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German Pages 268 Year 2006
Christoph Wulf, Jacques Poulain, Fathi Triki (Hrsg.), Europäische und islamisch geprägte Länder im Dialog
Christoph Wulf, Jacques Poulain, Fathi Triki (Hrsg.)
Europäische und islamisch geprägte Länder im Dialog Gewalt, Religion und interkulturelle Verständigung
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Akademie Verlag
Diese Publikation wiirde vom Auswärtigen Amt, der Deutschen UNESCO-Kommission und der Anna Lindh Foundation gefördert.
ISBN-13: 978-3-05-004290-9 ISBN-10: 3-05-004290-7 © 2006 by Akademie Verlag GmbH. Printed in the Federal Republic of Germany. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlags in irgendeiner Form durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen verwendbare Sprache übertragen werden. Redaktion, Gestaltung und Satz: Michael Sonntag, Salzburg Druck: KOMAG Druck- und Verlagsgesellschaft, Berlin Einbandgestaltung: Hans Baltzer, Berlin
INHALT
ROLAND BERNECKER
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Vorwort CHRISTOPH WULF, JACQUES POULAIN, FATHI TRIKI
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Einleitung
I. Religion und Gewalt FATHI TRIKI
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Sozialität, Gewalt und Religion THOMAS SCHEFFLER
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Messianismus und Gewaltkontrolle: Zur Entschärfung gewaltfördernder religiöser Texte ANGELIKA NEUWIRTH
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Gewalttexte und Versöhnungsliturgien im Judentum, Christentum und Islam CHRISTINA VON BRAUN
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Alphabet und Schleier. Die Geschlechterordnung in der Begegnung von Orient und Okzident MEHREZ HAMDI
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Ist die Religion ein Hindernis für den interkulturellen Dialog?
II. Politik und Religion REYES MATE
91
Politische Theologien im westlichen Denken SADIK J. AL-AZM
109
Islam, Terrorismus und der Westen MUST APHA LAARISSA
126
Vom politischen Gebrauch des Religiösen RACHIDA TRIKI
Für eine Poiesis des demokratischen Lebens
137
III. Globalisierung und Kultur M O N A ABOUSENNA
147
Globalisierung, Gewalt und interkultureller Dialog MOURAD WAHBA
152
Der Glaube und die Globalisierung FRANCOIS DE BERNARD
157
Armut und Gewalt A B D AL-KARIM AL-BARGHUTI
169
Globalisierung und Fundamentalismus JACQUES POULAIN
182
Kulturelle Mondialisierungen und transkultureller Dialog
IV. Dialog und Interkulturalität BENMEZIANE BENCHERKI
199
Das Mittelmeer: Ergebnis eines interkulturellen Dialogs ANTOINE SEIF
206
Interkultureller Dialog und historisches Bewusstsein TERESA VELAZQUEZ
216
Die multikulturelle Gesellschaft und die Herstellung des Bildes vom Anderen. Die Rolle der Kommunikationsmittel ELFIE POULAIN
236
Soziale Rolle und individuelles Schicksal Zwei literarische Modelle der heutigen Welt CHRISTOPH WULF
248
Kulturelle Vielfalt und immaterielles kulturelles Erbe Wege zur interkulturellen Verständigung TRAUGOTT SCHÖFTHALER
260
Plädoyer für eine Rekonstruktion unseres Verständnisses von Kultur und kulturellen Identitäten Danksagung Autorinnen und Autoren
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Roland Bernecker
VORWORT
Am 8. April 2006 war der französischen Tageszeitung Le Monde zu entnehmen, dass die orthodoxe Kirche Russlands anlässlich des 10. Konzils in einem Moskauer Kloster eine „Erklärung zu den Rechten und der Würde des Menschen" vorgestellt habe, die sich ausdrücklich gegen den Individualismus wendet, wie er in der westlichen, liberalen Sicht der Menschenrechte verankert sei. An dieser Notiz ist dreierlei von Interesse. Zuerst, dass universell gültige, von den Vereinten Nationen kodifizierte Grundrechte als individualistisch kritisiert werden; sodann, dass diese Kritik im Namen der Religion ausgesprochen wird, die mit einem konkurrierenden Wertesystem aufwartet, dem höhere Gültigkeit zugesprochen wird. Schließlich ist augenfällig, dass dieser Vorgang eng im Zusammenhang des nationalen politischen Kontextes zu lesen ist. Die Positionierung der orthodoxen Kirche Russlands erfolgt, wie Marie Jego von Le Monde zu Recht kommentiert, in enger Anlehnung an die restriktive Politik des russischen Präsidenten gegenüber ausländischen Nichtregierungsorganisationen, die auf Menschenrechtsverletzungen in Russland aufmerksam machen. Die orthodoxe Kirche, Gewinnerin des neuen russischen Patriotismus, erweist dem regierenden Präsidenten ihre Reverenz und markiert zugleich das eigene Terrain. Es ist Zufall, dass ebenfalls am 8. April 2006 Kardinal Paul Poupard in einer Kolumne von Le Figaro Magazine (S. 34) auf die „leider weit verbreitete Verwechslung [confusion] von Christianismus und westlicher Kultur" hinweist, was er für einen ebenso großen Irrtum hält wie die Gleichsetzung von Islam und Fundamentalismus. Auch hier, im Namen der christlichen Religion, eine Distanzierung von westlichen, liberalen Wertvorstellungen. Es leuchtet ein, dass die globale Ausbreitung eines städtischen, westlich geprägten zivilisatorischen Modells auch eine Renaissance der kulturellen Unterschiede mit sich bringt. Was in dem UNESCO-Weltbericht „Unsere kreative Vielfalt", herausgegeben 1995 von einer Gruppe um Perez de Cuellar, noch der „Narzissmus der kleinen Unterschiede" genannt wurde, hat sich heute, etwa zehn Jahre später, zu einer vielfachen und fundamentalen Auflehnung gesteigert, die Züge einer kulturellen, religiösen und politischen Selbstbehauptung trägt. Die ökonomische und kulturelle Dimension der Globalisierung, die relative räumliche und zeitliche Verkleinerung des Planeten Erde und der zunehmende, Kontinente übergreifende Zusammenhang der relevanten Vorgänge allerorten haben ihre Geschichte, die gut und gerne bis zum Anfang der Neuzeit zurückverfolgt werden kann, oder auch darüber hinaus. Aber erst das
