theology, S. 83-87. »A Christian understanding of stewardship can be defined as the God-given mandate of humanity to preserve the Earth for the future. The obligations of humanity in view of creation are direct obligations to God, who is understood as creator and owner of the Earth. Accordingly, humanity’s responsibility as steward is grounded in higher time, which is constitutive for the self-understanding of humans and their relation to the world. This Christian notion of stewardship has an essentially conservative orientation in the sense that the steward is responsible for the preservation of the good entrusted to him or her. In other words, the steward has to take care that the Earth is not destroyed or damaged, and that it functions as a living environment for (future) plants, animals, and humans alike.« C. Baumgartner: Transformations of Stewardship in the Anthropocene, S. 63-64. A. Schweitzer: Ehrfurcht vor dem Leben, S. 21. Vgl. H. Eaton: An Earth-Centric Theological Framing for Planetary Solidarity, S. 19-44, bes. 30-33.

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»Man hat in der kirchlichen Praxis die Worte von den Schmerzen bei der Geburt und die von der Herrschaft des Mannes über die Frau nicht selten als Gebot aufgefasst, statt sie als das zu nehmen, was sie sind, nämlich die Beschreibung eines Unheilzustandes, der überwunden werden muss. So hat man sich mit Hilfe von Genesis 3,16a bis in die neueste Zeit gegen Bemühungen um eine schmerzarme Geburt zur Wehr gesetzt. Das Verräterische dabei ist, dass man nicht gleichzeitig unter Berufung auf Gen 3,17-19 gegen die Einführung von Traktoren und Motorsägen zu Felde gezogen ist, die den von Gen 3,19 bei der Feldarbeit vorgesehenen Schweiß verringern.«85 Aufgrund der massiven Auswirkungen einer einseitig und als ›gottgewollt‹ ausgelegten Schriftstelle distanziert sich Heather Eaton von jeglichen Interpretationsversuchen zu Gen 1,28. Ihrer Auffassung nach wankt die dominante Sonderstellung des Menschen und seine Neigung, nichtmenschliches Leben zu instrumentalisieren, nicht, wenn der Herrscher zum Verwalter oder zum Hirten wird. In allen Fällen ist es der Mensch, der diese Rolle erfüllt und sich bevollmächtigt sieht zu bestimmen, was ein ›guter‹ Herrscher, ein ›guter‹ Verwalter oder ein ›guter‹ Hirte ist. In all diesen Fällen steht die menschliche Agency über der des nichtmenschlichen Lebens. Keines dieser Bilder wird der Tatsache gerecht, dass der Mensch derjenige ist, der am intensivsten auf eine intakte Biosphäre angewiesen ist und dessen Leben aufgrund seiner geringeren Adaptionsfähigkeit extrem vulnerabel ist.

3.

»Stories that matter«

Ziel ist nicht, die Unterschiedlichkeit von Formen des Lebens und des Lebendigen zu nivellieren. Ziel ist es, angesichts dessen, dass die Gemeinsamkeiten die Unterschiede um ein Vielfaches überragen, die gemeinsame Geschichte auch als eine solche zu erzählen und aus den bestehenden Gemeinsamkeiten und Verwobenheiten keine immens differierenden Rechte abzuleiten. Wie Judith Butler bereits 1993 in »Bodies that matter« zu denken gibt, verstehen auch Serenella Iovino und Serpil Oppermann den Menschen in erster Linie als mit nichtmenschlichem Leben zutiefst verknüpftes Lebewesen. Hinsichtlich dieses Aspektes unterscheidet sich das menschliche Tier nicht vom nichtmenschlichen. Statt den Menschen als superior im Vergleich zu allen anderen Lebewesen zu verstehen – was seine Art schlichtweg falsch beschreiben würde – setzen sie treffend bei den Gemeinsamkeiten des Lebens an und versuchen, das menschliche Leben von diesem Ausgangspunkt her näher zu verstehen: »[T]he world’s material phenomena are knots in a vast network of agencies, which can be ›read‹ and interpreted as forming narratives, stories. […] the stories of matter are everywhere: in the air we breathe, the food we eat, in the things and beings of this world, within and beyond the human realm. All matter, in other words, is a ›storied matter.‹ It is a material ›mesh‹ of meanings, properties, and processes, in which

85

O. Keel: Die Stellung der Frau in der Erzählung von Schöpfung und Sündenfall, S. 75.

Konstruierte Andersartigkeit und Gewalt

human and nonhuman players are interlocked in networks that produce undeniable signifying forces.«86 Aus einer derartigen Verwobenheit lässt sich streng genommen nur eine Verantwortung für diese Verwobenheit ableiten. Insofern greift die Kritik nicht, dass mit einer Dekonstruktion von Spezieskategorien und den daraus legimitierten Einschließungs- und Ausschließungsmechanismen der Schöpfung insgesamt nicht geholfen sei, da gerade die Komplexität und Intellektualität des Menschen diesem ermögliche, in besonderer Weise Verantwortung für das nichtmenschliche Leben zu übernehmen.87 Die Lebensrealitäten an sich entkräften bereits diese These, da die Menschheit es offensichtlich nicht schafft, ihr eigenes Selbstverständnis so zu verändern, dass der Schutz der Tierheit und des nichtmenschlichen Lebens als handlungsweisend erkannt werden. Wenn das Schöpfungskollektiv ein kollaborierendes ist, ein Netzwerk des Lebens, dessen moralische Verpflichtungen deshalb als »inter-morality«88 bezeichnet werden können, muss es Theologien darum gehen, das Gesamtwohl des Lebens in den Mittelpunkt ihrer Gottesrede zu stellen. Unrechtszusammenhänge und lebensfeindliche Strukturen können aufgrund ihrer vielfältigen und komplexen Überschneidungen – wie anhand des hier beleuchteten Themenfelds der Intersektion von Gewalt an Frauen und Tieren deutlich wurde – nicht vereinzelt werden. So kann es gelingen, dass Religion ihr Potenzial als Teil der Lösung im Kampf gegen Unterdrückung und Gewalt entfaltet und nicht (länger) Gefahr läuft, Teil des Problems zu sein. Eine konstruktive Schöpfungstheologie im 21. Jh. überzeugt nicht durch ihre Kenntnisnahme, sondern durch ihre Kenntnis der evolutiven und ökologischen Zusammenhänge des Lebens. Die im biblischen Narrativ vermittelte Wertigkeit des Lebens, die göttliche Immanenz in der Schöpfung führt sie dazu, ihre Rolle darin zu sehen, den Wechselwirkungen des Lebens Raum zu geben und diese zu explizieren und die Unterschiedlichkeiten des Lebens in ihrer gegenseitigen Bezogenheit zu erforschen (und nicht zu machen). Kocku von Stuckrad hat dies wie folgt zusammengefasst: »We are not stewards but hosts of a conversation.«89

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86 87 88 89

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Das Tier als Mitgeschöpf? Eine Paränese Johann S. Ach

1.

Die Poesie der Sonntagsrede

In der fachwissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion hat der Umgang mit Tieren in den zurückliegenden Jahren zunehmend Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Kritische Auseinandersetzungen mit dem Thema der Tiernutzung haben zum Teil Beststeller-Status erlangt.1 Auch im Recht hat der Schutz von Tieren in den zurückliegenden Jahren mehr Berücksichtigung gefunden.2 Ein Beispiel dafür ist die Aufnahme des Tierschutzes als Staatszielbestimmung in das deutsche Grundgesetz.3 Artikel 13 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union stellt sogar fest, dass die Union und die Mitgliedstaaten bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Union in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Binnenmarkt, Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt »den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung«4 tragen wollen. Auch der Deutsche Ethikrat hat in seiner einschlägigen Stellungnahme die »Tierwohlachtung« jüngst zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe erklärt. Zumindest höher entwickelten Tieren müsse, so die Autorinnen und Autoren der Stellungnahme, ein »Eigenwert« zugeschrieben werden, der sich in dem Grundsatz manifestiere, »dass das Wohl des Tieres in allen Phasen seines Lebens zu achten«5 sei. Und die Evangelische

1 2 3

4 5

Vgl. J. S. Foer: Tiere essen; K. Duve: Anständig essen. Vgl. C. Raspé: Tiere im Recht. Seit 2002 lautet der einschlägige Artikel 20a des Grundgesetzes: »Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.« Welche rechtlichen Folgewirkungen die so genannten »Drei-Wort-Lösung« hat, wird in den Rechtswissenschaften allerdings nach wie vor kontrovers diskutiert. Ohne Autorenangabe: Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Art. 13 [OnlineDok.]. Deutscher Ethikrat: Tierwohlachtung, S. 58.

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Kirche in Deutschland hat in ihrem Papier »Nutztier und Mitgeschöpf!« von 2019 betont, dass Tiere als Mitgeschöpfe »ihre eigene Schönheit, Würde und Lebenssinn«6 haben. Man könne »biblisch sachgemäß durchaus von einer eigenen ›Würde der Tiere‹ als Mitgeschöpfe sprechen«7 . Die Diskrepanzen zwischen dem in solchen Stellungnahmen propagierten moralischen Standpunkt einerseits und der alltäglichen Praxis der ›Nutz‹-Tierhaltung andererseits sind indes nicht zu übersehen.8 Die Mehrzahl der in Deutschland gehaltenen rund 763 Millionen ›Nutz‹-Tiere, darunter etwas mehr als 27 Millionen Schweine und rund 12 Millionen Rinder, fristet ein erbärmliches Leben. Viele erwartet ein qualvoller Tod. Die Bedingungen, unter denen Fleisch, Milch und Eier heute produziert werden, machen Millionen ›Nutz‹-Tiere systematisch krank und sind für diese mit gravierenden Schmerzen und Leiden verbunden. »In vielen der gängigen Tierhaltungssysteme«, so steht es in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik beim BMEL von 2015, »besteht ein hohes Risiko für das Auftreten von Schmerzen, Leiden und Schäden für die Tiere – vor allem in der Schweine- und Geflügelhaltung sowie intensiven Rindermast, aber auch in Teilen der Milchviehhaltung. Vorherrschende Systeme setzen für ihre ungestörte Funktion vielfach schmerzhafte Eingriffe am Tier voraus (z.B. Kupieren von Schwänzen und Schnäbeln) oder drohen die Anpassungsfähigkeit der Tiere zu überfordern. In der Folge ist ein zum Teil hohes Ausmaß an Verhaltens- und Gesundheitsstörungen der Nutztiere zu verzeichnen, die in vielen Fällen aus den Beschränkungen der Möglichkeit, artgemäßes Verhalten auszuführen, und einem verbesserungswürdigen Management resultieren. Vielfach sind die Chancen der Nutztiere, positive Emotionen zu erleben, gering«9 . Geändert hat sich seither wenig. Die angedeuteten Missstände sind keineswegs skandalöse Ausreißer oder darauf zurückzuführen, dass einzelne ›schwarze Schafe‹ in der Lebensmittel- und ›Nutz‹Tierindustrie das Wohl der ihnen anvertrauten Tiere missachten. Sie sind vielmehr, wie Matthias Wolfschmidt, selbst Veterinärmediziner, herausgestellt hat, systembedingt: »Das System verurteilt sie [die Nutztiere] zu einem Leben, in dem Leiden und Krankheiten alltäglich sind und Rücksicht auf ihre arteigenen Bedürfnisse kaum erwartet werden kann. Schon im Studium lernte ich den Begriff der Produktionskrankheiten kennen, der nichts anderes bezeichnet als ein systembedingtes, also vermeidbares Ausmaß an Leiden und Schmerzen in den Ställen. Dass Hühner in überschaubaren Gruppen zusammenleben, gerne im Sand baden, ihre Nahrung durch stetiges Picken suchen und bevorzugt auf Bäumen schlafen, war durchaus bekannt. Dennoch pferchte man Legehennen in winzige Käfige und Masthühner zu Abertausenden in abgedunkelte Hallen. Dass Schweine drei Viertel ihrer Wachzeit mit der Nahrungssuche ver6 7 8 9

Evangelische Kirche in Deutschland: Nutztier und Mitgeschöpf!, S. 125. Ebd., S. 13. So schon U. Wolf: Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, S. 12. Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Nutztierhaltung [Online-Dok.].

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bringen, sich zum Schutz vor beißenden Insekten und Sonnenstrahlen im Schlamm suhlen und ihre weitläufigen Reviere mit Duftproben ihrer Exkremente abstecken, hat niemanden davon abgehalten, sie tagaus, tagein mit Nahrungsbrei zu versorgen und in enge Stallabteile mit betonierten Böden zu stecken, aus deren Schlitzen permanent der Geruch ihrer Ausscheidungen steigt. Dass Rinder Weidetiere sind, die sich von Gräsern und Kräutern ernähren, hat sie nicht davor bewahrt, dauerhaft angebunden und sogar mit tierischen Abfällen gefüttert zu werden.«10 Die Folgen der Überforderung für die Tiere, die diesem System unterworfen werden, sind beträchtlich: Euterentzündungen, Klauenerkrankungen, Stoffwechselstörungen, Gelenkerkrankungen, Lungenschäden, Atemwegserkrankungen, HerzKreislauferkrankungen – die Liste ließe sich beinahe beliebig fortsetzen. Hinzu kommen Verhaltensstörungen, Langeweile und Stress, sowie verstümmelnde und schmerzhafte Eingriffe. Und, nicht zuletzt, ein früher Tod.11 Die Bedingungen, unter denen Nutztiere vegetieren und leiden müssen, sind nicht nur, wie es der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim BMEL zurückhaltend genannt hat, in »fachlicher Sicht in weiten Teilen nicht tiergerecht«. Sie sind schlicht eine Schande. In keinem anderen Bereich geben Menschen so offen zu erkennen, dass ihnen das Wohl und Wehe nichtmenschlicher Tiere letzten Endes egal ist. Zumindest aber, dass ihnen die Bedürfnisse und Interessen der betroffenen Tiere so wenig wichtig sind, dass sie hinter beinahe jedes beliebige eigene ökonomische, kulinarische oder ›kulturelle‹ Interesse zurücktreten. Woran liegt es, dass mit Blick auf den Umgang mit nichtmenschlichen Tieren die »Poesie hochfliegender Sonntagsreden« so schnell von der »Prosa des Alltags eingeholt«12 wird? Wie kann es sein, dass Tieren einerseits der Status von Mitgeschöpfen zuerkannt wird, sie andererseits aber als ›Nutztiere‹ betrachtet werden, deren Wohlergehen davon bestimmt ist, wie sich die ›realen Zielkonflikte‹ auflösen lassen, die zwischen Tierschutz, ökologischer Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Befriedigung einer Massennachfrage bestehen?13 Wie kann es sein, dass das Wohlergehen fühlender Lebewesen gegen Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit abgewogen wird? Die Achtung vor dem ›Eigenwert‹ eines Tiers gegen das Recht auf ein bezahlbares Schnitzel? In diesem Beitrag wird es mir nicht so sehr darum gehen, Antworten auf diese Fragen zu finden. Mein Vorhaben ist ungleich weniger anspruchsvoll: Ich will im Folgenden am Beispiel der These der ›Mitgeschöpflichkeit‹ der Tiere, die in einem einschlägigen Dokument der EKD jüngst einmal mehr ausgestellt worden ist, deutlich machen, dass das Gewaltverhältnis, das den menschliche Umgang mit Tieren prägt, auch etwas mit den konzeptionellen Ressourcen zu tun hat, die zur Thematisierung des Mensch-Tier-

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M. Wolfschmidt: Schweinesystem, S. 9f. Kühe, die natürlicherweise eine Altersgrenze von 15 bis 20 Jahren erreichen können, landen durchschnittlich nach weniger als fünfeinhalb Jahren, von denen sie knapp drei Jahre als ›Milchkuh‹ dienten, im Schlachthof. D. Birnbacher: Dürfen wir Tiere töten, S. 222. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland: Nutztier und Mitgeschöpf!, S. 60.

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Verhältnisses genutzt werden. Der Begriff der Mitgeschöpflichkeit, so die These, ist selbst ein Teil des Problems, das der menschliche Umgang mit Tieren darstellt.

2.

Das Tier als Mitgeschöpf

Die These der Würde der Kreatur bzw. der Mitgeschöpflichkeit der Tiere lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen.14 Über diverse Wege und Umwege hat insbesondere der Ausdruck ›Mitgeschöpflichkeit‹ Eingang nicht nur an zentraler Stelle in offizielle kirchenamtliche Dokumente15 , sondern auch in die säkulare tierethische Diskussion und sogar in das Tierschutzgesetz der Bundesrepublik Deutschland gefunden. §1 des Tierschutzgesetzes lautet bekanntermaßen: »Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.« Der Begriff der Mitgeschöpflichkeit deutet eine doppelte Relation an, die für den Status der Tiere kennzeichnend sein soll: Zum einen – vertikal – eine Beziehung zwischen den Tieren und ihrem ›Schöpfer‹, dessen Geschöpfe sie sind. Zum anderen – horizontal – eine Beziehung zum Menschen (und allen anderen Geschöpfen), dessen »Mit«-Geschöpfe sie sind. Freilich: Aus dieser Kennzeichnung des (nichtmenschlichen) Tieres folgt für sich genommen normativ zunächst einmal nichts. Die bloße Tatsache (wenn es sich denn um eine solche handeln sollte), dass Tiere Mitgeschöpfe unter anderen Geschöpfen sind, ist für sich genommen moralisch neutral. Es wäre offenbar ein unzulässiger Schluss, ein Fehlschluss von einem ›Sein‹ auf ein ›Sollen‹, wollte man aus der bloßen Tatsache der (Mit-)Geschöpflichkeit von Menschen und Tieren unmittelbar normative Folgerungen ableiten. Das gilt auch und insbesondere für die Ethik der Mensch-TierBeziehung. Seinen normativen Gehalt erhält der Begriff der Mitgeschöpflichkeit erst dadurch, dass die als ›Schöpfer‹ angesprochene Entität mit ihrer Schöpfung eine bestimmte, normative bedeutsame Absicht ausdrückt oder ihren Geschöpfen berechtigterweise bestimmte Verpflichtungen auferlegt.16

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Vgl. zur Geschichte der Idee: H. Baranzke: Kreaturwürde. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland: Verantwortung des Menschen [Online-Dok.]; vgl. Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg: Mitgeschöpflichkeit [Online-Dok.]. Diese ergeben sich im Übrigen nicht schon aus dem Umstand, dass Menschen (und Tiere) ihre Existenz dem Schöpfungsakt des Schöpfers verdanken; dass er ihnen, wie manchmal gesagt wird, »das Leben geschenkt« hat. Denn erstens könnte man eine auf das »Geschenk des Lebens« reagierende Dankbarkeit ohnehin nur von solchen Geschöpfen erwarten, für die das geschenkte Leben eine erfreuliche Angelegenheit ist; zweitens und wichtiger aber ist Dankbarkeit nur in solchen Fällen angebracht, in denen man ein Geschenk auch hätte ausschlagen können. Davon kann im vorliegenden Fall aber keine Rede sein. Die durch Gott in die Existenz gerufenen Geschöpfe hatten keine Wahl. Das Geschenk des Lebens ist ihnen gewissermaßen aufgezwungen worden. Die Geschöpfe Gottes sind diesem also nicht bereits deshalb zu Dank verpflichtet, weil sie seine Geschöpfe sind. Ebenso wenig wie Kinder ihren Eltern gegenüber zu Dank verpflichtet sind, weil sie diesen ihre Existenz »verdanken« (vgl. B. Bleisch: Was wir unseren Eltern schulden, S. 43ff.).

Das Tier als Mitgeschöpf?

Die biblischen Perspektiven auf Tiere und das Mensch-Tier-Verhältnis freilich sind vielfältig – und sie sind widersprüchlich. Das ist nicht weiter verwunderlich, sind die biblischen Texte doch Ergebnisse einer Jahrhunderte übergreifenden Erzähltradition, in deren Verlauf auf die unterschiedlichsten Herausforderungen und Bedürfnisse reagiert worden ist. Die Bibel ist keine anthropologische oder zoologische Abhandlung, sondern eine »Zusammenstellung separat entstandener Texte religiöser Natur, in denen es vor allem um die Beziehung des Menschen zu Gott geht«17 . Eine biblische Anthropologie oder Zoologie gibt es nicht. Die im Alten Testament erzählte Schöpfungsgeschichte lässt aber keinen Zweifel an der besonderen Stellung des Menschen gegenüber Gott und dessen übrigen Geschöpfen: »Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen. Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen. Allen Tieren des Feldes, allen Vögeln des Himmels und allem, was sich auf der Erde regt, was Lebensatem in sich hat, gebe ich alle grünen Pflanzen zur Nahrung. So geschah es. Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.« (Gen 1,26-31a) Auch die nichtmenschlichen Tiere sind Geschöpfe Gottes und damit Mitgeschöpfe neben dem Menschen. Das Prädikat der ›Ebenbildlichkeit‹ aber bleibt dem Menschen vorbehalten.

3.

Die Sonderstellung des Menschen

Diese These der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ist einer von zwei Grundpfeilern der Lehre von der Sonderstellung des Menschen, die über Jahrhunderte und bis auf den heutigen Tag unser Denken über und unser Handeln in Bezug auf Tiere maßgeblich geprägt hat und noch immer prägt.18 Gott hat den Menschen »als sein Abbild«, »nach seinem Gleichnis« geschaffen. Das unterscheidet den Menschen von allen anderen Geschöpfen Gottes; und ist sowohl der Grund für die Sonderstellung des Menschen als auch die Basis für den Gestaltungs- und Herrschaftsauftrag, den Gott an den Menschen richtet.19 Gewiss: Im Alten Testament finden sich zahlreiche Stellen, in denen ein freundlicher, zurückhaltender Umgang mit Tieren empfohlen wird; und es gibt Stellen,

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K. Bayertz: Der aufrechte Gang, S. 77f. Vgl. A. Flury: Der moralische Status der Tiere, S. 22ff. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland: Mitgeschöpf und Nutztier!, S. 13. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland: Verantwortung des Menschen, Abs. 8 [Online-Dok.]; vgl. Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg: Mitgeschöpflichkeit, S. 2f. [Online-Dok.].

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in denen die Vision einer endlich gewaltlosen Welt entworfen wird (eine Welt, wie es beispielsweise beim Propheten Jesaja heißt, in der die »Wölfe bei den Lämmern wohnen«). Die besondere Stellung des Menschen aber wird nirgendwo in Frage gestellt: Gott hat den Menschen und nur den Menschen als sein Ebenbild erschaffen.20 Der andere Pfeiler der Lehre von der Sonderstellung des Menschen ist die VernunftThese. Dieser These zufolge ist der Mensch dasjenige Wesen, das im Unterschied zu allen anderen Lebewesen über Vernunft verfügt. Ob Aristoteles, wie behauptet worden ist21 , nichtmenschlichen Tieren die Fähigkeit zur Vernunft abgesprochen hat, oder aber, ein Kontinuitätsverhältnis behauptend der Auffassung war, Tiere seien, ähnlich Kindern, keine vollständig rationalen Lebewesen – darüber gehen die Auffassungen der Exegetinnen und Exegeten bis heute auseinander.22 In jedem Fall aber schließt Aristoteles die Möglichkeit kategorisch aus, dass der Mensch Tieren gegenüber moralische Verpflichtungen haben könnte.23 Die Vernunft-These ist eine Position des moralischen Differentialismus24 : Sie ist nicht nur eine Behauptung darüber, dass Menschen qua ihrer Vernunft über eine Eigenschaft oder Fähigkeit verfügen, die sie von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Dies wäre an sich noch nicht sonderlich informativ. Schließlich haben auch andere Lebewesen Eigenschaften, die eine Besonderheit darstellen: »Fledermäuse orientieren sich mit Echolot, Menschen mit Vernunft. Das ist ein Unterschied, ja – aber wieso ein Unterschied, der die Menschen über Fledermäuse stellt?«25 Die Vernunft-These ist aber nicht nur eine empirische These darüber, welche Eigenschaften Menschen haben (oder nicht haben); sie ist vielmehr auch und zugleich eine normative Behauptung darüber, wie der Mensch sein und wie er demzufolge behandelt werden soll. Insofern Menschen vernünftige Wesen sind, haben sie der Vernunft-These zufolge einen Anspruch darauf, auf bestimmte Weise behandelt zu werden, bzw. die Pflicht, Wesen ihrer Art auf bestimmte Weise zu behandeln. Wenn der Mensch »das vernünftige Tier ist, dann hat er auch vernünftig zu sein; man kann das als Forderung an ihn richten.«26 Die These der Gottesebenbildlichkeit und die Vernunft-These haben den Umgang mit Tieren – zumindest in der westlichen Welt – nicht nur nachhaltig geprägt; sie sind vor allem eine verhängnisvolle Allianz eingegangen, die erst die nachhaltige und erstaunliche Wirkmächtigkeit der These von der Sonderstellung des Menschen zu erklären vermag. Die beiden Thesen ergänzen und stützen sich wechselseitig, indem sie die offenkundigen Defizite des jeweils anderen Pfeilers der Sonderstellungs-Behauptung kompensieren.27 Die offene Flanke der These von der Gottesebenbildlichkeit liegt ersichtlich darin, dass sie nur vor dem Hintergrund einer schöpfungstheologischen Lehre überhaupt ver20 21 22 23 24 25 26 27

Oder, in Anlehnung an Ludwig Feuerbach: Der Mensch hat Gott nach seinem Ebenbild geschaffen (so auch P. Singer: Befreiung der Tiere, S. 303). Vgl. R. Sorabij: Animal Minds & Human Morals. Vgl. C. Horn: Antike, S. 4f. Vgl. G. Steiner: Traditionen der Tierethik, S. 143. Vgl. H. Grimm/M. Wild: Tierethik, S. 33. R. Bittner: Abschied von der Menschenwürde, S. 97. H. Grimm/M. Wild: Tierethik, S. 35. Vgl. A. Flury: Der moralische Status der Tiere, S. 28.

Das Tier als Mitgeschöpf?

ständlich gemacht werden kann. Die Behauptung, dass der Mensch von Gott nach seinem »Abbild« geschaffen worden ist, kann allenfalls jene überzeugen, die an die Existenz eines göttlichen Schöpfers glauben. Außerhalb eines solchen religiösen Bezugssystems wäre die These schlicht unverständlich. Eben dieses Defizit, nur für jene überzeugend zu sein, die an einen (genau genommen: diesen einen bestimmten) Schöpfergott glauben, scheint die Vernunft-These zu beheben. Sie tritt mit dem Anspruch auf, gerade nicht von partikularen religiösen Voraussetzungen abhängig zu sein. Dass der Mensch das »Tier plus X«28 ist, ist nach dem Selbstverständnis der Vernunft-These keine partikulare religiöse Überzeugung, sondern vielmehr eine anthropologische Tatsache. In der zitierten Formel deutet sich die offene Flanke der Vernunft-These freilich bereits an: Längst nicht alle Menschen verfügen über die Eigenschaft X (sei es nun Vernunft oder irgendeine andere Eigenschaft, die in der Geschichte der Philosophie für relevant gehalten worden ist). Embryonen, vielleicht auch Kleinkinder oder demente Menschen sind keine ›Vernunftwesen‹ (jedenfalls dann nicht, wenn man den Vernunftbegriff halbwegs anspruchsvoll versteht). Wenn Tiere – in Umkehrung der anthropologischen Formel – aber ›Menschen ohne X‹ sind: In welche Klasse fallen dann Menschen ›ohne X‹? Hinzu kommt, dass der Vernunft-These zufolge alle und nur Menschen über die Eigenschaft X verfügen.29 Beide Teilbehauptungen zusammen erst begründen die These einer anthropologischen Differenz. Die Behauptung, dass es eine Eigenschaft gebe, die nur beim Menschen auftritt, ist eine empirische Behauptung. Eine Behauptung freilich, von der wir heute wissen, dass sie auf tönernen Füßen steht. Je mehr wir über Tiere und deren Fähigkeiten lernen, um so fragwürdiger jedenfalls wird die Behauptung einer anthropologischen Differenz. Nach Darwin sollte dies eigentlich niemanden mehr überraschen: Menschen und nichtmenschliche Tiere unterscheiden sich teilweise erheblich voneinander; aber diese Unterschiede sind bloß gradueller, nicht kategorialer Natur.30 Sie eignen sich daher schlecht als Begründung einer Sonderstellung des Menschen. An dieser Stelle ist die Vernunft-These daher auf den Beistand der GottesebenbildlichkeitsThese angewiesen: Nur diese stellt die Ressourcen für die »Alle und nur«-Behauptung und damit die Behauptung einer Sonderstellung des Menschen zur Verfügung.

4.

Platzhalter für moralische Intuitionen

Die These der Mitgeschöpflichkeit der Tiere, so zeigt sich, hängt von einer These ab, die, kaum überraschend, nur vor dem Hintergrund eines bestimmten Glaubenssystems überzeugend ist, und die in verhängnisvoller Weise an der großen speziesistischen Erzählung teilhat, die den Umgang des Menschen mit nichtmenschlichen Tieren über Jahrhunderte geprägt hat und noch immer prägt. Der Begriff des Mitgeschöpfs weist nichtmenschlichen Tieren damit einen inferioren Status zu. Er bringt einen qualifizierten, moderaten Speziesismus auf den Begriff. Qualifiziert, weil er mit der These der Gottesebenbildlichkeit immerhin ein Merkmal benennt, das die Sonderstellung des Menschen 28 29 30

H. Grimm/M. Wild: Tierethik, S. 35. Vgl. J. S. Ach: Warum man Lassie nicht quälen darf. Vgl. J. Rachels: Created from Animals.

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gegenüber den Tieren begründen soll; moderat, weil er durchaus anerkennt, dass Tiere um ihrer selbst willen moralische Berücksichtigung verdienen, wenn auch nicht in gleicher Weise wie Menschen. Die Bedürfnisse von nichtmenschlichen Tieren zählen; aber sie zählen nicht in gleicher Weise wie die Bedürfnisse oder Interessen von Menschen.31 Robert Nozick hat diese Position bereits vor Jahren auf die einprägsame Formel »Kantianismus für Menschen, Utilitarismus für Tiere«32 gebracht. Welche konkreten Konsequenzen ergeben sich daraus, wenn man die These der Mitgeschöpflichkeit der Tiere zum Ausgangspukt der Kennzeichnung des Mensch-TierVerhältnisses im Allgemeinen und zur Beurteilung der landwirtschaftlichen Nutzung von Tieren im Besonderen macht? Schaut man sich, mit diesen Fragen vor Augen, das aktuelle Dokument der EKD etwas genauer an, ist die Antwort ernüchternd: Sieht man davon ab, dass Mitgeschöpfe sich in normativer Hinsicht irgendwo zwischen »Mensch« und »Sache« befinden sollen, ist der Begriff Mitgeschöpf nämlich – wie das Dokument der EKD einmal mehr33 eindrücklich belegt – schlechterdings kompasslos. Gewiss, das Tier als Mitgeschöpf darf, wie es bei der EKD heißt, »nicht ausschließlich unter seinem wirtschaftlichen Verwertungszweck als Verfügungsmasse für menschlichen Konsum und Handel gesehen werden«34 , die Zielkonflikte zwischen »Tierschutz, ökologischer Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Befriedigung einer Massennachfrage… dürfen nicht einfach unter dem Primat der Wirtschaftlichkeit aufgelöst bzw. einseitig ökonomisch entschieden werden«35 . Auf die Frage aber, was jenseits einer vollständigen Verdinglichung mit Tieren gemacht oder ihnen angetan werden darf, gibt der Begriff der Mitgeschöpflichkeit keine Antwort – und fungiert auf diese Weise als »Platzhalter für moralische Intuitionen«36 . So fordert die EKD in ihrer Stellungnahme zwar die Einhaltung der »geltenden oder empfohlenen Tierhaltungsstandards« sowie eine »politisch nachhaltige Gesamtstrategie«, die mit Blick auf eine »Verbesserung der

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Einen Eindruck davon, welche erheblichen Schwierigkeiten mit der Ausarbeitung hierarchischer Positionen in der Tierethik verbunden sind, gibt S. Kagan: How to Count Animals, S. 5, der selbst eine hierarchische Position präferiert, zugleich aber eingesteht, »that we are very far indeed from having anything like this«. R. Nozick: Anarchy, State und Utopia, S. 39. Der Deutsche Ethikrat spricht in seiner Stellungnahme zur Tierwohlachtung im Übrigen lieber über einen »dritten Status« von Tieren zwischen Mensch und Sache und führt dazu weiter aus: »Dieser ›Dritte Status‹ impliziert eine besondere Schutzwürdigkeit der Tiere und eine besondere Verantwortung des Menschen: Im Unterschied zum Menschen lässt sich Tieren zwar keine Würde im Sinne einer nie antastbaren Selbstzweckhaftigkeit beziehungsweise eines kategorischen Verbots ihrer vollständigen Vernutzung (›Instrumentalisierungsverbot‹) zuschreiben. Anders als bloße Sachen besitzen sie aber nicht nur einen Gebrauchswert für Menschen, sondern auch einen Eigenwert.« Deutscher Ethikrat: Tierwohlachtung, S. 58. Das zeigte sich bereits an der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats von 1991: Einige Mitglieder des Beirats hatten dort eine »radikale Ethik der Mitgeschöpflichkeit« vertreten. Sie sahen »die Notwendigkeit und die Möglichkeit, die Gewalt gegen Tiere nicht bloß zu begrenzen und einzudämmen, sondern in weiten Bereichen fortschreitend zu überwinden und aufzuheben« (Evangelische Kirche in Deutschland: Verantwortung des Menschen, Abs. 17 [Online-Dok.]) – eine Position, die sich die Mehrheit des Beirats, freilich ohne jedes Argument, nicht zu Eigen machen wollte. Evangelische Kirche in Deutschland: Mitgeschöpf und Nutztier, S. 125 (meine Hervorhebung). Ebd., S. 127 (meine Hervorhebung). D. Wawrzyniak: Der Begriff »Mitgeschöpf« [Online-Dok.].

Das Tier als Mitgeschöpf?

Situation der Nutztierhaltung in Deutschland« erforderlich sei.37 Dazu werden vielfältige und gewiss vernünftige Vorschläge gemacht und Forderungen erhoben: Mehr Kontrollen, Einschränkung der Transportzeiten, Etablierung eines Tierwohl-MonitoringSystems, verpflichtende Tierwohl-Gütesiegel – und nicht zuletzt ein »rechtes Maß« im Fleischkonsum. Die im ersten Kapitel des Papiers entfaltete biblisch-theologische Perspektive zur These der Mitgeschöpflichkeit der Tiere spielt für die Formulierung dieser Forderungen aber praktisch keine Rolle. Die Autorinnen und Autoren unternehmen noch nicht einmal den Versuch, ihre Vorschläge und Forderungen durch Rekurs auf die Mitgeschöpflichkeit (oder irgendeine andere Norm) zu rechtfertigen. Der Begriff des Mitgeschöpfes, so zeigt sich an diesem Beispiel, leistet keine Orientierungsarbeit und eröffnet damit die Möglichkeit, dass sich beinahe jede Gewohnheit, jede Sentimentalität und jedes Interesse auf die Behauptung der Mitgeschöpflichkeit der Tiere berufen kann.38 Manche sprechen – mit Blick auf den Begriff der Würde der Kreatur – von einem ›religiösen Überschuss‹, den der Terminus mit sich führe.39 Andere halten den Begriff des Mitgeschöpfes sogar gerade deshalb für unverzichtbar, weil er keinerlei Begründungsressourcen bereit hält.40

5.

Mut- und Fantasielos

Mir scheint, dass es – zumindest auch – an der Kompasslosigkeit des Begriffs der Mitgeschöpflichkeit liegt, dass das aktuelle Papier der EKD durch Mut- und Fantasielosigkeit geprägt ist. Wer die Haltung von ›Nutz‹-Tieren grundsätzlich oder auch nur in Teilen in Frage stellt, sieht sich mit einer mächtigen Phalanx hartnäckiger Verteidigerinnen und Verteidiger des Status quo konfrontiert. Die Situation ist im Grunde absurd: Denn genau genommen gibt es, sieht man von den großen Schlacht-, Zerlege- und Fleischbetrieben einmal ab, im ›Schweinesystem‹ nur Verlierer. Verbraucherinnen und Verbraucher, die mit ›Billigfleisch‹ abgespeist werden, Landwirtinnen und Landwirte, die sich im permanenten Existenzkampf befinden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Fleischbetrieben, die nach allen Regeln der Kunst ausgebeutet werden, eine Gesellschaft, die als 37 38

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Evangelische Kirche in Deutschland: Nutztier und Mitgeschöpf!, S. 128. Diese Beobachtung erinnert, nicht ganz zufällig, an die Diskussion über den Terminus des »vernünftigen Grundes«, der, ebenso wie der Terminus Mitgeschöpf, im Paragrafen 1 des Tierschutzgesetzes steht. In der einschlägigen Literatur zum Begriff des vernünftigen Grundes herrscht Einigkeit darüber, dass »rein ökonomische« Gründe die Zufügung von Leiden oder das Töten von Tieren nicht rechtfertigen können. Welche Gründe aber als ›gute‹ oder ›rechtfertigende‹ Gründe im Sinne des Gesetzes gelten können, ist – zumindest – umstritten (vgl. P. Kunzmann: Vernünftige Gründe; vgl. C. Maisack: Zum Begriff des vernünftigen Grundes). Vgl. N. Peuckmann: Tierethik in der Theologie, S. 138. Als »Platzhalter für moralische Intuitionen«, so beispielsweise Wawrzyniak, soll er bei der Beurteilung von Praktiken dienen, die moralisch problematisch zu sein scheinen, auch wenn sich keine Gründe dagegen anführen lassen, die etwas mit den Interessen oder dem subjektiven Wohl von Tieren zu tun haben. Wawrzyniak denkt dabei an bestimmte Varianten eines Animal Disenhancement, aber auch an die Gefangenhaltung, Konditionierung oder Tötung von Tieren (Vgl. D. Wawrzyniak: Der Begriff »Mitgeschöpf« [Online-Dok.]).

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Ganze für die immensen gesundheitlichen und ökologischen Folgen einer ungebremsten Fleischindustrie aufkommen muss. Das ändert freilich wenig daran, dass es dieselben Akteure sind, die, aus unterschiedlichen Gründen, am Status quo unbeirrt festhalten und diesen mit Zähnen und Klauen verteidigen. Die einen, weil sie an ihrem Recht auf erschwingliches Fleisch für alle festhalten, die anderen, weil sie keine wirtschaftliche Alternative sehen, wieder andere, weil sie um Arbeitsplätze und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Branche fürchten oder es sich schlicht mit der Agrarlobby nicht verderben wollen. Wer sich dieser Phalanx entgegenstellen will, braucht daher nicht nur gute Argumente, sondern vor allem auch den Mut, unbequeme Wahrheiten wie diese auszusprechen, dass es ein ›Recht auf Fleisch‹ nicht gibt, dass auch ein ›maßvoller‹ oder ›nachhaltiger‹ Fleischkonsum noch immer mit immensem Tierleid verbunden ist, dass auch ökologisch erzeugte Produkte mit Blick auf das Leid von Tieren kaum besser dastehen als ›Billigfleisch‹41 , dass nicht jeder Arbeitsplatz erhalten werden kann oder muss, und dass menschliche Praktiken nicht schon deshalb schutzwürdige Kulturgüter darstellen, weil sie jahrhundertelang als selbstverständlich galten. Solche Einsichten sucht man im EKD-Dokument vergeblich. Stattdessen wollen die EKD-Autorinnen und Autoren es allen recht machen und alle ›Zielkonflikte‹ aushalten. Dies ist letzten Endes aber eine kurzsichtige, mutlose und zudem moralisch mindestens fragwürdige Option. Eine Option, vor der der Wissenschaftliche Beirat des Beauftragten für Umweltfragen der EKD bereits 1991 gewarnt hatte, als er feststellte: »Minimierung von Gewalt ist als Leitlinie nur dann annehmbar, wenn dabei nicht untragbare Zustände in bedauerliche Notwendigkeiten umformuliert und Halbheiten, mit denen man bequem leben kann, schon als Lösungen ausgegeben werden.«42 Den Autorinnen und Autoren der EKD-Stellungnahme fehlt aber nicht nur der Mut zu unbequemen Wahrheiten; es fehlt ihnen offenkundig auch die Fantasie, die erforderlich wäre, um sich eine ›Nutz‹-tierfreie Landwirtschaft vorzustellen und die erforderlichen Schritte, die zu diesem Ziel führen, zu formulieren. Das ›Schweinesystem‹ als solches wird an keiner Stelle in Frage gestellt. Stattdessen unterstellt die EKD den Ge- und Verbrauch von Tieren als unhinterfragte Normalität. Es geht nur um dessen Auswüchse, die aus Sicht der Autorinnen und Autoren Anlass für Systemkorrekturen darstellen.43 Gewiss: Wer heute eine ›Nutz‹-Tierfreie Landwirtschaft fordert, und sei es auch nur als utopisches Ziel, wird mit erheblichem Gegenwind rechnen müssen. Vor allem aber muss er die Barrikade einer – in jahrhundertelanger Praxis eingefleischten – ›Normalitäts-Unterstellung‹ in den Köpfen der Menschen, nicht zuletzt im eigenen Kopf, überwinden. Das verlangt nicht nur Mut, sondern auch Fantasie. Oder,

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Vgl. dazu F. Schmitz: Dürfen wir Tiere essen, S. 21ff. Evangelische Kirche in Deutschland: Verantwortung des Menschen, Abs. 21 [Online-Dok.]. Angesichts des EKD-Papiers von 1991 hatte Teutsch seinerzeit bereits beklagt, es sei aus der Sicht »einer radikalen Mitgeschöpflichkeit« enttäuschend, dass sich das Dokument »mit einem Konzept zur Gewaltminderung zufriedengibt, so als ob Jesus in der Bergpredigt statt der Feindesliebe nur eine Reduzierung unseres Hasses verlangt hätte.« (G. Teutsch: Mensch und Mitgeschöpf [OnlineDok.]).

Das Tier als Mitgeschöpf?

theologisch gesprochen: Es verlangte, wie es bei der EKD heißt, nach der prophetischen Vision eines eschatologischen Friedensreiches, das auch die Gewaltverhältnisse zwischen Mensch und Tier umfasst.44 Soll diese Hoffnung aber nicht nur Wunschvorstellung bleiben oder ein »wertvoller Hinweis«45 , dann muss sie als »realistische Utopie« (Rawls) verstanden werden: Als Utopie, die an reale Möglichkeiten anschließt und insofern realistisch ist, als sie – zumindest langfristig – umsetzbar wäre, wenn nur der (politische) Wille dazu bestünde. Dafür wären nicht zuletzt die Identifizierung klarer Übergangsziele sowie die Formulierung einer Übergangsstrategie mit fest vereinbarten Etappenzielen erforderlich. Kurz: Wer die schändliche Praxis der gegenwärtigen ›Nutz‹-Tierhaltung nachhaltig verändern oder sogar überwinden will, braucht neben Mut und Fantasie einen klaren Kompass.

6.

Die Interessen der Tiere

Der Begriff Mitgeschöpf ist speziesistisch und er ist kompasslos. Konkrete Kriterien der Handlungsbewertung (jenseits des Verbotes einer vollständigen Verdinglichung von Tieren) lassen sich aus der Behauptung der Mitgeschöpflichkeit der Tiere nicht gewinnen. In vielen Dokumenten und Diskussionen, so auch in der Veröffentlichung der EKD, übernimmt der Begriff des Mitgeschöpfs aus diesem Grund eine lediglich dekorative Rolle46 : Der Verweis auf die Mitgeschöpflichkeit der Tiere soll den ethischen Überzeugungen oder auch nur den schlichten Vorurteilen, zu denen die Autorinnen und Autoren – auf welche Weise auch immer – gelangt sind, besonderen Glanz verleihen. Er ist damit kein Teil der Lösung, sondern vielmehr selbst ein Teil des Problems, das der menschliche Umgang mit Tieren darstellt. Statt an einem bestenfalls unklaren, schlimmstenfalls die unheilvolle Wirklichkeit rechtfertigenden Begriff wie dem der Mitgeschöpflichkeit, sollte sich die Diskussion über Tierwohl und Tierethik in der Landwirtschaft daher besser an den tatsächlichen Interessen der Tiere, um deren Wohl es geht, orientieren. Gewiss: Über diese Interessen weiß man noch immer viel zu wenig. Dass – zumindest empfindungsfähige – Tiere Interessen haben, ist aber kaum strittig.47 So kann es kaum einen Zweifel daran geben, dass die vom Menschen genutzten Tiere (normalerweise) ein Interesse am Weiterleben haben.48 Die meisten der als ›Nutz‹-Tiere gehaltenen Tiere haben ein Interesse daran, von Schmerzen, Deprivation, Angst oder Stress verschont zu bleiben. Viele haben ein Interesse daran, positive Emotionen zu erfahren. Soziale Tiere49 , wie viele ›Nutz‹-Tiere es sind, haben ein Interesse daran, Bindungen mit anderen Lebewesen (Nachwuchs, Artgenossen, andere Tiere, Menschen) eingehen zu können. Viele haben ein Interesse daran, artspezifische Aktivitäten ausleben zu können. Kurz: Sie haben »Interessen 44 45 46 47 48 49

Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland: Nutztier und Mitgeschöpf!, S. 28ff. Ebd., 30. In dieser Hinsicht bestehen durchaus Ähnlichkeiten zum Begriff der Menschenwürde: Vgl. dazu J. S. Ach: Bioethik und Menschenwürde. Vgl. D. DeGarcia: Taking Animals Seriously, S. 39ff. Vgl. B. Bradley: Is Death Bad for a Cow. Vgl. M. Wild: Tiere als soziale Wesen.

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in den Dimensionen der Existenz, des Wohlbefindens und der willensbestimmten Aktivitäten«50 . Um einsehen zu können, dass sich das Ignorieren dieser Interessen von Tieren, wie es in der landwirtschaftlichen »Nutz«-Tierhaltung ganz überwiegend geschieht, ethisch nicht rechtfertigen lässt, muss man keine bestimmte tierethische Konzeption vertreten. Die weitgeteilte Überzeugung, dass man (empfindungsfähigen) Tieren nicht unnötigerweise Leiden oder Schäden zufügen sollte, reicht dafür aus.51

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B. Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte, S. 184. Vgl. F. Schmitz: Dürfen wir Tiere essen; vgl. G. L. Francione/A. Charlton: Veganism without Animal Rights; vgl. J. Rachels: The Basic Argument for Vegetarianism; s. auch: J. S. Ach: Können sie leiden?.

Das Tier als Mitgeschöpf?

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Online-Quellen Evangelische Kirche in Deutschland: Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf. Ein Diskussionsbeitrag des Wissenschaftlichen Beirats des Beauftrag-

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…notwendig oder kontingent? Historische, politische und rechtliche Kontexte religiöser Gewalt an Tieren

Eine religionsethologisch-evolutionäre Sicht auf das Phänomen der Gewalt innerhalb des Mensch-Tier-Verhältnisses Ina Wunn

1.

Religion: Institutionalisierte Gewalt gegen Tiere?

Die Geschichte des Menschen ist eine Geschichte der Gewalt, der Zerstörung und des Blutvergießens. Dies betrifft nicht nur das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen, sondern gerade auch das Verhältnis zu seinen Mitgeschöpfen, den Tieren. Bereits ein oberflächlicher Blick auf die Schlagzeilen der letzten Monate zeigt das Gemeinte. Da werden in einem Schlachthof in Westfalen jeden Tag 30.000 Schweine geschlachtet, um den hemmungslosen Fleischhunger einer sowieso schon übersättigten Bevölkerung zu stillen1 ; da posiert ein wegen seines Einsatzes für die Demokratie hoch angesehener König bei der Großwildjagd2 ; da werden unerwünschte männliche Hühnerküken lebend geschreddert3 und Affen in Forschungslaboren für einen fragwürdigen Erkenntnisgewinn gequält.4 Die Liste von der bloßen Ausbeutung von Tieren bis hin zur offensichtlichen Grausamkeit ist lang und endet noch lange nicht bei den vielen tausend Hunden, die als Ersatzobjekt für einen ins Leere gehenden Brutpflegetrieb von Herrchen und Frauchen zu einem nicht artgerechten Leben zwischen Sofa und Hundeleckerli verdammt sind.5 Während Religionen immer wieder versucht haben, das Verhalten des Menschen zu seinen Mitmenschen zu regulieren und Gewalt gegen andere zumindest einzugrenzen6 , scheint sich die Gewalt gegenüber Tieren ungehindert Bahn brechen zu dürfen, ja mehr noch: Sie scheint durch die Religionen geradezu legitimiert zu sein: Bereits im alten

1 2 3 4 5 6

Vgl. M. Werning: 30.000 Schweine pro Tag [Online-Dok.]. Vgl. S. Schoepp: Juan Carlos [Online-Dok.] Vgl. ohne Autorenangabe: Kükenschreddern bleibt erlaubt [Online-Dok.] Vgl. Redaktionsnetzwerk Deutschland: Skandal-Tierversuchslabor in Hamburg wird offenbar geschlossen [Online-Dok.] Vgl. ohne Autorenangabe: Kindersatz Hund [Online-Dok.] Vgl. I. Wunn/B. Schneider: Das Gewaltpotential der Religionen.

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Israel wurden im Salomonischen Tempel der dort verehrten unsichtbaren Gottheit blutige Opfer dargebracht (2. Chr 7,12; 3.Mos 4,22-26). Auch wenn sich das Judentum mit der Zerstörung des Zweiten Tempels (70 n. Chr.) durch den späteren römischen Kaiser Titus endgültig von der Kult- zur Schriftreligion gewandelt hat, blieb der Wunsch nach Wiederaufnahme der blutigen biblischen Opferriten bis heute lebendig: Noch im Jahre 2018 scheiterte eine Gruppe jüdischer Aktivisten mit dem Ansinnen, auf dem Tempelberg das alte Schlacht- und Brandopfer zu vollziehen.7 Auch der Islam kennt das blutige Opfer: Zum Opferfest, das an das von Gott selbst vereitelte Opfer des Ismael (christlich: Isaak) durch Ibrahim (christlich: Abraham) erinnern soll, wird traditionell in jeder Familie ein Tier geschlachtet. Selbst der Hinduismus, nach landläufiger Auffassung eine Religion, in der Tiere nicht getötet werden dürfen, vollzieht blutige Opfer zu Ehren der Göttin Kali, bei denen die Priester geradezu durch Blut waten.8 Zwar ist das Töten des Tieres im Rahmen der hier erwähnten Opfer nie Selbstzweck, sondern dient letztlich der Sühne. Wenn der Hohepriester im Tempel die Bundeslade mit dem Blut des Opfertieres besprengte, reinigte er »das Heiligtum von der Unreinigkeit der Kinder Israel und von ihrer Übertretung in allen ihren Sünden« (3. Mos 16,16). Das Opfer versöhnte also nach biblischer Auffassung die erzürnte Gottheit, die anstelle des Blutes des Sünders das Blut eines Tieres annahm. Der gleiche Gedanke lag dem Ritual um den Sündenbock zugrunde, der, beladen mit den Sünden der Israeliten, in die Wüste gejagt wurde (Lev 16,8-21). Auch wenn man nicht dieser theologischen, sondern der religionsphänomenologischen Deutung Friedrich Heilers Priorität einräumen möchte, nach der die Seelensubstanz des Blutes ein heiliges Objekt, sei es die Bundeslade, sei es das Idol der Göttin Kali, mit zauberischer Kraft aufladen und die ihr innewohnenden Fluchkräfte bannen soll9 , bleibt doch als Resultat dieses ersten Blickes auf die Rolle des Tieres in den großen Religionen der Eindruck, dass das Tier hier missbraucht wird: Die Religion erlaubt, ja fordert geradezu das Töten eines oder vieler Tiere, um den Zorn der Gottheit vom eigentlichen Übeltäter, dem Menschen, abzulenken oder um sich der Macht der Gottheit oder des heiligen Objektes zu versichern. Gewalt im Verhältnis des Menschen zum Tier scheint also in den großen Religionen geradezu institutionalisiert zu sein. Versucht man nun, die Entwicklung des Verhältnisses Mensch – Tier in eine historische Abfolge zu bringen, will man also die heutige ökonomische Ausbeutung des Tiers auf einen der Eckpfeiler der (westlichen) Kultur, die christliche Religion mit ihren jüdischen Wurzeln, zurückführen, müssten folgerichtig auch die dazwischenliegenden Jahrhunderte Spuren von institutionalisierter und religiös motivierter menschlicher Gewalt gegen Tiere zeigen. Das ist jedoch nicht der Fall. Als anthropozentrische Religionen thematisieren das Christentum und das rabbinische Judentum das Thema Gewalt gegen Tiere kaum. Stattdessen bekundet aber das alte Volksbrauchtum die hohe Wertschätzung, die man vor allem den Haus- und Nutztieren entgegenbrachte. Diese Wertschätzung spiegelte sich nicht nur in der Tatsache, dass auch den Tieren im 7 8 9

Vgl. ohne Autorenangabe: Keine Genehmigung für jüdische Opfer am Tempelberg [Online-Dok.]. Vgl. H. von Glasenapp: Die nichtchristlichen Religionen, S. 345. Vgl. F. Heiler: Erscheinungsformen und Wesen der Religion, S. 210.

Das Phänomen der Gewalt innerhalb des Mensch-Tier-Verhältnisses

Hause zu den hohen Festtagen besondere Leckermahlzeiten gefüttert wurden, sondern auch in der Vorstellung, dass sie gleich wie der Mensch Anteil an der jenseitigen Welt hätten: Während gequälten Tieren im Jenseits alle Leiden vergolten werden, müssen sündige Tiere auf der Höllenwiese weiden. Darüber hinaus wird ein schlecht gehaltenes und misshandeltes Tier in bestimmten Nächten um Mitternacht den Verstorbenen sein Leid klagen, die wiederum Gott über dieses menschliche Fehlverhalten in Kenntnis setzen.10 Dieser nicht systematische, unvollständige und zudem zunächst einmal auf das mitteleuropäische Christentum fokussierende Überblick macht trotz der Verkürzung eines deutlich: Das Verhältnis der Religionen zur Gewalt an Tieren ist alles andere als eindeutig. Da ist zunächst einmal der kultische Bereich, in dem in Zusammenhang mit frommen, gottgefälligen Handlungen Gewalt gegen Tiere nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten ist. Im privaten Umgang mit Tieren ist Gewalt dagegen verpönt; zumindest, wenn es sich um Haustiere oder wirtschaftlich nutzbares Wild handelt. Raubtiere fungieren dagegen unter der Rubrik Schädlinge, gelten als böse und haben damit Strafe zu erwarten – entweder von Seiten des Menschen, der den »bösen« Wolf gleich vernichtet, oder aber im Jenseits, wo ihn die Hölle erwartet. Ein erstes Fazit legt also nahe, dass das Verhältnis der Religionen zum Tier und das Maß der diesbezüglich geforderten bzw. erlaubten Gewalt in erster Linie von ökonomischen Gesichtspunkten geprägt ist. Dies bedeutet für die hier gewählten Beispiele konkret: Für ein Hirten- und Bauernvolk, welches mit einer unsichtbaren Gottheit in einer do-ut-des-Beziehung (also quasi in einer Gabentauschbeziehung) steht, ist ein Nutztier die denkbar kostbarste Gabe, weshalb das blutige Opfer für die Gottheit nicht nur vertretbar, sondern sogar geboten ist. Das sinnlose Quälen oder Töten eines Haustieres im profanen Rahmen gefährdet dagegen die Wohlfahrt der Gemeinschaft und ist daher zu verdammen. Religion und in ihrer Folge auch das Volksbrauchtum macht daher offensichtlich nichts anderes, als die ökonomischen Interessen einer Gruppe durch entsprechende Gebote und Verbote so zu sichern, dass sich für die Gruppe der größtmögliche Nutzen ergibt. Ein kurzer Blick in die Biologie des Menschen und anschließend in die Anthropologie und Religionsgeschichte soll diese unsere Behauptung verifizieren oder gegebenenfalls auch falsifizieren.

2.

Der Mensch, ein Genegoist

Spätestens mit dem Siegeszug der Evolutionstheorie kam in der Biologie eine beunruhigende Frage auf, nämlich die Frage nach der Aggression. Wenn, wie Charles Darwin und Alfred R. Wallace herausgefunden hatten, sämtliche Lebewesen einer Art in einem ständigen Wettbewerb um Nahrung, Brut- oder Nistplätze sowie Sexualpartner stehen, um sich möglichst erfolgreich fortzupflanzen, kann daraus nur ein gnadenloser Konkurrenzkampf entstehen. Und tatsächlich schien die Natur diese These zunächst auch 10

Vgl. C. Mengis: Art. Tier, S. 778-819.

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zu bestätigen. Wo immer man hinschaute, wurde gekämpft: Da kämpften Löwen um ein Rudel, Büffel um eine Herde, Vögel um ein Revier. Und auch bei den Menschen war der Kampf etwas Normales und zog sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte.11 Andere Beobachtungen stellten jedoch die These von einem gnadenlosen Konkurrenzkampf in Frage. So konnte der Verhaltensbiologe Konrad Lorenz beobachten, dass bei Kämpfen unter Artgenossen der Sieger im Allgemeinen auf das Töten des Gegners verzichtete, und viele Vogelarten verhalten sich geradezu altruistisch, wenn sie als sognannte Helfer am Nest auf eine eigene Brut verzichten und den Eltern bei der Aufzucht von Geschwistern helfen oder wenn sie ein erhöhtes persönliches Risiko eingehen, um beispielsweise vor einer sich anschleichenden Katze zu warnen.12 Es war letztlich Richard Dawkins, der für diesen Widerspruch zwischen dem gnadenlosen Kampf ums Dasein und altruistischem Handeln eine Lösung anbieten konnte, und diese Lösung hieß »Genegoismus«. Nach Dawkins sind die Individuen nichts anderes als eine Art Schutzhülle, die egoistische Gene um sich herum gebaut haben, um bei ihrer erfolgreichen Replikation so gut wie möglich geschützt zu sein. Ein Tier, ein Mensch, eine Pflanze ist daher nichts weiter als die Überlebensmaschine egoistischer Gene, die sich möglichst häufig replizieren wollen. Dieses Ziel erreichen sie optimaler Weise, indem sich die Überlebensmaschinen, also die Organismen, erfolgreich paaren und damit vermehren. Sollte eine direkte Paarung jedoch zu aufwendig und riskant sein, kann man auch ein Geschwister oder die Eltern bei der Fortpflanzung und Aufzucht weiteren Nachwuchses unterstützen, denn diese sind ja Träger desselben genetischen Materials (Geschwister zu 50 %).13 Bei der Fortpflanzung kalkuliert demnach ein Tier oder auch ein Mensch, auf welche Weise es bzw. er seinen Genen die größtmöglichen Replikationschancen einräumt. Der Organismus wägt also Kosten und Nutzen gegeneinander ab. Das gleiche tut folgerichtig ein Individuum, wenn es um eine handfeste Auseinandersetzung geht. Man riskiert zunächst einmal alles, um an den besten Futterplatz oder den besten Sexualpartner zu gelangen. Ist jedoch vorauszusehen, dass der Kampf nicht zu gewinnen ist, gibt man auf und signalisiert dem Sieger Unterwerfung. Dieser wird dann wahrscheinlich von seinem Gegner ablassen, denn warum sollte er weitere Kräfte in einem Kampf vergeuden, der sowieso schon entschieden ist? Auch hier ist es also nicht Nächstenliebe oder ein Nutzen für die Art, wie noch Lorenz meinte, wenn von der Vernichtung des Gegners abgesehen wird, sondern wiederum eine klare Kosten-Nutzen-Rechnung. Diese Kosten-Nutzen-Rechnung zieht sich wie ein roter Faden durch die Biologie und bestimmt die Form des Zusammenlebens zunächst einmal von Artgenossen. Tiger als wehrhafte Raubtiere kommen am besten allein zurecht. Als Einzelgänger müssen sie ihre Beute nicht teilen, sind jedoch stark genug, sich jederzeit zu verteidigen. Elefantenkühe sind zwar auch stark und wehrhaft, haben jedoch größeren Erfolg bei der Aufzucht ihrer Jungtiere, wenn sie sie innerhalb einer Herde großziehen. Elefantenbullen mit ihrem aggressiven Verhalten können die Gemeinschaft nur stören. Also

11 12 13

Vgl. C. Darwin/A. R. Wallace: On the tendency of species to form varieties. Vgl. K. Lorenz: Das sogenannte Böse. Vgl. R. Dawkins: The selfish gene, S. 402-406.

Das Phänomen der Gewalt innerhalb des Mensch-Tier-Verhältnisses

bilden weibliche Elefanten Herden, aus denen sie männliche geschlechtsreife Tiere verbannen. Schimpansen sind dagegen weniger wehrhaft. Hier kann das Individuum am erfolgreichsten überleben und sich fortpflanzen, wenn es in einer Gruppe aus männlichen und weiblichen Tieren lebt. Das einzelne Individuum muss zwar oft erheblich zurückstecken, sich in eine Hierarchie einordnen und Futter teilen, genießt dafür aber den Schutz und die Sicherheit der Gruppe.14 Daraus folgt, dass Tiere – und der Mensch ist biologisch ein Tier – auch hinsichtlich ihres Zusammenlebens Kosten-Nutzen-Rechner sind. Entsprechend der ökologischen Nische, die sie besetzen, ist ihr Zusammenleben geregelt, und zwar so, dass die Chancen eines jeden Individuums auf erfolgreiche Reproduktion so groß wie möglich sind. Das kann bedeuten, dass man sich im Regelfall altruistisch verhält, um den Schutz und die Fürsorge der Gruppe genießen zu können. Dies gilt übrigens auch, wenn sich ein Vogel, wie oben erwähnt, exponiert, um Artgenossen vor einem sich anschleichenden Feind zu warnen. Nach der »tit-for-tat«-Regel werden sich nämlich die Artgenossen in einem ähnlichen Fall revanchieren! Genegoismus und die daraus folgende KostenNutzen-Rechnung kann jedoch auch bedeuten, dass ein augenscheinlich friedfertiges Individuum plötzlich zur Bestie wird, wenn sich eine günstige Gelegenheit ergibt, einen Konkurrenten oder Ranghöheren auszuschalten; so geschehen zum Beispiel bei dem spektakulären Unfall des Zauberkünstlers und Dompteurs Roy Horn mit seinem weißen Tiger.15 Letztlich gilt: Jedes Individuum nicht nur der eigenen Art ist ein potenzieller Konkurrent und damit ein Feind (es sei denn, es ist Träger derselben Gene), und nur, wenn es dem Akteur einen momentanen Vorteil verspricht, wird er diesen Konkurrenten nicht beschädigen. Ähnliches gilt für das Miteinander unterschiedlicher Arten. Auch hier ist man entweder Konkurrent bzw. gar Feind oder Beute. Bleiben wir zunächst bei der Beute: Der Tiger oder Löwe wird sich keine großen Gedanken machen, wenn er seiner Beute, einer Gazelle, nachstellt, sie schlägt und frisst. Auch der Mensch tut das primär nicht. Allerdings wird er sich Gedanken machen, was passiert, wenn er zu viele Gazellen erlegt. Ihre Zahl wird abnehmen, und sie werden dann möglicherweise in den folgenden Jahren als Fleischquelle nicht mehr zur Verfügung stehen. Der Mensch wird also, wenn er von der Jagd lebt, sein Jagdverhalten den vorhandenen Ressourcen anpassen und nicht angepasstes Jagdverhalten von Gruppenmitgliedern möglicherweise sanktionieren. In diesem Falle wird der Umgang des Menschen mit seiner Beute, dem Jagdwild, geregelt, indem das sinnlose Töten dieses Tieres unter Strafe gestellt, zumindest jedoch diskreditiert wird. Anders sieht es aus, wenn es um das Töten eines Nahrungskonkurrenten geht. Der Wolf als Nahrungskonkurrent des Mitteleuropäers wurde über Jahrhunderte als Feind des Menschen dargestellt. Er war der böse Wolf im Märchen, eine Angst und Schrecken verbreitende Figur im Roman und nahm als Werwolf gar übernatürliche Züge an, wenn er dem Menschen über den physischen Tod hinaus gefährlich werden konnte. Eine solche Bestie zu töten, konnte kein Vergehen sein. Im Gegenteil war der erfolgreiche Jäger eines Wolfes ein Held, der sich des Beifalls der Gemeinschaft sicher sein konnte. Selbst heute noch entzünden sich an der Frage der Wiedereinbürgerung 14 15

Vgl. I. Wunn: Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen. Vgl. ohne Autorenangabe: Der tragische Tiger-Unfall [Online-Dok.].

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des Wolfes die hitzigsten Debatten, obwohl es meines Wissens in den letzten Jahren kein problematisches Zusammentreffen eines Menschen mit einem Wolf gegeben hat. Fazit: Auch hinsichtlich seines Umgangs mit der Tierwelt, mit seinen Mitgeschöpfen, ist der Mensch ein typischer Vertreter der Tierwelt, nämlich ein Kosten-NutzenRechner. Ist das Mitgeschöpf, das Tier, eine potenzielle Ressource, so wird der Mensch seinem Überleben bzw. Wohlergehen eine gewisse Aufmerksamkeit widmen. Ist das Tier jedoch ein Nahrungskonkurrent, wird es als Schädling wahrgenommen und gnadenlos verfolgt.

3.

Die letztgültigen Werte

Menschen sind also Genegoisten, und das heißt, dass sie auch hinsichtlich des Umgangs mit dem Tier nach egoistischen Motiven entscheiden werden. Das bedeutet: Normalerweise wird ein Jäger oder eine Jägerin so viel Wild wie möglich erjagen, um ausschließlich sich und seine bzw. ihre Nachkommen optimal mit Fleisch, Fellen und Sehnen versorgen zu können. Da die Überlebenschancen des menschlichen Individuums jedoch in den meisten geographischen Regionen beim Leben in Gruppen höher sind, leben Menschen zumeist in sozialen Verbänden, müssen also ihre egoistischen Neigungen zu Gunsten der Gemeinschaft auf ein sozial verträgliches Maß zurückschrauben. Dies bedeutet zum Beispiel bei den Mbuti-Pygmäen, die als Jäger- und Sammlervolk im Regenwald des östlichen Kongo leben, dass das bei der gemeinsamen Jagd mit Netzen erbeutete Wild geteilt wird. Einen festen Verteilungsschlüssel gibt es nicht; vielmehr wird so lange diskutiert, bis alle mit dem Ergebnis zufrieden sind. Soweit die materielle Seite. Gerade die Zufriedenheit mit dem erreichten Ergebnis spielt jedoch auch in weltanschaulicher Hinsicht eine wichtige Rolle, denn es ist der Wald, der über die Mbuti wacht und Störungen innerhalb der Gemeinschaft ahnden wird – durch Krankheiten, Unglücksfälle etc. Das Einhalten der sozialen Normen einschließlich eines angemessenen Jagdverhaltens ist also einerseits das Ergebnis einer stillschweigenden Übereinkunft der Gruppenmitglieder zum Zwecke gemeinsamen optimalen Überlebens, wird aber zusätzlich durch die Vorstellung von einer höheren Macht abgesichert. Es sind also übermächtige Wesen oder Gestalten, die die Auswirkungen des Genegoismus des Einzelnen so weit unterdrücken, dass ein Zusammenleben tendenziell egoistischer Individuen nicht nur möglich ist, sondern dass dieses Zusammenleben in einer Weise praktiziert wird, die die Umwelt und damit die Ressourcen der Gemeinschaft nicht schädigt.16 Hierzu zwei kurze Beispiele: Die Ainu, ein auf der Halbinsel Sachalin ansässiges Volk, ernährt sich von der Jagd, unter anderem auch von Bären. Wenn es den Ainu gelingt, während eines solchen Jagdzuges ein Bärenjunges zu fangen, wird es ins Dorf gebracht, in einem Käfig gehalten, gefüttert und zuletzt, wenn es groß genug ist, im Rahmen eines aufwändigen festlichen Rituals geschlachtet und gemeinsam verspeist. Was zunächst wie eine recht grausame Handlung an dem armen Bären aussieht, entpuppt sich jedoch letztlich als der Ausdruck allerhöchsten Respekts vor dem Tier. In der Vorstellung der Ainu besucht 16

Vgl. I. Wunn: Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen.

Das Phänomen der Gewalt innerhalb des Mensch-Tier-Verhältnisses

nämlich der Herr der Bären, eine Erscheinungsform des oder der aus der Religionsgeschichte bekannten Herrn oder Herrin der Tiere, die Menschen, und wie ein hoch geehrter Gast wird daher der gefangene Bär behandelt. Er muss nach Ainu-Vorstellung getötet werden, denn nur, wenn er von seinem irdischen Körper befreit wird, kann er in seine jenseitige Welt zurückkehren.17 Es ist also letztlich eine religiöse Vorstellung, die sicherstellt, dass nicht wahllos Bären um ihres Fleisches oder ihrer Trophäen willen gejagt oder getötet werden, denn das mit der Bärenjagd verbundene Fest und Ritual ist so aufwändig, dass es nicht beliebig oft wiederholt werden kann. Eine religiöse Vorstellung, hier von einem gottähnlichen Herrn der Bären, sorgt also dafür, dass eine Tierart nur in Maßen bejagt und angemessen behandelt wird. Das zweite Beispiel: Die Tsembaga Neuguineas leben vom Anbau von Hackfrüchten und vom Fleisch der von ihnen gezüchteten Schweine. Allerdings müssen auch die Schweine mit Hackfrüchten gefüttert werden, sind also nicht nur wichtige Proteinlieferanten für die Tsembaga, sondern auch Nahrungskonkurrenten. Wenn immer die Schweinepopulation also zu groß wird, müssen etliche der Tiere geschlachtet werden. Dies geschieht in einem Ritual, zu dem befreundete Dörfer eingeladen werden, mit dem Ziel, unter den Gästen Verbündete für einen kommenden Kriegszug gegen feindliche Dörfer zu gewinnen, der dann auch irgendwann stattfinden wird. Genegoismus mit dem Wunsch, Gegner und Konkurrenten zu beschädigen, geht also in diesem Falle einher mit einer sorgfältigen Bewirtschaftung eines Nutztieres, das nicht etwa als profane Nahrungsquelle dient und daher jederzeit getötet und verspeist werden darf, sondern dessen Nutzung nur in einem streng rituellen Rahmen (typisch genegoistisch kombiniert mit der Beschädigung konkurrierender Gruppen) gestattet ist. Verhältnisse wie in Deutschland, wo täglich tausende von Schweinen für den ungehemmten Fleischkonsum geschlachtet werden, wären bei den Tsembaga also aus weltanschaulichen Gründen nicht vorstellbar.18 Es bleibt daher festzuhalten: Der Umgang des Menschen mit seinen Mitgeschöpfen, den Tieren, ist strengen Regularien unterworfen, die sicherstellen sollen, dass das Tier keinen Schaden nimmt, sondern als eine wichtige Nahrungsressource geschont wird und erhalten bleibt. Die Hintergründe für dieses pseudomoralische Handeln am Tier sind nicht Mitgefühl oder ethische Überlegungen, sondern genegoistische Erwägungen, die das eigene Überleben in einem empfindlichen System aus Mensch, Tier und Umwelt sicherstellen sollen. Um hier dem Egoismus eines einzelnen Menschen wirkungsvoll entgegentreten zu können, garantiert ein religiöser Überbau, dass die zum Schutz des Tiers oder der Tierpopulation notwendigen Regeln eingehalten werden.19 Religion liefert also letztlich die »ultimate values«20 , die nicht nur das Zusammenleben von Menschen, sondern auch das Zusammenleben von Mensch und Tier in geordnete Bahnen lenken. Geregelt ist aber hiermit zunächst nur das Verhältnis des Menschen zum jagdbaren Wild und zum Nutztier. Den Umgang des Menschen mit dem Tier als Konkurrenten (Wolf) oder Schädling (Heuschreckenplage) ist damit nicht erfasst.

17 18 19 20

Vgl. N. Adami: Religion und Schamanismus der Ainu auf Sachalin. Vgl. R. Rappaport: Pigs for the ancestors. Vgl. S. Atran/A. Norenzayan: Religion’s Evolutionary Landscape, S. 713-770. V. W. Turner: The forest of symbols.

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Die angeführten Beispiele verdeutlichen in eindrucksvoller Weise das komplexe, durch eine angepasste Religion gesteuerte Zusammenspiel im Verhalten von Mensch und Tier: Es ist immer ein weltanschaulicher Überbau, der den Umgang des Menschen mit überlebenswichtigen Ressourcen reglementiert, indem er einerseits eine schädliche Übernutzung der Ressource Tier verhindert, andererseits jedoch auch dem gruppenschädigenden Egoismus eines Einzelnen Grenzen setzt. Vereinfacht ausgedrückt könnte man konstatieren, dass sich in den hier genannten Fällen religiöse Vorstellungen, Ökosystem und soziales System im Gleichgewicht befinden.

4.

Das Tieropfer in der Geschichte

So eindeutig nachvollziehbar dieses Resultat für Wildbeutergesellschaften oder sogenannte frühe Ackerbaugesellschaften ist, in denen es immer um eine Begrenzung der Gewalt an Tieren mit dem Ziel des sorgsamen Umgangs mit knappen Ressourcen geht, desto schwieriger ist es, einen Opferkult zu verstehen, in dem eine Gottheit einen Teil der Gabe verzehrt, dieser Teil des Opfers also der menschlichen Gruppe nicht mehr zur Verfügung steht. Immerhin wird hier ja die Ressource Tier gerade nicht geschont, sondern im Gegenteil wurden und werden zu Zeiten der großen Opferfeste (Pessach, Yom Kippur, islamisches Opferfest) tausende Tiere getötet. Mit anderen Worten: Wenn die Jagd auf Tiere, das Gefangensetzen eines kleinen Bären oder ein sich in regelmäßigen Abständen wiederholendes Schweineschlachten im Rahmen religiöser Gebote nachvollziehbar ist, weil sich hier sich der Umgang mit dem Tier nach ökologischen und damit gleichzeitig wirtschaftlichen Notwendigkeiten richtet, gibt der Umgang der Hochkulturen mit Tieren und hier vor allem das blutige Opfer manches Rätsel auf. Dieser Widerspruch zwischen ethischem Anspruch der Religion und einem offensichtlich brutalen Handeln fiel bereits in den neunzehnhundertvierziger Jahren dem bedeutenden Altphilologen Karl Meuli auf. Zwar irritierte Meuli nicht in erster Linie das Blutvergießen im Namen einer Gottheit an sich, sondern vielmehr die merkwürdige Tatsache, dass nach vollzogenem blutigen Opfer die ungenießbaren Teile des Tieres als Gabe an die Gottheit verbrannt wurden, während das wohlschmeckende Fleisch von der Gemeinschaft der Opfernden im Rahmen eines religiösen Festgelages verspeist wurde.21 Bereits den Griechen selbst schien diese Aufteilung einer angeblichen Gabe obskur, und so erklärten sie die offenkundig ungerechte Verteilung von Genießbarem für die Menschen und Ungenießbarem für die Götter mit einem Betrug: Prometheus habe das Opfertier aufgeteilt und der Gottheit die Wahl der durchaus ungleich großen Teile des zerlegten Tiers gelassen, worauf die Gottheit die größere Menge, aber die weniger wertvollen Teile, also Knochen und Haut, wählte.22 Meuli, dem es nicht um eine mythische Deutung, sondern um eine wissenschaftliche Erklärung zu tun war, schlug vor, das griechische Tieropfer auf alte Jäger- und Sammler-Opferbräuche zurückzuführen: Die Vorfahren der Griechen des klassischen Zeitalters hätten zuvor als Jäger und

21 22

Vgl. K. Meuli: Griechische Opferbräuche. Vgl. DNP: Prometheus, Sp. 402-406.

Das Phänomen der Gewalt innerhalb des Mensch-Tier-Verhältnisses

Sammler einem Herrn/Herrin der Tiere alle nicht genießbaren Teile des erjagten Wildes geopfert, damit die Gottheit aus Knochen und Fell wieder ein neues Tier erstehen lassen könne (Wir hatten oben ein solches Verhalten in Zusammenhang mit dem Bärenopfer beschrieben). Während sich nun im Laufe der Jahrtausende die Lebensweise der Griechen von einer Wildbeuterkultur zu einer Gartenbaukultur entwickelt habe und sich die religiösen Vorstellungen einschließlich der damit verbundenen Narrative entsprechend angepasst hätten, seien die Opferrituale jedoch im Kern gleich geblieben: Immer noch würden wie beim uralten Opfer an eine Potnia theron Fell und Knochen verbrannt. Antike Opferbräuche seien also letztlich nichts anderes als die Fortsetzung uralter Gepflogenheiten, die den Umgang mit dem Tier und damit auch seine Nutzung strengen Regeln unterwarfen: Auch in der Antike wurde ein kostbares Tier nicht wahllos geschlachtet, sondern es bedurfte eines höheren, eines heiligen Zweckes, um das Blut des Tieres vergießen zu dürfen.23 Hier noch einmal um der Klarheit des Argumentationsstranges willen die Wiederholung der Fragestellung: Es geht nicht um eine Erörterung der Bedeutung des Opfers, sondern um die Rolle von Religion in Zusammenhang mit dem Töten und dem Genuss eines Tieres, also um die Frage, wann und in welchem Rahmen Gewalt gegen Tiere erlaubt ist. Wie stark alte Vorstellungen von einer Bewirtschaftung kostbarer Ressourcen mit dem Opferbegriff verknüpft sind, zeigt ein weiteres Beispiel: das Opfer bei den Nuern. Nach Vorstellung dieses im heutigen Sudan lebenden Hirtenvolkes gehört alles Leben einem Hochgott, Kwoth. Wenn in einer Auseinandersetzung ein Mensch zu Schaden kommen oder sogar getötet werden sollte, hat die Familie des Geschädigten Anspruch auf eine Kompensation des entstandenen Schadens, und dies bedeutet bei einem Totschlag, dass sie Anrecht auf einen Menschen aus der Familie des Totschlägers hat, der nun an die geschädigte Familie übergeben wird und ab sofort zu dieser Familie zählt. Damit ist der materielle Schaden ausgeglichen, nicht jedoch die Sünde, die der Totschläger Kwoth gegenüber begangen hat, indem er ein Leben zerstörte. Diese Sünde kann letztlich nur kompensiert werden, indem der Totschläger Kwoth, dem Hochgott, sein eigenes Leben darbringt. Da aber mit Eintritt der Reife (Initiation) jeder männliche Jugendliche einen Ochsen besitzt, der als sein alter ego gilt, muss dieses alter ego sein Leben lassen. Das Blut des Ochsen wird also vergossen und Kwoth dargebracht, um ihn für das vergossene Blut des Erschlagenen zu entschädigen. Letztlich gilt also in diesem Opferritual der Mensch selbst als das Opfer, und das Tier als sein alter ego dient nur als Ersatz. Nur am Rande sei bemerkt, dass auch hier der Gott nur das Blut mit der darin enthaltenen Seelensubstanz erhält, während das Fleisch von den Opfernden verzehrt wird, wobei das gemeinsame Opfermahl die Familien von Täter und Geschädigtem wieder versöhnt.24

23

24

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Passage in der Odyssee, nach der sich die Freier der Penelope im Hause des abwesenden Odysseus breit gemacht hatten und bei täglichem Fleischgenuss das Vermögen des Hausherrn verprassten. Das Schlachten von Vieh und damit der Genuss von Fleisch in rein profanem Zusammenhang galt demnach als verabscheuungswürdig. Vgl. E. E. Evans-Pritchard: Nuer Religion.

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So sehr sich eine Gesellschaft nicht arbeitsteiliger Viehzüchter (Nuer) auch von einer arbeitsteiligen und stratifizierten Gesellschaft einer antiken Hochkultur (Juda) unterscheiden mag, sind einige Parallelen doch nicht zu übersehen: Beide Völker opfern einem Hochgott, und bei beiden Völkern dient das Opfer der Entsühnung. Die zunächst schwer verständlichen, zahlreichen Brand- und Schlachtopfer im Tempel zu Jerusalem bekommen nun einen tieferen Sinn, denn mit der Gabe an die Gottheit, dem geopferten Tier, gibt sich auch hier der Opfernde letztlich selbst der Gottheit hin. Allerdings gilt auch hier trotz des hohen ethischen Anspruchs der Opferhandlung, dass zunächst bei den Nuern, dann aber auch bei den Israeliten durch den religiösen Überbau und der Verbindung des Schlachtens mit einem religiösen Akt der Verzehr von kostbaren Nutztieren stark reglementiert und damit eine der wichtigsten Nahrungsgrundlagen geschont wird. Und auch für die Muslime gilt: Das Lamm, das zum Opferfest geschlachtet wird und dessen Fleisch auch Bedürftigen zugutekommen wird, wird in religiösem Kontext geschlachtet. Der Genuss seines Fleisches ist und bleibt etwas Besonderes und hohen Festtagen vorbehalten. Eine weitere Form von Gewalt gegen Tiere m Rahmen religiöser Handlungen bleibt noch nachzutragen: Opfer auf der Basis des do-ut-des-Prinzips. Dieses Prinzip menschlichen Handelns hatte zunächst der Anthropologe Marcel Mauss unter dem Stichwort Gabentausch beschrieben. Der gegenseitige Austausch von Geschenken, wie ihn die Anthropologie als eine frühe Form der Ökonomie in archaischen Gesellschaften beschreibt, ist eingebunden in ein ganzes Set von Rechten und Pflichten, die das Verbrauchen der Gaben, ihre notwendige Erwiderung, das Anbieten und Empfangen regeln. In den betreffenden archaischen Gesellschaften sind sämtliche Güter, angefangen von Nahrungsmitteln über handwerkliche Produkte, Grund und Boden, Arbeit und Dienstleistungen bis zu Lebenspartnern Gegenstand der Übergabe und Rückgabe. Jedes Mitglied einer solchen Gesellschaft ist entsprechend seinem Rang verpflichtet, berechtigten Persönlichkeiten zu festgesetzten Anlässen Geschenke zu machen, die von den Beschenkten einerseits angenommen als auch nach einer angemessenen Frist unbedingt durch ein zumindest gleichwertiges Geschenk erwidert werden müssen. Durch diesen über die Konvention geregelten Gabentausch ergibt sich zwischen Geber und Empfänger einerseits eine juristische Beziehung, andererseits aber zusätzlich eine darüber hinausgehende feinstoffliche Bindung (wir würden heute von seelischer Beziehung sprechen), die über die dem Geschenk eigene feinstoffliche oder geistige Potenz geknüpft wird. Diese Potenz wird als eine Art Wirkungskraft verstanden, die dem Geschenk selbst zu eigen ist, aber auch Anteile der Potenz des Schenkenden enthält. Durch diese feinstofflichen oder geistigen Anteile an der Gabe kann der Geber eine gewisse Macht über den neuen Eigentümer erlangen, so dass eine enge Beziehung zwischen Gebendem und Empfangendem entsteht. Dieses System des kontinuierlichen Austausches von Gaben umfasst jedoch nicht nur die Gemeinschaft der Lebenden, sondern kann die Verstorbenen bzw. die Ahnen, Götter oder Gott durchaus einschließen.25 Der Gabentausch mit übermächtigen Gestalten wie Geistern und Göttern ist vor allem dann notwendig, wenn sie wie der israelitische JHWH als die wahren Eigentümer

25

Vgl. M. Mauss: Die Gabe, S. 9-144.

Das Phänomen der Gewalt innerhalb des Mensch-Tier-Verhältnisses

des Landes und der darauf produzierten Güter gelten. Das Motiv der Zerstörung tierischen Lebens im Rahmen eines Opferkultes ist also letztlich darauf zurückzuführen, dass die vernichteten Güter als Gabe an die Gottheit verstanden werden. Die Gottheit wiederum, als ein in den Gabentausch eingebundener und durch eine feinstoffliche ›Seelen‹substanz aufs Innigste mit dem Geber verbundener Akteur, ist nun verpflichtet, die Gabe in zumindest gleicher Höhe zu erwidern. Auch hier handelt der Mensch also wieder als Genegoist und kühl kalkulierender Kosten-Nutzen-Rechner: Zwar geht es ihm beim Typ Gabentausch-Opfer nicht um einen sorgfältigen Umgang mit der Ressource Proteine, aber er verspricht sich dennoch einen Nutzen, nämlich eine angemessene Gegengabe von Seiten der Gottheit.

5.

Das wilde Tier

Bisher hat in unseren Erörterungen das Tier als Opfer menschlicher Gewalt im Fokus gestanden. Allerdings ist das Tier auch etwas anderes: Es ist oft stärker als der Mensch, furchteinflößend und erschreckend. Gerade in prähistorischen bis archaischen Zeiten war sich der Mensch der von wilden Tieren ausgehenden Gefahr und damit der Macht des Tieres durchaus bewusst.26 Einen ersten Niederschlag fand dieses Bewusstsein in den Höhlenmalereien des europäischen Jungpaläolithikums (älteste Höhlenmalereien entstanden um 34.000 v. h.): Hier schmückten unsere Vorfahren ihre Wohnstätten mit den Bildnissen bedrohlicher und wilder Tiere, um mögliche menschliche Konkurrenten von ihrem Territorium und ihren Wohnstätten fernzuhalten. Der Ur mit seinen mächtigen Hörnern oder der Höhlenlöwe signalisierte nichts anderes als ›Hier ist es für Eindringlinge gefährlich‹! Das wilde Tier wurde also hier als ein potenziell gewaltbereites Wesen wahrgenommen, das den Menschen bedrohte, dessen Drohwirkung man sich jedoch auch zum Schutz des eigenen Territoriums bedienen konnte. Dass von gefährlichen wilden Tieren eine Bedrohung ausgeht, die man sich jedoch andererseits auch zunutze machen kann, belegen eindrucksvoll die zeitlich folgenden Tierdarstellungen im Epipaläolithikum und Neolithikum des Vorderen Orients. Sowohl die Bauten in Göbekli Tepe als auch die Keramik Hacılars (beides in der heutigen Türkei) zeigen gefährliche Tiere von der Raubkatze bis zum Skorpion, deren Abbildungen ganz offensichtlich apotropäischen Zwecken dienten.27 Wie wirkungsvoll so ein Abbild eines potenziell gewaltbereiten und damit gefährlichen Tieres war, zeigen nicht zuletzt die Gottheiten in den alten Hochkulturen. Sowohl die ägyptische Hathor als auch die sumerische Inanna trugen als Zeichen ihrer Macht und Gefährlichkeit die Hörnerkrone. Selbst der christliche Teufel schmückt sich, um seine Gefährlichkeit zu unterstreichen, mit den Attributen des gewaltbereiten wilden Tiers: Er ist bocksfüßig und gehörnt.28

26 27 28

Vgl. I. Eibl-Eibesfeldt/Ch. Sütterlin: Im Banne der Angst, S. 409-412. Vgl. I. Wunn/C. Klein/P. Urban: Götter, Gene, Genesis, S. 71-72, S. 122-124, S. 161-164. Vgl. I. Eibl-Eibesfeldt/Ch. Sütterlin: Im Banne der Angst, S. 422.

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Die Macht des Tiers und hier vor allem, jedoch nicht ausschließlich, des wilden Tiers, zeigt besonders eindrucksvoll die altägyptische Religion. Wenn im Epipaläolithikum des sogenannten fruchtbaren Halbmonds wilde Tiere angefangen vom Löwen über den Stier bis hin zum Skorpion noch der Abschreckung von menschlichen Feinden und von allerhand Übel dienten, entwickelten sich aus dieser Vorstellung einer das menschliche Vermögen übersteigenden, großen Macht und Stärke des Tiers Gestalten, die teils tierische, teils menschliche Züge trugen, deren Fähigkeiten aber über die menschlichen Möglichkeiten weit hinausgingen. Auf diese Weise entstanden auch in Ägypten die für dieses Land charakteristischen tierköpfigen Gottheiten. Da gab es die löwenköpfige Kriegsgöttin Sachmet, den aasfressenden Schakal als Totengräbergott Anubis, das gefährliche, Chaos und ungebändigte Kraft repräsentierende Flusspferd Seth oder den krokodilgestaltigen Sobek. Die Ägypter ordneten ihr gesamtes Universum um diese tierköpfigen Gottheiten. Diese waren nichts anderes als vergöttlichte Tiere, deren Gefährlichkeit und enorme Kräfte man damit einerseits anerkannte, andererseits aber auch durch Verehrung und kultisches Handeln zu beherrschen suchte.29 Zu diesem kultischen Handeln gehörten wiederum Opfer im Sinne eines Gabentausches, indem einigen der tiergestaltigen Gottheiten ›ihre‹ Tiere als Mumien dargebracht wurden. Das Tier und gerade auch das gefährliche Tier erfuhr also in Ägypten eine Verehrung, die dem Tier in den anthropozentrischen abrahamitischen Religionen (Judentum, Islam, Christentum) versagt blieb. Nur der Vollständigkeit halber bleibt noch eine letzte religionsgeschichtliche Entwicklung nachzutragen, nämlich die Rolle des Tiers in den Religionen Indiens, die ja nun gerade gar nicht von Gewalt gegenüber Tieren geprägt sind. Zwar kannte auch das älteste Indien der Rigveda-Zeit (zweite Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends) das blutige Tieropfer. Allerdings wurde die Religion um einen elaborierten Opferkult nach und nach durch Vorstellungen von einem ewigen Weltgesetz ersetzt, in denen zwar noch Götter existierten, denen jedoch nur noch begrenzte Macht zukam. Entscheidend wurde stattdessen die Lehre von Samsara und Karma: Unter Samsara versteht man den ewigen Kreislauf von Geburt und Tod, den jedes Lebewesen bis in alle Ewigkeit durchleben muss, bis ihm die Befreiung aus dem Geburtenkreislauf gelingt. In diesem Geburtenkreislauf entscheidet das Karma, das Resultat aus den zu Lebzeiten begangenen Handlungen, in welcher Form man wiedergeboren und welches Schicksal man in diesem neuen Leben erleiden wird. Hat ein Mensch durch fehlerhaftes Handeln ein schlechtes Karma angesammelt, wird er möglicherweise als Tier wiedergeboren. Auch das Tier ist karmischen Verstrickungen unterworfen, denn es ist wie der Mensch Träger eines Atman, einer Seele, die sich in einem bestimmten Stadium des Samsara befindet. Das Töten eines Tieres, sei es Nutztier oder Fressfeind, verbietet sich daher für den gläubigen Hindu ebenso wie für den gläubigen Buddhisten und besonders für die Jains, auch wenn Buddhisten und Jains etwas unterschiedliche Erlösungsvorstellungen haben. Der klassische Hinduismus, auf den wir uns hier beschränken wollen, kennt also primär keine Gewalt gegen Tiere. Andererseits ist auch die Fürsorge für Tiere (anders im Jainismus!) obsolet, denn ein Tier ist ja nur deshalb ein Tier mit einem bestimmten Schicksal, weil es aus einem früheren Leben noch karmischen Ballast mit herumträgt, 29

Vgl. A. M. Warburg: Schlangenritual.

Das Phänomen der Gewalt innerhalb des Mensch-Tier-Verhältnisses

den es in seinem jetzigen Leben abarbeiten muss. Leidet ein Tier also hier und jetzt, liegt das, vereinfacht ausgedrückt, an seinem Fehlverhalten in einem früheren Leben. Dabei ist das karmisch richtige Verhalten durchaus der jeweiligen Lebenssituation von Mensch oder Tier angepasst. Wenn z.B. ein Tiger eine Gazelle tötet, um sie zu fressen, handelt er karmisch neutral, denn es ist das Dharma des Tigers, seine Bestimmung als Raubtier, Beute zu schlagen. Das gleiche gilt für Menschen: Auch wenn hier der Angehörige der Kriegerkaste ein Tier oder im Rahmen eines Krieges gar einen Menschen tötet, wird das sein Karma nicht belasten, wenn er die Tat leidenschaftslos und frei von Hass begeht. Selbst der Genuss von Fleisch ist einem Krieger gestattet, da er ja, um seinen Verpflichtungen nachzukommen, bei Kräften bleiben muss, und das kann er nur bei entsprechender Nahrung.30 Auch hier liegt es demnach nahe, den Menschen als Kosten-Nutzen-Rechner zu sehen. In einem dicht besiedelten Gebiet mit überschaubaren Ressourcen gilt es, diese Ressourcen bestmöglich aufzuteilen, und das bedeutet, dass hochwertige Nahrung wie Fleisch nur denjenigen Personen zukommen kann, denen die Verteidigung der Gemeinschaft obliegt. Strikte Reglementierung der Jagd schützt darüber hinaus das Ökosystem, wie das Beispiel Tigerjagd zeigt. Über Jahrhunderte war die Jagd auf den gefährlichen Tiger nur Rajas, also Herrschern und damit Angehörigen der Kriegerkaste, vorbehalten, und nur aus diesem Grunde existieren noch Tiger auf dem indischen Subkontinent.

6.

Resultat

Der Mensch, so können wir festhalten, ist in biologischer Hinsicht als Teil der lebenden Natur ein Genegoist. Wie andere Spezies auch, kann er aus evolutionsbiologisch-ethologischer Warte als Überlebensmaschine egoistischer Gene betrachtet werden, die alles in ihrer Macht Stehende tut, um ihren Genen möglichst optimale Kopiermöglichkeiten zu verschaffen. Eine Folge dieses Genegoismus ist eine Gemengelage aus egoistischem und altruistischem Verhalten. Egoistisch ist die Überlebensmaschine egoistischer Gene immer dann, wenn es um einen Vorteil für das eigene genetische Material geht; sei es aggressives Werben um einen Sexualpartner für eine besonders vielversprechende zukünftige Kombination egoistischer Gene, sei es der Kampf um ausreichend Futter bzw. Nahrung oder sei es aggressives Territorialverhalten, um den besten Brutplatz, das beste Jagdrevier oder den sichersten Unterschlupf zu belegen. Viele Tierspezies wie zum Beispiel Igel oder Eichhörnchen oder der hier bereits erwähnte Tiger sind folgerichtig Einzelgänger, und nur für den Sexualakt finden Männchen und Weibchen für eine kurze Zeitspanne zueinander. Andere Tierarten haben größere Reproduktionserfolge, wenn sie sich zu Gruppen zusammenschließen. Anders ausgedrückt: Ihre egoistischen Gene haben größere Möglichkeiten, sich erfolgreich zu replizieren, wenn ihre jeweiligen Überlebensmaschinen egoistische Regungen zum Wohle der Gruppe unterdrücken. Das Unterdrücken dieser egoistischen Neigungen zum Wohle der Allgemeinheit und damit letztlich natürlich zum Wohle des eige30

Vgl. J. Gonda: Die Religionen Indiens.

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nen genetischen Materials funktioniert jedoch nur bei ständiger Kontrolle durch die Gemeinschaft, und meist ist eine solche Kontrolle auch nur effektiv bzw. zeigt Wirkung, wenn Zuwiderhandlung sanktioniert wird. Letztlich sind es die ultimate values, die nicht mehr hinterfragbaren, höchsten Werte, die garantieren, dass notwendige Restriktionen beachtet, der Gruppenfriede damit aufrechterhalten und das Überleben des Einzelnen als Teil der Gruppe gewährleistet ist. Diese ultimate values werden im Allgemeinen durch eine höchste Macht repräsentiert. Das kann wie bei den Mbuti der Wald, das können jedoch auch wie bei vielen afrikanischen Völkern Ahnen oder Geister oder, wie bei den Nuern und den Israeliten, ein Hochgott sein. Alle diese übermächtigen Gestalten garantieren das Einhalten einer als natürlich empfundenen sozialen Ordnung und haben – so berichtet ein dazugehöriger jeweiliger Ursprungsmythos – in mythischer Urzeit die entsprechenden Gesetze erlassen. Zuwiderhandlung gegen diese letztgültige, die jeweilige geistige Kultur und Weltanschauung stiftende Ordnung werden von den übermächtigen Wesen geahndet, wobei die Strafe oft die gesamte Gemeinschaft trifft. Damit gefährden Missetäter jedoch nicht nur sich selbst, indem sie sich dem Zorn der Gottheit aussetzen, sondern die Gemeinschaft, weshalb diese Gemeinschaft dann ihrerseits den Missetäter bestrafen und die Gottheit versöhnen muss. Im Rahmen dieser komplexen Zusammenhänge von Genegoismus und daraus resultierendem Egoismus des Einzelnen, fragiler Wohlfahrt der Gruppe und kontrollierender Religion hat auch das Tier als Nahrungsressource einerseits, als Nahrungskonkurrent andererseits seinen festen Platz. In Gesellschaften mit aneignender Wirtschaftsweise, also bei Jägern und Sammlern, ist das Jagdwild eine kostbare Nahrungsressource, die sorgfältig bewirtschaftet wird. Dementsprechend spielen in den Weltanschauungen und Religionen entweder der Wald selbst oder aber ein Herr oder eine Herrin der Tiere eine große Rolle. Diesen übermächtigen Gestalten steht es anheim, die Menschen mit Wild zu versorgen. Wird eine solche Potnia theron oder ein Herr der Tiere durch Fehlverhalten verärgert, wird sie bzw. er das Wild zurückhalten und die betreffende Gruppe wird unter Misserfolg bei der Jagd zu leiden haben. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass alle nicht verwertbaren Teile des erlegten Tieres wie Haut und Knochen der Gottheit zurückgegeben werden müssen, damit sie daraus ein neues Tier wiedererstehen lassen kann. Ähnlich komplex ist das Verhalten von nicht arbeitsteiligen produzierenden Gesellschaften. Frühe Viehzüchter oder Ackerbauern schlachten ihre kostbaren Nutztiere nicht aus profanen Gründen, denn die Ressource Fleisch ist zu wertvoll, um als alltägliches Nahrungs- und Genussmittel zu dienen. Gleiches gilt für sogenannte archaische Gesellschaften. Das Töten eines Nutztieres bedarf eines triftigen Grundes, und dieser triftige Grund ist immer an die jeweilige Weltanschauung rückgebunden. Entweder gilt es, eine Gottheit zu versöhnen (das Sühneopfer) oder im Rahmen des Gabentausches von der Gottheit eine Gegengabe zu erbitten. Auch hier dient zwar das Fleisch eines getöteten Tieres letztlich der Versorgung der Gemeinschaft mit wertvollen Proteinen; das Töten des Tieres geschieht also aus egoistischen Motiven, aber die Einbindung des Tötens in einen religiösen Akt reguliert die Nutzung der Ressource Fleisch und schützt daher das Tier vor hemmungsloser Ausbeutung durch den Menschen. Dies ändert sich erst, als mit dem Niedergang der alten großen Kult- und Tempelreligionen ein Siegeszug der Schriftreligionen einsetzt. Einen ersten Wendepunkt

Das Phänomen der Gewalt innerhalb des Mensch-Tier-Verhältnisses

markiert tatsächlich bereits die Erzählung Hesiods vom Betrug des Prometheus, der die bereits der Antike unverständliche Aufteilung der Opfergabe an die Götter einerseits, den Menschen andererseits auf einen Betrug zurückführen zu müssen gedachte und damit erste Zweifel am Sinn des Opfers und damit an der Gewalt gegen Tiere im Namen eines Gottes äußerte. Damit entzog er jedoch andererseits das Tier dem relativen Schutz durch die Gottheit. Auch der jüdische Opferkult verlor nach der Zerstörung des Zweiten Tempels sein Zentrum, gleichzeitig aber auch seinen Sinn, und das Christentum mit seinem Ursprung in einer kritischen Auseinandersetzung mit den verschiedenen theologisch-philosophischen Schulen des Judentums um die Zeitenwende (Second-Temple-Judaism) und seiner Sicht auf Jesus als wahres Opferlamm verlor jeglichen Bezug zum Tier. Dementsprechend sind die oben erwähnten Berichte über das Verhältnis des Menschen zum Tier in Mittelalter und früher Neuzeit nicht eigentlich mehr der Religion, sondern eher dem Volksglauben zugehörig, und entsprechend der wirtschaftlichen Bedeutung des Viehs wurde Gewalt gegen Tiere abgelehnt, wenn auch nicht mehr sanktioniert. In den Religionen Indiens waren es dagegen philosophische Spekulationen, die dazu führten, dass sich der Fokus vom Opfer, also von der regulierten Gewalt gegen Tiere, hin zum Ethischen verlagerte. Letztlich war es die Lehre vom Karma und dem Geburtenkreislauf, die Gewalt gegen Mitgeschöpfe aus ethischen Gründen verbot. Dass wirtschaftliche, d.h. genegoistische Motive auch hier eine Rolle spielen, zeigt die Tatsache, dass Krieger, um bei Kräften zu bleiben, durchaus Fleisch essen dürfen. Fleisch als allgemeines Nahrungsmittel und damit eine Massentötung von Tieren gibt es jedoch nicht, und zu erwähnen ist weiterhin, dass die Berufszweige, die mit dem Schlachten von Tieren und seiner Verwertung befasst sind – und Berufszweig ist hier gleich Kaste – das geringste gesellschaftliche Ansehen genießen. Einen wiederum ganz anderen Weg ging die altägyptische Religion, was ihr Verhältnis zum Tier anbelangte. Hervorgegangen aus den furchteinflößenden und bedrohlichen Aspekten von Wildtieren statteten sie Tiere mit göttlichen Attributen aus, um sie zuletzt als Gottheiten zu verehren. Religionen steuern also den Umgang des Menschen mit dem Tier, und zwar dergestalt, dass sie Gewalt gegen Tieren in einem Maße beschränken, die einerseits das Überleben des Tiers, andererseits jedoch auch das optimale Prosperieren der in ihre jeweiligen Ökosysteme eingebundenen menschlichen Gemeinschaften garantieren. Religion schützt zwar nicht das Tier als leidensfähiges Lebewesen und Mitgeschöpf, verhindert jedoch ein brutales Ausbeuten der Ressource Tier oder ein wahlloses Töten möglicherweise gefährlicher Wildtiere. Der Hintergrund für diesen sorgsamen Umgang ist nicht ethischer Natur, sondern verdankt sich kühler Kalkulation des genegoistischen KostenNutzen-Rechners Mensch. Gerade das Fehlen einer ethischen Komponente hinsichtlich des Mensch-TierVerhältnisses macht heute den Umgang des Menschen mit dem Tier problematisch. Dies gilt besonders für die westliche Welt, die durch ihre Prägung durch ein anthropozentrisches Christentum keinen in religiöse Rituale eingebetteten Umgang mit sowohl Wild- als auch Nutztieren kennt. Vor allem, als mit der Aufklärung die letztgültigen Werte des Christentums, zu denen auch, wenn auch eher im Hintergrund, Achtung vor der Schöpfung und Mitleid mit den Geschöpfen Gottes zählen, an Bedeutung verloren

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und neue Agrartechniken zunächst eine schonende Bewirtschaftung der Ressource Tier überflüssig machten, konnten eine hemmungslose Ausbeutung der Ressource Nutztier und eine gnadenlose Verfolgung von Nahrungskonkurrenten wie dem Wolf einsetzen. Erst heute, wenn die ökologischen Grenzen einer enthemmten Viehhaltung, sei es die Rinderhaltung mit ihrem hohen Methanausstoß, sei es die Schweine- und Hühnerhaltung mit ihrem problematischen Anfallen von Mist und Gülle, wiederum deutlich machen, dass die Kosten-Nutzen-Rechnung bei der Ausbeutung der Ressource Tier in Richtung übermäßiger Kosten für die (Welt-)Gemeinschaft tendiert, wird zaghaft nach Lösungsmöglichkeiten gesucht, bei denen gelegentlich auch das Argument Tierwohl ins Spiel gebracht wird. Allerdings macht sich gerade in dieser Diskussion das Fehlen von allgemein akzeptierten ultimate values und einer Fehlverhalten sanktionierenden übermächtigen Gestalt in bedauerlicher Weise bemerkbar: Niemand fürchtet heute noch eine Pothnia theron; auf lange Sicht sehr zum Nachteil des Menschen.

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Von natürlichen und konstruierten Grenzen Ein postkolonialer Blick auf die Tiere Jaqueline Jüling »Was war mein Leben, wenn es heut soll enden?«1 , fragt Hermann Hesse und resümiert im Laufe des Gedichts, dass es ein Liebesbund mit dieser Erde gewesen sei. Die Vorstellung von einem Liebesbund zwischen den Menschen und der Mitwelt ist verknüpfbar mit der christlichen Vorstellung eines ewigen Bundes zwischen Gott und seiner Schöpfung. Anhänger2 der creatio ex amore folgen diesem Gedanken insofern, dass sie betonen, dass Gott die Welt mit all ihren Facetten aus Liebe und dem Wunsch nach Beziehung erschaffen hat.3 Doch nicht nur die Schöpfung, der Anfang ist von dieser Liebe erfüllt, das ganze Alte Testament beschreibt die Hinwendung Gottes zu seiner Schöpfung. Auch hier kann man von einem Liebesbund sprechen und die Schöpfung als Ganze, als ein Netzwerk, eine Gemeinschaft verstehen mit der »Brüderschaft gehalten«4 werden sollte. Nun zeigt der Raubbau an der Erde und ihren Geschöpfen, dass wirtschaftliche Interessen, Konsum und Genuss oftmals lauter sind, als die Stimmen, welche mahnend dazu auffordern einen familiären Umgang mit Natur und Tieren einzugehen. Die in Genesis beschriebene junge und noch heile Schöpfung existiert nicht mehr in dieser Form, sondern sie »stöhnt und leidet wie unter Wehen (Röm 8,22). Denn 1 2

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H. Hesse: Die Gedichte, S. 757. Sprache ist nicht wertfrei – sie ist bedingt durch ihren Entstehungs- und Entwicklungskontext, sodass sie immer auch einen ausschließenden Charakter hat. Im Weiteren wird daher mit der Nennung der weiblichen oder männlichen Funktionsbezeichnung immer auch die männliche/weibliche Form miteinbezogen. Zu den Theologen, welche die creatio ex nihilo eher als eine creatio ex amore verstehen, gehören u.a. Jürgen Moltmann und Dorothee Sölle. Die Prozesstheologin Catherine Keller bedient sich ebenfalls dieses Modells, geht aber mehr noch von einer kontinuierlichen, sich weiterentwickelnden Schöpfung aus, die von der anhaltenden Liebe und des Beziehungswunsches Gottes getragen ist. In anderen Theologien, wie jenen der feministischen Theologinnen Carter Heyward und Rosemary Radford Ruether, aber auch in der Schmerz-Gottes-Theologie von Kazoh Kitamori und seinen Nachfolgern wie Choan-Seng Song, finden sich vergleichbare Vorstellungen zur creatio ex amore. Diese gestalten sich vor allem durch den Gedanken des bewussten und gewollten Eingehens einer Beziehung Gottes mit den Menschen. Die Nähe zwischen Gott und Schöpfung steht dabei im Fokus. H. Hesse: Die Gedichte, S. 757.

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sie gelangt nicht zur Vollendung, sondern wird gequält, vergiftet, verdorrt, versinkt im Schlamm. Und mit ihr die Tiere – wer wollte das leugnen?«5 Der moderne Umgang mit allem Nichtmenschlichen ist kein neues Phänomen, sondern eine globale Zuspitzung von geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen, deren Ursprung in der Vergangenheit liegt. Hiermit soll keineswegs gesagt werden, dass alleine die europäische Kultur oder das Christentum am desolaten Zustand unserer Erde »Schuld« sind, jedoch trägt beides eine Mitverantwortung. Auch andere Kulturen und Religionsgemeinschaften enthalten Vorstellungen von einer Trennung zwischen Menschen und Umwelt, eine Höherstellung des Menschen oder eine Verneinung von allem Weltlichen bis hin zur Nicht-Wertschätzung.6 In diesem Beitrag soll es aber gerade nicht darum gehen zu überprüfen, was »die Anderen« falsch gemacht haben, sondern wo sich Wurzeln, Parallelen und Überschneidungen zwischen Kolonialismus und Umweltvergessenheit sowie Tierverneinung finden lassen, sodass deutlich wird, dass Postkolonialismus und eine Theologie der Tiere (sowie der Natur) eine fruchtbare Zusammenarbeit bilden können. Dieser Beitrag möchte den Blick auf einen ganz speziellen Teil der europäischen Geschichte werfen – ihren Expansions- und Herrschaftsdrang, welcher sich in der Kolonialisierung der Welt niedergeschlagen und seine Spuren in der Welt hinterlassen hat. Diese Spuren sind mal ganz eindeutig zu erkennen, in Form von inzwischen hauptsächlich weißen Bewohnern in Südafrika, der großräumigen Verdrängung von Aborigines auf dem gesamten australischen Kontinent oder auch der weltweit genutzten europäischen Sprachen, wie Englisch, Spanisch oder Deutsch. Manchmal sind diese Spuren aber auch ganz unscheinbar und unauffällig, weil sie so sehr das Denken, Sprechen und Handeln der Weltgesellschaften geprägt haben, dass sie gar nicht mehr mit dem Kolonialismus in Verbindung gebracht werden. Ein gutes und beliebtes Beispiel dafür ist die vermeintliche Entdeckung Amerikas, welche eigentlich eine Eroberung und Kolonialisierung eines weder neuen, noch unbewohnten Landes war. Wenn man sich mit dem Postkolonialismus beschäftigt, muss man demnach vor Augen behalten, dass der historische Kolonialismus zwar (in großen Teilen) sein Ende gefunden hat, sich der geistige Kolonialismus jedoch noch immer fortsetzt. Das »Post« im Postkolonialismus soll deswegen im Weiteren nicht lediglich als eine chronologische Kennzeichnung von einer vermeintlich linearen Geschichte verstanden werden, sondern als ein Werkzeug, welches das wiederkehrende Macht-Herrschafts-Gefälle innerhalb und außerhalb des Kolonialismus offenlegen kann. Mehr noch geht der Postkolonialismus der Konstruktion und Dekonstruktion von Identität, der Dominanz des Westens in der Geschichte wie der Moderne sowie »dem Phänomen des Anderen […] und den Fragen, wie darüber gesprochen werden kann und wer für wen die Stimme erhebt«7 , nach. Dem Stil der postkolonialen Theorien folgend, beansprucht dieser Artikel für sich nicht fertige Antworten zu finden, sondern möchte auf Leerstellen, aber auch Parallelen, Schnittstellen und Möglichkeiten innerhalb der Forschungsfelder – Postkolonialis5 6 7

D. Blum, Dominik: Hund im Himmel?, o.S. Siehe dazu u.a.: H. Kessler (Hg.): Ökologisches Weltethos. A. Nehring/S. Tielesch: Theologie und Postkolonialismus, S. 11.

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mus und Theologie der Tiere und der Natur – aufmerksam machen. Um dieses Vorhaben umzusetzen wird im Folgenden erst einmal kritisch gefragt, unter welchen Bedingungen Postkolonialismus mit Blick auf die nichtmenschlichen Mitgeschöpfe überhaupt möglich ist, um dies im Anschluss daran an drei Haupttheorien des Postkolonialismus, die als Basis für fast jeden postkolonialen Text dienen, zu erproben. Dabei werden Edward Saids »Wir und die Anderen«, Gayatri Chakravorty Spivaks »Subalternität« und Homi Bhabhas »Zwischenräume« – in gebührender Kürze – genutzt und mit dem Mitwelt-Mitgeschöpf-Fokus verknüpft.

1.

Von der (Un-)Möglichkeit eines postkolonialen Blickes auf die Tiere

Neben den postkolonialen Wissenschaften gibt es einige weitere herrschaftskritische Theorien und Theologien – zu nennen sind beispielsweise die Befreiungstheologie, welche sich in Lateinamerika entwickelte und von dort in die Welt verbreitete, sowie der feministische Diskurs. Der Ökofeminismus sowie die mystisch motivierte Befreiungstheologie von Leonardo Boff beschäftigen sich bereits mit dem Fokus auf die Mitwelt und zeigen auf, dass der herrschaftskritische Zugang auf die Natur ausgeweitet werden kann. Mit der postkolonialen Theorie bietet sich ein weiterer Weg an, der sich noch deutlicher auf das Machtgefälle innerhalb der Gesellschaft konzentriert und dies zu dekonstruieren sucht. Während der Feminismus besonders die Geschlechterverhältnisse und die Befreiungstheologie das Verhältnis zwischen Arm und Reich verändern möchte, geht der Postkolonialismus darüber hinaus und fragt nach den Gründen und Mechanismen für Herrschaft, ihrer Wirkung und ihren Nachwirkungen. Dies ermöglicht einen komplexen, interdisziplinären Zugang,8 der die Macht-Dynamiken in all ihren Facetten und Überschneidungen sichtbar machen kann. Eine Verbindung zwischen Postkolonialismus und der Beschäftigung mit Natur und Tieren wird bisher sehr vorsichtig und nur vereinzelt gezogen. Besonders im deutschsprachigen Raum, kann man von einem fast blinden Fleck innerhalb der Forschung sprechen. Die Ursachen dafür sind gewiss mannigfaltig und können in ihrer Tiefe in diesem Rahmen nicht besprochen werden. Zwei Gründe könnten seien, dass der Postkolonialismus in Deutschland und besonders in der deutschen Theologie erst beginnt, Fuß zu fassen. Die Landschaft an postkolonialer Literatur außerhalb Deutschlands ist deutlich bunter und vielfältiger, dennoch zumeist anthropozentrisch aufgebaut. Dies führt zu der zweiten Annahme für das Fehlen von ökologischen und noch viel weniger vorhandenen tierischen Perspektiven innerhalb der Forschung. Vorstellbar ist, dass die Erweiterung des postkolonialen Blickfeldes auf die nichtmenschliche Welt zwei Sorgen impliziert. Zum einen möchte man, dass das Forschungsfeld keiner weiteren Angriffsmöglichkeiten mit Blick auf Vorwürfe der Pauschalisierung, Generalisierung und Verabsolutierung ausgeliefert wird. Zum anderen ist durchaus denkbar, dass die Vorstellung von einer Übertragung der Postkolonialismus-Forschung auf andere Lebewesen,

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Als Beispiel kann die feministische, postkoloniale Theologie angeführt werden, wie sie u.a. von Musa Dube und Namsoon Kang praktiziert wird.

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mit einer Relativierung der Bedeutung und Schwere des Kolonialismus für die kolonialisierten Menschen einhergehen könnte. Letzterem ist stets entgegenzuwirken. Betrachtet man jedoch den »Ökologischer Imperialismus«, wie ihn Alfred Crosby rekonstruierte,9 wird schnell klar, dass es unabdingbar ist nicht nur nach dem Menschen innerhalb der Kolonialisierung zu fragen. Vielmehr können gerade hier die ökologische und animalische Theologie ein Korrektorat für den Postkolonialismus darstellen, indem sie diesem seinen Anthropozentrismus vor Augen halten. Kann der Kolonialismus überhaupt gänzlich überwunden werden, wenn weiterhin der Mensch alleine im Zentrum steht? Muss nicht auch dieser Aspekt beachtet und hinterfragt werden, um eine wirkliche, vollständige Loslösung von dem, wie Stuart Hall es nannte, mystischem eurozentrischen »Verständnis einer hochentwickelten Zivilisation«10 und der damit einhergehenden Abwertung und Trennung von allem vermeintlich niedriger Entwickelten zu vollziehen? Dies bedeutet keineswegs, dass der kolonialisierte Mensch aus der Postkolonialismus-Forschung verschwinden sollte, vielmehr stellt sich die Frage, ob diesem Menschen nicht unrecht getan wird, wenn er aus seiner Mitwelt mit seinen Mitgeschöpfen isoliert herausgehoben wird. Der Kolonialismus zeichnete sich, wie eingangs erwähnt, durch eine äußere und eine innere Dimension aus – nicht nur das Land und die Gesellschaftsformen wurden den europäischen Vorstellungen und Modellen angepasst, sondern auch das Denken. Dabei kann man den Kolonialismus nicht nur als eine Ausdehnung des europäischen Herrschaftsgebietes ansehen, welches mit Eroberung, Unterdrückung, Kontrolle und ökonomischer (sowie ökologischer) Ausbeutung einherging, sondern auch mit der Verbreitung von europäischen Wissenssystemen.11 Mehr noch wurden das Popularisieren von einem speziellen Wissen und die Verdrängung von anderem, zu einem Werkzeug der Herrschaft. Alles, was von der vorgegebenen Norm abwich, wurde als rückständig, minderwertig oder auch abergläubig gebrandmarkt. »Die Zerstörung (kollektiver) Wissens- und Organisationsformen [im Namen der Moderne und des Fortschritts; J.J.] war und ist also ein zentrales Instrument von Kontrolle, Unterdrückung und der Schaffung von Herrschaftsverhältnissen.«12 Wissenswelten sind damit ebenfalls konstruierte Räume, die stets auf eine vermeintliche Allgemeingültigkeit hinterfragt werden müssen. Dies führt dazu, dass viele postkoloniale Theoretiker inzwischen betonen, dass das

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10 11 12

Vgl. A. Crosby: Die Früchte des weißen Mannes. Crosby macht in seinem Werk deutlich, dass die europäischen Kolonisatoren nicht nur ihre Vorstellung von der richtigen Religion, Lebensweise, Gesellschaft, Architektur etc. mitbrachten, sondern auch Tiere und Pflanzen (sogenannte invasive Arten). Beides verdrängte teilweise heimische Flora und Fauna und veränderte damit die Landschaft grundlegend. Dies ist etwa bei den Kaninchen in Australien der Fall, welche erst zum Nahrungszweck importiert und dann zum Jagdsport der Menschen ausgesetzt worden sind. Inzwischen gelten sie als Plage, weil sich ihre Population durch das Fehlen von Fressfeinden und der ganzjährigen Wärme enorm verbreitet hat. Die Kaninchen schädigen nicht nur die einheimische Vegetation, sondern verdrängen auch andere Tierarten aus ihrer ökologischen Nische – ein Aussterben ist die Folge. Seit Jahrzehnten wird daher versucht den Kaninchen mit allerlei Mitteln, wie Giftgas oder der gezielten Infektion mit Viren, Herr zu werden. S. Hall: Postkolonialismus, S. 225. Vgl. dazu auch Glokal e.V. (Hg.): Mit kolonialen Grüßen, S. 8-12 [Online-Dok.]. Ebd., S. 11.

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»Post« für etwas steht, das über den Kolonialismus hinausreicht und auch neue Figurationen eines Macht-Wissen-Komplexes mit einschließt. Das bedeutet, dass der Postkolonialismus sich eben auch auf moderne Machtgefälle beziehen kann und muss – der geschichtliche Kolonialismus wird so zu einem Symptom und Beispiel der zusammenauftretenden »Krankheiten«: Hierarchie, Machtmissbrauch, Unterdrückung und Rassismus. Mit Blick auf das nichtmenschliche Leben müsste daher nicht nur die Frage gestellt werden »Was weiß der Mensch über seine Mitgeschöpfe?«, sondern auch »Was schließt er daraus?« und »Was für Folgen hat diese Interpretation für das andere Leben?« Auch hier kann man immer wieder von einer Konstruktion und Übertragung ausgehen. Das Lebenssystem von Natur und Tierwelt unterscheidet sich in einigen, wenn auch nicht allen Punkten, von denen des Menschen und führt so zu Klassifizierungen von »Rückständigkeit« und »Minderwertigkeit«. Die Verschmutzung von Meer und Land, die gnadenlose Ausbeutung der Erde ohne Sabbatjahr und die Massentierhaltung sind nur wenige Beispiele für dieselben Faktoren, welche sich im Kolonialismus offenbart haben – Hierarchie, Unterdrückung und Machtmissbrauch könnten nicht deutlicher gemacht werden, als in der rigorosen Nutzbarmachung und Objektivierung von Mensch, Tier und Natur. Der Theologe James Cone betont diese Verbindung, indem er den Rassismus, die menschliche Dominanz über das Leben – in jeglicher Form – als Wurzel der Ausbeutung von Mensch, Natur und Tieren sieht. Die postkoloniale Beschäftigung mit dem Macht-Wissen-Gefälle in der Welt, muss demnach unbedingt um das Kriterium – den Blick auf das nichtmenschliche Leben – erweitert werden, denn »they are fighting the same enemy.«13 Wichtig ist dabei, dass der Blick eben nicht nur in die ehemaligen Kolonien gerichtet wird, sondern auch auf die (ehemaligen) Kolonisatoren. Als Ursache und Urgrund für die kolonialen Denkmuster, muss kritisch überprüft werden, ob der Kolonialismus in den Köpfen der Europäer nicht auch noch weiterhin einer Entkolonialisierung bedarf. So könnte man sagen, dass die Kolonisatoren von ihrem eigenen Konstrukt gefressen worden sind – auch hier hat sich das Denken (um)geformt und illusioniert. »Das Unglück und die Unmenschlichkeit des Weißen bestehen darin, dass er irgendwo den Menschen getötet hat. Darin, dass er noch heute diese Entmenschlichung rationell organisiert.«14 Franz Fanons Anklage ist deutlich: Der weiße Mensch hat sich durch den Kolonialismus, durch seinen Machtwahn, selber verloren. Und mehr noch, diese Unmenschlichkeit, diese Blindheit für Leid und die Produktion von Leid, werden weitergeführt – der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel. Wenn diese Form des Denkens, ihre Ausprägung oder gar Vollendung im Kolonialismus erfuhr, findet sie ihren Widerhall in der globalen Marktwirtschaft, die weder Menschen, noch Tiere und Natur achtet. »Gibt es wirklich einen Unterschied zwischen einem Rassismus und einem anderen?«15 Oder noch weiter: Gibt es einen Unterschied zwischen einer Herrschaft und einer anderen? Gibt es einen Unterschied zwischen Rassismus und Speziesismus?

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J. H. Cone: Risks of Faith, S. 138. F. Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken, S. 165. Ebd., S. 64.

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Eine weitere wichtige Aufgabe der insbesondere postkolonialen Theologie ist es nach Andreas Nehring und Simon Wiesgickl, danach zu fragen, wer aus dem theologischen Diskurs ausgeschlossen wird.16 Wie Rainer Hagencord u.a. in seinem Werk »Diesseits von Eden« oder auch Simone Horstmann, Thomas Ruster und Gregor Taxacher in »Alles, was atmet« zeigten, sind und waren dies innerhalb der Theologie (und Gesellschaft) auch und vor allem die Tiere. Zwar »wimmelt« innerhalb der Schöpfungserzählung die Welt voller Leben, doch in der Theologie scheinen die nichtmenschlichen Lebewesen plötzlich verschwunden, als würden sie keine Erwähnung in der christlichen Heiligen Schrift erfahren und nicht einmal denselben Lebensraum wie der Mensch bewohnen.17 Postkolonialismus kann demnach eine direkte Verbindung zum ökologischen Denken aufweisen. Gefragt ist ein ganzheitlicherer Blick, welcher nicht vergisst, dass der Mensch nur ein Teil eines Systems oder theologisch gesprochen ein Teil der Schöpfung ist. Er ist bedingt durch seine Erfahrungen innerhalb der Welt mit Menschen, Tieren und Natur. Betrachtet man ein Individuum ohne seine äußeren Einflüsse und Reize, hätte man ein leeres Blatt vor sich – dies gibt es bekanntlich aber nicht. Die zuvor angesprochenen Verbindungen sollen nun an drei Beispielen eine konkretere Gestalt erhalten.

2.

Von uns und den Anderen

Im Laufe des 20. Jahrhunderts und durch die politische sowie militärische Dekolonisierung beeinflusst, entwickelten sich antikoloniale und postkoloniale Wissenschaften, die den Diskurs über die kolonialisierten Länder in den Blick nahmen. So gelten unter anderem Aimé Césaire und Franz Fanon als Wegbereiter für den Postkolonialismus, während Edward Said gemeinhin mit seinem Werk »Orientalism« als Startpunkt für diese Wissenschaftsdisziplin genannt wird. Infolgedessen wurde der Orient als westliche Imagination, Erfindung oder Konstruktion entlarvt.18 Said stellte heraus, dass Europa den Orient nicht nur erfunden, sondern auch genutzt hatte, um seine eigene Identität herstellen zu können.19 Identität wird demnach über Abgrenzung zur Umwelt gebildet, nicht nur über Vergleichsmöglichkeiten. Said geht in seinem Werk jedoch noch weiter, indem er erklärt, dass Europa den Orient zu seinem Gegenentwurf gemacht und ihn zu einer Behelfs- und Schattenidentität degradiert habe.20 Alles, was der Orientale war, musste demnach der Europäer nicht sein und umgekehrt. Um das Bild vom zivilisierten, humanistischen und rundum aufgeklärten Europa innerhalb einer immer größer werdenden Welt aufbauen und erhalten zu können, mussten die restlichen Länder als Bestätigung herhalten. Dies wur16 17

18 19 20

Vgl. A. Nehring/S. Wiesgickl: Postkoloniale Theorien, S. 10. Um diese anfängliche Verbindung zwischen Mensch, Mitgeschöpf und Mitwelt zu betonen, wie sie in der Bibel beschrieben wird, wird im Folgenden der Terminus »Genesis-Kollektiv«, welchen Catherine Keller kultivierte, verwendet. Vgl. A. Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 25. Vgl. E. W. Said: Orientalismus, S. 9-11. Vgl. ebd., S. 12.

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de nur möglich durch Abwertung und Konstruktion der exemplarisch Anderen. »Wenn der Orientale unvernünftig, verderbt (sündig), kindisch und ›abartig‹ war, so der Europäer vernünftig, tugendhaft, erwachsen und ›normal‹.«21 Diese Gegensatzbeschreibungen sorgten für eine Herabsetzung der kolonialisierten Völker und auch für eine Legitimationsgrundlage, die Europa oder allgemein die westliche Welt dazu ermächtigte, ihre Werte zur Rettung aller anderen Menschen zu verbreiten und sich als Leitkultur darzustellen. Die Sozialpädagogin Iman Attia beschreibt dies in aller Deutlichkeit, indem sie erklärt, dass die gezielte Konstruktion vom Eigenen und Anderen »der Legitimation und Zustimmung zu Vernichtung, Ausbeutung, Missionierung, Einverleibung, Bevormundung, Ausgrenzung«22 diente. Diese Form der internalisierten kolonialen Konstruktion vom anderen Menschen, wird besonders deutlich an der Entstehung und Etablierung der Menschenzoos. Hier standen die vermeintliche Rückständigkeit und Wildheit im Fokus und fungierten als Gegenfolie für die europäische Zivilisation. Die inszenierte Vorstellung von beispielsweise Pygmäen diente verschiedenen Zwecken. So wurde der Besuch von Menschenzoos zu einem Freizeitvergnügen, schließlich konnte man »etwas« anschauen, was man sonst nicht sah. Außerdem wurden die Zoos zur Legitimation und Propaganda für den Kolonialismus genutzt, der so als Zivilisationsbringer für die wilden Menschen verkauft wurde. »Für mehrere Jahrzehnte wiesen sie Menschen, die ›anders‹ waren, die Rolle von Objekten und Beherrschten zu […] und legitimierte auf diese Weise koloniale Bestrebungen und eine Feinseligkeit [sic!] gegenüber anderen ›Rassen.‹«23 Die Wissenschaft half dabei einen Alltagsrassismus zu erschaffen, der in diesen Zurschaustellungen ihre Entfaltung fand. Durch Vermessungen, Fotografien und schließlich Darstellung im Zoo, sollte und wurde der andere Mensch vollends konstruiert und seiner Gleichwertigkeit beraubt. »Er hat keine Kultur, keine Zivilisation«24 , hält Franz Fanon als einen Beweggrund für die Möglichkeit von Versklavung und einem zugeordneten niedrigeren Rang innerhalb der Schöpfung fest. Die Argumentation ist in Bezug auf die Tiere dieselbe. Alles, was weder über Kultur noch über Zivilisation nach europäischem Maßstab verfügt, gilt als minderwertig und evolutionär niedriger, eine Ausbeutung ist somit legitimiert. Das Überleben des Stärkeren wird routiniert reproduziert. Die »wilden Menschen« wurden während des Kolonialismus jedoch nicht nur als das exemplarisch Andere vorgestellt, sondern auch als Vorfahren, als eine Möglichkeit, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen.25 Dies impliziert natürlich auch in den meisten Fällen die Aspekte der Rückständigkeit und Zivilisationsbedürftigkeit. Dieser Punkt ist für unseren Kontext insofern wichtig, da die Tiere durch die Evolutionstheorie zumindest wissenschaftlich gesehen als verwandt betrachtet werden. Dies ist – bis auf

21 22 23 24 25

Ebd., S. 53. I. Attia: Die westliche Kultur, S. 49. P. Blanchard/N. Bancel/S. Lemaire: Menschenzoos, S. 125. F. Fanon: Schwarze Haut, S. 27. Als Beispiel kann Heinrich Friedrich von Diez angeführt werden, der in Asien und orientalischen Völkern die Wiege der Menschheit sah und diese als Korrektur für das Europa des 18./19. Jahrhunderts wahrnahm. Vgl. H. F. von Diez: Denkwürdigkeiten.

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in einigen religiösen Gemeinschaften – ein allgemein akzeptiertes Wissen. Die Verwandtschaft wird demnach gesehen und als gegeben hingenommen, aber eben auch mit einer Höherentwicklung verknüpft. Zwar kann dann davon gesprochen werden, dass die Tiere – oder nur ein Teil von ihnen – mit dem Menschen genetisches Material teilen, aber der Mensch aus ihnen emporgestiegen, sich weiterentwickelt hat, aus dem Tier herausgewachsen ist. Auch hier findet also – trotz des erst einmal positiv anmutenden Verwandtschaftsbildes – eine Kategorisierung und Hierarchisierung statt. Zwischen Menschen und Tieren, aber auch zwischen den Tieren selber. So gilt der Affe als höher entwickelt im Vergleich zu Vögeln, eben durch seine genetische Nähe zum Menschen. Die Intelligenz und der Wert eines nichtmenschlichen Lebewesens, wird somit an dem (europäischen) Menschen gemessen, der demnach noch immer als Maß aller Dinge zu gelten scheint. So wie die indigenen Völker in den Menschenzoos zu Objekten, Trägern von (Wahn-)Vorstellungen, Ideen und Träumen gemacht wurden, »in der Selbst-Identität und Fremdidentität«26 gleichermaßen konstruiert waren, so wird auch den nichtmenschlichen Tieren nur ein Raum innerhalb der Lebenswelt des Menschen zugesprochen, über den sie nicht hinausgehen dürfen. Ebenfalls zur Kolonialzeit bürgerte es sich ein, Tiere aus anderen Ländern zu importieren und deren Andersartigkeit zu präsentieren. Der moderne Zoo ist ein Überbleibsel des Kolonialismus. Anders als die Menschenzoos wurde er jedoch nicht abgeschafft, sondern es wurde eine neue Legitimationslinie erschaffen. Neben Erlebniswelten, Kurzurlaub und Bildung wird dem Besucher erklärt, dass die Zoos oder auch Tiergärten dem »Artenschutz« dienen würden. Dabei wird außer Acht gelassen, dass dieser Schutz größtenteils gar nicht nötig wäre, wenn die Menschen ihren Umgang mit Mitwelt und Mitgeschöpfen ändern würden. Die Menschenzoos können als Inszenierung der Macht und Überlegenheit Europas sowie als Ort der leibhaftigen Rassenkonstruktion angesehen werden. Die »Tiergärten« tun etwas Vergleichbares – sie inszenieren einen vermeintlich natürlichen Lebensraum und präsentieren das Fremde, das Andere, spielen mit Exotik und brüsten sich mit einer großen Anzahl von Tieren aus aller Welt. Zwar wird kein Zivilisationsauftrag als Legitimation für das Vorhandensein genutzt, aber dafür der Aspekt des Schutzes. Der Westen hat sein Wesen behalten und verbreitet – fast die ganze Welt stellt inzwischen ihre Mitgeschöpfe zur Schau. Als Folge der Haltung und Darstellung leiden die meisten Tiere in den »Gärten« unter der sogenannten Zoochose, einer psychischen Störung, die sich in selbstzerstörerischem oder auch aggressivem Verhalten offenbart. Die Tierschutzorganisation PETA beschreibt, dass »Tiere, die in der Natur große Entfernungen zurücklegen […], oft Anzeichen von Wahnsinn und stereotypes Verhalten resultierend aus der Langeweile in den Zoogehegen, indem sie endlos hin- und hergehen oder immer im Kreis schwimmen«27 müssten, zeigen würden. Obwohl bereits seit den 1990er-Jahren bekannt und belegt ist, dass eine Zoochose zum Alltag der Zootiere gehört, wird dies öffentlich kaum bis gar nicht wahrgenommen. Der Besucherzulauf hält an und die Zoos werden immer

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R. Corbey: Ethnografische Schaukästen, S. 124. PETA Deutschland e.V.: Für die Unterhaltung benutzte Tiere [Online-Dok.].

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weiter ausgebaut.28 Schmerz und Leid werden kaum gesehen, die Existenz der Zoos, ihr »Bildungsauftrag« und Artenschutz sind weitestgehend akzeptiert und verbreitet – ein koloniales Erbe. Raymond Corbey macht eine wichtige Feststellung, indem er betont, dass das Auge nicht unvoreingenommen sei.29 Vielmehr stellt die »wahrgenommene Ordnung […] eine aufgezwungene Ordnung [dar; J.J.]. Der Blick der Bürger auf ein Individuum, das ›anders‹ war als [sie] selbst, war in beträchtlichem Maße bestimmt durch Erzählungen und Stereotypen, die ihnen mental bereits vertraut waren.«30 Eine weitere Machtstrategie wäre es gewesen, die Illusion zu erschaffen, dass Sehen dasselbe wie Wissen sei.31 Diese Illusion verfolgt uns noch heute: Die vermeintlich artgerechte Haltung der Tiere, welche keine ist, das Wohlergehen der Tiere, welches real der Wirtschaftlichkeit untergeordnet ist, der Artenschutz, der in vielen Fällen nicht notwendig und in einigen nur durch den Menschen und die Vernichtung von Lebensräumen sowie Tierwelten notwendig geworden ist, und vieles mehr. Solange die Illusion – Sehen ist Wissen – weiter existiert, wird das Auge für die Hintergründe blind gemacht. Die Konstruktion von Wir und die Anderen, wobei die Tiere zum absolut Anderen degradiert werden, sorgt jedoch nicht nur für eine Grenzziehung, sondern auch für eine Unfähigkeit des emotionalen Wahrnehmens. Die konstruierte Wirklichkeit wirft ihr Spiegelbild auf den Menschen zurück und lässt ihn selber zum Gefangenen seiner Welten werden. Die Theologin Wonhee Anne Joh sieht in ihrer postkolonialen Deutung von Trauer einen wichtigen Reflex auf das Leid und einen Weg, über den Widerstand möglich wird. Gleichzeitig sieht sie mit der Philosophin Judith Butler eine Regulierung von speziellen Affekten in der Welt, die es unmöglich machen, dass sich das Individuum für alle gleichermaßen entsetzen und empören kann. Stattdessen werden Gefühle wie Empathie vor allem nur noch für all jene möglich, die einem selber ähnlich sind.32 Mit Blick auf die Zoos im Allgemeinen und den Brand im Affengehege des Krefelder Zoos in der Silvesternacht 2019/20, bei dem mehr als 30 Tiere starben, im Speziellen, dürfen wir uns fragen: »Ist die Trauer auch für uns so stark reguliert, dass wir oft nur um diejenigen trauern, die ›uns ähnlich‹ sind, dieselbe Trauer aber nicht auch auf diejenigen ausdehnen, die von den verschiedenen Deutungsverfahren der herrschenden Strukturen als ›uns unähnlich‹ konstruiert werden?«33 Die Konstruktion von Wir und Ihr, die Grenzziehung zwischen gleich und anders, enthält damit weitere Dimensionen – sie sorgt entweder für ein Erstarren angesichts von fremdem Leid, macht unfähig zu reagieren, oder für eine Gleichgültigkeit, die das fremde Leid ausblendet. Anstatt den natürlichen Reflex von Widerstand und Klage auszulösen, hat die Konstruktionen vom Anderen eine solch immense Abgrenzung erschaffen, dass die Trauer sich nicht mehr

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Siehe dazu u.a. den sogenannten »Masterplan« des Leipziger Zoos: Zoo Leipzig: 20 Jahre Masterplan [Online-Dok.]. Vgl. R. Corbey: Ethnografische Schaukästen, S. 124. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. W. A. Joh: Trauer und Anspruch auf Trauer, S. 167. Ebd.

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entfalten kann, sondern das Leid außerhalb der Grenzen akzeptiert und hingenommen wird. »Also müssen wir uns fragen, warum das moralische Entsetzen angesichts von Gewalt und Verlust differenziert erfahren wird.«34 Und mehr noch: Dem Hinterfragen muss der Versuch der Verarbeitung und Überwindung folgen.

3.

Von Sprachlosigkeit und vom Stummhalten

Die Gegensatzbeschreibung35 , wie sie Said bei Europa und Orient vornahm, würde vermutlich bei Menschen und Tieren ganz ähnlich aussehen: vernunftbegabt – vernunftlos, geistig – materiell, bewusst – triebhaft, intelligent/überlegend – instinktiv. Interessant ist auch, dass die Werte, welche als menschlich gelten, wie Güte, Liebe, die Fähigkeit zu verzeihen, Eigenschaften sind, die auch bei Tieren erkannt werden können. Wohingegen Aspekte wie Hass, Krieg, Ausbeutung, Habsucht, Herrschaft und rigorose Zerstörung vor allem dem Menschen vorbehalten sind, jedoch nicht mit dem positiv konnotierten Terminus »Menschlichkeit« in Verbindung gebracht werden. Dies ist ein deutliches Indiz für konstruierte Wissenswelten, welche so tief verankert sind, dass Begriffe und Vorstellungen automatisch verwendet und kaum bis gar nicht hinterfragt werden. »Es geht mir vielmehr darum, zu zeigen, wie eine Erklärung bzw. ein Narrativ der Realität als normativ etabliert wurde.«36 Die Literaturwissenschaftlerin und Mitbegründerin der postkolonialen Theorie, Gayatri Chakravorty Spivak, bezieht sich an dieser Stelle auf die imperialistische Weltsicht, welche nachhaltig das Bild der Realität prägte und noch immer prägt. Ihre Intention kann man sehr gut auf das Verhältnis zwischen den Menschen und dem Rest der Schöpfung innerhalb der christlichen Tradition beziehen. Der Herrschaftsauftrag, wie er in Gen 1 beschrieben wird, die vermeintliche Ordnung der Welt in eine Hierarchie, an dessen Spitze – die Krone der Schöpfung – der Mensch steht, ist ein Narrativ der damaligen Zeit, in welcher die Texte entstanden sind. Es handelt sich demnach um einen Erklärungsversuch der Welt, ein in BeziehungSetzen und ein Verorten des eigenen Platzes innerhalb der Schöpfung. Dieser Versuch wurde schließlich über die Jahrhunderte immer mehr zur Realitätswahrnehmung und erhielt einen normativen, universellen Anspruch. Aus einer Erklärung von vielen parallelen Exemplifikationen – und zwar innerhalb und außerhalb des biblischen Kanons – wurde die eine wahre Realitätsvorstellung. Auf diese Weise wurden die anderen Erklärungen und Vorstellungen zum Verstummen gebracht und mit ihnen all jene, die diesem Weltbild widersprachen oder in diesem einen niedrigeren Rang enthielten. Thomas von Aquin kann als ein exemplarischer Theologe gesehen werden, der den Tieren ihren Rang innerhalb der Erlösung abspricht, sie zu einem Teil der Natur degradiert. Letzteres wäre weit weniger dramatisch, würde die Natur als ein lebendiger Organismus angesehen, der ebenfalls einen bedeutenden Platz innerhalb der Schöpfung hat. Nun 34 35 36

Ebd. Bei Spivak wird dieses Vorgehen »the othering« genannt. G. C. Spivak: Can the Subaltern Speak?, S. 42.

Von natürlichen und konstruierten Grenzen

ist diese jedoch eher als Beiwerk, als Garten für den Menschen gestaltet, der ihm als Wohnstätte und Nahrungsquelle dient. Die Tiere werden damit zu dienstbaren Geschöpfen, die ebenfalls nur einen Zweck haben: dem Menschen (u.a. als Nahrung) nutzen. Biblisch ist dem jedoch eigentlich entschieden zu widersprechen, enthalten doch beide Schöpfungsberichte Aspekte, die die Verbundenheit, Verwandtschaft37 aufzeigen. »›Grenzziehungen‹ sind nicht ›gottgegeben‹, sondern konstruiert.«38 Dies wird vom Alten Testament insofern unterstützt, dass man in der Schöpfungserzählung, dem Aufbau der Welt und des Lebens, von einer Gemeinschaft sprechen kann, welche miteinander und nicht in Abgrenzung zueinander funktioniert. Passend dazu spricht die Prozesstheologin Catherine Keller von einem Genesis-Kollektiv39 und fast damit die gesamte Schöpfungsgemeinschaft – Natur, Tiere und Menschen (oder auch menschliche Tiere) – zusammen. Gott hat nach der christlichen Überlieferung bzw. ihren jüdischen Wurzeln eben nicht nur einen Bund mit seiner Schöpfung geschlossen, sondern diese auch zu einem Verbund geschaffen. Die Schöpfungsberichte enthalten eine große Dynamik und unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. So kann natürlich der Herrschaftsauftrag wahrgenommen und unterschiedlich ausgelegt werden, aber es können auch andere Aspekte in den Vordergrund rücken. In diesem Rahmen soll nun speziell und exemplarisch auf die Namensgebung der »lebenden Wesen«40 durch den Menschen eingegangen werden. Zwar kann man deuten, dass die Namensgebung ein Akt der Überordnung widerspiegelt, denn wenn jemand einen Namen wählt und vergibt, wird dem Subjekt die Möglichkeit der eigenen Wahl verwehrt. Im Kolonialismus gehörte die Benennung von Menschen oder ganzen Völkern auch zum Akt der Hierarchisierung und Einordnung in ein Weltsystem, mit welchem bestimmte Vorstellungen und Ordnungen verbunden waren. Als Beispiel kann die Vermessung und Einordnung der Welt durch Alexander von Humboldt angeführt werden, der mit seiner grafischen Verteilung der Religionen über die Welt alles, was nicht zu den abrahamitischen Religionen gehörte, als Heidentum sowie missionsbedürftig deklarierte, und so der Minderwertigkeit preisgab.41 Aber die Namensgebung kann auch eine andere Deutungsmöglichkeit als die der Fremdzuschreibung und Hierarchisierung erfahren. So kann die Aufforderung Gottes im biblischen Bericht, dass der Mensch den Mitgeschöpfen Namen geben sollte, auch als ein Aufruf zur aktiven Auseinandersetzung, zur in Beziehung-Setzung des Menschen mit der übrigen Schöpfung sein. In Gen 2, 18-20 werden die Tiere als Gesellschaft für den einsamen Menschen erschaffen, als Bezugspunkte. Der Mensch soll seine Gegenüber wahrnehmen, Gott »brachte sie zu dem Menschen«42 , damit dieser in Beziehung zu ihnen tritt; dies geschieht über die Namengebung. Vergleicht man dies mit der Intention von Eltern, die einen Namen für ihr Kind suchen, der 37 38 39 40 41 42

Im zweiten Schöpfungsbericht sind Mensch und Tier aus Erde gemacht und damit eigentlich von demselben Grund. S. Hall: Wann war ›der Postkolonialismus‹?, S. 222. Siehe dazu u.a.: C. Keller: Über das Geheimnis. Gen 2,19 (Elberfelder Bibel). Bedeutend ist zudem, dass das hebräische Wort»Nefesh« nicht nur als Wesen, sondern auch als Seele oder Person übersetzt werden kann. Vgl. Chr. Auffarth: ›Weltreligion‹ als ein Leitbegriff der Religionswissenschaft, S. 19ff. Ebd.

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ihre Liebe und die Wünsche für den Nachwuchs widerspiegelt, so kann eine Parallele zur Namengebung in der Bibel gezogen werden. Die Fremdzuschreibung ist dabei – wie bei Eltern und ihrem noch ungeborenen Kind – ein Akt der Interaktion, der durch die Unfähigkeit, die Selbstbezeichnung des Gegenübers vernehmen zu können, aber auch durch den Beziehungsaufbau bestimmt ist. Gott übergibt diese Aufgabe dem Menschen, damit er seine Verbundenheit erkennt und eine Beziehung, ähnlich einer Patenschaft und/oder Freundschaft, eingeht. Und mehr noch: »Identität ohne Anerkennung ist leer und wesenlos.«43 Die reine Existenz von Leben ist nicht genug. Es braucht ein Gegenüber, das das Subjekt wahrnimmt und annimmt, damit die Identität nicht nur eine Existenz bleibt. Diese Bibelstelle kann daher als ein Hinweis auf die Vorstellung von lebensbereichernder Co-Existenz gedeutet werden. Symbolisch wird an der Erschaffung der Tiere als Subjekte verdeutlicht, dass die Notwendigkeit von Anerkennung durch ein Gegenüber besteht. Das Leben wird erst lebenswert und reich durch den Bezugspunkt auf andere lebende Seelen. Im Kolonialismus wurde den anders aussehenden, anders klingenden und anders lebenden Menschen die Anerkennung des eigenen Ich verwehrt, sie wurden zu Objekten, die ausgestellt und nach dem Tod sogar ausgestopft werden durften. Den Tieren ergeht es ebenso – sie haben ihren Gegenübercharakter, ihr Subjektsein im Bewusstsein der Menschen verloren. So wie bei Thomas von Aquin die Tiere vom Heil ausgeschlossen wurden, so wurde den ›people of colour‹ teilweise ihre Hautfarbe als Indiz für Sündhaftigkeit ausgelegt. Wenn sie ein Anrecht auf ein neues Leben nach dem Tode hatten, dann nur in Segregation von den weißen Menschen.44 Der Kolonialismus festigte und verdeutlichte die Kategorien von wir und ihr, Subjekt und Objekt, und beraubte damit alle der zweiten Kategorie ihrer Stimme. Die Tiere wurden seelenlos, Maschinen, Objekte für den Gebrauch des Menschen – diese Vorstellung wurde zu einem normativen Wert, der die menschliche (weiße) Existenz von der der anderen Lebewesen abgrenzte. Diese Norm führt jedoch heute zu einem weiteren Problem: Sowohl das Denken als auch die Sprache sind so stark eingegrenzt, dass das gesamte Genesis-Kollektiv sich in einem Dilemma der Sprachlosigkeit wiederfindet, wenn es um den Versuch der Beziehung, der Suche nach Verbindungspunkten mit dem Anderen geht. »In dieser Sprachlosigkeit ist eines besonders unsagbar geworden: die Solidarität jenseits der Identität.«45 Solidarität unabhängig von dem Wesen, dem Charakter, der Form erscheint schwierig bis unmöglich – Gänse, die lebendig gerupft, Fische, denen die Flossen abgeschnitten und noch lebend, jedoch zum Tode verurteilt ins Meer zurückgeworfen werden, Zugvögel, die in Leimfallen auf Zypern kleben, Bienenköniginnen, denen die Flügel entfernt werden, damit sie den Stock nicht verlassen können, Qualzuchten, um bestimmten Schönheitsidealen und Modeerscheinungen des Menschen zu genügen … die Liste der Folter und des Leids der Tiere ist unendlich lang und eigentlich weiß jeder erwachsener Mensch um diese erschreckenden Bilder, und

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J. Rüsen: Kulturelle Identität in der Globalisierung, S. 51. Vgl. F. Fanon: Schwarze Haut, S. 24. H. Steyerl: Die Gegenwart der Subalternen, S. 14.

Von natürlichen und konstruierten Grenzen

dennoch mangelt es an Solidarität mit den Mitgeschöpfen. »Es ist, als beruhe die herrschende Ordnung nicht mehr auf dem Ausschluss der Anderen, sondern auf der radikalen Verleugnung ihrer möglichen Gleichheit.«46 Demnach führt nicht mehr das einfache Anderssein zu einer bewussten oder unbewussten Abgrenzung, sondern die Diversität wird inzwischen gebraucht und gefordert. Indem man verleugnet, dass eine Gleichheit bestehen kann, muss auch keine Solidarität erfolgen. Dies führt abermals zu der These von Joh, dass der Mensch seine emotionale Bindung, seine Empathie für den Anderen eingebüßt hat. Und gleichzeitig wird deutlich, dass die moderne Welt darauf aufgebaut ist, davon lebt, dass eine Grenze aufrechtgehalten wird, Diversität und fehlende Solidarität gewollt sind, um ein System der Ausbeutung und des Sklavenhandels weiter aufrecht erhalten zu können. Dieser Sklavenhandel hat seine Gestalt geändert und tritt nun in Form der globalen Marktwirtschaft auf, dessen Opfer zahlreich sind und sich vor allem aus den Menschen der Zwei-Drittel-Welt47 , sowie der Natur und Tiere zusammensetzen. Die deutsche Theologin Dorothee Sölle machte zu Lebzeiten auch die Theologie für diese Gestaltung der Welt verantwortlich, indem sie der Auffassung war, dass das Christentum eine Allianz mit der Macht eingegangen wäre und damit nicht nur der eigentlichen Aufgabe ihres Religionsstifters widersprechen würde, sondern auch »die Opfer unserer Situation unsichtbar«48 machen würde. Die Opfer sind bei Sölle, wie auch bei Spivak, die Menschen der Zwei-Drittel-Welt und vor allem die Frauen, jedoch auch die Erde und ihre Geschöpfe werden als solche erkannt. Sölle geht dabei davon aus, dass die Sprache selber zu einem Gefängnis für die Menschen, für die Religion und schließlich sogar für Gott würde.49 Die Sprache ist bekanntlich nicht frei von Ideologien, Sexismen, Rassismen, sondern hat diese internalisiert. Sprache macht demnach ebenso stumm, wie die normative Weltsicht von einem Getrenntsein von Menschen, Tieren und Natur, blind macht. Spivak fragt in ihrem Werk daher zurecht nicht nur, ob die Subalterne/n sprechen können, ob sie durch die herrschenden Machtverhältnisse stumm gemacht werden, sondern auch inwiefern eine Repräsentation (durch Experten) möglich ist, ohne das Verstummen weiterzupflegen und die Stummen stumm zu halten.50 Nach den vorherigen Ausführungen geht diese Überlegung aber noch nicht weit genug – auch die Experten sind gefangen in der konstruierten Wirklichkeit von Differenz und Abtrennung, in ihrer Herrschaftssprache, so dass auch sie nur in einem begrenzten Maße sprechen können. »Das Leben selber ist von dieser Qualität, die wir Gott nennen, so durchdrungen, dass wir gar nicht umhinkönnen, von ihr zu zehren und nach ihr zu hungern. Nur wissen wir das oft nicht, weil wir sprachunfähig gemacht worden sind.«51

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Ebd. Zwei-Drittel-Welt ist ein Synonym für den gängigen Terminus »Dritte-Welt-Länder«, macht aber im Gegensatz zu diesem deutlich, dass die Mehrzahl der Länder zu den Ärmsten gehören und es eine ungleiche Verteilung von Gütern und Ressourcen gibt. D. Sölle: Es muss doch mehr als alles geben, S. 47. Vgl. ebd., S. 46-51. Siehe dazu vor allem: G. C. Spivak: Can the Subaltern Speak, S. 74-106. D. Sölle: Es muss doch mehr als alles geben, S. 49.

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Dies führt zu der Theorie, dass Sprache und Bilder nicht ausreichen, um Grenzen einzureißen und Solidarität, Empathie-Fähigkeit aufzubauen, dies kann nur über Erfahrung und Begegnung geschehen.

4.

Von Zwischenräumen

»Jedes Lebewesen zieht um sich eine Grenze, um leben zu können.«52 Grenzziehungen sind demnach automatische Reaktionen eines Individuums auf die Welt. Grenzziehung ist dem Zitat nach sogar lebensnotwendig. Wie kann dieser Satz verstanden werden? Albert Schweitzer schrieb, dass der Mensch sich in einem Dilemma befinden würde – er will nicht töten und muss es doch tun, um zu überleben.53 Leben bedeutet so unweigerlich, sich in einer Spannung zu befinden und diese auszuhalten. Schweitzer betont, dass jegliches Sein als heilig empfunden und daher mit Ehrfurcht behandelt werden muss.54 Zwar ist das menschliche Überleben nicht vom Fleischkonsum abhängig, jedoch besteht eine Notwendigkeit darin, andere Nahrungsmittel zu wählen. Es findet also eine Grenzziehung statt, die in dem Sinne lebensnotwendig ist, als dass der Mensch etwas von dem heiligen Sein nehmen muss, um selber leben zu können. Grenzen sind auch dann von Bedeutung, wenn das eigene Leben durch Machtausübung, -missbrauch und Gewalt bedroht ist. Konstruierte Grenzen können demnach zum Selbstschutz dienen und lebensnotwendig sein. Dies kann und muss jedoch nicht für alle Grenzziehungen gelten. Dabei ist es wichtig, zu allererst zwischen biologischen und kulturellen bzw. geistigen Grenzen zu unterscheiden.55 Biologische Grenzen sind deutlich weniger leicht zu überschreiten als geistige. Man könnte sie auch als natürliche Grenzen bezeichnen, die unweigerlich die Mitwelt und Mitgeschöpfe voneinander abgrenzen. Körperformen, Lebensformen zu wechseln, ist zumindest zu Lebzeiten eher unwahrscheinlich. Der Mensch kann nicht durch Entscheidung zum Hund oder zur Blume werden, wohl aber nach seinem Tod zu einem Teil der Erde. »In diesem Sinne kann man von einer natürlichen ›Eigenexistenz‹ oder einem ›Eigenrecht‹ des Körpers – auch und gerade gegenüber den kulturellen Zuschreibungen und Zurichtungen – sprechen.«56 Im Bewusstsein wird also immer eine gewis-

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J. Rüsen: Kulturelle Identität in der Globalisierung, S. 49. Vgl. A. Schweitzer: Ehrfurcht vor den Tieren, S. 64f. Vgl. ebd. u.a. S. 64. »Geistige Verklammerung« – beides gehört zusammen und kann nicht gänzlich voneinander losgelöst betrachtet werden. Norbert Meuter und Oswald Schwemmer machen diese Verklammerung an den leiblichen Äußerungen deutlich, welche Emotionales Inneres anhand von Mimik und Gestik nach außen trägt. Die biologische Seite ist jedoch auch geprägt durch kulturelle Gepflogenheiten und wird durch diese mitbestimmt. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Ausdrucksregeln, die der Mensch in seinem Leben erlernt und was dazu führt, dass der »natürlichen Ausdruck gemäß kultureller Regeln« (N. Meuter/O. Schwemmer: Die expressive Existenz, S. 272) kontrolliert und bewusst eingesetzt wird. N. Meuter/O. Schwemmer: Die expressive Existenz, S. 270f.

Von natürlichen und konstruierten Grenzen

se Fremdheit und Grenze erhalten bleiben, die jedoch neben der Differenz auch eine Verwandtschaft erkennen kann – sei dies nur um desselben (biologischen) Schicksals. Kulturelle (oder auch geistig-gestaltete) Grenzen sind nun wiederum typisch menschliche Konstruktionen, die die Welt in Sinngebilde kategorisieren und dabei die komplette Lebenswelt eines Individuums umspannen. Grenzen finden sich in allen Lebensbereichen – auch in den religiösen Systemen. Der postkoloniale Theoretiker Homi Bhabha geht nun davon aus, dass diese Grenzen nicht fest, sondern variable sind. Durch kulturelle Kontakte, Beobachtungen oder einen direkten Austausch, entstehet ein »Dritter Raum«, welcher als Ort des Aushandelns gesehen wird. In diesem Zusammenhang spricht Bhabha auch von der Hybridität, welche kulturelle Übergänge, Übernahmen und Vermischungen bezeichnet und sich gegen die Vorstellung einer kulturellen Reinheit wendet.57 Nun wird gemeinhin der große Unterschied zwischen menschlicher und tierischer Existenz in dem Besitz von Kultur gesehen. Im vorher Dargestellten wurde bereits deutlich, dass die vermeintliche Kulturlosigkeit auch während des Kolonialismus als Beweggrund für eine Hierarchisierung zwischen den westlichen Menschen und allen anderen genutzt worden ist. Die Menschheitsfamilie wurde mehr noch in aufsteigenden Kulturklassen kategorisiert, die ihren evolutionären Fortschritt, ihren Entwicklungsstand markierten. Zwar wurden beginnend mit der Entkolonialisierung die »anderen Menschen« von dem Stempel der (kompletten) Kulturlosigkeit befreit, die Tiere jedoch nicht. Diese Art der Markierung von Rückständigkeit oder Minderwertigkeit wurde stattdessen konsequent auf die nichtmenschliche Welt übertragen und sogar wissenschaftlich als Legitimationsline verwendet, um dem Menschen seine Höherstellung innerhalb der Welt, der Schöpfung nicht zu bestreiten.58 Um nun Bhabhas Vorstellung von »Zwischenräumen« anwenden zu können, muss noch einmal betont werden, dass Grenzen überall konstruiert werden. Sie sind damit nicht nur an Kultur gebunden, sondern gehen über diese hinaus. In der Begegnung mit dem Anderen, müssten sich demnach immer Räume der Aushandlung – bewusst und unbewusst, aktiv und passiv – entwickeln, welche der Verständigung, aber auch Abgrenzung dienen. Aussagen, welche dem nichtmenschlichen Leben Kultur absprechen und dies als konsequente Trennlinie zwischen dem Menschen und dem Rest ziehen, können als abgrenzende Ergebnisse solcher Zwischenräume verstanden werden. Die Aushandlung innerhalb der Zwischenräume beschäftigt sich demzufolge immer mit der Frage nach Inklusion und Exklusion. »Zugehörigkeit ist hier Ausschluss von Anderen durch Höherbewertung des Eigenen.«59 Weiter geht der Ansatz von Bhabha davon aus, dass Kulturen »hybride Gebilde [sind; J.J], welche erst durch lebensweltliche Praktiken, kollektive Erinnerungen und ständige Erzählungen zu nationalen Kulturen verdichtet«60 werden. Dasselbe gilt für alle Formen

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Vgl. dazu u.a. H. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Dies geschieht unter anderem auch in dem Aufsatz von N. Meuter/O. Schwemmer: Die expressive Existenz. J. Rüsen: Kulturelle Identität in der Globalisierung, S. 50. S. De La Rosa: Aneignung und interkulturelle Repräsentation, S. 15.

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der Konstruktionen. Die Vorstellung vom Orient, welche von der Fremd- zur Selbstbeschreibung geworden ist, kann als Beispiel einer solchen Verinnerlichung von Erzählungen angesehen werden. Betrachtet man auf diese Weise die Vorstellungen von der Welt und ihren Bewohnern, kann auch hier davon ausgegangen werden, dass vieles, was als gesichertes Wissen, als verdichtete Wahrheit angesehen wird, eigentlich ein Produkt von jahrhundertelangen Vorstellungswelten ist. Demnach müsste das Verhältnis vom Menschen zur Mitwelt und den Mitgeschöpfen ebenfalls auf diese Weise hinterfragt werden. Die Chance, welche sich in diesem Modell verbirgt, ist die Dynamik und Wandelbarkeit innerhalb von scheinbar festgelegten Denkmustern und Weltbildern. Durch »kreative Selbst- und Weltbeschreibungen der Menschen«61 kann sich die Konstruktion – sei es jene von einer speziellen Kultur oder die vom Menschen als Beherrschern der Welt – verändern. Mit Blick auf die Abgrenzung von und die Deklarierung der Mitgeschöpfe als die absoluten Anderen, geht es um mehr als einen Wandel, vielmehr um eine Dekonstruktion. Diese Dekonstruktion wird dann im besten Fall einen – anhaltenden – Wandel hervorrufen. »Natürlich ist Dekonstruktion – wie der Kampf gegen den Verfall des eigenen Körpers – in letzter Konsequenz zum Scheitern verurteilt, dennoch wäre es absurd, ungeduscht und mit schlecht geputzten Zähnen in die Straßenbahn zu steigen bzw. ohne weiteres Nachdenken eurozentrische und androzentrische Denkmuster stehen zu lassen.«62 Dass ein Wandel innerhalb von Denkmustern nicht linear verläuft, sondern auch Rückwärtsbewegungen kennt, wird an einem Beispiel sehr gut deutlich: Der Taube. Kaum eine Kathedrale mit aufwendigen Bildmotiven auf den Fenstern enthält sie nicht – als Friedenssymbol und Zeichen für den Heiligen Geist.63 Die Taube hat einen besonderen Platz innerhalb der biblischen Schrift und der christlichen Tradition. Gleichzeitig gilt sie als dreckig, unrein, als Ungeziefer und wird mit Netzen und Spikes auch von Kirchen vergrämt. Das einstige Symbol für den Frieden wurde zum ungeliebten Kirchengast. Die Leonhardskirche in Stuttgart beschreitet seit 2009 einen Sonderweg: Hier erhält das gefiederte Mitgeschöpf ein Heim. Durch tierschutzgerechte Maßnahmen wird die Taubenpopulation eingedämmt und gleichzeitig wird den Tieren durch Futter, Trinken, Schlaf- und Wohnplätze geholfen.64 Übernommen haben dieses Modell (das sog. Augsburger Modell/Konzept) jedoch die wenigsten Kirchen – hier gilt weiterhin: Frieden ja, aber nicht mit der Taube. »Jetzt ist die Grenze der menschlichen Art erreicht und wird, vor allem in Bezug auf ihre moralische Bedeutung, hinterfragt und sogar überschritten. Die Diskussion kreist nun um Zoos und Zirkusse, Bio-Industrie und Tierexperimente.«65 Dass das Wir

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Ebd., S. 15f. M. Nandi: Sprachgewalt, S. 129f. Vgl. das Friedenssymbol durch Gen 8,10-11 und der Heilige Geist durch Mk 1,10. Vgl. dazu K.-P. Koch/Evangelische Landeskirche in Württemberg (Hg.): Hilfe für gefiederte Kirchgänger, S. 39 [Online-Dok.]. Kurioserweise werden ein ganzes Kapitel vor der Beschreibung der Taubenschläge, verschiedenste Vergrämungsmethoden (u.a. auch die oftmals tödlichen Spikes) vorgestellt, die alle dem Zweck dienen, die Tauben »draußen zu behalten«. R. Corbey: Ethnografische Schaukästen, S. 124.

Von natürlichen und konstruierten Grenzen

nur langsam und nicht linear eine Erweiterung erfährt, wurde soeben an dem Beispiel der Friedenstaube gezeigt. Aber auch die sogenannte Flüchtlingskrise, in welcher Europa sich regelrecht gegen die vermeintlich Anderen abschottet(e), oder die Covid19-Pandemie, welche durch Corona-Partys bewies, dass Solidarität mit Risikogruppen teilweise nicht stattfand, zeigt, dass Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen Teil des Prozesses der Aushandlung mit der Mitwelt sind. Dennoch verfolgt dieser Artikel den Gedanken, dass das Genesis-Kollektiv zu seiner Verbundenheit – zumindest punktuell – zurückfinden kann. Der Dritte Raum oder auch die Zwischenräume, von denen Bhabha spricht, sind Metaphern für ein Zusammentreffen zwischen dem konstruierten Anderen und den »Herrschenden« an den konstruierten Grenzen. Diese sogenannten Räume entstehen dabei bewusst und unbewusst. Sobald eine Begegnung mit einem zweiten Akteur erfolgt, entsteht der dritte Raum, sodass der Prozess der Aushandlung kontinuierlich stattfindet. Dieser Raum kann jedoch auch ignoriert oder so unbewusst entstehen, dass er nicht wahrgenommen wird. Dies geschieht besonders dann, wenn es sich um Begegnungen mit den »Stumm-« und den »Unsichtbargemachten« handelt – also vor allem in Natur- und Tierbegegnungen. Unbewusste Kontakte, wie der Transport einer Spinne, die sich bei der Radtour auf dem Fahrrad niederlässt und infolgedessen mehrere Kilometer denselben Weg beschreitet, lassen den Zwischenraum zwar entstehen, sorgen jedoch für keine bewusste Interaktion und damit aktive Begegnung. Für den Diskurs mit Blick auf die Mitwelt und Mitgeschöpfe wäre demnach bedeutsam, diese Begegnungen in den Zwischenräumen aus dem Passiven ins Aktive, aus dem Unbewussten ins Bewusste zu holen. Dieser Weg darf freilich nicht über unfreiwillige Begegnungen führen, da dies dann – wie bei dem Beispiel des Zoos – keine zielführende Auseinandersetzung mit sich bringen würde. Es müssten demnach Wege gefunden werden, um Begegnungen möglich zu machen, die hierarchielos oder zumindest in gegenseitiger Freiwilligkeit vonstattengehen. Vorstellbar wäre die Teilnahme an Projekten wie jenem des Butenland Hofs66 oder auch der Besuch von Schutzgebieten, wie jenen der HeinzSielmann-Stiftung.67 Aber auch der Versuch bereits Kleinkinder in eine Interaktion mit der Mitwelt und den Mitgeschöpfen einzuüben, könnte ein lohnender Weg sein. Dies könnte über das Bauen und Beobachten von Insektenhotels und Vogelhäuser oder auch das Anlegen von kleinen Gemüsegärten in Kindergärten funktionieren. Auch hier würde es sich zwar um konstruierte Begegnungen handeln, jedoch auf eine Art und Weise, die ohne Zwang und in freier Entscheidung vonstattengeht. In diesen Zwischenräumen könnten die Kinder so frühzeitig lernen, dass viele Grenzen nur dort existieren, wo der Mensch sie stehen lässt. Für die christlichen Lehren bietet sich der Rückgriff auf theologische Grundannahmen von Wonhee Ann Joh, Johann Baptist Metz, Albert Schweitzer oder auch Dorothee Sölle an, um einen Zugang und eine tiefere Verbindung zu dem Thema herstellen zu

66 67

Vgl. dazu u.a. Stiftung für Tierschutz: Kuhaltersheim Hof Butenland [Online-Dok.]; vgl. ebenfalls: M. Pierschel: BUTENLAND [Film]. Vgl. dazu u.a. Heinz-Sielmann-Stiftung: Herbigshagen [Online-Dok.]; vgl. dies.: Bodensee [OnlineDok.]; vgl. dies.: Döberitzer Heide [Online-Dok.].

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können. Allen exemplarischen Theologen ist gemein, dass sie das Leid und die aktive Bekämpfung von diesem im Fokus des Christentums sehen. Für Joh ist das Bedeutende am Christentum die Erinnerung an den Gekreuzigten, aber auch an die Verwandten, Freunde und Zuschauenden, die Traumata durch die Kreuzigung erlitten. Das Kreuz steht symbolisch für das Leid – nicht nur von Jesus. Sondern für das Leid durch Unterdrückung, Folter, durch Verneinung oder Zuschreibung von Andersartigkeit zum Zwecke der eigenen Höherstellung. Dabei ist es unabhängig von der Klasse, Rasse oder sonstiger Form – wenn Leben durch Hierarchien und Machtmissbrauch leidet, dann ist das Kreuz Jesu für Joh präsent und dient als Korrektiv.68 Die Theologen betonen stets die Nachfolge Jesu, welche eben nicht darin bestand zu Vertrösten und den Blick von den Ungerechtigkeiten wegzulenken, sondern diese wahrzunehmen, die Neutralität zu brechen, die Unsichtbaren sichtbar 69 , die Stummgemachten wieder sprachfähig zu machen und sich aktiv mit jenen auseinanderzusetzen, in Verbindung zu setzen, die aus dem Kollektiv ausgestoßen worden sind. Schlussendlich können die bewussten Begegnungen in den Zwischenräumen gewiss nicht alle Grenzen aufbrechen, aber sie vielleicht Stück für Stück verschieben bis die Anderen zu Bekannten, Freunden, Verwandten geworden sind, deren Leid das Eigene wird und deren Leben vom selben Wert ist.

5.

Resümee

Der postkoloniale Blick auf die Mitgeschöpfe bietet einen Zugang, der die Merkmale von Herrschaft und Unterdrückung offenlegt. Mit Hilfe von Said, Spivak und Bhabha konnte aufgezeigt werden, dass die postkolonialen Theorien nicht nur auf das menschliche, sondern auch auf das nichtmenschliche Leben übertragbar sind. Vergleicht man die Definition der Funktionsweise von Rassismus, wie Glokal e.V. sie in der Broschüre »Mit kolonialen Grüßen …« vornimmt, nämlich durch Grenzziehung, Subjekte zu Objekten degradieren und wertende Gegenüberstellungen70 , wird noch einmal verdeutlicht, welche Parallele zwischen Rassismus und Speziesismus existiert. Das Vorausgegangene hat gezeigt, dass den Tieren wie auch der Natur Gleiches widerfährt – der Mensch konstruiert(e) Grenzen zwischen sich und allem Nichtmenschlichen, spricht ihnen den Subjektcharakter ab und macht sie zu dem exemplarisch Anderen, welches in positiv-negativ-Zuschreibungen gipfelt. Die Konstruktionen von »Wir« und »Ihr« gehen über das Zwischenmenschliche hinaus und sorgen für eine tiefe Kluft zwischen Menschen, Mitgeschöpfen und Mitwelt(en). Die Theologie, wie auch die postkolonialen Studien müssen sich fragen, wie anthropozentrisch sie aufgebaut sind und welchen Konstruktionen von Macht und Herrschaft sie eigentlich selber folgen. Wenn die Theologie dabei aus den Augen verliert, dass eigentlich Gott das unbeschreiblich Höchste des Christentums ist, gerät der Mensch ins Zentrum der Welt und die Mitgeschöpfe und Mitwelt verlieren sich ins Unbekannte, 68 69 70

Vgl. dazu W. A. Joh: Trauer und Anspruch auf Trauer, S. 161-170. Vgl. dazu die drei Ebenen des Kreuzes bei D. Sölle: Kreuz und Klassenkampf, S. 58-65. Vgl. Glokal e.V. (Hg.): Mit kolonialen Grüßen, S. 15-17 [Online-Dok.].

Von natürlichen und konstruierten Grenzen

gar Ungewollte. Wenn die postkolonialen Studien sich zwar mit dem Kolonialismus als einen Ausdruck eines zeitenüberdauernden Herrschaftsverhaltens auseinandersetzen, aber die Unterdrückung der Mitwelt und Mitgeschöpfe ausklammern, werden sie zu Opfern des Konstruktivismus, den sie zu bekämpfen und zu dekonstruieren suchen. Für die beiden Forschungsdisziplinen ist es daher bedeutsam, dass das Kollektiv der Schöpfungsgemeinschaft in den Vordergrund rückt. Es wäre wünschenswert, wenn weitere, detailliertere Abhandlungen mit einem postkolonialen Blick auf die Tierwelt folgen würden, die interdisziplinär aufgebaut, kritisch nach negativer Machtausübung und Herrschaft fragen und die Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen Rassismus und Speziesismus herausstellen. Absicht sollte dabei nicht nur sein, konsequent nach Motiven, Ausdrucksformen und Lösungen für die Unterdrückung von Leben ausschauzuhalten, sondern auch die Verwandtschaft und Nähe zwischen Mensch und Tier wiederzuentdecken. Diese Ähnlichkeit und Verbundenheit zu suchen, zu finden und darzustellen, sollte Ziel einer jeden zukunftsorientierten Wissenschaft sein.

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Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung? Christian Arleth Für den Leser1 des vorliegenden Sammelbandes ist die in der Überschrift gestellte Frage kein Novum mehr. Im Alten Testament werden Tiere rituell auf dem Altar geopfert durch Noah (Genesis 8,20f.) und Abraham (Genesis 22,13), die Tieropfer in der griechischen und römischen Antike an Rindern, Schweinen, Hunden, Vögeln, Schafen etc., waren Ausfluss polytheistischer Opferreligionen, denen die Vorstellung zugrunde lag, die Gunst der Götter bewahren zu müssen um vor ihrem Zorn geschützt zu sein; und auch im 21. Jahrhundert finden in einigen südamerikanischen Andenregionen als Teil der Inka-Religion sowie in manchen hinduistischen Strömungen Indiens und Nepals immer noch rituelle Opferungen von Tieren statt. Trotz der Historie und weltweiten konfessionsübergreifenden Verbreitung des Phänomens stellen bereits weniger aufmerksamkeitserregende Berührungspunkte religiöser Verhaltensweisen mit Rechten Dritter sowie staatlichen Neutralitätspflichten regelmäßig Bewährungsproben für Gesellschaften, Parlamente und Gerichte weltweit dar. Das liegt maßgeblich an der Mannigfaltigkeit gelebter religiöser Überzeugungen, der religiösen Pluralisierung von Gesellschaften in einer globalisierten Welt und der Komplexität multipolarer Rechtsabwägungsprozesse in freiheitlichen Rechtsordnungen, die darauf bedacht sind, konfligierende Rechte möglichst freiheitsschonend, einzelfallgerecht und an den Prinzipien religiöser und weltanschaulicher Neutralität und Parität orientiert zu entfalten. Bekannt gewordene und kontrovers diskutierte Rechtsfälle im Bereich des Tragens religiöser Symbole in der Öffentlichkeit oder in Staatsberufen (die je nach Konfession zumindest von deutschen Gerichten erstaunlicherweise unterschiedlich entschieden werden), religiöse Symbole in Klassenzimmern und Gerichtssälen oder die Frage nach rechtsrelevanten Unterschieden des überall zulässigen Glockengeläuts gegenüber dem nur ausnahmsweise zulässigen Ruf des Muezzins können hierfür als Beispiele dienen.