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Roland Bernecker
Ende des Kalten Krieges, eines mit prallgefüllten Atomwaffenarsenalen untermauerten ideologischen Bipolarismus, hat die Globalisierung in ihrer heutigen Form ermöglicht. Zugleich hat das Ende des Kalten Krieges eine Rückbesinnung auf Identitäten ermöglicht, für die in der politischen Semiotik der Nachkriegszeit wenig Raum geblieben war. Sind wir also heute Zeugen der Auseinandersetzung zwischen einem hegemonialen Universalismus westlicher Prägung (Globalisierung) und einer sich dagegen erhebenden Vielfalt der Kulturen und Überzeugungen? Diese Deutung ist oberflächlich und verkennt den eigentlichen Kern des Problems. Es gilt festzuhalten, dass die kulturelle Vielfalt ein zentraler Punkt in der globalen politischen Agenda geworden ist. Seit 1998 wurde dieses Anliegen freilich mit besonderem Elan von westlichen Staaten vorangetrieben, die ihre eigene kultuelle Vielfalt durch die Liberalisierungsbestrebungen der 1995 gegründeten WTO gefährdet sahen. Bereits 2001 reagierte die UNESCO als das Forum der Vereinten Nationen, das in Fragen der kulturellen Kooperation als ein sehr effizientes Frühwarnsystem betrachtet werden kann, mit der Verabschiedung einer „Universellen Erklärung zur kulturellen Vielfalt" auf einige der wesentlichen Herausforderungen, die sich aus der wirtschaftlichen Liberalisierung für die weltweite kulturelle Vielfalt ergaben. Mit diesem exzellenten Text war aber dem Anliegen einer großen Mehrheit der UNESCO-Mitgliedstaaten nicht Genüge getan. Die hier aufgegriffene Problematik erschien gravierend genug, dass ein völkerrechtlich verbindliches Instrument geschaffen werden sollte, um das politische Ziel der kulturellen Vielfalt und Instrumente und Maßnahmen zu ihrer Sicherung normativ festzuschreiben. In den Verhandlungen zur Ausarbeitung des „UNESCO-Übereinkommens zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen", das im Oktober 2005 in Paris mit überwältigender Mehrheit der 191 UNESCOMitgliedstaaten verabschiedet wurde, ergaben sich für die europäischen Verhandler zwei gleichzeitige Fronten. Zum einen galt es, gegenüber den USA das Prinzip der staatlichen Verantwortung für ein Mindestmaß an öffentlicher Regulierung durchzusetzen, um ein vielfältiges, allen zugängliches kulturelles Angebot aufrecht erhalten zu können. Marktöffnung und wettbewerbsrechtliche Zwänge sollten nicht dazu fuhren, dass die gezielte öffentliche Förderung von Opern, Theatern, Bibliotheken, Volkshochschulen, Filmproduktionen, Fernseh- und Rundfunkanstalten als unlautere Verzerrung des Marktgeschehens in absehbarer Zukunft untersagt werden kann. Zugleich galt es aber, ebenso nachdrücklich der Forderung insbesondere islamisch geprägter Staaten entgegenzutreten, das Instrument zur kulturellen Vielfalt zu einem normativen Akt der voraussetzungslosen Anerkennung unterschiedlicher kultureller Wertsysteme umzufunktionieren. In dieser Forderung kam ein doppeltes Anliegen zum Ausdruck, das uns an den ideologischen Gehalt des Moskauer Konzils erinnert: Kulturräume mit ihren eigenen Wertsystemen sollten im internationalen politischen Tagesgeschäft als gleichrangig res-
Vorwort
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pektiert werden, ohne den permanenten Druck zur Anpassung an das Wertgefüge eines Universalismus westlicher Prägung. Zum andern sollte festgelegt werden, dass es bei der kulturellen Vielfalt nicht um internen Pluralismus geht, also um die Chancen und Optionen einzelner Menschen, sondern vorrangig um die Anerkennung kollektiver Rechte, die gerade darin zur Geltung kommen, dass den Einzelnen der Zwang zum Verzicht auf Abweichung auferlegt wird. Aus europäischer Sicht ging es freilich genau um das Gegenteil, nämlich darum, kulturelle Vielfalt als eine grundlegende Ressource von Freiheit, von persönlicher und sozialer Entfaltung, zu definieren; nicht, sie zu einem politischen Hebel zu machen, um die Universalität der Menschenrechte in Frage zu stellen. Wir müssen uns darüber im klaren sein, dass der Druck zu einer Infragestellung der Universalität grundlegender Werte, die auf der optimalen Entfaltung der individuellen Potenziale und Lebenschancen beruhen, zunimmt. Dabei spielen Religionen eine wichtige Rolle, da sie ihre Bestimmungen aus diskursiv nicht hintergehbaren Setzungen ableiten. Ihre Kraft liegt gerade in der Verneinung der Verhandelbarkeit ihrer Prämissen. Das Individuum ist in der religiösen Systematik nicht Zweck an sich, sondern nur Instrument der Erfüllung von übergeordneten Bestimmungen. Dabei müssen sich freilich auch die Religionen fragen lassen, welchen konkreten Beitrag sie leisten zur Emanzipation der Individuen von ungerechtfertigter Bevormundung, von der Einschränkung grundlegender Menschenrechte, vom Ausschluss von Bildungsmöglichkeiten und vom Zugang zu Ressourcen, die ihre individuellen Entfaltungsmöglichkeiten erheblich befördern. Sich vom westlich geprägten „Individualismus" und damit der Summe der viele Jahrhunderte währenden europäischen Aufklärung loszusagen, ist nicht nur zu wenig, sondern leichtfertig, da auch Religionen das gelingende Leben im Blick haben sollten, das wissend, in Würde und Freiheit geführt wird. Bei der UNESCO in Paris ist seit einigen Jahren etwas zu erkennen, was ich als den „religious turn" bezeichnen würde. Diese Entwicklung müssen wir ernst nehmen und in Bezug setzen zu Vorgängen, die uns auch in Europa beschäftigen. Es ist sicher kein Zufall, dass die Ablehnung des Entwurfs zu einer neuen EU-Verfassung in Frankreich mitten in die Verhandlungen zur kulturellen Vielfalt bei der UNESCO fiel. Auch in Europa macht sich eine Verunsicherung breit über den eigenen Ort in der Welt. Die Zuversicht, über die notwendigen Ressourcen, Instrumente und Potenziale zur Gestaltung und Teilhabe an der Globalisierung zu verfügen, nimmt ab. Es ist zum ersten Mal seit Generationen davon die Rede, dass die heutige Jugend schlechter ausgestattet sein wird als ihre Eltern und Großeltern. Auch in Europa macht sich die Angst vor einem Niedergang sozialer Werte breit. Solidarität, die gerechte Teilhabe aller am gesellschaftlichen Reichtum, die soziale Absicherung weniger leistungsstarker Teile der Gesellschaft werden durch Staatsverschuldung, Arbeits-