1

Mit Nennung der männlichen Form ist in diesem Beitrag, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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Christian Arleth

»Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon«2 , fragt Margarete den Protagonisten von J. W. Goethes Faust, der mit Gegenfragen ausweichend antwortet und die Fragestellerin damit nicht von sich überzeugen kann. Eine freiheitlich-demokratische Rechtsordnung, die den angedeuteten Herausforderungen religiöser Pluralisierung und partieller Fundamentalisierung gewachsen sein und gleichermaßen Rechtssicherheit wie Rechtsfrieden stiften will, kann sich Ausflüchte in rechts- und religionspolitischen Gretchenfragen noch weniger leisten als Faust. Eine dieser Gretchenfragen ist der Umgang mit religiös motivierter Gewalt gegenüber (nichtmenschlichen) Tieren. Eine Analyse der diesbezüglichen Rechtslage in Deutschland ist der Schwerpunkt des folgenden Beitrags. Zunächst sollen einige schlaglichtartige Beispiele religiös motivierter Gewalt an Tieren aus hinduistisch geprägten Gegenden Nepals und Indiens aufzeigen, welch verstörende Phänotypen das Thema mitunter annehmen kann und wie schwierig sich Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung bisweilen darstellen können (1). Ein weiteres Beispiel stellt das von Teilen jüdischer und muslimischer Glaubensangehöriger religiös für geboten erachtete weitgehend vollständig betäubungslose Schlachten von Tieren zum anschließenden Verzehr dar (Schächten), welches teilweise auch in europäischen Breitengraden praktiziert wird3 und deshalb im Fokus der folgenden Analyse steht. Dabei wird die Rechtslage zunächst ausgehend von ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung in der Staatszielbestimmung zum Tierschutz in Art. 20a GG erläutert und deren untrennbarer Zusammenhang mit dem konkret untersuchten Fallbeispiel des Schächtens dargestellt (2.1.). Anschließend wird auf die Aussagen des Tierschutzgesetzes zu diesem Gegenstand eingegangen (2.2.1.), die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungs- und Bundesverfassungsgerichts kritisch untersucht und mit der Frage konfrontiert, ob die Ausübung von Gewalt sowie Verletzungen des allgemeinen Rechtsgrundsatzes des »ordre public« in den Schutzbereich eines Grundrechts fallendes Verhalten darstellen können (2.2.2.). Unter den abzulehnenden Prämissen der Rechtsprechung wird gleichwohl weitergeprüft, ob und ggf. unter welchen Auflagen Schächten in Deutschland gegenwärtig überhaupt noch legal möglich sein kann (2.2.3. und 2.2.4.). Ein Exkurs zu europarechtlichen Implikationen und grundlegenden neuen Aussagen des Europäischen Gerichtshofs zum Schächten vom 17.12.2020 (3.) leitet über zum Resümee (4.).

2 3

J. W. Goethe: Faust, Vers 3415. Erlaubt in Spanien, Frankreich, Großbritannien, Irland; verboten in Polen, Liechtenstein, Island, Norwegen, Dänemark; ebenfalls grundsätzlich verboten aber zumindest mit Ausnahmegenehmigung weiterhin praktiziert in Deutschland und Schweden; weiterführend auch zum österreichischen Sonderweg des »post-cut-stunnig« vgl. M. Karremann/A. Rabitsch: Tiertransporte – Endstation Schlachthof, S. 212f.

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?

1.

Hinduistische Schlaglichter aus Indien und Nepal

In den indischen Bundesstaaten Tamil Nadu und Maharashtra fanden lange Zeit Bullenrennen wie das berühmte Jallikattu statt, welche neben Tradition, Unterhaltung und Wirtschaftsförderung auch als Teil der Erntedankfeierlichkeiten zu Ehren des hinduistischen Sonnengottes ausgewiesen wurden. Gewinner ist, wer ein in eine Menschenmasse entlassenes Tier an den Hörnern zu Boden zwingt oder eine Fahne von selbigen löst. Vor Beginn der Rennen werden die Tiere durch ätzende Flüssigkeiten in den Augen, Reißen an Seilen, die durch die Nase führen, das Zerren am Schwanz und das Einflößen von Alkohol aggressiv gemacht. In weiteren Wettrennen, in denen Ochsen vor Kart-Wägen gespannt werden, auf denen sich Treiber befinden, werden die Tiere mit Stöcken, die mit spitzen Nadeln versehen sind, angetrieben. Nach einer Klage des Animal Welfare Board of India, einem Beratungsgremium der indischen Regierung, sprach das höchste indische Bundesgericht, der Supreme Court, am 07.05.2014 in einem bemerkenswerten Urteil ein Verbot der Rennen wegen Verstoßes gegen den indischen Prevention of Cruelty to Animals Act aus.4 Das Gericht stellte dabei auch die Religionsfreiheit in seine Abwägung ein.5 Auch wenn die Veranstalter nach wie vor politisch gegen das Verbot vorzugehen versuchen und die Durchsetzung des Urteils sich zu Beginn auf bloße Bußgelder im Nachgang der Rennen beschränkte, gelingt es der indischen Polizei mittlerweile, das Verbot durch kreative Vollzugsmaßnahmen wie das Graben von Gräben auf den Rennpisten in der Nacht vor den Veranstaltungen mit mehr Verve durchzusetzen.6 Im südnepalesischen Bariyarpur findet seit ca. 265 Jahren alle fünf Jahre das weltweit wohl größte und aufsehenerregendste Opferfest Gadhimai zu Ehren der gleichnamigen Hindu-Göttin der Macht statt. Tausende Gläubige transportieren tausende Tiere7 auf ein gegen Blicke von außen durch Mauern geschütztes Areal im Tempelbezirk8 und lassen diese dort von zahlreichen Schlachtern enthaupten.9 Im Jahr 2009

4

5 6 7

8

9

Vgl. Supreme Court of India, Urt. v. 07.05.2014, Animal Welfare Board of India vs. A. Nagaraja & Ors; weiterführend zu den Stärken und Schwächen des Judizes der Vortrag von C. Arleth auf der 3. PETA-Tierrechtskonferenz vom 01.11.2019: Für die Rechte der Tiere vor Gericht, ab 15:25 [OnlineDok.]. Vgl. ebd., Rn. 2, 60, 74. Vgl. Exemplarisch V. Chavan: Spoke in wheels of bullock [Online-Dok.]. Ratten, Tauben, Hühner, Schweine, Ziegen und vornehmlich Wasserbüffel, die nach Auffassung der Gadhimai-Befürworter nicht denselben religiösen Schutz genießen wie andere Rinder im Hinduismus. Journalisten und Tierrechtsaktivisten gelangen bei den vergangenen Opferfesten trotz Mauer zahlreiche verstörende Bildaufnahmen (teils per Drohne), die teilweise unter den im Folgenden zitierten Presseartikeln publiziert wurden bzw. auch in Videos wie diesem eingesehen werden können – vgl. Animal Equality e.V.: Massaker beenden: Gadhimai 2019 [Online-Dok.]. Beim letzten Gadhimai-Opferfest ab dem 03.12.2019 töteten zwischen 50 und 200 Schlachter wieder zahlreiche Tiere, darunter mindestens 3200 Wasserbüffel, vgl. Recherche unter Link ebd.; 2014 belief sich die Zahl noch auf zwischen 30.000 und 200.000 Tiere, 2009 auf ca. 500.000 Tiere. Vgl. weiterführende Recherche unter Link ebd., sowie B. Sharma: Nepal’s Animal-Sacrifice Festival Slays On [Online-Dok.]; vgl. ebenfalls S. Panday: Mass animal sacrifice [Online-Dok.].

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Christian Arleth

wurde noch eine Rekordzahl von ca. 500.000 getöteten Tieren gezählt. Für 2014 divergieren die Angaben zwischen 30.000 und 200.000. 2019 wurden immer noch zahlreiche Kleintiere, aber auch mindestens 3200 Wasserbüffel getötet.10 Das Ritual dauert mehrere Tage, in deren Verlauf die Gläubigen anreisen, verweilen, einen Blick durch ein Loch in der Mauer auf das Schlachtfeld erhaschen und dabei bezeugen, wie tausende Tiere enthauptet werden.11 Es fand letztmals in den Tagen ab dem 03.12.2019 statt, obwohl bereits im Oktober 2014 der Supreme Court von Indien den Transport von Tieren von Indien zum nepalesischen Schlachtort verboten hatte12 sowie im August 2016 der Supreme Court von Nepal die nepalesische Regierung dazu verurteilt hatte, die Voraussetzungen für ein Verbot des Opferfestes zu schaffen.13 Bereits 2019 wurde jedoch in den Medien von deutlich häufigeren und strengeren Grenz- und Transportkontrollen durch die indische Polizei berichtet. Es besteht daher die begründete Hoffnung, dass jedenfalls das quantitative Ausmaß des Tötens weiterhin spürbar zurückgehen wird, wie sich dies bereits seit 2009 abzeichnet.

2. 2.1

Rechtslage in Deutschland »Ordre public« und Usurpierung staatlichen Gewaltmonopols Tierschutz als Staatsziel in Art. 20a Grundgesetz

Artikel 20a des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland lautet: »Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.«14 Damit ergeben sich bereits aus der klaren textlichen Fassung mehrere für das Verständnis der Tragweite der Vorschrift wesentliche Befunde: Adressat ist der Staat in Ausprägung aller seiner drei Gewalten selbst – der Verfassungsgesetzgeber unterwirft damit jedes staatliche Handeln der Maxime des Schutzes der Tiere. Er tut dies zwar »auch« in Verantwortung für die künftigen Generationen, damit aber – argumentum e contrario – nicht nur deshalb. Schließlich findet der an den Gesetzgeber gerichtete Schutzauftrag eine Grenze »im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung«.

10

11 12

13 14

Weiterführende Recherche unter https://animalequality.de/kampagnen/gadhimai; vgl. B. Sharma: Nepal’s Animal-Sacrifice Festival Slays On [Online-Dok.], vgl. ebenfalls S. Panday: Mass animal sacrifice [Online-Dok]. Vgl. ebd. Vgl. Humane Society International: Supreme Court of India Intervenes to Save Thousands of Animals from Nepal’s Brutal Gadhimai Festival Sacrifice; S. Panday: Mass animal sacrifice [OnlineDok.]. Vgl. R. S. Samiti: Supreme Court directs govt to ›control‹ Gadhimai sacrifice [Online-Dok.]; vgl. S. Panday: Mass animal sacrifice [Online-Dok.]. Hervorhebung durch den Bearbeiter.

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?

Bevor diese sogenannte Staatszielbestimmung als verfassungsrechtliches Werkzeug knapp eingeordnet und ihr Gewährleistungsgehalt erläutert werden soll, wird zunächst eine Besonderheit in der Entstehungsgeschichte der vorliegend behandelten Verfassungsbestimmung vorangestellt: Es entspricht verfassungspolitischer Realität, dass bereits das zur Einführung des Staatsziels in das Grundgesetz erforderliche Erreichen der parlamentarischen Zwei-Drittel-Mehrheit eng mit dem vorliegend behandelten Topos religiös motivierter Gewalt an nichtmenschlichen Tieren verbunden war. Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz: unmittelbare Folge religiöser Gewalt an Tieren Art. 20a Grundgesetz gilt hinsichtlich des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen bereits seit 15.11.1994 und wurde mit Wirkung zum 01.08.2002 um die Worte »und die Tiere« ergänzt. Hierfür hatte es mehrerer Anläufe bedurft. Obwohl die eigenständige Erwähnung der Tiere bereits 1994 im Zuge der Einführung des Umweltschutzartikels 20a in das zu reformierende Grundgesetz von den Fraktionen der SPD und der FDP vorgeschlagen worden war, fand dies bei der Abstimmung im Bundestag am 30.06.1994 keine Mehrheit. Die darauffolgende 13. Legislaturperiode verging trotz vier entsprechender Gesetzesanträge der Oppositionsparteien SPD, Bündnis 90/DIE GRÜNEN, PDS sowie des Bundesrats nach einer Sachverständigenanhörung am 01.04.1998 ohne Abstimmung im Plenum. Trotz eines gemeinsamen Gesetzentwurfs der rot-grünen Regierungsfraktionen der 14. Legislaturperiode zusammen mit der FDP fand auch dieser aufgrund der Ablehnung einer Mehrheit der Unionsabgeordneten am 13.04.2000 nicht die zur Grundgesetzänderung nötige qualifizierte Mehrheit. Erst ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15.01.2002 ebnete den Weg für eine Verfassungsänderung.15 Im konkreten Fall entschied das Gericht, dass ein in Deutschland tätiger muslimischer Metzger durch die behördliche (und verwaltungsgerichtlich bestätigte) Verweigerung einer Ausnahmegenehmigung zum betäubungslosen Schlachten warmblütiger Tiere in Grundrechten verletzt wird, hob die angegriffenen Rechtsakte auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück an das Ausgangsgericht.16 Dabei machte das Bundesverfassungsgericht auch deutlich, dass es für eine tierschutzfreundlichere Entscheidung eine ausdrückliche Berücksichtigung des Tierschutzes auf Ebene des Verfassungsrechts für erforderlich hielt: »Ohne eine derartige Ausnahme würden die Grundrechte derjenigen, die betäubungslose Schlachtungen berufsmäßig vornehmen wollen, unzumutbar beschränkt, und den Belangen des Tierschutzes wäre ohne zureichende verfassungsrechtliche Rechtfertigung einseitig der Vorrang eingeräumt.«17

15

16 17

Vgl. zur ganzen rechtshistorischen Entwicklung mit weiteren Nachweisen A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, Art. 20a GG Rn. 1f., S. 70; vgl. H.-G. Kluge: Schächten als Testfall des Staatszieles Tierschutz, S. 650. Vgl. BVerfG, Urt. v. 15.01.2002, Az. 1 BVR 1783/99. BVerfG, Urt. v. 15.01.2002, Az. 1 BVR 1783/99, Rn. 49, Hervorhebung durch den Bearbeiter.

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Christian Arleth

Die noch fehlende verfassungsrechtliche Verankerung des Tierschutzes hatte am 18.06.1997 auch bereits das Bundesverwaltungsgericht angesprochen. Im Zuge dieses Verfahrens, in dem eine Studierende unter Berufung auf ihre Gewissensfreiheit von Tierversuchen im Rahmen des Biologiestudiums freigestellt werden wollte, attestierte das Gericht, der Tierschutz sei »nicht als eine mit der Lehrfreiheit kollidierende Grundrechtsnorm in die Lösung des verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnisses einzubeziehen«18 . Dennoch gab erst die zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den Ausschlag19 zugunsten eines fraktionsübergreifenden Gesetzesvorschlags20 , der am 17.05.2002 mit der großen Mehrheit der Stimmen aus allen Fraktionen des Bundestags angenommen wurde: 543 Ja-Stimmen gegen nur 19 Nein-Stimmen, wobei das nötige Quorum von Zwei-Dritteln bereits bei 444 Ja-Stimmen erreicht gewesen wäre. Somit stimmten unter anderem weit mehr Abgeordnete der Unionsfraktion für die Einführung des Tierschutzes als Staatsziel ins Grundgesetz als die erforderlichen 23. Die zuvor nur von Verwaltungsgerichten ausgeurteilte Frage der Zulässigkeit des rituellen Schlachtens brachte durch die die mangelnde verfassungsrechtliche Verankerung des Tierschutzes diagnostizierende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur eine neue Dynamik in die Aufwertung des Tierschutzes zum Staatsziel und Verfassungsgut; sie sorgte wie gezeigt zugleich für eine überraschend deutliche Abstimmungsmehrheit, die nicht zuletzt auf den politischen Impetus der konservativen Parteien zurückzuführen war, ein Zeichen gegen kulturelle Einflüsse durch Muslime in Deutschland zu setzen.21 Charakter und Gehalt der Staatszielbestimmung zum Tierschutz Eine Staatszielbestimmung ist eine auf Ebene der Verfassung verankerte, anderen Verfassungsgütern prinzipiell gleichrangige Grundgesetzesbestimmung22 , welche allem staatlichen Handeln die Berücksichtigung und Optimierung23 eines bestimmten sachlichen Ziels zur Aufgabe macht. Es handelt sich nicht um eine bloße Absichtsbekundung oder einen bloßen Programmsatz, sondern um eine rechtsverbindliche Verpflichtung an Bundes- wie Landesgesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung.24 Die Staatszielbestimmung ist damit in der Lage, den Schutz von Grundrechten wie der Berufs- oder allgemeinen Handlungsfreiheit sowie selbst vorbehaltlos gewährleisteten und damit von der Verfassung bereits abstrakt als besonders gewichtig angesehenen Grundrechten wie der Religions- oder der Forschungsfreiheit zu beschränken.25 Einen generellen, 18 19 20 21 22 23 24 25

BVerwG, Urt. v. 18.06.1997, Az. 6 C 5/96 = NVwZ 1998, 853, 855. Vgl. auch die Darstellung bei H.-G. Kluge: Staatsziel Tierschutz, S. 11. Vgl. Gesetzentwurf vom 23.04.2002, Bundestags-Drs. 14/8860. Vgl. T. Cirsovius: Überdimensionaler Grundrechtsschutz zugunsten des islamischen Fundamentalismus?, S. 238. Vgl. weiterführend A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, Art. 20a GG Rn. 8, S. 73; dies verkennend BayVGH, Urt. v. 22.07.2011, Az. 9 BV 09.2892, Rn. 31. Vgl. weiterführend ebd., Art. 20a GG Rn. 12, S. 15ff., S. 76ff. Vgl. weiterführend ebd., Art. 20a GG Rn. 5, S. 72. Vgl. ebd., Art. 20a GG Rn. 9, S. 74; H. Schulze-Fielitz: Dreier Grundgesetz-Kommentar, Art. 20a GG Rn., S. 87f.

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?

abstrakten Vorrang gibt es weder zugunsten der einen noch zugunsten der anderen Seite. In der Begründung zur Einführung der Staatszielbestimmung zum Tierschutz gibt der Gesetzgeber Aufschluss über seine Motive und Intentionen. Sowohl im Rahmen der Problembeschreibung als auch im eigentlichen Begründungsteil hebt er das »Gebot eines sittlich verantworteten Umgangs des Menschen mit den Tieren«26 bzw. singularisch »mit dem Tier«27 exponiert hervor. »Die Leidens- und Empfindungsfähigkeit insbesondere von höher entwickelten Tieren«28 erfordere »ein ethisches Mindestmaß für das menschliche Verhalten«29 , aus dem die Verpflichtung folge, »Tiere in ihrer Mitgeschöpflichkeit zu achten«30 . »Ethischem Tierschutz« werde »heute ein hoher Stellenwert beigemessen«31 . »Entscheidungen verschiedener Gerichte« ließen bereits »die Tendenz in der Rechtsprechung erkennen, diesem Bewusstseinswandel bei der Verfassungsauslegung Rechnung zu tragen. Die Rechtsprechung« könne »dies aber angemessen nur nachvollziehen, wenn der Gesetzgeber den Tierschutz ausdrücklich in das Gefüge des Grundgesetzes«32 einbeziehe. Dies diene auch der Rechtssicherheit. Schließlich genössen Tiere gar einen »Anspruch«33 zumindest auf Schutz vor »vermeidbaren«34 Leiden, Schäden oder Schmerzen und zwar – auch dies hebt der Gesetzgeber in dem kurzen Text explizit drei Mal hervor – jedes »einzelne«35 Tier. Der Verfassungsgesetzgeber wollte damit unmissverständlich neben dem ebenfalls in Art. 20a GG enthaltenen Schutzgut der »natürlichen Lebensgrundlagen« sowie dem ebenfalls vom Tierschutz intendierten kollektivistischen Schutzmoment von Tieren »als Gattung«36 einen aus ethischen Motiven abgeleiteten Schutz von Individuen geregelt und als Umsetzungsauftrag an jedes staatliche Handeln verstanden wissen. Nach bald zwei Jahrzehnten Geltung der Staatszielbestimmung ist schonungslos zu konstatieren, dass alle drei verpflichteten staatlichen Gewalten in umfassender und im negativen Sinne beeindruckender Weise in ihren Aufgaben zur Berücksichtigung und Verbesserung des Tierschutzes versagt haben, ja zum Teil sogar durch blamable, da offenkundige Rückschritte in rechtsstaatlich unwürdiger Weise dagegen verstoßen und damit nicht nur Lebewesen verletzt, sondern auch Verfassungsrecht gebrochen haben.37 Wie im Folgenden noch gezeigt werden wird, trifft dies auch auf die zum 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37

Gesetzentwurf vom 23.04.2002, Bundestags-Drs. 14/8860, S. 1 – Hervorhebung durch den Bearbeiter. Ebd., S. 3 – Hervorhebung durch den Bearbeiter. Ebd., S. 1, 3. Ebd., S. 1 (mit Zusatz: »dringend«), S. 3. Ebd., S. 3 – Hervorhebung durch den Bearbeiter. Ebd. Ebd. Ebd., S. 1. Ebd., S. 1, 3. Ebd., S. 1, 3. Ebd., S. 3. Vgl. weiterführend D. Bruhn/B. Felde/C. Maisack: Bilanz des Staatsziels Tierschutz, S. 106ff.; konkret anhand des Beispiels der verfassungswidrigen Verlängerung der Praxis der betäubungslosen Kastration männlicher Ferkel vgl. C. Ziehm: Tiere als Rechtspersonen, S. 115ff., mit weiteren Nachweisen insbesondere auf die Rechtsgutachten von Jens Bülte sowie Anne Peters/Julian Arnold.

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Christian Arleth

Teil haarsträubenden Entscheidungen deutscher Gerichte zur Frage der Zulässigkeit betäubungslosen Schlachtens nach Einführung des Staatsziels zu.

2.2

Schächten als rechtswissenschaftliches und rechtspolitisches Brennglas

Voranzustellen ist, dass Schächtungen nach jüdischem Ritus auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr stattfinden, da der finanzielle Aufwand hierfür auch vor dem Hintergrund der vergleichsweise niedrigen Nachfrage der eher säkular lebenden jüdischen Glaubensangehörigen in Deutschland bereits seit längerem als zu hoch erachtet und demgegenüber der Import koscher hergestellten Fleisches aus dem Ausland durch die vergleichsweise wenigen orthodoxen Juden in Deutschland bevorzugt wird.38 Soweit die öffentliche Debatte um die grundsätzliche Zulässigkeit von Schächtungen in Deutschland immer wieder einmal aufflammt, wird zwar auch von Seiten der jüdischen Interessensverbände politisch interveniert, wobei das Schächten zum Teil sogar als besonders tierschonende Schlachtmethode dargestellt und die faktische Irrelevanz eines immer wieder diskutierten umfassenden Schächtverbots für die Befolgung jüdischer Glaubensvorschriften in Deutschland leider mit keinem Wort erwähnt wird.39 Diese öffentliche Positionierung muss deshalb vor dem Hintergrund der Geschichte der Entrechtung, Verfolgung und Tötung von Juden während des Naziregimes als verständliche und nachvollziehbare Grundhaltung gegen jede Form der neuerlichen Rechtsbeschränkung gesehen werden. Im Rahmen der vorliegenden rechtlichen Analyse ist dennoch auf rein tatsächlicher Ebene nüchtern und wertungsfrei zu konstatieren, dass Schächten nach jüdischem Ritus in Deutschland aktuell nicht stattfindet, eine Wiederaufnahme soweit ersichtlich schon aus Kostengründen nicht geplant ist40 und demnach eine Beschwer in einem Grundrecht a priori fragwürdig erscheint und allenfalls geringes Gewicht hätte. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sämtliche im Folgenden diskutierten gerichtlichen Entscheidungen ihren Ausgang in Fällen nahmen, in denen muslimische (und nicht jüdische) Glaubensangehörige die nach § 4a Abs. 2 Nr. 2 des deutschen Tierschutzgesetzes (TierSchG) erforderlichen Anträge auf Ausnahmegenehmigungen zum Schächten stellten. Gleichwohl wird im Folgenden (religions- und weltanschauungsneutral) untersucht, ob das Schächten bereits nach geltender Rechtslage in Deutschland überhaupt als geschützte Grundrechtsausübung und damit trotz grundsätzlicher Betäubungspflicht als ausnahmsweise legale Schlachtmethode gelten kann. Die meisten beamteten Tierärzte, die über die Anträge zu entscheiden haben, und wohl auch die meisten Juristen, die sich mit dem Thema befassen, mögen diese Frage mit

38

39

40

Auskunft der über viele Jahre mit der Schächtthematik befassten Landestierschutzbeauftragten beim Hessischen Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Verbraucherschutz und Landwirtschaft Madeleine Martin vom 17.06.2020. Vgl. nur exemplarisch die Äußerungen des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, J. Schuster, sowie des Vorsitzenden der Europäischen Rabbinerkonferenz, G. Gronich, gegenüber der Jüdischen Allgemeinen Zeitung [Online-Dok.]. Vgl. soeben Fn. 38.

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?

Blick auf die gesetzliche Regelung in § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG für beantwortet halten. Dies ist jedoch mitnichten der Fall, wie die im Folgenden diskutierte komplexe (Verfassungs-)Rechtslage zeigen wird. Der Analyse der Rechtsfragen ist eine überblicksartige Darstellung der ambivalenten Glaubensvorschriften voranzustellen, aus denen Teile der jüdischen bzw. muslimischen Glaubensangehörigen die religiöse Notwendigkeit des Schlachtens ohne Betäubung ableiten. Aus einer Reihe Fundstellen in den fünf Büchern Mose folgern soweit ersichtlich alle Strömungen des Judentums das göttliche Gebot der Barmherzigkeit und Rücksichtnahme gegenüber Tieren. Exemplarisch seien hier die bekannteren Gebote erwähnt, am Sabbat auch sämtliche Tiere von der Arbeit ruhen zu lassen (Exodus 20,10; Deuteronomium 5,14) sowie das imperativisch formulierte Gebot, selbst den Esel des »Gegners«, der »unter der Last zusammenbricht«, nicht »im Stich« zu lassen sondern ihm Hilfe zu leisten (Exodus 23,5). Von dem Gebot eines bestimmten Schlachtritus ist in der Thora keine Rede. Ein solcher wird von orthodoxen Juden erst aus den mittelalterlichen Schriften des Maimonides (12. Jhd.) sowie des Rabbi Joseph ben Ephraim Karo (16. Jhd.) abgeleitet. Vertreter des reformierten Judentums wie der deutsche Rabbi Josef Stern betonen hingegen, dabei habe es sich lediglich um eine faktische, nicht aber zwingende Ausübungsform des Glaubens gehandelt, um das Verbot des Konsums von Blut als Sitz der Seele der Tiere (Genesis 9,4) sowie das Verbot, Fleisch von verendeten oder verletzten Tieren zu essen (Exodus 22,30; Levitikus 17,15;16; Deuteronomium 14,21) zu beachten.41 Wie im Judentum ist auch im Islam der Grundsatz des Respekts und der Achtung vor Tieren überliefert42 sowie im Text des Koran ausdrücklich die Verbote des Konsums von tierischem Blut (Sure 6 Vers 145) und Aas (Sure 5 Vers 3). Die Frage nach dem Gebzw. Verbot der Betäubung wird im Islam ebenfalls nicht einheitlich beantwortet. Das Meinungsspektrum reicht von einer Einstufung als Verbot über eine Zulassung unter Auflagen bis hin zu einem Betäubungsgebot. Eine Konferenz der Al Azhar Universität Kairo im Jahr 2002 kam zu dem Ergebnis, dass auch eine Schlachtung nach vorheriger Elektrobetäubung den Vorschriften des Islam entspreche.43 Eine zumindest ausnahmsweise Zulässigkeit des Konsums von Tieren, die bei der Schlachtung betäubt waren, für Muslime, die in Ländern mit nicht islamischer Bevölkerungsmehrheit leben, konstatieren auch das Protokoll über die Konferenz von Jeddah vom 05.-07.12.1985 zu islamischen Anforderungen an Lebensmittel tierischen Ursprungs44 , ein an die Botschaft der Türkei gerichtetes Schreiben des Höchsten Rates für religiöse Angelegenheiten vom 02.06.198645 sowie eine Erklärung des Muslimrats Jakarta vom 09.06.1978, der die Betäubung vor Schlachtung ausdrücklich als »legal und rein« bezeichnete.46 41 42 43 44

45 46

Vgl. A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 4a TierSchG Rn. 15, S. 252. Weiterführend A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 4a TierSchG Rn. 16, S. 252. Vgl. ebd. Zitiert nach OVG Hamburg, Urt. v. 14.09.1992, Az. Bf III 42/90 = NVwZ 1994, 592, 595; an besagter Konferenz nahmen islamische Rechtsgelehrte teil, die keine Differenzierung der unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Islam im Hinblick auf die Schlachtmethodik feststellten. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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Entstehungsgeschichte von § 4a Abs. 2 Nr. 2 des deutschen Tierschutzgesetzes Noch vor Inkrafttreten der ersten umfassenden Kodifikation zum Tierschutz im deutschen Recht in Form des Reichstierschutzgesetzes vom 24.11.193347 erließ der damalige Reichsgesetzgeber am 21.04.1933 auch ein Gesetz und eine Verordnung über das Schlachten von Tieren. Darin wurden auch der allgemeine Zwang zur Betäubung von Tieren bei der Schlachtung sowie bestimmte Betäubungsmethoden eingeführt und damit das bis dato in den meisten Gebieten des Reiches aus religiösen Gründen zulässige betäubungslose Schlachten und Entblutenlassen verboten und im Fall der Zuwiderhandlung sogar unter Strafe gestellt.48 Der Bundesgerichtshof stellte mit Urteil vom 27.04.1960 fest, dass es sich bei diesem generellen Schächtverbot um eine nationalsozialistische Gewaltmaßnahme im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes handelte, soweit davon ein ausnahmsloses und jedenfalls auch antisemitisch motiviertes Verbot betäubungsloser Schlachtungen umfasst war und bestätigte damit den Entschädigungsanspruch eines ehemaligen jüdischen Schlachters49 : »Wenn sich auch die Einführung des Schächtverbots durchaus rechtfertigen ließ, so war doch damals für das ausnahmslose Verbot des Schlachtens ohne vorherige Betäubung mitentscheidend, dass die Widerstände gegen das Schächtverbot gerade von jüdischen Kreisen kamen. Dem Ziel der nationalsozialistischen Politik, die Juden zu unterdrücken und bloßzustellen, entsprach es, diesen Teil der Bevölkerung durch das Verbot des Schächtens in seinen religiösen Empfindungen und Gebräuchen zu verletzen. Das Verbot bot einen willkommenen Vorwand, um die Juden als grausam und die nicht jüdische Bevölkerung als tierliebend hinzustellen. Das war bei den für das Gesetz vom 21. April 1933 maßgebenden Stellen ein wesentliches Motiv dafür, um in völliger Abwendung von der früheren Einstellung für das gesamte Reichsgebiet das Schächtverbot zu erlassen. Wenn auch diesem Verbot daneben der Gedanke des Tierschutzes zugrunde lag, und wenn auch dieses Gesetz, soweit es sich nicht mit dem Schächtverbot befasst, rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprach, so war die Absicht, die Juden zu diffamieren und zu unterdrücken, doch mitentscheidend für das in dem Gesetz enthaltene Schächtverbot. Dieses erweist sich damit als eine aus rassischen Gründen erfolgte nationalsozialistische Gewaltmaßnahme…«50 Spätestens nach diesem Urteilsspruch des BGH entsprach es gängiger veterinärbehördlicher Praxis, trotz teilweiser Fortgeltung der Rechtsvorschriften von 1933 in einigen Bundesländern, die das Schächten nicht explizit durch neue Vorschriften wieder zugelassen hatten, wieder Ausnahmen vom Betäubungsgebot zu erteilen.51 Eine bundesein-

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Vgl. Reichsgesetzblatt Teil I v. 24.11.1933, S. 987; vgl. weiterführend A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, Einführung Rn. 3, S. 2. Vgl. Reichsgesetzblatt Teil I v. 21.04.1933, S. 203 bzw. 212; vgl. weiterführend A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, Tierschutz-Schlachtverordnung Rn. 1, S. 987. Vgl. BGH, Urt. v. 27.04.1960, Az. IV ZR 305/59, detailliert auch zur Rechtslage bzgl. des Schächtens in einzelnen Gebieten des Reiches vor 1933 in den Rn. 19ff. Ebd., Rn. 30. Vgl. BVerfG, Urt. v. 15.01.2002, Az. 1 BVR 1783/99, Rn. 3, mit weiteren Nachweisen.

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?

heitliche Regelung gibt es erst seit Einführung des § 4a in das TierSchG mit Gesetz vom 12.08.198652 , das am 01.01.1987 in Kraft trat. Daran änderte auch der Versuch der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit und Umwelt von 1977 nichts, die einem muslimischen Fleischhandelsbetrieb bereits sechs Jahre zuvor erteilte Ausnahmegenehmigung zu widerrufen und nur noch mit der Auflage zum Einsatz der gerade marktreif gewordenen Methode der Elektro-Kurzzeitbetäubung neu zu erteilen. Die Anordnung wurde vom Berliner Verwaltungsgericht mit Urteil vom 19.03.1979 für rechtswidrig erklärt und aufgehoben. Das Gericht führte damals aus53 : »Aber auch wenn man davon ausgeht, dass die Schlachttiere beim Schächten größere Qualen erleiden als beim sonst üblichen Schlachten, gehört doch der Tierschutz im Falle des Schächtverbotes nicht zum Kreis des Mindestbestandes an sittlichen Grundnormen, die zum gedeihlichen Zusammenleben schlechthin unerlässlich sind und die darum ein höherrangiges Rechtsgut als die Freiheit der Religionsausübung darstellen […].« Erst mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Tierschutzgesetzes vom 12.08.198654 wurde die bundeseinheitliche Ausnahmevorschrift des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG geschaffen: »Abweichend von Absatz 1 bedarf es keiner Betäubung, wenn die zuständige Behörde eine Ausnahmegenehmigung für ein Schlachten ohne Betäubung (Schächten) erteilt hat; sie darf die Ausnahmegenehmigung nur insoweit erteilen, als es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen […].« Die Regelung stellt einen Kompromiss dar zwischen dem Vorschlag des im Gesetzgebungsverfahren federführenden Agrarausschusses, der gerne auf das Wort »zwingend« verzichtet hätte und dem Vorschlag des vom Bundesrat angerufenen Vermittlungsausschusses, der Ausnahmen nur zulassen wollte für »Schlachtungsarten, die Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften zwingend vorgeschrieben sind«, für diese also »zum echten Bestandteil des religiösen Bekenntnisses und damit zu einer Handlung« zählen, »die als solche weltanschaulichen Charakter besitze«55 . Nach dem Vorschlag des Bundesrates hätte also nur die erste Alternative des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG Eingang ins Gesetz gefunden, die das durch zwingende Vorschriften vorgeschriebene Schächten (also faktisch anlässlich von Opferfesten) ermöglichen sollte, nicht hingegen die zweite Alternative, die explizit den auch von besonderen Anlässen unabhängigen jederzeitigen »Genuss« von Fleisch geschächteter Tiere ermöglichen sollte.

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Vgl. Bundesgesetzblatt Teil I v. 22.08.1986, S. 1309. Vgl. VG Berlin, Urt. v. 19.03.1979, Az. 14 A 224.77. Vgl. Bundesgesetzblatt Teil I v. 12.08.1986, S. 1309. Detaillierte Darstellung der parlamentarischen Beratungen bei Bundesverwaltungsgericht, Urt. v. 15.06.1995, Az. 3 C 31.93 = NVwZ 1996, S. 62.

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Tiertötung als Grundrechtsausübung? Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung muss bereits die grundlegende Frage gestellt werden, ob religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als vom Gewährleistungsbereich des Grundrechts auf Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG)56 oder eines anderen Grundrechts geschütztes Verhalten angesehen werden kann. In seiner Leitentscheidung vom 16.10.1968 zum Umfang der Religionsausübungsfreiheit entschied das Bundesverfassungsgericht57 , dass »nicht nur kultische Handlungen und Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozession, Zeigen von Kirchenfahnen, Glockengeläute, sondern auch religiöse Erziehung, freireligiöse und atheistische Feiern sowie andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens« erfasst sein sollen. Im konkreten Fall subsumierte das Gericht hierunter sogar das Sammeln von Sachspenden zur Unterstützung Bedürftiger als Form der Diakonie. Ausschlaggebend hierfür war die Geltendmachung der Spendensammlung durch die zur katholischen Kirche gehörende Beschwerdeführerin als unmittelbarer Ausdruck ihrer diakonischen Tätigkeit und damit als Ausdruck von Religionsausübung. Dieses Selbstverständnis der Beschwerdeführerin vollzog das Gericht nicht nur nach, sondern transponierte seinen religiösen Inhalt eins zu eins in den grundrechtlichen Schutzbereich. Es begründete diesen für ein staatliches Gericht, das staatliche Gesetze auslegt und anwendet, bemerkenswerten modus operandi folgendermaßen: »Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht außer Betracht bleiben. Zwar hat der religiös-neutrale Staat grundsätzlich verfassungsrechtliche Begriffe nach neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkten zu interpretieren (…). Wo aber in einer pluralistischen Gesellschaft die Rechtsordnung gerade das religiöse oder weltanschauliche Selbstverständnis wie bei der Kultusfreiheit voraussetzt, würde der Staat die den Kirchen, den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nach dem Grundgesetz gewährte Eigenständigkeit und ihre Selbständigkeit in ihrem eigenen Bereich verletzen, wenn er bei der Auslegung der sich aus einem bestimmten Bekenntnis oder einer Weltanschauung ergebenden Religionsausübung deren Selbstverständnis nicht berücksichtigen würde […].«58 Es liegt auf der Hand, dass diese unmittelbare Übernahme materiell-religiöser Positionen in den grundrechtlichen Schutzbereich zugleich (verfassungs-)rechtlichen Schranken unterliegt. Verfassungsdogmatisch folgt dies bereits aus der Notwendigkeit der Abgrenzung der unterschiedlichen grundrechtlichen Schutzbereiche zueinander, insbesondere zur sogenannten allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG, sowie um die vom Verfassungsgeber vorgesehenen divergierenden Arten von Grundrechtsschranken beachten zu können. Weiterhin ist eine objektiv-richterliche Konturierung

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Ebenfalls skeptisch T. Cirsovius: Überdimensionaler Grundrechtsschutz zugunsten des islamischen Fundamentalismus?, S. 238f. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.10.1968, Az. 1 BvR 241/66 – Hervorhebung durch den Bearbeiter. BVerfG, Beschl. v. 16.10.1968, Az. 1 BvR 241/66 – Hervorhebung durch den Bearbeiter.

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?

des grundrechtlichen Schutzbereichs nach allgemeingültigen, d.h. für alle Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen heranzuziehenden Kriterien, auch geboten, um die rechtsstaatlichen Güter der Rechtssicherheit, der Ordnungs- und Befriedungsfunktion des Rechts sowie der staatlichen Schutz- und Neutralitätspflichten auch im Bereich der Kultusfreiheit gewährleisten zu können.59 Der Staat unterliegt deshalb und insoweit nicht (wie häufig fälschlicherweise angenommen) einem Definitionsver-, sondern einem Definitionsgebot.60 Kommt er diesem Gebot nicht nach, führt er letztlich auch das Prinzip der Neutralität in religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten ad absurdum: Wenn religiös motivierte Verhaltensweisen faktisch ausnahmslos durch staatliche Gerichte gebilligt und so mit dem Nimbus staatlicher Legitimation versehen werden, wirkt eine staatliche Maßnahme nur noch im bipolaren Verhältnis zur jeweiligen Religionsgemeinschaft neutral. Im multipolaren Verhältnis gegenüber Dritten wirkt sie jedoch parteilich.61 Das Verbot staatlicher Identifikation mit religiösen Inhalten, welches Teil des Neutralitätsgebots ist62 , würde so verletzt. Vom sachlichen Schutzbereich eines jeden Grundrechts und damit auch der extensiv verstandenen Religionsausübungsfreiheit ist daher jedenfalls solches Verhalten nicht umfasst, welches den allgemeinen Rechtsgrundsatz des »ordre public« missachtet, das heißt indisponible Rechtsgüter wie die Menschenwürde verletzt, sowie Verhalten, das Gewalt gegenüber anderen Rechtsträgern oder in fremdem Eigentum stehenden Sachen legitimieren würde. Grundrechte können hierfür schon wegen des beim Staat liegenden Gewaltmonopols keinen Deckmantel liefern.63 Die einzige denkbare Ausnahme zu diesem Grundsatz ist der Schutz der eigenen körperlichen Integrität, also die Ausübung von Gewalt in einer Notwehr- oder Notstandslage. Teilweise wurde unter anderem vom Bundesverfassungsgericht auch vertreten, nur solche Handlungen könnten als Glaubenstätigkeiten grundrechtlichen Schutz beanspruchen, welche »sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet«64 hätten. Bei aller Notwendigkeit der staatlichen Einhegung uferloser oder gar missbräuchlich ausgedehnter Grundrechtsschutzbereiche, ist dieser auch

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Vgl. S. Muckel: Berliner Kommentar, Art. 4 GG (EL 26, IV/2009), Rn. 8, S. 21f.; vgl. K. Zähle: Religionsfreiheit und fremdschädigende Praktiken, S. 436; weiterführend zum Dilemma der Notwendigkeit einer staatlichen Entscheidung über die Reichweite der Religionsausübungsfreiheit einerseits und dem Gebot staatlicher Neutralität in religiösen und weltanschaulichen Fragen andererseits vgl. K.-A. Schwarz: Das christlich-abendländische Fundament des Grundgesetzes, S. 422ff. Vgl. ebd. Vgl. C. Arleth: Streikrecht, S. 92, mit weiteren Nachweisen. Vgl. BVerfG, Urt. v. 24.09.2003, Az. 2 BvR 1436/02, Rn. 42; vgl. ebenfalls S. Korioth/I. Augsberg: Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, S. 829f. Vgl. S. Muckel: Berliner Kommentar, Art. 4 GG (EL 26, IV/2009), Rn. 19, S. 30ff.; vgl. K. Zähle: Religionsfreiheit und fremdschädigende Praktiken, S. 437ff.; für eine restriktivere Auslegung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit nach kritischer Analyse des status quo und mit Verweis auf die religiöse Pluralisierung der Gesellschaft auch C. Waldhoff: Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, S. 92. BVerfG erstmals im Beschl. v. 08.11.1960, Az. 1 BvR 59/56, Rn. 9; aufgegeben im Beschl. v. 17.12.1975, Az. 1 BvR 63/68, Rn. 102.

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als »Kulturvölkerformel« bezeichnete Versuch schon aufgrund der Entwicklungsoffenheit des Grundgesetzes auch gegenüber neuen Religionen und Weltanschauungen nicht überzeugend und im Übrigen auch wegen seiner Unbestimmtheit kaum praktikabel.65 Im Hinblick auf die Frage der betäubungslosen Tiertötung als Gegenstand des Schutzbereichs der Religionsfreiheit gingen bereits Bundestag und Bundesrat bei Einführung des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG im Jahr 1986 davon aus, dass diese Praxis – wenn überhaupt – nur in Ausnahmefällen grundrechtlich geschützt sein könne. Die entsprechende Begründung von sieben Bundesratsausschüssen, darunter Agrar- und Rechtsausschuss, die auch der letztlich beschlossenen Empfehlung des Vermittlungsausschusses66 zugrunde lag, ging ebenfalls davon aus, dass in der Mehrheit der Fälle bereits der grundrechtliche Schutzbereich nicht eröffnet ist: »Der Gesamtvorgang des Schlachtens ohne vorherige Betäubung (Schächten) hat tierquälerischen Charakter. (…) Nur in Einzelfällen, wie zB bei den Angehörigen des mosaischen Glaubens, ist das Schächten zum echten Bestandteil des religiösen Bekenntnisses und damit zu einer Handlung geworden, die als solche weltanschaulichen Charakter besitzt (vgl. BVerfGE 32, 98, 106). Im Gegensatz dazu werden Handlungen, die zwar Ausdruck einer religiösen Grundhaltung sind, selbst aber keine religiöse Betätigung beinhalten, nicht vom Grundrechtsschutz des Art. 4 GG umfasst.« 67 Nach hier vertretener Auffassung griffen aber selbst diese Überlegungen zu kurz, da sie eine Auseinandersetzung mit den dargelegten verfassungsimmanenten Schutzbereichsschranken des allgemeinen Rechtsgrundsatzes des »ordre public« sowie der Notwendigkeit der Delegitimierung nichtstaatlicher Gewaltanwendung vermissen lassen. Eben diese werden durch das vorliegend untersuchte rituelle Schächten verletzt, da die tierliche Würde bereits de lege lata ein indisponibles Rechtsgut darstellt und da hierdurch Gewalt gegenüber anderen Rechtsträgern, den Tieren, legitimiert wird: Das deutsche Tierschutzgesetz ist ethisch fundiert. Es zielt darauf ab, Leben und Wohlbefinden des Tieres »als Mitgeschöpf« des Menschen und aus seiner Verantwortung für dieses heraus zu schützen (§ 1 S. 1 TierSchG). Der damit angesprochene vom Menschen unabhängige, intrinsische Eigenwert der Tiere wurde erst im sogenannten »Küken-Urteil« vom 13.06.2019 wieder ausdrücklich vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt.68 Wenn aber bereits das heute geltende Recht einen tierlichen Eigenwert kennt und dieser wie dargelegt mittels der durch Einführung des Staatsziels Tierschutz in das Grundgesetz intendierten Verbesserung des Schutzes individueller Tiere sogar mit Verfassungsrang ausgestattet wurde, ist dies die positivrechtliche Anerkennung einer den Tieren inhärenten Würde69 , die »geschöpfliche Würde des Tiers ist rechtlicher As-

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Vgl. S. Muckel: Berliner Kommentar, Art. 4 GG (EL 26, IV/2009), Rn. 11, S. 23; vgl. K.-A. Schwarz: Das christlich-abendländische Fundament des Grundgesetzes, S. 427. Vgl. Bundestags-Drs. 10/5617 v. 05.06.1986, S. 2. Bundesrats-Drs. 524/1/84 v. 11.12.1984, S. 7 – Hervorhebungen durch den Bearbeiter. Vgl. BVerwG, Urt. v. 13.06.2019, Az. 3 C 28.16, Rn. 16. Vgl. A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 1 TierSchG Rn. 4, S. 94; vgl. C. Ziehm: Tiere als Rechtspersonen, S. 113f. (tritt deshalb auch für eine entsprechende Anwendung des Art. 1 Abs. 1 GG auf tierliche Rechtspersonen ein).

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pekt des verfassungsrechtlichen Tierschutzes«70 . Dadurch wird auch nicht der Schutz der Menschenwürde tangiert71 , sondern im Gegenteil komplettiert.72 Hinzu kommt, dass jedenfalls Wirbeltiere, wie sie zum Gegenstand von Schächtungen gemacht werden, ebenfalls bereits de lege lata Träger des subjektiven Rechts auf Schmerzfreiheit sind. Der Gesetzgeber stufte dieses Recht der (Wirbel-)Tiere als so gewichtig ein, dass er die Zufügung länger anhaltender erheblicher Schmerzen oder Leiden durch einen Menschen, wie sie den Tieren durch das Schächten zugefügt werden73 , in § 17 Nr. 2 b) TierSchG als Straftatbestand ausgestaltete und mit einer Strafdrohung bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe versah. Zweck dieser Vorschrift ist damit alleine der Schutz des tierlichen Wohls. § 17 Nr. 2 des Tierschutzgesetzes kennt keine Anthropozentrik. Ein Tierzüchter oder Tierhalter mag zivilrechtlich als Eigentümer seiner Zuchttiere bzw. seiner tierischen Mitbewohner zu betrachten sein. Quält er sie, macht er sich gleichwohl strafbar.74 Das Korrelat dieser Strafandrohung gegenüber einem Menschen auf der einen Seite ist ein subjektives (Anspruchs-)Recht der Tiere auf der anderen Seite: »Rechte und mithin auch Grundrechte werden nicht nur dadurch kreiert, dass sie ausdrücklich als solche bezeichnet werden, sondern auch, indem Pflichten mit der Intention normiert werden, jemandes Interessen vermittels dieser Pflichten zu schützen.«75 Die indisponible tierliche Würde wird durch das betäubungslose Schlachten in evidenter Art und Weise verletzt, da die Tiere (meist Hühner, Ziegen, Schafe oder Rinder) hier bei voller Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit mit gestrecktem Kopf und gestreckter Halsunterseite meist in einer ihrerseits problematischen Rückenlage fixiert, ihre Halshaut mit einem Messer aufgetrennt, Halsschlagader, Venen, Luft- und Speiseröhre durchtrennt werden und das dadurch ausgelöste Verbluten in der Praxis meist mehrere Minuten andauert (bei zwar abnehmender aber weiterhin vorhandener Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit), wobei »Blutseen an der Schnittstelle sowie (…) Aspiration von Blut oder Mageninhalt mit entsprechender Erstickungsangst«76 auftreten. Dieser Gesamtvorgang erfüllt zudem kein einziges der Kriterien, die der deutsche und der europäische Gesetzgeber in § 12 Abs. 1 der deutschen Tierschlacht-Verordnung 70 71 72 73 74 75

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A. Lorz/E. Metzger: Tierschutzgesetz, Art. 20a GG Rn. 5, S. 30 und § 1 TierSchG Rn. 12, S. 44. Vgl. C. Raspé: Die tierliche Person, S. 167f. Weiterführend A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 1 TierSchG Rn. 4, S. 94. Vgl. VG München, Urt. v. 29.7.2009, Az. M 18 K 08.6337, Rn. 28ff., insbes. Rn. 34f.; vgl. A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 4a TierSchG Rn. 8-13, 33, S. 249ff., S. 266. Vgl. § 903 S. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs: »Der Eigentümer eines Tieres hat bei der Ausübung seiner Befugnisse die besonderen Vorschriften zum Schutz der Tiere zu beachten.« C. Ziehm: Tiere als Rechtspersonen, S. 107, mit weiterführenden Nachweisen auf S. 113; C. Raspé: Die tierliche Person, S. 282ff., insbes. 296f.: »Tiere haben in begrenztem Umfang eigene Rechte, nämlich auf Wahrung ihrer Schutzgüter. (…) Das Recht (…) behandelt das Tier vordergründig als Rechtsobjekt trotz der bestehenden, eigenen Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« Ausführlich A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 4a TierSchG Rn. 8ff., S. 249ff. – die Rückenlage ist besonders bei Rindern wegen des vorherigen Treibens in eine Metalltrommel (nicht selten mittels Elektro-Treibern), des Anpressens von Metallplatten an den Körper, des Herumdrehens um 180° und des Streckens des Kopfes mittels einer Gabel bereits mit erheblichen Leiden verbunden (sog. »Weinbergscher Apparat«).

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bzw. in Art. 4 Abs. 1 der EU-Tierschlacht-Verordnung als Mindestvoraussetzungen an eine grundsätzlich rechtskonforme Schlachtung stellen. Der Zustand der Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit wird gerade nicht schnell und gerade nicht unter Vermeidung von Schmerzen und Leiden erreicht. Verfechter der Betäubungslosigkeit des Schlachtens lehnen selbst die Elektro-Kurzzeitbetäubung ab (die ihrerseits eine begründungsbedürftige Ausnahme darstellt, da nur der Kopf, nicht aber das Herz unter Strom gesetzt werden), da dies ihrer Meinung nach das religiöse Gebot der Unversehrtheit der Tiere vor dem Schächtvorgang verletzen würde (obwohl die Tiere einige Zeit nach dem Stromstoß wieder aufwachen würden und sich fortbewegen können).77 Durch die beschriebenen Vorgänge beim Schächten wird das Tier zum bloßen Ausübungsgegenstand rituell motivierter Gewalt objektifiziert und in seiner bereits heute rechtlich anerkannten Würde, Subjektivität und Individualität vollständig ignoriert. Rituelles betäubungsloses Schächten kann deshalb als Verstoß gegen den »ordre public« und Usurpation des staatlichen Gewaltmonopols grundrechtlich nicht als Religionsausübung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 GG oder als Ausübung eines anderen Grundrechts wie der Berufs- oder allgemeinen Handlungsfreiheit78 eingeordnet werden. Das Bundesverfassungsgericht verkannte diese Problematik in seinem bekannt gewordenen Urteil vom 15.01.2002. Es vermied zwar kunstvoll eine Entscheidung, ob es das rituelle Schächten als Form der Religionsausübung und damit grundsätzlich vom Grundrecht des Art. 4 Abs. 2 GG geschütztes Verhalten ansieht, wenn es hin- und herstrauchelnd schreibt: »Prüfungsmaßstab ist in erster Linie Art. 2 Abs. 1 GG. […] Das Schächten ist […] Ausdruck einer religiösen Grundhaltung, die für den Beschwerdeführer als gläubigen sunnitischen Muslim die Verpflichtung einschließt, die Schächtung nach den von ihm als bindend empfundenen Regeln seiner Religion vorzunehmen […]. Dem ist, auch wenn das Schächten nicht als Akt der Religionsausübung verstanden wird, dadurch Rechnung zu tragen, dass der Schutz der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG durch den speziellen Freiheitsgehalt des Grundrechts der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verstärkt wird.« Aus der unmissverständlichen Annahme der Einschlägigkeit des Schutzbereichs zumindest des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 179 wird jedoch klar, dass der grundsätzliche

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Zur Elektro-Kurzzeitbetäubung vgl. weiterführend A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 4a TierSchG Rn. 7, S. 248ff. Lesenswerte Kritik zur ausufernden Schutzbereichsweite der sogenannten »allgemeinen Handlungsfreiheit« in der Rechtsprechung des BVerfG im Sondervotum des ehemaligen Verfassungsrichters D. Grimm zum berühmt gewordenen Beschluss des Gerichts zum »Reiten im Walde« in BVerfG, Beschl. v. 06.06.1989, Az. 1 BvR 921/85, Rn. 99ff., insbes. 110: »Denn Grenzbestimmungen sind beim Schutzbereich jedes Grundrechts erforderlich und können unter Umständen erhebliche Schwierigkeiten bereiten, wie nicht allein die Garantie der Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG zeigt.« Selbst die Prüfung nach Maßstäben der Berufsfreiheit wie vom BVerfG vollzogen ist im vorliegenden Fall äußerst problematisch, da der muslimische Metzger nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügte und sich damit nicht auf das eigentlich in Art. 12 GG gewährleistete Grundrecht berufen konnte, sondern nur auf das Auffanggrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG; weiterführend hier-

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Ausschluss des betäubungslosen Schächtens aus den Schutzbereichen der Freiheitsgrundrechte nach den hier behandelten Maßstäben des »ordre public« und der Usurpation des staatlichen Gewaltmonopols nicht angenommen wurde. Stattdessen stellte das Bundesverfassungsgericht in seinen folgenden Ausführungen eine Reihe bemerkenswerter Prämissen auf, die durch nichts als willkürlicher, tatsächlicher Grundlage ermangelnder und nicht einmal im Jahr 2002 des Urteilsspruchs auch nur annähernd zeitgemäßer richterlicher Rechtsschöpfung zu erklären sind.80 So ging es zunächst ohne ersichtlichen Grund und insbesondere ohne jede faktische Grundlage in favorem des lokalen Schächtens davon aus: »Der Entschluss, nur noch als Verkäufer das Fleisch geschächteter Tiere zu vermarkten, wäre nicht nur mit dem Verzicht auf die Tätigkeit eines Schlachters, sondern auch mit der Ungewissheit verbunden, ob das von ihm angebotene Fleisch tatsächlich von geschächteten Tieren stammt und damit einen Fleischgenuss in Übereinstimmung mit den Regeln des eigenen Glaubens und des Glaubens der Kunden ermöglicht.«81 Damit jedoch nicht genug bezieht das Gericht in der darauf folgenden Randnummer in ebenso unnachvollziehbarer Weise eine wiederum frei behauptete angebliche Betroffenheit der Kunden (!) des muslimischen Metzgers (von denen in diesem Verfahren nicht einmal einer als Partei beteiligt war) in die Bewertung der Grundrechtsbeschränkung des Metzgers (!) ein und gipfelt in den folgenden bereits im Jahr 2002 des Urteilsspruchs jeglicher Lebensrealität entrückten, empirischer Grundlagen ermangelnden und damit rational nicht mehr haltbaren Behauptungen: »Von ihnen [den Kunden, Anm. d. Bearb.] zu verlangen, im Wesentlichen dem Verzehr von Fleisch zu entsagen, trüge den Essgewohnheiten in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland nicht hinreichend Rechnung. Danach ist Fleisch ein weit verbreitetes Nahrungsmittel, auf das unfreiwillig zu verzichten schwerlich als zumutbar angesehen werden kann. Der Verzehr importierten Fleischs macht einen solchen Verzicht zwar entbehrlich, ist jedoch im Hinblick auf das Fehlen des persönlichen Kontakts zum Schlachter und der dadurch geschaffenen Vertrauensbasis mit der Unsicherheit verbunden, ob das verzehrte Fleisch tatsächlich den Geboten des Islam entspricht.« Das höchste deutsche Gericht in Verfassungsfragen präsentierte sich damit im konkreten Fall ohne Anlass als hochrangiger und noch dazu breitbeiniger staatlicher Unterstützer grundrechtlich eigentlich nicht schutzfähigen, da das staatliche Gewaltmonopol usurpierenden und gegen den »ordre public« verstoßenden Verhaltens.

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zu A. Dietz: Schächten im Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz, S. 493f., der selbst im Falle der Einschlägigkeit von Art. 12 GG in einem Schächtverbot eine bloße Berufsausübungsregelung sieht, die auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt. Ebenfalls kritisch vgl. A. Dietz: Schächten im Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz, S. 494. BVerfG, Urt. v. 15.01.2002, Az. 1 BVR 1783/99, Rn. 43 – Hervorhebung durch den Bearbeiter.

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Tatbestandliche und verfassungsrechtliche Schranken Selbst wenn man entgegen der hier vertretenen Auffassung das religiös motivierte betäubungslose Schlachten wie das Bundesverfassungsgericht zumindest als Teil des Grundrechts der Berufsfreiheit eines muslimischen Metzgers82 oder wie das Bundesverwaltungsgericht als vom Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit umfasst ansieht83 , sind bei der Auslegung der Vorschrift des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG tatbestandliche und verfassungsrechtliche Schranken genau in den Blick zu nehmen und hierbei zu beachten, dass es sich gesetzessystematisch um eine Ausnahmevorschrift handelt, die nicht extensiv ausgelegt werden darf.84 Dies gilt für den vorliegenden Gegenstand umso mehr als der verfassungsändernde Gesetzgeber mit Beschluss vom 17.05.2002 nur vier Monate nach dem »Schächturteil« des Bundesverfassungsgerichts den Tierschutz zum Staatsziel von Verfassungsrang erklärte und dies gerade vor dem Hintergrund des als besonders problematisch erachteten betäubungslosen Schlachtens tat.85 Art. 20a GG hat damit aufgrund der untrennbaren entstehungsgeschichtlichen und teleologischen Verknüpfung mit dem Schächten ein über seinen allgemeinen Regelungsgehalt noch hinausgehendes, ausschlaggebendes Gewicht für eben diesen konkreten Anwendungsfall. Dies erkannte der Verwaltungsgerichtshof Kassel wenigstens im Ausgangspunkt an, als er am 24.11.2004 erneut über den vom Bundesverfassungsgericht am 15.01.2002 an das Verwaltungsgericht Gießen zu erneuter Entscheidung zurück verwiesenen Fall desselben muslimischen Metzgers zu entscheiden hatte, der nach wie vor eine Ausnahmegenehmigung zum Schächten begehrte. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15.01.2002 sei »wesentlicher Anlass« für die Grundgesetzänderung gewesen, »nach der historischen Auslegung, die bei einer erst vor kurzer Zeit erfolgten Verfassungsänderung besonderes Gewicht hat, sind die Motive, die den Gesetzgeber zu einem – hier verfassungsändernden – Gesetz bewogen haben, von besonderer Bedeutung«86 . Dementsprechend erachtete das höchste hessische Verwaltungsgericht auch die Bindungswirkung des Bundesverfassungsgerichts-Urteils für insoweit entfallen, als der Tierschutz zum damaligen Urteilszeitpunkt noch nicht als Rechtsgut von Verfassungsrang sondern lediglich als »Gemeinwohlbelang […] [mit] hohe[m] Stellenwert«87 behandelt wurde.88 Das Gericht ging jedoch in zweifelhafter Art und Weise von einer im Übrigen fortbestehenden Bindungswirkung der Bundesverfassungsgerichts-Rechtsprechung vor Ein-

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Vgl. BVerfG, Urt. v. 15.01.2002, Az. 1 BVR 1783/99, Rn. 31ff. Vgl. BVerwG, Urt. v. 23.11.2000, Az. 3 C 40.99, zitiert nach NJW 2001, S. 1226; BVerwG, Urt. v. 23.11.2006, Az. 3 C 30.05, Rn. 12f. Zu diesem Aspekt unter Bezugnahme auf den römischen Juristen Papinian in den Digesten auch T. Cirsovius: Überdimensionaler Grundrechtsschutz zugunsten des islamischen Fundamentalismus?, S. 241 (Fn. 59): »Singularia non sunt extendenda. In dubio interpretatio pro regula contra limitationem facienda (Ausnahmevorschriften sind eng auszulegen. Im Zweifel ist im Sinne der Regel und gegen ihre Begrenzung auszulegen).« Vgl. dazu oben 2.1. VGH Kassel, Urt. v. 24.11.2004, Az. 11 UE 317/03, zitiert nach NJOZ 2006, S. 956. BVerfG, Urt. v. 15.01.2002, Az. 1 BVR 1783/99, Rn. 45. Vgl. VGH Kassel, Urt. v. 24.11.2004, Az. 11 UE 317/03, zitiert nach NJOZ 2006, S. 955f.

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?

führung des Staatsziels aus, ohne für diese fragwürdige und beliebig anmutende Aufspaltung eine juristische Begründung zu liefern.89 Dies hatte ein weitgehendes Ausbleiben einer Neuauslegung der Ausnahmevorschrift des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG im Lichte des neuen Art. 20a GG und damit eine de facto Konservierung der bisherigen Schächterlaubnis zur Folge. Dem Verwaltungsgerichtshof gelang es nicht, dem neuen, verfassungsrechtlichen Status des Tierschutzes in concreto praktische Wirksamkeit zu verleihen. Im Gegenteil war das Gericht spürbar darum bemüht, die Möglichkeit des Schächtens als solche angesichts der fortwährenden Existenz der Ausnahmevorschrift des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG nicht in Frage zu stellen und sah die Verantwortung insoweit »primär und vorrangig«90 beim Gesetzgeber. Dieser war aber mit der vorausgegangenen Grundgesetzänderung kurz zuvor tätig geworden, zumal auf der höherrangigeren Normsetzungsebene des Verfassungsrechts, also sogar mit qualifizierter Mehrheit, und gerade vor dem vom Verwaltungsgerichtshof eingangs selbst konstatierten konkreten Hintergrund des Schächtens. In die Gesetzesbegründung zur Einführung des Staatsziels Tierschutz nahm der verfassungsändernde Gesetzgeber sogar ausdrücklich auf91 : »Ethischem Tierschutz wird heute ein hoher Stellenwert beigemessen. Entscheidungen verschiedener Gerichte lassen die Tendenz erkennen, diesem Bewusstseinswandel bei der Verfassungsauslegung Rechnung zu tragen. Die Rechtsprechung kann dies aber nur angemessen vollziehen, wenn der Gesetzgeber den Tierschutz ausdrücklich in das Gefüge des Grundgesetzes einbezieht.«92 Der (Verfassungs-)Gesetzgeber hatte also in unmissverständlicher Weise den Gerichten den Ball zugespielt. Den einzigen Unterschied aufgrund der neuen Rechtslage machte der Verwaltungsgerichtshof darin, höhere Anforderungen an den Nachweis »zwingender (Glaubens-) Vorschriften« im Sinne des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG zu konstatieren als das Bundesverfassungsgericht93 dies bislang mit seinem ausgesprochen schwachen Erfordernis eines bloßen »substantiierten und nachvollziehbaren« Vortrags des zwingenden religiösen Charakters getan hatte94 (den es noch dazu unter weitgehender Berücksichtigung des subjektiven Verständnisses der Antragsteller einfach annahm). Eine praktische Konsequenz ergab sich aus diesem marginalen Neuansatz jedenfalls in dem vom Verwaltungsgerichtshof entschiedenen Fall nicht – nach seiner Auffassung war der zwingende Charakter des religiösen Gebots von den konkreten Antragstellern nicht nur »substantiiert und nachvollziehbar« dargelegt, sondern genügte sogar dem neuen Maßstab eines positiven Nachweises. Der Verwaltungsgerichtshof entschied folg-

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Vgl. insoweit kritisch auch H.-G. Kluge: Schächten als Testfall des Staatszieles Tierschutz, S. 651. VGH Kassel, ebd., S. 958. Vgl. Bundestags-Drs. 14/8860, S. 3 – Hervorhebung durch den Bearbeiter. Vgl. zu diesem Widerspruch auch H.-G. Kluge: Schächten als Testfall des Staatszieles Tierschutz, S. 653. Vgl. BVerfG, Urt. v. 15.01.2002, Az. 1 BVR 1783/99, Rn. 57. Vgl. VGH Kassel, ebd., S. 962ff.

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lich, dass der vom Metzger verklagte Landkreis weiterhin eine Ausnahmegenehmigung zum Schächten von 200 Rindern und 500 Schafen pro Jahr erteilen musste. Die bisherige Auslegung der Tatbestandsvoraussetzung »Religionsgemeinschaft« als Urheberin der »zwingenden Vorschriften« tastete der Verwaltungsgerichtshof überhaupt nicht an, obwohl gerade die im konkreten Fall streitende Islamische Religionsgemeinschaft Hessen vornehmlich zu dem Zweck gegründet wurde, als »Religionsgemeinschaft« im Sinne der Ausnahme zum Schächten zu fungieren, statt als solche derartige Vorschriften erst aus der Religion zu deduzieren und zu verbreiten wie es der Gesetzeswortlaut nahelegt.95 Auch die (fehlende) Eignung weiterer die Islamische Religionsgemeinschaft Hessen bildender Untergruppen als »Religionsgemeinschaft« im Sinne der Ausnahmevorschrift des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG wurde vom Verwaltungsgerichtshof nicht in den Blick genommen. Ebenso wenig stellte der Verwaltungsgerichtshof trotz des konstatierten strengeren Erfordernisses eines Nachweises »zwingender Vorschriften« die Frage, worin solche Vorschriften bestehen sollen, wenn die zentrale angeführte Textstelle des Koran von vielen Glaubensangehörigen selbst so ausgelegt wird, dass eine Betäubung vor Schlachtung zulässig ist (Sure 5 Vers 3, am Ende: »…es sei denn, ihr schlachtet es«) und zusätzlich eine Religion wie konkret der Islam auf die Situation sich im nichtislamischen Ausland befindlicher Gläubiger Rücksicht nimmt und im Hinblick auf die dortigen Umstände Ausnahmen zulässt. H.-G. Kluge stellt damit zurecht die trotz staatlicher Neutralitätspflicht in religiösen Angelegenheiten im Rahmen einer gerichtlichen Plausibilitätskontrolle zulässige und im Lichte des Verfassungsguts Tierschutz aus Art. 20a GG erforderliche Frage: »Weshalb können religiöse Vorschriften, die im nichtislamischen Ausland nach Auffassung des Islam selbst nicht zwingend sind, in der Auslegung eines Gesetzes in einem solchen Land zwingend sein?«96 Weiter wäre im Rahmen einer solchen Plausibilitätskontrolle konsequenterweise zu fragen gewesen: Welche zwingenden religiösen Vorschriften verbieten einem muslimischen Metzger die Anwendung jeglicher Betäubung im Zeitpunkt des Halsschnittes, also insbesondere die Anwendung der Elektro-Kurzzeitbetäubung97 , die • •



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den für die Blutzirkulation wichtigen Herzschlag nicht ausschaltet und damit das religiös gewollte vollständige Ausbluten ermöglicht, die Tiere im Falle eines Ausbleibens der Schlachtung nach wenigen Minuten wieder aufwachen ließe und damit auch das religiöse Gebot des Freiseins von tödlichen Verletzungen vor der Schlachtung wahrt, die zum Zeitpunkt der Entstehung der in Anspruch genommenen religiösen Texte noch nicht existent war, aber augenscheinlich geeignet ist, innerreligiöse Gebote

Vgl. zum Ganzen auch mit weiteren Nachweisen H.-G. Kluge: Schächten als Testfall des Staatszieles Tierschutz, S. 652. Ebd. Vgl. weiterführend zur Elektro-Kurzzeitbetäubung A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 4a TierSchG Rn., S. 248f.

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?



der Barmherzigkeit, Rücksichtnahme, Respekt und Achtung von Tieren besser umzusetzen und die heute selbst vom Europäischen Halal-Zertifizierungsinstitut als »halal« anerkannt wird?98

Diese Fragen zu stellen verpasste auch das Bundesverwaltungsgericht, welches am 23.11.2006 über die vom verklagten Landkreis eingelegte Revision gegen das Verwaltungsgerichtshofs-Urteil entschied.99 Es lehnte sich ohne nennenswerte eigene kritische Würdigung im Wesentlichen an die rechtsfehlerhaften Erwägungen des Kasseler Gerichts an, perpetuierte dessen erläuterte Versäumnisse, insbesondere auch in Form des Unterlassens der Prüfung der Notwendigkeit wenigstens der ElektroKurzzeitbetäubung als milderem Mittel gegenüber der vollständig betäubungslosen Schlachtung, und blieb teilweise noch hinter den vorinstanzlichen Ausführungen zurück.100 So will es etwa weiter in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor Einführung des Tierschutzes als Staatsziel eine »substantiierte und nachvollziehbare« Darlegung der Glaubensüberzeugung ausreichen lassen101 , obwohl dies den Anforderungen des neuen Art. 20a GG an die Auslegung von § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG nicht Rechnung trägt, sondern stattdessen »Tür und Tor« für allerhand kreativen nicht ernsthaft überprüfbaren Vortrag der Antragsteller öffnet, der zu einem weiteren Leerlauf des Tierschutzes führt. Die Anforderungen des neuen Art. 20a GG verkannte das Bundesverwaltungsgericht damit vollständig.102 Darüber hinaus berücksichtigte das Gericht den Vortrag des verklagten Landkreises nicht, der Beweise dafür hatte, dass der klagende muslimische Metzger in einem anderen Landkreis bereits nach vorheriger Elektro-Kurzzeitbetäubung geschlachtet hatte.103 Dieser hatte jedoch bereits im Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht, das betäubungslose Schlachten stelle seine alleinige und alternativlose wirtschaftliche Existenzgrundlage dar und er befinde sich aufgrund seiner religiösen Pflichten als strenggläubiger sunnitischer Muslim in dem vom Gericht geforderten »zwingenden« und »unausweichlichen« Gewissenskonflikt. Das Bundesverfassungsgericht hatte seine Entscheidung zugunsten des Metzgers also an einer entscheidungserheblichen Weichenstellung auf bewusst falsch vorgetragene Tatsachen gestützt.104

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Das beschriebene Verfahren wurde 1989 im Bundesland Berlin nach Gesprächen mit muslimischen Gemeinden verbindlich eingeführt und wird seitdem von der großen Mehrheit der dortigen Muslime unterschiedlicher Schulen akzeptiert. Vgl. BVerwG, Urt. v. 23.11.2006, Az. 3 C 30.05. Vgl. ebenfalls kritisch zum Judiz des BVerwG und insbesondere zum Versäumnis der Auseinandersetzung mit der Betäubungsmethode der Elektro-Kurzzeitbetäubung: A. Dietz: Schächten im Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz, S. 495. Vgl. BVerwG, ebd., Rn. 13. Vgl. T. Cirsovius: Überdimensionaler Grundrechtsschutz zugunsten des islamischen Fundamentalismus?, S. 240; vgl. A. Dietz: Schächten im Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz, S. 493. Vgl. BVerwG, ebd., Rn. 4, S. 15. Vgl. BVerfG, Urt. v. 15.01.2002, Az. 1 BVR 1783/99, Rn. 43, S. 59.

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Zwar kann im Revisionsverfahren als reinem Rechtsverfahren neuer Sachvortrag, der nicht bereits von den Instanzgerichten festgestellt wurde, grundsätzlich nicht mehr berücksichtigt werden; ausnahmsweise hat dies jedoch zu geschehen, wenn es sich um Tatsachen handelt, die ansonsten eine Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen würden.105 So lag der Fall hier.106 Eine dementsprechende gegen das Unterlassen der Berücksichtigung durch den 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts erhobene Anhörungsrüge wurde vom 7. Senat dennoch abgelehnt.107 Selbst das höchste deutsche Gericht in Verwaltungsrechtssachen verpasste es damit, den nunmehr verfassungsrechtlich verankerten Tierschutz bei der Auslegung von § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG verbindlich zu berücksichtigen und ihm zu Wirksamkeit zu verhelfen.108 Im Gegenteil behandelte es den Tierschutz weiterhin als bloßen Gemeinwohlbelang, ohne seine nunmehr bindende verfassungsrechtliche Wirkkraft zu berücksichtigen.109 Dies geht auch zulasten des für das Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft elementaren Ausgleichs widerstreitender Interessen. Aufgrund der beschriebenen Versäumnisse des Judizes resümiert Dietz daher zutreffend: »Die Folge werden eine steigende Zahl von Anträgen auf betäubungsloses Schlachten auf der einen Seite und eine eher ratlos zurückgelassene Verwaltung auf der anderen Seite sein. Je zahlreicher dann die Schächterlaubnisse ohne jegliche Betäubung erteilt werden, desto schärfer könnte der Konflikt zwischen Tierschutz und Religionsfreiheit in der Öffentlichkeit wieder aufflammen. Das Bundesverwaltungsgericht hat diesen Konflikt leider nicht gelöst, sondern nur auf die Ebene der Vollzugsbehörden zurückgeschoben.«110 Schließlich wäre von den Gerichten als weitere verfassungsrechtliche Schranke der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten gewesen. Dieser besagt, dass ein Verfassungsgut wie das des Tierschutzes nur so weit eingeschränkt werden darf, wie hiermit ein legitimes Ziel verfolgt wird, wie das mildeste aller gleich geeigneten zur Verfügung stehenden Mittel zur Erreichung dieses Ziels gewählt wird und auch eine Gesamtabwägung der konfligierenden Güter anhand der Umstände des Einzelfalles die Beschränkung als noch angemessen erscheinen lässt. Nach dem auf den ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht Konrad Hesse zurückgehenden Prinzip der praktischen Konkordanz soll außerdem in einem Konflikt mehrerer verfassungsrechtlich geschützter Güter keinem der alleinige Vorrang eingeräumt werden, sondern sind beide gleichzeitig zur möglichst weitgehenden Entfaltung zu bringen.111

105 Vgl. BVerwG, Urt. v. 16.6.1960, Az. III C 301.58 = NJW 1960, 2020. 106 Vgl. weiterführend zu diesem Aspekt T. Cirsovius: Überdimensionaler Grundrechtsschutz zugunsten des islamischen Fundamentalismus?, S. 239. 107 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.07.2007, Az. 7 C 35.07. 108 So im Ergebnis auch A. Dietz: Schächten im Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz, S. 495. 109 Vgl. T. Cirsovius: Überdimensionaler Grundrechtsschutz zugunsten des islamischen Fundamentalismus?, S. 239. 110 A. Dietz: Schächten im Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz, S. 495f. 111 Vgl. K. Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 72, S. 317ff.

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?

Nach hier vertretener Ansicht ist rituell motivierte Gewalt gegenüber Tieren schon kein grundrechtlich geschütztes Verhalten und damit nicht imstande, eine Verfassungsrechtsposition wie die des Tierschutzes überhaupt einzuschränken.112 Selbst unter der Prämisse des Grundrechtsschutzes würde sie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht genügen, da sie empfindungsfähige und aus ethischer Intention heraus rechtlich geschützte Individuen mit anderen zur Religionsausübung herangezogenen leblosen Sachen gleichsetzt und durch diese Objektifizierung den Opfern ihren Eigenwert und ihre Würde vollständig abspricht. Damit wäre bereits der mit dem gewaltvollen Verhalten intendierte Zweck nicht legitim, sondern verstieße gegen die tierliche Würde gemäß Art. 20a GG, 1 Abs. 1 GG analog, § 1 TierSchG. Schließlich läge mit der Elektro-Kurzzeitbetäubung sogar ein weniger leidintensives Mittel vor, das die religiösen Gebote mindestens ebenso effektiv bzw. in der ›Logik‹ des religiösen Gebots des Ausblutens aufgrund geringerer Rückstände von Blut in der Muskulatur zum Teil sogar besser berücksichtigt.113 Einzelne Instanzgerichte haben die aufgeworfenen Fragen mittlerweile zum Teil gestellt. So ließ etwa das Verwaltungsgericht Augsburg eine noch vom Bundesverwaltungsgericht für ausreichend erachtete »substantiierte und nachvollziehbare« Darlegung der Glaubensüberzeugung nicht ausreichen, sondern verlangte sogar in einem Eilverfahren, »dass der Antragsteller das Vorliegen »zwingender Vorschriften« im Sinne des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierschG nachweist«114 . Dasselbe Gericht konstatierte gegenüber demselben Antragsteller in einem neuen Verfahren nur knapp ein Jahr später, nicht dargelegt zu haben, weshalb »die Halal-Richtlinien des Europäischen Halal Zertifizierungsinstituts, die die Anwendung einer Elektroschockbetäubung vor dem Töten eines Tieres für Muslime als möglich erachtet«115 für seine Gemeinde nicht akzeptabel sein sollen. Das Verwaltungsgericht München kam in einem anderen Fall zu dem Ergebnis, dass mangels substantiierter Darlegung entgegenstehender religiöser Textstellen aus dem Koran zu den Modalitäten des Schächtens die Elektro-Kurzzeitbetäubung als milderes Mittel gegenüber der vollständigen Betäubungslosigkeit anzuwenden ist.116 Selbst wenn im konkreten Fall entsprechende religiöse Vorschriften vom Antragsteller hinreichend dargelegt gewesen wären, sah das Gericht die Auflage zur Anwendung der ElektroKurzzeitbetäubung als verhältnismäßigen, da das Prinzip praktischer Konkordanz am besten wahrenden Ausgleich des kollidierenden Tierschutzes und der Religionsfreiheit an, da letztere selbst dann »nur im Randbereich betroffen«117 sei. Es fährt fort: »Denn während ein Eingriff in die Religionsausübung bei Anwendung der Elektrokurzzeitbetäubung, wie ausgeführt, allenfalls in geringgradigem Ausmaß anzunehmen ist, stehen dem nicht unerhebliche Schmerzen und Leiden der betroffenen Tiere 112 113 114 115 116 117

Vgl. oben unter 2.2.2. Vgl. weiterführend A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 4a TierSchG Rn. 17, S. 253. VG Augsburg, Beschl. v. 29.12.2006, Az. Au 4 E 06.1486, Hervorhebung durch den Bearbeiter; so nochmals bekräftigt in VG Augsburg, Besch. V. 19.12.2007, Az. 4 E 07.1719. Ebd. Vgl. VG München, Urt. v. 29.07.2009, Az. M 18 K 08.6337, Rn. 28ff., insbes. Rn. 34f. Ebd., Rn. 35.

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beim vollkommen betäubungslosen Schächten gegenüber, insbesondere unter Berücksichtigung dessen, dass bei einer großen Anzahl der Schlachttiere realistischerweise nicht davon ausgegangen werden kann, dass jeder Schächtschnitt optimal ausgeführt und jede der zahlreichen Auflagen hundertprozentig eingehalten werden kann […].«118 Diese Entscheidung des VG München erwuchs nie in Rechtskraft, da sie in grob rechtsfehlerhafter Weise vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof aufgehoben wurde. Dieser sprach der Verfassungsbestimmung zum Tierschutz bereits unabhängig von den Umständen des Einzelfalles einen der Religionsfreiheit dem Grundsatz nach ebenbürtigen Rang ab119 , verkannte für den konkreten Fall des Schächtens die gewichtigen und eindeutigen Implikationen der Einführung des Staatsziels vollständig120 und ging schließlich wie bereits der VGH Kassel von einer tatsächlich nicht mehr begründbaren Bindungswirkung des vor dem 01.08.2002 ergangenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus.121 Notwendigkeit weiterer behördlicher Auflagen zur Wahrung des Tierschutzes Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass selbst unter den dargestellten (fehlerhaften) Prämissen und Versäumnissen der Gerichte weitere Auflagen von den Veterinärbehörden zu erlassen sind, die eine möglichst weitgehende tatsächliche Umsetzung tierschützender Vorschriften absichern. Würden also die tatbestandlichen Grundvoraussetzungen der Ausnahmevorschrift vorliegen, Antragsteller also einer »Religionsgemeinschaft« im Sinne der Ausnahmevorschrift angehören (sich also insbesondere nicht nur zum Zweck des Schächtens zusammenfinden) und nachweisen122 (also nicht nur behaupten), dass ihnen zwingende123 religiöse Vorschriften das vollständig betäubungslose Schächten als zur Abwendung von Gewissensnot unverzichtbare und nicht nur mögliche Form der Glaubensausübung abverlangen124 , wären diesen weiterhin folgende Auflagen zu machen125 : 118

Ebd., Rn. 36, unter Verweis auf A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 4a TierSchG Rn. 8-13, S. 249-251. 119 Vgl. BayVGH, Urt. v. 22.07.2011, Az. 9 BV 09.2892, Rn. 31. 120 Vgl. ebd., Rn. 37. 121 Vgl. ebd., Rn. 38. 122 So auch BVerwG, Urt. v. 23.11.2000, Az. 3 C 40.99, zitiert nach NJW 2001, S. 1227. 123 Also nicht nur aus Tradition nach nicht mehr dem aktuellen Stand der Technik entsprechend ausgelegten oder nur als Empfehlung und nicht als Gebot zum Opfer bzw. Fleischverzehr ausgestalteten Vorschriften. 124 Dies setzt die genaue Kenntnis der Alternative der Elektro-Kurzzeitbetäubung und die Darlegung der religiösen Gründe ihrer Ablehnung voraus. 125 Zum Ganzen ausführlich A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 4a TierSchG Rn. 23-31, S. 258-265; insbesondere ist nach den hohen Darlegungsanforderungen gegenüber der Behörde, die richtigerweise zur Verwirklichung von Art. 20a GG zu stellen sind, umfänglich das religiöse Leben der Gemeinschaft, die tatsächliche Ausübung der Religionspraxis und die Bedeutung des rituellen Schächtens und des Konsums geschächteten Fleischs und die Konsequenzen der Nichtbefolgung für die Gemeinschaft und den Einzelnen zu erläutern, auch, woher das Fleisch bisher bezogen wurde, ob nur für einzelne Anlässe darauf zurückgegriffen wird oder stets und aus welchen Gründen nicht auf die Möglichkeit von Spenden zur Erfüllung der religiösen Pflichten zurück-

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sowohl die schächtende Person selbst als auch Gehilfen müssten einen besonderen, explizit für die Anforderungen des Schächtens erworbenen Sachkundenachweis vorweisen können, der auch den Umgang mit Betäubungsgeräten einschließt (Artt. 7 Abs. 2 lit. a, b, g, 21 Abs. 1 lit. b. EU-Tierschlacht-VO); letztere müssen vorgehalten werden, um im Falle von Fehlern beim Schächtschnitt möglichst schnell die Bewusstseins- und Empfindungslosigkeit des Tieres herbeiführen zu können und aus demselben Grund muss permanent ein Amtstierarzt anwesend sein126 ; die Genehmigung dürfte sich nur auf die Schächtung genauso vieler Tiere erstrecken, wie bereits im Zeitpunkt der Antragstellung nachgewiesenermaßen von Angehörigen einer oben genannten »Religionsgemeinschaft« Fleisch zur Einhaltung des religiösen Gebots gebraucht werden wird127 und wie nicht bereits durch Import beschaffbar ist; eine Abgabe geschächteten Fleisches an Personen, für die kein zwingendes religiöses Gebot gilt, muss verboten werden und die Einhaltung ist durch den Schächter durch die Vorlage detaillierter Listen nachzuweisen128 ; die Zuverlässigkeit der Antragsteller zur Einhaltung aller Auflagen muss vor Erteilung der Genehmigung in einem persönlichen Gespräch mit der Behörde positiv festgestellt worden sein, es gilt also a priori keine Vermutung dafür; außerdem muss dies auch in der Folge laufend überprüft werden, sowohl durch amtstierärztliche Überwachung des Schächtens selbst als auch der Einhaltung der strengen Regeln zur Abgabepraxis geschächteten Fleisches; Räume müssen so beschaffen sein, dass kein Tier die Schächtung eines anderen mit ansehen muss, Messer und Schärfeeinrichtungen so, dass technische Fehler, die etwa ein sägenartiges extrem schmerzhaftes Nachschneiden erforderlich machen, ausgeschlossen sind und genügend sachkundiges Personal muss die Umsetzung, insbesondere die Fixierung des Tieres, kurz vor dem Schächtschnitt, gewährleisten können.

gegriffen werden kann oder auf die Ausnahme für im nicht mehrheitlich muslimisch geprägten Ausland lebender Glaubensangehöriger. Vgl. A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 4a TierSchG Rn. 31, S. 265; der bekannt gewordene muslimische Schächter aus Hessen konnte sich 2009 nur wegen formaler Fehlerhaftigkeit einer entsprechenden Verpflichtung erfolgreich gegen die permanente Anwesenheit eines Amtsveterinärs bei der wöchentlichen Schächtung von 2 Rindern und 30 Schafen wehren, da das diese aussprechende VG Gießen eine korrespondierende Verpflichtung zum Stellen eines Amtstierarztes gegenüber dem Landkreis versäumt hatte, vgl. BVerfG (3. Kammer), Beschl. v. 28.09.2009, Az. 1 BvR 1702/09. Vgl. bereits BVerwG, Urt. v. 23.11.2006, Az. 3 C 30.05, Rn. 15. Vgl. bereits BayVGH, Beschl. v. 05.12.2008, Az. 9 CE 08.3225, Rn. 2, wo die Zahl der beantragten Schlachttiere mit 400 die Zahl der dargelegten Abnehmer mit 88 erheblich überstieg und unter letzteren gleich auf Position 1 der Liste als Abnehmer vermerkt war: »Dönerimbiss«.

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3.

Exkurs: Europarechtliche Implikationen zum Schächten

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren in Form des betäubungslosen Schlachtens beschäftigt aufgrund der religiösen Pluralisierung zahlreicher Gesellschaften auch zahlreiche Rechtsordnungen weltweit. Das Phänomen wirkt als Brennglas, unter dem die jeweiligen Ansätze zur Lösung sich diametral entgegenstehender Interessen auf einem religions- und rechtspolitisch anspruchsvollen und gesellschaftspolitisch bisweilen heiklen Spannungsfeld auf echte Bewährungsproben gestellt werden. Auch das Recht der Europäischen Union vollzieht diese Dichotomie auf supranationaler Ebene nach und es verwundert nicht, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits drei Verfahren zu entscheiden hatte, die ihren Ausgangspunkt im rituellen Schächten hatten. Wegen der ungebrochenen Aktualität, mit der die Thematik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union immer wieder diskutiert wird, aber auch wegen der vielfältigen denkbaren Anknüpfungspunkte im Gemeinschaftsrecht – Tierschutz gleichermaßen wie Lebensmittelhygiene, Verbraucherschutz sowie Grundfreiheiten, insbesondere Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit – kann als sicher gelten, dass dies nicht die letzten Berührungen der europäischen Rechtsprechung mit dem Untersuchungsgegenstand waren. Dabei gilt es im Blick zu haben, dass die genannten Regelungsbereiche des Unionsrechts zwar Besonderheiten nationalstaatlicher Regelungen berücksichtigen, die Mitgliedstaaten aber nicht an strengeren nationalen Vorschriften im Bereich des Tierschutzrechts hindern. So sieht Art. 13 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vor, dass die Union und die Mitgliedstaaten bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Union in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Binnenmarkt, Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere »als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung« tragen, hierbei aber »die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten129 , kulturelle Traditionen und das regionale Erbe« berücksichtigen. Art. 26 der EU-Schlacht-Verordnung130 stellt für den Bereich der Schlachtung von Tieren explizit klar, strengere nationale Vorschriften beibehalten (Abs. 1) bzw. für den Bereich des religiös motivierten Tötens auch nach Inkrafttreten der Verordnung neu regeln zu dürfen (Abs. 2 lit. c)). Hierunter fiele auch ein bestehendes oder ein neu erlassenes nationales Schächtverbot. Eine Schranke für strengere nationale Vorschriften zieht das europäische Recht allerdings dort, wo ein Mitgliedstaat das Inverkehrbringen tierischer Produkte aus einem anderen Mitgliedstaat mit niedrigeren Tierschutzstandards auf seinem nationalen Markt einschränken will. Die »heilige Kuh« des Unionsrechts, der Schutz der Freiheit des Binnenmarkts, soll also ausnahmslos gelten.

129 Hervorhebung durch den Bearbeiter. 130 Vgl. Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates vom 24.09.2009.

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3.1

EuGH: Schächtbeschränkungen und Schächtverbote in Belgien verletzen Religionsfreiheit nicht

Im ersten Fall, über den der EuGH am 29.05.2018 befand131 , hatten mehrere muslimische Interessensverbände Belgiens beim Gericht erster Instanz Brüssel gegen die Anordnung des Ministers für Tierwohl der Region Flandern vom 05.06.2015 geklagt, nach der rituelle Schächtungen anlässlich des muslimischen Opferfestes nur noch in zugelassenen Schlachthöfen durchgeführt werden durften. Zuvor waren seit 1998 von der zu dieser Zeit noch zuständigen Bundesbehörde jährlich temporäre Schlachtstätten während des Opferfestes zugelassen worden, um zunehmende Kapazitätsengpässe in regulären Schlachthöfen aufzufangen. Nach einem Wechsel der Zuständigkeit für das Tierwohl auf die Regionen im Jahr 2014 hatte der dann zuständige Regionalminister Flanderns angekündigt, diese Praxis wegen Art. 4 Abs. 4 der EU-Schlacht-Verordnung nicht fortzusetzen. Nach dieser Vorschrift sind zwar Schlachtmethoden, die aufgrund religiöser Riten ohne Betäubung durchgeführt werden, ausnahmsweise zugelassen; dies gilt jedoch nur, sofern die Schlachtung zumindest in einem Schlachthof erfolgt, der den spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs nach der Verordnung 853/2004 im Hinblick auf Bau, Auslegung und Ausrüstung genügt. Die klagenden muslimischen Verbände und das vorlegende belgische Gericht sahen hierin eine unverhältnismäßige Beschränkung der in Art. 10 der Europäischen Grundrechte-Charta sowie Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgten Religionsfreiheit sowie der belgischen Gepflogenheiten in Bezug auf religiöse Riten im Sinne von Art. 13 AEUV. Dem schloss sich der EuGH nicht an. Wegen der allgemeinen Geltung der Anforderung des Schlachtens in einem regulären Schlachthof unabhängig von der angewandten Methode konnte er keine unzulässige Differenzierung aufgrund der Religion erkennen. Darüber hinaus sah der Gerichtshof vor dem Hintergrund der zu erreichenden Regelungsziele in Form von Mindeststandards beim Tierschutz und der Lebensmittelhygiene bereits keine Möglichkeit, »dass das durch Art. 10 der Charta gewährleistete Recht der praktizierenden Muslime auf Religionsfreiheit während des Opferfestes in irgendeiner Weise eingeschränkt wird.«132 Durch das Judiz des EuGH bestärkt verbot Flandern das betäubungslose Schächten zum 01.01.2019 vollständig und auch Wallonien zog damit zum 01.09.2019 nach. Das flämische Verbotsgesetz wurde erwartungsgemäß umgehend Gegenstand eines neuen Rechtsstreits, den der Koordinationsrat muslimischer Institutionen in Belgien initiierte. In diesem Verfahren legte der belgische Verfassungsgerichtshof dem EuGH am 04.04.2019 u.a. die Frage vor, ob das flämische Verbot mit der Gewährleistung der Religionsfreiheit in der EU-Grundrechtecharta vereinbar ist.133 Nach der mündlichen Verhandlung am 08.07.2020, an der auch jüdische Interessensverbände sowie auf der Gegenseite die Region Wallonien beteiligt waren, stellte der Generalanwalt beim EuGH

131 132 133

Vgl. EuGH, Urt. v. 29.06.2018, Az. C-426/16. Vgl. EuGH, ebd., Rn. 68 – Hervorhebung durch den Bearbeiter. Vgl. Belgischer Verfassungsgerichtshof, Vorlageentscheidung vom 04.04.2019, Az. 53/2019, Rechtssache C-336/19 beim EuGH.

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am 10.09.2020 die Schlussanträge, in denen er das ausnahmslose Schächtverbot wegen Verstoßes gegen die Religionsfreiheit der Charta für unionsrechtswidrig hielt.134 Folgt das 27-köpfige Richtergremium der Meinung des Generalanwalts normalerweise so gut wie immer, beurteilte es die Rechtslage in diesem Fall anders. Mit einem Paukenschlag erkannte der EuGH mit dem Urteil vom 17.12.2020135 einmal mehr die »Förderung des Wohlergehens der Tiere« als eine »dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung«136 an, der im konkreten Fall trotz Eingriffs in die Religionsausübungsfreiheit jüdischer und muslimischer Gläubiger der Vorrang einzuräumen sei.137 Das gesetzliche Verbot des (vollständig) betäubungslosen Schächtens stelle insbesondere deshalb einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen Tierschutz und Religionsfreiheit her, weil es mit der Verpflichtung zur vorherigen umkehrbaren Betäubung einen Modus des Schlachtens mit anschließendem Ausbluten des noch lebendigen Tieres weiterhin ermögliche.138 Mit dieser Entscheidung habe sich der flämische Gesetzgeber auf wissenschaftliche Untersuchungen gestützt und dem »modernsten« von Art. 4 Abs. 4 der EU-Schlacht-Verordnung erlaubten Tötungsverfahren den Vorzug geben wollen.139 Schließlich habe der flämische Gesetzgeber die Regelung »nach einer auf der Ebene der Flämischen Region organisierten umfassenden Debatte« in einem »sich sowohl in gesellschaftlicher als auch in normativer Hinsicht entwickelnden Kontext« erlassen, der »durch eine Sensibilisierung für die Problematik des Tierschutzes gekennzeichnet« sei.140

3.2

EU-Bio-Siegel für Fleisch geschächteter Tiere?

Ein weiterer dem EuGH vorgelegter Rechtsstreit stammte aus Frankreich. Die in Paris sitzende Tierschutzorganisation Œuvres d’Assistance aux Bêtes d’Abattoirs (OABA) beantragte 2012 beim französischen Landwirtschaftsminister und dem ebenfalls staatlichen nationalen Institut für Herkunfts- und Qualitätszeichen, das einer französischen Marke für Rindfleisch geschächteter Tiere verliehene EU-Bio-Siegel wieder abzuerkennen. Zur Begründung führte die Organisation im Wesentlichen aus, die Herstellung von Fleisch mittels betäubungsloser Schlachtung erfülle nicht das Erfordernis der »Anwendung hoher Tierschutzstandards«, welches die das EU-Bio-Siegel regelnden Verordnungen141 jedoch vorschreiben, um das Vertrauen der Verbraucher in als ökologisch gekennzeichnete Erzeugnisse zu wahren und zu rechtfertigen. Nachdem der Minister und das Institut untätig geblieben waren und das erstinstanzliche Verwaltungsgericht den Antrag zurückgewiesen hatte, legte schließlich das Berufungsgericht 2017 dem EuGH die Frage zur Entscheidung vor, ob die zu berücksichtigenden unionsrechtlichen Vorschriften im Lichte von Art. 13 AEUV eine Verleihung des EU-Bio-Siegels für Fleisch 134 135 136 137 138 139 140 141

Vgl. EuGH: Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-336/19 [Online-Dok.] EuGH, Urt. v. 17.12.2020, Az. C-336/19. EuGH, ebd., Rn. 63. EuGH, ebd., Rn. 64ff. EuGH, ebd., Rn. 66. EuGH, ebd., Rn. 76. EuGH, ebd., Rn. 79. Vgl. Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates vom 28.07.2007 und Verordnung Nr. 889/2008 des Rates vom 05.09.2008.

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?

geschächteter Tiere zulassen oder verbieten. Der Gerichtshof entschied, dass die Vorschriften zum EU-Bio-Siegel wegen des unionsrechtlichen Ziels der Berücksichtigung des Tierwohls in Art. 13 AEUV auch in einem schwerpunktmäßig verbraucherschutzrechtlichen Kontext wie dem vorliegenden in Zusammenhang mit der EU-SchlachtVerordnung auszulegen seien.142 In letzterer ist das rituelle Schlachten ohne Betäubung lediglich als Ausnahme vom tierschutzmäßig klar vorrangigen Grundsatz der Betäubung zugelassen und erfüllt somit nicht das für das EU-Bio-Siegel nötige Kriterium, Leiden von Tieren »so gering wie möglich«143 zu halten. Der EuGH konstatiert unmissverständlich: »Entgegen dem, was die französische Regierung und die Beklagten des Ausgangsverfahrens in ihren schriftlichen Erklärungen vortragen, sind die von religiösen Riten vorgeschriebenen speziellen Schlachtmethoden, die ohne vorherige Betäubung durchgeführt werden […], nicht mit der Schlachtmethode unter vorheriger Betäubung […] gleichwertig, was die Sicherstellung eines hohen Tierschutzniveaus zum Zeitpunkt der Tötung betrifft.«144

4.

Zusammenfassung und Fazit

Religiös motivierte Gewalt gegenüber (nichtmenschlichen) Tieren war und ist ein weltweites, konfessionsübergreifendes Phänomen, welches das Zusammenleben in religiös pluralisierten Gesellschaften gleichermaßen auf enorme Bewährungsproben stellt wie die tatsächliche Durchsetzung den Tierschutz intendierender behördlicher Auflagen und Gerichtsentscheide. Dies offenbaren die die Tiere in besonders grausamer Weise objektifizierenden Schlaglichter der hinduistischen Gebräuche des Jallikattu und Gadhimai in Indien und Nepal gleichermaßen wie das im europäischen Kultur- und Rechtsraum seit Jahrzehnten kontrovers diskutierte und zahlreichen Gerichtsentscheidungen zugrunde liegende betäubungslose Schlachten (Schächten). In Deutschland wurde das Staatsziel Tierschutz gerade vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 15.01.2002 eingeführt, das die Versagung einer Schächtgenehmigung schon deshalb für rechtswidrig erachtete, weil der Tierschutz zum damaligen Zeitpunkt noch keinen Verfassungsrang genoss. Er wurde noch im selben Jahr dieses Urteils als eine anderen Verfassungsbestimmungen normenhierarchisch gleichrangige, zur Einschränkung von Grundrechten geeignete und für alle staatlichen Gewalten rechtsverbindliche Bestimmung ausgestaltet. Dennoch vermochten es Behörden, Gerichte und der Gesetzgeber bis heute nicht, dem Staatsziel Tierschutz zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen. Im Gegenteil verletzten sie es in zum Teil eklatanter und rechtsstaatsunwürdiger Art und Weise, wofür es auch neben den Fehlentscheidungen zum Schächten eine Reihe weiterer eindrücklicher Negativbeispiele gibt.145 142 143 144 145

Vgl. EuGH, Urt. v. 26.02.2019, Az. C-497/17, Rn. 42ff. EuGH, ebd., Rn. 47ff. EuGH, ebd., Rn. 50. Vgl. diesbezüglich bereits unter 2.1 und in Fn. 37 mit weiteren Nachweisen.

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Nach hier vertretener Auffassung stellt die Ausübung ritueller Gewalt an Tieren wie u.a. in Form des Schächtens bereits kein in den Schutzbereich eines Grundrechts fallendes Verhalten dar. Dies liegt zum einen in der andernfalls bewirkten Usurpierung des staatlichen Gewaltmonopols begründet. Weiterhin würde dadurch in doppelter Weise gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz des »ordre public« verstoßen, einerseits durch die rechtliche Beanspruchung (einer nachweislich besonders leidintensiven Form) der Gewaltausübung; andererseits verletzt die Objektifizierung von Tieren zum Ausübungsgegenstand rituell motivierter Gewalt diese in ihrem bereits heute rechtlich anerkannten Eigenwert und ihrer daraus folgenden Würde und ignoriert ihre Subjektivität und Individualität vollständig. Die Prüfung dieser grundrechtsdogmatischen Kategorien am Beispiel des vorliegenden Untersuchungsgegenstands wurde sowohl vom Gesetzgeber als auch von den Gerichten bislang versäumt. Dies nachzuholen hat höchste Priorität. Da die Notwendigkeit des Diskurses rechtssicherer und religiös und weltanschaulich neutraler Schranken des Grundrechtsschutzes besonders in Fragen der Religionsfreiheit mittlerweile auch im verfassungsrechtsliterarischen ›Mainstream‹ zunehmend dynamisch diskutiert wird, ist die Ausgangslage dafür gut, dass sich auch der Gesetzgeber und die Gerichte mit den dargestellten grundlegenden Fragen beschäftigen. Eine Streichung der Ausnahmevorschrift des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG wäre die nötige und jedenfalls seit Einführung des Staatsziels Tierschutz und des damit verbundenen Optimierungsgebots in Art. 20a GG auch verfassungsrechtlich gebotene Konsequenz.146 Sie würde zudem zu Rechtssicherheit führen, insbesondere für die Veterinärverwaltung, die mit der Komplexität der geltenden Rechtslage und dem erheblichen Aufwand der gerichtsfesten Gestaltung und Kontrolle der zahlreichen Auflagen zu jedem einzelnen Ausnahmeantrag schlicht überfordert ist. Der Gesetzgeber sollte sein Handeln dabei weder von Instrumentalisierungsversuchen islamophober oder antisemitischer Gruppen noch von Fehlinformationen der Verfechter des betäubungslosen Schlachtens beeinflussen lassen. Er sollte in religiös und weltanschaulich neutraler Weise den sich selbst gesetzten und in Verfassungsrang erhobenen Auftrag in die Tat umsetzen, jedes individuelle Tier als Mitgeschöpf aus ethischen Gründen besser zu schützen, als dies bisher der Fall ist. Dies mag im Spannungsfeld religiös motivierten Verhaltens politischen Rückgrat erfordern und nicht in allen Teilen der Bevölkerung zu gesteigerten Popularitätswerten führen; verfassungsrechtlich und ethisch geboten ist die geforderte Gesetzesänderung gleichwohl. Auch das Europarecht stünde dem nicht entgegen, sondern sieht in Art. 26 Abs. 2 lit. c) der EU-Schlacht-VO für den Bereich religiöser Schlachtungen explizit die Möglichkeit strengerer nationaler Regelungen vor. Auch der EuGH hat diese nationale Verbotsmöglichkeit mittlerweile mit seinem grundlegenden Urteil vom 17.12.2020, das das legislative Schächtverbot Flanderns als zulässige und verhältnismäßige Beschränkung der Religionsfreiheit bestätigte, unmissverständlich festgestellt. Selbst unter den Prämissen der gegenwärtigen in bemerkenswert weiten Teilen an groben Rechtsfehlern leidenden Rechtsprechung hat die Veterinärverwaltung bereits unter dem geltenden Regelungsregime des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG die Pflicht, im 146 Vgl. A. Hirt/C. Maisack/J. Moritz: Tierschutzgesetz, § 4a TierSchG Rn. 28, S. 263.

Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?

Lichte von Art. 20a GG aufgrund umfangreicher und kritischer Einzelfallprüfungen anhand objektiver Maßstäbe die absolute Mehrzahl der Anträge auf ausnahmsweises Schächten mit Verweis auf die Nichterfüllung der Tatbestandsmerkmale abzulehnen bzw. jedenfalls nur unter den dargestellten umfangreichen und streng zu kontrollierenden Auflagen zuzulassen. Dies hätte einen weiteren deutlichen Rückgang ritueller Schächtungen in Deutschland zur Folge bzw. soweit von den Antragstellern die ElektroKurzzeitbetäubung nicht akzeptiert wird ein faktisches Ende. Das Recht der Europäischen Union bietet eine Reihe von Anknüpfungspunkten, an denen sich Streitigkeiten aufgrund rituellen betäubungslosen Schlachtens entzünden können. Dies zeigten bereits die 2018 und 2019 vom EuGH entschiedenen Fälle, in denen nur die hygiene- und tierschutzrechtlichen Rahmenbedingungen des Schächtens sowie der Verbraucherschutz im Mittelpunkt standen. Aufgrund der am 01.01.2019 bzw. 01.09.2019 in Kraft getretenen vollständigen Verbote in den Regionen Flandern und Wallonien hatte sich der EuGH erstmals zur grundsätzlichen Frage der Vereinbarkeit eines vollständigen Schächtverbots mit der EU-Grundrechte-Charta zu entscheiden. Unerwartet erachtete der Gerichtshof das Verbot entgegen der anderslautenden Schlussanträge des Generalanwalts für unionsrechtskonform. Er stellte als Rechtfertigung des Eingriffs in die Religionsfreiheit insbesondere in Rechnung, dass der Gesetzgeber das Verbot nach einer umfassenden demokratischen Debatte im Kontext eines gesellschaftlichen Wandels getroffen habe, der »durch eine Sensibilisierung für die Problematik des Tierschutzes gekennzeichnet«147 sei. Es ist zu hoffen, dass zahlreiche Mitgliedstaaten die geklärte Unionsrechtslage zum Anlass nehmen, den Tierschutz in ihren nationalen Rechtsordnungen in der Abwägung mit Grundrechten höher zu gewichten und dadurch betäubungsloses Schlachten aber auch andere Formen der Tierausbeutung in den Bereichen Ernährung, Bekleidung, Tierversuche und Unterhaltung zu beenden. Abschließend bleibt zu konstatieren, dass selbst für den Juristen, dem kontroverse Debatten um »die richtige« Auslegung textlicher Ge- und Verbote beileibe nicht fremd sind, schier unmöglich ist, die behauptete Vereinbarkeit göttlicher Gebote wie der Barmherzigkeit, Rücksichtnahme, des Respekts und der Achtung gegenüber nichtmenschlichen Tieren mit den tatsächlichen Umgangsweisen im Rahmen ritueller Gebräuche aber auch im Rahmen der ganz profanen gedankenlosen Beteiligung zahlreicher Gläubiger an den mannigfachen Tierquälereien des Alltags im Bereich der Ernährung, Bekleidung, Unterhaltung etc. nachzuvollziehen. Wie die unter anderem in diesem Sammelband enthaltenen kritischen Stimmen aus der Theologie zeigen, ist er damit aber zum Glück disziplinenübergreifend nicht alleine. Dieses Umdenken stiftet Zuversicht, dass der Anfang vom Ende speziesistischer Diskriminierung gemacht und das gemeinsame Ziel tatsächlich erreichbar ist: Friede auf Erden. Für alle Tiere.

147

EuGH, Urt. v. 17.12.2020, Az. C-336/19, Rn. 79.

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Religiös motivierte Gewalt gegenüber Tieren als Grundrechtsausübung?

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Schächtung, Xenotransplantation, Stammzellforschung Religiöse Sichtweisen im kritischen Licht heutiger Rechtsprechung und Ethik Hartmut Kreß

1.

Problemstellung

Die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier gehört herkömmlich zu den Kernthemen der Religionen. Sie berührt die religiöse Schöpfungslehre und betraf oder betrifft den Kult und insofern die Beziehung der Menschen zu Gott bzw. zu den Göttern selbst, etwa wenn der Gottheit kultisch-rituell ein Tieropfer dargebracht wird, um Sühnung zu erreichen. Nun sind die religiösen Sichtweisen auf Tiere ambivalent. Es finden sich Impulse zur Wertschätzung von Tieren, die besonders stark im Judentum verankert sind, z.B. in Gestalt einer Idee der hebräischen Bibel: Auch Tieren soll die Sabbatruhe zugutekommen.1 Daneben sind in den Religionen Motive des Dualismus, der Abwertung, ja der Verdinglichung von Tieren vorhanden. Im nachfolgenden Abschnitt 2 wird eine Verzweigung des Themas »religiöse Gewalt an Tieren« erörtert, die nicht nur herkömmlich binnenreligiös bedeutsam ist, sondern noch heute die Rechtsordnung und Rechtsprechung des säkularen Staates herausfordert: das religiöse Schlachten. An späterer Stelle des Aufsatzes, in Abschnitt 3, wird die Blickrichtung umgekehrt. Es wird kursorisch angesprochen, wie sich Religionen ihrerseits zu tierethischen Fragen bzw. zur Gewalt an Tieren positionieren, die religionsexterne Ursachen haben, da sie auf moderner Biotechnologie beruhen. Zum Phänomen der Gewalt an Tieren legt der hier vorliegende Beitrag ein Verständnis zugrunde, das generell gilt und nicht nur auf Religionen zugeschnitten ist.2 Gemeint sind der Zugriff auf den Körper von Tieren sowie belastende, Schmerz und Leiden erzeugende Durchgriffe auf sie. Oftmals erfolgen solche Handlungen in organisierter, institutionalisierter Form. Sie haben systemischen und kollektiven Charakter und sind gesellschaftlich eingeübt, stellen also eine gesellschaftliche »Normalität« dar. Dies ist auch deshalb der Fall, weil zu ihnen ein breites stillschweigendes Einvernehmen

1 2

Vgl. H.-J. Loth: Judentum, S. 262. Vgl. M. Sebastian: Gewalt, S. 133.

200

Hartmut Kreß

herrscht. In derartige Gewalt sind sowohl Akteure als auch Nutznießer involviert – ein Sachverhalt, der sich exemplarisch an der massenhaft-industriellen Fleischproduktion und dem Fleischkonsum zeigt. Die an Tieren geübte Gewalt unterscheidet sich kategorial von der Gewalt gegen Menschen, weil zu Letzterer in Gesellschaft und Staat ein Grundkonsens in Form moralischer und rechtlicher Unwerturteile vorhanden ist.

2.

Problematik des Schächtens: Wie reagiert die moderne Rechtsordnung?

2.1

Vorrang der Religionsfreiheit?

Innerhalb einzelner Religionen ist Gewalt gegen Tiere seit der Antike institutionalisiert und wird als »normal« deklariert, indem die Tiere gemäß religiöser Vorgaben unter Verzicht auf Betäubung geschlachtet werden. Diese Praxis ist heutiger Einschätzung zufolge als schmerzbelastend und als Leiden verursachend einzustufen.3 Als im Judentum und Islam die Schächtungsriten (hebräisch: »schechita«) entstanden, war die moderne Bewertung natürlich unbekannt. Trotzdem machen gegenwärtig religiöse oder theologische Stimmen geltend, die Durchführung solcher ritueller Handlungen sei unverändert legitim; im säkularen Staat würden sie durch die Religionsfreiheit abgedeckt. Theologisch heißt es, dem Tieropfer komme quer durch verschiedene Religionen eine ganz besonders prominente, letztlich identitätsstiftende Rolle zu. Im Christentum werde Christus als Lamm Gottes bezeichnet, womit die Funktion Christi als stellvertretendes Opfer für die Menschen umschrieben und die »Tötung eines Tiers aus religiösen Gründen […] symbolisch vergegenwärtigt« werde; und für nichtchristliche Religionen gelte: »Im Fall des Schächtens wird auf den Verzehr des Blutes verzichtet, das den Sitz des von Gott gestifteten Lebens symbolisiert.«4 Aufgrund des Grundrechts der Gläubigen auf Religionsfreiheit müsse dies toleriert werden. Durchweg sehr viel kritischer befassen sich die Rechtspolitik, zahlreiche Stimmen aus der Rechtswissenschaft sowie Gerichte mit dem Thema. Angesichts des Antagonismus Religionsfreiheit versus Tierschutz legen sie den Tierschutz, der die Gewalt an Tieren aufgrund religiöser Riten eindämmen soll, mit hohem Gewicht in die Waagschale. Dies kann im hier vorliegenden Beitrag nicht umfassend nachgezeichnet werden. Aber es ist an einige Wegstationen der Rechtspolitik und an wesentliche Argumente der juristischen Reflexion zu erinnern5 , um hieran anknüpfend Schlussfolgerungen zu nennen.

3 4 5

Vgl. J. Luy: Das Dilemma des religiösen Schlachtens. A. von Scheliha: Tierschutz als Thema und Aufgabe protestantischer Sozialethik, S. 19. Ausführlicher z.B. J. J. Mai: Möglichkeiten der Integration islamischen Rechts, S. 237ff.

Schächtung, Xenotransplantation, Stammzellforschung

2.2

Entwicklung der Rechtslage

Gerichtsurteile und Rechtspolitik Inländisch ist das Tierschutzgesetz einschlägig, das in § 4 Absatz 1 vorschreibt, Wirbeltiere dürften »nur unter wirksamer Schmerzausschaltung (Betäubung) in einem Zustand der Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit oder sonst, soweit nach den gegebenen Umständen zumutbar, nur unter Vermeidung von Schmerzen getötet werden«. In § 4a wird für Schlachtungen die vorherige Betäubung angeordnet und werden für Ausnahmen, namentlich für religiös begründete Ausnahmen, einengende Kriterien genannt. Es müssen »zwingende Vorschriften« einer Religionsgesellschaft oder deren striktes Verbot vorliegen, Fleisch nicht geschächteter Tiere zu verzehren. Was die Rechtsprechung anbelangt: Im Jahr 1995 hat das Bundesverwaltungsgericht religiösen Schlachtungen Grenzen gezogen. Es entschied, dass Muslime in Deutschland nicht ohne weiteres und nicht pauschal Anspruch auf Ausnahmegenehmigung für ein betäubungsloses Schächten besitzen. Denn sie könnten nicht behaupten, ihnen sei es zwingend verboten, das Fleisch von Tieren zu verzehren, die vor dem Schlachten nicht betäubt worden seien. Außerdem konzediere der Islam Muslimen im Ausland andere, mildere Regeln als diejenigen, die in muslimischen Ländern gelten. In dem 1995 entschiedenen Fall hatte sich die Klägerin auf ihre Religionsfreiheit berufen. Das Bundesverwaltungsgericht gab der Vermeidung von Gewalt gegen Tiere jedoch den Vorrang und stützte sich in seinem Urteil hierfür auf den Willen des Deutschen Bundestags, der das Tierschutzgesetz verabschiedet hatte: »Der Gesetzgeber geht – in Übereinstimmung mit dem Europäischen Übereinkommen über den Schutz von Schlachttieren vom 10.5.1979 (BGBl II 1983, 771) – davon aus, dass die Betäubung die Leiden der Tiere bei der Schlachtung gegenüber dem betäubungslosen Schlachten verringert.«6 Der Satz lässt zugleich erkennen, dass sich die deutsche Gesetzgebung eine starke Version des Tierschutzes, nämlich – im Unterschied zur nur anthropozentrischen oder pädagogischen Herangehensweise – den sogenannten ethischen Tierschutz bzw. die pathozentrische Fundierung des Schutzanspruchs von Tieren zu eigen gemacht hat. Sie sind schonend zu behandeln, weil sie Schmerz und Leiden empfinden. Im Jahr 2002 verkündete das Bundesverfassungsgericht indessen ein Urteil, welches den Tierschutz massiv relativierte. Ein nichtdeutscher gläubiger muslimischer Metzger dürfe Tiere ohne Betäubung schlachten, auch um Kunden zu beliefern. Dies resultiere aus seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz) in Verbindung mit der Religionsfreiheit (Artikel 4 Absatz 1 und 2 Grundgesetz).7 Das Urteil ist juristisch äußerst nachdrücklich kritisiert worden. Das Bundesverfassungsgericht habe »im Blick auf das Schächten eine Tür geöffnet, welche der Gesetzgeber aus Gründen des Tierschutzes ausdrücklich verschließen wollte«8 . Methodisch habe das Karlsruher Gericht das Postulat einer verfassungskonformen Gesetzesauslegung verfehlt9 und kurzschlüssig »auf eine methodisch einwandfreie Prüfung der

6 7 8 9

Bundesverwaltungsgericht: Tierschlachtungen ohne vorherige Betäubung, 15.06.1995, S. 62. Vgl. Bundesverfassungsgericht: Tierschlachtung ohne vorherige Betäubung, 15.01.2002. K.-H. Kästner: Das tierschutzrechtliche Verbot des Schächtens, S. 495. Vgl. ebd.

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Glaubens- und Religionsfreiheit verzichtet«10 . Zu den Eigenarten des Urteils zählt es, dass das Bundesverfassungsgericht auf die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz auswich. Im vorliegenden Fall konnte es Artikel 12 Absatz 1 Grundgesetz, die Berufsausübungsfreiheit, nicht zum Angelpunkt machen, obwohl dies von der Sache her eigentlich naheliegend gewesen wäre. Jedoch stellt Artikel 12 ein »Deutschen-Grundrecht« dar und ließ sich auf den Kläger, einen türkischen Staatsangehörigen, nicht anwenden. Grundrechtssystematisch bot der Rückgriff auf die allgemeine Handlungsfreiheit als Auffanggrundrecht für das Bundesverfassungsgericht jedoch nur ein schwaches Fundament. Um dem Metzger recht zu geben, kombinierte das Karlsruher Gericht sie daher mit der Religionsfreiheit (Artikel 4 Absatz 1 und 2 Grundgesetz). Hierdurch vollzog das Gericht in systematisch unabgesicherter, rechtsmethodisch unklarer Weise eine »Schutzbereichsverstärkung« und konstruierte ein »Kombinationsgrundrecht«11 , das unpräzis aus eigentlich nicht anwendbarer Berufsausübungs- sowie der allgemeinen Handlungs- und individuellen Religionsfreiheit zusammengestückelt war. Das Bundesverfassungsgericht erschuf ein »Grundrecht der Berufsfreiheit muslimischer Metzger«12 , um das Tierschutzanliegen dann in die zweite Reihe zu verweisen. Für das Urteil war der Erste Senat des Gerichts zuständig. Wie massiv die Urteilskritik ausfiel, sei mit einem Zitat illustriert: »Statt zu klären, ob das vom Beschwerdeführer praktizierte Schächten als Inanspruchnahme der Religionsausübungsfreiheit qualifiziert werden kann […] sowie unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in dieses Schutzgut gerechtfertigt werden können, weicht der 1. Senat […] in die Nebulosität freischwebender Grundrechtslyrik aus.«13 Konzeptionelle oder methodische Desiderate von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, zu denen generell erheblicher Diskussionsbedarf besteht14 , sowie speziell dieses Urteils lassen sich an dieser Stelle nicht vertiefend darlegen. In der Öffentlichkeit fand das »Schächtungsurteil« jedenfalls ein zwiespältiges Echo. In der Politik bewirkte es dahingehend einen Meinungswandel, dass der Tierschutz nicht nur – wie zuvor – lediglich ein Element des Gemeinwohls bilden dürfe. Das Parlament stufte ihn verfassungsrechtlich hoch15 , indem es ihn 2002 zum Staatsziel erhob. In der Reaktion auf das Schächtungsurteil verlieh die Bundesrepublik Deutschland – als erster Staat in Europa – dem Tierschutz Verfassungsrang und fügte ihn in den Artikel 20a Grundgesetz ein. Laut Gesetzesbegründung wollte der Bundestag »die Wirksamkeit tierschützender Bestimmungen sicherstellen« und »auch [...] die einzelnen Tiere« schützen.16 Indem der Tierschutz den Status eines Staatsziels erhielt, wurde rechtssystematisch »die

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14 15 16

U. Volkmann: Anmerkung, S. 335. W. Höfling: Kopernikanische Wende rückwärts?, S. 335. Bundesverfassungsgericht: Tierschlachtung ohne vorherige Betäubung, 15.01.2002, S. 664. W. Höfling: Kopernikanische Wende rückwärts?, S. 331. Nachdrücklich kritisch z.B. gleichfalls T. Spranger: Die Figur der ›Schutzbereichsverstärkung‹; Chr. Spielmann: Die Verstärkungswirkung der Grundrechte; A. Geismann: Gleichgeschlechtliche Ehe, S. 106ff. Vgl. nur B. Rüthers: Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat. Vgl. R. Scholz: Grundgesetzliches Menschenbild und Staatsziel ›Tierschutz‹, S. 948ff. Deutscher Bundestag: Drucksache 14/8860, S. 3.

Schächtung, Xenotransplantation, Stammzellforschung

Möglichkeit weitreichender tierschützender Immanenzbeschränkungen der vorbehaltlos gewährten Grundrechte« eröffnet.17 Seitdem begrenzt er auch das Grundrecht auf Religionsfreiheit in Artikel 4 Grundgesetz. Davon abgesehen besaß die Verfassungsänderung eine ganz bestimmte religionspolitische Stoßrichtung: »Namentlich die konservativen Parteien, welche einer Ergänzung des Art. 20a GG um den Tierschutz lange skeptisch gegenüberstanden, sahen durch die Verfassungserweiterung eine Möglichkeit, verstärkten kulturellen Einflüssen des fundamentalistischen Islam entgegenzuwirken.«18 Vor diesem Hintergrund überrascht es, wie nachfolgend, im Jahr 2006, das Bundesverwaltungsgericht in einer neuerlichen Entscheidung zur Causa des türkischen Metzgers mit dem Spannungsverhältnis Tierschutz versus Religionsfreiheit umging. Es erklärte recht pauschal Schächtungen für zulässig. Dies trug ihm die Kritik ein, es habe die Religionsfreiheit überdehnt.19 Immerhin enthielt jedoch sogar das Bundesverwaltungsgerichtsurteil von 2006 Bemerkungen, die die Gewalt gegen Tiere in Form der religiösen Schlachtung zumindest theoretisch limitierten. Denn es verlangte, »dass der Kläger« – türkischer Staatsangehöriger, sunnitisch, Metzgereibetreiber – »das betäubungslose Schlachten lediglich in dem Umfang praktiziert, wie es zur Versorgung von Kunden notwendig ist, die aus religiösen Gründen nur Fleisch von geschächteten Tieren verzehren dürfen.«20 Problempunkte In dieser Situation wäre es sinnvoll und geboten gewesen, dass der Deutsche Bundestag erneut tätig geworden wäre, um auf der Ebene der Gesetzgebung endgültig Klarheit herzustellen. Ein juristisch fundiertes interdisziplinäres Statement schlug 2010 vor, der Bundestag möge das Tierschutzgesetz dergestalt ändern, dass der Tierschutz ungeachtet der Religionsfreiheit adäquat sichergestellt würde. Zum religiösen Schlachten sei durch Gesetz zu bestimmen, dass das Tier in aller Regel – als Konzession an die Religionsfreiheit: unter Duldung singulärer, aber eng gefasster, präzis definierter und zu kontrollierender Ausnahmen – vor der Tötung durch Elektrokurzzeitbetäubung in eine Bewusstlosigkeit zu versetzen ist. Hiermit sollen Leiden und Schmerzen vermieden werden.21 Stimmen aus dem Islam und Judentum hatten22 und haben das Verfahren der Elektrobetäubung immer wieder als für sie akzeptabel bezeichnet. Der Gesetzgeber nahm sich des Themas aber nicht wieder an. Das Schweigen des Deutschen Bundestags ist zu bedauern. Es erklärt sich unter anderem daraus, dass religiös besetzte Themen innenpolitisch als heikel gelten. Seit Jahrzehnten schiebt der Gesetzgeber die Befassung mit revisionsbedürftigen gesetzlichen Normen zu Kirchen und Religionen auf die lange Bank, selbst wenn der Reform- und

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So bereits im Vorlauf zur Aufwertung des Tierschutzes durch einen die Verfassung ändernden Parlamentsbeschluss M. Kloepfer/M. Rossi: Tierschutz in das Grundgesetz?, S. 374. Th. Cirsovius: Überdimensionaler Grundrechtsschutz, S. 238. Vgl. ebd., S. 238f.; H.-G. Kluge: Das Schächten als Testfall des Staatszieles Tierschutz. Bundesverwaltungsgericht: Urteil vom 23.11.2006, Rdnr. 24. Vgl. K. Köpernik/J. Caspar: Juristische Evaluation des deutschen Dilemmas, S. 26ff. Vgl. H.-G. Kluge: Das Schächten als Testfall des Staatszieles Tierschutz, S. 654.

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Klarstellungsbedarf übergroß ist.23 Nachdem in den Jahren um und nach 2000 rechtspolitisch über die rituell-religiös korrekte Schlachtungspraxis diskutiert worden war, brach zudem nach 2010 eine im Vergleich noch heiklere Frage auf, die das ältere Thema überlagerte: ob bei Jungen und Säuglingen aus religiösen Gründen eine Beschneidung durchgeführt werden darf, obwohl solche Genitalbeschneidungen im Widerspruch zu ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und zu weiteren Grundrechten stehen. Mit dem Beschneidungsthema gerieten jüdisch- und muslimisch-religiöse Traditionen und das heutige Verständnis von Kinderrechten in Gegensatz.24 Der Deutsche Bundestag konnte dem Problem nicht ausweichen, nachdem hierzu ein Aufsehen erregendes Urteil des Landesgerichts Köln vorlag25 , und arbeitete es 2012 schnellstmöglich ab, ohne eine konsistente Lösung zu erzielen. Das grundlegende Dilemma, das bereits den Kontroversen zum religiösen Schlachten zugrunde lag – der Widerstreit zwischen religiösen Traditionen einerseits, auf der Aufklärung beruhenden Normen der modernen Ethik und des Verfassungsstaats andererseits –, war mit der Beschneidungsfrage aufs Neue zutage getreten.

2.3

Europäisches Recht

Was den Antagonismus Tierschutz versus Religionsfreiheit anbelangt, so greift für die Bundesrepublik Deutschland das höherrangige Recht der Europäischen Union. Auch hier ist der Klärungsprozess noch nicht abgeschlossen. Aber es zeigt sich deutlich die Tendenz, den Tierschutz sehr hoch zu gewichten. Im Jahr 1993 hatte die Schlachtrichtlinie des Rates der Europäischen Union es zwar offengehalten, Schlachttiere aufgrund von religiösen Riten betäubungslos töten zu dürfen. Gleichzeitig erlaubte sie aber den Mitgliedsstaaten, zum Schutz der Tiere weitergehende bzw. strengere Vorgaben zu erlassen.26 Später schloss sich die EU-Kommission der Auffassung von Nichtregierungsorganisationen an, denen zufolge zu viel tierisches Fleisch, das betäubungslos religiös geschlachtet werde, in den allgemeinen nichtreligiösen Fleischhandel gelange. Dies betreffe unter anderem »die unverhältnismäßig hohe Zahl von Schlachtungen nach jüdischem Ritus, da die Hinterviertel betäubungslos geschlachteter Tiere, um die Kosten der religiös vorgeschriebenen Behandlung dieses Fleisches zu sparen, auf dem regulären Fleischmarkt angeboten werden«.27 Über das Problem wurde und wird immer wieder berichtet. Auch im europäischen Rahmen haben sich vor allem die Gerichte mit derartigen Streitfragen auseinanderzusetzen. Zu den markanten neueren Gerichtsentscheidungen gehört ein Spruch des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2019, dem gemäß Fleisch aus rituellen Schlachtungen, bei denen keine Betäubung vorgenommen wurde, das europäische Biosiegel nicht tragen darf. Das Urteil wurde von der Großen 23 24 25 26 27

Zu vielen Einzelfragen vgl. J. Neumann u.a. (Hg.): Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht. Vgl. M. Franz (Hg.): Die Beschneidung von Jungen. Vgl. H. Kreß: Anmerkung zu LG Köln, Urteil vom 07.05.2012. Vgl. Richtlinie 93/119/EG: Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung, Art. 5 Abs. 2, Art. 18 Abs. 2. K. Köpernik/J. Caspar: Juristische Evaluation des deutschen Dilemmas, S. 25.

Schächtung, Xenotransplantation, Stammzellforschung

Kammer des EuGH getroffen. Die Urteilsbegründung legte dar, bei derartigen Schlachtungen würden »Schmerzen, Stress oder Leiden des Tieres« nicht in der Weise gemildert wie bei den eigentlich vorgeschriebenen nichtreligiösen Verfahren.28 Es sei sicherzustellen, »dass die Erzeugnisse, die das EU-Bio-Logo tragen, tatsächlich unter Beachtung der höchsten Normen, u.a. im Bereich des Tierschutzes, erzeugt wurden.«29 Zuvor hatte der Europäische Gerichtshof ein anderes religiöse Ansprüche eindämmendes, die religiöse Praxis einengendes Urteil ausgesprochen. Im Jahr 2018 hatte er es für zulässig erklärt, wenn Belgien das betäubungslose Schlachten nur in regulären Schlachthöfen erlaubt. Der belgische Staat darf Muslimen also untersagen, dass sie aus Anlass von religiösen Festen zusätzliche Schlachtstätten einrichten, die sie nur zeitweise benutzen.30 Zurzeit (Oktober 2020) ist vor dem EuGH ein weiteres Verfahren anhängig; das Urteil ist noch nicht verkündet. Auf der Basis belgischer Regierungsbeschlüsse und Gerichtsverfahren ist darüber zu befinden, ob die Schlachtung ohne Betäubung in den flämischen und wallonischen Regionen Belgiens von Staats wegen gänzlich verboten werden darf. Zu diesem Sachverhalt hat der EuGH-Generalanwalt dem Gericht vorgeschlagen, das Begehren des belgischen Staates abzuweisen und es ihm nicht zu gestatten, religiös-rituelles Schlachten ohne Betäubung ganz zu unterbinden. Meist folgt der EuGH dem Votum, das zuvor sein Generalanwalt vorgelegt hat – aber nicht immer. Beim zuvor geschilderten Fall des Biosiegels hatte der EuGH im Sinn des Tierschutzes strenger geurteilt als die Empfehlung des Generalanwalts gelautet hatte31 ; d.h. das endgültige Urteil war religionskritisch ausgefallen. In dem Votum, das das zurzeit laufende Gerichtsverfahren betrifft, bezieht sich der Generalanwalt auf die Vorgabe der EU-Schlachtrichtlinie, durch die die Europäische Union es den Einzelstaaten erlaubt, Tiere umfassender zu schützen, als es von den Rahmenvorgaben der EU her geboten ist. Aber er sieht die Notwendigkeit einer weitergehenden Abwägung. Der EuGH stehe vor einer »delikaten Frage«.32 Inhaltlich geht es – wie gesagt – darum, ob in der flämischen und wallonischen Region Belgiens die religiöse Schächtung vollständig auf Null gesetzt werden darf. Dort lebende Gläubige wären dann auf den Import von Fleisch angewiesen, das andernorts religiös korrekt geschlachtet worden ist. Im Ergebnis wendet sich der Generalanwalt gegen ein vollständiges Verbot der religiösen Schlachtung durch den belgischen Staat. Zur Begründung verweist er auf die in der EU-Grundrechtscharta verankerte Religionsfreiheit und argumentiert, dieser Begriff sei in den EU-Dokumenten weit gefasst.33 Andererseits: Es fällt auf, dass der Generalanwalt ausdrücklich seinem Bedauern Ausdruck verleiht, die EU-Dokumente hätten in Anbetracht der religiösen Schächtung den Tierschutz unpräzis erfasst und die EU-Politik sei in puncto Präzisierung untätig geblieben. In der einschlägigen EU-Verordnung sei die Ausnahmebestimmung für das

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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer): 26.02.2019, Rdnr. 48. Ebd., Rdnr. 51. Vgl. Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer): 29.05.2018. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Nils Wahl: 20.09.2018, Rdnr. 93. Schlussanträge des Generalanwalts Gerard Hogan: 10.09.2020, Rdnr. 14. Vgl. ebd., Rdnr. 54.

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Schächten »leider vage«, so dass sie »eine weite Auslegung zum Nachteil des Tierschutzes zulässt«.34 Konkret bekräftigt der Generalanwalt, rituell geschlachtetes Fleisch dürfe nicht in die allgemeine Lebensmittelkette gelangen, was faktisch jedoch in hohem Maß geschehe.35 Er fordert vom EU-Gesetzgeber, eine Kennzeichnungspflicht einzuführen.36 Das Votum des Generalanwalts hat also zwei Seiten. Zwar gibt er den Klage führenden islamischen Organisationen im Ergebnis Recht, weil ein gänzliches Verbot der religiösen Schlachtung durch den Staat zu tief in ihre Religionsfreiheit einschneide. Aber er hebt immer wieder den hohen Rang des Tierschutzes hervor und wiederholt die Leitidee der einschlägigen EU-Verordnung, dass Tiere »von jedem vermeidbarem Schmerz, Stress und Leiden verschont werden« müssen.37 Was dies Letztere anbetrifft, geht die Europäische Union übrigens sehr weit. Denn in ihrer Richtlinie zu wissenschaftlichen Tierversuchen hat die Europäische Union sogar den Schutz vorgeburtlichen tierischen Lebens eingefordert, weil tierische Feten Leid empfinden.38 Während der Niederschrift dieses Manuskripts ist noch nicht bekannt, wie der Richterspruch des EuGH lauten wird. Wenn die Richter dem Fazit des Generalanwalts nicht folgen würden und falls sie in Belgien das Verbot der Schächtung tatsächlich doch für zulässig erklären sollten, würde die Liste europäischer Staaten, in denen ein solches Verbot gilt, umfangreicher als bislang.39 Bislang sind Verbote in Polen, Dänemark, Norwegen, der Schweiz – dort seit 1893 sogar mit Verfassungsrang40 –, in Island und Liechtenstein anzutreffen.

2.4

Zwischenergebnis

Zieht man ein Resümee, ist unverkennbar als Trend der deutschen und europäischen Rechtspolitik sowie der Rechtsprechung festzuhalten, den Tierschutz bzw. die Abwehr von Gewalt und Schmerzzufügung an Tieren aufzuwerten und insoweit die Religionsausübungsfreiheit einzuengen. In der Bundesrepublik Deutschland gab es zwar Rückschritte. Hierfür ist besonders das oben angesprochene Schächtungsurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2002 ein Beispiel. Das Urteil wird dadurch erklärlich, dass das Karlsruher Gericht immer wieder ungewöhnlich religionsfreundlich entschieden hat. Hierbei ist es sogar hinter neuere staatskirchenrechtliche bzw. religionsverfassungsrechtliche Theoriebildungen zurückgefallen.41 Zugunsten der Kirchen hat es

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41

Ebd., Rdnr. 62. Vgl. ebd., Rdnr. 63 sowie Rdnr. 62 einschl. Anm. 27. Vgl. ebd., Rdnr. 80f. Ebd., Rdnr. 24. Vgl. Richtlinie 2010/63/EU: Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, Erwägungsgrund 9. Vgl. Jüdische Allgemeine: Schächten nun fast überall verboten [Online-Dok.]. Vgl. G. Bolliger: Das Verbot betäubungslosen Schlachtens.– In der Schweiz ist die Einfuhr von Halal- und Koscherfleisch gestattet, allerdings restriktiv nur in dem Maß, wie es zur Erfüllung der religiösen Bedürfnisse notwendig ist. Vgl. A. Geismann: Gleichgeschlechtliche Ehe, S. 88ff., S. 130ff.

Schächtung, Xenotransplantation, Stammzellforschung

die Religionsfreiheit geradezu zu einem Obergrundrecht übersteigert.42 Im Jahr 2018 hat der Europäische Gerichtshof der Religions- und Kirchenfreundlichkeit des Bundesverfassungsgerichts durch zwei Urteile dann freilich einen beträchtlichen Dämpfer versetzt.43 Zudem ist bemerkenswert, wie der Deutsche Bundestag auf das den Tierschutz beeinträchtigende Urteil des Bundesverfassungsgerichts reagiert hat. Zwar verhielt und verhält sich – wie erwähnt – auch der Bundestag zu Fragen, die das StaatKirche-Verhältnis und die Religionen betreffen, zögerlich. Umso beachtlicher ist es, dass er 2002 mit religionskritischem Akzent den Tierschutzgedanken aufgewertet und ihm Verfassungsrang verliehen hat. Vorsorglich ist hinzuzufügen, dass man bei Überlegungen zum religiös-rituellen Schlachten freilich nicht einäugig sein darf. Sozialethisch ist es unerlässlich, das Thema in einen größeren Rahmen einzustellen. Die Realität der Tierhaltung, -schlachtung und -transporte, die gegenwärtig in der Bundesrepublik vorhanden ist, ist insgesamt ethisch inakzeptabel. Zudem muss mit dem speziellen Thema der religiösen Schlachtungen medial und rechtspolitisch behutsam umgegangen werden, weil die Gefahr besteht, dass es ausländerfeindlich und antisemitisch instrumentalisiert wird. In Polen ist zurzeit ein »Antisemitismus als Tierschutz getarnt« zu beobachten.44 Abschließend (in Abschnitt 4) wird auf das rituelle Schlachten erneut zurückzukommen sein. Nachfolgend ist der invasive Zugriff auf den Körper von Tieren jedoch noch von einem anderen Ausgangspunkt her zu beleuchten, nämlich auf der Basis der modernen Biotechnologie. Es geht hier nicht – wie beim religiösen Schlachten – um Gewalt an Tieren, die religiös motiviert ist, weil sie sich aus dem Binnenraum der Religionen herleitet und in der Religionsgeschichte verwurzelt ist. Die Religion gelangt im Folgenden indirekt ins Spiel. Es wird beleuchtet, wie religiöse Stimmen auf die Instrumentalisierung von Tieren reagieren, die heutzutage von anderer Seite, nämlich durch moderne biotechnologische Innovationen verursacht wird.

3.

Tierschutz im Kontext heutiger Biotechnologie: Wie positionieren sich die Religionen?

3.1

Xenotransplantation

Zum Sachverhalt und zur ethischen Einschätzung Heutiger biotechnologischer Fortschritt lässt es in Zukunft möglich erscheinen, Tieren Organe zu entnehmen, um sie auf Menschen zu übertragen (Xenotransplantation). In diese Richtung wird weltweit intensiv geforscht. Würde die Option tatsächlich anwendungsreif, wäre das Dilemma lösbar, dass für schwerkranke, vom Tod bedrohte Patientinnen und Patienten zu wenig Organe zur Verfügung stehen, die von menschlichen

42 43 44

Vgl. H. Kreß: Kirchliches Arbeitsrecht, S. 248. Vgl. Europäischer Gerichtshof: 17.04.2018; Europäischer Gerichtshof: 11.09.2018.– Aus der Fülle der Literatur zu diesen Urteilen: H. Kreß: Der »Chefarztfall« vor dem EuGH. G. Lesser: Antisemitismus, S. 30.

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Spendern stammen. Medizinisch-naturwissenschaftlich bestehen Hemmnisse für derartige Xenotransplantationen unter anderem darin, wie das Immunsystem menschlicher Empfänger auf die artfremden Organe reagiert und ob durch die Transplantation tierischer Organe Krankheitserreger, besonders Viren übertragen werden, die auch auf Dritte übergreifen können – schlimmstenfalls weitflächig und pandemisch. Aufgrund innovativer gentechnologischer Verfahren45 gilt die Gefahr der Xenozoonose neuerdings indessen als beherrschbar.46 Ethisch ist zur Xenotransplantation – neben anderen Aspekten des pro und contra – an den Tierschutz zu denken. Zum Zweck der Organgewinnung müssen Entnahmetiere genetisch verändert, entsprechend gezüchtet und aufgezogen und künstlich unter sterilen Bedingungen gehalten werden, um sie dann zur Explantation ihrer Organe zu töten. Konkret wird man aus biologisch-medizinischen Gründen vor allem Schweine nutzen müssen. Zur Rechtfertigung des Zugriffs auf Tiere als Ressource für Ersatzorgane ist wiederholt ein argumentum a fortiori bzw. ein Erst-recht-Schluss genannt worden. Xenotransplantationen werden damit gerechtfertigt, dass Tiere ohnehin für Nahrungszwecke verbraucht werden; daher sei Tierverbrauch ebenfalls für Zwecke der Krankheitsbehandlung legitim. Zu den Schwächen des Arguments47 gehört, die Schattenseiten des Ist-Zustands der Produktion und des Konsums von Tierfleisch zu marginalisieren und außerdem zu überspielen, wie tiefgreifend die Eingriffe sind, die für die Entnahme von Organen aus hierfür eigens gezüchteten Tieren vorauszusetzen sind. Es handelt sich um eine bislang unbekannte, hochtechnologisch elaborierte Spielart der Vernutzung von Tieren als Biomaterial. Kulturgeschichtlich gesehen wäre dies mithin eine neue, gesteigerte Form von verdinglichendem Tierverbrauch. Zwar wurden schon in der Vergangenheit Tiere für die menschliche Gesundheit instrumentalisiert. So galten sie in der frühen Neuzeit pharmazeutisch als Arzneischatz. Im 1641 lateinisch, 1686 deutsch erschienenen Apothekenlehrbuch des Frankfurter Stadtarztes Johann Schröder hieß es, die Tierlehre der Apotheker sei eine »Kunst, die da weiset, wie man die Thier in der Artzney gebrauchen solle, damit die Gesundheit des menschlichen Leibes dardurch erhalten oder wiedergebracht werde«. Lebende oder tote Tiere seien die Quelle von Arzneien, z.B. ihre Leber oder ihr Magen.48 Die sich heute abzeichnende genetische Manipulation, Züchtung und Haltung von Tieren als Bioressource für menschliche Organe geht darüber aber noch hinaus. Insofern zeigt sich eine Aporie. Einerseits ist seit dem 20. Jahrhundert der Eigenwert von Tieren zunehmend anerkannt worden und sind anspruchsvolle philosophische und juristische Konzeptionen zum Tierschutz und zum Tierwohl entwickelt worden. Rechtspolitisch hat sich die Europäische Union in der bereits erwähnten Richtlinie 2010/63/EU das Anliegen zu eigen gemacht, Tierversuche für medizinische Zwecke

45 46 47 48

Vgl. S. Reardon: New life for pig organs. Vgl. J. Denner/A. W. Godehardt/R. R. Tönjes: Infektionsrisiken, S. 56f. Vgl. bereits S. Schicktanz: Organlieferant Tier?, S. 252ff. Vgl. H. Kreß: Xenotransplantation in ethischer, kultureller und religionsbezogener Hinsicht, S. 336, ebd. auch der Zitatnachweis.

Schächtung, Xenotransplantation, Stammzellforschung

künftig möglichst auf Null zu reduzieren.49 Andererseits: Sollten Xenotransplantationen tatsächlich bald in die Phase klinischer Studien und danach in die Routine der klinischen Anwendung an Patienten gelangen, würde hiermit eine neue Stufe des Tierverbrauchs für die Humanmedizin beschritten und wäre strukturell, alltagsweltlich eine neue »Normalität« der Gewalt an Tieren etabliert. Daher hat der Verfasser des hier vorliegenden Aufsatzes vorgeschlagen, unter anderem aus tierethischen Gründen die Xenotransplantation als passagere Medizintechnik bzw. als eine Überbrückungstechnologie anzusehen. Sie sollte nur so lange praktiziert werden, bis eine ethisch weniger bedenkliche Alternative verfügbar wird. Perspektivisch kann dies die Herstellung von Ersatzorganen aus menschlichen Stammzellen sein.50 Religiöse Stellungnahmen Im hier vorgelegten Beitrag ist im Schwerpunkt die genuin religiöse Beurteilung von Xenotransplantationen von Interesse. Im Judentum und Islam hält man Schweine für unrein. Daher wäre zu vermuten, Xenotransplantationen würden dort aus religiösen Motiven abgewiesen.51 Zudem gilt im Judentum das Herz als Sitz des Lebens52 und als das organische Äquivalent für das menschliche Gewissen, zu dem im Hebräischen kein eigener Terminus existiert.53 Insofern wäre es folgerichtig, insbesondere zur Transplantation des Herzens eines Schweins auf menschliche Personen religiös bedingt Nein zu sagen, damit ihre individuelle menschliche Identität gewahrt bleibt. Zudem findet sich gerade im Judentum eine Traditionslinie, der an der Schonung und sogar am Eigenwert von Tieren lag54 , weshalb der totale Zugriff auf sie zwecks Xenotransplantation auf Zurückhaltung stoßen könnte. Stattdessen bahnt sich in beiden Religionen – Judentum und Islam – eine bejahende Sicht an. In der jüdischen Debatte erklärt sie sich aus den Nachwirkungen der alten Charakterisierung des menschlichen Lebens als »heilig«. Das irdische Leben und die menschliche Gesundheit erfahren besondere Wertschätzung, ja sie gelten als Höchstwerte, weil sie Geschenk und Gabe Gottes seien. Kultur- und religionsgeschichtlich hat dies konstruktive Konsequenzen gehabt und z.B. dazu geführt, dass im Judentum der Arztberuf frühzeitig sehr angesehen war. Im Talmud wurde vorgeschrieben, in jüdischen Gemeinden, die über ein Rabbinatsgericht verfügen, solle auch ein Arzt anwesend sein: »Empfahl das Christentum in seiner Anfangszeit eher den Erlöser als Arzt, legitimierte das Judentum bereits früh den Arztberuf.«55 In der jüdischen Religionsgeschichte finden sich freilich auch Voten, die kritischer Aufarbeitung bedürfen, etwa dass Kranke gegen ihren Willen behandelt werden dürfen und sollen. Auf dieser letzteren Linie liegt es, wenn in der Gegenwart jüdisch-religiös zur Transplantationsmedizin

49 50 51 52 53 54 55

Vgl. Richtlinie 2010/63/EU: Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, Erwägungsgrund 10. Vgl. H. Kreß: Xenotransplantation und Uterustransplantation, S. 140. Vgl. auch F. Dietrich: Ethische Probleme der Xenotransplantation, S. 352. Vgl. Y. Nordmann: Das Ende menschlichen Lebens, S. 31. Vgl. R. I. Z. Werblowsky: Das Gewissen in jüdischer Sicht, S. 21, S. 28ff. Vgl. H. Rheinz: Judentum, S. 187f. R. Jütte: Leib und Leben im Judentum, S. 341.

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die Extremposition geäußert wird, ein Patient sei nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, sich Gewebe oder Organe spenden zu lassen – wobei sich diese Äußerung auf die Allotransplantation, die Fremdspende von Organen unter Menschen bezieht. Das tradierte Prinzip des »Pikuach Nefesch«, der Abwendung von Lebensgefahr oder gesundheitlichem Schaden, setzt im Judentum praktisch alle sonstigen religiösen Vorschriften außer Kraft, außer den Verboten des Götzendienstes, der sexuellen Verirrung und des Mordes. Patienten sollen es auch in Bezug auf sich selbst beachten.56 Aktuell wird »Pikuach Nefesch« zusätzlich dahingehend ausgelegt, dass als Quelle eines Spenderorgans ebenfalls Tiere einschließlich des Schweins als unreinem Tier in Frage kommen. Um zur Ressource Schwein trotz seiner Unreinheit Akzeptanz zu erzeugen, nehmen jüdische Dokumente weitere Argumente zu Hilfe. Anders als es beim Essen der Fall sei, bereite die Einnahme eines Medikaments – etwa: Gelatinekapseln mit Biomaterialien vom Schwein – und erst recht eine Operation, gegebenenfalls eine Organimplantation keinen Genuss. Als erlaubt gelten »Medikamente mit unkoscheren Bestandteilen (z.B. in Gelatinekapseln) [...], die man schluckt, da das Schlucken nicht dem normalen Essensvorgang entspricht.« Des Weiteren: »Rabbiner, die dies strenger auslegen, sind dann einverstanden mit einem solchen Medikament, wenn man ihm z.B. Bitterstoffe beifügt, so dass der Patient eher kein Vergnügen an der Einnahme solcher Medikamente empfinden wird.« Noch weniger würden Patienten bei Bluttransfusionen oder Transplantationen Gefühle von »Hana’a« (hebräisch für »Genuss«) aufbringen.57 Religiös drängt sich zwar eine Verunsicherung auf, ob der Empfänger durch die Einfügung eines Tierorgans in seiner individuellen Identität verändert wird. Jüdische Reflexionen haben sich mit derartigem Zweifel aber bereits hinsichtlich menschlicher Organspenden auseinandergesetzt und letztendlich Entwarnung signalisiert. Da ein Organ nach der Übertragung nicht mehr dem Spender zuzurechnen, sondern Teil des Empfängers geworden sei, brauche ein transplantiertes Organ nach dem Tod des Empfängers auch nicht gesondert beerdigt zu werden.58 Was die Xenotransplantation anbelangt, so erzeugt die Einfügung des tierlichen Organs in den Patienten faktisch, biologisch einen Chimärismus.59 Jüdisch-religiöser Auffassung zufolge wird der Transplantierte dennoch »nicht zu einem zusammengesetzten Wesen, einer Chimäre oder gar einem Hybridwesen«. Er bleibe ein einheitlicher Organismus; das implantierte Organ sei »dem Empfänger zugehörig«.60 Einen ähnlichen Standpunkt trifft man in islamischen Gedankengängen an. Gentechnische Veränderungen und nicht-artgerechte Haltungsbedingungen der Tiere, die für Transplantationszwecke gezüchtet werden, sind zumindest manchen islamischen Stimmen gemäß hinnehmbar, obwohl es sich um einen Eingriff in die göttliche Schöpfung handele.61 Ähnlich wie im Judentum stuft man im Islam Leben und Gesundheit des

56 57 58 59 60 61

Vgl. A. Y. Deusel: Xenotransplantation, S. 284f. Vgl. ebd., S. 289f., Zitate auf S. 290. Vgl. ebd., S. 287. Vgl. J. C. Joerden: Menschenwürde und Chimären- und Hybridbildung, S. 1035. A. Y. Deusel: Xenotransplantation, S. 287; vgl. R. Mathieu: Jewish ethics and xenotransplantation, S. 265. Vgl. I. Ilkilic/A. El Maaroufi: Xenotransplantation, S. 301, 304f.

Schächtung, Xenotransplantation, Stammzellforschung

Menschen als die höchsten Güter und insbesondere als das Eigentum Gottes ein, so dass die Lebenserhaltung zur Pflicht wird. Als Konsequenz dürfen sogar aus dem unreinen Schwein Organe entnommen werden. Ein dies stützendes Argument lautet, durch die Aufbereitung des dem Schwein entnommenen Biosubstrats sei essenziell Neues entstanden (»a wholly new [non-porcine] substance«).62 Im Fall der Übertragung eines Organs aus dem Schwein als unreinem Tier ist nach Auffassung der emiratischen Islambehörde dann, wenn eine gesundheitliche Zwangslage bestanden und der Empfänger das Verbotene nicht »begehrt« habe, mit der Barmherzigkeit und Vergebung Allahs zu rechnen.63 Eine Notlage und die Notwendigkeit der Lebenserhaltung vermögen Verbotenes zu legitimieren. Im Übrigen ist es innerislamisch strittig, ob das Schwein als solches oder lediglich das Fleisch von Schweinen, dessen Verzehr verboten ist, unrein sei.64 Unproblematisch ist gemäß einem Rechtsspruch der staatlichen emiratischen Islambehörde auf jeden Fall »die Organtransplantation von reinen Tieren, deren Fleischverzehr legitim ist«. Allerdings wird die Tötung des Tieres »nach den Regeln der Scharia«, also die Schächtung gefordert.65 Zwischenergebnis Im Resümee ist zu konstatieren: Xenotransplantationen werden in den beiden Religionen in der Logik religiöser Gehorsamsmoral erörtert, indem tradierte Normen und Regeln aus den jeweiligen autoritativen Schriften auf die heutigen biomedizinischen Innovationen hin extrapoliert werden. Insgesamt ist die Tendenz zu erkennen, Xenotransplantationen zu bejahen. Aus der immanenten Logik der Religion erklärt sich, dass für die Tötung von Tieren zwecks Organübertragung auf Menschen sogar die Schächtung ins Spiel gebracht wird. Im Horizont heutiger rationaler Bioethik wären andere Punkte sicherlich vordringlicher zu erörtern, etwa die Ambivalenz der genetischen Eingriffe in Tiere und deren Aufzucht unter künstlichen sterilen Haltungsbedingungen.66 Der religiös inspirierte Gedanke, dass Tiere, denen Organe zur Übertragung auf Menschen entnommen werden, durch Schächtung zu töten seien, wird im Übrigen nicht nur von muslimischer Seite geäußert, sondern ebenfalls in jüdischer Perspektive erwähnt.67

62 63 64 65 66 67

A. Padela/R. Duivenbode: The ethics of organ donation, S. 8. Vgl. I. Ilkilic/A. El Maaroufi: Xenotransplantation, S. 310. Vgl. ebd., S. 304, S. 305f. mit Fn. 33. Ebd., S. 310. Zum Sachstand vgl. H. Niemann: Haltung und Nutzung von Schweinen. Vgl. A. Y. Deusel: Xenotransplantation, S. 291.

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3.2

Humane embryonale Stammzellforschung: Katholisches Nein zur Reduzierung von Tierversuchen

Problemexposition Zur voranstehend betrachteten Xenotransplantation liegen aus christlicher Feder, soweit ersichtlich, erstaunlich wenige Stellungnahmen vor.68 Was den methodischen Zugang anbelangt, ist ebenfalls im Christentum die Neigung zu beobachten, auf traditionelle Denk- und Argumentationsschemata zurückzugreifen, wenn man sich mit modernen biomedizinischen Fragen befasst. Evangelisch erfolgt dies durch die Berufung auf Bibelstellen oder durch den Rückbezug auf »biblische Theologie«, katholisch auf das Naturrecht und auf die Weisungen des päpstlichen bzw. kirchlichen Lehramts.69 Die Problematik derartiger kirchlicher bzw. theologischer Argumentationsmuster tritt wieder zutage, wenn jetzt noch ein anderer Zweig der Biotechnologie vor Augen geführt wird. Es soll die humane embryonale Stammzellforschung angesprochen werden, insoweit sie den Umgang mit Tieren berührt. Hier zeigt sich, in wie hohem Maß auch die christliche Morallehre auf traditionellen Standpunkten beharrt – zulasten des Tierschutzes. Eine der Ausdrucksformen von Gewalt gegen Tiere sind Tierversuche. Dies wurde schon von Albert Schweitzer thematisiert, als er in seiner bahnbrechenden Schrift »Kultur und Ethik« im Jahr 1923 philosophisch und ethisch den Schutz von Tieren um ihrer selbst willen, aufgrund ihres Lebenswillens und ihrer Schmerzempfindlichkeit zur Geltung brachte. Zwar hielt er Tierversuche für spezifisch medizinische Zwecke unter eingrenzenden Bedingungen für vertretbar, drängte aber darauf, sie so weit wie irgend möglich zu reduzieren.70 Seine Denkanstöße haben große Resonanz gefunden und sind der Sache nach in der Bundesrepublik mehrere Jahrzehnte, nachdem er sie formuliert hatte, durch das Tierschutzgesetz oder durch den 1990 verabschiedeten § 90a des Bürgerlichen Gesetzbuchs wenigstens prinzipiell umgesetzt worden.71 In geistesund kulturgeschichtlicher Hinsicht hatte schon Schweitzer den Sachverhalt wahrgenommen und kritisch aufgearbeitet, dass die abendländische philosophische und religiöse, christliche Tradition am Tierschutz bzw. an der Minimierung der Gewalt gegen Tiere recht wenig Interesse gehabt hatte. In diese alte Linie des Desinteresses fügt sich der Sachverhalt ein, der nun behandelt wird. Im Jahr 1998 gelang es erstmals, menschliche pluripotente embryonale Stammzellen zu beschreiben. Solche Stammzellen lassen sich befruchteten Eizellen bzw. frühen Embryonen entnehmen, die sich in der Kulturschale befinden. Die Embryonen sind welt68

69

70 71

Eine ältere kirchliche Stellungnahme: Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Xenotransplantation. Aus katholischer Perspektive: J. Sautermeister: Therapie. Zum Beispiel hat die katholische Kirche aufgrund ihrer moraltheologischen naturrechtlichen Tradition (Verbot der Selbstverstümmelung) Lebendspenden von Organen zunächst abgelehnt; vgl. K.-H. Peschke: Christliche Ethik, S. 281. Unter Berufung auf das Naturrecht verurteilt und verbietet sie bis heute die Inanspruchnahme von In-vitro-Fertilisation oder die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen; Letzteres wird nachfolgend der springende Punkt sein. Vgl. A. Schweitzer: Gesammelte Werke Bd. 2, bes. S. 388ff. Vgl. H. Kreß: Bioethik in theologisch-philosophischer Konspektive.

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weit in großer Anzahl überzählig vorhanden. Sie sind für fortpflanzungsmedizinische Behandlungen (In-vitro-Fertilisation) erzeugt worden, können für konkrete Fortpflanzungszwecke aber nicht oder nicht mehr verwendet werden und werden daher absterben. In der Bundesrepublik Deutschland ist zu der Frage, ob an den ihnen entnehmbaren Stammzellen geforscht werden darf, zu Beginn der 2000er-Jahre ein Kulturkampf, ein christlich-kirchlich aufgeladener »Weltanschauungskrieg« (Ernst-Ludwig Winnacker72 ) entbrannt. Nach heftigen Kontroversen verabschiedete der Deutsche Bundestag 2002 das Stammzellgesetz, das so restriktiv angelegt ist wie in kaum einem anderen Staat. Auf die Schwächen und Verbote des Gesetzes ist hier nicht einzugehen, ebenso wenig auf seine Doppelbödigkeit. Die Doppelmoral besteht unter anderem darin, dass das Gesetz für die Bundesrepublik embryonale Stammzellforschung zwar eng begrenzt gestattet. Die Zellen, die im Inland mit Ausnahmegenehmigung beforscht werden dürfen, müssen aber aus überzähligen Embryonen im Ausland gewonnen und in die Bundesrepublik importiert worden sein.73 Die – fragwürdige – Konstruktion des Stammzellgesetzes mit seinen Restriktionen und Verboten kam nicht zuletzt aufgrund der Einflussnahmen der christlichen Kirchen zustande. Ein Einzelaspekt betrifft Tierversuche und somit die Gewalt an Tieren. Menschliches Zellmaterial als Ersatz für Tierversuche Zu den strafbewehrten Verboten, die sich aus § 5 Stammzellgesetz ergeben, gehört es, dass an den ausnahmsweise importierbaren Zelllinien keine Forschungen durchgeführt werden dürfen, die dem Ersatz von Tierversuchen dienen. Für dieses Verbot setzten sich insbesondere katholische Kirchenvertreter bzw. Theologen ein; die katholische Kirche führte ihre Initiativen dann auf europäischer Ebene fort.74 Anders als in Deutschland scheiterte sie auf europäischer Ebene allerdings. Der ideelle Hintergrund ist die römisch-katholische Position des absoluten Embryonenschutzes. Die Kirche steht seit 1987 – das einschlägige Dokument: die Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung vom 10.03.1987 – lehramtlich-autoritativ auf dem Standpunkt, Embryonen seien bereits am Tag 1 im vollen Sinn des Wortes individuelle Menschen; denn sie würden von Gott sofort mit einer Geistseele begabt. Weil embryonale Stammzellen aus wenige Tage alten Frühembryonen abgeleitet werden, hält die Kirche die Forschung an solchen Zelllinien für per se verwerflich75 und verurteilt gleichfalls ihre Beforschung und Nutzung, um Tierversuche einzusparen.

72 73 74

75

Vgl. Die Zeit: Winnacker ruft in Stammzelldebatte zur Mäßigung auf [Online-Dok.]. Zur Kritik vgl. z.B. J. Taupitz: Das deutsche Stammzellgesetz. Vgl. H. Schickl: Embryonen »opfern« für Tiere?, S. 85; Kirchen an EU: Tierschutzförderung ja, aber nicht auf Kosten menschlichen Lebens [Online-Dok.]; G. Virt: Bioethische und sozialethische Probleme, S. 63f. Zur Entfaltung der römisch-katholischen Auffassung aus katholisch-theologischer Perspektive vgl. z.B. S. Müller: Bedeutung und Rahmenbedingungen der Stammzelldiskussion.

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Zwischenergebnis Sachlich und rational ist die katholische Position zum Status des Embryos nicht tragfähig76 , schon gar nicht in der säkularen Rechtsordnung des weltanschaulich neutralen Staates und in der pluralistischen Gesellschaft. Es handelt sich um eine partikulare, religiös motivierte, religiös hochspekulative Auffassung, die auf der Lehre von einer durch Gott eingestifteten Geistseele fußt (Kreatianismus77 ). Trotzdem trug sie dazu bei, in Deutschland auch die in das Stammzellgesetz eingeflossene Bestimmung zu verfestigen, die die Suche nach Ersatzverfahren für Tierversuche auf der Basis von embryonalen Stammzellen verhindert. In Europa ist die Bundesrepublik Deutschland hiermit isoliert. Die Schwierigkeit dieser Auffassung besteht im Übrigen nicht nur darin, dass sie eine vielversprechende Option zuschüttet, Tierversuche, d.h. Gewalt an Tieren als solche einzudämmen. Es kommt hinzu, dass auf humane Zellen gestützte Forschungsergebnisse für die Medizin, die Pharmakologie und die Toxikologie prinzipiell aussagekräftiger sind als Erkenntnisse, die sich mit Hilfe von Versuchstieren gewinnen lassen, da die Speziesdifferenz deren Qualität mindert.78 Medikamententests mittels humaner Zellen, Gewebe oder Organoide, auf die heute nicht zuletzt die humane embryonale Stammzellforschung abzielt, kommen dem bestmöglichen Schutz der menschlichen Gesundheit zugute. Auf die Problematik der kirchlich forcierten deutschen Gesetzeslage, die es verbietet, an humanen embryonalen Stammzellen zwecks Vermeidung von Tierversuchen zu forschen, ist wiederholt aufmerksam gemacht worden.79 Im Jahr 2019 wies auch die am Robert Koch Institut angesiedelte Zentrale Ethikkommission für Stammzellenforschung auf das Dilemma hin.80 Bislang hat der Gesetzgeber keine Abhilfe geschaffen. An dem Vorgang zeigt sich, dass die christliche, hier besonders die römisch-katholische Kirche noch in der Gegenwart zu wenig bereit ist, rational abwägend das Anliegen aufzunehmen, Vernutzungen und vermeidbare Belastungen von Tieren einzudämmen.

4.

Fazit

In der Gegenwart tragen Religionen dazu bei, dass Gewalt an Tieren gesellschaftliche Normalität zu bleiben droht. Dies gilt ungeachtet der Impulse zur Wertschätzung von Tieren, die verschiedenen Strängen der religiösen Überlieferungen zu verdanken sind. Ein Teilproblem stellt das religiöse Schlachten dar, das oben in Abschnitt 2 behandelt worden ist. Seit den 1970er/1980er Jahren ist technisch ein Verfahren vorhanden – die 76 77 78

79 80

Vgl. nur J. P. Beckmann: Ethische Herausforderungen der modernen Medizin, S. 122ff. Hierzu kritische Anmerkungen eines katholischen Philosophen: N. Knoepffler: Der Beginn der menschlichen Person, S. 30ff. Aus der Vielzahl der fachwissenschaftlichen Belege: K. Meganathan et al.: Identification. Der Forschungsbericht nimmt auf das Medikament Thalidomid Bezug, das in Deutschland – damals ausschließlich im Tierversuch getestet – Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre zum Conterganskandal geführt hatte. Vgl. H. Kreß: Forschung an pluripotenten Stammzellen, S. 390f.; H. Schickl: Embryonen ›opfern‹ für Tiere?, S. 105f.; J. S. Ach: Reduzierung von Tierversuchen. Vgl. Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellenforschung: 16. Bericht, S. 9f. [Online-Dok.].

Schächtung, Xenotransplantation, Stammzellforschung

Elektrobetäubung als Alternative zum betäubungslosen Schlachten –, das den religiösen Vorgaben eigentlich sogar Genüge leistet. Es eröffnet den Religionen eine goldene Brücke, die sie nutzen könnten, um sich auf einen tierschutzadäquaten Kompromiss einzulassen. International ist dies teilweise auch der Fall,81 aber keineswegs durchgängig. In der Bundesrepublik Deutschland und in Europa sind zur religiös-rituell »korrekten« Schlachtung von muslimischer Seite stattdessen die Gerichtsverfahren in Gang gebracht worden, von denen voranstehend in den Abschnitten 2.2. und 2.3. die Rede war. Der Sache nach ist es paradox und stellt es geradezu eine Ironie der Geistes- und Rechtsgeschichte dar, dass sich muslimische Kläger in diesem Zusammenhang auf die Religionsfreiheit berufen. Denn von religiöser Seite, d.h. von christlichen Kirchen und von islamischer Seite ist die neuzeitlich-moderne Idee der individuellen Menschenrechte einschließlich der Religionsfreiheit bis weit in das 20. Jahrhundert hinein vehement abgelehnt worden. Die römisch-katholische Kirche hat die Gewissens- und Religionsfreiheit seit dem 19. Jahrhundert verurteilt und sie als Element der weltlichen staatlichen Rechtsordnung erst 1965 auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Prinzip bejaht. Es mag überraschen, dass die Vorbehalte gegen Rechtsstaat und Menschenrechte auf evangelischer Seite nicht geringer waren.82 Bezogen auf den Islam ist signifikant, dass Saudi-Arabien gegen die 1948 verabschiedete Universale Erklärung der Menschenrechte Einwände hatte, weil die völkerrechtliche Garantie der Religionsfreiheit ein Stein des Anstoßes war und mit dem Islam nicht vereinbar sei.83 Starke Spannungen zwischen muslimischen Positionen einerseits, Menschenrechten und Religionsfreiheit andererseits sind bekanntlich bis heute vorhanden.84 Um religiöse Schlachtungen durchzusetzen, machen islamische Organisationen vor europäischen Gerichten inzwischen jedoch ausgerechnet die Religionsfreiheit geltend. Insofern stützt sich die islamische Seite auf ein Grund- und Menschenrecht, das von ihr sehr lange abgelehnt worden ist und gegen das sie teilweise bis heute Vorbehalte erhebt, um Handlungen zu rechtfertigen, die mit dem heutigen Niveau des Tierschutzes nicht vereinbar sind. Abgesehen von Stimmen aus der Ethik – ein gewichtiger Vordenker des frühen 20. Jahrhunderts war Albert Schweitzer –, der Philosophie und jetzt auch den Rechtswissenschaften waren es die staatliche, nationale und europäische Rechtspolitik sowie die Rechtsprechung, die die Schutzansprüche von Tieren gestärkt haben. Dieses Resümee ergibt sich, wenn man die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen zum religiösen Schlachten Revue passieren lässt. Eine derartige Bilanz ist auch noch dann zu ziehen, wenn man einräumt, dass – wie in diesem Aufsatz skizziert – in der Rechtspolitik und in der Judikatur wiederholt Zögerlichkeiten, Unklarheiten und auch Rückschritte zu beobachten waren. An dem Thema, das zuletzt erwähnt wurde – humane embryonale Stammzellforschung (Abschnitt 3.2) –, wird zusätzlich deutlich, dass religiöse, hier: christliche katholische Voten auf die säkulare Rechtsordnung Einfluss genommen ha-

81 82 83 84

Vgl. H. Pleiter: Die ›reversible Elektrobetäubung‹. Vgl. H. Kreß: Ethik der Rechtsordnung, S. 142ff. Vgl. ebd., S. 134f. Vgl. nur A. Heper: Menschenwürde, S. 370ff.

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ben, um am Tierschutz, nämlich an der Reduzierung von Tierversuchen, substanziell Abstriche vorzunehmen. Für ihre Positionen zum Umgang mit Tieren berufen sich die verschiedenen Religionen auf ihre autoritativen Schriften. Letztlich verbleiben sie dabei in der Logik einer Gehorsamsmoral und bleiben binnenhermeneutisch sowie selbstreferenziell. Dies gilt selbst dann, wenn sie alte religiöse Vorschriften gezielt gegenwartsorientiert auslegen möchten.85 Das Bestreben der Aktualisierung tritt zutage, wenn sich muslimische und jüdische Gelehrte bemühen, unter Beachtung der überlieferten autoritativen Belegstellen ihrer Religionen (in der Tora, dem Talmud, dem Koran usw.) Xenotransplantationen zu ermöglichen und sogar die Übertragung von Organen aus »unreinen« Tieren auf Menschen zu legitimieren. Religionsextern sind solche Gedankengänge oft schwer nachvollziehbar, da sie sich nicht rational verallgemeinern lassen und sie nicht den Anforderungen einer modernen Argumentationsethik entsprechen.86 Immerhin können sie religionsintern wichtig werden. Denn sie vermögen Gläubigen, die sich an die Vorgaben ihrer jeweiligen Religion gebunden fühlen, einen Zugang zu den Gegebenheiten und den Leitideen der heutigen Lebenswelt zu eröffnen. Umso bedauerlicher ist es, dass sich zum religiösen Schlachten religionsintern oftmals wenig Bewegung und Modernisierungsbereitschaft zeigt. Theoretisch wäre vorstellbar, auch im Binnenraum der Religionen zur Moderne aufzuschließen, indem man mit den eigenen Traditionen historisch-kritisch umgeht. Auf diesem Weg könnten manche Vorstellungen z.B. über die Unreinheit von Tieren87 oder über das Blut als Sitz des Lebens relativiert und entmythologisiert werden. Ihren identitätsstiftenden Sinn bräuchten religiöse Riten darüber nicht zu verlieren. Es bleibt abzuwarten, ob oder inwieweit sich die Religionen von sich aus auf heutige Gedankengänge zum Tierschutz und auf Standards zur Minimierung der Gewalt an Tieren einlassen. Nach Stand der Dinge wird es jedoch vor allem die Aufgabe der staatlichen Rechtsordnung und der Rechtsprechung bleiben, in diese Richtung hin die Weichenstellungen vorzunehmen. Zu hoffen ist, dass die profane Rechtsordnung und die Gerichte auf diese Weise Anstöße vermitteln, die auch innerhalb der Religionen zur Sensibilisierung und tierethischen Bewusstseinsbildung führen. Nachtrag (Januar 2021): Der voranstehende Beitrag erwähnt ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, das religiöse Schlachtungen in Belgien betraf (oben in Abschnitt 2.3). Inzwischen hat der EuGH sein Urteil bekanntgegeben (Urteil vom 17.12.2020, Rechtssache C-336/19). Es fiel zugunsten des Tierschutzes aus. Der 85 86 87

Zum Spektrum der Auslegung der autoritativen Texte im Islam – zwischen traditionalistischen und reformbemühten Lesarten – vgl. M. Rohe: Das islamische Recht, S. 402. Zur Idee der »Argumentationsethik« (Paul Ricoeur) vgl. W. E. Müller: Pflicht oder gutes Leben?, S. 146ff. In der hebräischen Bibel sind Kataloge unreiner Tiere im Zuge der Abwehr von Fremdkulten entstanden; vgl. G. von Rad: Theologie des Alten Testaments, S. 40, S. 222. Im Übrigen waren Opfervorstellungen auch in der Vergangenheit keine starren Vorgaben, sondern haben sich religionsgeschichtlich verändert – im Judentum von der kultischen Reinheit im öffentlichen Ritual des alten Tempels hin zu Reinheitsgeboten im privaten Raum, im ›eigenen Haus‹ seit der rabbinischen Epoche; vgl. H. Rheinz: Judentum, S. 188f.

Schächtung, Xenotransplantation, Stammzellforschung

EuGH erlaubte den EU-Staaten, in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet Schächtungen zu verbieten. Der EuGH folgte also nicht der Auffassung, dass ein Verbot religiöser Schlachtungen in Belgien nicht möglich sei, weil die religiöse Sicht per se den Vorrang besitze. An dem Urteil wird erneut ablesbar, dass die Verminderung von Gewalt an Tieren, die sich in der Gegenwart abzeichnet, auf dem Wertewandel der Moderne beruht. Ungeachtet dessen, dass Religionen auf traditionellen Standpunkten beharren, sind es die staatlichen Rechtsordnungen und staatliche bzw. europäische Gerichte, die dem Anliegen des ethischen Tierschutzes zunehmend Geltung verschaffen.

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Hartmut Kreß

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…unheilbar speziesistisch? Theologische Religionskritik und Gewaltüberwindung

Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik Eine kritische Analyse Cornelia Mügge

1.

Einleitung

In der theologischen Ethik wächst seit einigen Jahren das Interesse an tierethischen Fragen. Zunehmend wird diskutiert, ob und in welchem Maß nichtmenschliche Tiere (im Folgenden: Tiere) moralisch berücksichtigt werden müssen und wie dies begründet werden kann. In der Mehrzahl der bisher dazu veröffentlichten Beiträge wird argumentiert, dass Tiere Geschöpfe mit eigenem Wert seien1 und dass viele aktuell verbreitete Formen des Umgangs mit Tieren wie die Massentierhaltung oder Tierversuche im kosmetischen Bereich zu kritisieren sind. Problematisiert wird in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch die vom Menschen gegenüber Tieren ausgeübte Gewalt.2 Zugleich wird aber darauf hingewiesen, dass Gewalt an sich unvermeidbar und notwendig sei, weil der Mensch »[um] selbst leben zu können, […] anderes Leben zerstören«3 müsse. Die Nutzung von Tieren sei daher grundsätzlich und einschließlich gewaltvoller Prak-

1

2

3

Die Rede von ›Würde‹ in Bezug auf nichtmenschliche Lebewesen ist hingegen auch in der Theologie umstritten und wird im Folgenden ausgeklammert, vgl. A. Käfer: Von Menschen und Tieren, S. 102-104; vgl. U. H. J. Körtner: Bioethik nichtmenschlicher Lebensformen, S. 606-608. Den Gewaltbegriff selbst diskutiere ich in diesem Aufsatz nicht. Ich setze aber als Mindestbestimmung voraus, dass es als Gewalt zu bezeichnen ist, wenn Menschen bei anderen Lebewesen Leiden und Schmerzen verursachen, seien es andere Menschen oder nichtmenschliche Tiere, und dass Gewalt sowohl am persönlichen Gegenüber als auch strukturell ausgeübt werden kann (was mit Blick auf Schlachtbetriebe, Tierversuche usw. wichtig ist). Vorausgesetzt ist damit insbesondere, dass man überhaupt sinnvoll von Gewalt an Tieren sprechen kann, auch wenn das bisher ›unüblich‹ ist, vgl. dazu den Artikel Gewalt an Tieren im interdisziplinären Handbuch zu Gewalt (vgl. S. Buschka/J. Gutjahr/M. Sebastian: Gewalt). Darüber hinaus lasse ich die Frage weiterer Bestimmungen offen – etwa inwiefern dies auch auf Pflanzen zutrifft, hierfür wäre zu klären, ob auch dann von Gewalt zu sprechen ist, wenn das Gegenüber kein bewusstes Leid- und Schmerz-Empfinden hat; offen bleibt auch, ob Tiere selbst Gewalt ausüben können oder man den Gewaltbegriff an eine enge Bestimmung von Bewusstsein und Intention bindet, die nur auf Menschen zutrifft. U. H. J. Körtner: Bioethik nichtmenschlicher Lebensformen, S. 589; vgl. M. Rosenberger: Wie viel Tier darf’s sein?, S. 94.