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Roland Bernecker
losigkeit und demografische Probleme in Frage gestellt. Der sich verschärfende Wettbewerb durch aufstrebende Länder mit weniger kostenintensiven sozialen Standards stellt zunehmend auch die Werte in Frage, die sich nicht zuletzt aus dem belastbaren ökonomischen Fundament speisen. Während die Welt in der ökonomischen Globalisierung zusammenwächst, scheinen sich zugleich die Brüche zu vertiefen. Das Religiöse wird zunehmend zur Quelle fur Gewissheiten und für eine Behauptung gegen das als Zumutung und Bevormundung empfundene Eindringen fremder Wertsysteme, in denen man als Subjekt nicht mehr ohne weiteres zuhause ist. Die Teilhabe wird vielfach nicht mehr über die Qualitäten einer gelingenden sozialen Investition reguliert, sondern über ein abstrakteres ökonomisches Geschick, dessen Logik sich in die vertraute Lebenswelt nicht ohne weiteres integrieren lässt. Individuen suchen in ihrem Kulturraum Deutungs- und Bezugssysteme, in denen sie sich zur Geltung bringen können und die ihnen eine realistische Perspektive bieten. Daher ist es fur die zwischenstaatliche Verständigung unerlässlich, sich nicht allein auf die aus den wechselseitigen Vorurteilen gespeiste Rhetorik zu verlassen, sondern sich auf verschiedensten Ebenen über Erwartungen, Wahrnehmungen und gemeinsame kulturelle Perspektiven zu verständigen und auszutauschen. Gerade im euro-islamischen Dialog ist eine solche Verständigung mit so vielen Vorzeichen versehen, dass sie in vielen Fällen trotz besten Bemühens gar nicht erst zustande kommt. In dieser Hinsicht war die von der Deutschen UNESCO-Kommission in Zusammenarbeit mit der Anna-Lindh-Stiftung in Alexandria organisierte Tagung eine hervorragende und einzigartige Erfahrung. Das gewählte geschlossene Format hat ein mehrtägiges Gespräch ermöglicht, in dem ausgewählte, hochkarätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre wechselseitigen Interpretationen und Zugänge kritisch beleuchten konnten. Es war ein ungewöhnlich intensives Gespräch, in dem alle Beteiligten zu der Gesprächsebene vordrangen, die ansonsten hinter Höflichkeit oder Rhetorik verborgen bleibt. Es ist zu erwarten, dass dieses informelle Netzwerk von einflussreichen Professorinnen und Professoren in der weiteren Zusammenarbeit zentrale Fragestellungen des euro-islamischen Dialogs aufarbeitet und für die eigene universitäre Arbeit sowie fur die weitere Entwicklung dieses Netzwerks fruchtbar macht. Dies erscheint mir vor allem für den akademischen Nachwuchs von größter Bedeutung, der aus den abstrakten akademischen Routinen in das echte, persönlich geprägte kulturübergreifende Gespräch eingeführt werden muss, um für die eigene Generation einen Beitrag zu einem wirkungsvollen und belastbaren Dialog beitragen zu können.
Christoph Wulf, Jacques Poulain, Fathi Triki
EINLEITUNG
Die Verständigung zwischen europäischen und islamisch geprägten Ländern zu fördern, ist eine schwierige und langwierige Aufgabe, die vielfältiger Anstrengungen bedarf. Um in diesem Prozess Fortschritte zu erzielen, ist es erforderlich, vereinfachende Sichtweisen und generalisierende Einstellungen zwischen den Angehörigen der europäischen und der islamisch geprägten Länder zur Diskussion zu stellen, sie durch neue Einsichten und Erkenntnisse zu verändern und durch die Entwicklung weiter führender Perspektiven zu verbessern. An die Stelle Komplexität reduzierender Bilder und Vorurteile über Religion und Gewalt, Demokratie und Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, Individuum und Gemeinschaft, Bildung und Kultur bedarf es differenzierter Kenntnisse voneinander. Für Europäer und Europäerinnen bedeutet dies, dass sie die Sichtweisen der Angehörigen der islamisch geprägten Länder in ihre Weltsicht einbeziehen müssen; Entsprechendes gilt für die Angehörigen der islamisch geprägten Welt. Offenheit für andere Sichtweisen und Situationsdeutungen besagt nicht, dass man diese teilt; es bedeutet jedoch, dass man sich für sie interessiert und sich um ihr Verständnis bemüht. Durch Interesse aneinander gewinnt nicht nur das Verständnis religiöser, politischer und kultureller Zusammenhänge an Komplexität. Es entstehen auch neue Möglichkeiten, kulturelle Phänomene und die in ihnen zum Ausdruck kommende Alterität und Würde des Anderen zu begreifen. Der Kolonialismus und der Rassismus der europäischen Länder haben dazu beigetragen, in den islamisch geprägten Ländern unzulängliche Lebensbedingungen und bei den Menschen dort Unterlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühle zu erzeugen. Bei vielen Europäern sind Einstellungen der Überheblichkeit und Missachtung gegenüber den Menschen in den islamisch geprägten Ländern entstanden, unter denen die gegenseitigen Beziehungen nach wie vor leiden. Infolge von Kriegen und Gewalthandlungen seitens einiger westlicher Länder gegen islamisch geprägte Länder sind in den letzten Jahren die negativen Emotionen gegenüber der westlichen Welt stark gewachsen. Das hat dazu geführt, dass viele Muslime Gewaltphantasien und Vergeltungswünsche empfinden und bereit sind, Gewalt- und Rachehandlungen zu tolerieren oder sogar moralisch zu unterstützen. Vor dem Hintergrund dieser Situation werden politisch und medial inszenierte Handlungen, die eine Aufwertung des Selbstgefühls der Menschen in den islamisch geprägten Ländern in Aussicht stellen, mit Hoffnung und Anerkennung aufgenommen. Dazu gehören häufig auch ter-