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Cornelia Mügge

tiken wie dem Töten von Tieren für den Fleischverzehr, medizinischen Tierversuchen u.ä. gerechtfertigt – sofern sie ›verhältnismäßig‹ und nicht grausam geschehe.4 In der Tat ist Gewalt ein unvermeidbarer Bestandteil unserer Welt. Eine Ethik, die radikalen Gewaltverzicht fordert und dabei jede Lebensform, die nicht gänzlich auf Gewalt verzichtet, als moralisch falsch verurteilt, erscheint daher nicht sinnvoll. Allerdings zielt Ethik, gerade auch in christlicher Tradition, durchaus in vielen Hinsichten auf Gewaltminimierung; es ist insofern immer wieder neu zu untersuchen und zu diskutieren, wieviel und welche Gewalt tatsächlich unvermeidbar ist. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich diese Diskussion anhand der im tierethischen Diskurs prominenten Forderung von Tierrechten führen. Die Frage von Tierrechten ist insofern aufschlussreich, als ›Tierrechte‹ oft als Inbegriff für weitgehende Veränderungen im Umgang mit Tieren betrachtet werden: So werden Tierrechte vor allem von jenen Positionen stark kritisiert, die solche Veränderungen ablehnen und gewaltvolle Umgangsformen für rechtfertigbar halten (oft spricht man hier zur Unterscheidung von Positionen des ›Tierschutzes‹). Zwar äußern auch einzelne Ethiker*innen mit einer weitergehenden tierethischen Stoßrichtung Kritik an der Tierrechtsargumentation, allerdings richtet sich diese in der Regel auf den Begründungsansatz und schließt, so scheint mir, Tierrechte als ethischen und politischen Horizont nicht aus (siehe dazu unten: Argument I). Wenn ich im Folgenden von ›Tierrechtspositionen‹ spreche, möchte ich den Begriff daher weit verstehen und berücksichtige auch solche Ansätze, deren Kern nicht die Tierrechtsforderung selbst ist, die aber dennoch für einen umfassenden Verzicht von Gewalt gegenüber Tieren plädieren. Die Begründung solcher Positionen kann dementsprechend unterschiedlich sein, sie muss nicht notwendig von einem eigenschaftsbasierten Ansatz moralischer Rechte ausgehen, sondern kann z.B. auch wahrnehmungs- und beziehungsorientiert erfolgen (siehe dazu unten im Argument I); auch der Ansatz Peter Singers wird, einem solchen weiten Verständnis entsprechend, häufig der Tierrechtsbewegung zugerechnet, wenngleich er utilitaristisch und gerade nicht rechteorientiert ansetzt. Damit ist zugleich gesagt, dass der Fokus dieses Aufsatzes auf der Frage der Begründung und Reichweite der moralischen Berücksichtigung von Tieren und des Ausmaßes der rechtfertigbaren Gewalt liegt – sie spitzt sich an der Forderung von Tierrechten zu, auch wenn sie sich nicht auf sie reduzieren lässt. Worum es hier hingegen nicht geht, ist eine rechtsethische Debatte um das Verhältnis der moralischen, politischen und juridischen Dimension von Tierrechten oder etwa der Möglichkeiten ihrer politischen und juridischen Implementierung.5 Im theologischen Diskurs neigen Ethiker*innen wie angedeutet oft zur Tierschutzposition. Im Folgenden soll nun genauer untersucht werden, mit welchen Gründen sie die Forderungen von Tierrechtspositionen zurückweisen.6 Dabei unterscheide ich

4 5 6

So z.B. U. H. J. Körtner: Bioethik nichtmenschlicher Lebensformen, S. 618f., mit Verweis auf Eberhard Schockenhoff. Stärker an Rechtsfragen orientierte theologische Diskussionen finden sich mit unterschiedlicher Stoßrichtung z.B. bei A. Käfer: Von Menschen und Tieren, und A. von Scheliha: Tierschutz. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass der Schwerpunkt meiner Untersuchung auf dem protestantischen Diskurs liegt, katholische Beiträge werden an einzelnen Stellen aber zur Unterstützung von Argumenten hinzugezogen.

Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik

drei Argumente: Das erste Argument setzt auf der moralphilosophischen Ebene an mit der Frage nach dem Gerechtigkeitsbegriff und danach, ob moralische Berücksichtigung durch eigenschaftsorientierte Ansprüche begründet werden kann und sollte. Davon unterschieden ist zweitens das Argument, Tieren kämen keine Rechte zu, weil sie selbst keine Rechte gewähren können, mit anderen Worten: weil moralische Berücksichtigung Wechselseitigkeit voraussetze. Drittens wird vor allem in protestantischer Tradition häufig darauf verwiesen, dass ethische Normen nicht überfordern dürften, sondern dem menschlichen Maß entsprechen sollten. Die weitgehenden Forderungen von Tierrechtspositionen seien aber in eben dieser Weise überfordernd und wirklichkeitsfremd. Neben diesen drei Argumenten schwingt im theologischen Diskurs nicht selten die Sorge mit, durch Tierrechte würde der moralische Status des Menschen herabgesetzt und Menschenrechte würden relativiert. Da diese Sorge ein wesentlicher motivationaler Aspekt in der Debatte sein dürfte, soll zu Beginn auch darauf kurz eingegangen werden.

2.

Exposition: Die Sorge um eine Entwertung von Menschenrechten

In vielen theologischen Beiträgen zur Tierethik kann man die Sorge wahrnehmen, durch die Forderungen von Tierrechtspositionen würden der moralische Status menschlichen Lebens sowie Menschenrechte relativiert. Diese erwächst maßgeblich aus einer bestimmten Rezeption des Speziesismusvorwurfs. Der Speziesismusvorwurf formuliert eine Kritik an der kategorialen Nachordnung von Tieren gegenüber Menschen in der moralischen Berücksichtigung, deren einziger Grund (trotz anderer vorgebrachter Gründe) die Spezieszugehörigkeit sei. Populär gemacht wurde dieser Vorwurf von Peter Singer, der als einer der ersten forderte, »dass das grundlegende Prinzip der Gleichheit, das nach Überzeugung der meisten von uns für alle Mitglieder unserer eigenen Spezies Gültigkeit haben sollte, auch auf andere Spezies angewandt wird«7 . Dabei vergleicht Singer in seiner Argumentation Tiere und Menschen in einer Weise, die oft problematisiert wird: Er argumentiert, dass es in moralischer Hinsicht keinen relevanten Unterschied zwischen vielen Tieren und so genannten menschlichen ›Grenzfällen‹ (Säuglinge, Demente, Menschen mit schweren geistigen Behinderungen) gebe, wenn man Kriterien wie Vernunft- oder Sprachfähigkeit anlege, wie dies in ethischen Ansätzen oft geschieht – beide müssten dann konsequenterweise moralisch nachgeordnet werden (bezeichnet wird dies oft als human marginal case Argument). Singer selbst schlägt demgegenüber das Kriterium der Leidensfähigkeit vor, das sowohl alle Menschen als auch eine beachtliche Zahl von Tieren einschließt, und plädiert in utilitaristischer Tradition für das Prinzip der Minimierung von Leiden über Speziesgrenzen hinweg.8 Diese Argumentation gegen Speziesismus und für die 7 8

P. Singer: Alle Tiere sind gleich, S. 14. Ebd., S. 20f. Dass Singer darüber hinaus die Gruppe der ›Personen‹ und damit eine engere Kategorie moralischer Berücksichtigung einführt, ist für die Diskussion hier nicht von Relevanz und würde zu weit führen. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit seinem theoretischen Ansatz muss dies aber freilich zusätzlich berücksichtigt werden. Siehe für eine sehr hilfreiche und differenzierende Analyse der theologischen Auseinandersetzung mit Singers Speziesismus-Argument: Vgl. R. Denkhaus: Speziesismus.

227

228

Cornelia Mügge

gleiche moralische Berücksichtigung von Tieren findet sich ähnlich auch bei anderen tierethischen Ansätzen, etwa in kantianischer Tradition bei Tom Regan. Er plädiert aber nicht für Leidensfähigkeit als zentrales Kriterium, sondern stellt ins Zentrum, ob ein Lebewesen empfindendes Subjekt eines Lebens ist. Davon ausgehend argumentiert Regan für den inhärenten Wert und die gleiche moralische Berücksichtigung jedes solchen Subjekts.9 Um sein Argument zu verdeutlichen, führt auch er den Vergleich mit menschlichen ›Grenzfällen‹ an. Aus eben diesem Vergleichsschritt in der Argumentation erwächst die Sorge vieler theologischer Ethiker*innen. Sie befürchten, durch die Vergleiche zwischen Menschen und Tieren werde der moralische Status von Menschen relativiert und dem potenziellen Ausschluss einzelner Menschen aus der moralischen Berücksichtigung Vorschub geleistet (was besonders im medizinethischen Kontext eine wichtige Rolle spielt). Singers Analogien werden daher nicht nur als »moralisch fehlgeleitet«10 beurteilt, sondern auch als Gefährdung der »unsere Kultur prägende[n] Humanität«11 . Nicht zuletzt sei eine solche Position mit Blick auf »die christliche Sicht auf den Menschen als imago dei« problematisch – »ein Abrücken von der Einheit der Zugehörigkeit zur ›Spezies Mensch‹«12 sei daher von theologischer Seite nicht möglich. In der Kritik am Speziesismusvorwurf geht es daher oft weniger um die Ablehnung einer Ausweitung der moralischen Berücksichtigung in Bezug auf Tiere, sondern vor allem darum, zu begründen, »dass menschliches Leben an sich schützenswert ist«13 bzw. dass »alle Menschen Personen sind«14 . Um dies zu unterstreichen, wird nicht nur das Menschsein an sich als moralisch bedeutsamer Wert hervorgehoben (etwa mit dem Argument, »Mensch« sei an sich bereits ein »nomen dignitatis«15 ), einige bekennen sich mehr noch ausdrücklich zu einem ethisch relevanten Speziesismus, der, so etwa Wilfried Härle, »einen menschheitsgeschichtlichen kulturellen Fortschritt von größter Bedeutung«16 darstelle. Zweifelsohne ist das hier zum Ausdruck gebrachte Anliegen der Wertschätzung jedes menschlichen Individuums und des Respekts der Menschenrechte von großer Bedeutung. Allerdings stellt sich die Frage, welchen Einfluss dies auf die tierethische Positionierung haben sollte und ob es zur Ablehnung der Forderung von Tierrechten führen muss. Tatsächlich wird durchaus auch innerhalb der Tierrechtsdebatte Kritik an Vergleichen mit menschlichen ›Grenzfällen‹ geübt.17 Dementsprechend wird versucht, die Forderung von Tierrechten auch anders zu begründen. Die angesprochene Sorge muss insofern nicht notwendig zur Ablehnung von Tierrechten führen – und sie sollte die Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Argumenten nicht zu stark beeinflussen und 9 10 11

12 13 14 15 16 17

Vgl. T. Regan: Wie man Rechte für Tiere begründet, S. 43. Chr. Polke: Tiere, Menschen und Personen, S. 103. J. Fischer: Zum ethischen Status von Mensch und Tier, S. 113. Johannes Fischer zufolge steht Singers Position sogar »in derselben Frontlinie« wird die des Rassisten, entgegen Singers eigenem kritischen Vergleich von Speziesismus mit Rassismus (vgl. ebd., 113). C. Wustmans: Tierethik als Ethik des Artenschutzes, S. 39. P. Dabrock: Leibliche Vernunft, S. 260. W. Härle: Alle Menschen sind Personen, S. 218. J. Fischer: Menschenwürde und Menschenrechte, S. 238. W. Härle: Alle Menschen sind Personen, S. 225 (kursiv i.O.). So z.B. bei B. Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte, S. 24.

Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik

einer offenen Diskussion nicht entgegen stehen. In diesem Sinn sollen im Folgenden nun drei Argumente gegen die Forderung von Tierrechten diskutiert werden.

2.1

Argument I: Die weitgehenden Forderungen von Tierrechtspositionen sind nicht überzeugend, weil der zu Grunde gelegte eigenschaftsorientierte Gerechtigkeitsbegriff problematisch ist

THESE: Die Kritik an eigenschaftsorientierten Ansätzen erscheint in einigen Hinsichten als berechtigt, sie muss aber nicht zur Zurückweisung anspruchsvoller Forderungen im Umgang mit Tieren führen und schließt Tierrechte nicht notwendig aus.   Theologisch-ethische Kritik an der Forderung von Tierrechten setzt häufig an der moralphilosophischen Frage nach dem Verständnis von Ethik und Gerechtigkeit an. So hinterfragen viele Theolog*innen die im philosophischen Diskurs verbreitete ›eigenschaftsorientierte‹ Herangehensweise.18 Eigenschaftsorientierte Ansätze in der Tierethik argumentieren, dass Tiere einen Anspruch auf eine bestimmte Behandlung und moralische Berücksichtigung – und damit auch Rechte – haben, weil und insofern sie eine bestimmte moralisch relevante Eigenschaft mit Menschen teilen.19 Diese Herangehensweise zeigt sich u.a. in den zwei klassisch gewordenen Positionen von Singer und Regan: Der utilitaristische Ansatz von Singer erachtet es als ausschlaggebend, ob bzw. dass ein Lebewesen moralisch relevante Interessen hat und ihm zufolge besteht das entscheidende Interesse darin, Leiden zu vermeiden (vgl. oben: Exposition). Zum wesentlichen Kriterium moralischer Berücksichtigung wird damit die Eigenschaft der Leidensfähigkeit. Auch der rechteorientierte Ansatz von Regan, der sich in vielem gegen Singer abgrenzt, erachtet eine Eigenschaft als ausschlaggebend für moralische Berücksichtigung, das ist die Eigenschaft, ein empfindendes Subjekt eines Lebens zu sein (vgl. oben: Exposition). Regan zufolge kommen allen Wesen, die in diesem Sinn Subjekt eines Lebens sind, grundlegende Rechte zu.20 Auch in anderen Positionen der tierethischen Diskussion spielt die Suche nach der für die moralische Berücksichtigung entscheidenden Eigenschaft eine zentrale Rolle. Aktuell wird häufig das das Vorhandensein eines zentralen Nervensystems als Kriterium für den moralischen Ein- bzw. Ausschluss genannt, da es die Voraussetzung für zahlreiche moralisch relevante Fähigkeiten und Interessen zu sein scheint.21 Aus der Sicht vieler theologischer und mancher philosophischer Ethiker*innen ist diese Herangehensweise aber problematisch, da die moralische Berücksichtigung nicht von bestimmten natürlichen Eigenschaften abhänge. Vielmehr komme es wesentlich

18

19

20 21

Tatsächlich fällt dieses Stichwort nicht immer ausdrücklich im theologischen Diskurs, aber m.E. kann man viele der – mit verschiedenen Schwerpunkten vorgetragenen und in Einzelaspekten unterschiedlichen – Argumente unter diesem Stichwort zusammenfassen. Auf die Frage, inwiefern in der Methodik des Vergleichs mit dem Menschen ein versteckter Anthropozentrismus aller so argumentierenden tierethischen Ansätze steckt, gehe ich hier zunächst nicht ein, ich komme darauf aber unter Argument II.A zurück. Vgl. T. Regan: Von Menschenrechten zu Tierrechten. Vgl. z.B. H. Sezgin: Artgerecht ist nur die Freiheit.

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Cornelia Mügge

auf die ethische Wahrnehmung und die Beziehungen zwischen Menschen bzw. zwischen Menschen und Tieren an, was nicht zuletzt weiter auf die Gottesbeziehung verweist. So wird etwa argumentiert, dass ethische Überzeugungen stark an Erfahrungen und gewachsene Wahrnehmungsmuster gebunden seien22 , weswegen moralische Sensibilisierung und Sympathiebildung eine viel stärkere Rolle spielten als ihnen eigenschaftsorientierte Ansätze zugestehen. Auch wird in diesem Zusammenhang am Ethos der Nächstenliebe angeknüpft, das nicht Eigenschaften, sondern die subjektive Beziehung zum Nächsten zum Ausgangspunkt macht23 – und das weitergehend vor dem Horizont der Liebe Gottes verstanden werden kann, die sich nicht einer Leistung oder bestimmten Eigenschaft verdankt, sondern die »der bloßen Existenz der Geschöpfe schon voraus[geht]«24 . Weiterhin wird an die relationale Verfasstheit des Menschen erinnert25 – entscheidend für die moralische Berücksichtigung sei dementsprechend das Eingebundensein in ein (menschliches) Beziehungsgeflecht.26 Anstatt also (nur)27 abstrakt über moralisch relevante Eigenschaften von Menschen und Tieren nachzudenken, müsse man, so die Quintessenz der Kritik, die moralphilosophische Perspektive wechseln, hin zu einer stärkeren Berücksichtigung der Bedeutung von Beziehungen (und den damit verbundenen Emotionen), die uns für den Anderen und seine Bedürfnisse sensibilisieren und uns drängen, ihn oder sie moralisch zu berücksichtigen; damit auch hin zu einem Fokus auf die ethische Wahrnehmung und die Verschiedenheit moralischer Perzeptionen; sowie schließlich hin zu einer Verankerung von Ethik in den konkreten lebensweltlichen Erfahrungen (anstelle der abstrakten Eigenschaftssuche), die unsere ethische Wahrnehmung und unsere moralischen Beziehungen prägen. Ein solcher moralphilosophischer Perspektivwechsel geht im theologischen Diskurs meist mit einer Zurückweisung der tierrechtlichen Forderungen einher (eine Ausnahme davon ist die Position Christoph Ammanns, auf die ich noch zurückkomme). Es scheint nämlich, dass der Fokus auf die ethische Wahrnehmung und auf Beziehungen deutlich mache, dass zwischen Menschen und Tieren ein wesentlicher Unterschied besteht, der auch einen wesentlichen Unterschied in der moralischen Berücksichtigung begründet und legitimiert. So erörtert beispielsweise Christian Polke, dass die Fähigkeit zu Imagination und Mitgefühl in Bezug auf Tiere im Allgemeinen wesentlich geringer sei als in Bezug auf Menschen, selbst dann, wenn diese Menschen in vielen Hinsichten anders sind als wir. Ihm zufolge differiert »die durch Imagination geleitete und ausgeweitete Einbeziehung der Anderen als Mitmenschen und als Mitgeschöpfe […] in

22 23 24 25 26

27

Vgl. Chr. Polke: Tiere, Menschen und Personen, S. 103; S. 109. Vgl. Chr. Ammann: Tiere als Nächste und Mitgeschöpfe, S. 132. A. Käfer: Von Menschen und Tieren, S. 103. Vgl. z.B. W. Härle: Alle Menschen sind Personen, S. 214. So z.B. P. Dabrock: Leibliche Vernunft, S. 248. Vgl. auch Johannes Fischer, dem zufolge Würde (und Rechte) nicht an natürliche Eigenschaften, sondern an die Zugehörigkeit zur sozialen Welt, mithin zur menschlichen Gemeinschaft, gebunden sind – was nur auf Menschen und nicht Tieren oder Pflanzen zutreffen könne (vgl. J. Fischer: Menschenwürde und Menschenrechte, S. 245). Peter Dabrock lehnt die eigenschaftsorientierte Herangehensweise nicht gänzlich ab, sondern möchte die Pointen transzendent-relationaler und eigenschaftsorientierter Ansätze verknüpfen (vgl. P. Dabrock: Leibliche Vernunft, Abschnitt VIII). Dafür schlägt er die Kategorie der ›leiblichen Vernunft‹ vor, auf die ich in Argument II.A noch zurückkomme.

Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik

qualitativer Hinsicht massiv«28 , was sich nicht zuletzt »in Sprachpraxen, Literaturen und kulturell einschlägigen Narrativen«29 niederschlage, die ihrerseits wieder unsere ethische Wahrnehmung prägen. Auch wenn die bestehenden Wahrnehmungen dabei nicht einfach übernommen werden sollen und nicht vor Kritik gefeit seien30 , dienen sie hier letztlich als wesentliche Grundlage für die Begründung einer grundsätzlich sehr unterschiedlichen moralischen Berücksichtigung von Tieren und Menschen.31 Ähnlich wird auch unter stärker beziehungsorientiertem Fokus argumentiert, dass Menschen in besonderen Beziehungen zueinander stünden und es ein spezifisch menschliches Beziehungsgeflecht gebe, das eine – auch moralische – Sonderstellung des Menschen zu erklären und zu begründen vermag.32 Die meisten Kritiker*innen von eigenschaftsorientierten Tierrechtsansätzen kommen daher zu dem Schluss, dass es kategoriale oder auch ›qualitative‹ Unterschiede zwischen Menschen und Tieren gibt, die eine grundlegende Unterscheidung in der moralischen Berücksichtigung begründen und legitimieren. Die Forderung von Tierrechten wird demgegenüber kritisiert und viele gewaltvolle Nutzungsformen von Tieren werden akzeptiert und letztlich legitimiert.33 Einen anderen Weg schlägt hier Christoph Ammann ein. Auch er übt Kritik an eigenschaftsorientierten Ansätzen im Tierrechtsdiskurs und fordert eine erfahrungs- und beziehungsorientierte Moralperspektive und auch er betont die Andersheit von Tieren. Allerdings schließt er davon ausgehend nicht in gleichem Maß auf die Legitimität einer an menschlichen Interessen orientierten Nutzung von Tieren. Vielmehr legt er den Fokus seiner Argumentation darauf, dass und wie wir unsere Wahrnehmung für Tiere sensibilisieren sollten »als Wesen, die ihr eigenes Leben haben, auf ihre Weise am Leben hängen, auf ihre Weise verwundbar und verletzlich sind«34 . Ihm zufolge ist in diesem Sinn etwa der Begriff der Tierwürde wichtig, da dieser zu einer solchen Sensibilisierung beitrage.35 Konkret scheinen für Ammann daraus weitgehende Veränderungen im Mensch-Tier-Verhältnis und eine deutlich stärkere moralische Berücksichtigung von Tieren zu folgen. So legt er etwa nahe, dass Tiere nicht getötet werden sollten.36 Damit gibt Ammanns Position einen Hinweis darauf, dass die moralphilosophische Kritik an eigenschaftsorientierten Tierrechtsansätzen nicht notwendig zur Zurückweisung von deren inhaltlichen Forderungen im Umgang mit Tieren führen muss. Um dies besser zu verstehen, lohnt ein Blick in die tierethische Argumentation der Philosophin Cora 28 29 30 31

32 33 34 35 36

Chr. Polke: Tiere, Menschen und Personen, S. 113. Ebd., S. 114. Vgl. ebd., S. 103. Die besondere Bedeutung von Haustieren für einige Menschen spricht Polke zufolge nicht gegen, sondern gerade für die Wahrnehmungsdifferenz, da diese Tiere »allererst durch den Vergleich mit dem Umgang zwischen seines, d.h. unseresgleichen kenntlich« würden (Chr. Polke: Tiere, Menschen und Personen, 113). Vgl. zur Legitimität besonderer moralischer Pflichten gegenüber Haustieren auch: A. von Scheliha: Christliche Pflichten. Vgl. P. Dabrock: Leibliche Vernunft. Vgl. die Ausführungen Polkes zu Tierversuchen und Xenotransplantation, Chr. Polke: Tiere, Menschen und Personen. Chr. Ammann: Die Würde des Tiers, S. 23 (kursiv i.O.). Vgl. ebd., S. 24. Siehe dementgegen die Kritik am Begriff der Tierwürde z.B. bei J. Fischer: Haben Affen Würde?. Vgl. Chr. Ammann: Tiere als Nächste und Mitgeschöpfe, S. 21.

231

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Diamond, die in mehreren theologischen Beiträgen zitiert wird, da sie eine elaborierte Kritik an der eigenschaftsorientierten Herangehensweise entwickelt hat.37 Diamond gehört zu jenen Philosoph*innen, die im tierethischen Diskurs Kritik an eigenschaftsorientierten Ansätzen formulieren (dazu kann man weiterhin u.a. Elizabeth Anderson und Lori Gruen zählen).38 Sie kritisiert die eigenschaftsorientierte Herangehensweise namentlich von Singer und Regan als »völlig verfehlte[n] Diskussionsansatz«39 , da hier die Bedeutung der erlernten moralischen Wahrnehmung sowie der damit verbundenen Beziehungen zu Menschen und Tieren nicht beachtet werde. Diese seien aber maßgeblich verantwortlich für die moralische Überzeugung, dass man Tiere essen darf und Menschen nicht und hätten mehr Einfluss auf das ethische Verhalten in Bezug auf Tiere als eigenschaftsbezogene Gründe: »Was ein Mensch ist, lernen wir unter anderem dadurch, dass wir an einem Tisch sitzen, an dem sie von uns gegessen werden. Wir sitzen am Tisch, während sie auf dem Tisch liegen.«40 Dabei richtet sich Diamonds Kritik allerdings hauptsächlich gegen die moralphilosophische Herangehensweise und nicht gegen die inhaltliche Stoßrichtung.41 So sucht auch sie bereits in ihrem frühen Aufsatz Fleisch essen und Menschen essen (zuerst erschienen: 1978) Gründe für die bessere Behandlung von Tieren und den Verzicht auf Fleisch, sie sucht sie aber anderswo.42 Da ihrer Überzeugung nach die ethische Wahrnehmung wichtiger ist als eigenschaftsorientierte Argumente, könnten auch Veränderungen im Umgang mit Tieren nur dort ansetzen. Tatsächlich hält sie es nicht nur für möglich, solche Wahrnehmungen zu verändern, mehr noch geht sie (wie in späteren Aufsätzen noch deutlicher wird) davon aus, dass sie verändert werden sollten hin zu einem »Schmerz« und einer »Abscheu« mit Blick auf das, was Tieren angetan wird.43 In diesem Zusammenhang geht Diamond schließlich auch über den ›bloßen‹ Tierschutzgedanken hinaus, den sie in ihrem Aufsatz Ungerechtigkeit und Tiere dafür kritisiert, dass er nur auf Mitgefühl und nicht auf Gerechtigkeit in Bezug auf Tiere setzt (wohingegen sie beides verknüpfen will) und sie charakterisiert ihn letztlich als erbarmungslos.44 Diamond vertritt insofern trotz ihrer Kritik an eigenschaftsorientierten Tierrechtsansätzen eine sehr weitreichende tierethische Position, die das herrschende Mensch-Tier-Verhältnis 37

38 39 40 41 42 43 44

Zur besonderen Rezeption von Diamond im theologischen Diskurs könnte auch ihr Rekurs auf den Begriff des ›Mitgeschöpfs‹ beigetragen haben, der besonders in ihrem frühen Aufsatz Fleisch essen und Menschen essen eine zentrale Rolle spielt (C. Diamond: Menschen, Tiere und Begriffe, S. 83-106). Ich gehe darauf an dieser Stelle nicht ein, weil dies eine eigene Diskussion erfordern würde und für die Argumentation hier keinen zusätzlichen Aspekt beiträgt. Es sei aber darauf hingewiesen, dass Diamond auch diesbezüglich ihr inhaltliches Anliegen deutlich macht: »Den Begriff des Mitgeschöpfs habe ich eingeführt, um die Frage zu beantworten, wie ich es anstellen könnte, jemandem zu zeigen, dass es auch für ihn Gründe gibt, keine Tiere zu verspeisen.« (ebd., S. 104). Vgl. dazu die Systematisierung bei F. Schmitz: Tierethik – eine Einführung, S. 50f. C. Diamond: Menschen, Tiere und Begriffe, S. 86. Ebd., S. 91 (kursiv i.O.). Vgl. ebd., S. 106. Vgl. ebd., S. 93f. Vgl. C. Diamond: Menschen, Tiere und Begriffe, S. 184. Vgl. ebd., S. 188f.

Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik

grundlegend in Frage stellt und eine umfassende Kritik an Gewalt gegenüber Tieren formuliert.45 Wenngleich es an dieser Stelle nicht um eine Diamond-Exegese gehen soll, ist der genauere Blick auf ihre Argumentation deswegen von Bedeutung, weil er zeigt, dass der skizzierte moralphilosophische Einwand nicht zur Zurückweisung der inhaltlichen Forderungen von Tierrechtsansätzen führen muss. Vielmehr kann man auch auf anderem Weg eine weitgehende Kritik an Gewalt im Mensch-Tier-Verhältnis formulieren. Insbesondere sollte die Feststellung, dass wir Menschen und Tiere häufig verschieden wahrnehmen und moralisch einordnen, nicht allzu affirmativ gedeutet werden: Zwar ist es wichtig diese Wahrnehmungen ernst zu nehmen, es ist aber ebenso wichtig, sie kritisch zu hinterfragen und zu verändern. Diamond, Ammann u.a. folgend sollte man auch in Bezug auf Tiere lernen, das Mitgefühl auszuweiten und die Wahrnehmung entsprechend zu verändern und weiterzuentwickeln. Abschließend lässt sich noch einmal festhalten, dass die Kritik an eigenschaftsorientierten Ansätzen nicht mit einer Ablehnung weitgehender tierethischer Forderungen einhergehen muss. Darüber hinaus muss auch nicht notwendig folgen, Tierrechte generell abzulehnen – auch Diamond scheint dies nicht zu tun.46 So kann man durchaus zugleich den alleinigen Fokus auf eine Rechteargumentation kritisieren (etwa dafür, dass wichtige Dimensionen moralischen Denkens darin nicht zu Sprache kommen, dass das Rechtsdenken zu abstrakt ist usw.) und trotzdem Rechte etwa als politischen Horizont wertschätzen – ähnlich wie Menschenrechte aus verschiedenen moralphilosophischen Perspektiven begründet werden, könnte man dies hier auch für Tierrechte in Anschlag bringen.

2.2

Argument II: Tiere können keine Rechte haben, weil sie selbst keine Rechte anerkennen und keine Verantwortung übernehmen können

THESE: Auch wenn man Tieren keine Moralfähigkeit im engen Sinn von Moral zuschreibt und davon ausgeht, dass nur Menschen Verantwortung übernehmen können, kann man dennoch Tierrechte einfordern. Wechselseitigkeit stellt mit Blick auf grundlegende Bedürfnisse und Interessen kein überzeugendes Kriterium für moralische Berücksichtigung dar.   Ein zweiter Einwand, der im theologischen Diskurs häufig gegen Tierrechtspositionen und deren Forderung von weitgehenden Veränderungen im Umgang mit Tieren formuliert wird, stützt sich auf das Argument der alleinigen Moral- und Verantwortungsfähigkeit des Menschen: Da nur Menschen Verantwortung übernehmen und in einem Verhältnis wechselseitiger Anerkennung leben könnten, kämen auch nur ihnen Rechte zu. Tiere, die selbst keine Rechte anerkennen und keine Verantwortung übernehmen können, hätten demgegenüber auch selbst keine Rechte. In diesem Einwand spielen

45 46

Vgl. F. Schmitz: ›Die Schwierigkeit der Wirklichkeit‹. Vgl. z.B. ihre Ausdrucksweise, »die Frage der Rechte [sei] nicht ausschlaggebend« (C. Diamond: Menschen, Tiere und Begriffe, S. 86, kursiv i.O.), womit sie die Rede von Rechten nicht generell ablehnt, sondern sie eben nur als ›nicht ausschlaggebend‹ für die tierethische Argumentation bewertet. Es ließen sich weitere Beispiele dazu aus ihren Texten anführen.

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zwei Aspekte zusammen: zum einen die Betonung einer moralisch relevanten MenschTier-Differenz, die in der menschlichen Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme verankert wird und aus theologischer Perspektive oft als Ausdruck der Gottebenbildlichkeit des Menschen gedeutet wird (A); und zum anderen ein Verständnis von Moral und moralischen Rechten, das Wechselseitigkeit voraussetzt (B). Im Folgenden möchte ich beide Aspekte des Arguments genauer beleuchten und diskutieren. Argument II.A: Moral- und Verantwortungsfähigkeit als zentrale Mensch-Tier-Differenz Die Frage, worin sich Menschen und Tiere ähneln und wodurch sie sich unterscheiden, spielt in der Tierethik grundsätzlich eine zentrale Rolle. Dabei wird von niemandem bestritten, dass es eine Reihe von Ähnlichkeiten ebenso wie viele Unterschiede gibt. Entscheidend ist aber, wie diese aus moralischer Perspektive bewertet werden und welche Ähnlichkeiten und Unterschiede man je als relevant für die moralische Berücksichtigung beurteilt. Kritiker*innen von Tierrechtsforderungen argumentieren oft mit Verweis auf eine Mensch-Tier-Differenz, die moralisch so ausschlaggebend sei, dass sie eine starke Nachordnung von Tieren und eben die Ablehnung von Tierrechten begründe. Aus theologischer Perspektive wird hierzu vor allem die Fähigkeit zu Moral bzw. präziser zu Verantwortung angeführt, die insofern als Kriterium plausibel zu sein scheint, als es ohne moral- und verantwortungsfähige Individuen überhaupt kein moralisches Denken und Handeln gäbe.47 Dabei wird diese Bestimmung in der Regel nicht als gegensätzlich zur beziehungsorientierten Perspektive konzipiert, sondern in diese eingebettet. Besonders deutlich wird das bei Peter Dabrock, der die Sonderstellung des Menschen mit dem Begriff der ›leiblichen Vernunft‹ charakterisiert und diese näher bestimmt als Eingebundensein in ein spezifisch menschliches »Beziehungsgeflecht sich wechselseitig auf personaler wie kollektiver Ebene Anerkennung schenken könnender leiblicher Subjekte«48 . Hier wird der Mensch zugleich als Beziehungswesen charakterisiert und als ein Lebewesen, das (potenziell) zu Moral und Verantwortung – nämlich in Form der wechselseitigen Anerkennung – fähig ist. Der tierethische Kern des Arguments der Moral- und Verantwortungsfähigkeit besteht letztlich darin, dass diese Fähigkeit nur Menschen und nicht Tieren zukomme, was, christlich-theologisch betrachtet, nicht zuletzt durch die alleinige Auszeichnung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit ausgedrückt zu werden scheint.49 Mit diesem Argument verbunden ist darüber hinaus häufig eine Kritik an der Anthropozentrismuskritik tierrechtlicher Positionen: Auch diese Positionen müssten nämlich die Differenz zwischen Menschen und Tieren in Bezug auf die Moralfähigkeit voraussetzen und vom Menschen als alleinigem Verantwortlichen für die Einhaltung moralischer Normen und Rechtsansprüche ausgehen. Damit gelinge es aber auch ihnen nicht, den Anthropozentrismus zu überwinden.50

47 48 49 50

Vgl. z.B. K. Huizing: Scham und Ehre, S. 358; vgl. U. H. J. Körtner: Bioethik nichtmenschlicher Lebensformen, S. 588; vgl. Chr. Polke: Tiere, Menschen und Personen, S. 106. P. Dabrock: Leibliche Vernunft, S. 248. Vgl. ebd., S. 234f. Vgl. z.B. U. H. J. Körtner: Bioethik nichtmenschlicher Lebensformen, Punkt 2.2; Chr. Polke: Tiere, Menschen und Personen, S. 106; C. Wustmans: Tierethik als Ethik des Artenschutzes, Kap. II.

Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik

Kontextualisierung und Relativierung des Arguments der Mensch-Tier-Differenz Das Argument der Mensch-Tier-Differenz in Bezug auf Moral und Verantwortung erscheint in vielerlei Hinsicht plausibel. In der Tat beruhen auch die meisten Tierrechtsforderungen auf der Annahme, dass nur Menschen verantwortlich für die Einhaltung moralischer Normen und den Respekt von Rechten sind, Tiere hingegen nicht, da sie nicht (in derselben Weise) moralfähig sind.51 Dennoch ist das Argument in drei Hinsichten zu kontextualisieren – und letztlich zu relativieren. Zum einen ist zu bedenken, dass die aktuelle Forschung der Human-Animal Studies aufweist, dass auch Tieren zumindest moralähnliche Fähigkeiten zukommen. Viele Tiere handeln altruistisch und empathisch, zudem zielgerichtet und können Regeln befolgen, die Human-Animal Studies untersuchen dementsprechend die tierliche ›Agency‹ auch in Bezug auf Moral.52 Diese Erkenntnisse werden in einigen philosophischen Ansätzen dahingehend weitergedacht, dass eine stärkere Beteiligung von Tieren an gesellschaftlichen und politischen Prozessen gefordert wird, bis hin zur Anerkennung von Tieren als politischen Akteuren.53 Auch einzelne Theolog*innen nehmen auf diese Forschung Bezug, so etwa Julia Eva Wannenmacher, die u.a. über die Möglichkeit tierlicher Ethik (und darüber hinaus über Tiere als religiöse Subjekte) nachdenkt54 , oder Markus Mühling, der annimmt, dass Menschen und Tiere in ihrem ›Wertwahrnehmen‹ in Kontinuität miteinander stehen.55 Überlegungen dieser Art müssen nun nicht zwangsläufig bedeuten, dass man den Unterschied zu Moral und Verantwortung in einem engen, nur Menschen zukommenden Sinn aufgibt (wenngleich zu bedenken ist, dass dies wiederum nicht allen Menschen zukommt und auch den verantwortungsfähigen nicht in jeder Lebensphase, ganz abgesehen vom faktischen Gebrauch dieser Fähigkeit). Allerdings weisen diese Überlegungen zu Recht darauf hin, dass zwischen Menschen und Tieren in allen Fähigkeiten eine Kontinuitätslinie besteht. Auch in Bezug auf Moral muss man nicht von einem harten Bruch in der Kontinuität ausgehen, sondern kann von Abstufungen sprechen. Dies ändert (vorerst) nichts daran, dass nur Menschen für ihre Handlungen moralisch verantwortlich gemacht und zur Einhaltung von moralischen Normen und Rechten zur Rechenschaft gezogen werden können, es relativiert aber die Schärfe der Trennlinie und unterstreicht damit die Frage, wie stark die Unterscheidung in der moralischen Berücksichtigung tatsächlich sein muss und darf.56 51 52 53 54 55 56

So z.B. B. Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte, S. 21f. Vgl. die Beiträge in S. Wirth et al.: Das Handeln der Tiere. So etwa bei S. Donaldson/W. Kymlicka: Zoopolis. J. E. Wannenmacher: Ambivalenzen einer Beziehung, S. 310-314. Vgl. M. Mühling: Kriterien, S. 84f. Vgl. ähnlich ebd., S. 83. Hier würde ich auch eine wesentliche ethische Bedeutung von Ansätzen wie der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) verorten: Diese zeigen auf, dass das stark anthropozentrische Denken der Moderne, das die entscheidende Wirk- und Handlungskraft beim Menschen sieht, hinterfragt werden sollte, da, so die ANT, der Mensch tatsächlich viel stärker abhängig von seiner Umwelt sei, so dass man in diesem Sinn auch von der Handlungsmacht anderer Lebewesen und sogar von Dingen ausgehen könne (Bruno Latour spricht hier von ›Aktanten‹, vgl. z.B. B. Latour: Das Parlament der Dinge). Die Annahme, der Mensch hätte letztlich die Fäden des Geschehens in der Hand, wird aus dieser Perspektive zu Recht als Selbstüberschätzung kritisiert. Allerdings wäre es, so denke ich, unplausibel, wenn man daraus schlösse, Nichtmenschen, seien es Dinge oder

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Diese Kontinuität kann, zweitens, auch in Bezug auf die Gottebenbildlichkeit diskutiert werden. Einen entsprechenden Vorstoß wagt Mühling, der die These aufstellt, dass Menschen und Tiere im Bild Gottes geschaffen seien. Mühling argumentiert zunächst, dass Gottebenbildlichkeit als »Resonanz Gottes«57 bestimmt werden sollte, mithin als Verdichtung des »Immer-schon-mit-Gott-in-Beziehung-Stehen[s]«58 , was darin konkret werde, »dass der Mensch ein internes Beziehungswesen« sei – mit anderen Worten »ein besonderes Voneinander-und-Füreinander Werden«59 . Das heißt, ihm zufolge steht nicht eine exklusiv menschliche Moral- und Verantwortungsfähigkeit im Fokus der Gottebenbildlichkeit, sondern dieses Voneinander-und-Füreinander Werden. Davon ausgehend will er weiterhin zeigen, dass auch Tiere nach diesem Verständnis gottebenbildlich sind, da auch sie »Voneinander-und-Füreinander Werdende« seien.60 Man sollte daher, so seine Schlussfolgerung, theologisch nicht von einer Fundamentaldistinktion von Mensch und Tier ausgehen.61 Für die Tierethik stellt sich freilich die Frage, welche moralischen Konsequenzen sich daraus ergeben. Mühling selbst deutet an anderer Stelle an, dass er die Formulierung von Tierrechten für sinnvoll hält; zugleich schließt er dennoch – unter Rekurs auf das Argument der präeschatischen Welt – »das Töten für Fleischgenuss«62 nicht aus. In jedem Fall aber macht seine Auseinandersetzung mit Gottebenbildlichkeit deutlich, dass auch dieses genuin theologische Argument für eine kategorial bestehende Mensch-Tier-Differenz nicht unhintergehbar ist, sondern stärker als Teil eines kritischen Diskurses betrachtet werden sollte; und zwar insbesondere sofern es dazu dient, anderen Lebewesen grundlegende Rechte abzusprechen und Gewalt ihnen gegenüber zu rechtfertigen. Was schließlich drittens die Kritik an der Anthropozentrismuskritik betrifft, ist es zwar zutreffend, dass die meisten Tierrechtsphilosoph*innen davon ausgehen, dass nur Menschen im engen Sinn moral- und verantwortungsfähig sein können. Das stellt aber weder einen Widerspruch noch eine Inkonsequenz in Bezug auf die Anthropozentrismuskritik dar, denn in der Regel wird dies ausdrücklich angesprochen und zwischen verschiedenen Formen des Anthropozentrismus differenziert. Bernd Ladwig z.B. unterscheidet begrifflich zwischen Epistemologie und Axiologie: Während ein epistemologischer Anthropozentrismus unvermeidbar sei, gelte dies nicht in Bezug auf den moralisch zu berücksichtigenden Bereich von Lebewesen, das heißt, für einen axiologischen Anthropozentrismus.63 Worum es Tierrechtsforderungen geht, ist diese axiologische Frage, »wer es wert wäre, um seiner selbst willen Beachtung zu finden«64 – und dies

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andere Lebewesen, käme dieselbe Handlungs- und Verantwortungsfähigkeit zu. Aus tierethischer Sicht erscheint ein solcher Ansatz zudem deswegen nur bedingt hilfreich, weil es hier gerade darum geht, die größere moralische Berücksichtigung von Tieren – im Unterschied zu Dingen und Pflanzen – zu begründen. M. Mühling: Menschen und Tiere, S. 131. Ebd., S. 133. Ebd., S. 138 (kursiv i.O.). Ebd. Vgl. ebd., S. 139. M. Mühling: Kriterien, S. 99. Vgl. B. Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte, S. 70. Ebd.

Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik

könne, so Ladwig, unabhängig von der epistemologischen Frage beantwortet werden und könnte viele Tiere einschließen. Mit dieser Unterscheidung lässt sich auch das im theologischen Diskurs teilweise erweiterte Argument zurückweisen, wonach der unvermeidbare Anthropozentrismus nicht nur die epistemologische, sondern auch die moralische Dimension betreffe, da schließlich davon ausgegangen wird, dass nur der Mensch Verantwortung übernehmen kann65 : Im Sinne der Unterscheidung Ladwigs kann man diesen ›moralischen Anthropozentrismus‹ durchaus in den epistemologischen Bereich der – eben moralischen – Beurteilungsfähigkeit einordnen. Menschen übernehmen Verantwortung, weil sie ein moralisches Urteil fällen können. Die entscheidende Stoßrichtung der Anthropozentrismuskritik der Tierrechtsdebatte bleibt aber die axiologische Frage, wer ›um seiner selbst willen‹ moralisch berücksichtigt werden soll. Argument II.B: Wechselseitigkeit von Moral und moralischen Rechten Die Fähigkeit zu Verantwortung geht im Verständnis theologischer Ethik mit dem Auftrag einher, verantwortlich zu handeln – und zwar nicht nur gegenüber Menschen, sondern auch mit Blick auf die gesamte Schöpfung, nicht zuletzt ausgehend vom biblischen Auftrag in Gen 1,28. Allerdings wird von den meisten Theolog*innen in Frage gestellt, dass dies zu moralischen Pflichten gegenüber der nichtmenschlichen Schöpfung führe. Vielmehr handle es sich hier um eine Frage der Tugendhaftigkeit, die nicht in den Bereich der Pflichten, sondern in den der Freiwilligkeit falle. Demzufolge wäre es wünschenswert, sich respektvoll gegenüber Tieren (und Pflanzen)66 zu verhalten – aber nicht moralisch einklagbar. Begründet wird dies wesentlich mit einem Argument der Wechselseitigkeit67 : Da sich nur Menschen in einem Verhältnis wechselseitiger Anerkennung und gegenseitiger Verantwortung befänden, bestünden auch nur ihnen gegenüber moralische Pflichten im eigentlichen Sinn; mit Blick auf Tiere könne man nur von einem Appell an die Verantwortung sprechen, womit die Achtung ihnen gegenüber im Bereich freiwilliger Tugend verortet wird.68 Eben deswegen führt das Argument in der Konsequenz zu einer Ablehnung von Tierrechten, zumindest insofern sie in Analogie zu den Rechten von Menschen verstanden werden sollen.69 Gewalt gegenüber Tieren, so ist zu schließen, verletzt generell zunächst keine moralischen Pflichten und ist dann gerechtfertigt, wenn sie verantwortungsvoll geschieht (etwa wenn Tiere

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Vgl. U. H. J. Körtner: Bioethik nichtmenschlicher Lebensformen, S. 597. Die Frage der moralischen Berücksichtigung von Pflanzen klammere ich hier aus, siehe aber näher dazu Fußnote 87. Ein weiteres Argument in diesem Zusammenhang besteht in dem Hinweis auf die Notwendigkeit, moralische Forderungen auf einen realistischen Rahmen einzugrenzen, damit sie nicht ›über‹fordern. Siehe dazu Argument III. Vgl. zum Appellcharakter: U. H. J. Körtner: Bioethik nichtmenschlicher Lebensformen, S. 604; vgl. in der Stoßrichtung ähnlich: K. Huizing: Scham und Ehre, S. 372; zur Rede von »wechselseitiger Verantwortung«: vgl. W. Härle: Alle Menschen sind Personen, S. 216; zur Voraussetzung von Wechselseitigkeit in Bezug auf Anerkennung: vgl. P. Dabrock: Leibliche Vernunft, S. 248; zum Argument der Freiheit des Menschen am Beispiel des Fleischkonsums: vgl. A. von Scheliha: Tierschutz, S. 17. Vgl. U. H. J. Körtner: Bioethik nichtmenschlicher Lebensformen, S. 617.

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›artgerecht‹ gehalten und getötet werden, vgl. auch die Rede vom ›vernünftigen Grund‹ im deutschen Tierschutzgesetz, auf die mitunter verwiesen wird70 ). Untermauert wird das Argument der Wechselseitigkeit in Diskussionen zudem mitunter mit einer Problematisierung der konkreten Umsetzung von Tierrechten: Es sei schon deswegen nicht plausibel, für Tiere ein Recht auf Leben, Wohlbefinden usw. einzufordern, weil dies bedeuten würde, dass man diese Rechte auch unter Tieren gewähren müsste. Da Tiere selbst aber keine Verantwortung übernehmen und keine Rechte gewähren können, würde diese Aufgabe dem Menschen zufallen, was schon in Bezug auf das eigene Haustier zu unplausiblen Konsequenzen führt und mit Blick auf Wildtiere regelrecht absurd erscheint. Dies scheint umso mehr anschaulich zu machen, dass moralische Pflichten und Rechte an Wechselseitigkeit geknüpft werden sollten – und die Forderung von Tierrechten zurückzuweisen ist. Einwände gegen Wechselseitigkeit als tierethisches Kriterium Das Argument der Wechselseitigkeit ist im tierethischen Kontext allerdings in verschiedenen Hinsichten kritisch zu hinterfragen, ich möchte im Folgenden drei Aspekte ansprechen. Erstens wird Wechselseitigkeit hier immer schon mit dem Gattungsargument verbunden, denn würde man es auf der Ebene der Individuen betrachten, dürfte es aus theologisch-ethischer Sicht nicht das entscheidende Kriterium sein: Unabhängig davon, dass Menschen faktisch oft nicht von ihrer Verantwortungsfähigkeit Gebrauch machen, können es auch nicht alle und nicht immer, zum einen weil auch jene, die grundsätzlich die Fähigkeit dazu haben, dies in bestimmten Phasen ihres Lebens noch nicht und manchmal auch nicht mehr können, zum anderen weil manche Menschen es generell nur sehr bedingt bis gar nicht können (dies kann man feststellen, ohne den oben in der Exposition als problematisch kritisierten Vergleich zwischen Menschen und Tieren im so genannten human marginal case argument machen zu müssen). Theologischen Ethiker*innen geht es aber gerade darum, alle Menschen einzuschließen. Um dies zu gewähren, muss das zusätzliche Gattungsargument hinzugefügt werden, was z.B. bei Dabrock mit der Rede von der ›Menschheit‹ auch ausdrücklich geschieht.71 Worum es geht, ist insofern eine wechselseitige Anerkennung, die nicht ausschlaggebend an die Fähigkeit der Verantwortungsübernahme gebunden ist, sondern viel stärker an die Wahrnehmung eines Wesens als Mensch, die uns ihn oder sie als Teil des Beziehungsgeflechts betrachten lässt (vgl. Argument I).72 Mit Blick auf die moralische Sonderstellung des Menschen gegenüber anderen Lebewesen wird das Wechselseitigkeitsargument damit allerdings, analytisch betrachtet, zirkulär: Es setzt bereits voraus, was

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So z.B. von A. von Scheliha: Tierschutz, S. 10. Vgl. P. Dabrock: Leibliche Vernunft, S. 248. Ginge man von einem weiteren Verständnis von Beziehungsgeflecht aus, könnte dies wiederum ertragreich für die Forderung von Tierrechten sein, da Tiere schließlich auf vielfältige Weise in ein moralisch relevantes Beziehungsgeflecht mit Menschen verwoben sind. Dies gilt für Haus- und Nutztiere, aber auch für Wildtiere, mit denen wir nicht zuletzt unter der Perspektive des Gesamtökosystems ebenfalls in Beziehung stehen.

Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik

es zu begründen suggeriert, da das Kriterium der Verantwortungsfähigkeit als Voraussetzung für moralische Rechte nur trägt, sofern es mit der Annahme verbunden wird, dass es sich dabei um eine speziesbezogen potenziell und grundsätzlich immer vorhandene Fähigkeit handelt.73 Nun wird von Seiten theologischer Ethik gegen solche analytischen Argumentationen häufig eingewandt, sie reduzierten die Wirklichkeit und blendeten Erfahrungen und Wahrnehmungen aus, die moralisch entscheidend seien, z.B. die starke Wahrnehmung einer Zusammengehörigkeit aller Menschen, die der Rede von der Menschheit einen normativen Gehalt verleiht und begründet, dass man Menschen mehr schulde als Tieren (vgl. Argument I). Abgesehen davon aber, dass solche Wahrnehmungen wie oben angesprochen geprüft werden müssen, würde ein solcher Einwand an dieser Stelle gerade nicht für das – letztlich doch eigenschaftsorientierte – Wechselseitigkeitsargument sprechen, sondern davon weglenken, hin auf die moralische Erfahrung und Wahrnehmung. Es stellt sich daher umso mehr die Frage, ob Wechselseitigkeit ein sinnvolles Kriterium für moralische Berücksichtigung ist – und ob nicht vielmehr andere Aspekte im Zentrum stehen sollten. In diesem Sinn kann man, zweitens, kritisch hinterfragen, ob die Voraussetzung dafür, gegenüber jemandem moralische Pflichten zu haben, tatsächlich sein sollte, dass dieser selbst fähig zur Einhaltung moralischer Pflichten ist; ob, mit anderen Worten, Wechselseitigkeit und Symmetrie in jeder moralischen Beziehung entscheidend sind. Stattdessen könnte man auch grundsätzlich davon ausgehen, dass sich viele moralische Beziehungen durch Asymmetrie auszeichnen.74 In der Tierethik wird hier oft zwischen moral patients und moral agents unterschieden, verbunden mit dem Plädoyer, dass diese Gruppen nicht deckungsgleich sein müssten, sondern dass es gleichwertige moral patients geben könne, die selbst keine moralischen Akteure sind. Begründet wird dies auf verschiedene Weise: Christine Korsgaard beispielsweise argumentiert in Auseinandersetzung mit Kant, dass der Mensch neben dem »Selbst, das Wert verleiht« auch ein ›tierliches Selbst‹ habe und dass es dieses ist, »für das Dinge natürlich gut oder schlecht sein können«75 . Das heißt, dass auch für uns, ganz unabhängig von unserer vernünftigen Moralfähigkeit, Dinge in einem moralisch bedeutsamen Sinn an sich gut oder schlecht sein können (z.B. Leiden) und dass wir uns als solche Wesen, für die Dinge gut oder schlecht sind, Wert verleihen, mit anderen Worten: dass wir unserem tierlichen Selbst Wert verleihen.76 Geht man diesen Schritt mit, sollte man weiter zugestehen, dass wir auch Tieren, für die ebenfalls Dinge in einem moralisch bedeutsamen 73

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Vgl. die Kritik Ladwigs an dem gattungsbezogenen Argument zur Moralfähigkeit, zwar spricht er nicht von Zirkularität, er macht aber deutlich, dass das Menschheitsargument keinen eigenen Grund liefert: »[D]er Übergang von einer Individuenmenge zu einem normativ gehaltvollen Gattungsbegriff scheint hier einzig von dem Wunsch motiviert zu sein, zwei auf den ersten Blick inkompatible Annahmen miteinander zu vereinbaren: dass die Moralfähigkeit eine notwendige Bedingung moralischer Einbeziehung bilde und dass alle Menschen ungeachtet ihrer individuellen Fähigkeiten moralische Beachtung verdienten.« (B. Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte, S. 78, kursiv i.O.) Vgl. skeptisch auch Chr. Polke: Tiere, Menschen und Personen, S. 106, mit Verweis auf Eilert Herms. Chr. Korsgaard: Mit Tieren interagieren, S. 280. Vgl. ebd., S. 281.

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Sinn an sich gut oder schlecht sein können, Wert verleihen sollten.77 Korsgaard schließt daher, dass »wir Pflichten gegenüber den anderen Tieren«78 haben, die anders als bei Kant nicht nur aus Pflichten gegenüber uns selbst erwachsen. Ähnlich, aber auf interessenbasierter Grundlage, weist Ladwig unter Rekurs auf Martin Seel darauf hin, dass Asymmetrie ein wesentlicher Bestandteil von Moral sei und auch moralische Akteure nicht immer Akteure seien, sondern oft selbst auf Fürsorge angewiesen. Wenn das aber so sei, sollte man mit der Frage beginnen, »welche Aspekte unserer Verletzbarkeit uns gute Gründe für moralische Beachtung geben«79 . Ausgehend davon wäre dann zu überlegen, »wer außerdem von unserer Begründung profitieren könnte«80 . Auch die christlich-theologische Tradition gibt verschiedene Anhaltspunkte dafür, Moral nicht nur von Wechselseitigkeit her zu denken. Prominent ist etwa der Gedanke der Nächstenliebe, auf den sich im tierethischen Kontext der bereits zitierte Ammann bezieht. Er schlägt vor, an der Frage anzusetzen, was es heißt, »meinem jeweiligen Gegenüber der Nächste zu sein«81 . Ausgehend davon sei dann zu überlegen, warum man »Tiere a priori aus dem Kreis der Nächsten« ausschließen sollte – Ammann zufolge ist dies »fragwürdig«, da »[d]ie Pointe des Liebesethos […] gerade eine liebende Aufmerksamkeit gegenüber der Welt und eine Absage an rigide Grenzziehungen dieser Art«82 sei. Demnach sollte es in einer christlichen Ethik maßgeblich um die aufmerksame und ›liebende‹ Zuwendung zum Gegenüber gehen, die in einer moralisch verbindlichen Verantwortungsübernahme resultiere, und zwar unabhängig von bestimmten Kriterien, die das Gegenüber zu erfüllen hat (etwa die Fähigkeit zu Moral).83 Meinem Gegenüber wäre ich dann deswegen moralisch verpflichtet, weil es mich an sich etwas angeht und nicht weil ich mir von ihm erwarten kann, dass es sich mir gegenüber ebenfalls verantwortlich verhält. Dies gilt nach Ammann nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere, auch dem Tier ›schuldeten‹ wir etwas, »allein deshalb, weil es eben das Wesen ist, das es ist«84 . Nun kann man natürlich kritisch diskutieren, ob und inwiefern das biblische Gebot der Nächstenliebe zur Grundlage moralischer Normen gemacht werden kann. Eine darauf aufbauende Tierethik muss viele Fragen klären und um Konkretisierungen ringen u.a. zur Reichweite der Lebewesen, die als ›Gegenüber‹ eingeschlossenen werden, zum Umfang der konkreten Normen oder auch zu möglichen Abstufungen etwa bei Konfliktfällen; nicht zuletzt muss sie Stellung beziehen zu der Problematik, moralisch

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Vgl. ebd., S. 280ff. Ebd., S. 282f. B. Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte, S. 92. Ebd. Chr. Ammann: Tiere als Nächste und Mitgeschöpfe, S. 132. Ebd., S. 133 (kursiv i.O.). In ähnlicher Stoßrichtung argumentiert auch Anne Käfer für die stärkere moralische Berücksichtigung von Tieren – und anders als Ammann ausdrücklich auch für Tierrechte. Sie setzt allerdings nicht bei der Nächstenliebe, sondern bei der Liebe Gottes an, die allen Geschöpfen unabhängig von jeglicher Leistung und allen Eigenschaften zukomme, wodurch »sämtliche Geschöpfe Zweck an sich selbst« seien (A. Käfer: Von Menschen und Tieren, S. 115). Sie hält es daher für geboten, »der Kreatur und insbesondere den Tieren […] eigene Rechte« zu setzen (ebd.). Chr. Ammann: Die Würde des Tiers, S. 22.

Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik

überfordernd zu sein (Formulierungen wie jene, dass es eine »unendliche Aufgabe« sei, ein Liebender zu werden85 , verdeutlichen diese Problematik, siehe zum Argument der Überforderung Argument III). Trotz dieser Herausforderungen verweist das Gebot der Nächstenliebe m.E. aber auf einen für christlich-theologische Ethik zentralen Aspekt: Wechselseitigkeit sollte nicht als Kriterium dienen, wo es um grundlegende Bedürfnisse und Interessen wie Leben, Gesundheit u.ä. geht. Überall dort, wo nachvollziehbar erkennbar oder begründet zu vermuten ist, dass ein solches Bedürfnis oder Interesse besteht und wo davon auszugehen ist, dass dieses für das Lebewesen wertvoll ist, sollte es an sich und moralisch verpflichtend berücksichtigt werden.86 Darüber hinaus kann drittens ausgehend von der Frage des Rechtsverständnisses diskutiert werden, ob es tatsächlich notwendig ist, Rechte an Wechselseitigkeit zu koppeln und nur jenen Lebewesen Rechte zuzuerkennen, die selbst Rechte anerkennen können. Philosoph*innen, die für Tierrechte eintreten, weisen dies zurück. Aufbauend auf der Unterscheidung zwischen moral agents und moral patients wird argumentiert, dass ein Lebewesen durchaus Rechtsträger*in sein kann, ohne zugleich auch Adressat*in von Rechtsansprüchen sein zu müssen. In diesem Sinn begründet etwa Markus Wild Rechte von empfindungsfähigen Tieren damit, dass sie aufgrund ihrer Empfindungsfähigkeit auch Interessen und ein Wohlergehen hätten, »die geltend gemacht werden können« und dass weiterhin ein solches Interesse eines Lebewesens »alles in allem ein hinreichender Grund dafür [sei], B [d.i. einen Adressat/eine Adressatin] zu verpflichten«87 . Ähnlich plädiert auch Ladwig dafür, dass es ausreichend und entscheidend sei, dass Lebewesen »über Interessen verfügen, die wichtig genug sind, um direkte Pflichten ihnen gegenüber zu begründen«88 – was bei vielen Tieren der Fall sei. Er begründet dies nicht zuletzt mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung, aus dem folge, »dass ein Tier in genau der Hinsicht ein Recht besitzt, in der es einem Menschen hinreichend ähnelt, der in ebendieser Hinsicht ein Recht besitzt«89 . Es sei daher trotz der vorhandenen Unterschiede und Grenzen grundsätzlich von einer »konzeptionelle[n] Kontinuität zwischen Menschen- und Tierrechten«90 auszugehen. Dabei weisen sowohl Wild als auch Ladwig auf die Bedeutung der Unterscheidung zwischen negativen und positiven Rechten bzw. Pflichten hin, das heißt zwischen Rechten, die Rechtsadressat*innen dazu verpflichten, etwas zu unterlassen und jenen, die 85 86

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Vgl. Ders.: Tiere als Nächste und Mitgeschöpfe, S. 132. Eine Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängt und die zumindest kurz angesprochen werden soll, auch wenn sie nicht eingehend diskutiert werden kann, ist die der moralischen Berücksichtigung von Pflanzen: Viele Theolog*innen betonen die Kontinuität von Tieren und Pflanzen, was aus einer schöpfungsorientierten Perspektive auch unmittelbar einleuchtet – jedes tierethische Argument der Mitgeschöpflichkeit oder der Liebe Gottes muss erklären, warum es sich auf Tiere konzentriert und Pflanzen nachordnet. Kriterien wie das im philosophischen Diskurs gebräuchliche Kriterium der Empfindungsfähigkeit oder auch Argumente der Komplexität sind hier notwendig und hilfreich, dennoch wird man sich der Frage der moralischen Bedeutung von Pflanzen (und auch von nichtempfindungsfähigen Tieren) gerade aus theologischer Perspektive in der Tierethik intensiver widmen müssen. M. Wild: Tierrechte durch Interessen, S. 9. B. Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte, S. 26. Ebd. Ebd.

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sie verpflichten, etwas zu tun. Tiere hätten zunächst einmal negative Rechte.91 So bestehe das primäre Recht aller (empfindungsfähigen) Tiere gegenüber Menschen darin, nicht geschädigt zu werden. Adressat*innen von Rechten dürften Tieren dann nicht (ohne vernünftigen Grund) Schmerzen zufügen, sie nicht in ihrem Wohlergehen einschränken und auch nicht töten, da das leidfreie Töten eine »irreversible Vernichtung der Chance auf positive Empfindungen«92 und somit eine Schädigung sei. Hieraus ergibt sich nun auch die entscheidende Entgegnung mit Blick auf das Argument der Raubtiere: Menschen kämen zumindest in Bezug auf Wildtiere keine Pflichten zu, einzugreifen, wo Tiere sich gegenseitig schädigen, da ihre Pflicht der Nicht-Schädigung eine negative ist, die sich nur auf die eigenen Handlungen bezieht und keine positiven Schutzpflichten mit Blick auf andere Tiere mit sich bringt.93 Folgt man dieser Argumentation, kommen Menschen keine Pflichten zu, (Wild-)Tiere gegenüber anderen Tieren zu schützen, ohne dass dies zu einer Ablehnung des grundsätzlichen Rechtsanspruchs von Tieren führt. Die drei erörterten Einwände weisen m.E. auf erhebliche Schwierigkeiten und Lücken des Arguments der Wechselseitigkeit im Tierethikdiskurs hin und geben damit gute Gründe, eine auf diesem Argument basierende Kritik von Tierrechtsforderungen zurückzuweisen. Dass dies noch keine eigene Begründung von Tierrechten darstellt, ist evident; es erscheint aber vor dem Hintergrund dieser Diskussion sinnvoll und notwendig, im Ringen um eine angemessene theologische Tierethik auch die Möglichkeit einer Tierrechtsorientierung mit weitreichenden Forderungen zu Veränderungen im Umgang mit Tieren offen zu halten und der Frage nach einer genuin theologischen Begründung einer solchen Tierrechtsethik stärker nachzugehen.

91

92 93

Das bedeutet nicht, dass man davon ausgehen muss, Tieren kämen in keiner Weise positive Rechte zu, diese werden aber in der Regel auf bestimmte Gruppen eingeschränkt. So plädiert Ladwig dafür, dass wir gegenüber Tieren, mit denen wir in enger Gemeinschaft leben, auch positive Pflichten haben, genauer: dass dort, wo Menschen die Lebensbedingungen von Tieren kontrollieren, sie neben der Pflicht der Nichtschädigung auch eine Pflicht zur Hilfe haben (vgl. B. Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte, S. 33). Interessant ist daran nicht zuletzt, dass dies an eine beziehungsorientierte Argumentation erinnert, wonach wir Tieren, die uns näherstehen, mehr verpflichtet sind (vgl. Fußnote 32). Allerdings besteht ein wesentlicher Unterschied darin, dass es Ladwig dabei ausdrücklich auch um jene Tiere geht, die wir aus unserem Sichtfeld ausblenden, obwohl wir in unserem Alltag eng mit ihnen verbunden sind wie z.B. Nutztiere in der Nahrungsmittelindustrie oder Versuchstiere in Laboren. Es geht mit anderen Worten darum, in kritischer Reflexion die gesellschaftlichen Zusammenhänge und strukturellen Beziehungen zwischen Menschen und Tieren in den Blick zu nehmen. Ein solcher Blickwinkel ist charakteristisch für den political turn in der aktuellen Tierethik für den Ladwigs Politische Philosophie der Tierrechte im deutschsprachigen Raum programmatisch steht (vgl. B. Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte). M. Wild: Tierrechte durch Interessen, S. 10. Vgl. ebd. S. 9; vgl. B. Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte, S. 34.

Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik

2.3

Argument III: Die Forderung von Tierrechten übersteigt das realistische Maß ethischen Handelns, sie ist nicht wirklichkeitsgemäß und führt zu moralischer Überforderung

THESE: Das Argument von Wirklichkeitsgemäßheit und Überforderung verweist auf die Herausforderung, mit Unvollkommenheit, ethischen Kompromissen und Dilemmata zu leben. Die Forderung von Tierrechten, verstanden als ethisches Ideal oder Utopie, sollte deswegen aber nicht zurückgewiesen werden.   Neben den beiden bisher diskutierten Argumenten begegnet im theologischen Diskurs mitunter ein weiterer Einwand, der ebenfalls angesprochen werden soll. Dieser Einwand zielt darauf, dass die Forderung von Tierrechten mit den damit verbundenen weitgehenden Konsequenzen für den Umgang mit Tieren, einschließlich eines umfangreichen Gewaltverzichts, das realistische menschliche Maß ethischen Handelns übersteige und damit nicht dem Anspruch einer wirklichkeitsgemäßen Ethik entspreche. Dieses Argument beinhaltet mehr als den bloßen Verweis auf die mögliche faktische Überforderung angesichts tierrechtlicher Forderungen. Es verweist vielmehr darüber hinaus auf eine grundlegende anthropologische Annahme, und zwar jene von der unumgänglichen Begrenztheit menschlichen ethischen Handelns. Diese Annahme beruht im protestantischen Kontext wesentlich auf der mit der Rechtfertigungslehre verknüpften Überzeugung, dass Menschsein immer bedeutet, in »Schuldhaftigkeit und Widersprüchlichkeit« verstrickt zu sein; ethische Ansätze, die dies nicht anerkennen und ›maßlose‹, rigorose Forderungen stellen, führten zu einer Überforderung des moralischen Subjekts und letztlich zur »Lähmung des konkreten Handelns«94 . Protestantischer Ethik geht es demgegenüber Ulrich Körtner zufolge darum, zum Handeln zu ermutigen, indem die »Handlungsziele auf ein menschliches Maß reduziert« und »von der verantwortungsethischen Maßlosigkeit befreit«95 werden. In diesem Sinn wird nun gerade auch im tierethischen Kontext auf die Notwendigkeit maßvoller Forderungen hingewiesen: Tiere sollen in gewissem Rahmen – und zwar stärker als in vielen aktuellen Praktiken der Tiernutzung – moralisch berücksichtigt werden, und Gewalt ihnen gegenüber soll reduziert werden. Grundsätzlich sei Gewalt aber nicht vermeidbar und die moralische Berücksichtigung von Tieren dürfe nicht als verpflichtende Norm verstanden werden, sondern nur als Appell und unterliege der Freiwilligkeit (vgl. Argument II.B). Clemens Wustmans etwa fordert daher eine wirklichkeitsgemäße Tierethik, »die den Rezipienten nicht mit unumstößlichen Handlungsmaximen konfrontiert«, sondern »dem Menschen einen Korridor für verantwortliches Handeln zwischen den Polen von Freiheit und Gebot«96 aufzeigt. Tierrechtspositionen, die für weitgehende Veränderungen im Umgang mit Tieren eintreten, werden daher als wirklichkeitsfremd, radikal und letztlich überfordernd zurückgewiesen. Die Problematik dessen scheint sich nicht zuletzt darin zu spiegeln, dass aus der Forderung von Tierrechten zusätzliche moralische Konflikte und Dilemmata bei der Abwägung von moralisch bedeutsamen Interessen 94 95 96

U. H. J. Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 119. Ebd. C. Wustmans: Tierethik als Ethik des Artenschutzes, S. 167.

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entstehen.97 Ein tierethischer Ansatz, der auf weitgehende moralische Forderungen in Bezug auf Tiere verzichtet, erscheint daher auch deswegen plausibler, weil er diesen zusätzlichen Konflikten aus dem Weg geht.98 Auch dieser dritte Einwand gegen die Forderung von Tierrechten kann kritisch hinterfragt werden. So ist zunächst festzuhalten, dass die Veränderungen, die Tierrechtspositionen fordern, nicht bedeuten, dass Menschen ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse radikal nachordnen und vernachlässigen müssten. Im Fall von Dilemmasituationen etwa befürworten es die meisten Vertreter*innen von Tierrechtspositionen, das Leben eines Menschen anstatt das eines Tieres zu retten; zudem wird von einigen auch eine Abstufung im Prozess der moralischen Abwägung nahelegt, die sich etwa »an Kriterien wie Tiefe, Reichweite, Komplexität und Reflektiertheit des Erlebens«99 orientieren kann, was nicht nur mit Blick auf die Frage der Überforderung sinnvoll erscheint. Worum es wesentlich geht, ist, die menschlichen Interessen und Bedürfnisse auf ihre Wichtigkeit hin zu prüfen und eine andere Gewichtung im Verhältnis mit den Interessen und Bedürfnissen anderer Lebewesen (in den meisten Ansätzen: empfindungsfähiger Tiere) vorzunehmen (vgl. Argument II.B). Konkret soll beispielsweise abgewogen werden, ob der in die westliche kulturelle Tradition eingegangene und mehrheitlich als normal betrachtete Verzehr von Fleisch moralisch bedeutsamer ist als das Lebensinteresse eines Tieres.100 Aus der Perspektive von Tierrechtspositionen sollte in Fällen wie diesen das tierliche Interesse höher gewichtet und das menschliche Interesse nachgeordnet werden – was durchaus ohne ernsthafte Einschränkungen des menschlichen Lebens möglich zu sein scheint. Dass diese Forderung im angesprochenen Einwand dennoch als Über-Forderung eingeschätzt wird, könnte man in zwei Hinsichten deuten, die ich abschließend kurz skizzieren und Antworten darauf andeuten möchte. Erstens kann dies darauf zielen, dass die geforderten umfangreicheren Abwägungen und die damit verbundenen zusätzlichen Konflikte bis hin zu Dilemmata in sich eine Überforderung darstellen; dass also die in Tierrechten zum Ausdruck gebrachte stärkere Gewichtung tierlicher Interessen und Bedürfnisse unabhängig von den konkreten Inhalten schon allein aufgrund der Herausforderung, sich in einem umfangreicheren Abwägungsprozess zu befinden, überfordernd und wirklichkeitsfremd ist. Hier wäre jedoch zunächst zu fragen, ob Konflikte und mehr noch Dilemmata nicht konstitutiv zu Ethik gehören und in diesem Sinn kein Problem und zu reduzierendes Randphänomen darstellen. So scheint es abwegig, grundlegende menschliche Interessen aus der moralischen Berücksichtigung auszuschließen, wenn und sofern sie neue Konflikte und potenzielle Dilemmata hervorrufen. Wenn dies aber so ist, sollte der Verweis auf das bloße Entstehen von Konflikten auch kein Argument gegen die Erweiterung

97

Vgl. die häufige Kritik am Ansatz Albert Schweitzers: z.B. U. H. J. Körtner: Bioethik nichtmenschlicher Lebensformen, S. 600; K. Huizing: Scham und Ehre, S. 365f. Wenngleich die meisten Tierrechtsansätze nicht so weit gehen wie Schweitzers biozentrischer Ansatz, der das ›Leben‹ ins Zentrum stellt, entstehen dennoch in der Tat auch bei ihnen offensichtlich mehr moralische Konflikte. 98 C. Wustmans: Tierethik als Ethik des Artenschutzes, S. 94. 99 B. Ladwig: Menschenrechte und Tierrechte, S. 148. 100 Programmatisch z.B. F. Schmitz: Tiere essen; vgl. C. Mügge: ›Da liegt der Hase im Pfeffer‹.

Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik

des Bereichs der moralischen Berücksichtigung mit Blick auf Tiere und ihre grundlegenden Interessen sein – sofern man diese als moralisch bedeutsam anerkennt, wofür, der Diskussion in Argument II.B folgend, viel spricht. Allerdings weist die Problematisierung zusätzlicher moralischer Konflikte und Dilemmata zu Recht darauf hin, dass Menschen häufig in der Reaktion darauf überfordert sind, nicht zuletzt, weil sich viele Konflikte nicht ›perfekt‹ lösen lassen und man nur zu Kompromissen bzw. nicht-perfekten Lösungen kommen kann. Gerade hier könnte aber nun ein spezifischer Beitrag theologischer Tierethik liegen, der darin besteht, auf die im christlichen Welt- und Menschenbild verankerte Unvermeidbarkeit von Konflikten und Dilemmata (sowie daraus resultierend von Kompromissen und nicht-perfekten Lösungen) hinzuweisen und das moralische Handeln in Bezug auf Tiere in diesen Zusammenhang zu stellen: Eben weil Gewalt unvermeidbar ist, werden ethische Lösungen oft nicht perfekt sein; und eben weil Menschen in Schuldhaftigkeit verstrickt sind, können und müssen sie nicht von sich und anderen erwarten ethisch perfekt zu handeln. Die theologische Perspektive kann mit diesem Verständnis vor der Gefahr eines Moralismus in der Tierethik schützen101 – ohne dass deswegen aber Konflikte vermieden werden müssten, indem man die moralisch bedeutsamen Interessen von Tieren ausklammert. Neben der Herausforderung zusätzlicher Konflikte könnte zweitens auch der Inhalt der von Tierrechtspositionen geforderten Veränderungen als vorrangige Problematik betrachtet werden. Der Einwand würde dann darauf zielen, dass die damit verbundenen Umstellungen im Denken und Handeln zu weitreichend und eben in diesem Sinn maßlos und überfordernd sind. Dies mag aus einer tierrechtlichen Perspektive auf den ersten Blick unplausibel erscheinen, da die geforderten Veränderungen oftmals keine moralisch schwerwiegenden Interessen betreffen und die daraus resultierenden Einschränkungen zumutbar erscheinen (wie im Beispiel des Fleischkonsums). Dennoch sollte man anerkennen, dass viele Menschen sich dadurch in ihrem gewohnten Verhalten nicht nur ge-, sondern teilweise überfordert sehen, was durchaus eine ernsthafte Herausforderung für die Ethik darstellt und wofür angemessene Antworten gesucht werden müssen.102 Eine Möglichkeit, um zur Entlastung von dieser Überforderung beizutragen, scheint mir darin zu bestehen, Tierrechte noch ausdrücklicher als dies bislang geschieht als ein tierethisches Ideal bzw. eine tierethische realistische Utopie zu markieren.103 Von einem tierethischen Entwurf als realistische Utopie zu sprechen, würde

101

Vgl. J. E. Wannenmacher: Ambivalenzen einer Beziehung, S. 289, mit Verweis auf Andrew Linzey. Wannenmacher führt aus, dass Linzey zufolge die Theologie »zur Frage nach dem Tier sehr viel beizutragen habe oder sogar unabdingbar sei, indem nämlich die Tierrechtsbewegung ohne die Theologie Gefahr laufe, in einer philosophischen Zwangsjacke zu enden, die Moralismus und Selbstgerechtigkeit heißt. Moralische Vorschriften ohne das grundlegende Bewusstsein der unbedingten eigenen Fehlbarkeit führen unabwendbar in die Sackgasse eines moralischen Triumphalismus« (ebd.). 102 Mir scheint, dass auch die Frage der Willensschwäche, die aus tierrechtlicher Sicht etwa in Bezug auf den Fleischverzicht diskutiert wird (vgl. M. Wild: Warum es besser ist, kein Fleisch zu essen), wesentlich mit der Überforderungsproblematik erklärt werden kann und dass daher auch entsprechende Antworten dies in den Blick nehmen sollten. 103 So etwa A. Cochrane: Sentientist Politics, S. 119.

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es einerseits ermöglichen, tierethische Gerechtigkeitsüberlegungen radikal zu Ende zu denken so wie dies Tierrechtsansätze tun; andererseits wäre damit zugleich gesagt, dass es sich um ein Ideal handelt, das von den konkret eingeforderten Handlungsmaximen zu unterscheiden ist. Nicht zuletzt aus moralpädagogischen Gründen scheint es in der Tat nicht sinnvoll, eine unmittelbare und perfekte Umsetzung des tierethischen Ideals zu erwarten und zu fordern. Umgekehrt wäre es zugleich nicht überzeugend, die Forderung von Tierrechten deswegen abzuwehren, da Tierrechte als richtiger ethischer Horizont erscheinen, wie auch die Diskussion der Argumente I und II nahelegt. Die Forderungen von Tierrechtspositionen sollten daher – verstanden als realistische Utopie – auch in der theologischen Tierethik stärker aufgenommen und theologisch weitergedacht werden.

3.

Schlussbetrachtung: Gewalt, Tierrechte und theologische Tierethik

Die zunehmende Auseinandersetzung mit Tierethik in der Theologie stellt grundsätzlich eine positive und wichtige Entwicklung dar. Sie zeigt, dass viel stärker als bis vor wenigen Jahren überhaupt die Frage der moralischen Berücksichtigung von Tieren gestellt wird und eine breitere Reflexion auf Gewaltverhältnisse zwischen Menschen und Tieren erfolgt, nicht zuletzt verbunden mit der Diskussion um die Legitimität von Gewalt gegenüber Tieren. Allerdings wird in der Theologie mehrheitlich eine gegenüber weitgehenden Veränderungen restriktive Position vertreten – was sich in besonderer Weise an der Ablehnung der Tierrechtsforderung offenbart und in der konkreten Legitimierung von gewaltvollen Praktiken im Umgang mit Tieren manifestiert (z.B. der Tötung zum Fleischverzehr). Das Anliegen dieses Aufsatzes war es, einige zentrale Argumente zu diskutieren, die zur Zurückweisung der Forderung von Tierrechten und der damit verbundenen Veränderungen im Umgang mit Tieren angeführt werden. Der Schwerpunkt lag damit auf einer kritischen Analyse des Diskurses – nicht auf der Verteidigung einer bestimmten Begründung von Tierrechten. Dennoch hat sich in der Diskussion abgezeichnet, dass viele Argumente für Tierrechte und für eine weitgehende Veränderung im Umgang mit Tieren sehr überzeugend sind. Darüber hinaus habe ich an einzelnen Stellen, insbesondere im letzten Abschnitt, angedeutet, in welche Richtungen aus meiner Sicht weitergedacht werden kann im Ringen um eine angemessene theologische Tierethik. Was die Frage von Gewalt gegenüber Tieren betrifft, lässt sich folgender Kerngedanken festhalten: Tatsächlich ist Gewalt gegenüber anderen Lebewesen unvermeidbar, die entscheidende Frage ist aber, ob Gewalt gegenüber (empfindungsfähigen) Tieren als grundsätzlich falsch und nur in Ausnahmen als unumgänglich, dann aber auch dilemmatisch betrachtet wird; oder ob sie als grundsätzlich legitim gilt, verbunden mit dem Appell, sie vernünftig anzuwenden. Die Diskussion in diesem Aufsatz legt nahe, dass weitaus mehr Gründe dafür sprechen, Gewalt gegenüber Tieren als grundsätzlich falsch zu betrachten. Es ist daher m.E. eine wichtige Aufgabe theologischer Ethik, Ansätze zu entwickeln, die bei einer solchen grundlegenden Gewaltkritik ansetzen. Tierrechte dürften dabei ein sinnvolles Argumentationsmittel darstellen, um unnötige Gewalt gegenüber Tieren einzuschränken.

Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik

Die Frage, welche moralphilosophische Herangehensweise in der Tierethik aus theologischer Sicht am plausibelsten ist, habe ich hier weitgehend ausgeklammert. Abschließend sei dazu nur angemerkt, dass es am sinnvollsten erscheint, die verschiedenen angesprochenen Perspektiven zu verknüpfen: So ist es einerseits notwendig, über einen interessensbasierten Kriterienkatalog zu verfügen, der zumindest als vorläufig universal gilt und der eine Orientierung für ethisches und politisches Handeln gibt – das Kriterium der Empfindungsfähigkeit ist hier sicher ein wesentlicher Aspekt; andererseits sollte man sich nicht allein auf die rationale Begründung und Überzeugungskraft eines solchen Katalogs zurückziehen, sondern berücksichtigen, dass sowohl heuristisch zur Bestimmung plausibler Kriterien als auch motivational zu deren Verwirklichung die Wahrnehmungs- und Beziehungsdimension (die an konkrete Erfahrungen, aber auch an kulturell geprägte Deutungsmuster gebunden ist) wesentlichen Einfluss ausübt und daher zentral eingebunden werden muss.

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»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.« Das Dispositiv der Sklaverei im Christentum Thomas Ruster

Erfreulich oft schreiben uns, den Verfasser*innen des Buchs Alles, was atmet. Eine Theologie der Tiere (2018) Menschen, die sich aus dem christlichen Glauben heraus für das Wohl von Tieren einsetzen, sich dabei aber von Kirche und Theologie allein gelassen fühlen. So erhielt ich kürzlich eine Mail der Franziskanerin M. Ellensint Scherzinger, in der es hieß: »Meinen herzlichsten Glückwunsch zu Ihrem Werk, das den armen Tieren Gerechtigkeit und Barmherzigkeit verschaffen will. Gott sei Dank gibt es auch Menschen, im besonderen Christen, die die ›unbeweinte Kreatur‹ beweinen.« Mit der »unbeweinten Kreatur« spielte sie auf das gleichnamige Werk von Joseph Bernhart an, das wir in unserem Buch erwähnen und in dem es darum geht, dass die Tiere ganz selten in den Fokus der christlichen Theologie geraten sind und ihr Leiden in der Regel unbeweint geblieben ist. Schwester Ellensint lebt in Mossoró in Brasilien und betreibt dort zusammen mit ihren beiden Mitschwestern das Lar da Criança Pobre de Mossoró (Heim des armen Kindes von Mossoró). Gekoppelt damit ist das Hilfswerk für arme, leidende und verlassene Tiere APAM (Associação dos Protetores dos Animais). Mich sprach es an, dass die Arbeit und Fürsorge der Schwestern sich gleichermaßen auf hilfsbedürftige Menschen und Tiere bezieht, und ich nutzte die Gelegenheit, die Franziskanerin über das Thema zu befragen, das mich in der Zeit beschäftigte, nämlich das Thema dieses Aufsatzes. Ich fragte sie: Gibt es in Brasilien, wo das Thema Sklaverei ja näherliegt als hierzulande, irgendwelche Hinweise darauf, dass die Parallele von Sklav*innen und Tieren überhaupt wahrgenommen wurde und wird? Und weiter, hatte das kirchliche Engagement gegen Sklaverei, wo es denn solches gegeben hat, irgendwie auch die Tiere im Blick gehabt, hat man also Sklavenbefreiung und Tierbefreiung in einen Zusammenhang gestellt. Ihre Antwort: »Eine Parallele zwischen menschlicher u. tierischer Versklavung wurde meines Wissens nach von keinem Vertreter der Kirche öffentlich bemerkt, obwohl solche für Sie u. mich ganz offensichtlich ist. Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter – und kein Vertreter der Kirche erhebt die Stimme dagegen, auch

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Thomas Ruster

nicht gegen die Tierquälerei bei den »Vaquejadas«, wo die Kühe mit Pferden gejagt werden, bis sie zu Fall kommen, sich dabei oft die Beine brechen u. dann gleich gemetzgert werden; es ist ein Zeitvertreib für viele und bringt den Organisierern viel Geld ein. Auch die Esel hier werden bis zum letzten ausgenützt als Lasttiere, leiden Hunger u. Durst u. viele Peitschenhiebe, und wenn sie auf der Straße angefahren werden, bleiben sie oft liegen bis zum Tod in der prallen Sonne. Wir in unserm Tierasyl haben schon viele aufgenommen – Tiere jeder Art in ihrem Leid, doch was wir tun können, ist doch recht wenig, doch besser als nichts. Wir sind von den meisten geduldet, von einigen kritisiert, von nicht wenigen auch unterstützt, ganz unabhängig von ihrem Credo.«1 In meinem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, wie es um diese eigenartige christliche Blindheit nicht nur in Bezug auf die unbeweinte Kreatur im Allgemeinen, sondern insbesondere in Bezug auf die doch offensichtliche Ähnlichkeit zwischen der Behandlung der Sklav*innen und der Arbeitstiere steht und wie es dazu gekommen ist. Wo man in christlichen Kontexten doch auf die Parallelen zwischen menschlicher und tierlicher Sklaverei aufmerksam geworden ist – einige Stellen gibt es –, da hat man sie nie als Impuls zur Besserstellung oder gar Befreiung der Tiere aufgefasst, anders als in außerchristlichen Kontexten, wo die Wahrnehmung dieser Parallelität oft zu Befreiungsimpulsen für versklavte Menschen und Tieren geführt hat. Dies dient als Ausgangspunkt (1.), um im nächsten Schritt das Sklaverei-Dispositiv (einen Begriff von Michel Foucault übernehmend) in seiner ganzen Breite und Tiefe auszuloten (2.). Erst wenn man begriffen hat, welche strukturbildende und die Wahrnehmung lenkende Rolle das Thema Sklaverei in der christlichen Geschichte gehabt hat, kann man verstehen, warum das Sklaventum der Tiere dort nicht wahrgenommen worden ist und bis heute nicht wird. Abschließend geht es um Frage, welches neue Dispositiv sich herausbilden könnte, nachdem das Sklaverei-Dispositiv heute als erloschen gelten kann (3.). Das Festhalten an der Sklaverei diskreditierte die christliche Erlösungsbotschaft gründlich. Ist vielleicht ein Dispositiv im Entstehen, bei dem das nicht so ist? Die Bearbeitung meines Themas wäre nicht möglich gewesen ohne die gründliche Forschung, die Nicole Priesching (Universität Paderborn) und Heike Grieser (Universität Mainz) im Rahmen des DFG-Projekts »Theologie und Sklaverei von der Antike bis zur frühen Neuzeit« (2011-2015) zusammen mit den Projekt-Mitarbeiter*innen geleistet haben. Von den Buchveröffentlichungen, die im Rahmen dieses Projekts erschienen sind, habe ich sehr profitiert. Vielleicht wird es Leserinnen und Leser überraschen, wie sehr das Sklaverei-Dispositiv die Theologie bestimmt hat. Mich hat es auch überrascht, und ohne die Forschungsarbeit der beiden Professorinnen für Kirchengeschichte wäre ich nie darauf gekommen. Allen an diesem Projekt Beteiligten danke ich herzlich für ihre vorzügliche Arbeit.