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roristische Aktionen, die mit religiösen Argumenten legitimiert werden und mit deren Hilfe djihadistische Islamisten vorgeben, kollektive Kränkungen, Missachtungen und Ohnmachtserfahrungen zu rächen, und die dadurch viele Muslime dafür gewinnen, sich mit ihnen zu solidarisieren. Selbst wenn sich unter Muslimen die Stimmen mehren, die sich gegen die Inanspruchnahme des Islam zur Legitimierung von Gewalt erheben und betonen, dass der Islam nicht mit Islamismus verwechselt werden dürfe, sondern wie die anderen monotheistischen Religionen eine Religion des Friedens sei, gewinnen diese Positionen nicht die gleiche politische und mediale Aufmerksamkeit und Darstellung wie Äußerungen, die Islam, Krieg und Gewalt miteinander verbinden. In den Beziehungen zwischen den europäischen und den islamisch geprägten Ländern ist Gewalt heute eines der zentralen Probleme. Ihr Spektrum reicht von der manifesten Gewalt in kriegerischen Auseinandersetzungen und terroristischen Aktionen bis hin zu Formen struktureller Gewalt, die sich in Folge von Kolonialismus und Rassismus in Jahrhunderten herausgebildet haben, und den Manifestationen kultureller und symbolischer Gewalt. Das Spektrum der manifesten Gewalt reicht von der muslimischen Besetzung Spaniens über die Kreuzzüge, die Belagerung Wiens durch die Türken, den Feldzug Napoleons, die Kolonialisierung Nordafrikas durch Engländer und Franzosen bis zu den beiden Golfkriegen und den Kriegen mit Israel. In den kriegerischen Zusammenstößen zwischen den westlichen und den islamisch geprägten Ländern werden die Formen manifester Gewalt von kultureller und symbolischer Gewalt überlagert. Einige Politiker und Journalisten lassen die Rhetorik der Kreuzzüge Wiederaufleben bei ihrer Forderung nach der Befreiung der Menschen und der Verbreitung der Demokratie. Zugleich handeln sie jedoch so, dass ihre Taten gegen die Werte der Demokratie und die Menschenrechte verstoßen. Im Terrorismus sehen sie die Verkörperung des Bösen, das es mit militärischen Mitteln auszurotten gelte; sie begreifen nicht, dass ihre „Feldzüge gegen das Böse" zur Ausweitung des Terrorismus und seines Umfelds und damit zur Eskalation der Gewalt beitragen. Die Gewalt der Terroristen geht nicht von Staaten aus, sie ist „irregulär", so dass es schwer ist, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Im Kampf mit dem Terrorismus findet eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Weltanschauungen statt, in dem die Neuen Medien eine außerordentliche Bedeutung gewinnen. In ihnen wird ein Krieg der Bilder inszeniert und aufgeführt, der darüber mitentscheidet, wer weltweit als Sieger oder als Verlierer angesehen wird. In diesen Kriegen überlagern sich die verschiedenen Arten manifester, kultureller und symbolischer Gewalt und führen zu neuen Formen medialer Gewalt, die das kollektive und individuelle Imaginäre nachhaltig beeinflussen. Um eigene Positionen zu begründen, werden in diesen Konfrontationen auch aus dem Kontext gerissene Beispiele aus der Geschichte angeführt. Sie dienen als Illustration und Legitimation fur einander zugefügte und voneinander erlittene Gewalt und treiben die Gewaltspirale zu immer schnelleren Dre-
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hungen. In mimetischen Prozessen erfolgt eine Ausbreitung und Steigerung der Gewalt. Jede neue Gewalthandlung wird auf frühere bezogen und mit diesen begründet und legitimiert; und sie wird selbst wieder zum Ausgangspunkt neuer Gewaltaktionen. Solange nicht alle Seiten bereit sind, den circulus vitiosus der Gewalt zu verlassen, ist ein Ende der Gewalt nicht in Sicht. Erst gemeinsamer Gewaltverzicht macht eine Veränderung der Situation möglich. Europäer und Europäerinnen müssen sich immer wieder bewusst machen, dass Terrorismus und dschihadistischer Islamismus nicht mit dem Islam identisch sind. Während sie von der Überlegenheit des Islam über alle Nicht-Muslime ausgehen und diese als Ungläubige mit Gewalt bekämpfen, ist der Islam als die jüngste der drei großen monotheistischen Religionen nicht weniger eine Religion des Friedens als das Christentum und das Judentum. Auch im Christentum hat es immer wieder religiös begründete Gewalt gegeben, die mit dem Friedensgebot nicht vereinbar war. Erinnert sei neben den Kreuzzügen an die Kriege gegen die Katharer, die Verfolgungen der Inquisition, die Missionskriege in Südamerika und die Religionskriege in Europa. Wenn sich Religionen im Besitz einer unverrückbaren göttlichen Wahrheit wähnen, geraten ihre Repräsentanten in Gefahr, Andersgläubige zu missachten und Abweichungen von der „Wahrheit" im Namen Gottes mit Gewalt zu bekämpfen. Deshalb müssen Priester, Pfarrer, Rabbiner und Imame dafür eintreten, dass alle Religionen als Religionen der Toleranz, des Friedens und der Liebe zum Menschen gelebt werden. Im Islam spielen die Unterwürfigkeit gegenüber Gott (islam) und Tugenden (ihsene) wie Gastfreundschaft, Großzügigkeit, Bescheidenheit, Frömmigkeit und Toleranz eine wichtige Rolle. Die Wirklichkeit des Islam bildet sich im Zusammenwirken zwischen den Lehren des Korans, dem für den Alltag vorbildlichen Leben des Propheten und der Einheit stiftenden islamischen Gemeinschaft. Brauchtum, heiliger Text und richtiges Verhalten schaffen die Einheit des Glaubens (imän). Auf ihrer Grundlage erfolgt die Einbettung des Individuums in die Gemeinschaft der Gläubigen. Wie das Judentum und das Christentum ist der Islam an kein bestimmtes Territorium gebunden, sondern hat sich in fast alle Regionen der Welt ausgebreitet und so eine große muslimische Gemeinschaft (umma) geschaffen. Wie im Christentum gibt es innerhalb der umma ein breites Spektrum kultureller Vielfalt und Diversität. Judentum, Christentum und Islam gehen davon aus, dass Gott prinzipiell von den Menschen nicht begriffen werden kann und diese sich daher kein Bild von ihm machen dürfen. Gott ist jenseits des menschlichen Auffassungsvermögens; er wirkt aber auf die Menschen ein und verlangt von ihnen, dass sie ihr Leben unter Bezug auf ihn führen. Mit dieser den monotheistischen Religionen gemeinsamen Auffassung gewinnen viele Gläubige eine kritische Distanz gegenüber Vorstellungen von einem auf reine Immanenz reduzierten Leben. Die Einschränkung menschlichen Lebens auf Individualismus und Rationalität, Arbeit und Ökonomie ist für alle Religionen inakzeptabel. Stattdessen be-
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tonen sie die Bedeutung religiöser und spiritueller Werte für die Entwicklung der Menschen. Zu diesen gehören auch Werte wie Frieden, kulturelle Vielfalt und Nachhaltigkeit, von deren Realisierung die Zukunft der Menschen abhängt. Angesichts dieser Aufgaben stellt sich die Frage, ob die großen monotheistischen Religionen ihre Möglichkeiten zur Verwirklichung dieser Ziele ausschöpfen und ob und wie sie ihre Anstrengungen steigern können. Innerhalb des Dialogs zwischen europäischen und islamisch geprägten Ländern untersucht der vorliegende Band vier Zusammenhänge: Religion und Gewalt, Politik und Religion, Globalisierung und Kultur, Dialog und Interkulturalität. In allen Bereichen geht es um den Austausch von Kenntnissen, Einsichten und Perspektiven mit dem Ziel, das Verständnis füreinander zu erweitern und zu vertiefen. Voraussetzung sind Achtung voreinander und Interesse am Anderen. In diesem Austauschprozess ergeben sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede, deren Verarbeitung die Möglichkeiten steigern, einander besser zu verstehen und Perspektiven für weitere Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln. Ausgangspunkt unseres Dialogs ist im ersten Teil der Zusammenhang von Religion und Gewalt und der Versuch, deutlich zu machen, dass die drei monotheistischen Religionen weit reichende Möglichkeiten haben, das friedliche Zusammenleben der Menschen zu fordern. In allen Religionen bedarf es dazu der Entschärfung von Gewalt fördernden religiösen Texten und der Entfaltung des Potentials der Versöhnungsliturgien. Die auf Frieden ausgerichteten Seiten der Religionen gilt es zu entwickeln und ihre Möglichkeiten zu nutzen, Menschen zu „kultivieren", d. h. zu erziehen und zu bilden. In diesem Prozess spielen Tugenden eine wichtige Rolle, mit deren Hilfe das Zusammenleben der Menschen geregelt wird und deren Verwirklichung über den religiösen Kontext hinaus für das Leben in der Zivilgesellschaft wichtig ist. Alle monotheistischen Religionen betonen die Bedeutung der Gemeinschaft für die Entwicklung der Individuen und deren Bedeutung für die Gemeinschaft. Je nach historischem und kulturellem Kontext entstehen unterschiedliche Auffassungen darüber, wie das Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Individuum zu bestimmen ist. Für die Ausbalancierung dieses Verhältnisses spielen die Menschenrechte eine wichtige Rolle; im Einzelfall kann es durchaus strittig sein, wie die Beziehung zwischen individuellen Rechten und Rechten der Gesellschaft geregelt wird. Im zweiten Teil geht es um den Zusammenhang zwischen Religion und Politik. Politische Theologien nehmen im Judentum, Christentum und Islam eine wichtige Rolle ein. Sie behandeln die Frage, wie Religion und Politik aufeinander bezogen und miteinander vermittelt werden können. Dabei spielen Mythos, Gnosis und Gnostizismus eine wichtige Rolle. Selbst wenn man vom Tode Gottes ausgeht, entgeht man nicht der Notwendigkeit, etwas an seine Stelle setzen zu müssen, und sei es den Mythos der Zeit, der heute in den westlichen Gesellschaften das menschliche Zusammenleben determiniert und gegen des-
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sen zentrale Seiten in den islamisch geprägten Ländern des öfteren nachhaltig Einspruch erhoben wird. Auch im Bereich der politischen Theologien gilt es deutlich zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden. Im Islamismus werden Religion und politisches Handeln so eng aufeinander bezogen, dass die Unterschiede zwischen dem religiösem und dem politischen Handeln fast aufgelöst werden. Nach Auffassung islamischer Fundamentalisten hat der offenbarte Text Vorrang vor der Vernunft und muss als Ausgangspunkt aller Gesetzgebung gelten. Daher sind Islam und Politik untrennbar. Solange es ein zwischen Islam und Demokratie vermittelndes Beratungssystem (choura) gibt, wird eine prinzipielle Vereinbarkeit zwischen Demokratie und Islam angenommen. Ob diese Vereinbarkeit wirklich besteht, ist eine offene Frage, zu der es kontroverse Positionen gibt. Wenn die Differenz zwischen Religion und Politik weitgehend eingeebnet wird, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass wichtige, erst mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft entstehende Bereiche politisch nicht gestaltet werden können. Unter dem Einfluss der Religion erfolgt die funktionale Ausdifferenzierung in vielen islamisch geprägten Ländern sehr langsam. Gelingt es nicht, diesen Prozess zu beschleunigen, werden viele Entwicklungshemmnisse nicht überwunden, so dass viele islamisch geprägte Länder weiterhin Mühe haben werden, sich im Rahmen der globalisierten Welt zu behaupten und den Platz einzunehmen, den sie nach ihrem Selbstverständnis gerne innehätten. Für die Gestaltung der Zivilgesellschaft sind die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Bereiche und eine gewisse Unabhängigkeit der Politik von der Religion, die sich in den meisten europäischen Ländern während der Aufklärung entwickelte, eine Voraussetzung. Bei dieser Entwicklung geht es um mehr als um die Freiheit des Konsums. An Stelle der Konsumfreiheit tritt die Ausübung der Souveränität der Bürger im Hinblick auf die Redefreiheit und die Mitbestimmung sowie die Gestaltung plurikultureller Demokratien, in denen kulturelle Unterschiede artikuliert und gelebt werden können. Im dritten Teil werden einige der unter dem Begriff „Globalisierung" zusammengefassten Prozesse untersucht, die das Verhältnis zwischen