1

Mail von Sr. M. Ellensint Scherzinger OSF vom 28.8.2020. Die Wiedergabe erfolgt mit ihrer Zustimmung.

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

1.

Sklav*innen und Tiere: Objekte der Unterdrückung

1.1

»The dreaded Comparison« (Marjorie Spiegel)

Marjorie Spiegels Buch über der »gefürchteten Vergleich« zeigt auf der Titelseite einen Hund mit einem Maulkorb und daneben einen Sklaven, dem mit einer maulkorbähnlichen Vorrichtung der Mund zugebunden ist. Auf solche Vergleiche kommt es der amerikanischen Tierrechtlerin an. Einige Seiten weiter sieht man Bilder einer Sklavenauktion von 1861 und eines Viehmarktes von 1868, dann wieder Bilder von der Brandmarkung von Rindern und von Sklaven usw. Dass sich die Bilder so gleichen, hat einen Grund: Sklaverei und Arbeitszwang für Tiere sind Ausdruck desselben Unterdrückungsund Gewaltverhältnisses. Darin geht es um Herrschaft und Kontrolle über andere Lebewesen, um die mit Gewalt durchgesetzte Nutzung eines Körpers für die Zwecke der ›Herren‹. »They share the same basic essence, they are built around the same basic relationship – that between oppressor and oppressed.«2 Nach der Lektüre von Spiegels Buch kann man diese Behauptung nicht mehr abstrakt nennen. Schon in der Sprache wird es offenbar. Sklav*innen werden generell mit Tieren verglichen, noch mit der Spezifizierung, dass der gehorsame Sklave dem braven Haustier gleicht und der aufsässige den wilden Bestien. Pferde werden ›gebrochen‹, so drückte man sich aus, wenn sie zugeritten werden (»to break a horse«), und auch Sklaven müssen ›gebrochen‹ werden, wenn sie sich widersetzen (»nigger breaking«). Spiegel vermutet die Haltung der ersten Siedler in Amerika gegenüber der Natur als gemeinsamen Ursprung dieser Haltung. Die Siedler erlebten die Natur und ihre indigenen Bewohner als feindlich und glaubten sie überwältigen zu müssen, um Raum zum Leben zu haben.3 Der Kampf gegen die Natur hat sich dann in der Behandlung der Sklav*innen und Tiere fortgesetzt. Tatsächlich wurden Sklaven gehalten wie Hunde oder Milchkühe. Ihr eigener Wille und ihre Wünsche zählten nichts, sie wurden an Leistungsstandards gemessen und bewertet und konnten kein Lob erwarten für die Erfüllung ihres Solls (im Gegenteil, hatten sie eine hohe Leistung erreicht, so wurde diese im Weiteren zur Grundlage der Bewertung).4 Sie wurden sozial isoliert. Tieren wie Sklaven wurde der Aufbau familiärer Strukturen unmöglich gemacht, die Jungen bzw. Kinder wurden und werden gleich nach der Geburt weggenommen, trotz des Schmerzes der Mütter und der Kinder bei Tieren und Sklaven. Beiden wurden keine Gefühle, keine Liebe zugestanden.5

2 3 4

5

M. Spiegel: The Dreaded Comparison, S. 24. Ebd., S. 30-34; S. 14-17. Vgl. ebd., S. 35-40. Dass Sklaven keinen Dank für ihre Arbeit zu erwarten hatten, wird auch biblisch, und zwar sogar in einem Jesuswort, als selbstverständlich vorausgesetzt, vgl. Lk 17,7-10: »Wenn einer von euch einen Sklaven hat, der pflügt oder das Vieh hütet … bedankt er sich etwa bei dem Sklaven, weil er getan hat, was ihm befohlen wurde?« Nach M. Zeuske: Sklaverei, S. 152f. orientierten sich die Preise für Sklaven seit der Antike stets an den Preisen für Vieh. In den USA des 19. Jh. kostete ein Sklave je nach Verfassung den Preis eines heutigen Klein- oder Mittelklassewagens. Sie mussten etwa 20 Jahre arbeiten, um ihren Preis zu amortisieren. Vgl. M. Zeuske: Sklaverei, S. 41-46. D. Graeber: Schulden, S 153, hält soziale Isolation für ein allgemeines Prinzip der Sklaverei: »Damit in einer humanen Gesellschaft etwas käuflich ist, muss man es erst aus seinem Zusammenhang herauslösen. Für Sklaven trifft das zu: Es sind Menschen, die

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Als Spiegel auf den Vergleich von Sklaventransporten und Tiertransporten zu sprechen kommt, wechseln die Bilder in ihrem Buch. Man findet Bilder von Sklavenschiffen auf der berüchtigten middle-passage von Afrika nach Amerika neben Fotos von Tiertransporten aus dem 20. Jahrhundert. Das liegt sicher nicht nur an fehlendem Bildmaterial zu Tiertransporten in früheren Jahrhunderten. »Die atlantische Überfahrt ist zu einem Symbol des Schreckens der afroamerikanischen Sklaverei geworden«6 , so wie heute die internationalen Tiertransporte das Symbol des Schreckens der industriellen Tierhaltung sind. Spiegels Vergleich will nicht historisch bleiben, er zielt auf die Gegenwart. Bei den Tieren setzt sich das Gewaltverhältnis, das Sklaverei ausmacht, bis in die Gegenwart fort. Die Sklaverei ist offiziell verboten, aber Tiere werden weiter wie Sklaven gehalten. »Society has reached the conclusion that it was and is wrong to treat blacks ›like animals‹ But with the regard to the animals themselves, most still feel that is is acceptable to treat them […] ›like animals‹.«7 Wie ist diese Akzeptanz einer unterdrückerischen Gewalt, wie sie heute noch an den Tieren geübt wird, zu erklären? Spiegel verweist auf die gleichen Strategien der Akzeptanzsicherung bei Sklaven- und Tierhaltung. Damals wie heute wird das Ausmaß der Leiden versteckt und verborgen, wird das Profit-Motiv bzw. die wirtschaftliche Notwendigkeit gegen die Kritik ausgespielt.8 Die Argumente gleichen sich wie die Bilder über die Jahrhunderte. Für mich ist das Grund genug, die theologischen Argumente zur Sklaverei neu unter die Lupe zu nehmen.

1.2

»Futter, Stock und Last für den Esel, Brot, Schläge und Arbeit für den Sklaven« (Sir 33,25)

Auch biblischen und christlichen Schriftstellern ist die Vergleichbarkeit der Lage von Sklaven und Tieren nicht verborgen geblieben; schließlich ist sie zu offensichtlich, um nicht mindestens als rhetorisches Mittel zu dienen. Zuweilen wird aus dem Vergleich geschlossen, dass es nicht recht sei, Menschen wie Tiere zu behandeln. Aber nie habe ich eine Äußerung in der Richtung gefunden, dass das Los von Sklaven und Tieren gleichermaßen beklagenswert und gegenüber beiden die christliche Nächstenliebe oder die göttliche Gnade in Anschlag zu bringen sei. So gibt der biblische Weisheitslehrer Jesus Sirach (sein Buch wird auch Ecclesiasticus, der »Sammler« genannt), ein Mann des späten 3. oder frühen 2. Jh. v. Chr. und wohl ein Mitglied der gebildeten Jerusalemer Oberschicht, seinen Standesgenossen einige Ratschläge in Bezug auf den Umgang mit Sklaven. Einen treuen und einsatzbereiten Sklaven soll man nicht schlecht behandeln. Einem verständigen Sklaven sei sogar die Freilassung nicht zu verweigern (Sir 7,20f.).

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7 8

aus der Gemeinschaft geraubt wurden, die sie geformt hat. In ihren neuen Gemeinschaften sind sie Fremde […] Deshalb können sie gekauft, verkauft und sogar getötet werden: weil die einzige Beziehung, die sie haben, die Beziehung zu ihrem Besitzer ist.« Für Nutztiere trifft das ebenfalls zu. Zu »Transportation, the unbearable Journey« M. Spiegel: Comparison, S. 47-54. Nach N. Priesching: Sklaverei in der Neuzeit, S 64f. wurden vom 15. bis zum 19. Jh. ca. 11 Mill. Menschen als Sklavinnen und Sklaven in die Neue Welt transportiert, von denen ca. 2 Mill. während der Überfahrt starben. Zitat ebd., S. 65. M. Spiegel: Comparison, S. 17. Vgl. ebd., S. 71-80.

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

Im gleichen Atemzug kommt der Siracide (so seine Bezeichnung in der Tradition) auch auf andere vom Sklavenhalter abhängige Gruppen zu sprechen: das Vieh, die Kinder, insbesondere die Töchter, die Eltern. Zum Vieh heißt es: »Hast du Viehbestand? Achte auf ihn, und wenn er dir nützlich ist, soll er bei dir verbleiben« (Sir 7,22). Der Nützlichkeitsgesichtspunkt kommt hier zum Zuge, ebenso wie bei den anderen genannten Gruppen und schließlich auch bei der Frage, wie jemand mit seinem Sklaven umgehen soll, wenn er nur einen einzigen hat. Man soll diesen einzigen Sklaven wie einen Bruder behandeln, denn »wenn du ihn misshandelt hast und er auf und davon gelaufen ist, auf welchem Weg willst du ihn suchen?« (Sir 33,31-33). Misshandlungen und körperliche Züchtigungen lagen immerhin in der Reichweite des Möglichen, wie Jesus Sirach in einer metaphorischen Verwendung der Sklaverei zu erkennen gibt: »Denn wie ein Sklave, der dauernd verhört wird und von Striemen nicht verschont bleibt, so wird auch der, der immer schwört und den Namen ausspricht, von Sünde nicht gereinigt werden« (Sir 23,10).9 Züchtigungen der Sklaven sind dem biblischen Weisen im Prinzip kein Problem, heißt es doch: »Bring ihn [den Sklaven] dazu zu arbeiten, wie es für ihn angemessen ist. Wenn er nicht gehorcht, leg ihm schwere Fußfesseln an« (Sir 33,29). In diesem Zusammenhang steht nun auch der in der Überschrift zitierte Vers. Ein Esel und ein Sklave sind in gleicher Weise zu behandeln: Futter bzw. Brot für den Lebensunterhalt, Stock bzw. Zucht, um sie zur Arbeit anzuhalten, nämlich die Lasten bzw. den Sklavendienst zu übernehmen. Den Aspekt der Zucht vertieft der Siracide dabei ausdrücklich. »Joch und Zügel werden den Nacken [des Arbeitstieres] beugen, dem bösen Sklaven gebühren Folter und Pein« (Sir 33,27). Wir bekommen hier einen aufschlussreichen Einblick in die Mentalität und Verhalten der antiken Sklavenhalter. Diesen wird schließlich aber noch geraten, »nicht maßlos gegen irgendein Lebewesen« zu sein. »Handle nie ohne überlegtes Urteil« (Sir 33,30). Im 17. Jh. kommentiert der jesuitische Gelehrte Cornelius a Lapide (1567-1637), Professor am Collegio Romano, der Universität der Jesuiten in Rom, das Buch Jesus Sirach. Gründliche Kenntnis der biblischen Sprachen sowie der verschiedenen Textzeugen des biblischen Weisheitsbuches befähigten ihn zu dieser Aufgabe.10 Ihm ist es darum zu tun, die Aussagen zur antiken Sklaverei auf seine Lebenswelt zu beziehen. Die Verse des Siraciden, die zu einer milden Behandlung der Sklaven raten, hebt er heraus und wendet sie auf den Umgang mit Bediensteten in christlichen Haushalten an. »Schließlich ist Cornelius kein früher Abolitionist gewesen«11 , aber doch durchaus ein Humanisierer zu nennen. Wie geht er nun mit dem Esel-Sklave-Vergleich um? Er stellt für ihn kein Problem dar, er problematisiert ihn nicht, er übernimmt ihn vollinhaltlich in seine Zeit. »Demnach waren Sklaven genauso zu behandeln wie Esel. Sie sollten beide zwar Nahrung erhalten, konnten aber mit Schlägen zur Arbeit angetrieben werden (V. 25). […]

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10 11

Übersetzung nach der neuen EÜ. Die alte EÜ übersetzte: »… ein Sklave, der dauernd straffällig wird«; gemeint ist im Zusammenhang: Wer viel schwört, wird seine Strafe erhalten, so wie der Sklave im Verhör. Vgl. zum Folgenden G.-D. Krebes: Servi ergo sunt quasi asini, S. 207-230. Ebd., S. 226.

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Für Cornelius erschien es durchaus plausibel, dass nur der beständige Zwang zur Arbeit die Sklaven von Müßiggang und Fluchtgedanken abhalten konnten (V. 26).«12 Ja, Cornelius glaubt sogar noch der Aussage des Siraciden durch eigene Beobachtungen weitere Plausibilität verleihen zu können. Ähnelt nicht die Physiognomie eines Sklaven oft der eines Esels? »Zurecht wird der Sklave mit einem Esel verglichen, denn das Aussehen des Esels ist oft dumm, stumpf, langsam und derb … .«13 Das in Sir 33,27 genannte Joch bezieht der Siracide übrigens nicht auf den Esel, sondern auf den Sklaven; in Bezug auf diesen meine es ein »symbolisches Werkzeug für den Sklaven, der wie ein Zugtier seine Arbeit verrichten sollte«14 . Was hätte eine Marjorie Spiegel mit diesem biblischen Text gemacht? Gehen wir weiter durch die christliche Geschichte, sehr sporadisch selbstverständlich15 , dann findet man häufiger den Sklave-Tier-Vergleich, und zwar immer in dem Sinne, dass Sklaven wie Tiere behandelt werden. Martin Luther hat in seinen Streitschriften gegen die aufständischen Bauern im Zuge des Bauernkrieges (1524-26) deren Forderung, die Leibeigenschaft im Namen der von Luther propagierten Freiheit aufzuheben, energisch zurückgewiesen mit dem Argument, die Leibeigenschaft sei der antiken Sklaverei vergleichbar und diese sei von Gott selbst eingesetzt. Die Leibeigenschaft unterscheide sich von der Sklaverei nur darin, dass der Leibeigene nicht verkauft werden könne, wie es heute nur noch beim Vieh üblich sei.16 Es ist nicht zu erkennen, ob Luther aus der Unterscheidung zwischen den Leibeigenen und dem verkäuflichen Vieh irgendeine Besserstellung der Leibeigenen entnahm, jedenfalls wies er deren Forderung nach Befreiung nicht aus diesem Grund, sondern aus theologischen Gründen zurück: Die christliche Freiheit auf weltliche Befreiung auszulegen hieße sie »fleischlich« zu verstehen, und das sei ein schlimmer Missbrauch der »libertas christiana«. Zu Luthers Zeit stand zum Thema Sklaverei in Europa vor allem das Schicksal der christlichen Sklaven bei den Türken vor Augen. Dieses malten christliche Akteure in düsteren Farben aus, um, wie etwa der flämische Diplomat Ogier Gislain de Busbeqs (1522-1592), die Christen zu einem Kreuzzug gegen die Türken zu bewegen. Die Lage der türkischen Sklaven sei vergleichbar mit dem des Viehs:

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14 15

16

Ebd., S. 221f. Im Original und vollständig: »Recte servus sive manicipium comparatur asino, quia saepe stolidus, hebes, tardus et durus est instar asini, cuius caput sua figura prodit stoliditatem, tarditatem et duritiem.« G.-D. Krebes: Servi ergo sunt quasi asini, S. 222. Ebd. Ich halte mich überwiegend an das Material, dass mir durch das genannte Forschungsprojekt von N. Prisching und H. Grieser zugänglich ist. Die Beschränkung auf die frühe Neuzeit ist von der Sache her gerechtfertigt, weil die Theologen mit der neuen Situation des atlantischen Sklavenhandels und der Sklaverei in der Neuen Welt konfrontiert waren. Vgl. V. Leppin: Affirmation und Kritik der Sklaverei im Luthertum, S. 145-164, hier S. 146-149. Dezember 1525, also am Ende des Jahres, in dem der Bauernkrieg stattfand, erklärte Luther in einer Predigt zu den Sklavengesetzen von Ex 21 den Unterscheid von Sklaven und Leibeigenen am Beispiel des Viehs: »Tunc servi erant ementium dominorum (leibeygen) ut nunc bos et equus apud nos, neque solum apud Iudaeos, sed etiam apud Graecos et Romanos«, vgl. ebd., S. 146 mit Stellenangabe.

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

»Die jungen Gesellen vnd Männliches alters Personen/wurden Herd vunnd Hauffen weise getrieben/wie das Vieh/vnd mit Ketten waren sie alle zusammen gefesselt/gleich wie man bey vns die feihlen Perdt zusammen kuppelt/diese werden also in langen Reihen vnd Ordnung daher geschleppt/Da ich solches gesehen/hab ich mich deß Weinens nicht enthalten können/vnd ein Hertzliches grosses Mitleiden mit vnserm Christlichen Volck getragen …«17 Diese Argumentation konnte überzeugen, wenn man das osmanische Vorgehen, Kriegsgefangene zu Sklaven zu machen, mit den Kriegen zwischen christlichen Mächten ins Verhältnis setzte, in denen üblicherweise keine Sklaven gemacht wurden. Doch im 16. Jh., als christliche Mächte schon längst im afrikanischen und bald auch zunehmend im Sklavenhandel mit der Neuen Welt engagiert waren, verlor sie ihre Glaubwürdigkeit. Jean Bodin (1530-1596), französischer Staatstheoretiker und Jurist von Rang, wies in einer Schrift vom Ende des 16. Jh. darauf hin, dass die Türken das, was man ihnen vorwarf, von den Portugiesen und Spaniern gelernt hatten: »Also das man jetz und offentlich/durch gantz Portugal/die Knecht hauffenweis nit anders als das Vieh verkauft.«18 Wie es die Portugiesen mit den Sklaven hielten, darauf wirft eine von dem jesuitischen Missionar Alonso de Sandoval (1576-1652) erzählte Begebenheit ein Licht. Sandoval hatte lange in Cartagena (Kolumbien), einem Hauptumschlagplatz des südamerikanischen Sklavenhandels gelebt. Mit seinen Schriften wollte Sandoval die katastrophalen Missstände in dieser Stadt anprangern. Und wieder wird dabei der Vergleich SklaveTier genutzt, diesmal aber in einer anderen Bedeutung. Der Jesuit erzählt, dass eine schwarze Sklavin an einer Grippe mit Schüttelfrost litt und es dem Sklavenhalter »eine preiswerte Medizin zu sein schien, ihr mit Peitschenhieben Hitze einzuflößen«. Die arme Frau starb, ob an den Peitschenhieben oder am Schüttelfrost, das ließ sich nicht feststellen, so Sandoval. »Diese Unmenschlichkeit nimmt in manchen Haushalten ein solches Ausmaß an, dass es so gesehen gnädiger sein dürfte, in jenen Häusern als Tier zu leben.«19 Dabei hatte Sandoval hier nur von dem Schicksal der Haussklav*innen gesprochen; den Arbeitern in den Minen oder den Perlentauchern ging es vermutlich noch schlechter. In diesen wenigen Beispielen fungiert das Geschick der Tiere stets als Gradmesser für die Behandlung der Sklavinnen und Sklaven. Leibeigene sind in der Hinsicht nicht wie die Sklaven, dass sie nicht wie das Vieh verkauft werden können (Luther). Den Türken wird vorgeworfen, die christlichen Sklaven wie Vieh zusammen zu treiben (Busbeqs). Die Portugiesen halten es mit ihren Sklaven nicht besser (Bodin). Die Situation an den Sklavenmärkten ist so katastrophal, dass es selbst die Tiere besser haben (Sandoval). Der Grundgedanke ist: Menschen sind keine Tiere und dürfen auch nicht so behandelt werden. Dabei wird vorausgesetzt, dass Nutztiere ein sklavenartiges Dasein 17

18 19

Vgl. zur antitürkischen Propaganda in den sog. Türkendrucken des 16. Jh. M. Ressel: Eine Rezeptionsskizze der atlantischen Sklaverei im frühneuzeitlichen protestantischen Deutschland, S. 165206, hier S. 168-172; Zitat S. 171 mit Stellenangabe. Ebd., S. 172 mit Stellenangabe. Zitiert wird aus der deutschen Übersetzung der Schrift Bodins von 1592. N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 277.

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haben, dass sie, so muss man wohl präzisieren, wie Sklaven ihrer Besitzer sind. Einen späten Nachklang finde ich noch in dem apostolischen Brief In supremo apostolatus von Papst Gregor XVI. von 1839, in dem sich dieser gegen Sklavenjagd und Sklavenhandel (nicht gegen die Sklaverei als Institution) wendet und beklagt, dass die »Neger« behandelt werden, »als wären sie keine Menschen, sondern nur einfache Tiere, reduziert auf Sklavendienst gleich welcher Art«20 . Die Ansicht eines Juan Ginés de Sepúlveda, der auf der berühmten Disputation in Valladolid mit Bartolomé de las Casas (1550/51) die These, die Indios dürften versklavt werden, damit rechtfertigte, dass sie Barbaren und Tiere seien, hatte sich nicht durchgesetzt. Das ist schon etwas. Aber niemals kommt der Gedanke auf, dass für die Tiere ein sklavenartiges Dasein nicht zu rechtfertigen ist.

1.3

Antispeziesismus in der linken Tierrechtsbewegung

Dass dieser Gedanke nicht aufkam, dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Die naheliegendste ist, dass alle Akteure (von Jesus Sirach bis Papst Gregor) in Gesellschaften lebten, in denen Viehwirtschaft selbstverständlich und für das wirtschaftliche Überleben notwendig war. Darüber hinaus wird zu fragen sein, ob nicht die Vorstellung einer stratifikatorischen Ordnung der Welt, in der es Herren und Sklaven gibt, so dominant und theologisch derart fundiert war, dass noch nicht einmal Zweifel an der Institution der Sklaverei im Ganzen, geschweige denn am sklavischen Dasein der Nutztiere aufkamen. Darüber wird im nächsten Kapitel zu reden sein. Aber die Erklärung könnte zum guten Teil auch darin liegen, dass die beteiligten Sprecher von der Position der Sklavenhalter und nicht von der Position der Sklavinnen und Sklaven her sprechen. Aus deren Perspektive nimmt sich manches anders aus. Matthias Rude, der Autor des Buches über »Antispeziesimus. Die Befreiung von Mensch und Tier in der Tierrechtsbewegung und der Linken«, aus dem ich in diesem Abschnitt schöpfe, stellt als eine Art hermeneutische Vorbemerkung einen Text von Max Horkheimer von 1934 voran: »Der Wolkenkratzer«. Er beschreibt den Gesellschaftsbau der Gegenwart. Auf der obersten Etage befinden sich da die Reichen und Mächtigen, dann geht es hinunter über alle Etagen bis in die untersten, »in denen millionenweise die Kulis der Erde krepieren«. Und noch darunter, noch unterhalb des menschlichen Gesellschaftsbaus, »wäre dann das unbeschreibliche, unausdenkliche Leiden der Tiere, die Tierhölle in der menschlichen Gesellschaft darzustellen, der Schweiß, das Blut, die Verzweiflung der Tiere.« Und weiter: »Dieses Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine Kathedrale ist, gewährt in der Tat aus den Fenstern der oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel.«21 In diesem Abschnitt soll es nicht um die Aussicht vom oberen Stockwerk gehen, sondern um die unterste Etage und die »Tierhölle« darunter. Weil die unterste Etage der Tierhölle so nahe ist, wissen ihre Bewohner um die Verzweiflung, die dort herrscht.

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Vgl. C. Prudhomme: L’Église catholique et l’esclavage, S. 21-34, hier S. 14. Der Apostolische Brief In supremo apostolatus lat./dt. ist abgedruckt in: A.Utz/B. Gräfin von Galen (Hg.): Die Katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung, S. 406-411. M. Horkheimer: Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung, S. 287f., hier nach M. Rude: Antispeziesismus, S. 8f.

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

Daraus erwächst eine Erkenntnis und dann auch eine Solidarität, die offenbar einem biblischen Autor wie Jesus Sirach und auch seinem Ausleger Cornelius nicht zugänglich war. Der ehemalige Sklave und Schriftsteller Frederick Douglass (1818-1895) vergleicht seine Situation mit derjenigen von Ochsen: »Wie ein wildes junges Arbeitstier soll ich gebrochen werden unter dem Joch einer bitteren und lebenslangen Leibeigenschaft. Ich sah nun, in meiner Situation, einige Ähnlichkeit mit jener von Ochsen. Sie waren Besitz, und so war ich es; sie sollten gebrochen werden, und ich ebenso; mich zu brechen geschah, indem ich sie unterjochte; brechen und gebrochen werden – das ist das Leben.«22 Sklaven und zur Arbeit gezwungene Tiere – auch Karl Marx hat gesehen, dass deren Situation vergleichbarer ist als die von Lohnarbeiter*innen und Tieren. Denn anders als bei der Lohnarbeit »verkaufte der Sklave seine Arbeitskraft nicht an den Sklavenbesitzer, sowenig wie der Ochse seine Leistungen an den Bauern verkauft.« Noch nicht einmal dazu, seine Arbeitskraft als Ware zu verkaufen ist der Sklave frei, er ist vielmehr selbst eine Ware und darin mit dem Arbeitstier vergleichbar.23 Daraus, und aus dem Zwang, der aufgewandt wird, um aus dem Menschen und dem Tier eine Ware zu machen, stammt der Vergleich, den Douglass vornimmt. Damit sind wir auf der Spur der linken, materialistischen Tierrechtsbewegung, der Rude von den Anfängen des Frühkapitalismus bis in die Gegenwart nachgeht. Diese Bewegung hat ihre antiken Ahnen (Ovid, Pythagoras, die Orphiker) und auch ihre mittelalterlichen Vorläufer (Bogomilen, Katharer, Waldenser). Erkennungszeichen ist stets der Vegetarismus. Wie die Aufzählung schon zeigt, findet man den Vegetarismus bei Dissidenten, Rebellen, Außenseitern, im Sinne der Kirche: bei Häretikern.24 Im englischen Frühkapitalismus des 16. und 17. Jh. nimmt die Bewegung eine politische Richtung. Die Umwandlung von Ackerland in Schafweiden im Zuge der Tuchproduktion, der ersten Massenproduktion, geht einher mit der Privatisierung von Gemeineigentum und der Enteignung von Bauernland. Im gleichen Zuge werden Tiere vermehrt in Fabriken, Bergwerken, Plantagen und im Transportwesen eingesetzt. Ihre »Produkte« wie die Wolle, das Leder, die Milch, das Fleisch werden zu Objekten kapitalistischer Verwertung. Die Protestbewegungen, die sich gegen die frühkapitalistischen Umtriebe teils mit Gewalt wehren, artikulieren ihre Verbundenheit mit den Tieren, mit denen sie das gleiche Schicksal teilen. Gerrard Winstantley (1609-1676), ein Anführer der True Levellers (»Gleichmacher«), kann es nicht mit ansehen, wenn Kühe von den Verwaltern geschlagen werden. Fleisch zu essen ist bei vielen von ihnen verpönt, denn es ist die Speise der herrschenden Klasse.

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Zitiert nach M. Rude: Antispeziesismus, S. 38. Vgl. ebd., S. 37 mit Verweis auf einen Artikel von Marx in der Neuen Rheinischen Zeitung vom April 1849. Unter den christlichen Ahnen wäre noch der Bischof Eustathius von Sebaste (ca. 300-380) aufzuführen. In seinem radikalen Asketismus verzichtete er auf Fleischgenuss und verurteilte die Sklaverei. Die Positionen dieses Außenseiters wurden um 343 auf der Synode von Gangrae zurückgewiesen, vgl. J. A. Glancy: Slavery as Moral Problem In the Early Church and Today, S. 94-96; P. Brown: Die Keuschheit der Engel, S. 298-300.

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Vegetarismus und Solidarität mit den Tieren wird zum Ausdruck politischen Dissidententums.25 Ab dem 17. Jh. setzt die Auseinandersetzung um die Sklavenhaltung ein. Einer der führenden Abolitionisten in England war Benjamin Lay (1682-1759). »Lays Argumente gegen die Sklavenhaltung und für den Vegetarismus sind nicht zu trennen. Er will keine Erzeugnisse gebrauchen oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen, die das Ergebnis von Sklavenarbeit sind – ob diese nun von Menschen oder von Tieren verrichtet werden.«26 Von Lay war der Quäker John Woolman (1720-1772) beeinflusst, der das abolitionistische Wirken der Gesellschaft der Freunde energisch vorantrieb.27 Auch für Woolman war die Gerechtigkeit und Güte gegenüber Menschen nicht von der gegenüber Tieren zu trennen. Benjamin Franklin (1706-1790), der Lays Hauptwerk drucken ließ, verstand wie viele andere Gegner der Sklaverei Vegetarismus als Ausdruck der Opposition gegen Gewalt und Unterdrückung. Abolitionismus und die vegetarische Bewegung waren, so legt es Rude ausführlich dar, auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Sylvester Graham (1794-1851), ein berühmter Verfechter des Vegetarismus in den USA, wendet sich ebenso gegen die Sklaverei wie gegen die Ungleichheit der Frauen, unterdrückerische Arbeitsbedingungen und die Gefängnisse. Ein Bewusstsein für die Strukturgleichheit von gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnissen ist hier zu greifen, welches die Tiere nicht ausnehmen kann. Im Umkreis der französischen Revolution wird nimmt dieses Bewusstsein eine deutlichere Gestalt an. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) schreibt eine Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen und kritisiert darin vor allem die Einführung des Eigentums. Die Ordnung der Gesellschaft am Eigentum auszurichten verzerrt die nach Rousseaus Meinung ursprünglich gegebene Empathie zwischen den Menschen, die sie daran hinderte, einander etwas zuleide zu tun. Bei den Tieren aber sei diese Empfindungsfähigkeit noch vorhanden. Man beobachtet täglich

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26 27

Vgl. M. Rude: Antispeziesismus, S. 28-36. Mit R. Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus, S. 125 ist daran zu erinnern, »dass die gesamte Epoche des Übergangs zur ersten industriellen Revolution von einem permanenten, bald schleichenden und bald offenen Bürgerkrieg in ganz Europa gekennzeichnet war.« Obwohl Kurz, der Theoretiker der Kapitalismuskritik, den Tieren keine Aufmerksamkeit schenkt, kommt ihm eine bezeichnende Formulierung unter: »Die Opfer der ersten industriellen Revolution selbst ließen sich […] ebenso wenig ruhig und kampflos zur Schlachtbank führen wie die Bauern und Handwerker der vorangegangenen Jahrhunderte« (ebd., Hrvh. Th. R.). M. Rude: Antispeziesismus, S. 39. Vgl. B. Carey/G. Plank: Quakers and Abolition, S. 1-13. Die Quäker brachten 1790 eine Petition zur Abschaffung der Sklaverei im amerikanischen Kongress ein. Carey/Plank erläutern, wie problematisch die Freilassung ihrer Sklaven für die Quäker selbst war, von denen viele bisher selbstverständlich die Arbeit der Sklav*innen genutzt hatten und ohne sie nicht glaubten wirtschaften zu können. Woolman setzte sich dafür ein, dass die Freunde (Selbstbezeichnung) die Freigelassenen unterstützten, ihnen Bildung ermöglichten und ihnen evtl. eine Kompensation für die erlittenen Leiden zahlten. Hauptmotiv für die Freilassung scheint das Mitgefühl mit dem Leiden und das Interesse für das Schicksal der Sklaven gewesen zu sein, zu dem die Abolitionisten immer wieder aufforderten. Zum religiösen (puritanischen, mennonitischen oder pietistischen) Hintergrund der Gesellschaft der Freunde vgl. M. Ressel: Rezeptionsskizze, S. 180-191.

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

»den Widerwillen der Pferde, einen lebenden Körper mit Füßen zu treten. Ein Tier geht nicht ohne Unruhe an einem toten Tier seiner Art vorüber. Es gibt sogar welche, die ihnen eine Art von Begräbnis zuteil werden lassen; und das traurige Brüllen des Viehs, wenn es ins Schlachthaus hineinkommt, weist auf den Eindruck hin, den es von dem entsetzlichen Schauspiel erhält, das sich ihm eröffnet«28 . Rousseau, Vorkämpfer sowohl der sozialistischen wie der vegetarischen Bewegung, hält dafür, dass den Tieren als empfindenden Wesen das Recht zusteht, nicht misshandelt zu werden. Von Rousseau beeinflusst ist John Oswald (1760-1793), ein führender Theoretiker und zugleich Aktivist der französischen Revolution, der die Forderungen nach Aufhebung des Privateigentums und Einführung der direkten Demokratie in seinem Hauptwerk The Cry of Nature (1791) mit einem Eintreten für einen Appeal to Mercy and Justice, Behalf of the persecuted Animals verbindet.29 In den Zeiten der Revolution lag die Parallelität von Sklaventum und Tierunterdrückung offenbar auf der Hand. Auch die utilitaristischen Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832; von ihm die Aussage: »Es gab eine Zeit, und es betrübt mich zu sagen, dass sie an vielen Orten noch immer andauert, zu der das Gesetz den größeren Teil der Spezies unter der Bezeichnung Sklave ebenso behandelte wie zum Beispiel heute noch in England die Tiere«) und John Stuart Mill (1806-1837), der die Tiere als »unglückliche Sklaven und Opfer des brutalsten Teils der Menschheit« bezeichnete, können sich ihr nicht entziehen.30 Aus der Zeit der Pariser Commune, jener kurzzeitigen revolutionären Volksherrschaft vom März bis Mai 1871, hebt Rude vor allem Louise Michel (1830-1905) hervor. Beliebt beim Volk wie keine anderen der revolutionären Geister – bei der Beerdigung der Louve rouge, der Bonne Louise sollen 120.000 Menschen versammelt gewesen sein –, war sie von Kindheit an durch eine tiefe Empathie zu den Tieren geprägt.31 »Im Kern meiner Empörung gegen die Starken finde ich, so weit ich zurückdenken kann, meinen Abscheu gegen die Tierquälerei wieder«, heißt es in ihren Memoiren von 1886. Ihr Abscheu richtet sich gleichermaßen auf die Todesstrafe wie auf das Schlachten von Tieren; beim Anblick von Fleisch wird ihr schlecht. Ihr besonderes Anliegen ist die Emanzipation der Frauen. Sie sieht in luzider Klarheit, dass das Schicksal von Frauen dem der Tiere ähnlich ist. »Die Engländer züchten Tierrassen für das Schlachthaus; die zivilisierten Menschen bereiten den jungen Mädchen das Schicksal vor, betrogen zu werden, um es ihnen dann als Verbrechen anzurechnen und dem Verführer fast als Ehre. […] Wo kämen wir denn hin, wenn sich die Lämmer nicht mehr schlachten lassen wollten? Es ist wahrscheinlich, dass man sie trotzdem schlachten würde, ob sie den Hals hinhalten oder nicht. Was soll’s! Es ist doch besser, ihn nicht hinzuhalten. Manchmal verwandeln sich die Lämmer in Löwinnen, in Tigerinnen oder Kraken. Recht so.« Und zu den Mädchen

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Zu Rousseau M. Rude: Antispeziesismus, S. 45-48; Zitat S. 47 mit Stellennachweis. Vgl. ebd., S. 48-51. Vgl. ebd., S. 51-53. Zu einer kritischen Einschätzung der Rolle Benthams bei der Durchsetzung des Kapitalismus vgl. R. Kurz: Schwarzbuch, S. 76-90. Zu ihr M. Rude: Antispeziesismus, S. 54-63; dort auch die Nachweise der Zitate.

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aus dem Volk: »Die Seidenraupen und die Mädchen aus dem Volk sind zum Spinnen geboren. Die Raupe wird gebrüht, und das Mädchen stirbt oder krümmt sich wie gebogenes grünes Holz.« Bei Louise Michel ist es nicht mehr unterscheidbar, ob ihr Einsatz mehr den Tieren oder den Menschen gilt. Sie hat das selbst reflektiert und erkannt, dass man beides nicht trennen kann. »Man hat mir oft vorgeworfen, dass ich mehr Sorge für die Tiere als für die Menschen empfinde: warum sollte man die Bestien bedauern, wenn die vernünftigen Wesen so unglücklich sind? Aber es hängt alles zusammen, von dem Vogel, dessen Nest man zertritt, bis zu den Nestern der Menschen, die der Krieg dezimiert. […] Und das Herz des Tieres ist wie das Menschenherz, sein Gehirn ist wie das des Menschen, nämlich fähig, zu fühlen und zu begreifen.«32 In allem Gemetzel des Lebens, das sie bis zur Neige durchlitten hat – sie entgeht nur knapp dem Todesurteil, verbringt Jahre im Gefängnis, wird nach Neukaledonien verbannt – verliert sich nicht, ja steigert sich ihre Hoffnung auf Erlösung von Mensch und Tier. »Alles, alles muss befreit werden, die Geschöpfe und die Welt, wer weiß, vielleicht die Welten? Wilde, die wir sind. […] Wenn unsere verfluchte Zeit abgelaufen ist, wird der Tag kommen, da der bewusste und freie Mensch weder Mensch noch Tier quälen wird. Diese Hoffnung ist es wert, durch das Grauen des Lebens hindurchzugehen.« Dieser Tag ist nicht gekommen. Wie gehen wir mit den unerfüllten Hoffnungen der Louise Michel um? Matthias Rude folgt weiter der Spur der linken Tierbefreiungsbewegung durch die Geschichte, findet sie in der Revolutions-Romantik eines Percy Shelley und William Blake, in der Lebensreformbewegung, in der Arbeiterbewegung, in der Friedensbewegung während des ersten Weltkriegs (»Mit keiner anderen ethischen Bewegung ist die Friedensbewegung so eng verwandt wie mit dem Vegetarismus«33 ), beim Internationalen sozialistischen Kampfbund und dessen Protagonisten Leonard Nelson in der Zeit des Faschismus (»die Mitglieder des ISK leben alle vegetarisch«34 ), im »unbekannten Russland« eines Leo Tolstoj, Andrej N. Beketov und Alexandr Kazancev35 und schließlich in der Kritischen Theorie Adornos, Horkheimers und Marcuses. Der Basso continuo klingt durch alle historischen Konfigurationen: Unterdrückung ist unteilbar, Befreiung ist unteilbar. Speziesismus als Legitimationsideologie für die Ausbeutung von Tieren ist nicht zu trennen von Sexismus und Rassismus, nicht von der Ausbeutung der Sklav*innen

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Eine Aussage, die durch die neuere Lebenswissenschaft vollumfänglich bestätigt wird, vgl. A. Weber: Alles fühlt. M. Rude: Antispeziesismus, S. 105. Ebd., S. 120. Rude verschweigt nicht, dass es die Sowjetunion und die sozialistischen Nachkriegsstaaten mit der Massentierhaltung nicht anders hielten als die westliche Welt. Ein erschütterndes Zeugnis der Fühllosigkeit gegenüber Tieren in der DDR bietet die literarische Dokumentation von M.-L. Scherer: Die Hundegrenze.

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

und der Arbeiter*innen. Die Gewalt, die Tieren angetan wird, ist der Gewalt des Krieges verwandt. Vegetarismus ist zu allen Zeiten, von der Antike angefangen, aktiver Protest gegen gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse. Eine befreite Zukunft wird es ohne die Befreiung der Tiere nicht geben. Warum dann nicht mit der Befreiung der Tiere anfangen? Mit dem Philosophen Marco Maurizi gesprochen: »Eine Gesellschaft, in der es keine Herrschaft über Menschen und Tiere gibt, ist eine Gesellschaft ohne Fleischindustrie, ohne Tierversuche […]. Der Veganismus ist, meiner Meinung nach, die einzige Möglichkeit eine solche Gesellschaft vorzusehen und praktisch zu beweisen, dass sie möglich ist.«36 Doch will ich Rudes faszinierenden Gang durch eine weithin unbekannte Geschichte nicht verlassen, ohne noch an Rosa Luxemburg zu erinnern.37 1871 in Zamośź (Polen) in einer jüdischen Familie geboren und am 15.1.1919 von Freikorps-Offizieren mit Gewehrkolben und einem aufgesetzten Schläfenschuss ermordet, Sozialdemokratin mit marxistisch-sozialistischer Weltanschauung, Kriegsgegnerin und Antimilitaristin, Antiimperialistin und Antikolonialistin, Wortführerin der Linken in der SPD und 1918 Mitbegründerin der KPD, lebte sie von Kindheit an in einer innigen Beziehung zu Tieren, die sie während der langen Jahren ihrer Haft noch vertiefte. Ihr Leben galt über das konkrete politische Engagement hinaus der Versöhnung von Mensch und Natur. »Ich weiß, für jeden Menschen, jede Kreatur, ist eigenes Leben das einzige, einmalige Gut, das man hat, und mit jedem kleinen Flieglein, das man achtlos zerdrückt, geht die ganze Welt jedesmal unter« – so in einem Brief vom 24. November 1917, der das Fundament ihrer Versöhnungsarbeit erkennen lässt. Gelebte, praktische Empathie mit den Tieren, die ihr begegnen, begleiten ihr Leben. Sieht sie eine erfrorene Hummel an einem frostigen Herbstmorgen, sucht sie sie mit dem warmen Atem ihres Mundes zum Leben zu wecken. Der Tod eines Pfauenauges, der sich in ihre Zelle verirrt und um den sie sich gekümmert hat, nimmt sie sehr mit. »Mein kleiner Freund, den ich so hütete, ist mir doch heute Nacht gestorben […] Ich sehe gerade noch nach ihm, wie es ihm gehe, als er die letzte Zuckung machte und mit ausgebreiteten Flügelchen flach auf das Fenster fiel. […] Ich konnte die ganze Nacht kein Auge schließen.« Mit den Tieren, die ihr in der Haft nahekommen, pflegt sie enge Beziehungen, weiß sich durch sie mit dem Netzwerk des Lebendigen verbunden. »So bin ich aus meiner Zelle nach allen Seiten durch unsichtbare, feine Fäden an tausend kleine und große Kreaturen geknüpft.« Das Gefühl der Verbundenheit geht bis zur Verschmelzung. »Ich habe manchmal das Gefühl, in bin kein richtiger Mensch, sondern auch irgendein Vogel oder ein anderes Tier in misslungener Menschengestalt; innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf einem Parteitag.«

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Zitiert nach M. Rude: Antispeziesismus, S. 117, Nachweis ebd. Dazu ebd., S. 108-119 mit Nachweis der Zitate.

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Obwohl sie weiß, dass auch die Natur grausam sein kann, bäumt sie sich auf gegen Gewalt und Vernichtung, sei es an Menschen oder Tieren. »Unsere Seele schreit auf, wenn wir den Freund vernichten, töten, und sie schreit ebenso laut auf, wenn wir den Gegner, den Feind, den Menschen, das Tier, jedes Geschöpf vernichten, töten.« Einmal beobachtet sie, wie Büffel, vom deutschen Heer als Zugtiere von ihren rumänischen Wiesen requiriert, aufs Gröbste geschlagen werden, weil sie die übergroße Last nicht über die Schwelle des Gefängnishofes zu ziehen vermögen. »Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg, aber eins blutete … Sonitschka, die Büffelhaut ist so sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit, und die ward zerrissen. […] Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still, erschöpft, und eins, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll. Ich stand davor, und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter – es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte. […] Oh, mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumm und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht.«38 »Futter, Stock und Last für den Esel, Brot, Schläge und Arbeit für den Sklaven«, so halten es Jesus Sirach und auch sein späterer Auslegen Cornelius a Lapide für richtig. Der Satz ist eine Gleichung mit zwei Gliedern und einem Gleichheitszeichen dazwischen. Je nachdem wie man das eine Glied versteht, versteht man auch das andere. Wie gerne würde ich dort stehen – ich will aus meinem Herzen keine Mördergrube machen –, wo sich die Wolke von Zeugen befindet, auf die Matthias Rude aufmerksam gemacht hat. Dort kann man sagen: »Gerechtfertigte Argumente gegen die Ausbeutung der Tiere kann es also von linker Seite aus nicht geben, so wie es in den vergangenen Jahrhunderten keine gerechtfertigten Argumente gegen die Befreiung der Sklaven gab.«39 Als katholischer Theologe ist man aber auf eine andere Tradition gewiesen. Von dieser soll nun die Rede sein.

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Ebd., S. 208. Rude übermittelt einen Satz von Karl Kraus zu der Szene mit dem Büffel: »Die ganze lebende Literatur Deutschlands bringt keine Träne wie die dieser jüdischen Revolutionärin hervor und keine Atempause wie die nach der Beschreibung der Büffelhaut: »und die ward zerrissen« (ohne Nachweis des Zitates). M. Rude: Antispeziesismus, S. 18.

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

2.

Das Dispositiv der Sklaverei

Die Sklaverei ist ein Dispositiv der Macht im Christentum, das bis heute nachwirkt. Das ist meine These. Den Begriff »Dispositiv der Macht« übernehme ich von Michel Foucault. Gefragt, was er darunter verstehe, antwortet der französische Philosoph in einem Interview: »Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann. So kann dieser oder jener Diskurs bald als Programm einer Institution erscheinen, bald im Gegenteil als ein Element, das es erlaubt, eine Praktik zu rechtfertigen und zu maskieren, die ihrerseits stumm bleibt, oder er kann auch als eine sekundäre Reinterpretation dieser Praktik funktionieren, ihr Zugang zu einem neuen Feld der Rationalität verschaffen. Kurz gesagt gibt es zwischen diesen Elementen, ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können.«40 Diese Erklärung könnte man nun lang und breit erläutern, wie es in dem Interview mit Foucault geschieht. Man kann sie auch einfach noch einmal lesen und sich ihren Sinn leicht am Sexualitätsdispositiv verdeutlichen, das Foucault in diesem Zusammenhang anführt. Worum es jedenfalls geht, ist das Zusammenspiel von Macht und Wahrheit. Foucault tritt der Vorstellung entgegen, Wahrheit gebe es nur im Bewusstsein oder bei bestimmten autoritativen Institutionen der Wahrheitsverwaltung wie der Wissenschaft, und ebenso der Vorstellung, Macht gebe es nur bei den Mächtigen. Wahrheit und Macht sind vielmehr zirkulär aufeinander bezogen. »Die ›Wahrheit‹ ist zirkulär an Machtsysteme gebunden, die sie produzieren und stützen, und an Machtwirkungen, die von ihr ausgehen und sie reproduzieren. ›Herrschaftssystem‹ der Wahrheit.«41 Die Art dieser zirkulären Verknüpfung hat Foucault mit dem Begriff des Dispositivs weiter zu erklären gesucht. Ich übernehme diesen Begriff und versuche die Sklaverei als ein Herrschaftssystem der Wahrheit im Christentum zu beschreiben.

2.1

Das Zeugnis der Bibel

Sklaverei ist ein Menschheitsphänomen. Schon in paläolithischer Zeit wird es Menschen gegeben haben, die aufgrund ihrer sozialen Stellung und ihrer körperlichen Eignung zum Dienst für andere gezwungen wurden. Eine Parallele zwischen Sklaven und

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M. Foucault: Dispositive der Macht, S. 199-120; das vollständige Interview S. 118-175. Ebd., S. 54.

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Tieren, die auch das Verspeisen der Tiere betrifft, tritt in früher Zeit schon darin zu Tage, dass Sklaverei sehr oft mit Menschenopfern und Kannibalismus verbunden war.42 Im Zuge der neolithischen Revolution bzw. der Erfindung der Landwirtschaft mit ihrer Durchsetzung des Eigentumsrechtes sowie der patriarchalen Herrschaft wird Sklaverei bei allen Völkern als Institution greifbar, nämlich als Haussklaverei. »Ihre historische Wurzel liegt möglicherweise im fast überall anzutreffenden Wunsch, Frauen, Witwen und ihre Kinder unterzubringen, die keine Verwandten mehr hatten, sowie Fremde in eine Gruppe von Verwandten zu integrieren (was in Bezug auf Männer immer schwieriger war).«43 Bei den Männern ist zum einen an Kriegsgefangene zu denken, zum anderen an zweit- und nachgeborene Brüder, die aufgrund der Primogenitur vom väterlichen Erbe ausgeschlossen waren. Damit sind wir schon in der Bibel: Jakob und Esau streiten sich um das Erstgeburtsrecht, Joseph wird als Sklave nach Ägypten verkauft. Nach der überzeugenden evolutionsgeschichtlichen These von van Schaik/Michel reagiert das Alte Testament auf die Probleme, die sich durch die Sesshaftwerdung und die Durchsetzung des Patriarchats ergeben haben.44 Sklaverei wird in der Bibel überall als gegeben vorausgesetzt und als Institution nirgendwo problematisiert. Die Sklavengesetze der Tora (Ex 21,1-11; Dtn 15,12-18; Lev 25,35-46) zielen auf eine bessere Behandlung der israelitischen Sklav*innen bis hin zur Freilassung im 7. Jahr für männliche Sklaven gem. Ex 21,2. »Die biblischen Regelungen bezüglich israelitischer Schuldsklaven sind als Kompromiss zwischen dem theologischen Ideal der uneingeschränkten Gottesdienerschaft und der realen Armut und Versklavung im eigenen Land anzusehen.«45 Die Befreiung des Volkes Israel aus der ägyptischen Sklaverei ist das Grunddatum der biblischen Geschichte. Sie wurde so verstanden, dass Gott sein Volk aus der Gewalt des fremden Herrn befreit, weil es sein Eigentumsvolk ist, weil die Israelit*innen seine Sklav*innen sind. Man ist entweder Diener/Sklave Gottes oder eines anderen Herrn.46 Eine Infragestellung der Sklaverei an sich und etwa auch in Bezug auf andere Völker folgte daraus aber nicht. Ob und inwieweit die Sklavengesetze der Tora in der Geschichte Israels umgesetzt worden sind, ist nicht bekannt. In Jer 34,8-17 wirft der Prophet den Sklavenhaltern vehement vor, die Freilassung nicht zu praktizieren bzw. die Freigelassenen wieder einzufangen. Für die Zeit Jesu gibt es weder biblische noch außerbiblische Zeugnisse für

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Vgl. M. Zeuske: Sklaverei, S. 58-60. Ebd., S. 76. Vgl. C. v. Schaik/K. Michel: Das Tagebuch der Menschheit, S. 12-17; zu den Patriarchenerzählungen S. 133-155. C. Heszer: Der Loskauf von Sklaven und Juden im antiken Judentum, S. 3-24, hier S. 4. Dass Angehörige des eigenen Volkes bzw. der eigenen Religion von der Sklaverei ausgenommen wurden, war nach M. Zeuske: Sklaverei, S. 55f. zu allen Zeiten die Regel, auch wenn es Ausnahmen gab. Zu den Torabestimmungen zur Sklaverei vgl. F. Crüsemann: Die Tora, S. 179-192; S. 270-273; S. 353f. Es verdient hervorgehoben zu werden, dass die berühmt-berüchtigte Talionsformel Ex 21,23 (»Auge für Auge, Zahn für Zahn…«) ihren Sitz im Leben bei der Kompensation von Sklaven, nicht nur von Freien, für erlittene Misshandlungen hatte: »Wenn einer einem Sklavin oder einem Sklaven ein Auge ausschlägt, soll er ihn für das ausgeschlagene Auge freilassen« (Ex 21,26f.), dazu ebd., S. 191. Vgl. N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 107.

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die Freilassung von Sklavinnen und Sklaven nach Torarecht. Jesus lebte in einer Gesellschaft, in der wie im ganzen Römischen Reich Sklaverei selbstverständlich war.47 Nur die Gruppe der Essener lehnte die Sklaverei ab. Man wird daraus folgern dürfen, dass es in Israel Diskussionen über die Berechtigung der Sklaverei gab; im NT gibt es dafür jedoch keinen Hinweis. Nach dem Tod von Herodes d. Gr. (4 n. Chr.) erfolgte in Sepphoris, einer Stadt in der Nähe von Nazareth, ein Aufstand, der von den römischen Truppen niedergeschlagen wurde, alle Bewohner wurden in die Sklaverei geführt. Davon wird während der Kindheit und Jugend Jesu erzählt worden sein. Unter den Zuhörern Jesu, den Pharisäern, Sadduzäern und Schriftgelehrten, waren zweifellos Sklavenhalter und ebenso sicher auch Sklavinnen und Sklaven. In Lk 8,3 wird eine Johanna genannt, »die Frau des Chuzas, eines Beamten des Herodes«, die Jesus mit ihrem Vermögen unterstützt. Sollte dieser Beamte ein Sklave gewesen sein, wie es wahrscheinlich ist, dann ließ sich Jesus von einer Sklavin unterstützen. Bei seinen Mahlzeiten wurde er von Sklav*innen bedient. Aus der Einleitung zum Gleichnis Lk 17,7-10, das ausdrücklich an die Jünger und Apostel gerichtet ist – »Wenn einer von euch einen Sklaven hat« – lässt sich ableiten, dass auch unter den Jüngern Jesu Sklavenhalter waren oder Jesus diese Möglichkeit immerhin offenlässt. In diesem Gleichnis setzt Jesus im Übrigen voraus, dass die Sklaven nicht gemeinsam mit ihren Herren essen und dass sie für ihren Dienst keinen Dank zu erwarten haben. Bei der Heilung des Sklaven des Hauptmanns von Kaparnaum, die im NT in drei Varianten erzählt wird (Mt 8,5-13; Lk 7,1-10; Joh 4,46-57), zeigt sich Jesus beeindruckt von der Aussage des Hauptmanns, dass auch dessen Soldaten und Sklaven auf sein Wort hin gehorchen (»… sage ich nun zu einem: Geh!, so geht er, und zu einem anderen: Komm!, so kommt er, und zu meinem Sklaven: Tu das, so tut er es«): »Einen solchen Glauben habe ich in Israel noch bei niemandem gefunden«. In welchem Maße Jesus in die Verhältnisse, aber auch in die Logik der Sklaverei hineingedacht war, wird aus Lk 12,35-48/Mt 24,45-51 deutlich. Hier wird von einem Sklaven in der Position des Verwalters erzählt, der die Aufgabe hat, den anderen Sklaven ihre Tagesrationen zu geben. Findet der Herr ihn bei seiner Rückkehr damit beschäftigt, so ist es gut. Hat der Verwalter aber zwischendurch angefangen, »die Sklaven und Sklavinnen zu schlagen, auch zu essen und zu trinken und sich zu berauschen«, dann wird ihn der Herr, wenn er kommt, »in Stücke hauen«. Das Gleichnis gibt einen Einblick in die Gewaltverhältnisse, denen Sklav*innen ausgeliefert waren; übrigens ist dies die einzige Stelle in den Evangelien, bei der Sklavinnen erwähnt werden. Bei seiner Auslegung bleibt Jesus in der Logik des Gleichnisses: »Der Sklave, der den Willen seines Herrn kennt, sich aber nicht darum kümmert und nicht danach handelt, der wird viele Schläge bekommen. Wer aber, ohne den Willen des Herrn zu kennen, etwas tut, was Schläge verdient, der wird wenig Schläge bekommen.«48 Bemerkenswert ist übrigens 47

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Vgl. zum Folgenden J. A. Glancy: Slavery, S. 5-15. G. Theissen/A. Merz: Der historische Jesus, und M. Ebner: Jesus von Nazareth; zwei Standardwerke zur historischen Jesusforschung, enthalten keine Lemmata zum Stichwort Sklaverei. Vgl. dazu auch R. Klein: Die Sklaverei in der Sicht der Bischöfe Ambrosius und Augustinus, S. 63f. – Dass mit Jesus hier wie an den anderen Stellen nicht einfach der historische Jesus gemeint ist, sondern seine Gestalt im Rahmen der Evangelien, versteht sich von selbst. Lk 12,42-48 könnte im Zusammenhang mit Konflikten um das Verhalten von Sklaven im Umkreis des Lukas-Evangeliums stehen.

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auch, dass weder im Zusammenhang der Zachäus-Erzählung (Lk 19,1-10) noch der Erzählung vom sog. reichen Jüngling (Mt 19,16-22) Jesus dazu mahnt – jedenfalls nicht ausdrücklich – die Sklaven freizulassen, die diese beiden ohne Zweifel hatten. Für die Gleichnisse Jesu ist die Sklaverei eine reiche Bildquelle. Vor allem die mattheischen Gleichnisse führen in die Welt der höher gestellten Sklaven, die es im Römischen Reich gegeben hat.49 Ihnen war die Aufsicht über die einfachen Sklav*innen überlassen, sie hatten aber auch oft die Verantwortung für das Vermögen ihrer Herren und sollten zu dessen Vermehrung beitragen. Aber auch wenn sie höhergestellt und teilweise vermögend waren, so blieben sie doch Sklaven, die körperlicher Strafe und Misshandlung ausgesetzt waren. Der Verwaltersklave in Mt 18,23-35 »packte und würgte seinen Mitknecht«, als aber der Herr davon erfährt, »übergab er ihn in seinem Zorn den Peinigern«. »Ebenso wird mein himmlischer Vater euch behandeln, wenn nicht jeder seinem Bruder von Herzen vergibt.« In Mt 21,33-51 hören wir von den Winzern, die die Sklaven des Herrn packten, »den einen prügelten sie, den anderen brachten sie um, wieder einen anderen steinigten sie«. Der Besitzer des Weinbergs aber »wird diese bösen Menschen vernichten«. Beim Gleichnis vom Hochzeitsmahl Mt 22,1-10 fielen einige der Eingeladenen »über seine Diener her, misshandelten sie und brachten sie um«. Man kann übrigens fragen, warum anstatt der neuen Gäste, die von Straßen und Kreuzungen aufgelesen werden, nicht die Sklaven selbst zum Mahl eingeladen werden – aber dies lag wohl außerhalb der Vorstellungskraft. Im Gleichnis von den Talenten (Mt 25,1430) bzw. von den Minen (Lk 19,11-27) wird der Sklave, der sich nicht für die Vermehrung des Vermögens engagiert, hinaus in die »äußerste Finsternis« geworfen. »Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.«50 Jesus, so möchte ich mit Jennifer Glancy resümieren, nahm Themen und Bilder aus der Sklavenwelt in seine Gleichnisse auf, weil sie zur damaligen Lebenswelt gehörten.51 Er wird damit nicht selbst zum Ideologen des Sklaventums. Und doch irritiert es aus heutiger Perspektive, dass er nicht einmal das Wort gegen die Sklaverei erhob, ja dass er für das Geschick der Sklavinnen und Sklaven offenbar wenig Mitgefühl hatte. Seine Antwort auf das System Sklaverei liegt auf einer anderen Ebene. »Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen die Macht über sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener [diakonos] sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave [doulos] aller sein.« (Mk 10,42f.) Das ist nicht weniger als eine Umkehrung des Herrschaftssystems, wie es anders Joh 13,13f. in der Erzählung von der Fußwaschung ausdrückt. Jesus, der hingerichtet wurde, wie es für Sklaven üblich war, der nach Phil 2,5-8 selbst wie ein Sklave wurde, steht

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Vgl. zum Folgenden J. A. Glancy: Slavery, S. 16-23. Bei diesem Gleichnis kann man mit Recht fragen, ob Jesus in der Erzähllogik bleibt (wer nicht gehorcht, wird bestraft) oder ob er die Unrechtsverhältnisse denunzieren will. »Wer nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat« – ist nicht der dritte Knecht der Held der Erzählung, der als einziger dem Herrn die Wahrheit zu sagen wagt und sich dessen ausbeuterischem Kapitalvermehrungsprojekt verweigert? Vgl. J. A. Glancy: Slavery, S. 23-26.

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für ein Aufbrechen des Sklavereilogik von innen her. Wenn die, die vorher als die Letzten galten, nun die Ersten sind, ist die Logik der Ordnung, die zwischen Herren und Sklaven unterscheidet, durchbrochen. Im Anschluss an Foucault könnte man von einer Reinterpretation der Praktik (der Sklaverei) sprechen, die ihr Zugang zu einem neuen Feld der Rationalität verschafft. Von dieser neuen Rationalität werden wir dann im Verlauf der Christentumsgeschichte viel hören. Aber nach Foucault ist dies immer noch Teil des Dispositivs. Die gesellschaftliche Praxis der Sklaverei bleibt davon im Übrigen unberührt. Sie bleibt bestehen. Man wird sehen, in welchem Verhältnis die neue zur alten Rationalität steht. Jennifer Glancy geht in ihrer Untersuchung mit zwei Fragestellungen an die Geschichte der ersten christlichen Gemeinden und die weitere Geschichte bis ins 5. Jh. heran: 1. Änderte sich etwas für Sklav*innen christlicher Herren, wenn sie getauft waren? 2. Wurde die Sklaverei von Christen grundsätzlich in Frage gestellt?52 Beide Fragen beantwortet sie am Ende mit Nein. Petrus trägt beim Pfingstereignis die Prophetie des Joel vor: »Auch über meine Sklaven und Sklavinnen werde ich von meinem Geist ausgießen. In jenen Tagen werden sie prophetisch reden« (Apg 2,18 nach Joel 3,2).53 Was ist aus der den Sklav*innen zugesprochenen Geistbegabung geworden? Dass es in der Urgemeinde Sklaven gab, vermutlich werden auch unter den am Pfingsttag Bekehrten zahlreiche Sklavinnen und Sklaven gewesen sein, ergibt sich aus Apg 11,12-16: Als Petrus aus dem Gefängnis befreit ist, begibt er sich in das Haus, in dem sich die Gemeinde versammelt hat, und eine Sklavin namens Rhoda empfängt ihn an der Tür. Sie und ihre Herrin Maria gehören beide der Gemeinschaft an. In der idealen Schilderung der urchristlichen Gütergemeinschaft (Apg 2,46f.; 4,32-37) ist indessen von Sklaven oder gar deren Freilassung nicht die Rede. In der Gemeinde von Korinth gab es »nicht viele Weise im irdischen Sinn, nicht viele Mächtige« (1 Kor 1,26), also, wie auch 1 Kor 7,21 bezeugt, auch viele Sklav*innen. Der Streit um das unterschiedliche Essen beim Herrenmahl (1 Kor 11,17-22: »… dann hungert der eine, während der andere betrunken ist«) ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die getrennten Mahlzeiten von Herren und Sklaven zu beziehen; nach der Sitte der Zeit war es ausgeschlossen, dass sie gemeinsam aßen. Paulus hatte auf die Unruhe, die offenbar aus der neuen Nähe von Sklaven und Herren entstand, eine doppelte Antwort: »Juden und Griechen, Sklaven und Freie, alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt« (1 Kor 12,12)54 und »Jeder soll in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat. Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll dich das nicht bedrücken, […] Denn wer im Herrn als Sklave berufen wurde, ist Freigelassener des Herrn. Ebenso ist einer, der als 52 53

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Vgl. ebd., S. 53. Die Stelle gibt mir Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass die Übersetzung von doûlos/doûla in der neuen EÜ uneinheitlich und gedankenlos ist. Hier heißt es wieder wie meistens: »Knechte und Mägde«. Vgl. zum Folgenden ebd., S. 28-48 und N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 112-114. Gal 3,26 (…nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich«) ist nicht auf die Aufhebung der Sklaverei zu beziehen, so wenig Paulus hier auch den Unterschied von Frauen und Männern aufheben wollte. Nach B. Wannenwetsch: Gottesdienst als Lebensform, S. 150-170, geht es um die Vollmitgliedschaft von Gruppen, die von der städtischen Ekklesía ausgeschlossen waren, in der kirchlichen Ekklesía.

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Freier berufen wurde, ein Sklave Christi« (1 Kor 7,20-22). Die Frage ist, wie beides zusammenkam, die Einheit im Geist und die weiterhin bestehende Unterscheidung von Sklaven und Freien. Am Ende der urchristlichen Zeit geben die Deuteropaulinen und die Pastoralbriefe die Antwort, die sich durchgesetzt hat. •





Kol 3,22: »Ihr Sklaven, gehorcht in allem euren irdischen Herrn, nicht in einem augenfälligen Dienst, um Menschen zu gefallen, sondern in der Aufrichtigkeit des Herzens! Fürchtet den Herrn!« Eph 6,5: »Ihr Sklaven, gehorcht den irdischen Herrn mit Furcht und Zittern und mit aufrichtigem Herzen, als wäre es Christus.« 1 Tim 6,1f.: »Alle, die das Joch der Sklaverei zu tragen haben, sollen ihren Herren alle Ehre erweisen, damit der Name Gottes und die Lehre nicht in Verruf kommt. Diejenigen aber, die gläubige Herren haben, sollen diese nicht gering achten, weil sie Brüder sind […].« Tit 2,9f.: »Die Sklaven sollen ihren Herren gehorchen, ihnen in allem gefällig sein, nicht widersprechen, nichts veruntreuen; sie sollen in allem der Lehre Gottes, unseres Retters, Ehre machen.«

Welche Konflikte hinter diesen Mahnungen stehen, lässt sich erspüren. Was immer das Evangelium von der Freiheit für die Sklavinnen und Sklaven bedeutete, an ihrer Stellung als Sklaven änderte es nichts. Eher wurde noch der Glaube dafür in Anspruch genommen, ihren Gehorsam aufrichtiger und ihren Dienst gefälliger zu machen. Auch kommt die Sorge um den Ruf der christlichen Gemeinden zum Ausdruck. Eine markante Stellung hat in diesem Zusammenhang der Philemonbrief des Paulus inne. Der Völkerapostel äußert sich selbst zum Fall des (vermutlich) entlaufenen Sklaven Onesimus, der sich im Kontakt mit Paulus im Gefängnis zum Glauben bekehrt hatte. Der Brief ist ein Dokument der Uneindeutigkeit und Unklarheit, die in solchen Fällen offenbar im Urchristentum bestand. Paulus hatte Onesimus wirklich ins Herz geschlossen und hätte ihn gerne bei sich behalten. Nun aber schickt er ihn seinem Herrn Philemon zurück – »nicht mehr als Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder. Das ist er jedenfalls für mich, um wie viel mehr dann für dich, als Mensch und auch vor dem Herrn« (Phlm V. 16). Was daraus für die Stellung des Onesimus als Sklaven folgte, wird nicht klar. Erwartete Paulus, dass Philemon Onesimus freilassen würde (V. 21: »[…] ich weiß, dass du noch mehr tun wirst, als ich gesagt habe«)? Die Unklarheit dieser Situation hat sich auch in der Auslegungsgeschichte des Briefes niedergeschlagen.55 Schauen wir noch in die Briefe des Paulus. Er macht ausgiebig von der Metaphorik der Sklaverei Gebrauch.56 Dabei ist die Verwendung des Sklavenmotivs nicht konsistent. Zum einen wird gesagt, dass wir losgekauft sind aus der Sklaverei (1 Kor 6,20: »[…] denn um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden«), freigekauft von den »Elementarmächten« (Gal 4,3) oder »vom Fluch des Gesetzes« (Gal 3,13), deren Sklaven wir früher waren. Waren wir früher Sklaven, so sind wir jetzt nicht mehr Sklaven, sondern

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Zur Auslegung des Phlm in der Tradition (Hieronymus, Joh. Chrysostomus, Thomas v. A., Luther und Cornelius a Lapide) vgl. H. Grieser/N. Priesching: Sklaverei und christliches Gnadenethos, S. 231-302. Vgl. zum Folgenden I. A. H. Combes: The Metaphor of Slavery, S. 82-94; J. A. Glancy: Slavery, S. 36-53.

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»Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe, Erbe durch Gott« (Gal 4,7).57 Andererseits sieht es so, als wären Christen in eine neue Sklaverei geraten. Paulus nennt sich selbst an prominenter Stelle »Sklave Jesu Christi« (Röm 1,1).58 Die Christen insgesamt werden »Sklaven der Gerechtigkeit« genannt (Röm 6,18). Die Bilder, die zur Beschreibung des Verhältnisses zu Christus gebraucht werden, stammen aus der Welt der Sklaverei: »Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn« (Röm 14,8). Der (Sklaven-)Dienst gegenüber Christus ist Gott wohlgefällig (Röm 14,18). Auch das berühmte paulinische »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (Gal 2,20) kann als Ausdruck intensivster Sklavengesinnung interpretiert werden. So ergibt sich der Befund: Christen sind aus der Sklaverei befreit und zugleich wiederum Sklaven geworden. Combes merkt dazu an: In der Welt des 1. Jahrhunderts »it would be impossible that a person could be at one and the same time a slave and yet free«59 . Paulus mutete seinen Leser*innen schon einiges zu und machte die Sache schließlich noch komplizierter, indem er den Übergang von einer Sklaverei in die andere als nicht definitiv hinstellte. Er selbst sah sich noch immer als »verkauft unter die Sünde« (Röm 7,14). Die Erlösung von diesem Zustand steht noch aus: »… wir seufzen in unseren Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden« (Röm 8,23). Ähnlich verhält es sich mit dem Hagar/Sara-Vergleich in Gal 4,21-31, der übrigens ganz im System der Sklaverei und des Sklavenrechts formuliert ist. Hagar als Sklavin hat nur einen Sklaven gebären können60 ; ihre Nachkommen bilden das »jetzige Jerusalem«. Die Christen hingegen stammen von dem Sohn der Freien ab. »Daraus folgt also, meine Brüder und Schwestern, dass wir nicht Kinder der Sklavin sind, sondern Kinder der Freien« (Gal 4,31). Darauf erfolgt direkt der Jubelruf der christlichen Freiheitsbotschaft: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit« mit der unmittelbaren Einschränkung: »Steht daher fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen« (Gal 5,1), wie es geschehen würde, wenn sich die Christen in Galatien beschneiden ließen. Die Freiheit bzw. das Sklave Christi-Sein kann also auch wieder verloren gehen. Nimmt man dann noch Gal 5,13 hinzu und übersetzt das »Dient einander in Liebe« als »Werdet einander Sklaven«61 , so hätte man zwar den inhaltlichen Anschluss an das 57

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I. A. H. Combes: The Metaphor of Slavery, S. 84, merkt an, dass Paulus mit der Metapher der Annahme als Sohn auf den antiken Brauch der Adoption eines Sklaven durch seinen Herrn anspielt. Das würde aber voraussetzen, vorher Sklave des Herrn gewesen zu sein, der nun die Adoption vornimmt. Dies entspricht nicht der Argumentation des Paulus. Nach ebd., S. 79 muss das nicht als Demutsgeste verstanden werden. Paulus wollte sich der römischen Gemeinde möglicherweise als »Manager slave« vorstellen, der von Christus mit der Verwaltung des christlichen Haushalts beauftragt worden ist. I. A. H. Combes: The Metaphor of Slavery, S. 84. Zwar gab es den Ritus, durch den ein Sklave gegen einen Geldbetrag fiktiv zum Sklaven einer Gottheit werden konnte, aber dieser Gottheit gegenüber hatte er keinerlei Verpflichtungen. Das könne Paulus doch nicht gemeint haben, vgl. ebd. Überlesen werden sollte nicht die antijüdische Wendung des Vergleichs: »Doch wie damals der Sohn, der gemäß dem Fleische gezeugt war, den verfolgte, der gemäß dem Geist gezeugt war, so geschieht es auch jetzt« (Gal 4,29). – Nach M. Zeuske: Sklaverei, S. 63, gehört die Vererbung des Unfreienstatus von der Mutter auf das Kind zu den Grundgegebenheiten der antiken Sklavenhaltergesellschaft und ist auch sonst in der Regel bei den Völkern anzutreffen. So J. A. Glancy: Slavery, S. 24 (dienet = douleúete).

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Jesuswort in Mk 10,43 (wer groß sein will, muss der Sklave aller sein), aber für die paulinische Sklaven-Metaphorik eine weitere Stufe der Komplexität. Sie ist aber womöglich die entscheidende. Das paulinische »Denn das ganze Gesetz ist in dem Wort erfüllt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!« (Gal 5,14) ist das Vorzeichen, unter dem alle Aussagen zum Miteinander von Herren und Sklaven stehen. Sklaven sollen ihren Herren in Liebe gehorchen, die Herren sollen die Sklaven mild und gerecht behandeln. Die äußere Ordnung wird nicht in Frage gestellt, aber sie soll von innen her umgewandelt werden. Ich konnte längst nicht alle Stellen, an denen Paulus von Sklaverei spricht, heranziehen. Meine eher schematische Übersicht konnte auch die theologische Tiefe der paulinischen Theologie nicht ausloten. Doch lässt sich auf der Basis des Gesagten schon behaupten: Bei Paulus erfährt der Sklavereidiskurs eine erhebliche Ausweitung. Die Metaphorik der Sklaverei wird für die Beziehung zu Gott und zu Christus, zu den Mächten der Sünde und des Gesetzes und für das Verhältnis der Christen untereinander in Anspruch genommen. Sie kann auch das Geschehen der Erlösung bzw. Befreiung sowie deren Gefährdung bezeichnen. Bis in die mystische Christusbeziehung (Gal 2,20) hinein und bis hin zur eschatologischen Hoffnung (Röm 8,23) werden Deutungsmuster benutzt, die aus dem semantischen Feld der Sklaverei stammen. Diese Ausweitung der Sklaven-Semantik kommt zustande aufgrund der Umbesetzung der Herrschaftsordnung durch Jesus selbst. Auch er selbst konnte als Sklave verstanden werden (Phil 2,7). Als Zwischenergebnis zum biblischen Zeugnis lässt sich festhalten: Das Christentum – auch für das Judentum ließe sich dies sagen – als biblische Religion ist in einer Sklavenhaltergesellschaft entstanden. Die Spuren seines Entstehungskontextes schlagen sich überdeutlich in den Heiligen Schriften nieder. Verstand und versteht man die Bibel als Offenbarungsschrift bzw., in welcher hermeneutischen Vermittlung auch immer, als Wort Gottes, dann hatten Christinnen und Christen keinen Anlass, die Sklaverei aus ihrem Glauben heraus in Frage zu stellen. Vielmehr waren sie angehalten, ihre Beziehung zu Gott und Mitmenschen in der Metaphorik der Sklaverei zu denken. Die Gewaltförmigkeit der Sklavenbeziehung, die in einigen Gleichnissen ihren Ausdruck findet, konnte so auch in den christlichen Diskurs einfließen und zweifellos das Verhalten prägen. Ansätze zur Aufhebung der Sklaverei finden sich nicht direkt in der Bibel, wenn auch spätere Generationen (Puritaner, Quäker) die Freiheits- und Barmherzigkeitsbotschaft des Christentums in diesem Sinne verstanden haben. Gerade für Paulus gilt: Das »Ein jeder bleibe in seinem Stande« von 1 Kor 7,20 steht wie eine Überschrift über seinen vielgestaltigen und durchaus uneinheitlichen, ja widersprüchlichen Aussagen zur Sklaverei im realen und im metaphorischen Sinne. Paulus zeigt bemerkenswert wenig Empathie für das Schicksal der Sklavinnen und Sklaven, auch nicht für die, die den Glauben angenommen hatten. »Paul seems to be indifferent to the circumstances of church members who were slaves.«62 Laut 1 Kor 6,12-20 wusste er darum, dass sich Mitglieder der korinthischen Gemeinde Prostituierte nahmen. Seine ablehnende Reaktion darauf nimmt das Schicksal der Prostituierten, die in der Antike nahezu ausschließlich Sklavinnen waren, nicht in den Blick. Sicher war 62

J. A. Glancy: Slavery, S. 50.

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

ihm bekannt, dass Sklavinnen und Sklaven üblicherweise dem sexuellen Zugriff ihrer Herren und Herrinnen ausgesetzt waren. Glancy liefert dazu einen aufschlussreichen Hinweis: Nach der Mischna galten Sklavinnen nur bis zum Alter von drei Jahren als jungfräulich; waren sie älter, wurde angenommen, dass sie es nicht mehr seien.63 Was bedeutete für diese Kinder und Frauen die Aussage, dass jede(r) in seinem/ihrem Stand bleiben solle? Wie verstanden die Opfer permanenter sexueller Ausbeutung die zitierten Anweisungen der Pastoralbriefe, dass die Sklaven ihre Herren aufrichtig lieben sollten? In einer Sklavenhaltergesellschaft war Einfühlung in das Schicksal der Sklavinnen und Sklaven offenbar nicht am Platz. In der ganzen Bibel sucht man sie vergeblich. Das Sklavenrecht der Bibel ist auch da, wo es Schutzbestimmungen für Sklaven und Sklavinnen enthält, Herrenrecht. »Es ist ja dein Geld«, so begründet Ex 21,21 die Regelung, dass ein Sklavenhalter straffrei bleibt, der einen Sklaven verletzt hat, dieser aber nicht gleich stirbt, sondern noch ein oder zwei Tage am Leben bleibt. Unter diesen Bedingungen – Sklaverei wurde als selbstverständlich, ja als gottgegeben vorausgesetzt; Mitgefühl mit den Sklavinnen und Sklaven wurde nicht geäußert – ist es nicht zu erwarten, dass die Parallele zwischen Sklav*innen und den zur Arbeit gezwungenen Tieren in der Bibel zum Thema wird.64 Der Durchgang durch die Bibel hat uns weit von unserem Thema weggeführt. Aber eben dies war zu zeigen.

2.2

Das Zeugnis der Tradition

Die Geschichte der Sklaverei von der Alten Kirche bis zum Jahr 1888 darzustellen, dem Jahr, in dem Papst Leo XIII. in der Enzyklika In plurimis die Sklaverei prinzipiell verdammte, kann – auch in Anbetracht einer abundanten Fachliteratur65 – hier nur skizzenhaft und exemplarisch geschehen. Ich beschränke mich darauf zu zeigen, dass in Berichtigung einer weit verbreiteten Meinung das Christentum nie ohne Sklaverei gewesen ist. In dem Versuch, das Dispositiv der Sklaverei im Christentum darzustellen, ist dieser knappe historische Durchgang unvermeidlich. Dem Vergleich von Sklaven und zur Arbeit gezwungenen Tieren werden wir dabei kaum begegnen. Damit ist schon etwas über die Eigenart der christlichen Haltung zur Sklaverei gesagt. Eine Ausnahme bildet diesbezüglich die Literatur der Quäker, der ein Exkurs gewidmet sein wird. Frühchristliche Schriften wie der Barnabasbrief und die Didache (1./2. Jh.) bleiben auf der Linie der Deuteropaulinen und der Pastoralbriefe. Den Sklaven wird Gehorsam, den Herren maßvolles Verhalten den Sklaven gegenüber geraten. Solche Weisungen lassen sich möglicherweise verstehen vor dem Hintergrund von Äußerungen des Christentumskritikers Celsus, der – soweit man dies aus der Wiedergabe durch Origenes entnehmen kann – bei christlichen Sklaven und Sklavinnen eine besondere Neigung zur Aufsässigkeit beobachtete. Einfache Arbeitssklaven würde sich anmaßen, 63 64

65

Dazu ebd., S. 43f.; S. 82-84 mit Bezug auf Mischna Ketubbot 1,2D, 4C; Niddah 5,4. Welche Abgründe tun sich hier auf! Als einzige Ausnahmen könnten Dtn 25,4 (»Du sollst dem Ochsen beim Dreschen keinen Maulkorb anlegen«) und Spr 12,10 (»Der Gerechte hat Verständnis für die Bedürfnisse seines Viehs, aber das Herz der Gottlosen ist grausam«) genannt werden. Verwiesen sei auf die Literaturangaben in A. Angenendt: Toleranz und Gewalt, S. 631-636, und N. Priesching: Sklaverei in der Neuzeit, S. 115-121.

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ihren Kindern den Glauben zu erklären, Sklavinnen würden sich erlauben, vor ihren Herren den Mund auf zu machen.66 Origenes (182-254) wies dies zurück, und auch Apologeten des 2. Jh. wie Justin und Athenagoras, die im Allgemeinen das negative Urteil ihrer Zeitgenossen über Sklaven teilten, erklärten, dass christliche Sklaven tendenziell loyaler seien als nicht christliche. »Unterordnung unter weltliche Herrscher in Form eines gehorsamen Dienstes [wird] gar zum Aushängeschild eines loyalen christlichen Untertans.«67 Sklav*innen hatten in der römischen Gesellschaft einen schlechten Ruf. Sie galten als arbeitsscheu, unehrlich und diebisch, immer bereit ihrer Herrschaft zu schaden und oder zu fliehen. Mit einem Eintreten für die Sklaven konnten die Christen in der besseren Gesellschaft nicht punkten. Bezeichnend ist vielleicht der Fall des ehemaligen Sklaven Calixtus, der von 218-223 Bischof von Rom war. Wir wissen von ihm nur durch seinen Gegner, den Kirchenschriftsteller Hippolyt von Rom (ca. 170-235). Hippolyt zeichnete ein düsteres Bild von Calixtus: Er habe die Armenkasse der Gemeinde beraubt, sei geflohen, sei überhaupt ein Schurke gewesen. Alle üblichen Vorurteile gegen Sklaven bietet Hippolyt auf, um seinen Rivalen schlecht zu machen. Inhaltlich lag er mit Calixtus in Fragen der Sexualmoral und des Eherechts auseinander. Calixtus hatte Frauen der oberen Klassen erlaubt, im Konkubinat mit Männern die niederen Klassen, also auch mit Sklaven, zu leben. Für Hippolyt war dies ein Skandal, ein Bruch mit dem römischen Recht und dem guten Herkommen.68 Schon innerhalb der Kirche waren der Emanzipation der Sklaven also enge Grenzen gesetzt. In einigen Gemeinden war es offenbar geschehen, dass Sklaven aus Mitteln der Armenkasse freigekauft worden waren, aber Bischof Ignatius von Antiochien, aufgrund seines Martyriums ein prominenter Kirchenmann des 2. Jh., verwahrte sich streng dagegen. Umso leichter fanden sich Theologen und Bischöfe, die die Sklaverei verteidigten und mit theologischen Argumenten rechtfertigten. Einzige Ausnahme unter den heute noch bekannten Kirchenschriftstellern der Antike scheint Gregor von Nyssa (ca. 334-394) gewesen zu sein. Er ging von der Gottesebenbildlichkeit eines jeden Menschen aus und erklärte, dass die unsterbliche Seele eines Menschen mit keinem Geld der Welt gekauft werden könne. Entsprechende Dokumente über den Kauf von Sklaven hielt er für ungültig. Gregor war eng mit seiner Schwester Makrina verbunden, die eine asketisch lebende christliche Frauenkommune gegründet hatte.69 Mag sein, dass der Bischof des kleinasiatischen Nyssa zu seiner sklavereikritischen Haltung durch seine Schwester und ihr monastisches Gedankengut inspiriert worden ist. Die Beziehung zwischen Sklaverei und Mönchtum ist differenziert zu sehen. Klöster verstanden sich nicht als Asylorte

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Vgl. J. A. Glancy: Slavery, S. 64-68. Bei Celsus entsteht der Eindruck, die meisten Christen wären im 2. Jh. Sklav*innen gewesen. Einiges spricht dafür, dass dies zutreffend ist. N. Breitbarth: »Als Sklave ertrage ich die Sklaverei« (Oratio 11,2) – Tatians Aussagen zur Sklaverei in seiner Rede an die Griechen, in: N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 1-24, hier S. 17. Vgl. J. A. Glancy: Slavery, S. 67-70; P. Brown: Keuschheit, S. 162. Nach ebd., S. 166, hatte die Christin Marcia, Konkubine des Kaisers Commodus, sich für die Freilassung des Calixtus eingesetzt und ihn von der harten Arbeit in den Bergwerken Sardiniens nach Rom geholt. Vgl. J. A. Glancy: Slavery, S. 97-100. Von Gregor von Nyssa sind auch kritische Bemerkungen gegen Jesus Sirach und seine Ratschläge für die Sklavenhalter überliefert.

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für flüchtige Sklaven, aber Sklaven durften in Klöster eintreten, wobei die Rechte ihrer Besitzer zu wahren, das heißt die Sklaven in der Regel loszukaufen waren. In der klösterlichen Gemeinschaft herrschte Gleichbehandlung zwischen Freien und ehemaligen Sklaven. Freie, die ihre Sklaven mit ins Kloster gebracht hatten, durften sie dort nicht als Sklaven behalten. Der Grund für diesen Ansatz von Gleichstellung liegt nach Heike Grieser darin, dass das klösterliche Leben selbst nach dem Vorbild der Sklaverei gestaltet war: Es galten Eigentumsverzicht und Pflicht zur Arbeit, Unterordnung und der Verzicht auf Selbstbestimmung.70 Doch Klöster waren Sonderwelten mit eigenen Regeln. Für die Kirche in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit galt, was Glancy in dem lakonischen Satz zusammenfasst: »Calls fort he abolition of slavery did not resonate in ancient pulpits, to say the least.«71 Daran änderte sich, so die Forscherin mit vielen Belegen, auch nach der konstantinischen Wende nichts. Zwei Gesichtspunkte möchte ich im Rückblick auf das Verhältnis des Christentums zur antiken Sklaverei noch kurz ansprechen. Da ist zum einen das Verschweigen bzw. das Unsichtbar-Machen der Lage der sexuell ausgebeuteten Sklavinnen.72 Die Quellen sprechen nicht über Sex christlicher Sklavenhalter mit Sklavinnen. Warum nicht? Weil sie es nicht taten oder weil sie kein Problem darin sahen? Das Erstere ist unwahrscheinlich, das Zweite wahrscheinlich, denn man hatte aus christlicher Perspektive auch kein Problem mit der Züchtigung von Skav*innen. Das Schweigen über den Sex mit Sklavinnen kontrastiert eigenartig mit der sonst verbreiteten Hochschätzung der sexuellen Askese und ehelichen Treue. Johannes Chrysostomus (ca. 349-407) kommt doch auf das Thema zu sprechen, mit einem seltsamen Vergleich: Man würde als freier Mann auch kein Gewand tragen, das zuvor ein Sklave getragen hat, umso weniger eine Sklavin mit einem Sklaven teilen, der sie zuvor besessen hat. Ambrosius (339-397) verdammt den Ehebruch, sieht aber beim Sex mit Sklavinnen nur das Problem, dass sich die Sklavin über die Ehefrau erheben könnte wie Hagar über Sara. Ich verwende diese Beobachtung für einen Schluss vom Leichteren aufs Schwerere: Wenn schon für die sexuell ausgebeuteten Frauen keine Empathie vorhanden war, um wie viel weniger für Tiere. Den anderen Gesichtspunkt bringt Combes ein. Er registriert eine zunehmende Autonomisierung der Sklaverei-Metapher im christlichen Diskurs der Alten Kirche.73 Die Lage der Sklav*innen hatte sich in den ersten Jahrhunderten stark verändert. Das öffentliche Sklavenrecht hatte sich zu Gunsten der Sklaven weiterentwickelt, zugleich verschwamm der Unterschied zwischen Sklaven und anderen marginalisierten Gruppen. Der theologische Gebrauch der Metapher blieb von diesen Veränderungen weitestgehend unberührt. Man konnte vom Sklaven Gottes, vom Sklaven der Sünde und des Bösen, vom Loskauf aus der Sklaverei, von der Annahme als Sohn usw. reden, weil das binnenchristlich eingängige und überzeugende Bilder waren. Der Begriff Sklave konnte auch ein Ehrentitel sein, wenn man ihn mit dem Herrschertum Gottes und Christi in

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Vgl. H. Grieser: Antike Sklaverei und entstehendes christliches Mönchtum, S. 55-89; A. Angenendt: Das Frühmittelalter, S. 416. J. A. Glancy: Slavery, S. 91. Vgl. ebd., S. 80-89. Vgl. I. A. H. Combes: The Metaphor of Slavery, S. 169-172.