den islamisch geprägten und den europäischen Ländern beeinflussen. Viele dieser Prozesse fuhren zur Nivellierung von Unterschieden in Werten, Normen und Praktiken und zur Universalisierung wirtschaftlicher, technischer und sozialer Rationalität und der ihnen entsprechenden Entwicklungen. Andere Prozesse sind gegenläufig; in ihnen wird die Unhintergehbarkeit kultureller Differenzen herausgestellt und die Bedeutung politischer, sozialer und kultureller Diversität für die Entwicklung kultureller Identität betont. Vereinheitlichung und Vielfalt kennzeichnen zwei gegenläufige Dynamiken weltweiter Entwicklung, die sich wechselseitig verstärken und die es auszubalancieren gilt. Viele Menschen wollen an dem Entwicklungspotential der Globalisierungsprozesse partizipieren, ohne bereit zu sein, Einschränkungen ihrer kulturellen Identität hinzunehmen, auf der sie um so mehr bestehen, je mehr sie durch globale Vereinheitlichungs-
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prozesse gefährdet ist. Konflikte zwischen diesen beiden Dynamiken treten in allen Ländern und Kulturen auf und haben Einfluss auf deren Verhältnis zueinander. Angesichts der Komplexität dieser Zusammenhänge greift eine vereinfachende Zuordnung der europäischen Länder zu den Gewinnern und der islamisch geprägten Länder zu den Verlierern der Globalisierung zu kurz. In beiden Regionen gibt es sowohl Gewinner als auch Verlierer der Globalisierung. Daher gibt es in beiden Regionen auch neue Formen von Reichtum und Armut. Wenn die kulturelle Identität nachhaltig durch die Globalisierung gefährdet wird, wächst die Gefahr eines kulturellen und religiösen Fundamentalismus, der sich als Widerstand gegen den drohenden Verlust kultureller Identität inszeniert. Für den Dialog zwischen den europäischen und den islamisch geprägten Ländern ist es wichtig, die Gestaltung des Verhältnisses von Globalisierung und kultureller Identität als ein gemeinsames Problem zu sehen. Im vierten Teil werden diese Probleme aufgegriffen und weiter erörtert. Gezeigt werden soll, wie ein interkultureller Dialog zwischen europäischen und islamisch geprägten Ländern möglich ist. Einer der zentralen Ausgangspunkte ist die gemeinsame geographische Lage an den Rändern des Mittelmeers und die daraus entstehenden intensiven wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Austauschprozesse, die seit Jahrhunderten das Zusammenleben in dieser Region gestalten. Im Verlauf der Zeit haben sich viele Praktiken des friedlichen Umgangs mit kultureller Vielfalt herausgebildet, die es zu erhalten und weiter zu entwickeln gilt. Für die Realisierung dieses Ziels ist der interkulturelle Dialog eine unhintergehbare Voraussetzung. In seinem Rahmen müssen sowohl die vom Konzept des Djihads für die europäischen Länder ausgehende Bedrohung als auch die fatalen Auswirkungen des wiederbelebten Kreuzzugsgedankens auf die islamisch geprägten Länder erörtert werden. Im Prozess interkultureller Verständigung spielt die Entwicklung eines gemeinsamen historischen Bewusstseins eine zentrale Rolle, in dem sowohl die negativen als auch die positiven Elemente der wechselseitigen Beziehungen bedacht werden müssen. Ein solches Bewusstsein, das auch die heutigen Probleme in das gemeinsame Verhältnis einbezieht, stellt eine wichtige Voraussetzung für dessen Verbesserung dar. Zur Entwicklung eines gemeinsamen historischen Bewusstseins bedarf es der Bereitschaft und des Muts zur Selbstreflexion und Selbstkritik. Sie zielt darauf ab, sich der Alterität der Gesprächspartner zu öffnen, d. h. zu begreifen, dass deren Sicht der Welt anders ist und dass diese Andersheit kein Mangel ist. Was im interkulturellen Dialog als „Alterität" erfahren wird, konstituiert sich in den Beziehungen zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen. Wie das „Eigene", so existiert auch das „Andere" nicht an und für sich; beide haben keinen ontologischen Status, sondern konstituieren sich in der Begegnung zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen. Alterität wird kontextuell, d. h. sie wird in einer bestimmten historischen und kulturellen Situation erfahren. Möglich ist diese Erfahrung nur, wenn Offenheit und Neugier bestehen, das Fremde kennenzulernen, es auf den eigenen histo-
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risch und kulturell geprägten Verstehenshorizont zu beziehen und diesen dadurch zu bereichern. Das Recht der Gesprächspartner, sich voneinander zu unterscheiden und kulturelle Diversität zum Ausdruck zu bringen, ist für die Qualität des interkulturellen Dialogs konstitutiv. Das Recht auf kulturelle Diversität ist ein Menschenrecht, das mit anderen in Konflikt geraten kann, und das, wenn es die Rechte anderer Menschen verletzt, auch eingeschränkt werden kann. Um in und mit kultureller Diversität zu leben, bedarf es der Bereitschaft zum heterologischen Denken als einem Denken vom Anderen her und des Engagements dafür, dessen Alterität in das eigene Denken, Fühlen und Handeln einzubeziehen. Im transkulturellen Dialog können Fragen der Multikulturalität bearbeitet und Perspektiven kultureller Globalisierung entwickelt werden, mit denen die Beziehungen zwischen den europäischen und den islamisch geprägten Ländern verbessert werden können. Damit dieser transkulturelle oder interkulturelle Dialog gelingt, bedarf es der gemeinsamen Erinnerung an religiöse und kulturelle Werte, an Jahrhunderte wechselseitiger Beziehungen des Leidens und des gelungenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Austausche sowie der Besinnung auf die Probleme der Gegenwart und auf die Notwendigkeit, diese konstruktiv zu bearbeiten, so dass ein friedliches Zusammenleben in kultureller Diversität möglich wird, auf dessen Grundlage die fur das Überleben der Menschheit unerlässliche Aufgabe der Förderung der Nachhaltigkeit in den zentralen Bereichen gesellschaftlichen Lebens angegangen werden kann.
I. Religion und Gewalt
Fathi Triki
SOZIALITÄT, GEWALT UND RELIGION
1. Gewalt und Zusammenleben Es ist allgemein bekannt, dass die Sozialität des Menschen das Individuum seiner Einsamkeit entreißt, es in einem gewissen Maße aus dem engen Reich der Triebordnung befreit und, wie Cornelius Castoriadis erklärt, seiner Existenz einen Sinn gibt, der sich als „imaginierte soziale Bedeutung" auffassen lässt. Ist diese Sinngebung nun ein Gewaltakt gegen die Individualität des Menschen - eine Individualität, die als Unabhängigkeit von der Natur und dem Anderen aufzufassen ist - oder ist sie vielmehr die Wegbereiterin der Gesittung, ohne die der Mensch, nach Aristoteles, entweder Über- oder Untermensch bliebe? Dieses Problem taucht auf, wenn man die Gewalt auf die individuelle Handlungsfähigkeit des Menschen reduziert und vergisst, dass die tatsächliche Manifestierung der Gewalt und ihr Kern in den sozialen Beziehungen begründet sind, in der Notwendigkeit des Miteinanderseins und in der natürlichen Verpflichtung des Zusammenlebens.1 Aus diesem Grund scheint uns die Beziehung zum Anderen der Schlüssel zu jeglicher Erklärung von Gewalt zu sein. Ob bei Husserl, Levinas, Sartre oder Derrida - das Anderssein ist Antriebsgrund sowohl physischer als auch sozialer Gewalt. Das Anderssein, das sich selbst als einzigartig versteht und jede Universalität zurückweist, ermöglicht diese empirische Eventualität namens Gewalt. Gleichzeitig wohnt jeglicher Gewalt auch das Nicht-Respektieren des Anderen in seiner Eigenschaft als Anderer inne. Aus diesem Grund kann die Gewalt letztlich nicht von der Macht getrennt werden.2 Ob bei Marx, Weber,3 Freund,4 Maffesoli 5 oder auch
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Man darf nicht aus dem Blick verlieren, dass die Gewalt fester Bestandteil der Struktur menschlicher Sozialität ist. Zusammenleben heißt niemals in Frieden leben. Es bedarf der ganzen Kraft der praktischen Vernunft, zu versuchen, die Bedingungen eines Ideals des glücklichen und friedlichen Zusammenlebens aufzuklären. 2 Vergessen wir nicht, dass Macht \pouvoir\ an sich Stärke \puissance\ ist und in sich die Idee des Zwangs [/brce], in Form von Konflikt oder Beziehung, einschließen kann. Abgesehen davon, dass Macht als Stärke veranlassen kann, dass alles, was sich nicht ihren Entscheidungen oder Kriterien und Gesetzen unterwirft, als gewalttätig gilt, wird ein Widerstandskämpfer (im besetzten Frankreich, im kolonialisierten Algerien oder in Palästina etc.) oft, wenn nicht immer, von der Besatzermacht als gewalttätig und terroristisch bezeichnet. Daher ist die Natur dieser von der Macht ausgehenden Gewalt genauer zu klären. Max Weber leitet daraus eine „legitime Gewalt" ab. Wir können hier nicht die Legitimierung von Gewalt und deren mehr oder weniger willkürlichen Aspekt erörtern. Es soll ausreichen, die Komplexität der Bezie-
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bei Althusser und Balibar: Sozialität kann sich nicht außerhalb der Gewaltproblematik entwickeln. Das gewaltsame Zusammenleben wird folglich durch den Zusammenhalt und das Gleichgewicht der zwischenmenschlichen Beziehungen definiert, welche durch die Omnipräsenz der Gewalt - sei sie symbolisch, ideologisch oder physisch - geschaffen werden; einer Gewalt, die durch die politische Autorität offen oder subtil ausgeübt wird, um Zusammenhalt und Unterwerfung zu erzielen. Durch eine „Philosophie", die Gewalt verherrlicht und Krieg als Notwendigkeit postuliert, wird in rein ideologischer Hinsicht in der gewalttätigen Sozialität, wie sie sich im modernen politischen Denken manifestiert, sowohl der autoritäre Kapitalismus gerechtfertigt, indem die Zivilgesellschaft geopfert (zumindest immer kontrolliert und unterworfen) wird, als auch die politische und militärische Hegemonie (Kolonialismus, Embargo etc.) sowie jegliche politische Barbarei, die jede Form von Würde auslöscht.