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Zusammenhang brachte. Nach Combes löste sich diese Rede mehr und mehr vom gesellschaftlichen Erfahrungskontext. Man kann dies, wie es Combes tut, als Beleg für relative Unabhängigkeit theologischer Metaphern von der Realität verbuchen. Man kann es aber auch auf die Herausbildung des Sklaverei-Dispositivs im Sinne Foucaults beziehen. Es entsteht ein selbstreferentieller Diskurs, ein ›Funktionswechsel‹: Ohne noch auf die Verarbeitung von Umweltdaten bezogen zu sein, rückt der Sklavereidiskurs in das Zentrum des christlichen Herrschaftssystems. Für das Folgende müssen wenige Angaben genügen. Zu zeigen ist nur, dass und in welchen Formen die Sklaverei das Christentum in der Geschichte begleitete. Für die Zeit nach dem Untergang des römischen Reiches notiert Angenendt: »In den germanischen Nachfolgereichen auf römischem Boden dürfte die Zahl der Sklaven die der Freien übertroffen haben.«74 Synoden des 6. und 7. Jh. beschließen Verbesserungen für die Lage der Sklaven: Erleichterung der Arbeit, Sonntagsruhe, das Recht zu heiraten und das Recht, Eigentum zu erwerben. »Ob und wie dies durchgeführt worden ist, entzieht sich allerdings unserer Kenntnis.«75 Während der Regierungszeit Karls d. Gr. »hat sich wesentlich auch die Situation der Sklaven gebessert.«76 Ihre mit Zustimmung der Herren geschlossenen Ehen durften nicht aufgelöst werden, das willkürliche Töten von Sklaven wie auch die willkürliche Steigerung der Arbeitslast und »nicht zuletzt auch die sexuelle Zudringlichkeit gegenüber Sklavinnen«77 wurden in Bußbüchern des 9. Jh. unter Strafe gestellt. Von einer »im Mittelalter geschehenen Sklavenbefreiung« zu reden, wie Angenendt es tut, und daraus abzuleiten, dass das Christentum zu einem »tiefen Wandel in den Grundlagen der Gesellschaft« beigetragen hat, »der in der Folge für die Geschichte des Abendlandes die größte Bedeutung gehabt hat«78 , dürfte allerdings zurecht zu rücken sein. Der Wandel bestand zunächst einmal darin, dass sich die ökonomische Struktur der Gesellschaft gewandelt hatte. Aus der Sklavenhaltergesellschaft wurde der Feudalismus. Aus Sklaven wurden Hörige bzw. Leibeigene. Ob dies eine Entwicklung zur Humanisierung und zu milderen Formen der Unfreiheit bedeutet, ist oft diskutiert worden. Nach Graeber war das Leben der »mittelalterlichen Leibeigenen nicht annähernd so mühselig wie das ihrer Vorgänger, der Sklaven«, die auf den römischen Landgütern eine viel größere Zahl an Menschen zu ernähren hatten als die Hörigen der Kirchen, Klöster und Burgen, deren Herren den Bauern der Umgebung Abgaben auferlegten.79 Nach Zeuske gibt es keinen wesentlichen Unterscheid zwischen Sklaverei und Leibeigenschaft. Leibeigene wurden nicht verkauft und infolgedessen auch nicht transportiert, sie hatten aber anders als die Sklaven für ihren Unterhalt zu sorgen, was in Krisenzeiten zu großen Entbehrungen führen konnte.80 Wenn auch die Leibeigenschaft als eine mildere Form der Sklaverei gelten kann,

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A. Angenendt: Frühmittelalter, S. 199. Ebd. Ebd., S. 358. Ebd. Ebd. D. Graeber: Schulden, S 266. Vgl. M. Zeuske: Sklaverei, S. 65-75.

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so ist es nach Priesching doch nicht angemessen, sie aus »einer Geschichte der Sklaverei auszuschließen«81 . Auch den Leibeigenen war die Verfügung über ihren Körper und dessen Arbeitskraft entzogen, das verbindet sie essenziell mit den Sklaven. Parallel zur feudalen Leibeigenschaft bestand auch während des Mittelalters die Sklaverei alten Stils weiter, mindestens in den christlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers.82 Große Sklavenmärkte gab es ab dem 12./13. Jh. in Livorno, Genua und Malta. Überwiegend wurden Menschen aus den slawischen Ländern (daher auch die Bezeichnung Sklave; der vom lateinischen servus abgeleitete Begriff serf wurde für die Hörigen verwandt) versklavt, teils zum Verkauf in Europa, teils zum Handel mit den islamischen Staaten. Einen Aufschwung nahm die Sklaverei im Zuge der Erschließung des Mittelmeer- und Schwarzmeerraums durch die italienischen Seerepubliken ab dem 13. Jh. Der Bedarf an Ruderern für die Galeeren konnte durch Kriegs- und Strafgefangene allein nicht gedeckt werden. Christliche und muslimische Korsaren bzw. Piraten83 machten in den sog. Korsarenkriegen zwischen dem 12. und dem 19. Jh. bei der Gegenseite Gefangene, um sie als Sklaven zu rekrutieren. Alle Mittelmeermächte – das Osmanische Reich, die nordafrikanischen Staaten, italienische Republiken, Spanien, Frankreich – waren daran beteiligt. Das Schicksal der Galeerensklaven kann man sich nicht schlimm genug vorstellen.84 Parallel zur gegenseitigen Versklavung gab es sowohl auf christlicher wie auf muslimischer Seite den Loskauf von Sklaven, derer sich bei den Christen vor allem Orden wie die Trinitarier und Mercedarier sowie städtische Behörden und Bruderschaften annahmen. Die Loskaufpraxis konnte auch Züge eines Geschäftsmodells annehmen: Man machte Sklaven, um sie zu einem guten Preis wieder loskaufen zu lassen. Nach Angenendt lag der Anteil der losgekauften Sklaven bei zwei bis vier Prozent.85 Mit der Expansion europäischer Mächte (Portugal, Spanien) nach Afrika und Indien ab dem 15. Jh. trat die Sklaverei86 in eine neue Phase ein. Christliche Europäer beteiligen sich am innerafrikanischen Sklavenhandel und stehen mit muslimischen Sklavenhändlern in Konkurrenz. Außerhalb der muslimisch dominierten Länder treten nun auch »Heiden« ins Visier der christlichen Sklavenjäger und -händler. Die Diskussionslage für die christliche Beurteilung der Sklaverei ändert sich dadurch. Kolonisierung und Mission geraten in eine Allianz, die man nur dialektisch nennen kann: Kolonisierung begünstigt ebenso die Mission wie sie dadurch behindert wird.87 Aus den Anfängen in Afrika und Ostasien entwickelt sich im 16. Jh. übergangslos der atlantische Sklavenhandel zwischen Europa, Afrika und (zunächst) Spanisch-Amerika. Die Sklaverei wird global und offenbart nicht nur darin ihre Rolle als »Akkumulationsmotor des entstehenden 81 82 83

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N. Priesching: Sklaverei in der Neuzeit, S. 3. Zum Folgenden ebd., S. 14-18; A. Angenendt: Toleranz, S. 216-219. N. Priesching: Sklaverei in der Neuzeit, S. 16: Korsaren (von lat. cursum, ital. corso: Beutefahrt) waren im Auftrag der Obrigkeit tätige Kaperfahrer im Unterschied zu den Piraten, die ohne Vollmacht auf Beutezug gingen. Dazu ebd., S. 35-45. A. Angenendt: Toleranz, S. 216; zur Loskaufpraxis N. Priesching: Sklaverei in der Neuzeit, S. 45-52; ausführlich N. Priesching/H. Grieser (Hg.): Gefangenenloskauf. Vgl. N. Priesching: Sklaverei in der Neuzeit, S. 52-75. Dazu die eindrücklichen Berichte von Jesuitenmissionaren in N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 264-281.

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Kapitalismus«88 . Die Massenproduktion in den amerikanischen Kolonien (Zucker, Kaffee, Tabak, Baumwolle) wäre ohne den massenhaften Einsatz von Sklaven nicht möglich gewesen. Die Kirche ist an der atlantischen Sklaverei teils direkt – so setzten auch die Jesuiten auf ihren Plantagen in Brasilien Sklaven ein89 – und teils indirekt beteiligt, insofern zumindest in der ersten Phase der europäischen Expansion nach Amerika das päpstliche oder theologische Urteil über die Berechtigung der Sklaverei noch als relevant erachtet wurde. Der geraffte Rückblick zeigt: Die Kirche hat bis zur offiziellen Abschaffung der Sklaverei im 19. Jh. während der ganzen Zeit ihrer Geschichte mit der Sklaverei koexistiert. Während dieser ganzen Zeit gab es von Seiten der Theologie und des päpstlichen Lehramts kein grundsätzliches Bedenken gegen die Versklavung von Menschen. Es sei an die Bulle Romanus Pontifex vom 8. Januar 1455 erinnert, in der Papst Nikolaus V. dem portugiesischen König für die bestehenden und zukünftigen Eroberungen Portugals in Afrika »die umfassende und unbeschränkte Befugnis [einräumt], die Sarazenen und Heiden und die übrigen Feinde Christi, wo auch immer sie sich aufhalten mögen, anzugreifen, aufzuspüren, zu bezwingen, niederzukämpfen und zu unterwerfen […] und die Bewohner [jener Länder] in immerwährende Sklaverei zu führen«90 . Die Beurteilung der Sklaverei erfolgt hier nach dem Kriegsrecht. An der Abolitionsbewegung, die seit dem 17. Jh. bei einigen außerkatholischen christlichen Gemeinschaften und einigen Aufklärern und Rechtsgelehrten greifbar wird, hat sich die katholische Kirche nie beteiligt. Als ein Dokument des katholischen Engagements für die Befreiung der Sklaven wird zuweilen der Apostolische Brief In supremo apostolatus von Papst Gregor XVI. vom 3. Dezember 1839 angesehen. Bei näherem Zusehen aber zeigt sich, dass der Papst nur die Sklavenjagd, den Sklavenhandel und die exzessive Ausbeutung der Arbeitskraft der Sklaven verwirft; dies sei gegen die Gerechtigkeit und Menschlichkeit und eines Christen unwürdig. Die Sklaverei als Institution wird nicht in Frage gestellt noch auch die Freilassung der in den Kolonien versklavten Menschen verlangt.91 Erst die Enzyklika In plurimis von Leo XIII. erteilt der Sklaverei eine klare lehramtliche Absage. Sie erschien 1888, dem Jahr, in dem Brasilien, die letzte große katholische Nation, die sie bislang noch aufrechterhielt, die Sklaverei abschaffte. Der Papst geht auf die frühere Rechtfertigung der Sklaverei durch Kirche und Theologie nicht ein, auch nicht auf die von Thomas von Aquin, dem er doch 1879 88 89 90 91

M. Zeuske: Sklaverei, S. 90. Vgl. N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 256-258. Zitiert nach ebd., S. 55f. Vgl. C. Prudhomme: L’Église, S. 14f. Prudhomme weist auf eine Studie von F. Renault hin, die die Beweggründe für die zurückhaltende Äußerung des Papstes erklärt: Man wollte in Rom einerseits nicht den Eindruck erwecken, sich dem englischen Druck zu beugen (Großbritannien hatte 1833 die Sklaverei abgeschafft und die Freilassung aller Sklaven in englischem Besitz – übrigens unter Entschädigung ihrer Besitzer – verkündet), andererseits wollte man katholischen Nationen wie Brasilien, die die Sklaverei noch praktizierten, nicht schaden. Vor allem aber sollte jede Nähe zu der Erklärung der Menschenrechte von 1789 vermieden werden, die der konservative Papst als Instrument des antikirchlichen Kampfes ansah.

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selbst den Primat in der katholischen Lehre zugesprochen hatte. In der Enzyklika wird die Sklaverei als verderbliche Folge der Entchristlichung der modernen Gesellschaft dargestellt. Die Kirche führe den Kampf für die Befreiung der Sklaven gegen das Neu-Heidentum und den Islam.92

Exkurs: Sklaven und Tiere bei den Quäkern Die Religiöse Gesellschaft der Freunde (Quäker) hat entscheidend zur Abschaffung der Sklaverei in der westlichen Welt beigetragen. Mich interessiert an dieser Stelle nicht der historische Aspekt93 , sondern die Frage, ob bei den Freunden ein besonderes Empfinden für die Vergleichbarkeit der Lage von Sklaven und Tieren vorhanden ist und sich ihr Einsatz für die Befreiung der Sklaven auch auf die Tiere ausweitet. Nun ist die Gemeinschaft der Quäker von der Überzeugung getragen, dass sich der Glaube nicht in Formeln und normative Bekenntnissätzen fassen, sondern sich nur im Zeugnis von Gläubigen ausdrücken lässt. Das Buch Quäker Glaube und Wirken, eine deutsche Überarbeitung des 1995 in London erschienenen Quaker Faith and Practice des Britain Yearly Meeting, ist deshalb auch kein Quäker-Katechismus, sondern eine thematisch geordnete Zusammenstellung von persönlichen Zeugnissen quer durch die ganze Geschichte der Quäker. Meine Auswahl hat deshalb etwas Beliebiges. Dennoch glaube ich in den Zeugnissen eine besondere Affinität zum Thema Sklaven und Tiere feststellen zu können. Kein Katechismus, aber doch eine in der Gemeinschaft offenbar recht verbindliche Sammlung stellen die Ratschläge und Fragen dar, mit denen das Buch einsetzt. Unter der Nummer 42 findet sich da Folgendes: »Die Welt gehört uns nicht, und über ihre Reichtümer dürfen wir nicht nach Belieben verfügen. Zeige liebevolle Achtung für alle Kreatur und trachte danach, die Schönheit und Vielfalt der Welt zu erhalten. Trage dazu bei, dass unsere wachsende Macht über die Natur verantwortungsvoll und mit Ehrfurcht vor dem Leben eingesetzt wird. Erfreue dich an der Herrlichkeit Gottes andauernder Schöpfung.«94 Diesem ökologischen Credo korrespondiert eine Aussage von Harvey Gillman von 1988. Er spricht über seine Auffassung von Wahrheit. »Ich glaube, dass es eine Kraft gibt, die göttlich, schöpferisch und liebend ist, obwohl wir sie oft nur in Bildern und Symbolen beschreiben können, die aus unseren persönlichen Erfahrungen und denen unserer Gemeinschaften entstehen. Diese Kraft ist ein

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Unter den in M. Seewald: Reform, genannten Formen lehramtlicher Selbstkorrektur wäre der Kurswechsel, den In plurimis vollzieht, wohl dem »Obliviszierungsmodus« zuzurechnen – eine Strategie, die darin besteht, »Korrekturen in der Lehre durch bewusstes Vergessen herbeizuführen« (ebd., S. 87f.). Dazu B. Carey/G. Plank: Quakers, sowie die Hinweise bei N. Priesching: Sklaverei in der Neuzeit, S. 111-113. Religiöse Gesellschaft der Freunde (Quäker): Quäker Glaube und Wissen, S. 27.

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wesentlicher Bestandteil aller Dinge, Menschen und Tiere, überhaupt alles Lebenden. […] Es ist eine Kraft, die paradoxerweise eine menschliche Reaktion erfordert. Wie wir erhält sie Energie durch die Gegenseitigkeit der Liebe. Sie will unsere Erlösung, sehnt sich nach unserer Zuwendung. Sie erschafft nicht Himmel und Hölle für uns, sondern gestattet uns, uns diese selbst zu schaffen. Dieser gefährlichen und furchteinflössenden Freiheit werden wir durch die Liebe ausgesetzt.«95 Rufus Jones bestimmt in einem Text von 1920 diese schöpferische Kraft, die menschliche Freiheit in ihre höchste Verantwortung ruft, näher als Schönheit. »Vielleicht ist die Art, in der Schönheit durchbricht, noch wunderbarer. Sie bricht nicht nur an einigen wenigen gut organisierten Stellen durch, sie bricht beinahe überall durch. Selbst die winzigsten Dinge zeigen sie und die erhabensten wie die Sterne. Was immer man durch das Mikroskop anschaut, ein wenig Schimmel zum Beispiel, ist voll Schönheit. […] Und dennoch hat Schönheit keine Funktion, keinen Nutzen. Ihr Wert liegt in ihr selbst, nicht außerhalb. Sie trägt ihre Daseinsberechtigung in sich selbst.«96 Von diesem Text können wir gleich in eine Aussage zu einer heutigen Problematik springen, zur Gentechnik. Übrigens ist es für dieses Buch charakteristisch, dass grundsätzliche Glaubensaussagen, stets in Nähe zu ethischen Herausforderungen stehen; eine Trennung zwischen ›Dogmatik‹ und ›Ethik‹ ist hier nicht gegeben. Auber Carroll und Grace Jantzen erklären 1994: »Wir erkennen die enormen Möglichkeiten der neu entwickelten Gentechniken […] Moderne Anwendungen der Biotechnik im Pflanzen- und Tierreich begünstigen bisher vor allem Menschen in materiell reichen Ländern, auf Kosten der materiell Armen und auf Kosten der weltweiten Biodiversität. Die Fortsetzung dieser Technologien und ihrer Ausdehnung auf Menschen macht es besonders wichtig, dass Freunde mit Nachdruck darauf hinweisen, dass der ureigene Wert aller Lebensformen nicht auf ihre nützlichen Funktionen beschränkt ist und dass die Reichhaltigkeit der menschlichen Vielfalt nie auf die Ebene einer Ware gesenkt oder Marktkräften unterworfen sein sollte.«97 Der »Wert aller Lebensformen« und »die Reichhaltigkeit der menschlichen Vielfalt« werden einander zugeordnet und beide dem Nützlichkeitskalkül entzogen, wie es dem Ansatz bei der schöpferischen Kraft, die Bestandteil alles Lebenden ist, und bei der Schönheit, die selbst beim unscheinbarsten Lebewesen durchbricht, entspricht. Harvey Gillman entwickelt aus diesen Gedanken die Grundlage seiner religiösen Ethik: »Für einen Quäker ist Religion keine äußere Tätigkeit, die einen ganz besonders ›heiligen‹ Teil des Selbst betrifft. Sie bedeutet eine Offenheit der Welt gegenüber, in dem Hier und Jetzt mit dem ganzen Wesen. Wenn dies nicht lediglich ein frommer Gemeinplatz ist, so muss sie unser ganzes Menschsein berücksichtigen: unsere Einstel95 96 97

Ebd., S. 380. Ebd. Religiöse Gesellschaft der Freunde (Quäker): Quäker Glaube und Wissen, S. 427.

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lungen anderen Menschen gegenüber in unseren intimsten wie auch in unseren sozialen und politischen Beziehungen. Sie muss auch unser Leben in der Welt um uns herum in Betracht ziehen, die Art, in der wir leben, die Art, in der wir Tiere und unsere Umwelt behandeln.«98 Dass religiöse Tätigkeit ebenso das ganze Menschsein wie auch alle Lebewesen betrifft, wird man auch aus einem Text heraushören können, der aus der Hochphase der Auseinandersetzung der Quäker mit der Sklaverei stammt. 1772 erklärte die Jahresversammlung, auf der auch der bereits erwähnte John Woolman, ein führender Vertreter des Quäker-Abolitionismus zugegen war, das Folgende zur Sklaverei: »Es scheint, dass die Negerhaltung in unterdrückender und unnatürlicher Knechtschaft in einigen Kolonien von Quäkern so erfolgreich missbilligt wurde, dass sie sich erheblich vermindert hat. Wir begrüßen diese heilsamen Bemühungen und bitten ernsthaft um ihre Fortführung. Damit soll durch die Gnade göttlicher Vorsehung ein Handel so gnadenlos und ungerecht in seinem Wesen gegen eine große Zahl unserer eigenen Artgenossen, die genauso wie wir für die Unsterblichkeit geschaffen worden sind, von allem im rechten Licht betrachtet und vollständig abgeschafft werden.«99 John Woolman ist es auch, der in einem Text von 1763 erklärt, dass die Ungerechtigkeit, die der Sklaverei zugrunde liegt, gleichermaßen die Menschen und ihre Haustiere – gemeint sind die Nutztiere – betrifft. Zwar sei Ungleichheit der Besitzverhältnisse nicht an sich zu verwerfen, denn »solange die Besitztümer getreu dem Wohl aller verbessert werden, entspricht es der Gerechtigkeit. Der jedoch, der mit einer selbstsüchtigen Absicht anderen, zusammen mit ihren Haustieren, ein Übermaß an Arbeit aufbürdet und mit dem ihm daraus entstehenden Geld wieder andere für den Luxus seines Lebens anstellt, handelt dem gütigen Plan seines Schöpfers entgegen, dem die Erde wahrhaft gehört«100 . Auch Woolmans Vision einer gerechten Gesellschaft bezieht die Tiere ausdrücklich mit ein: »Wenn die Menschen allem Überfluss und dem Wunsch nach äußerer Größe entsagen und immer rechten Gebrauch von Gütern machten, könnten so viele mit der Herstellung von Sinnvollem beschäftigt sein, dass mit Gottes Segen für jeden ein zumutbares Ausmaß an Arbeit vorhanden wäre, um alle guten Zwecke für die Menschen und ihre Tiere zu erfüllen.«101 Ein Gefühl für die Zusammengehörigkeit von Mensch und Tier im Schlechten wie im Guten, in Unterdrückung wie in Freiheit, durchzieht die Tradition der Freunde. Es ist auch heute noch lebendig. Ein Zeugnis dafür ist die Aussage von Vera Haley von 1988:

98 99 100 101

Ebd., S. 185. Ebd., S. 290. Ebd., S. 189f. Religiöse Gesellschaft der Freunde (Quäker): Quäker Glaube und Wissen, S. 190.

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»Wenn es richtig ist, dass wir Liebe und Mitleid für Menschen empfinden sollten, ist es sicherlich auch richtig, unsere Liebe und unser Mitgefühl auf Tiere auszuweiten, die Furcht und Schmerz auf ähnliche Weise fühlen können wie Menschen. Auch wenn sie nicht fähig sind zu sprechen, können wir sicherlich Furcht in ihren Augen und in ihrem Verhalten erkennen. Ich fühle, dass Vegetarier zu sein eine natürliche Weiterentwicklung für einen Pazifisten und einen Quäker ist.«102 Ich bin in diesem Text dabei, das Dispositiv der Sklaverei im Christentum zu beschreiben. Doch es gibt auch christliche Gemeinschaften, die sich diesem Dispositiv entzogen haben. Und schon entsteht ein Bewusstsein für die Zusammengehörigkeit versklavter Menschen und Tiere, welches man sonst in der christlichen Tradition vergeblich sucht. Das bedeutet aber auch, dass es möglich ist, sich dem christlichen Herrschaftssystem zu entziehen.

2.3

Theologische Motive und Strategien

Da die Sklaverei von den biblischen Anfängen an bis in die jüngste Zeit mit dem Christentum koexistierte, hatten Theologen reichlich Gelegenheit, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Unter Rückgriff auf das von dem Forschungsprojekt Priesching/Grieser erschlossene Material werde ich einige typische Argumentationen von Theologen vorstellen. In ihnen zeigen sich auch die Motive und Strategien um Umgang mit der Sklaverei. Gott befreite sein Volk aus Ägypten, weil es sein Eigentumsvolk ist »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus« (Ex 20,2). So stellt sich der Gott Israels am Sinai vor. Warum hat er die Israeliten aus dem Sklavenhaus geführt? Nach dem jesuitischen Exegeten am Collegio Romano Jean de Lorin tat er es, weil die Israeliten seine eigenen Sklaven sind. Lorin beruft sich auf Lev 25,42 und 55: »Denn sie sind meine Sklaven; ich habe sie aus Ägypten herausgeführt, sie sollen nicht verkauft werden, wie ein Sklave verkauft wird. […] Denn mir gehören die Israeliten als Sklaven, meine Sklaven sind sie; ich habe sie aus Ägypten herausgeführt, ich bin der Herr, euer Gott.«103 Gott hat bei der Befreiung aus Ägypten sein Eigentumsrecht an den Israeliten geltend gemacht und untersagt, dass sie sich je wieder unter fremde Herren begeben. Der Zusammenhang ist hier der in Lev 25,47-54 angeordnete Loskauf israelitischer Sklaven. Der Anspruch auf Loskauf gilt dann entsprechend nicht für Sklaven aus anderen Völkern. Diese mussten für immer Sklaven bleiben und an die Nachkommen ihrer Herren weitervererbt werden. Lorin zieht das Thema in seine Gegenwart und fragt, ob ein zum jüdischen Glauben konvertierter Sklave freikomme und verneint diese Frage. Warum, so erörtert Priesching, hat er überhaupt diese Möglichkeit erwogen? Konversion zum Judentum war doch in dieser Zeit verboten. »Möglicherweise diente der Hinweis auf eine jüdische Praxis zur Rechtfertigung der christlichen Praxis in der frühen

102 Ebd., S. 361f. 103 Übersetzung der neuen EÜ; ich setze aber »Sklaven«, wo im Text »Knechte« steht.

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Neuzeit, wonach muslimische oder jüdische Sklaven, die zum Christentum konvertierten, kein Recht auf Freilassung hatten.«104 Aus der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten erwuchs in dieser Auslegung, die vermutlich die richtige ist, kein Befreiungsimpuls für Sklaven aus den Völkern und keine Infragestellung der Sklaverei im Allgemeinen. Der Exodus bedeutet, dass die Israeliten bzw. die Christen, auf die hin der jesuitische Theologe seine Auslegung aktualisiert, aus der Hand eines fremden, unrechtmäßigen Herrn befreit werden, um in das Eigentum ihres rechtmäßigen Herrn überzugehen. Damit sind wir schon beim nächsten Thema. Sklave Gottes bzw. Christi sein; die Analogie Gott/Sklavenhalter Alle Menschen sind von Gott geschaffen und deshalb Eigentum Gottes. Sie haben von Natur aus das gleiche Verhältnis zu Gott, nämlich das der Sklaven zu ihrem Herrn. Untereinander sind sie Mitsklaven, seien sie nun auf Erden Sklavenhalter oder Sklaven, erklärt Basilius von Cäsarea.105 Soweit ersichtlich, folgert der kappadokische Theologe daraus keine Nivellierung der Eigentumsverhältnisse zwischen den Menschen. Auch Cornelius a Lapide, Jesuitentheologe des 16. Jh., erklärt zur Auslegung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen: Der Mensch ist Gott untergeben wie ein Sohn dem Vater, ein Sklave dem Herrn, ein Soldat dem Befehlshaben. Doch Cornelius begründete das Sklavensein gegenüber Gott nicht nur schöpfungstheologisch, sondern auch erlösungstheologisch. Christus hat uns aus der Sklaverei der Sünde losgekauft, auf dass wir in seinen Besitz übergehen. Basierend auf Eph 1,14, nach dem die Erlösung dazu führt, dass die Erlösten »Gottes Eigentum« werden, erklärt Cornelius die Christen als erworbenen Besitz Gottes und Christi.106 Die Erwerbung durch Christus geschieht rechtmäßig, denn er hat den Lösepreis bezahlt, wie es ausdrücklich in 1 Tim 2,6 heißt: »der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle«. Die Selbstbezeichnung des Paulus als »Sklave Christi Jesu« (Röm 1,1) erwähnt Cornelius in diesem Zusammenhang nicht, sie steht aber wohl im Hintergrund. Jedenfalls bedeutet die Erlösung, ausgehend vom Loskaufgedanken, die Befreiung von der Versklavung unter böse Mächte (Gesetz, Sünde, dämonische Mächte) zum Sklavensein unter Gott bzw. Christus. Sie ist ein Herrschaftswechsel, wobei vorausgesetzt wird, dass Gott ein gütiger und milder Sklavenherr ist. Die Beziehung der Sklaven zu Gott ist nicht wie sonst durch Furcht oder Hoffnung auf Belohnung geprägt, sondern durch Liebe zu Gott. Durch die Erlösung wird das Zwangsverhältnis zu einem freiwilligen, von gegenseitiger Liebe und Achtung getragenen Zustand, im 104 Vgl. N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 108f.; im Zusammenhang S. 107109. Lorins Auslegung steht im Einklang mit der neueren Exegese, wie Priesching mit einem Verweis auf den Leviticus-Kommentar von Thomas Hieke (2014) verdeutlicht: »Angehörige aus anderen Völkern hat JHWH nicht aus Ägypten befreit, sie gehören nicht als Sklaven zu JHWH und können daher durchaus als Sklaven verkauft werden.« 105 Vgl. A. Hasse-Ungeheuer: Basilius von Caesarea, S. 25-54, hier S. 33. Basilius verwendet das Argument auch gegen die Pneumatomachen, die die Gottheit des Heiligen Geistes bestritten. Wäre der Heilige Geist nicht göttlich, sondern ein Geschöpf, wäre auch er ein Sklave Gottes, vgl. ebd., S. 34. 106 N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 122: »aquisita possessio Dei et Christi«; im Zusammenhang ebd., S. 121-124.

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Extrem führt sie beim Sklaven Gottes zu einer völligen Selbstaufgabe aus Liebe zum Herrn. Der Übergang vom Zwang zur Liebe ist eine Grundaussage der thomistischen Theologie: Was unter dem Alten Gesetz aus Furcht und Zwang getan wurde, geschieht unter dem Neuen Gesetz Christi, dem Gesetz der Gnade, aus Liebe.107 Das gilt dann auch für das Sklave-Gottes-Sein, wie etwa der Theologe Benito Perera in seinem Vergleich zwischen der Sklaverei der Sünde, der sozialen Sklaverei und dem Sklave-GottesSein ausführt.108 Die in Liebe und Achtung sich vollziehende Sklavenbeziehung zu Gott wird dann auch zum Modell für die Beziehung zwischen Herrn und Sklave. Schon der Epheserbrief mahnt: »Ihr Sklaven, gehorcht dem irdischen Herrn … als wäre es Christus … erfüllt als Sklaven Christi von Herzen den Willen Gottes. Dient mit Hingabe, als dientet ihr dem Herrn und nicht den Menschen« (Eph 6,6f.). Johannes Chrysostomus mahnt im Rahmen dieser Analogie nicht die Sklaven, sondern die Herren. Er nutzt die Herr-SklaveBeziehung einerseits für die Beziehung zwischen Gott und Mensch und andererseits die Gott-Mensch-Beziehung für die Beziehung Herr-Sklave: »Was sie [die Herren] zurecht von ihren Sklaven erwarteten, nämlich Gehorsam, Demut, Pflichterfüllung, schuldeten sie umso mehr Gott als ihrem Herrn und Vater. Auch die Verantwortung irdischer Herrn für die Sklaven, beispielsweise im Blick auf eine gerechte und verdiente Strafe, parallelisiert Johannes Chrysostomus mit der notwendigen Strenge Gottes gegenüber den Sündern.«109 Wie tiefgreifend das Sklavereiparadigma die Gott-Mensch-Beziehung bestimmt hat und umgekehrt die Analogie von Herrschaft Gottes und Herrschaft des Sklavenhalters das Verständnis und die Praxis der Sklaverei, ist kaum zu ermessen. An diesem Punkt liegt das Zentrum des christlichen Dispositivs der Sklaverei. Nicht mehr Sklave, sondern Bruder Das Wort des Paulus an Philemon, den Herrn des Onesimus, steht leitmotivisch in der christlichen Geschichte: Du erhältst ihn zurück, »nicht mehr als Sklaven, sondern als Bruder« (Phlm 16). Hieraus speist sich das Humanisierungspotenzial in Bezug auf den christlichen Umgang mit Sklaverei. Die Sklaven sollten auch als Brüder (und Schwestern, das wird aber nicht ausdrücklich gesagt) angenommen und behandelt werden. Die Auslegungsgeschichte des Philemonbriefes zeigt indessen die Ambivalenz dieser Anweisung.110 Der Herr kann von seinem Sklaven jetzt nicht nur Gehorsam erwarten, sondern auch brüderliche Liebe – der Sklave soll dienen, und das auch noch aus Liebe. Damit stabilisiert Hieronymus, von dem diese Auslegung stammt, die bestehenden Verhältnisse. Die auf den ersten Blick so befremdliche Meinung des Theologen Antonio Perez aus dem 16. Jh., der Sklave sei nicht Person sondern Sache und schulde deshalb seinem Herrn keinen inneren Gehorsam, müsste in den Ohren von Sklaven dagegen ge-

107 Vgl. den Kommentar von O. H. Pesch: Das Gesetz, S. 736-739; H. Grieser/N. Priesching: Sklaverei und christliches Gnadenethos, S. 250-255: Auf dieser Linie legt Thomas auch den Phlm-Brief aus. 108 Vgl. N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 129-132. 109 H. Grieser/N. Priesching: Sklaverei und christliches Gnadenethos, S. 248. 110 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 231-302.

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radezu befreiend geklungen haben.111 Johannes Chrysostomus zieht wie eben erwähnt den Phlm zur Mahnung an die Herren heran, ihre Sklaven wie Brüder zu achten, aber aus der Analogie zur Gott-Mensch-Beziehung weiß er auch, dass Strenge und Strafen zuweilen unvermeidlich sind. Thomas von Aquin exemplifiziert am Phlm seinen Grundsatz, dass sich unter dem christlichen Gesetz der Gnade Gehorsam und Zwang in Liebestreue verwandelt – aber kann denn vom Sklaven eines ungerechten Herrn verlangt werden, dass er seinen Herrn liebt? Luther versteht den Phlm als »Exempel christlicher Liebe« und parallelisiert Paulus und Christus: »Christus habe sich bei Gott für die Menschen eingesetzt wie Paulus bei Philemon für Onesimus.«112 Zugleich hat aber Luther die Erwartung der Bauern, die christliche Freiheit für die Aufhebung ihrer Leibeigenschaft in Anspruch zu nehmen, entschieden zurückgewiesen. Cornelius a Lapide bezieht den Phlm ebenfalls auf die Verbrüderung zwischen Herren und Sklaven bei Aufrechterhaltung der Sklaverei als Institution. Den Herren dürfen die Sklaven nicht entrissen werden, das zeige das Vorbild des Paulus. Brüderliche Nächstenliebe zu üben und dabei die gesellschaftliche Ordnung nicht anzutasten – das schält sich nach allem als die christliche Haltung heraus, die auch in Bezug auf die Sklaverei Anwendung findet. Das System sollte bestehen bleiben und doch von innen her verwandelt werden.113 Nicole Priesching stellt in ihrem Buch über die Sklaverei im Urteil der Jesuiten eindrucksvoll das Engagement der Jesuiten für die Humanisierung der Sklaverei vor Augen, sei es in der Sklavenseelsorge, der Mission, beim Freikauf von Sklaven oder vielleicht in seiner besten Form beim »Jesuitenstaat« in Paraguay (1609-1768). Der »enorme persönliche Einsatz vieler Patres für eine Humanisierung« wird von ihr gewürdigt. Aber die Jesuiten können dennoch nicht als »Vorläufer des Abolitionismus gelten«114 . Warum sind sie es nicht gewesen? Nach den hier aufgeführten Punkten dürfte die Antwort klar sein: Die Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten wurde selbst in sklavenrechtlichen Gegebenheiten interpretiert. Schöpfungsund Erlösungsordnung begründen die Welt insgesamt als ein Sklavenhaus, und die Frage ist nur, ob man unter dem rechtmäßigen oder dem falschen Herrn dient. Und die Brüderlichkeitsethik des Christentums drängte nur auf innere Umgestaltung, nicht auf Änderung der Verhältnisse. Hat aber dann dieser Einsatz für Humanisierung nicht etwas zutiefst Widersprüchliches, ja Zynisches? Verinnerlichung Schon in der Bibel ist diese semantische Ausweitung der Sklaverei-Metapher überall präsent: Die Israeliten dienen den Göttern und Idolen als Sklaven und fallen damit von ihrem wahren Herrn und Gott ab. Paulus spricht von der Sklaverei der Sünde, des 111 112 113

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Vgl. N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 206-210. Perez nutzte das Argument, um christliche Sklaven von türkischen Herren von ihrer Gehorsamspflicht zu entbinden. Ebd., S. 256. Um noch einmal eine Stimme der Quäker zu zitieren: »Das Evangelium unseres Herrn Jesus Christus ist ein System des Friedens, der Liebe, der Gnade und des guten Willens. Der Sklavenhandel ist ein System des Betrugs und der Ausbeutung, der Gewalt und der Grausamkeit« (aus der Jahresversammlung 1822, in: Gesellschaft der Freunde: Quäker, S. 290). Die Konsequenz kann darum nur die Abschaffung des Systems der Sklaverei sein, nicht ihre moralische Verbesserung. N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 286.

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Gesetzes, der Begierde, der Elementarmächte und weiß sie eindrücklich zu schildern. Wer sich der Unzucht hingibt, wird nicht nur geistig, sondern bis in alle Dimensionen seines Leibes hinein Sklave einer fremden Macht: »Ihr gehört nicht euch selbst« (1 Kor 6,19). Röm 7 bringt das Verfallensein an die Macht der Sünde in dichtester Form zum Ausdruck: »Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das vollbringe ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bin nicht mehr ich es, der es bewirkt, sondern die in mir wohnende Sünde. … Ich elender Mensch! Wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leib erretten?« (Röm 7,19f.; 24). Darin steckt eine Evidenz, der wir uns heute, ohnmächtige Elemente des Systems Kapitalismus die wir sind, nicht verschließen können.115 Die Frage ist aber dann, wie sich diese innere Sklaverei zur äußeren, sozialen Sklaverei verhält. Die theologische Tradition beantwortete diese Frage in der Regel in einer Weise, wie sie zum Beispiel bei dem Jesuitentheologen Francesco de Toledo zum Ausdruck kommt. Toledo kennt eine dreifache Sklaverei: »1. Die Sklaverei des Gesetzes (servitus legis), 2. die Sklaverei der Sünde (servitus peccati)116 und 3. die Sklaverei in Folge der Ursünde (servitus corruptionis).«117 Mit dem ersten ist die Gesetzesfrömmigkeit Israels gemeint, mit dem zweiten die Unfähigkeit, das Gute zu tun oder überhaupt zu wollen, das dritte meint die allgemeine Schwächung der Menschennatur aufgrund der Sünde Adams. Toledo legt nun schriftkundig dar, dass und wie Christus von diesen drei Arten der Sklaverei erlöst hat. Von allen drei Arten hat er erlöst – »doch die äußere Sklaverei gehört nicht dazu« (Priesching). Das heißt also: Die christliche Tradition kennt eine echte Sklavenbefreiung. Sie ist abolitionistisch. Aber dieser Abolitionismus ist nur auf die innere Sklaverei bezogen. Die äußere bleibt bestehen. Nach Toledo ist das nicht tragisch zu nehmen, denn viel schlimmer, demütigender und niedriger als der äußere Status, ob frei oder versklavt, ist die Sklaverei der Sünde. Doch es bleibt die Frage, ob nicht die äußere Sklaverei, insofern sie Folge der menschlichen Korruptheit und/oder der Sünde ist, auch überwunden werden kann, wenn denn von der inneren Sklaverei befreit worden ist. Aber diese Frage wird, soweit ich sehe, in diesem Zusammenhang nicht mehr gestellt. Das Motiv der Verinnerlichung und Spiritualisierung versetzte die Theologen auch in die Lage, mit den Sklavengesetzen des Alten Testaments flexibel umzugehen. Was sollten sie sagen, wenn dort von Schuldenerlass, von der Freilassung im siebten Jahr, von der Pflicht zum Loskauf die Rede war? Zu einem guten Teil konnte man diese Bestimmungen auf den Umgang mit christlichen Sklaven anwenden. Gegenüber diesem literarischen Sinn überwog aber die Auslegung nach dem allegorischen Sinn: In all diesen Bestimmungen wurde auf geheimnisvolle Weise die Befreiung aus der Sklaverei der Sünde durch Christus vorausbedeutet.118 115 116

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Vgl. dazu T. Ruster: Von Menschen, Mächten und Gewalten. Eine große Rolle spielt hier Joh 8,34, ein Vers, der aufgrund divergierender Textfassungen unterschiedlich übersetzt und verstanden werden kann: »Jeder, der eine Sünde begeht, ist ein Sklave« oder »Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde«. Vgl. dazu I. A. H. Combes: The Metaphor of Slavery, S. 72-75. N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 126; zum Folgenden ebd., S. 125-132; A. Hasse-Ungeheuer: Basilius, S. 26-29. Vgl. A. Hasse-Ungeheuer: Basilius, S. 99-132.

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Mit der Strategie der Verinnerlichung des Sklavenmotivs hat die Theologie zweifellos viel für das neuzeitliche Menschenbild geleistet. Verkürzt gesagt: Anders wäre ein Siegmund Freud nicht möglich gewesen. Die Verinnerlichung machte es auch möglich, die Erlösungsbotschaft auszurichten, auch wenn sich offenbar in der äußeren Welt nichts geändert hatte. Sie wird aber auch als Strategie durchschaubar, von der Befreiung aus der Sklaverei zu sprechen, ohne von der Sklaverei zu befreien. Die Begründung der Sklaverei Der Auffassung des Aristoteles, dass es »Sklaven von Natur« gebe, Menschen nämlich, die aufgrund ihrer körperlichen Verfassung (starker, grober Wuchs) und ihrer mangenden Vernunftbegabung zur Leitung durch andere vorgesehen sind, hat sich die Theologie insgesamt nicht angeschlossen.119 Dagegen stand die Lehre von Gottesebenbildlichkeit der Menschen und ihrer daraus folgenden gleichen Würde sowie der Glaube daran, dass Christus für alle Menschen gestorben ist. Doch finden sich Ansätze einer naturrechtlichen Begründung der Sklaverei auch bei christlichen Autoren, teilweise noch ohne Kenntnis des Aristoteles. Für Basilius von Cäsarea gibt es drei Anlässe für die Sklaverei: Unterdrückung wie im Krieg oder bei Gefangenschaft, Armut (die jemanden oder Mitglieder seiner Familie zu Schuldsklaven macht) und schließlich mangelnde Vernunftbegabung und Tugendhaftigkeit. Für Menschen mit diesen Eigenschaften sei es notwendig und für sie selbst eine Wohltat, wenn sie von Weiseren geleitet werden. Basilius findet die biblische Grundlage für diese Meinung in der Erzählung von Jakob und Esau. Esau war »rötlich, über und über mit Haaren bedeckt wie mit einem Mantel« (Gen 25,25), Jakob dagegen hatte eine glatte Haut. Obwohl Esau der Ältere war, fiel der Erstgeburtssegen an Jakob. Der Vater Isaak verheißt ihm dabei die Herrschaft über seine Brüder: »Völker sollen dir dienen, Nationen sich vor dir niederwerfen. Sei Herr über deine Brüder, die Söhne deiner Mutter sollten dir huldigen« (Gen 27,29). Basilius sah hier begründet, dass der Geistesmensch Jakob als Herr über den animalischen Esau und seine Nachkommen eingesetzt wurde.120 Der Mailänder Bischof Ambrosius, der aus seiner abschätzigen Meinung über die Sklaven keinen Hehl macht, sieht es so wie Basilius: Der Sklave ist töricht, grob, unfähig sich selbst zu leiten; für ihn ist es nur gut, wenn er von anderen geleitet wird. Wir stoßen hier wohl auf die Haltung der römischen Oberschicht, der beide Theologen angehörten. Was aber, wenn jemand durch Zufall oder Unglück Sklave wurde, etwa als Kriegsgefangener? Ambrosius hatte darauf keine Antwort. Er konnte solchen armen Menschen nur raten, ihren niederen Stand zu nutzen, um Weisheit und Tugend zu erlangen, so wie es der biblische Joseph, der selbst nach der Überwältigung durch seine Brüder als Sklave nach Ägypten gekommen war, getan hatte. Ambrosius, von dem übrigens auch die stärksten frauenfeindlichen Argumente der ganzen Theologiegeschichte stammen, sprach sich auch gegen die Freilassung gebildeter oder von ihren Herren misshandelter Sklaven aus. Es gehöre zur

Zu dem Argument aus Aristoteles Politik vgl. N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 149-151 mit Stellenangaben. Die Politica des Aristoteles lag ab den 60er Jahren des 13. Jh. in lateinischen Übersetzungen vor; Thomas v. A. reagiert darauf in seiner späten Schaffensphase. 120 Vgl. A. Hasse-Ungeheuer: Basilius, S. 31-33.

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göttlichen Weltordnung, dass jeder in seinem Stand bleibe; ansonsten drohe das Chaos.121 Naturrechtliche Begründungen der Sklaverei finden sich immer wieder, wenn auch die Theologie in der Regel eine heilsgeschichtliche Erklärung der Sklaverei bevorzugte. Die Sklaverei ist Folge der Sünde, genauer der Ursünde. Augustinus ist es, der diesen Gedanken vollständig durchführt; Thomas folgt ihm im Wesentlichen.122 Am Anfang, im Paradies, waren alle Menschen gleich. Doch gab es auch da schon gewisse natürliche Über- und Unterordnungen wie die zwischen geistig und körperlich, vernünftig und unvernünftig, wertvoll und weniger wertvoll usw. Schon im Paradies hatten die Kinder den Eltern, die Frauen den Männern und die Tiere den Menschen zu gehorchen, aber sie taten es aus Liebe und natürlicher Unterordnung.123 Das Modell ist hier ein Haushalt unter einem würdigen pater familias. Thomas begründet die ursprünglichen Herrschaftsverhältnisse damit, dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist. »Ein gemeinschaftliches Leben ist aber nicht möglich ohne einen Vorgesetzten, dessen Absicht auf das Allgemeingut gerichtet ist.«124 Abgesehen von den naturrechtlichen Herrschaftsverhältnissen nimmt Thomas auch unterschiedliche körperliche und geistige Fähigkeiten der Menschen im Unschuldsstand an. Einige seien körperlich stärker, größer, schöner und glücklicher veranlagt gewesen als andere, einige seien an Wissen und Gerechtigkeit anderen überlegen gewesen.125 Während aber im Unschuldsstand sich diese Differenzen zugunsten des Allgemeinwohls ausgewirkt hätten, hätten sie durch die Sünde einen selbstsüchtigen und lieblosen Charakter angenommen. Die paradiesische Herrschaft geschieht zum Besten des Beherrschten, die sündige Herrschaft zum eigenen Vorteil. Und das ist nun der Fall bei der Sklaverei. Augustinus verdeutlicht dies im Anschluss an Gen 3,16 (»Nach deinem Mann hast du Verlangen, und er wird über dich herrschen«) für die Beziehung der Frau zum Mann. Vor dem Sündenfall war ihr Dienst am Mann ein »servitus dilectionis«, ein Dienst aus Liebe, nach der Sünde wird es zu einem »servitus cuiusdam condicionis«, einer Knechtschaft, die ihr aufgrund ihres Frauseins zukommt. Auch der Staat, so weiter Augustinus, entsteht erst aufgrund der Sünde. Die paradiesische Hirtensorge wandelt sich zu zwingender Gewalt. Damit ist die Sklaverei schon angelegt, sie tritt aber geschichtlich erst in Erscheinung durch die Verfluchung Hams.126 Wenn die Sklaverei Folge der Sünde ist, dann ist sie im freien und 121 122

Vgl. R. Klein: Sklaverei, S. 17-42. Vgl. R. Klein: Sklaverei, S. 87-115 zu Augustinus; zu Thomas von Aquin: K. Pultar: Sklaven von Natur aus?, S. 91-144, und N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten S. 151-155. 123 Die Theologen behandeln diese Fragen im Zusammenhang der Erörterung des »Unschuldsstandes« (status innocentiae), der nicht mit der in der Bibel geschilderten Zeit im Garten Eden identisch ist. Wäre die Sünde nicht dazwischengekommen, hätte der Unschuldsstand nach Gottes Willen weiterbestanden, es wären Kinder geboren worden usw. 124 Thomas v. Aquin: Summa Theologiae I, 96, 4, Übersetzung DThA. 125 Vgl. ebd., I, 96, 3 und 4. 126 Vgl. Gen 9,20-27. Ham, Sem und Jafet sehen ihren Vater Noach betrunken und entblößt im Zelt liegen. Ham schaut sich den nackten Vater an und erzählt davon seinen Brüdern, diese bedecken darauf die Blöße des Vaters. Als Noach aus dem Rausch erwacht, verflucht er Kanaan, den Sohn Hams: »Verflucht sei Kanaan, Sklave der Sklaven sei er seinen Brüdern. … Gepriesen sei der Herr, der Gott Sems, Kanaan aber werde sein Sklave« (V. 25f.). Die Stelle – bei der immer noch zu erklären war, warum Kanaan und nicht Ham selbst verflucht wurde – hatte eine zentrale Bedeutung

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willentlichen Handeln der Menschen begründet. Augustinus betont deshalb, dass Hams unzüchtiges Handeln aus persönlicher Sünde geschah, während sein Lehrer Ambrosius noch annahm, dass es aus Unwissenheit geschehen war (man kannte noch nicht die Wirkungen des Alkohols). Die Erklärung, dass die Sklaverei Folge der Sünde ist, nimmt die Sünde auf zwei Ebenen in Anspruch. Einmal als Ur- oder Erbsünde, aufgrund derer überhaupt erst Sklaverei möglich wird, und zum anderen als persönliche Sünde, aufgrund derer jemand zum Sklaven wird. Dabei richtet sich die theologische Reflexion nicht auf die Sünde der Herren, sondern die der Sklaven. Wie konnte man aber behaupten, dass jeder, der Sklave wurde, vorher gesündigt hatte? Nicht wenige wurden schließlich schuldlos versklavt, wie etwa die Kriegsgefangenen. Augustinus zieht für diesen Fall das Beispiel des biblischen Daniel heran. Dieser mag zwar persönlich unschuldig gewesen sein, aber da er Teil des sündigen Volkes der Juden war, wurde er zurecht versklavt. Wenn ein Krieg ein gerechter Krieg ist, dann ist es auch gerecht, dass die Beteiligten der ungerechten Seite, gegen die der Krieg geführt wird, als Gefangene versklavt werden. Was mit den Gefangenen der gerechten Partei ist, wird nicht gesagt. Doch am Ende konnte es Augustinus nicht gelingen, jedes einzelne Sklavenschicksal als Folge einer persönlichen Sünde zu erklären. Was ist mit dem frommen, guten Sklaven, der einem ungerechten und grausamen Herrn dient? Augustinus sagt nun: Gott hat nach dem Sündenfall eine Welt- und Herrschaftsordnung eingerichtet, die zum einen Strafe für die Sünde, zum anderen aber auch die Grundordnung für die sündige Welt ist. Diese Ordnung darf nicht aufgelöst werden, denn sie stammt von Gott.127 Dem ungerechten Herrn erklärt der Kirchenlehrer, dass er ein Sklave der Sünde ist und dafür dereinst seine verdiente Strafe erhalten wird, dem Sklaven sagt er, dass er sein Dasein als Übung zur Demut leben soll, um dann in den Himmel zu kommen. Diese irdische Herrschaftsordnung, der auch die Frommen angehören, hat die Aufgabe, den Bösen zu wehren. Und davon profitieren auch die Guten. Dazu gibt es auch in dieser Ordnung den natürlichen Unterschied zwischen den Besseren und den Schlechteren, den Stärkeren und den Schwächeren. Das römische Reich, so Augustinus, der stolze Römer, hat mit Recht die Barbaren unterworfen, denn es war ihnen überlegen. Und so herrscht auch mit Recht der Geist über den Leib wie über einen Sklaven, und der Herr über den Sklaven. Dass Augustinus die Sklaven als dumm, feige, geschwätzig, stets auf Flucht bedacht usw. beschrieb, passt zu diesem Argument. Dass die Theologie trotz der unübersehbaren gedanklichen Inkonsequenzen überhaupt noch eine Begründung für die Sklaverei geliefert hat, lässt auf die Absicht schließen, den bestehenden Zustand der Welt als im Einklang mit Gottes Willen stehend zu

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für die Rechtfertigung der Sklaverei, weniger jedoch im Mittelalter und in der Barockscholastik als im Amerika der Neuzeit. Die Legende, dass Ham schwarz gewesen sein soll, war im europäischen Mittelalter noch unbekannt; in den amerikanischen Südstaaten diente sie als willkommenes Argument für die Versklavung der Afrikaner. Vgl. N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 87-94 und N. Priesching: Sklaverei in der Neuzeit, S. 104-106 zur Rezeption des Textes. In diesem Sinne noch der Jesuitentheologie Benito Perera: Die Sklaverei ist hässlich und schimpflich. Aber da sie Gott als Strafe für die Sünde angeordnet hat, darf man nicht dagegen aufbegehren, das wäre Ungehorsam gegen Gott, vgl. N. Priesching/H. Grieser: Sklaverei im Urteil der Jesuiten, S. 129-132.

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erweisen. »Naturrechtliche« (wenn man denn diese Beobachtungen einer elitären Klasse so bezeichnen soll, die jederzeit in Rassismus umschlagen konnten und auch umgeschlagen sind) und theologisch-heilsgeschichtliche Muster mischen sich auf inkongruente Weise. Weder als Sklave noch als Herr konnte man dem Willen Gottes entkommen, denn die Sklaverei war von der Natur- und Schöpfungsordnung vorgezeichnet, von der Sünde verursacht und in der postlapsarischen Weltordnung von Gott angeordnet. Der Gedanke an eine Abschaffung der Sklaverei war unter diesen Bedingungen ausgeschlossen. Es blieb nur die Hoffnung auf die Auflösung dieser Weltordnung am Jüngsten Tag und auf das Leben in der kommenden Welt, zu dem die »Sklaven der Sünde«, gleich ob Herr oder Sklave, durch den Loskauf Christi eine Zugangsberechtigung haben. Sklavenrecht Von der Theologie war über ein vages Brüderlichkeitsethos hinaus für eine Besserstellung der Sklaven nichts zu gewinnen, geschweige für die Abschaffung der Sklaverei. So verlegten sich denn die von Priesching erforschten jesuitischen Theologen in ihrem unübersehbaren Humanisierungsbemühen auf das Recht. Sie bezogen sich auf das Naturrecht, das Völkerrecht, das im Codex Justinianus überkommen war, und auch auf das Kirchenrecht.128 So beschäftigte sich beispielsweise Luis de Molina mit den geltenden Rechtstiteln für Sklaverei, als da sind: Kriegsgefangenschaft, Strafe für schwere Verbrechen, Verschuldung und Selbstverkauf, Nachkomme einer Sklavin zu sein. Er hielt sie alle für gerecht. Doch hatte ihn eine eigene Untersuchung über den portugiesischen Sklavenhandel zu dem sicheren Schluss kommen lassen, dass diese Rechtstitel dort nicht bestehen. Er folgerte, dass die Sklaven dort freizulassen seien. Noch weiter ging Juan de Lugo, der nur Sklavenverhältnisse als rechtmäßig ansah, die aufgrund eines beiderseitigen Vertrags geschlossen wurden, so wie bei der Schuldsklaverei. Jemanden aufgrund des Kriegsrechts zu versklaven, sei zwar im Völkerrecht noch vorgesehen, diese Regelung sei aber zu revidieren. Dahinter stand die Frage, ob die Sklavenjagd in Afrika nach Kriegsrecht zu legitimieren sei. Die Jesuitentheologen gingen sehr restriktiv mit der Frage um, welcher Krieg ein gerechter Krieg sei. Ein anderer Rechtstitel wird von Gabriel Vasquez ins Visier genommen. Er untersucht die Frage, unter welchen Bedingungen ein eines Verbrechens verdächtiger Mensch zur Sklaverei verurteilt werden kann. Ist jemand allein auf Verdacht verurteilt worden, hat er nach Vasquez das Recht zu fliehen, selbst wenn er dabei zur Waffe greifen muss und den Richter oder seine Diener unabsichtlich tötet. Ausführlich wurden auch die Gründe für die Freilassung von Sklaven und Sklavinnen erörtert. Deren gab es neun, sie enthielten alle einigen Interpretationsspielraum. Die Jesuiten legten sie im Rahmen des von ihnen vertretenen moraltheologischen Probabilismus129 extensiv zugunsten der Sklaven aus. Juan de Lugo weiß um das Schicksal der Galeeren- und Bergwerkssklaven und hält es für so hart, dass deren Flucht gerechtfertigt ist.

128 129

Vgl. zum Folgenden ebd., S. 162-210. Das probabilistische Prinzip besagt: Wenn bei einer Handlung auch nur die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie ohne Sünde getan werden kann, dann darf sie getan werden.

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

Auch das Kirchenrecht enthält Ansätze eines Sklavenrechts, das sich die Jesuiten für ihre Anliegen zunutze machten.130 So galt zum Beispiel der Sklavenstatus als Weihehindernis wegen des »Defekts der Herkunft«. Wenn aber ein Sklave unerlaubt doch geweiht worden war, dann war die Weihe gültig. Der Sklave musste in diesen Fällen freigelassen werden (jedenfalls bei höheren Weihen), die Loskaufsumme musste der Bischof aufbringen. Beim Eherecht verhält es sich so, dass der Sklavenstatus kein Ehehindernis darstellt, es sei denn im Fall der Täuschung. Der Sklave oder die Sklavin kann auch gegen den Willen des Herrn heiraten, denn das Rechtsgut der Ehe steht höher als die Rechte des Besitzers. Aus dem gleichen Grund ist der Sklave/die Sklavin seinem/ihrem Ehepartner mehr verpflichtet als dem Herrn. Auf die Ehe mit einem/r Freien folgte in der Regel die Freilassung. Diskutiert wurde auch, ob die Regel, dass ein Kind einer Sklavin wiederum Sklave ist, in jedem Fall gilt. Gewohnheitsrechtlich war das dritte von einem Freien mit einer Sklavin gezeugte Kind frei, darauf wies z.B. Vincenzo Figliucci hin. Hatte eine Sklavin ein Kind mit einem Adeligen, war dieses in der Regel frei. Die Theologen und Kirchenrechtler des Collegio Romano gingen kreativ mit den Rechtsbestimmungen um, um ein Maximum für die Sklav*innen herauszuholen. Möglicherweise waren sie dazu auch durch ihren Glauben motiviert, nicht nur durch ein Humanitätsideal. Aber indem sie auf die rechtliche Ebene gingen, wechselten sie den Diskurs. Ihre Aussagen sind nicht mehr der Theologie zuzurechnen, sondern dem Recht. Letztendlich wurde die Sklaverei durch Gesetze abgeschafft; die Jesuiten sind von daher als Vorläufer des neuzeitlich-säkularen Umgangs mit der Sklaverei erkennbar.131 Loskauf/redemptio Für Arnold Angenendt ist es ein zentraler Gedanke: Der christliche Glaube an die Erlösung steht am Ursprung des christlichen Einsatzes für die Freiheit, speziell auch für die Freiheit der Sklaven. »Die eigene Erlöstheit durch Christus gebot Freiheit: Weil selber losgekauft, waren auch andere loszukaufen.« Indem er auf die von alters her bestehende Loskaufpraxis im Christentum verweist, zieht er die Linien weit aus: »Aufs Ganze gesehen gewann die Wirkung der im Mittelalter geschehenen Sklavenbefreiung bleibende Geltung und wurde europäische Selbstverständlichkeit.« Nur sei die »aus der Erlöstheit resultierende soziale Freiheitsgeschichte […] heute vergessen, weil uns die Vorstellung eines theologisch-kultischen ›Loskaufs durch Blut‹ unerträglich geworden ist.«132 Diese starke These muss sich zwei Fragen gefallen lassen: 1. Ob sich historisch beglaubigen lässt, dass das Loskauf-Motiv tatsächlich zur Überwindung der Sklaverei beigetragen hat, und 2. ob das Loskauf-Modell der Erlösung wirklich den Freiheitsgedanken befördern kann. Zum ersten Punkt hat Angenendt einige Schwierigkeiten zu zeigen, dass aus dem Ansatz bei der »eigenen Erlöstheit« ein christliches Engagement

130 Vgl. ebd., S. 214-239; K. Pultar: Sklaven von Natur aus, S. 122-126. 131 Nach M. Ressel: Rezeptionsskizze, S. 172-180, waren an der sklavereikritischen Debatte vor 1700 in den Niederlanden und Deutschland Juristen, Humanisten und Theologen beider Konfessionen beteiligt, die sich untereinander austauschten. So beriefen sich z.B. die niederländischen Voetianer in ihrem Eintreten gegen die Sklaverei auf den Katholiken Bartholomé de Las Casas. Dies bezeugt, dass der Diskurs nicht mehr unter theologisch-konfessionellen Vorzeichen geführt wurde. 132 Alle Zitate A. Angenendt: Toleranz, S. 214.

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für die Abschaffung der Sklaverei erwachsen ist. Ich verweise auf die Ausführungen im Abschnitt »Das Zeugnis der Tradition«, denen auch der Münsteraner Kirchenhistoriker der Sache nach nicht widerspricht. Die Enzyklika von Leo XIII. von 1888 kam »über hundert Jahre zu spät, um noch von effektivem Wert in der Antisklaverei-Kampagne zu sein«133 . Er muss einräumen: »Wirkungsvoll erst betrieben den Kampf gegen Sklaverei seit dem 18. Jahrhundert die englischen und amerikanischen Dissenters […]. Gerade die Dissenters aber bezogen ihr zentrales Argument weniger aus dem Naturrecht als vielmehr aus der Erlösungslehre, aus der Berufung auf den durch Christi Sühneblut bewirkten Loskauf, demzufolge die eigene Erlösung die Befreiung Anderer erfordere.«134 Die Aussage, dass die Dissenters (Quäker, Puritaner, Pietisten) ihre Motivation aus dem Glauben an den Loskauf bezogen, ist vermutlich nicht haltbar; ihnen kommt es nicht auf das damals am Kreuz geschehene Sühneopfer als vielmehr auf die gegenwärtige, innere Geisterfahrung an.135 Und des Weiteren ist hier natürlich zu fragen, warum die Kirchen, die eindeutig die Loskauf-Lehre vertreten, den angeblichen Freiheitsimpuls dieser Lehre nicht umgesetzt haben. Letztlich kann Angenendt außer auf diverse Humanisierungsbestrebungen nur auf die Praxis des Loskaufs von Sklaven verweisen. Aber diese ist, das haben zuletzt die Forschungen von Grieser/Priesching erwiesen, kein christliches Proprium, sondern wurde auch von Juden und Muslimen geübt.136 Zum zweiten ist nicht zu übersehen, dass das Loskauf-Motiv dem Sklavenrecht entstammt und die Sklaverei als Institution bestätigt. Christus hat die Sünder, die durch ihre Sünde dem Teufel als Eigentum zugefallen waren, losgekauft, in dem er den Lösepreis entrichtete. Er hat dafür gezahlt. Der Teufel als Besitzer der Sünder konnte zufrieden sein, denn nun hatte er statt der vielen Sünder den Gottessohn selbst in seiner Gewalt. Christus hat den höchsten Preis bezahlt, der auf Erden überhaupt zu bezahlen ist, nämlich das Blut des Gottessohnes. Eine größere Affirmation des Systems der Sklaverei ist nicht möglich. Dieser Umstand wird auch nicht durch die eher volkstümliche, in der Theologie jedoch immer wieder aufgegriffene Theorie von Betrug des Teufels gemildert. Demgemäß habe der Teufel gemeint, nun den Sohn Gottes der ewigen Verdammnis überantworten zu können – das wäre der endgültige Sieg des Teufels über Gott gewesen –, aber da sich Christus als Gottes Sohn der ewigen Verdammnis habe entziehen können, sei der Teufel betrogen worden. Den Preis, das Blut des Gottessohnes, hat er dennoch erhalten. Dazu zu nehmen ist noch die schon bei Paulus angelegte Vorstellung, dass die erlösten Menschen jederzeit wieder in die Sklaverei der Sünde zurückfallen können. Insofern bleibt der Teufel als Sklavenhalter weiterhin im Geschäft. Wäre der Teufel ein Mafioso, hätte Christus ihm das Schutzgeld entrichtet? Die Verlegenheit, in die die Loskauf-Lehre führt, ist selten bedacht worden. Bei einem Theologen des 19. Jh., Matthias Joseph Scheeben, ist sie bemerkt worden. Einige Sätze von

133 134 135 136

Ebd., S. 226 nach J. F. Maxwell: Slavery and the Catholic Church. Ebd., S. 224. Vgl. z.B. den Quäkerkatechismus von B. Holme: Deutsche Quäkerschriften, S. 176 zum Stichwort Erlösung. Vgl. N. Priesching/H. Grieser (Hg.): Gefangenenloskauf.

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

ihm seien zitiert, um zu zeigen, dass die Loskauf-Lehre dem System nicht entkommen kann, aus dem die Sünder befreit werden sollen. Scheeben erklärt zunächst dieses Modell von Erlösung. In ihm liege »die Loskaufung aus der Schuldhaft der Sünde und der rechtlichen Notwendigkeit, deren Folgen zu erliegen, oder die Einkaufung der Freiheit von der Sünde, sowie der Einkauf in die verlorene Freiheit der Kinder Gottes resp. der Rückkauf derselben«137 . Also eine Kaufhandlung, ganz im sklavenrechtlichen Sinn gedacht. Doch Scheeben merkt, in welche Ungelegenheiten er damit gerät. Man dürfe die Sache nicht zu »anthropomorphistisch« verstehen. »[B]ei der Loskaufung aus der Herrschaft des Teufels [handelt es sich] nicht um die Ablösung eines dem Teufel persönlich zustehenden Rechtes, sondern um die Ablösung und Auflösung der durch die Schuldhaft der Sünde bedingten und von Gott selbst aufrechterhaltenen strafrechtlichen Notwendigkeit, der Herrschaft des Teufels zu unterliegen, weshalb denn auch der Kaufpreis in unserem Falle nicht demjenigen zugeeignet wird, dessen Herrschaft aufgehoben, sondern demjenigen, dessen Reich wiederhergestellt werden soll.« Ein Kauf, bei dem der Käufer selbst den Kaufpreis bekommt? Obwohl doch Gott selbst die »strafrechtliche Notwendigkeit« des Geschäfts aufrechterhält? Der Ausweg, den Scheeben gehen will, führt nicht weiter, wie bei seinen folgenden Erläuterungen zur Beteiligung Gottes am Erlösungshandel deutlich wird. Die Erlösung ist nämlich nicht nur das Werk Christi, sondern auch das Werk Gottes, insofern dieser »kraft göttlicher Autorität und Vollmacht […] sein [Christi] Sühneverdienst effektiv gültig oder perfekt macht, m.a.W. dasselbe ratifiziert und die Annahme desselben von Seiten Gottes garantiert. […] Speziell bezüglich der Befreiung von der Sünde erscheint dadurch das Sühneverdienst als eine rechtsgültige Erwerbung dieser Befreiung in Gestalt einer vollkommenen ›Deckung‹ oder ›Auslöschung‹ der Schuld durch Zahlung eines Preises […].« Also ein rechtsgültiges Geschäft, dessen Rechtlichkeit durch Gott selbst ratifiziert und garantiert wird – ein Geschäft auf dem Sklavenmarkt, wo Gott als Einkäufer und Marktaufseher in einer Person mit dem Blut seines Sohnes den Preis für den Loskauf der Sünder aus der Gewalt des Teufels zahlt. Es ist diese unlösbare Verbindung an die Sklavenhaltergesellschaft und ihr Recht, die es verhindert hat, dass aus der Loskauf-Lehre Befreiungsimpulse erwachsen sind.

137

M.J. Scheeben: Handbuch der Katholischen Dogmatik, S. 172. Zitate im Folgenden ebd., S. 173f. Vgl. T. Ruster: Wem gehört die Zukunft?, S. 232-251, mit dem Nachweis, dass auch die anderen Erlösungsmodelle (Genugtuung, Verdienst, Opfer) jeweils das System affirmieren, von dem sie Befreiung versprechen.

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2.4

»Ob wir wollen oder nicht, wir sind Sklaven« (Augustinus)

Es ist heute in der Theologie weithin üblich geworden, Augustinus im Nachhinein an allem schuld gewesen sein zu lassen: an der Sexualfeindschaft der Kirche, der Kirche als amtlich-autoritärem Gebilde, der Vernichtung der Freiheit im Namen der Prädestination usw. Ich bin nicht ganz dieser Meinung.138 Da es sich hier darum handelt, ein Dispositiv im Sinne Foucaults zu beschreiben, folge ich dessen Annahme, dass ein Dispositiv niemals auf eine Person, ein Subjekt zurückzuführen ist; es entsteht vielmehr in komplexer Interaktion diskursiver, institutioneller, politischer und sozialer Faktoren.139 Aber es kann geschehen, dass im Werk einer Person ein Dispositiv besonders klaren Ausdruck findet, und das ist bei Augustinus in Bezug auf das Dispositiv der Sklaverei im Christentum der Fall. Die gesamte Menschheit ist nach Augustinus im Sklavenstand, es fragt sich nur unter wem. Dies sei kurz dargestellt.140 Schon der Sündenfall war ein Sklavenaufstand. Die Stammeltern lehnten sich aus Hochmut und Stolz gegen ihren Herrn auf. Sie missachteten seine Gebote. Sie wollten Gott nicht als Herrn anerkennen und selbst Gott sein. Es war eine Revolution. Gott straft sie und alle ihre Nachkommen mit der Strenge, die einem Herrn zusteht, der um die Aufrechterhaltung der von ihm vertretenen Ordnung besorgt sein muss. Er verdammt sie dazu, Sklaven der Sünde und der Begierde (servi peccati et concupiscentiae) zu werden. Das ist seitdem das Schicksal aller Menschen. Im Glauben an Christus können sie jedoch die Sklaverei der Sünde abwerfen und zu Sklaven Gottes (servi Dei) werden. Voraussetzung dafür ist die vorbehaltlose Anerkennung aller rechtlichen Bindungen der Sklaven an ihre Herren, wie sie Augustinus in seiner Zeit erlebte. Christus selbst ist zum Sklaven geworden (Phil 2). Augustinus erklärt daraus die zwei Naturen Christi – er hat zugleich die Gestalt Gottes und die Gestalt eines Sklaven (forma Dei et servi) –, den Gehorsam des Sohnes gegen den Vater und Christus als Vorbild der Niedrigkeit und Demut (humilitas). Die Juden sind Sklaven des Gesetzes durch die Furcht (servi legis per timorem). Nachdem das geistliche Gesetz der Liebe erschienen ist und die Juden dieses ablehnen, sind sie sklavisch an das Gesetz in seinem fleischlichen Sinne gebunden. Vor dem Kommen Christi war das Gesetz notwendig für die Erziehung der Menschheit, aber nach Christus führt es in die Sklaverei dem Buchstaben des Gesetzes gegenüber, wenn man noch an ihm festhält. Augustinus vergleicht die Juden mit Sklaven, die für ihre Herren die Bücher tragen – so tragen die Juden für die Christen das Alte Testament. Auch im politisch-rechtlichen Sinne sind die Juden die Sklaven jener, die erkannten, dass der menschgewordene Gottessohn die frühere Unfreiheit beendet hat.141 138 Vgl. T. Ruster: Vater der katholischen Kirche?, S. 131-152. 139 Vgl. M. Foucault: Dispositive, S. 132-143. 140 Das Zitat der Überschrift nach R. Klein: Sklaverei, S. 87, mit Verweis auf Augustinus: Enerrationes in psalmos 103,3;9 (Corpus Christianorum 40, 1507): »Nam velimus, nolimus, servi sumus.« Zum Folgenden ebd., S. 64-93. 141 Auch Thomas lehrt, dass die Juden die Sklaven der Kirche sind und leitet daraus das Recht ab, Sklaven der Juden, die zum christlichen Glauben konvertiert sind, ohne Entschädigung ihrer Besitzer frei zu sprechen, vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae, 2-2, 10, 10 (Hinweis aus K. Pultar: Sklaven von Natur aus, S. 118-122).

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

Die Ketzer (Augustinus spricht von den Donatisten) sind Sklaven des Bösen, die vor dem wahren Herrn geflohen sind (servi mali et fugitivi). Sie verdienen die gleiche Behandlung wie geflohene Sklaven und müssen notfalls auch durch das »Schlagen mit zeitlichen Ruten« zu ihren rechtmäßigen Herren (der Kirche) zurückgeführt werden. Die Heiden sind die Sklaven der Götzen (servi idolorum). Von diesen haben sie ihre schrecklichen Laster. Christen sollen sich von diesen Lastern rigoros fernhalten, zum Beispiel von Zirkusspielen und abergläubischen Praktiken wie der Astrologie. Auch der römische Staat, dessen Kaiser (Nero, Julian) der nordafrikanische Kirchenlehrer als schlimme Götzendiener zeichnet, muss deshalb als ganzer abgelehnt werden.142 Der römische Staat ist eigentlich kein Staat, weil es einem Staat zukommt, gerecht zu sein; Gerechtigkeit ist aber unter dem Dienst an den Götzen nicht zu gewinnen. Nach Augustinus ist die Welt ein einziges Sklavenhaus. Nur Gott der Herr ist kein Sklave. Augustinus ist fraglos der am meisten rezipierte Autor in der westlichen Christenheit. Die Theologiegeschichte ab dem 5. Jh. besteht eigentlich nur aus Anmerkungen zu seinem Werk. So auch in der Frage der Sklaverei.

3.

Das Erlöschen des Dispositivs – und was dann?

Es sollte gelungen sein, die Sklaverei als ein Dispositiv im Sinne Foucaults zu beschreiben. Wir finden »Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen« etc. darin verwickelt. Sie kommen darin überein, »eine Praktik zu rechtfertigen«, die Praktik der Sklaverei, und sie dabei zugleich auch »zu maskieren«, was allein schon dadurch geschieht, dass die Stimme der Sklavinnen und Sklaven in den Diskursen der Sklaverei so gut wie nicht präsent ist.143 Mit meinem Beitrag wollte ich das leisten, was Foucault den »Aufstand der unterworfenen Wissensarten« nennt; damit sind gemeint »jene Blöcke historischen Wissens […], die im Inneren der funktionalen und methodischen Ensembles präsent und verschleiert waren und die die Kritik […] wieder zum Vorschein bringen konnte«144 . Hinter dem Schleier der Diskurse über die Bibel, über Gott und Christus, über 142 R. Klein: Sklaverei, S. 87, kommentiert: Damit »tat Augustinus wohl den schwierigsten Schritt, zu dem er durch den paulinischen Dualismus zwischen der Sklaverei der Bösen und der Freiheit der Gnade für die Kinder Gottes geführt wurde«. Schließlich war Augustinus Römer. 143 Vgl. dazu wieder M. Foucault: Dispositive, S. 199f. 144 Ebd., S. 60. In einem anderen Sinne versteht Foucault unter den »unterworfenen Wissensarten« die Wissensarten der Betroffenen, die »nicht qualifizierten, ja geradezu disqualifizierten Wissensarten (das Wissen des Psychiatrisierten, des Kranken) […] das Wissen des Delinquenten« (ebd.). Das wäre bei meinem Thema das Wissen der Sklaven. Davon ist aber zu wenig überliefert, um es, mit Foucault gesprochen, »wiederauftauchen« zu lassen. Dennoch stößt man in der christlichen Überlieferung hin und wieder darauf; ein Beispiel möchte ich anführen: In der »Legende von Sanct Eustachius« wird von einem römischen Offizier des 1. Jh. erzählt, der nach der Annahme des christlichen Glaubens völlig verarmt und schließlich aus seinem Heimatland fliehen muss. Bei der Überfahrt mit dem Schiff wird er unter Androhung des Todes gezwungen, als Fahrpreis dem Herrn des Schiffes seine Frau als Sexsklavin zu überlassen. Danach werden ihm seine beiden Söhne gewaltsam entrissen. Als dann Abgesandte des Kaisers bei ihm auftauchen, die ihn wieder in seine frühere Position zurückholen wollen, erkennen sie ihn, der sie als Sklave zu bedienen hat, nicht;

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Schöpfungsordnung und Erlösung verbirgt sich das Interesse an der Aufrechterhaltung der Sklaverei.145 Foucault hebt hervor, dass in einem Dispositiv »Macht, Recht und Wahrheit« miteinander verbunden sind.146 Das haben wir beim Dispositiv der Sklaverei gesehen. Dabei warnt er davor, die Bedeutung der »Wahrheit« zu unterschätzen. Wir »werden von der Macht gezwungen, die Wahrheit zu produzieren: sie fordert es, sie braucht sie, um zu funktionieren«147 . Unter Wahrheit ist dabei nicht das Offensichtliche und Überprüfbare zu verstehen, nicht »das Ensemble der wahren Dinge, die zu entdecken und zu akzeptieren sind, sondern das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet ist«148 . In den christlichen Zeiten fiel die Aufgabe, die Wahrheit zu produzieren, der Kirche zu. Ihre erste Regel lautete: Gott ist der Herr, alle Menschen sind Sklaven und haben ihm zu dienen. Wird diese Regel nicht beachtet, erfolgt eine rechtlich sanktionierte Strafe, die Versklavung unter die Macht der Sünde. Die mit dieser Verinnerlichung des Sklaventums vorgetragene Wahrheit hat es erwirkt, dass das Sklaverei-Dispositiv auch jene Bedingung erfüllt, die für ein Dispositiv charakteristisch ist. Macht wird nicht nur als Unterdrückung von oben nach unten ausgeübt, sondern wird verinnerlicht und dabei von den Individuen gegen sich selbst ausgeübt. Was ein Individuum im abendländischen Sinn ausmacht, ist entstanden aus der Zurechnung der Schuld an alle einzelnen und die Aufforderung, diese Schuld in sich aufzufinden, sie zu bekennen und sich selbst zu disziplinieren. »Die Macht geht durch das Individuum, das sie konstituiert hat, hindurch.«149

sie erkennen ihn erst, als er sich gewaschen hat (nach Ausgabe der Legenda Aurea von R. Benz, S. 821-828). In dieser wohl ursprünglich volkstümlichen, später stark theologisch überarbeiteten Legende kommen der Schmerz über die erzwungene Trennung von den Familienangehörigen sowie der Verlust der eigenen Identität aus der Perspektive eines Sklaven zum Ausdruck. 145 Sehr wirkungsvoll gesponnen findet man diesen Schleier in der Enzyklika In plurimis von Leo XIII. (1888), die die Absage der katholischen Kirche an die Sklaverei vollzieht. Der Papst behauptet jetzt, die Sklaverei sei »ganz gegen die ursprünglich von Gott und der Natur gesetzte Ordnung« (Abschnitt 25). Sie wurde dennoch im »heidnischen Altertum« praktiziert. Als aber Christus erschien, hat er die Sklaven »erbarmungsvoll aus der Erniedrigung und dem Elend der Sklaverei erhoben« (27). Die Kirche in ihrer Klugheit ließ sich aber Zeit mit der Abschaffung der Sklaverei. »Sie wollte nämlich die Freilassung der Sklaven und ihre Beschenkung mit voller bürgerlicher Freiheit nicht übereilen, was sicher nicht ohne Aufruhr, nicht ohne Beeinträchtigung der Sklaven selbst und nicht ohne Schädigung des Staates geschehen konnte« (29) (A. Utz/B. von Galen (Hg.): Die Katholische Sozialdoktrin, S. 412-441, hier S. 415, S. 419, S. 423.) Tatsächlich ließ sie sich Zeit bis 1888. 146 M. Foucault: Dispositive, S. 75. 147 Ebd., S. 76. 148 Ebd., S. 53. 149 M. Foucault: Dispositive, S. 83. Von daher wären die Verbindungen des Dispositivs mit dem der Sexualität, dem Foucault seine Untersuchungen gewidmet hat, aufzuweisen, vgl. ebd., S. 104-117. Es ist nach Foucault für die Machtausübung der Neuzeit charakteristisch, dass sie das Schema Souverän-Untergebener zugunsten der Selbstdisziplinierung der Körper aufgibt, ebd., S. 89-93. In diesem Zusammenhang erwähnt er das Konzil von Trient und die von ihm ausgehende Praxis der Beichte, ebd., S. 127f. Beide Strategien, die Entdeckung der Sexualität und die tridentinische Beichtpastoral, stehen im Zusammenhang mit dem ökonomischen Imperativ der industriellen Gesellschaft. »[D]a der menschliche Körper ab dem 17.-18. Jahrhundert im wesentlichen zur Produktivkraft geworden war, wurden sämtliche Formen der Verschwendung, die nicht auf die

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Im Sklaverei-Dispositiv wird das Leid der zur Arbeit gezwungenen Tiere nicht gesehen. Das war zu zeigen. Das Dispositiv hatte sich so herausgebildet, dass darin theologische, rechtliche und moralische Diskurse eine Rolle spielen, die alle auf Tiere nicht anwendbar sind. Weder steht das Tier vor der Frage nach der rechten oder der verkehrten Beziehung zu Gott, noch steht es unter dem Fluch der Sünde, noch ist es zur Erkenntnis seines inneren Gebunden-Seins an die Macht der Sünde fähig, noch gelten für es die rechtlichen Bestimmungen, die in Bezug auf die Sklaven ausgearbeitet wurden. Somit ist mit dem Sklaverei-Dispositiv ein wesentlicher Grund für die Tiervergessenheit der christlichen Tradition benannt. Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, dass das Herrschaftsverhältnis, das gegenüber den Sklav*innen zur Anwendung kommt, strukturgleich ist mit dem Herrschaftsverhältnis gegenüber den Tieren. Thomas von Aquin zieht bei der Beantwortung der Frage, »ob Adam im Unschuldsstand über die Tiere herrschte«, genau die naturrechtlichen Argumente heran, denn wir auch bei der Begründung der Sklaverei begegnet sind. Der Mensch herrscht über die Tiere, weil das Unvollkommene dem Vollkommenen bzw. die weniger Klugen den Klügeren zu dienen haben.150 Dies sind zwei der drei Argumente, die er anführt. Es sind die aristotelischen Argumente, im Sinne des von Aristoteles proklamierten Sklaven von Natur aus. Tatsächlich verweist Thomas auch auf die Politik des Aristoteles. Das dritte Argument aber lässt sich nur auf die Tiere, nicht auf die Sklav*innen beziehen: »Da der Mensch nun, als nach dem Bilde Gottes geschaffen, über die anderen Lebewesen erhaben ist, so werden die anderen Sinnenwesen seiner Leitung angemessen unterstellt.«151 Genau an dem Problem, dass Menschen, die auch wie ihre Besitzer nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, ihnen als Sklav*innen untergeben sind, entzündete sich aber der theologische Sklavereidiskurs. In diesem sind die Tiere nicht präsent. Foucault erklärt: »Drittens [neben den zwei oben gegebenen Erklärungen] verstehe ich unter Dispositiv eine Art – sagen wir – Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand [urgence] zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.«152

Ausbildung der Produktivkräfte zurückzuführen und daher in ihrer Nutzlosigkeit in Erscheinung getreten waren, verbannt, ausgeschlossen, unterdrückt« (ebd., S. 84). Dies gilt gleichermaßen für das neuzeitliche System der Sklaverei wie für den Umgang mit Wahnsinnigen im Zuge der Psychiatrisierung wie für die sexuelle Disziplinierung. Zum Verständnis dieser Beobachtungen ist anzumerken, dass für Foucault die Kommunikation von Macht nicht auf einzelne Akteure oder Subjekte zurückzuführen ist. Er betont den »impliziten Charakter der großen anonymen Strategien«, die »Strategie ohne Subjekt« (ebd., S. 132). 150 T. von Aquin: Summa Theologiae, I, 96, 1 (DThA). 151 »Unde, cum homo sit supra cetera animalia, utpote ad imaginem Dei factus, convenienter ejus gubenationi alia animalia subduntur« (ebd.). Von einer »Erhabenheit« des Menschen über die Tiere ist im Original also nicht die Rede. 152 M. Foucault: Dispositive, S. 120.

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Als Beispiel nennt Foucault die sich am Beginn des 19. Jh. ergebende Notwendigkeit, die Arbeiter der ersten Schwerindustrien an dem Ort festzuhalten, an dem sie arbeiten. Es entstehen nicht nur Einrichtungen wie die Arbeitersiedlungen, die Verschuldung durch den Zwang zur Vorauszahlung der Miete usw., sondern ein ganzer Diskurs über die moralische Erziehung der Arbeiterklasse samt entsprechender Institutionen.153 Auf welche Art von Notstand oder Dringlichkeit antwortete das christliche Sklaverei-Dispositiv? Formal gesehen auf den Widerspruch zwischen Gleichheit vor Gott und gesellschaftlicher Ungleichheit. Konkreter gesagt auf die Spannung zwischen der Erwartung des bald kommenden Gottesreiches und dem Fortbestehen der Sklaverei. Wie sollte man den Sklavinnen und Sklaven vermitteln, dass sie frei in Christus sind, wenn man, wie in Korinth, noch nicht einmal mit ihnen zusammen das Mahl des Herrn einnehmen wollte? Wie sollte man die Verheißung am Pfingsttag vermitteln: »Auch über meine Sklaven und Sklavinnen werde ich von meinem Geist ausgießen in jenen Tagen, und sie werden prophetisch reden« (und dass diese Verheißung jetzt, an Pfingsten wahr wird, wie Petrus sagt), wenn selbst die ideale Schilderung der Gütergemeinschaft in Jerusalem von der Befreiung der Sklavinnen und Sklaven nicht mehr spricht? Vergleichbare Probleme stellten sich in der ganzen Christentumsgeschichte. Warum führte die Taufe von Sklaven nicht zu ihrer Freilassung durch ihre christlichen Herren? Auf diesen Notstand war das Sklaverei-Dispositiv bezogen, und es hat ihn, zumindest aus der Sicht derer, die nicht Sklaven waren, erfolgreich bewältigt. Der Hinweis, dass Dispositive auf einen historischen Notstand reagierten, ist für den Umgang mit dem klassischen christlichen Sklaverei-Dispositiv von Bedeutung. Der Notstand besteht nicht mehr in der historischen Form, wie immer man die gegenwärtigen Formen von Sklaverei einschätzen mag.154 Er besteht auch nicht mehr in Bezug auf die Ausbeutung der tierlichen Arbeitskraft, nachdem die Arbeit der Tiere größtenteils durch Maschinen ersetzt worden ist – wenn auch die Nachricht von Schwester Ellensint Scherzinger bezeugt, dass dies noch längst nicht in allen Teilen der Welt der Fall ist. Das Dispositiv hat seine strategische Funktion verloren, es ist erloschen. Einzelne der heterogenen Elemente mögen übriggeblieben sein in Sprache und Denken von Christ*innen und in der Struktur der Kirchen. Aber das, was sie zusammengehalten hat, eben das, was das Dispositiv ausmacht, ist aufgelöst. Das erklärt, warum auch die historische Problematik, die christliche Beteiligung an der Sklaverei fast über 2000 Jahre hinweg, weitgehend aus dem Bewusstsein verschwunden ist. Aber es lässt auch hoffen, dass sich neue Dispositive im Christentum bilden können. Der Notstand, der heute für das Christentum gegeben ist, besteht darin, dass die Botschaft von der Erlösung und der heilvollen Zukunft der Welt in Gott in hartem Widerspruch steht zu einer Lebensweise, in der die menschliche Spezies ihre Bedürfnisse auf Kosten und zu Lasten anderer Spezies rücksichtslos durchsetzt, und dass Christ*innen diese Lebensweise in der Regel teilen. Die Problematik ist nicht so verschieden von der, die früher durch die Sklaverei gegeben war. In beiden Fällen geht es um einen Grundwiderspruch zwischen Botschaft und gesellschaftlicher Praxis. Die aktuelle 153 154

Ebd., S. 132f. Vgl. zu den gegenwärtigen Formen M. Zeuske: Sklaverei, S. 212-244; M. Wagner: Moderne Sklavereien, S. 587-596.

»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

Klima- und Umweltkrise führt uns Menschen mehr denn bisher die Verwobenheiten des Lebens vor Augen. Praktiken und Diskurse müssen entstehen, die der Ko-Habitation des Lebens gerecht werden. Utopien des Multispezies-Miteinanders werden gesucht, die ein Miteinander von Mensch und Tier auf diesem Planeten vorstellbar werden lassen. Wie kann ein Denken jenseits von Speziesgrenzen gelingen? Über dieser Notlage, über dieser Dringlichkeit könnte ein neues Dispositiv entstehen. Wäre das Christentum daran nicht beteiligt, würde es seine Relevanz für die Gestaltung der Zukunft aufgeben und seine Erlösungsbotschaft dauerhaft diskreditieren. Religionen sind dazu berufen, zur »Politik der Wahrheit« beizutragen. Foucault, an sich sehr zurückhaltend mit Strategien für die Zukunft, spricht von der Möglichkeit, »eine neue Politik der Wahrheit zu konstruieren«. Dabei kann es nicht darum gehen, »die Wahrheit von jeglichem Machtsystem zu befreien – das wäre ein Hirngespinst, denn die Wahrheit selbst ist Macht – sondern darum, die Macht der Wahrheit von den Formen gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Hegemonie zu lösen, innerhalb derer sie gegenwärtig wirksam ist«155 . Die Sklaverei wurde im 19. Jh. abgeschafft, jedenfalls im Sinne einer anerkannten Rechtsform. Aber der Abolitionismus hat sein Ziel noch nicht erreicht. Immer noch werden Tiere wie Sklav*innen gehalten. Unsere Zeit zeichnet sich dadurch aus, dass jahrhundertelang stillschweigend geduldete gesellschaftliche Gewaltverhältnisse aufgedeckt und angeklagt werden. Die Me too-Bewegung wendet sich gegen sexuelle Übergriffe an Frauen, die Black-Lives-Matter-Bewegung gegen den fortdauernden Rassismus. Einige Anzeichen deuten darauf hin, dass nach Sexismus und Rassismus auch der Speziesismus immer stärker ins Visier einer für Gewalt und Unterdrückung sensibilisierten Öffentlichkeit gerät. Ein neues Dispositiv zeichnet sich ab, an dem auch Christinnen und Christen beteiligt sein könnten, wenn sie zuvor ihre Bindung an die Formen des früheren Sklaverei-Dispositivs reflektiert und überwunden haben.156   Zum Schluss noch zwei Nachrichten aus Brasilien. Die brasilianische Bischofskonferenz (CNBB) hat am 26.10.2017 gegen eine Gesetzesvorlage des Arbeitsministeriums protestiert, nach der die Regeln im Kampf gegen Sklavenarbeit gelockert werden sollen. Der Generalsekretär der CNBB sagte: »Diese Initiative hebt den hart erkämpften rechtlichen Schutz gegen Sklavenarbeit auf und beschränkt sie nur noch auf Zwangsarbeit. Der Mensch hat seine Größe, er hat seine Würde, und wir alle, so glaube ich, wollen uns als brasilianische Gesellschaft um unsere Brüder und Schwestern kümmern, die in harter Arbeit arbeiten, die wir nicht erzwungen sehen wollen.«157 Und am 07.07.2015 rief Dom Roberto Francisco Ferreria Paz, Bischof von Campos, zu einer Initiative zur Umsetzung der Enzyklika Laudato si‹ auf, die »die Förderung der

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M. Foucault: Dispositive, S. 54. Diesen Gedanken macht C. Blanke: Let my people go, S. 6-8, stark, meldet aber zugleich Zweifel an, denn »Christianity stubbornly refuses to play its part in liberating animals. […] So the unique Christian contribution is missing in this fight for more advanced ethics.« Agência Brasil: CNBB repudia e classifica de desumana portaria sobre trabalho escravo [OnlineDok.].

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Verantwortung für den Schutz und die Erhaltung der nationalen Biome, der Biodiversität und der Pflege und des Wohlergehens der Tiere« umfasst.158

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»Die menschliche Sklaverei wurde abgeschafft, die tierische geht weiter.«

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Die Souveränität der Tiere1 Überlegungen zu einer politischen Tiertheologie Marcus Held

1.

Würde als Tierrecht – eine unzureichende Konstruktion zweier egomorpher Grundbegriffe

In der aktuellen Debatte der Bioethik hat die Frage nach der Würde2 und dem Wohl3 des Tieres eine steile Karriere hinter sich.4 Der Begriff wurde als umfassendes Prinzip gefeiert, das versprach, dem Tier im moralischen Universum einen angemessenen Platz zuzuweisen.5 Die Tierwürde wurde zum Schlüsselbegriff für eine integrative Bioethik erklärt.6 Der Beitrag möchte sich nicht in den Chor der Kritiker einreihen, die in der Besinnung auf einen Würdestatus für Tiere eine Verletzung bzw. Relativierung des Menschenwürdekonzepts sehen.7 Grundlegend für die Abwehr der Übertragung des Würdebegriffes auf die Tiere mag jene Position stellvertretend in Anschlag zu bringen sein, die Friedrich Schiller vertrat, indem er dafür argumentierte, dass menschliche Würde erst dann entsteht, wenn sich der Wille des Menschen über seinen Naturtrieb erhebe: »Beherrschung der Triebe durch

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Der Beitrag wurde zum ersten Mal in einer stark gekürzten Version auf der Jahrestagung der European Academy of Religion in Bologna 2019 vorgetragen. Das dortige von Simone Horstmann, Thomas Ruster, Gregor Taxacher und mir konzipierte Panel bot ein Forum zum Austausch über die verschiedenen Perspektiven und theoretischen Zugriffe auf eine Theologie der Tiere. Vgl. K. Remele: Würde. Vgl. D. Wawrzyniak: Tierwohl. Vgl. P. Kunzmann: Würde, sowie B. Ladwig: Tierrechte. B. Ladwig: Tierrechte, S. 10-40. Vgl. P. Kunzmann/S. Odparlik: Eine Würde für alle Lebewesen. Wie H.-P. Breßler: Probleme, wohl richtig sieht, liegt die Schwierigkeit darin, dass, wenn von Würde die Rede ist, allzu oft und schnell der Denkhorizont der »Menschwürde« gedacht wird und der Würdebegriff in Anwendung auf Tiere entweder als Relativierung gegenüber der Stellung des Menschen gesehen wird, oder er dazu genutzt werden kann ihn als Abgrenzung bzw. Auszeichnung des Menschen gegenüber dem Tier andienlich zu machen.

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die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung. Auch die Würde hat ihre verschiedenen Abstufungen und wird da, wo sie sich der Anmut und Schönheit nähert, zu Edeln, und wo sie an das Furchtbare grenzt, zur Hoheit. Der höchste Grad der Anmut ist das Bezaubernde, der höchste Grad der Würde ist Majestät.«8 Schillers Position ist als intermediärer Raum zwischen Wesensmerkmal und Gestaltungsauftrag doppelt codiert und zeigt damit eine gewisse Affinität zur rechtstheoretischen Grundlagendiskussion, die bis heute noch fortwirkt: Zum einen wird von dem Willen des Menschen ausgegangen. Der Mensch kann durch die Einsicht und Einübung in sein moralisches Wesen seine Triebhaftigkeit überwinden. Zum anderen erscheint der Mensch als jenes Wesen, welches durch die Bedingung der Möglichkeit der Lebensgestaltung ein rational agierendes Kulturwesen ist, welches im Gegenüber zur Natur bzw. Naturhaftigkeit der anderen (Mit-)Kreaturen steht. Gerade jene doppelte Codierung des Würdebegriffes als Wesensmerkmal und Gestaltungsauftrag, welche wiederum eng mit vor- oder nachgeschalteten Argumenten des Autonomie- und Freiheitsstatus’ zusammenhängt, hat lange dazu beigetragen, die Abgrenzung und Auszeichnung des Menschen gegenüber dem Tier zu unterstreichen, ohne jedoch einen positiven Bezug zum Tier daraus ableiten zu können. Wird aber von der Personalität, nicht von einem anthropomorph überformten Begriff der Person9 und seiner Identität ausgegangen, so sehen die Abwehrargumente gegenüber der Tierwürde schon schwieriger aus, da Personalität sowohl eine passive Eigenschaft von Wesen, die an bestimmten sozialen Interaktionen teilnehmen, als auch die aktive individuelle Selbstorganisation bezeichnen kann. Es handelt sich dabei nicht nur um ein Bewusstseinsphänomen, sondern auch um eine ethische Bestimmung, die eng verwandt ist mit dem Prinzip der Individualität, welches Tieren aber schwerlich abgesprochen werden kann. Es bleibt vielmehr danach zu fragen, warum die deutsche Rechtsprechung sich so schwertut, Tiere unter die Schutzbestimmungen der Würde zu stellen. Eine mögliche Antwort liegt in der vorpositivistisch-naturrechtlichen Prägung des Würdebegriffes, welche verhindert, dass Tiere nicht als Objekte behandelt werden, sondern in ihrer Personalität und Individualität gewürdigt werden und somit auch auf sie die Dürig’sche Objektformel angewendet werden könnte. Der damit einhergehende Befund ist, dass Tiere bisher nicht unter das Instrumentalisierungsverbot fallen, wie es in der Objektformel in Anschluss an Immanuel Kant und in der Rezeption durch Josef Wintrich10 Eingang gefunden hat: Tiere werden als Sachen betrachtet. Diese Auffassung gipfelt darin, dass es für legitim gehalten wird, ihnen Leid zuzufügen. Jene Auffassungen, Tiere als Objekt/Sache zu behandeln, sind im Recht und im allgemeinen Bewusstsein

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F. Schiller: Armut, S. 483. P. Singer: Liberation; M. Midgley: Beast; dies.: Animals. An der Biografie des zweiten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes scheiden sich bis heute die Geister. Wie aber bisher feststeht, speist sich sein für die verfassungsrechtlichen Diskussionen relevanten Perspektiven seiner Rechtsprechung in Bezug auf das Menschenbild aus der katholischen Soziallehre seiner Zeit.

Die Souveränität der Tiere

noch weit verbreitet. Daran haben auch Aktionen der radikalen Tierbefreiungsbewegung nichts geändert, die mit einiger Vehemenz gerade auf Tierrechte aufmerksam gemacht haben und dies als Legitimationsberechtigung für ihr Handeln ansehen. Zwar gibt es ein deutsches Tierschutzgesetz, aber dessen Handlungsnormen speisen sich aus rechtspositivistischen und naturrechtlichen Grundlagen. Die Problematik der Begründung der Würde der Tiere wurde auch in der Diskussion der Schweizer Verfassung erkannt und wurde durch Versuche abgemildert, hier von einer »außerhumanen Würde« zu sprechen. Doch bleibt der Befund bis heute bestehen, der schon 2003 von Antoine Goetschel und Gieri Bolliger formuliert worden ist: »Was unter der kreatürlichen Würde genau zu verstehen ist, bedarf jedoch der gesetzlichen Präzisierung, d.h. der Umsetzung durch Normen, die auf konkrete Rechtsfragen Antwort erteilen. Seit Einführung der Verfassungsbestimmung beschäftigen sich verschiedene Gremien damit, die ethische und rechtliche Bedeutung des unbestimmten Begriffs auszulegen. Die Auseinandersetzung mit dem Grundsatz der kreatürlichen Würde ist noch immer im Fluss, weshalb die Frage, welche konkreten rechtsethischen und -politischen Postulate daraus abgeleitet werden müssen, noch nicht abschließend beantwortet werden kann.«11 Halten wird zunächst fest: Der Versuch, über den Würdebegriff die tierethische Diskussion zu erschließen, führt zum Problem der fehlenden Rechtssubjektivität von Tieren. Und hier lauert schon die nächste Problematik, denn die bis heute geltende, aus dem Römischen Recht stammende Unterscheidung von »Person« und »Sache« rechnet Tiere dem Sachenrecht zu. Tiere sind in der Fluchtlinie dieser bis heute geltenden Rechtsauffassung als beliebig behandelbares Eigentum anzusehen. Allerdings – und dies ist die vielleicht (!?) gute Nachricht – wird in der Rechtstheorie seit geraumer Zeit das Kriterium des empfindungsfähigen Lebewesens diskutiert, welches mit der Tradition bricht, auch Tiere als beliebig traktierbare Sachen zu betrachten. Doch hier fällt es zunehmend schwer, eine Alternative zu dem für die säkularen Rechtsstaaten problematischen Rückgriff auf religiöses Vokabular wie »Mitgeschöpf« in Art. 1 des deutschen Tierschutzgesetzes oder der »Würde der Kreatur« in der schweizerischen Bundesverfassung zu finden. Dies macht zunächst nur auf die rechtsphilosophische Leerstelle aufmerksam, die es zukünftig zu füllen gilt. Ein Versuch, die Füllung dieser Leerstelle vorzubereiten, liegt in der Einführung der »lebenden Sache« in einigen Rechtsordnungen der deutschsprachigen Länder Westeuropas. Sie stellt den Kompromiss dar, den Wegfall der Sacheigenschaft der Tiere voranzutreiben, ohne das Sachenrecht und die daran anhängigen Rechtskomplexe zunächst vollkommen reformieren zu müssen. Es ist noch unklar, ob durch die Sachenrechtskategorie besondere Rechtspflichten in Bezug auf empfindungsfähige lebende Sachen entstehen. So schreibt die Philosophin Vanessa Lemm:

11

A. F. Goetschel/G. Bolliger (Hg.): Tier, S. 239. Vgl. auch den instruktiven Band von A. Deutsch/P. König (Hg.): Tier.

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»In der gegenwärtigen Debatte zum Problem des Tiers kann man zwischen zwei verschiedenen Verständnissen dessen unterscheiden, was dieses Problem beinhaltet. In der anglo-amerikanischen Tradition kreist das Problem des Tiers in erster Linie um den ethischen Status nichtmenschlicher Tiere, um die Frage, ob die Interessen von Tieren die gleiche Berücksichtigung verdienen wie diejenigen von Menschen und ob Tiere daher über Rechte verfügen. […] Im Gegensatz hierzu betrifft in der europäischen kontinentalen Philosophie das Problem des Tieres, des Status der Animalität des Menschen, die Frage, ob Kontinuität zwischen menschlichem und tierischem Leben nach einer Neubetrachtung unseres ›humanistischen‹ Verständnisses des Lebens, der Kultur und der Politik verlangt. Meine Annäherung an das Problem des Tieres gehört der zweiten Tradition an.«12

2.

Kann es ein Jenseits moralisch-funktionalisierter Argumentationsfiguren geben?

Wie durch die Auseinandersetzung um den Würdebegriff verdeutlicht wurde, ist dieser im tierethischen und -theologischen Kontext in vielerlei Hinsichten problematisch und für polysemische Anknüpfungen anreicherbar. Er ist damit sehr anfällig für Missverständnisse und Fehlschlüsse sowohl bezüglich seines normativen Gehaltes im Sinne eines Wesensmerkmals als auch als Gestaltungsauftrag. Dies führt letztlich dazu, dass der Tierwürde-Begriff als nicht operabel erscheint, da er die vorpositivistische, naturrechtliche und letztlich auf den Menschen konzentrierte egomorphische bzw. egozentrische Absättigung des Begriffes in letzter Konsequenz nicht überwindet. Damit wird letztlich ein ›Othering‹ betrieben, welches die Mensch-Tier-Differenz absolut setzt und nicht von einem Mensch-Tier-Verhältnis ausgehen kann, welches asymmetrisch-wechselseitig (aus)gestaltet werden kann und muss. Daneben basiert die Würdebestimmung auf einer reflexionstheoretischen Axiomatik, die eng mit der Frage der Wahrnehmung von Freiheit, Autonomie und Individualität verbunden ist. Dies wird auch daran ablesbar, dass das Gros der Würdediskussion sich mit Fragen nach ihren Kriterien13 oder Kerngehalten14 beschäftigt. Darin spiegelt sich aber auch die Begründungsproblematik der Tierethik wider, die, wenn sie als Bereichsethik entworfen wird, ein Problemfeld umreißt, für das im Hinblick auf Tiere spezielle ethische Normen denkbar sind, die aber noch nicht feststehen und somit erst zu entwickeln sind. Demgegenüber versteht sich die Tierethik als Teil der angewandten Ethik als die Anwendung einer allgemeinen, bereits feststehenden Ethik auf den Spezialbereich der Tiere. Die Problematik potenziert sich noch darin, dass je nach metaethischen Kriterien bzw. zugrunde gelegten Konzepten die Bereichsethik bzw. angewendete Ethik unterschiedliche Akzente aufweist. So wird eine deontologische Ethik im Umgang und mit Blick auf die Tiere zu anderen Schlüssen kommen als eine Folgenethik bzw. Verantwortungsethik, und eine tugendethische Betrachtung wird zu anderen 12 13 14

V. Lemm: Philosophie, S. 235. A. Steiger: Würde, S. 229. Vgl. auch M. Lintner: Mensch. A. Goetschel: Würde, S. 145.

Die Souveränität der Tiere

Betrachtungen als eine Gefühlsethik kommen. Hier wäre dem Befund von Norbert Hoerster15 beizupflichten, dass Würde zunächst eine Leerformel ist, mit der sich beliebige Werte und Konzepte verbinden lasse. Er nimmt je nach Abzweckung als Bereichsethik oder angewandte Ethik, mit ihren jeweiligen metaethischen Konzepten bzw. Typen, eine andere Gestalt an bzw. muss ihm ein jeweils anderer Ort zugewiesen werden, den er aber letztlich noch nicht hat. Die Problematik, die sich durch die Fokussierung auf die Würde ergibt, speist sich aber auch aus einer Totalidentifikation mit der von Menschen gequälten Tierwelt und der sich im Vorlauf oder im Anschluss ergebenden Diskussion um die Deklaration von Rechten, sowie den daraus sich ergebenden Fragen, ob dies nach Wesen verlangt, die autonom und frei sein müssen zu verstehen, was Rechte sind, und die willens und in der Lage sind, Rechtspflichten anzuerkennen oder sich selbst auferlegen können. Die Begründungsfigur der Tierrechtsethik über die Würde und die angelagerten Problemkomplexe der tierlichen Rechtspersonalität scheinen in vielen Fällen in eine Sackgasse zu führen. Es kann hier nur dem Gießener Rechtswissenschaftler Steffen Augsberg beigepflichtet werden, dass übertriebene Erwartungen bestehen, »weil auch eine noch so tierrechtsfreundliche Ausgestaltung eines menschengemachten Rechtssystems« die aus »der rechtlich nicht schlicht ignorierbare[n] Grenze zwischen Mensch und Tier« resultierende »grundsätzliche Asymmetrie nicht beseitigen [kann]«16 . Nach diesem recht abgekürzten Dekonstruktionsversuch17 der Würde und der Frage von tierlicher Rechtspersonalität18 , möchte ich den Vorschlag machen, die Theologie bzw. theologische Ethik der Tiere von der Souveränität der Tiere her zu denken, die als Beitrag zum ›animal turn‹19 verstanden werden kann. Dabei geht es auch darum, die modernen Tierethik mit ihren Fragen von Tierrechten20 und Gerechtigkeitsfragen21 , Werten und eben auch der Würdeargumentation zunächst zurückzustellen 15 16 17

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N. Hoerster: Würde. S. Augsberg: Anthropozentrismus, S. 362. Dekonstruktion kann als eine Denkmethode aufgefasst werden, die etwas in seine Bestandteile zerlegt, so dass man es in seinen Entstehungsbedingungen und Wirkungsweisen erkenntlich macht. Die wohl bekannteste »Definition« stammt von Jacques Derrida: »Was ich Dekonstruktion nenne, kann natürlich Regeln, Verfahren oder Techniken eröffnen, aber im Grunde genommen ist sie keine Methode und auch keine wissenschaftliche Kritik, weil eine Methode eine Technik des Befragens oder der Lektüre ist, die ohne Rücksicht auf die idiomatischen Züge des Gegenstandes in anderen Zusammenhängen wiederholbar sein soll. Die Dekonstruktion hingegen befasst sich mit Texten, mit besonderen Situationen, mit der Gesamtheit der Philosophiegeschichte, innerhalb derer sich der Begriff der Methode konstituiert hat. Wenn die Dekonstruktion also die Geschichte der Metaphysik oder die des Methodenbegriffs befragt, dann kann sie nicht einfach selbst eine Methode darstellen. Die Dekonstruktion setzt die Umwandlung selbst des Begriffes des Textes und der Schrift voraus. […] Ich nenne eine Institution ebenso wie eine politische Situation, einen Körper oder einen Tanz ›Text‹, was offenbar zu vielen Missverständnissen geführt hat, weil man mich beschuldigte, die ganze Welt in ein Buch zu stecken. Das ist offensichtlich absurd« (J. Derrida: Dekonstruktion, 11f.). Vgl. zu Begrifflichkeit und Methode der Dekonstruktion vgl. auch R. Feustel: Kunst. Vgl. C. Raspé: Person. Vgl. C. Murken: Animal; vgl. ebenfalls I. Bolinski/S. Rieger: Tier. Vgl. T. Regan: Rights; Vgl. ebenfalls ders.: Sacrifices; ders.: Defending; T. Regan/C. Cohen: Debate. Vgl. P. Singer: Animal.

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und vielmehr nach den Entstehungsbedingungen und Wirkungsweisen zu fragen, da diese Fragen allzu oft in einen Subjekt-Adressaten-Fehler führen, da von einer symmetrischen Beziehung zwischen Vernunftsgleichen und Freien ausgegangen wird, die eine abgeschlossene Rechtsgemeinschaft bilden.22 Wird von einer egomorphen-anthropozentrischen Perspektive abgerückt, die wie Peter Kunzmann formuliert darin bestehe, dass wir zu akzeptieren hätten, dass die Menschen zwar keine bedrohte Spezies seien, aber ein Mensch zu sein, ein bedrohtes Spezifikum wäre23 , so wird deutlich, dass es bei dem Begriff und der Begründung des moralischen Rechts von Tieren nicht damit getan ist, Inhalte von Rechten von Mensch und Tier miteinander zu parallelisieren. Vielmehr soll es im Weiteren um eine Auseinandersetzung mit der seit einigen Jahren prominent vertretenen Positionen gehen, die versucht, eine politische Theorie der Tierrechte zu formulieren. Durch diese Theorie soll zum eigentlichen systematische Punkt gelangt werden, nämlich dafür zu argumentieren, dass im Souveränitätsbegriff eine argumentativ-rhetorische Inklusionsfigur vorliegt, die es im Rahmen der Tierethik möglich macht, die Fragen von Rechten, Werten und letztlich auch der Würde als sekundäre Applikationen an die Souveränitätsperspektive anzuhängen.24 Freilich geht die souveränitätstheoretische Grundlegung von einem asymmetrischen Verhältnis von Mensch und Tier aus25 , basiert dabei aber nicht auf einem pflichtenethischen Grundgerüst und der damit verbundenen Kriteriologie der Person, sondern ist getragen von einer interessentheoretischen26 Grundhaltung einer Ethik der Verpflichtung.27 Eine asymmetrisch angelegte, interessentheoretisch grundgelegte Ethik unterscheidet zwischen personaler Verantwortungsinstanz, der gegenüber einer Person sich verpflichtet bzw. verantwortet (Gott, Gewissen, Richter etc.), und dem Verantwortungsgegenstand oder Sachbereich, für den eine Person Verantwortungspflichten übernimmt. Die sich darin äußernde souveränitätstheoretische Grundbestimmung des Tieres nötigt vielmehr dazu, von einer Ethik der Verpflichtung auszugehen. Diese Argumentationsfigur wird uns nach einer kurzen Zwischenbemerkung in Form der Diskussion des Ansatzes von Will Kymlicka und Sue Donaldson begegnen, die die kantische als asymmetrische Pflichtenanalyse auffassen (moralische Akteure sind rechtsethisch zur wechselseitige Respektierung ihrer äußeren Handlungsfreiheit verpflichtet) und mit jenen tugendethischen Achtungspflichten (Pflicht zur Respektierung der Möglichkeit der moralischen Autonomie vernünftiger Willensbestimmung in der eigenen Person wie in anderen Personen, wobei sie den Personenbegriff ablehnen) in ihrem Argument der tierischen Staatsbürgerschaft verbinden. Wie aber deutlich gemacht werden soll, ist die

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Vgl. T. Regan/C. Cohen: Debate; T. Regan: Animal Rights, Human Wrongs. Vgl. auch A. Flury: Status. Vgl. P. Kunzmann: Würde, S. 86. Skeptisch gegenüber dem Souveränitätskonzept bleibt B. Ladwig: Tierrechte, S. 341ff. Vgl. P. Münch/R. Walz: Tiere; vgl. ebenfalls P. Dinzelbacher: Mensch; E. Canetti: Über Tiere; P. Eitler: Gesellschaft; D. Brantz: Geschichte; S. Pearson/M. Weismantel: Tier. Vgl. B. Ladwig: Tierrechte, S. 134ff. Vgl. S. Critchley: Unendlich.

Die Souveränität der Tiere

Perspektive von Donaldson und Kymlicka geprägt von der Idee, Tiere als politische Akteure zu etablieren und ihnen von daher einen moralischen Status zuzugestehen, der wiederum aus einer handlungstheoretisch fundierten Ethikkonzeption herrührt.28 Es soll hier dafür argumentiert werden, das aus einer interessentheoretischen Perspektive angereicherte Souveränitätsdenken an die Diskussionen der politischen Philosophie als Programm der Ethik der Verpflichtung anzuschließen, um das Mensch-TierVerhältnis näher in den Blick zu nehmen. Es soll dabei zunächst der Einsicht von Donaldson und Kymlicka gefolgt werden, die in ihrem Buch Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte29 dafür argumentieren, dass jedes Wesen mit einem subjektiven Wohl, welches für sie aus der Möglichkeit der Erfahrung einer Innenperspektive ableitbar ist, unverletzliche Grundrechte haben sollte, dass aber diese Grundrechte ungleich sein können gegenüber jenen staatsbürgerlichen Rechten, die von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Gemeinschaft abhängen. Donaldson und Kymlicka unterscheiden zwischen einer depent agency und einer competent agency, die sie in Anlehnung an die »Citizenship-Theorie« entwickeln. Sie unterscheiden zwischen drei Tiertypen: dem domestizierten Tier, dem wildlebenden Tier und Tieren im Schwellenbereich als Einwohner. In Bezug auf domestizierte Tiere sprechen sie davon, dass wir diese als Mitbürger*innen betrachten sollten, die eine politische agency ausüben können, die in der Beziehungsgestaltung zum Ausdruck kommt. Während Wildtiere eine kompetente agency haben, muss bei domestizierten Tieren von einer abhängigen agency ausgegangen werden. Diese agency wird in vertrauensvollen und durch vertrauensvolle Beziehungen zu Menschen ausgeübt, die die Fähigkeiten und das Wissen haben, dieser agency Ausdruck zu verleihen. Durch diese von Vertrauen geprägte agency wird es Tieren möglich, an einer politischen Gemeinschaft zu partizipieren, wie Donaldson und Kymlicka argumentieren. Für Wildtiere und Grenzgänger gilt dies nicht, da sie zu einer kompetenten agency fähig sind, d.h. sie können ausreichend Sorge für sich und ihre Gemeinschaft tragen. Sie sind damit als Individuen autonom und ihre Gemeinschaft zeichnet sich gegenüber den gemischten Gemeinschaften von domestizierten Tieren durch Souveränität aus.30 Für Donaldson und Kymlicka sind Tiere Träger unverletzlicher Rechte und haben grundsätzlich das Recht, in Gemeinschaft zu leben. Dies betrifft allerdings zunächst nur die domestizierten Tiere. Für Donaldson und Kymlicka haben Tiere das Recht als Mitglieder der sich selbst regierenden Gemeinschaft angesehen zu werden und diese Gemeinschaft mitzugestalten, sowie ihre Interessen entsprechend berücksichtigt zu wissen. Wie Donaldson und Kymlicka unterstreichen, kann von einer vollen Souveränität nur bei Wildtieren ausgegangen werden, da nur bei ihnen von dem Wunsch und der

28 29 30

Vgl. die Kritik B. Ladwigs an der Position von S. Donaldson und W. Kymlicka: B. Ladwig: Tierrechte, S. 323. Vgl. S. Donaldson/W. Kymlicka: Zoopolis. Vgl. S. E. McFarland/R. Hediger: Animals; vgl. ebenfalls S. Wirth et al.: Handeln; B. Ladwig: Tierrechte, S. 306ff.

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Fähigkeit ausgegangen werden kann, außerhalb menschlicher Kontrolle in ihren eigenen, selbstregulierenden Gemeinschaften zu leben. Dabei konstruieren sie den Rahmen der Souveränität nur im Gegenüber zum Menschen, dass wildlebende Tiere unabhängige, selbstregulierende Gemeinschaften bilden, und dass ihnen daran gelegen ist, autonom und frei von menschlichen Einflussnahmen ihr Gemeinschaftsleben zu gestalten.31 Dabei hegen Donaldson und Kymlicka den Souveränitätsansatz allerdings so ein, dass sie ihn als Schutzbestimmung verstehen, die eine Gewährleistung der Souveränität als Sphäre der Unabhängigkeit und als schützenswertes Gut verstehen, und ihn somit letztlich als tierrechtstheoretische Prinzip in Anschlag bringen, das von einer Verhältnisbestimmung von Mensch und Tier ausgeht, aber nicht auf die Bestimmung des (moralischen) Eigenwertes von Tieren bzw. ihrer Rechte zielt. Vielmehr dient die Besinnung auf die Souveränität einer Wertbestimmung der fairen Bedingungen der sozialen Interaktion zwischen souveränen Menschen- und Wildtiergemeinschaften. Der von Donaldson und Kymlicka vorausgesetzte Status von Wildtieren lehnt sich an die Begrenzung des Souveränitätsdiskurses als Form des Argumentes der Selbstbestimmungsfähigkeit an. Die Selbstbestimmungsfähigkeit des Wildtieres wird aus der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit abgeleitet und als ein Abwehrrecht formuliert, welches in der Abgrenzung vom Zustand der Fremdbestimmung grundgelegt wird. Es stellt sich aber die Frage, ob nicht Souveränität als Abwehrrecht, wie es Donaldson und Kymlicka vorschlagen, zu sehr den Souveränitätsgedanken – und zwar unnötig – auf Wildtiere einschränkt – und ob ihre Einschränkung – wenngleich sie aus ihrem Ansatz heraus verständlich ist – nicht eine unnötige Verkürzung darstellt, weil sie damit der Souveränität als bio-politischem Argument nicht vorzeitig die Spitze nehmen, da hier ein Grundbegriff einer politischen Theologie des Tieres schlummern könnte. Allerdings steht auch der Ansatz von Donaldson und Kymlicka in der Gefahr einer differenzierten die Subsumierung von Tieren unter den Begriff der Rechtsperson anheim zu fallen. Ihre Position kann so verstanden werden, dass diese zu einer Naturalisierung des rechtsethischen Personenbegriffs und damit letztlich in die selbstwidersprüchliche Zerstörung der begründungstheoretischen Fundamente von Rechts- und Moralordnungen und in die naturalistische Logik der Macht des Stärkeren einmündet. Es kann aber nicht sinnvoll sein, durch Übertragung ethischer subjektphilosophischer Terminologie wie (Rechts-)Person, (Menschen-)Würde, Rechtssubjektivität auf außermoralische Entitäten wie Tiere die Differenz zwischen moralisch-praktischen Ordnungen einerseits und außermoralischen Naturordnungen begrifflich zu verschleiern und damit Wesen und Ursprung moralischer Phänomene wie v.a. moralischer Geltungsansprüche der vernünftigen Reflexion zu entziehen. Im Folgenden soll über eine Auseinandersetzung mit Jacques Derrida, der den Zusammenhang des Mensch-Tier-Verhältnisses mit der Sphäre der Politik über den Souveränitätsbegriff führt, das Souveränitäts-Argument von Donaldson und Kymlicka für eine metaethische Theoriebildung geweitet werden. Mit einer vom Denken Derridas angestoßenen Denkbewegung soll vom Tier her auf den Menschen hingedacht werden. Souveränität soll als Signatur des Tieres aufgewiesen und einige Folgerungen für eine tiertheologische Neuausrichtung vorschlagen werden, in dem die Souveränität als 31

F. Schmitz: Tierethik, S. 569.

Die Souveränität der Tiere

politisch-theologische Inklusionsfigur der Ethik der Verpflichtung aufgewiesen wird, die unmittelbar das Tier-Mensch-Verhältnis als Diskurs über die Frage der Alterität als Souveränitätsfigur dekonstruiert.32 Wie aber zuvor deutlich gemacht werden muss, ist Derrida außerhalb der Philosophie als sehr viel einflussreicher als innerhalb der Philosophie angesehen worden. Ein wichtiger Einflussbereich für unser Thema sind die sogenannten Human Animal Studies33 , die sich in angloamerikanischen Ländern schon längst etabliert haben, im deutschsprachigen Gebiet aber gerade erst vor ihrem Anfang stehen (von Frankreich etwa wollen wir diesbezüglich lieber schweigen). Hier gilt Derrida zu Recht als wichtiger Stichwortgeber. Das lesenswerte Buch mit dem zweideutigen Titel Thinking Animals. Why Animal Studies Now? Von Kari Weil beginnt mit den folgenden Worten: »›Ein Tier blickt uns an und wir sind nackt vor ihm. Vielleicht beginnt das Denken dort. Diese beiden Zeilen aus Jacques Derridas ›Das Tier, das ich also bin‹ sind oft zitiert worden, obwohl sie unbestimmt (elusive) und verführerisch (haunting) sind. Was hat es zu bedeuten, dass das Denken in der Konfrontation zwischen dem menschlichen und dem nichtmenschlichen Tier beginnt? Worin besteht dieses Denken, das zuvor nicht gedacht worden ist, oder das zuvor nicht vom Philosophen gedacht worden ist? Und worin besteht diese Nacktheit auf die uns die Begegnung mit einem Tier (mit einem individuellen Tier, nicht mit ›dem Tier‹ oder dem Begriff der Tierheit) zurückführt?«34 Jene Sphären bzw. die Problemkomplexe, die Kari Weil und auch Vanessa Lemm für getrennt halten, nämlich die anthropologische Differenz mit ihrer Grundfrage, ob es einen grundlegenden Unterschied zwischen Menschen und Tier gibt, und die Tierethik, mit ihrer egomorphen Frage, ob der Mensch gegenüber den Tieren direkte moralische Pflichten hat, sollen in den Überlegungen zur Souveränität zusammengeführt werden und radikal vom Tier her gedacht werden. Der Satz »Ein Tier schaut mich an« verweist auf die anthropologische Differenz, der Satz »Ein Tier geht mich an« hingegen auf die Tierethik. Beide verwischen aber, was eigentlich mit dem Ausdruck »Tier« und der Stellung zum Menschen gemeint ist. Durch die Betonung der Alterität »des« Tieres wird

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34

Wie sich dann zeigt, geht es zunächst nicht um die Frage nach der Gerechtigkeit aus der eine Notwendigkeit von Ethik herausgearbeitet wird, die auf dem Hintergrund des Postulates einer ethischen Erfahrung bzw. ethischen Subjektivität herausgearbeitet wird. Vielmehr soll aufgrund der ethischen Erfahrung einer ethischen Subjektivität (vgl. S. Critchley: Unendlich, S. 21ff.) von Tieren her der Souveränitätsbegriff eingeführt werden, da Tiere durch ihre Stellung zu uns eine ethische Forderung (vgl. K. Løgstrup: Forderung) an uns stellen, die uns verpflichtet sich uns zu ihnen in Stellung zu begeben die von der Faktizität ihrer Freiheit auszugehen hat (vgl. P. Pettit: Freiheit, S. 201f.). Vgl. als Einführung G. Kompatscher-Gufler/K. Schachinger/R. Spannring: Human-Animal-Studies. Aus der Vielzahl der in den letzten Jahren erschienen Handbücher sei hervorgehoben R. Borgards: Tiere; R. Brucker et al.: Mensch-Tier-Verhältnis; A. Ferrari/K. Petrus: Lexikon; K. Petrus/M. Wild: Animal Minds. K. Weil: Thinking Animals.

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meist versucht, über Similarität zum Menschen einen differentiellen Vergleichshorizont zu etablieren.35 Mit Derrida werden wir verstehen, dass dies die ungebrochene Fortsetzung der metaphysischen Bestimmung der ontologischen Differenz und somit nicht weiterführend ist.

3.

Konstellationen eines Gefüges: Das Mit-Sein und das Gegenüber von Mensch und Tier

Jacques Derridas Methodik besteht in der intensiven Lektüre von verschiedenen Texten, wobei in vielen Fällen der Lektüre scheinbare Marginalien in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. In seinen beiden letzten Seminaren aus den Jahren 2001 bis 2003, die unter dem Titel Das Tier und der Souverän36 , abgehalten wurden, liest Derrida Text u.a. von Blanchot, Defoe, Heidegger, Hobbes, Rousseau, Schmitt, Valery u.v.m. Durch seine Lektüren zeigt er die Vieldeutigkeiten und Undeutlichkeiten, Lücken und Sprünge, Bilder und Metaphern des Verhältnisses von Mensch und Tier auf. Seine Untersuchungen zeigen die Strukturparallelität von Metaphysik und dem Mensch-Tier-Verhältnis auf. Die Metaphysik konstruiert Unterscheidungen, vergisst aber diese Konstruktion und nimmt sie als naturgegeben an. Die Metaphysik privilegiert dabei stets ein Element einer solchen Opposition. Metaphysik und auch die theologischen Deutungen des Verhältnisses von Mensch und Tier durch bestimmte, von der Schöpfungstheologie her sich nahelegende Denkstrukturen und -kategorien, weisen durch die Zuweisung einer Priorität dem Menschen als moralisch handelndem Wesen einen Anspruch auf Vorrang und Herrschaft zu. Wie Derrida an vielen Stellen aufzeigt, beherrschen die hierarchisch-dichotomischen Gegensatzpaare die gesamte Metaphysik.37 Als Folge beherrschen sie auch das ethische, wissenschaftliche, politische und alltägliche Denken. Es ist vielleicht kein Zufall, dass im letzten Seminar von Derrida viele Linien seiner Überlegungen sich auf das Gegensatzpaar Mensch und Tier konzentrieren, denn sie bildet die Fluchtlinie der politischen, theologischen und philosophischen Begründungsfigur einer grundlegenden Differenz, die eine binäre (Mensch versus Tier) und hierarchische (Mensch über Tier) Opposition begründet. Es ist gerade die anthropologische Differenz, so die Grundüberzeugung von Derrida, die alle anderen binären, hierarchischen Oppositionen begründet. Denn wer nach der anthropologischen Differenz fragt, der fragt nach dem einen Unterschied zwischen Menschen und Tier, der alle anderen Unterschiede erklärt. Der Mensch wird geradezu definiert durch das, was ihn vom Tier unterscheidet. Das Ausfüllen der Formel »Der Mensch ist ein Tier plus X« ist deshalb seit dem Beginn der Philosophie ihr anthropologisches Hauptgeschäft. Das Tier hingegen wird verstanden

35 36 37

Vgl. dazu auch B. Ladwig: Tierrechte, S. 134ff. J. Derrida: Souverän I; ders.: Souverän II. Vgl. R. Esposito: Zwei.

Die Souveränität der Tiere

als etwas, dem dieses X fehlt. So ist der Mensch das vernünftige, sprechende, moralische, bewusste Tier, das Tier hingegen das Unvernünftige, Sprachlose, Unmoralische, Unbewusste. In diesen Bestimmungen bleibt der Mensch jedoch stets auf das Tier verwiesen. Das Tier hilft, den Menschen zu dem zu machen, wofür er sich nimmt. Darum schreibt Derrida: »Das Tier schaut/geht uns an, und wir stehen nackt vor ihm. Denken beginnt vielleicht da.«38 Das bedeutet nicht, dass der Mensch zuvor nicht denkt, sondern dass er sich selbst im Gegensatz zum Tier als Denker versteht. Er nimmt sein Denken als den wesentlichen Unterschied zum Tier. Die Metaphysik zeichnet sich nun dadurch aus, dass sie den Logos (Denken, Sprache) privilegiert. Diese Privilegierung nennt Derrida »Logozentrismus«. Sie hat darüber hinaus den Mann vor der Frau privilegiert. Diese Privilegierung nennt Derrida »Phallogozentrismus«. Das Tier schließlich ist dasjenige, welches sich der Mann unterwirft (Natur, Frau), was er opfert (Frau, Tier) und was er sich einverleibt (Tier). Dies nennt Derrida »Karnophallogozentrismus«. So wird die anthropologische Differenz zum Inbegriff aller Oppositionen und Konstruktionen der Metaphysik. Wie Derrida durch seine dekonstruktive Lektüre auch plausibel macht, ist schon die Opposition von Mensch und Tieren falsch, denn die Vielfalt und Pluralität wird durch die Verwendung der Titulatur »das Tier« nivelliert und lässt die Erscheinungsformen auf eine Einheit als Gegenüber zum Menschen zusammenschmelzen. Derrida weist damit die Ansicht zurück, dass zwischen Mensch und Tier eine differentielle Kontinuität oder Homogenität bestehe. Er insistiert vielmehr auf den Unterschieden und Ungleichheiten zwischen allen Lebewesen. Er hält sogar an einer radikalen Diskontinuität zwischen Menschen und Menschenaffen fest. Allerdings handelt es sich um eine Diskontinuität, die auch zwischen anderen Lebewesen existiert. Damit weist aber Derrida jene Idee eines Unterschieds zurück, der den Menschen essentiell vom Tier trennt. In minutiösen Analysen zeigt Derrida, dass nicht nur klassische Denker wie Descartes, Hobbes, Rousseau oder Kant von der anthropologischen Differenz zehren, sondern dass sich auch das Denken von Heidegger, Lacan oder Lévinas vom Gegensatz zwischen Mensch und Tier nährt. Ihr Denken ist logozentrisch und karnivor, keine Gegenbewegung zur metaphysischen Tradition, sondern deren Fortsetzung, die in der Eliminierung ihrer eigenen Denkvoraussetzungen ihre Konstruktionsprinzipien vergisst, indem sie die anthropologische Similarität von »dem Mensch« und »dem Tier« als differenzlogisches Argument betreibt. Im Hintergrund der tierphilosophischen Auseinandersetzungen, die Derrida, sowohl in Das Tier, das ich also bin als auch in seinen beiden letzten Seminaren, die er unter dem Titel Das Tier und der Souverän abgehalten hat, steht die Philosophie Martin Heideggers und seine Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik von 1929/30. Martin Heideggers Philosophie lebt von impliziten anthropologischen Setzungen (allerdings hatte Heidegger rundheraus abgelehnt, dass eine Phänomenologie überhaupt anthropologisch argumentieren könne und setzt sich so von Scheler ab), die die traditionelle Mensch-Tier-Unterscheidung aufnimmt und im Hinblick auf das Kriterium des Welt-Habens als Ausdruck des Welt-Seins weiterführt – Heidegger spricht hier von dem Menschen als weltbildendem Wesen. 38

J. Derrida: Tier, S. 23.

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Dabei geht Heidegger davon aus, dass der Mensch zunächst ein Tier ist, aber der Mensch sich durch die Praktik des Weltbildens in Bezugnahme auf das Vorhandene und Zuhandene von jenen weltarmen Tieren unterscheidet, und dass seine Gestimmtheit in Form der Langeweile39 den Menschen nötigt, sich auf die Welt zu beziehen, um mit seiner Endlichkeit und Einsamkeit umzugehen. Damit bestreitet Heidegger aber grundlegend nicht, dass dem weltarmen Tier aufgrund von individuellem und sozialem Lernen Gedanken, Wünsche, soziales Wissen und Kultur zugeschrieben werden kann. Aber der Mensch als weltbildendes Tier in der Nötigung durch seine Grundstimmung der Langeweile, scheint das Haben von Welt durch diese Fähigkeiten potenziert und transformiert zu haben. Die Art und Weise hingegen, wie das Tier sich zu eigen ist, ist nicht Personalität, nicht Reflexion und Bewusstsein, sondern einfach nur Eigentum.40 Während der Mensch sich zur Welt verhält, ist die Art des Tieres, mit der Welt umzugehen, das Benehmen, wobei das Benehmen ein Befähigt-Sein des Tieres ist. Im Benehmen wird das Ein-Behalten und Ein-Nehmen der Welt durch das Tier deutlich, ohne jedoch die Möglichkeit der reflexiven Distanz zu haben.41 So betont Heidegger: »Die Weltarmut ist ein Charakter im Vergleich zum Menschen. Nur vom Menschen her gesehen ist das Tier arm um die Welt, aber nicht das Tiersein in sich ein Weltentbehren.«42 Wie Derrida gezeigt hat, ist dies die einzige Stelle im Werk von Heidegger, wo er auf einen Vergleich zurückgreift, um eine Bestimmung der unterschiedlichen Bezugnahmen von Mensch und Tier auf die Welt deutlich zu machen. Doch was meint Heidegger eigentlich mit der Welt? Welt ist für ihn die »Offenbarkeit des Seienden als solchem im Ganzen«43 . Damit wird aber eine Struktur der Analyse deutlich, die durch »als« gekennzeichnet wird und sich durch die Sprache vollzieht. Auf diesem Hintergrund wird deutlich, dass das Tier als solches sich nur auf die Welt als solche, aber nicht als etwas beziehen kann, so die Analyse von Heidegger. Das harte Kriterium, welches Heidegger damit anführt ist, dass das Tier das Seiende als solches nicht erkennen kann bzw. auf die Welt als Ganzem des von sich selbst ausgehenden Seienden reflektieren kann, vielmehr bleibt sein Bezug auf die Welt auf tierliche Repräsentationen, Bedürfnisse und Verhaltensweisen reduziert. Heidegger spricht hier von der »Benommenheit« des Tieres. Das Tier ist nach seiner Meinung nicht fähig sich die Weltgestalten nicht verfügbar zu machen. Dem Tier fehlt nach Heidegger der grundlegende Zugang, etwas als etwas wahrzunehmen. Das Tier ist nach diesem Denken weltarm, weil ihm die Bezugnahme auf »alssolche-Strukturen« abgeht. Heidegger meint damit, dass das Verhalten des Tieres nie ein Vernehmen von etwas als etwas ist, daher sei das Tier weltarm, weil ihm die »alssolche-Struktur« fehlt. Damit bezweifelt Heidegger also die grundlegende Struktur der Möglichkeit der intrinsisch motivierten Bezugnahme, oder philosophisch gesprochen

39 40 41 42 43

M. Heidegger: Grundbegriffe, S. 111-250. Ebd., S. 337. Ebd., S. 347. Ebd., S. 390. Ebd., S. 394.

Die Souveränität der Tiere

der Intentionalität. Jene Absage an die Möglichkeit der intentionalen Bezugnahme wirkt sich wiederum auf die Räume der Handlungsmöglichkeit, von Horizonten der Aussage und der Abgabe von Urteilen aus.44 Für Heidegger steht fest, dass Intentionalität nur in Abhängigkeit von der Bildung der Welt als Offenbarkeit des Seienden als solchem gibt. Daraus folgert Heidegger für das Dasein des Tieres, dass es nur ein Leben mit dem Menschen sein kann. Das Tier vermag es nicht auf die eigene Existenz im Modus der Reflexion auf sich selbst und seinem Selbst zurückzuschließen. Existenz im Sinne Heideggers ist das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält. So kann Heidegger zu der Aussage kommen: »Haustiere werden von uns im Haus gehalten, sie leben mit uns. Aber wir leben nicht mit ihnen, wenn Leben besagt: Sein in der Weise des Tieres. Gleichwohl sind wir mit ihnen. Dieses Mitsein ist aber kein Mitexistieren, sofern ein Hund nicht existiert, sondern nur lebt. Dieses Mitsein mit den Tieren ist so, dass wir die Tiere in unserer Welt sich bewegen lassen. Wir sagen: Der Hund liegt unter dem Tisch, er springt die Treppe herauf. Aber der Hund – verhält er sich zu einem Tisch als Tisch, zur Treppe als Treppe?«45 Derridas Interesse an der Dekonstruktion von Heideggers tierphilosophischer Haltung wird ersichtlich, wenn wir uns deutlich machen, dass Derrida Heidegger vorwirft, Metaphysik zu betreiben. Derrida sieht in Heideggers Nachdenken über die MenschTier-Unterscheidung Überlieferungen und Kritik am Werk, die es zu bearbeiten gilt, da sie mit einer antiken Ontologie arbeitet. So dekonstruiert er die in der Mensch-Tier-Unterscheidung mitgelieferte Ontologie, um zum Vorschein zu bringen, dass diese nicht auf etwas Ursprüngliches verweist, sondern eine Konstruktion darstellt. Und zwar eine Konstruktion im zweifachen Sinne: Erstens als Konstruktion von Oppositionen und zweitens als Konstruktion von Unmöglichkeiten. Solche Konstruktionen beherrschen – so die Einsicht von Derrida – unser alltägliches Denken durch und durch. Jene metaphysische Tradition, die im Kern der Mensch- Tier-Unterscheidung steht, lebt von binär-hierarchischen Oppositionen: binär, da zwischen Mensch und Tier unterschieden wird, und hierarchisch, da der Mensch sich dem Tier übergeordnet glaubt. Strukturkennzeichen der Metaphysik ist zudem, dass sie nur eine Seite als privilegiert ansieht und die andere zur Seite des Dunkeln, der Derivative, des Kontingenten erklärt. Die Mensch-Tier-Unterscheidung ist daher für Derrida die Mutter aller binär-hierarchischen Oppositionen, da das Tier dann nur als von Instinkten, Trieb und Reiz erscheint, während der Mensch scheinbar hingegen durch Vernunftgebrauch und Sprache eine freie Entscheidungsmöglichkeit hat. Nach dieser metaphysischen Tradition ist das Tier nur körperlich da und der Erde nahe, der Mensch ist hingegen geistig und dem Himmel näher; das Tier frisst, vegetiert und verendet bloß, während der Mensch sich enthält, ein Leben führt und seine Endlichkeit und seinen Tod bedenkt. Dies kann der Mensch aber – laut der traditionellen Metaphysik, die sich auch auf die Bedeutung der Einschätzung der Ontologie auswirkt – nur aufgrund der eigenen Zuschreibung von Vernunft und Sprache als weltbildenden Elementen, welche aus dem 44 45

Es wird damit aber deutlich, dass Heidegger sich hier eng an der kantischen Philosophie orientiert. M. Heidegger: Grundbegriffe, S. 308.

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›Wissen-um‹ entspringt und ihn aus der Langeweile seines Daseins reißen soll. Aus dieser logo- und phonozentrischen Sicht resultiert die Ansicht, dass das Tier eben jene dunkle Seite der binären, hierarchischen Struktur darstellt, da es als Wesen nicht spricht und denkt. Daher ist das erklärte Ziel von Derrida: »All die dekonstruktorischen Gesten, die ich philosophischen Texten gegenüber, insbesondere denen von Heidegger, erprobt habe, bestehen darin, die voreingenommene Missachtung dessen, was man das TIER im allgemeinen nennt, und die Art und Weise, wie diese Texte die Grenzen zwischen Menschen und Tier interpretieren, in Frage zu stellen.«46 Der Vorwurf, den Derrida an Heidegger und die metaphysische Tradition der MenschTier-Unterscheidung adressiert, wäre jener, dass die Tradition immer eine vereinheitlichende Tendenz in ihren Begründungen mitführt, die wiederum kongruent zur Tradition des Logozentrismus steht. Die ontologische Differenz wird metaphysisch begründet, aber ihr metaphysischer Gehalt wird wieder vergessen und führt zu einer differenzlogischen Option, die binär-hierarchisch organisiert ist, statt das asymmetrische Verhältnis von Mensch und Tier aufzudecken. Jene binär-hierarchische Tradition des Logozentrismus wird in dem Vorgang der Bezeichnung des Tieres durch den Menschen deutlich: »Tier, das ist ein Wort, das zu geben Menschen sich das Recht gegeben haben. Sie, diese Menschen, fanden sich in einer Lage, es zu geben, das Wort, aber so, als ob sie es als Erbe empfangen hätten. Sie haben es sich gegeben […]. Und sie haben es sich gegeben, dieses Wort, indem sie gleichzeitig sich selbst, den Menschen, um es für sich zu reservieren, das Recht auf das Wort, auf den Namen, auf das Verb, auf das Attribut, auf die Sprache der Worte gewährten, kurzum auf eben das, dessen die in Frage stehenden anderen beraubt wären, jene, die man auf dem großen Territorium des Tieres zusammenpfercht.«47 Derrida zeigt damit auf, dass es bei der Mensch-Tier-Unterscheidung zunächst nur um die Unterscheidung von dem Menschen zu dem Tier geht. Dem Menschen steht das Tier gegenüber. Der Mensch mag zwar auch Tier sein, aber nicht das Tier, da er im Gegensatz zu ihm spricht und denkt. Derrida macht darauf aufmerksam, dass die Philosophie den Besitz der Worte zu dem Kriterium macht, dass der Mensch sich vom Tier unterscheide. Sie spricht den Tieren das Wort ab und spricht es den Menschen zu und vereinheitlicht die Tiere unter dem Wort das Tier. Das hat u.a. auch rechtliche und moralischen Folgen, da im Wort Tier all jene Lebewesen abgetrennt und umhegt sind, die nicht sprechen, die keine Worte haben. So entsteht das Kriterium, dass diese Lebewesen nicht zu uns gehören. Damit schaffen wir durch unsere Sprache eine Einheit der Tiere, die aber dem Tier selbst nicht gerecht wird. Um aber dem Tier eine Sprache (wi(e)der) zu geben, bildet Derrida einen Neologismus, nämlich animot (Tierwort/Tierrede), um damit anzuzeigen, dass er dem Tier das 46 47

J. Derrida/E. Roudinesco: Woraus wird morgen gemacht sein?, S. 111. J. Derrida: Tier, S. 59.

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Wort zurückgibt, ohne ihnen aber ein logozentrisch-metaphysisches Gepräge zu geben, welches auf einer vermeintlichen Rationalität durch die Sprache beruht. Es gelingt ihm damit also einerseits deutlich zu machen, dass er an Heidegger unter gewendeten Bedingungen anschließt, und dass die Tiere durch die anökonomisch-asymmetrische Gabe des Wortes durchaus weltbildend sein können, ohne die Welt verfügt zu haben und nicht in der Weltarmut verharren zu müssen, sondern damit in der Welt sind. Mit diesen Überlegungen arbeitet Derrida den Umstand auf, dass mit dem Logozentrismus eine Fortführung von unterschwellig in der Sprache vorhandenen Machtdiskursen verbunden ist. Insbesondere die westlichen phonetischen Schriften, bei denen sich nicht, wie etwa in asiatischen oder ägyptischen Schriften, ein Symbol zwischen Signifikat und Signifikant schiebt, suggerieren eine direkte Durchgriffsmöglichkeit vom Signifikant auf das Signifikat und unterschlagen dabei deren Differenz, indem das Zeichen als Zeichen selbst unsichtbar gemacht wird und so ein ontologisches Simulakrum vollzogen wird, »[d]a die Spur kein Anwesen ist, sondern das Simulacrum eines Anwesens, das sich auflöst, verschiebt, verweist, eigentlich nicht stattfindet, gehört das Erlöschen zu ihrer Struktur«48 , die eine Hyperrealität des Menschen im Umgang mit den Tieren schafft. Die aus dem Logozentrismus sich generierende Differenz der Schrift bedeutet, dass jeder einzelne Gebrauch des Signifikanten auf den allgemeinen Gebrauch des Zeichens, des Signifikats verweist. So ist die Rede vom Tier als Inhalt und/oder Bedeutung eingeschrieben in Traditionen, und verweist auf eine Spur (eine im Einzelereignis eingeschriebene Alterität), welche zwar verfolgt werden kann, da es keine uninterpretierten oder selbstinterpretierenden Inhalte gibt, die aber zumeist der vereinheitlichenden Struktur des Denkens anheimfällt, die wiederum sich reproduzierend zu einer Hyperrealität49 des Menschen auswächst. Durch die Methode der Dekonstruktion werden diese Spuren der im Einzelereignis eingeschriebenen Alterität wieder freigelegt und seine Inhalts- und Bedeutungsschichten getrennt betrachtet, um so dann von dem einzelnen Gebrauch zum allgemeinen Gebrauch zurückzukehren. Damit zeigt sich, dass die Überlegungen Derridas eine gewisse Nähe zu den sprachphilosophischen Einsichten, wie jener des Sprachspiels bei Wittgenstein oder der apriorischen Kommunikationsgemeinschaft bei Karl-Otto Apel aufweisen, da die Praxis des Gebrauches in den Mittelpunkt des Interesses rückt und die Folgen eines solchen, vom unreflektierten Gebrauch der Theorie begründeten Praxisverhältnisses aufzeigt, die es aufzudecken und gegebenenfalls zu korrigieren gilt. Der Logozentrismus verdeckt damit aber eine Grundstruktur im Mensch-TierVerhältnis, die Derrida anhand einer Lektüre von Jacques Lacan aufdeckt. Lacan hatte von der Plattheit der modernen Informationstheorie gesprochen, da die Informationstheorie vergessen habe, dass man selbst von Code nur sprechen kann, wenn dieser bereits der Code des Anderen ist: »In der Botschaft indes geht es eindeutig um etwas

48 49

J. Derrida: Différance, S. 107. Vgl. zum Simulakrum auch J. Baudrillard: Tausch; ders. Agonie. Mit Hyperrealität ist das Abbild des Menschen vom Menschen gemeint, welches es in der Realität nicht gibt, sondern sein eigenes Simulacrum darstellt bzw. das überhöhte, idealisierte, den Vorstellungen des Menschen entsprechende Bild des wirklich existierenden Tieres als differenzlogische Begrenzung des Objektstatus des Tieres darstellt.

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anderes, da sich aus ihr das Subjekt konstituiert, wodurch vom Anderen das Subjekt genau die Botschaft empfängt, die es aussendet.«50 Bei Lacan ist der Mensch die Beute der Sprache, da jener den Anderen, der in der Sprache zum Vorschein kommt, begehrt. So behauptet Lacan, dass das Begehren und damit auch das Unbewusste nur beim Menschen vorhanden ist, niemals aber bei Tier, es sei denn als Wirkung des menschlichen Unbewussten. Das Tier hat weder Unbewusstes noch Sprache, noch den Anderen, es sei denn durch einen Effekt menschlicher Ordnung, durch Ansteckung, durch Aneignung, durch Domestizierung als sprachliche Einhegung.51 Das Tier kann also nur reagieren, aber nicht antworten. Es kann die grundlegende Funktion der Sprache nicht beherrschen, da es nur informiert und nicht von sich selbst aus etwas evoziert. So merkt Lacan an: »Die Funktion der Sprache besteht ja hier nicht darin, zu informieren, sondern zu evozieren. Was ich im Sprechen suche, ist die Antwort des anderen. Was mich als Subjekt konstituiert, ist meine Frage. Um vom anderen erkannt zu werden, spreche ich das, was war, nur aus im Blick auf das was sein wird. Um ihn zu finden, rufe ich ihn bei einem Namen, den er, um mir zu antworten, übernehmen oder ablehnen muss.«52 Zwar kann es nach Lacan dem Tier gelingen, eine spiegelbildliche Vereinnahmung zu vollziehen (dies ist die Dimension, die Lacan als das Imaginäre bezeichnet), aber es hat keinen Zugang zur symbolischen Ordnung des Signifikanten (also jenem, was Lacan das Symbolische nennt). Lacan behauptet, das Tier hält sich in der Spiegelhaftigkeit des Imaginären gefangen, oder eher: er meint, dass das Tier sich selbst in dieser Gefangenschaft hält. Er spricht diesbezüglich von imaginärer Vereinnahmung aus der sich das Tier nicht befreien kann. Aus der Logik von Lacan müsste aber dann folgen, dass das Tier zwar Zugang zum Ich als einem moi hat, aber das Ich sich als je verfehlt. Schlussendlich hieße dies, dass Tiere geborene Narzissten sind, die sich darüber aber nicht im Klaren sein können, da Ihnen die Möglichkeit der Subjektkonstitution über den Anderen und sich verwehrt bleibt. In der Logik des Spiegelstadiums würde damit dem tierlichen Ich der Mangel fehlen und es würde keine Bedürftigkeit, kein Begehren gegenüber dem Anderen haben, doch scheint hier wieder der egomorphe Zug der Theoriebildung auf, der von einer Bezüglichkeit als Grundmoment der Subjektkonstitution ausgeht. Zum anderen wird aber deutlich, dass das aus der cartesischen Subjekttradition und immer wieder gegen das Tier angebrachte Reflexionsmoment zugleich die Schwächung des Menschen bedeutet, nämlich dass das ego cogito zwangsläufig aus seiner zentralen Subjektposition verdrängt wird. Es verliert die Herrschaft, die zentrale Macht, es wird zu einem – dem Signifikanten unterworfenen – Subjekt. Der Herr wird zum eigenen Knecht, um sich des von Hegel herkommenden Subjekts zu bedienen. Der imaginäre Vorgang der Subjektwerdung als die Konstitution der Subjektposition verliefe dann über den Weg der Subjektivierung durch den Signifikanten vom Spiegelbild zur Konstitution des Ichs. Damit wäre das Subjektwerden aber gekennzeichnet von dem Ver50 51 52

J. Lacan: Ich, S. 181. Vgl. J. Derrida: Souverän I, S. 170. J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 143.

Die Souveränität der Tiere

lust der unmittelbaren Transparenz, des Bewusstseins als mit sich selbst identischem Selbstbewusstsein. Dies führt aber zu einem Paradox: Man bestätigt dem Subjekt seine herausragende Macht, indem man es stürzt und es auf seinen Mangel zurückführt, nämlich darauf, dass die Tierheit sich auf der Seite des bewussten Ich befindet, während die Menschheit des menschlichen Subjekts sich auf der Seite des Unbewussten, des Gesetzes des Signifikanten, des Sprechens befindet. Nun stellt sich die Frage, wer eigentlich mehr Souveränität hat, das Tier/die Tiere oder der Mensch/die Menschen? Führt nicht die Souveränität dazu, dass das Tier niemals einsam ist, während der Mensch sich in seiner Vereinzelung und Einsamkeit und in seiner Endlichkeit immer mehr einwohnt und damit die Nötigung zu einer ethischen Erfahrung immer mehr entbehrt bzw. sich nicht mehr einer Einsicht in die Ethik der Verpflichtung gegenüber der Mit- und Umwelt konfrontiert sieht und damit sich letztlich seiner Souveränität selbst beraubt? Und was würde passieren, wenn der Mensch begreifen würde, dass das Tier ihm antworte und ihm damit als Tierrede die volle Souveränität über den Menschen gegeben wäre: »Würde es für eine Ethik genügen, dem Subjekt sein Subjekt-Sein, sein Gastgeber- oder Geisel-Sein in Erinnerung zu rufen –, das heißt sein Unterworfen-Sein, die Tatsache, dem Anderen, dem ganz Anderen oder jedem Anderen unterworfen zu sein?«53 Während das Tier seiner Verantwortung gegenüber dem Menschen nachkommt und sich ihm unter Umständen in seiner ethischen Forderung verpflichtet fühlt, würde doch keiner von uns bestreiten, dass dies in den meisten Fällen bei Menschen gegenüber dem Tier/den Tieren nicht der Fall ist.

4.

Souveränität – Ein erster Zugriff auf eine politische Ethik der Verpflichtung

Unter dem Begriff Souveränität (französisch souveraineté, von mittellateinisch superanus ›darüber befindlich‹, ›überlegen‹) versteht man zunächst in der Rechtswissenschaft die Fähigkeit zu ausschließlicher rechtlicher Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmung zielt auf das Recht, seine eigenen Angelegenheiten frei und ohne die Einmischung von anderen zu regeln, soweit sie sich im Einklang mit den anerkannten Regeln der jeweiligen Gemeinschaft befinden. Diese Selbstbestimmungsfähigkeit wird durch Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Rechtssubjektes gekennzeichnet und grenzt sich so vom Zustand der Fremdbestimmung ab. Das Grimm’sche Wörterbuch verzeichnet zum Adjektiv: niemandem zu gehorsam oder zur Rechenschaft verpflichtet zu sein. In den Überlegungen zur Souveränität als Grundkategorie einer Theologie der Tiere ist zu betonen, dass die Anwendung der Souveränitätskategorie auf jenen Charakter von Tieren verweist, auf den auch Derrida aufmerksam gemacht hat. Tiere brauchen zunächst keine Gesetzlichkeit. Sie sind unbedingt da und zeichnen sich durch eine unbedingte Präsenz54 gegenüber dem Menschen aus. 53 54

J. Derrida: Tier, S. 175. Vgl. J. Engel/M. Gebhardt/K. Kirchmann (Hg.): Zeitlichkeit; M. Gottwald/K. Kirchmann/H. Paul: (Extra)ordinary.

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Oder um es deutlicher zu sagen: Tiere sind vollkommen selbstbestimmt und autonom gegenüber dem Menschen, auch gerade darin, dass sie sich nicht der Sprache bedienen müssen, um ihre Präsenz gegenüber dem Anderen zu vermitteln. Sie haben in einem starken Sinne Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Der von Derrida in Anschlag gebrachte binär-hierarchische anthropozentrische Vereinnahmungsprozess startet gerade da, wo wir als Menschen versuchen, Beschreibungskategorien bzw. eine Kriteriologie für die Möglichkeiten einer Entscheidungsund Handlungsfreiheit zu konstruieren. Die Besinnung auf die Souveränität macht darauf aufmerksam, dass Tiere eben nicht unter die Effekte einer Ontologie des Simulakrums fallen bzw. auf Effekte einer Fiktion angewiesen sind oder einer Repräsentation ihrer selbst bedürfen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Tiere eine unmittelbare Freiheit55 vermittelt über ihre Souveränität bzw. ihre anomische Freiheitsstruktur in ihrer wahrgenommenen Präsenz haben. Ihre Gemeinschaft mit uns unterliegt keinem rationalen Kalkül gegenüber der Gemeinschaft mit uns. Derrida analysiert dies ausgehend davon, dass Tiere nicht in der Lage sind, eine Täuschung der Täuschung zu vollziehen. Für uns kann dies ein heilsames Erleben von Freiheit sein, wenn wir uns auf eine von der Souveränität des Tiers gestiftete bzw. gegebene Gemeinschaft – einer im besten Sinne anökonomischen Politik der Freundschaft, wie sie Derrida analysiert hat – einlassen. Dies heißt aber auch, dass wir uns von jenen Konzepten verabschieden sollten, die dafür argumentieren, Tieren eine grundlegende Subjektivität und eine daraus abgeleitete Individualität und Autonomie sowie Freiheitssphäre abzuleiten und zuzusprechen. Die Zuschreibung von Subjektivität als rechtsbegründendes Kriterium bedeutet zunächst Kontrolle und Abhängigkeit. Sie konstituiert sich in der Alterität und führt dazu, jemandem unterworfen zu sein und durch das reflexive Bewusstsein und der darin eingeschlossenen Struktur der Selbsterkenntnis in seiner eigenen Identität verhaftet zu bleiben. Allerdings kann dies dazu führen, dass nur allzu schnell die Fragen der Begründung der Rechtsfähigkeit in Anschlag gebracht werden. Es wird damit eine anthropozentrische Sichtweise etabliert, die sich zu einer Theorie der Weltverfügung fügt. Oder um es sich in vergleichender Perspektive nochmals mit Heideggers binärhierarchischem Befund des Weltbildens des Menschen gegenüber dem vermeintlich negativen Befund der Weltarmut des Tieres vor Augen zu führen, verpasst diese Sicht den wichtigen Punkt, dass Tiere offensichtlich nicht einen Traum der Weltverfügung träumen – oder um es noch schärfer zu formulieren: sie besitzen keine Ideologie56 , sondern 55

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Vgl. P. Pettit: Freiheit. Es könnten die grundlegenden Argumente der »Citizenship-Theorie« mit jenen Analysen von A. Honneth: Das Recht der Freiheit verbunden werden. Honneth unterscheidet zwischen der rechtlichen Freiheit und der moralischen Freiheit als Möglichkeiten der Freiheit und der Wirklichkeit der Freiheit als Realisierung durch die soziale Freiheit. Es sei hier an die Ideologiekritik von Althusser und seinem Konzept der Anrufung (vgl. M. Schütt: Anrufung; I. Charim: Althusser-Effekt.) erinnert, die auf den Umstand der Konstituierung einer ethischen Subjektivierung und der ethischen Erfahrung (vgl. S. Critchley: Unendlich) hinweisen. Althusser will in seinen Analysen aufzeigen, wie jedes Individuum als Subjekt durch Ideologie unterworfen wird oder sich freiwillig unterwirft. Danach muss jede Gesellschafts- bzw. Gemeinschaftsformation die Reproduktion ihrer Produktionsbedingungen gewährleisten, damit die eigene Existenz auch auf Dauer gesichert ist. Die Ideologie »repräsentiert […] nicht [die] bestehen-

Die Souveränität der Tiere

für sie ist die Selbstverfügung (positiv ihre Weltarmut) kennzeichnend, oder um es noch anders zu wenden: Sie haben eine Souveränität in ihrer Eigensphäre, so dass sie die Welt als Möglichkeitsraum ihres Könnens nutzen, während der Mensch sich des Welt-habens hingeben muss, um sich als Individuum und Subjekt zu konstituieren und um sich damit eine eigene Ideologie zu schaffen, um sich selbst in der Welt zu schaffen. Tiere sind lebendig ohne es zu sein57 , um es in Aufnahme eines Gedankens von Heidegger zu sagen, während der Mensch sich immer seiner Lebendigkeit als Sein vergewissern muss. Sein Wissen ist in drei sektionalen Vermögen gegründet: dem Können-Wollen, dem Haben-Wollen und dem Sehen-wollen. Die Souveränität des Menschen ist die narrative und fiktive Funktion des vergewissernden Repräsentationseffektes der Lebendigkeit, während das Tier jenes repräsentativen Effektes als ontologischem Simulakrum nicht bedarf. Tiere sind in ihrer Integrität als ihrer Selbstverfügungsmacht als Herren ihrer Souveränität zu betrachten, die sie in ihrer Weltarmut aber nicht knechtet. Dies macht den Unterschied zum Menschen aus: Der Mensch ist nicht Herr der Souveränität, er wird nur von ihr durchzogen. Er ist und bleibt Knecht in der Nötigung zur Weltbildung. Der Mensch wird von der Souveränität durchwaltet58 , die er nicht beherrscht, über die er keine Macht und auf die er keinen Einfluss hat. Er ist durch und durch von ihr und der Notwendigkeit dem Beherrschungsanspruch beherrscht, ergriffen und durchzogen. Derrida hat diesen Punkt sehr deutlich gesehen, wenn er dem Tier die Fähigkeit zugesteht, dass es es selbst ist59 , während der Mensch immer um seine Eigentümlichkeit ringen muss.60 Die Tiere stehen durch ihre Souveränität sowohl innerhalb als auch außerhalb der Rechtsordnung. Tieren stiften, so mein Vorschlag, in ihrer Selbstverfügung eine Gemeinschaft, die das Paradox der Souveränität verleiblichen. Ihre souveräne Verleibli-

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den Produktionsverhältnisse […], sondern vor allem das (imaginäre) Verhältnis der Individuen zu den Produktionsverhältnissen und den daraus abgeleiteten Verhältnissen« (L. Althusser: Ideologie, S. 78). Jede einzelne Ideologie existiert nur durch das Subjekt selbst. Zugleich existiert jede Ideologie auch nur für das Subjekt. Sinn und Zweck der Ideologie seien ebenfalls nur über das jeweilige Subjekt zu erkennen. Damit wäre die Ideologie des Menschen gegenüber dem Tier jene der Verfügbarmachung der Welt durch den Prozess der Weltbildung. Dadurch wird es dem Menschen durch die Ideologie der Weltverfügung möglich, dass es als Individuum mit entsprechenden Freiheitsrechten ausgestattet, sich als Subjekt konstituiert. Der Mensch als weltbildender ruft sich als ein solcher an. Damit ist der zentrale, für die Konstituierung der Individuen zu Subjekten notwendige Mechanismus angesprochen. Genau im Moment der Anrufung, so Althusser, werde ein Individuum zu einem Subjekt. Das Individuum erkenne sich wieder, in dem es erkennt, dass nur es allein angesprochen und gemeint ist. Nach Althusser sind »[d]ie Existenz der Ideologie und die Anrufung des Individuums als Subjekte [ein] und dieselbe Sache« (ebd., S. 58). Es zeigt sich aber, dass die Subjekte nicht souverän sein können, sondern immer auf der Verquickung von Similarität und Alterität angewiesen sind, was wiederum einen Unterschied zum Tier ausmacht. Vgl. M. Heidegger: Grundbegriffe, S. 306. Es wird hier die Analyse von Derrida und Heidegger aufgenommen. Vgl. J. Derrida: Souverän II, S. 83. Vgl. ebd., S. 76.

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chung61 ist der Signifikant ohne den Anspruch als Signifikat zu inkorporieren (was ich weiter oben als Simulakrum des Welt-Habens analysiert habe), und entzieht sich so unserer binär-hierarchisch codierten Form der Mensch-Tier-Unterscheidung, die sich in der falsch gestellten Frage der Trägerschaft des Rechtssubjekt und der Würdediskussion ablesen lässt. In Aufnahme des Ansatzes von Jacques Lacan wären dann Tiere der Signifikant eines zunächst entlastenden, bedeutungslosen, materiellen Elementes in einem geschlossenen differentiellen System.62 Tiere wären demnach Signifikanten ohne Signifikat, oder – nach der Terminologie von Lacan – reine Signifikanten. Tiere bilden somit eine Leerstelle innerhalb der Struktur des Symbolischen (mit anderen Worten: sie sind ein leerer Signifikant), die von verschiedenen Signifikaten besetzt werden kann, was durch unsere anthropozentrische Sicht geschieht, durch die die Tiere zum Spielball des Symbolischen werden. Aber so ist mein grundlegendes Argument, dass wir wie die Tiere gerade aus ihrer unbedingten Lebensfülle63 ihrer Souveränität heraus verstehen müssen und ihre ausschließlich rechtliche Selbstbestimmung nicht im Sinne einer anthropozentrischen einschließenden Ausschließung verstehen dürfen, sondern die Perspektive verschieben sollten hin zu einer ausschließenden Einschließung des Menschen durch ihre anomischen Verleiblichung, die dazu führt, dass wir uns von ihrer Souveränität und der von ihnen gegebenen anökonomischen Politik der Freundschaft64 und Souveränität durchwalten lassen, die den Gegensatz gegenüber der Wahrnehmung von positiven und negativen Rechten von Tieren als Rechtssubjekten in ihrer Individualität wie auch Kollektivität überwindet und einen neuen legitimationstheoretischen Rahmen aufgrund des verpflichtenden Charakters der Souveränität bedarf. Jener legitimationstheoretische Rahmen einer Ethik der Verpflichtung muss auf der Konstruktion eines ethischen Subjektes durch Forderungen der Situation und der radikalen Alterität aufliegen.65 Eine von der ethischen Erfahrung der Verpflichtung ge61

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Vgl. G. Agamben: Homo sacer, S. 1011-1290; T. Breyer/E. N. Dzwiza: Denken, S. 217-227, wenngleich letztere auf die menschliche leibliche Fundierung und lebensweltliche Artikulation des praktischen Selbst- und Weltbezugs abstellen. D. Evans: Wörterbuch, S. 269. Es wäre auch der systematische Punkt von einer Körperpolitik der Tiere her zu denken, die die Anregungen der Philosophie von G. Deleuze/F. Guattari (Tausend Plateaus; insbesondere der Diskurse der Macht in, durch und über den Körper als Präsenz) bzw. der Weiterführung durch John Protevi (Physics; Affect), der sich allerdings nur auf humane Erscheinungsformen bezieht, aufnimmt. Oder um mit Richard Shusterman (Körper-Bewusstsein) nach einer tierischen Somästhetik zu fragen, da Tiere über ihre leib-körperliche Präsenzen zum Menschen Stellung beziehen. Vgl. R. Miggelbrink: Lebensfülle. Derrida überführt seine Ethik der Gastfreundschaft, die asymmetrisch-anökonomische Ethik der Verpflichtung in eine politiktheoretische Form (Politik), die davon ausgeht, dass die Demokratie jener Ort ist, wo jeder in gleicher Weise ganz anders zu sein vermag, die also jene Realisierung darstellt, die wir unter der Form der Souveränität entwickelt haben. Vgl. S. Critchley, Unendlich, mit seiner Theorie der ethischen Erfahrung, die Anerkennung fordert. In Aufnahme von Critchley wäre an das Projekt von Alain Badiou (Metapolitik; Theorie des Subjekts) anzuschließen, der die Idee eines Subjekts entwickelt, das sich der Universalität einer Forderung (in unserem Fall der Souveränität) treu verpflichtet, die sich in einer singulären Situation ergibt, über diese Situation aber hinausgeht. Es wäre zugleich an Knud Ejler Løgstrup (Forderung) mit seinen Analysen der »ethischen Forderung« anzuschließen. Er zeigte, dass die Forderung ei-

Die Souveränität der Tiere

genüber dem Tier/den Tieren und ihrer Souveränität als ethisches Projekt wahr- und ernst zu nehmen bedeutet auch, ein metapolitisch66 ethisches Moment einzuzeichnen als die motivierende Kraft, die den Antrieb zu ethischem Handeln liefert. Denn »[w]enn eine Ethik ohne Politik leer ist, dann ist eine Politik ohne Ethik blind«67 . Eine politische68 Tiertheologie kann nicht daran vorbei, die Ethik als die Störung des politischen Status quo des Tieres zu verstehen. Eine von der politischen Tiertheologie herrührende Besinnung der Ethik ist eine Metapolitik, die unablässig eine von unten kommende Infragestellung eines jeglichen Versuchs darstellt, von oben eine Ordnung überzustülpen. Eine theologische Tierpolitik muss eine Manifestation des Dissenses sein. Daraus ergibt sich die Kultivierung einer Vielfalt, die die Autorität und Legitimität (auch der staatlichen Position im Gegenüber zur Souveränität der Tiere als gesellschaftliches Über-Ich69 ) infrage stellt und zu einer Ethik der Verpflichtung in Anerkennung gegenüber der Souveränität – und letztlich auch der Zustimmung zu einer grundlegenden Freiheitsdimension – von Tieren als Mitgliedern unserer demokratischen Grundordnung70 durchdringt und ihnen somit die Wahrnehmung einer ethischen Subjektivität ermöglicht, die die Menschen als durch sie herausgeforderte Gemeinschaft71 dazu bringt, sie als einen Teil seiner eigenen politischen Sphäre vollgültig zu akzeptieren und für sie letztlich auch Verantwortung zu übernehmen. Erst durch eine Ethik der Verpflichtung der herausgeforderten Gemeinschaft durch die Tiere und mit den Tieren

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nen radikalen, unerfüllbaren und einseitigen Charakter aufweist und zu einer grundlegenden entstehenden Asymmetrie in der ethischen Beziehung führt. Daran schließe sich eine Besinnung an Emmanuel Levinas an, der dieses Moment der Asymmetrie so analysiert hat, dass diese aus der Erfahrung der unendlichen Forderung des Angesichts des anderen entsteht, das ethische Subjekt als gespalten zwischen sich und einer maßlosen, niemals erfüllbaren Forderung erweist und damit aber unendliche verantwortlich ist. Vgl. J. Rancière: Das Unvernehmen; A. Badiou: Ethik. S. Critchley: Unendlich, S. 20. Mit Ernesto Laclau ist daher für das Projekt einer politischen Tiertheologie, die sich aus einer Tierethik entwickelt, dass das Ethische nicht mit dem Normativen (und damit auch mit dem Moralischen) identisch sein kann, als dass keine Norm in der Lage ist, den Eigensinn des Ethischen abzubilden. Im Gegensatz zum (moralisch imprägnierten) Normativen ist das Ethische »in einem vollständig bedingten Universum auf eine Erfahrung des Unbedingten bezogen. Und diese Erfahrung des Unbedingten ist der Kern jeder Vorstellung von Ethik« (Laclau: Ethics, S. 3). Vgl. U. Bröckling/R. Feustel: Das Politische; O. Marchart: Differenz. Vgl. I. Maus: Justiz als gesellschaftliches Über-Ich; dies.: Über Volkssouveränität. Vgl. P. Rosanvallon: Die gute Regierung; M. Abensour: Demokratie gegen den Staat. Eine theologische Tierpolitik zeigt die Problematik an, dass bisher die Tiere nur als Form einer Entpolitisierungsstrategie betrachtet wurden. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass sie in vielen Argumentationen immer noch dem Sachenrecht zugeordnet werden und ihre Rechtssubjektivität ihnen abgesprochen wurde. Vielmehr gilt es über die angestellten Überlegungen zu zeigen, dass durch die Zuerkennung bzw. Anerkennung der Rechtssubjektivität es möglich ist, dass von Donaldson und Kymlicka geführte Argument der Rechtsbürgerschaft mit jenen der »radikalen Demokratietheorie« zu verbinden. Durch die Einbeziehung der Tiere in ihrer Souveränität kann es möglich werden, die Demokratie zu repolitisieren (vgl. Rosanvallon: Die Gegen-Demokratie, S. 277ff.) bzw. in die Überlegungen der Notwendigkeit eines sozialen Bandes als strukturnotwendige Kritik zu integrieren (vgl. G. Lindemann: Strukturnotwendige Kritik). Vgl. J.-L. Nancy: Gemeinschaft.

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kann eine Möglichkeit des Gemeinsam-Seins und des Mit-Seins als Modus der grundlegenden Erfahrung von Sozialität bzw. des sozialen Bandes, welches uns durch die Jahrhunderte des sich Gegenüberstehens von Mensch und Tier abhandengekommen ist, wieder angeknüpft werden. Und vielleicht muss dieses soziale Band auch erst wieder neu geknüpft werden, indem wir der Entpolitisierung der Tiere entgegentreten. Die Entpolitisierung der Tiere führte dazu, dass ihnen die notwendige Souveränität zur Ausübung ihrer demokratischen Grundrechte und Partizipation abgesprochen wurde und ihre Bedeutung für eine wahre Demokratie und Moderne72 marginalisiert wurde. Ein politische Tiertheologie widmet sich der Rückgewinnung der zwischen Religion und Politik stehenden Ethik der Verpflichtung als vermittelnder Reflexionsinstanz von Praxis und Solidarität gegen die Perpetuierung der Selbstentfremdung des Sozialen. Der politischen Tiertheologie geht es darum, die soziale Freiheit von Mensch und Tier als ein »Wir« der Wirklichkeit der Freiheit (wieder) zu gewinnen.73

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Vgl. M. Abensour: Demokratie, S. 171ff. Vgl. A. Honneth: Recht. Honneth schreibt zur Verwirklichung der Wirklichkeit der Freiheit: »Eine solche Wirklichkeit der Freiheit ist hingegen erst dort gegeben (…), wo Subjekte sich in wechselseitiger Anerkennung derart begegnen, daß sie ihre Handlungsvollzüge jeweils als Erfüllungsbedingung der Handlungsziele des Gegenüber begreifen können; denn unter dieser Bedingung können sie die Realisierung ihrer Absichten als etwas erfahren, das sich insofern vollkommen ungezwungen und daher frei vollzieht, weil es innerhalb der sozialen Wirklichkeit von anderen erwünscht oder erstrebt wird« (ebd., S. 222). Mit Honneth gesprochen geht es darum die sittliche Sphäre auch auf die Tiere auszudehnen und sie innerhalb der relationalen Institutionen des sozialen Systems (T. Parsons: Social System, S. 51ff.) wahr- und ernst zu nehmen. »Die Moral ist hier nicht die wechselseitige Einräumung der Möglichkeit individueller Selbstbestimmung, sondern intrinsischer Bestandteil derjenigen sozialen Praktiken, die zusammengenommen ein relationales Handlungssystem konstituieren« (A. Honneth: Recht, S. 226).

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Johann S. Ach, Priv.-Doz. Dr. phil., Geschäftsführer und Wissenschaftlicher Leiter des Centrums für Bioethik der Universität Münster; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Theorie- und Begründungsfragen in der Ethik und der Angewandten Ethik; ethische Probleme der modernen Medizin; Tierethik. E-Mail: [email protected] Christian Arleth, Dr. jur., Syndikusrechtsanwalt bei PETA Deutschland e.V.; Arbeitsschwerpunkte: Tierschutzrechte; Tierrechte. E-Mail: [email protected] Julia Enxing, Dr. theol., Professorin für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der TU Dresden; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Theologische Human-Animal Studies; Schöpfungstheologie. E-Mail: [email protected] Marcus Held, Dr. theol., assoziierter Postdoc am Institut für Evangelische Theologie der JLU Gießen/Vikar in Mannheim; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Sozialontologie; politische Theologie; psychoanalytische Sozialpsychologie. E-Mail: [email protected] Simone Horstmann, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der TU Dortmund; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Postanthropozentrische Theologie; theologische Tierethik. E-Mail: [email protected] Jaqueline Jüling, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Religionswissenschaftliche und theologische Analyse von Herrschaftsstrukturen in Religion und Gesellschaft durch feministische, ökologische und postkoloniale Perspektiven; interreligiöser Dialog. E-Mail: [email protected]

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Religiöse Gewalt an Tieren

Hartmut Kreß, Dr. theol., Professor für Sozialethik an der Universität Bonn, Arbeitsund Forschungsschwerpunkte: neuzeitliche Ethikgeschichte; medizinische Ethik; Ethik der Rechtsordnung; Religions- und Weltanschauungsrecht. E-Mail: [email protected] Cornelia Mügge, Dr. phil., Doktorassistentin am Departement für Theologische Ethik der Universität Freiburg (CH); Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Tierethik; Feministische Ethik und Gendertheorie; Menschenrechte. E-Mail: [email protected] Thomas Ruster, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der TU Dortmund; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Tiere; Engel, Mächte und Gewalten; das Amt in der Kirche. E-Mail: [email protected] Gregor Taxacher, Dr. theol. habil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der TU Dortmund; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Apokalyptisches Denken heute; Theologie der Geschichte; Theologie der Tiere; christliches Erlösungsverständnis. Ina Wunn, Dr. rer. nat., Dr. phil. habil., apl. Professorin an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover; Arbeit- und Forschungsschwerpunkte: u.a. Evolution der Religionen; Religion und Gewalt.

Kulturwissenschaft Gabriele Dietze

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Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan

Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung Februar 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 2/2020) Oktober 2020, 178 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4937-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4937-0

Karin Harrasser, Insa Härtel, Karl-Josef Pazzini, Sonja Witte (Hg.)

Heil versprechen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2020 Juli 2020, 184 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4953-6 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4953-0

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