2. Das Prinzip identitärer Gesamtheit Folglich ist festzuhalten, dass alles Zusammenleben sich in einer Pluralität organisierter und organisierender Formen entfaltet. Es wird immer abhängiger von der enormen Institution, die die Gesellschaft in ihrer komplizierten aktuellen Wirklichkeit darstellt. Der Krieg, der bewaffnete Frieden und alle Formen der Gewalt, seien sie institutionell begründet oder nicht, sind in dieses tägliche Zusammenleben eingeflochten, um zu dem beizutragen, was ich „das Prinzip identitärer Gesamtheit" (l'ensemblisme identitaire) nenne. Dieser Begriff des Zusammenlebens, der durch die Unterschiedlichkeit der institutionellen Elemente ebenso wie durch die verschiedenen Lebensweisen, sexuellen Regulierungen, die nahezu vollständige Dominanz der Institution Arbeit oder das Auftauchen der Universalsprache der Informatik kompliziert wird, stößt sich an einer Hauptschwierigkeit: Wie kann das Individuum seine Autonomie wahren und gleichzeitig Teilhabe praktizieren, um bewusst die Fragmente seiner Welt, der Welt, in sich aufzunehmen und auf diese Weise einen Raum des Zusammenlebens und günstige Bedingungen für Gastfreundschaft zu schaffen? Anders gesagt: Wie soll das Bestreben des Institutionellen, sich mittels einer bald maskierten, bald wirklichen Gewalt zu behaupten, mit jenem des Individuums versöhnt werden, das oft zum Rebellen wird, um seine Freiheit zu bewahren? Eine der aktuellen Entwicklungen unserer Zeit, deren Auswirkungen immer stärker in unseren Gesellschaften zu spüren sind, ist, wenn man so will, die hung von Gewalt und Macht aufzuzeigen, die sich auf den Bereich der Kulturen ausweiten und eine tragische Ausprägung annehmen kann. 3 Vgl. Weber 1971. 4 Vgl. Freund 1965. 5 Vgl. Maffesoli 1978.
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Rechtfertigung einer Tendenz des zeitgenössischen „Überkapitalismus", an die Stelle des Bürgers den Konsumenten, an die des Gesetzgebers den Unternehmer zu setzen und die politische Entscheidung, die dieses Zusammenleben harmonisiert, auf die einfache Frage nach einer effizienten Verwaltung von Ressourcen und Gütern zu reduzieren - eine oft gewaltsame Verwaltung ä la Sarkozy etwa, um die Befriedigung von Wünschen und Präferenzen zu erreichen. Jede Gemeinschaft erschafft ihren Sinn und begründet ihr Netz von Bildern und Repräsentationen, das sich als „Infra-Macht" behauptet, um einen Begriff von Castoriadis zu verwenden,6 und das sich verstetigen und wie der zur Institution geronnene Mythos oder die Religion absolut setzen will. Das Prinzip der Gesamtheit gestattet keine Differenz, keine Abweichung und keine Diversität und erträgt keine Alterität. Es verleugnet nicht nur das Denken als Ausdruck des Zusammenseins, sondern teilt die umgebende Welt durch komplexe Identifikationsprozesse in zwei Kategorien auf; ein wenig wie Carl Schmitt, wenn er Freund von Feind trennt und dabei die „existentielle Zugehörigkeit" zwangsläufig über den Ausschluss dessen definiert, was er die „fremde Rasse" nennt.
3. Das Islamische und der Islamismus Als Beispiel werden wir den neuerlichen Versuch politischer Entscheidungsträger im Westen und westlicher Medien anführen, die terroristische Gewalt durch den Islam zu erklären.7 Unser Ziel ist zu zeigen, dass diese These unbegründet ist - nicht aus dem Grund, dass der Islam, wie Judentum und Christentum, in keiner Weise Gewalt schafft, sondern weil im Grunde die Philosophie des auf Gastfreundschaft gegründeten Zusammenlebens zum jetzigen Zeitpunkt nicht den dominanten Aspekt westlicher Rationalität in ihrem politischen und wirtschaftlichen Gewand darstellt - einer Rationalität, die sich, um einen Ausdruck von Michel Serres aufzunehmen, durch den beständigen Ausschluss des Anderen, des Differenten, konstruiert. Mehrere islamische Intellektuelle (aus arabischen und muslimischen Ländern) haben oft, auf unterschiedliche friedliche Weise, das Streben ihrer Völker zu Freiheit und Demokratie verteidigt. Sie haben sich häufig an das westliche Gewissen gewandt, um ihm eine peinliche Frage zu stellen: Warum entdecken nach den politisch Verantwortlichen auf einmal (sei es nun zu Beginn des ersten Golfkriegs oder in dem Moment, in dem die USA ihre Truppen auf den aktuellen Irakeinsatz vorbereiten) die westlichen Denker, Schriftsteller, Journalisten und Entscheidungsträger, dass Diktatoren in islamischen und arabischen Ländern existieren und mörderische fundamentalistische Netzwerke bereits 6 7
Castoriadis 1990, S. 119. Vgl. zu diesem Thema das Buch von Thomas Deltombe (2005).
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seit über 20 Jahren in der Welt aktiv sind? Warum haben die Schriftsteller geschwiegen, als ihre Länder jene Diktaturen unterstützten und befürworteten? Sind die Menschenrechte nicht zum politischen Spielball geworden, anstatt als unteilbare Ethik fortzubestehen, die sich an den Menschen als solchen richtet? Die islamische Welt beherbergt in ihrer großen Unterschiedlichkeit mehrere innere Widersprüche, mehrere Strömungen des Widerstands und der Befreiung, mehrere Konfliktpunkte mit anderen Religionen. Es ist eine sich ständig verändernde Welt, die manchmal interne Revolutionen (Iran) oder niedergeschlagene Revolten hervorbringt, dann wieder erfolgreiche Widerstandsbewegungen, die auf die Innenpolitik mancher Länder, wie den Sudan, Ägypten, Pakistan oder Algerien, Einfluss nehmen. Wie lassen sich nun diese Herde der Gewalt erklären, die bis ins Extrem umschlagen können? Es ist zu bemerken, dass der traditionelle Islam in seinem tiefsten Innern richtigerweise immer als eine Aufforderung zum Frieden und zur Brüderlichkeit begriffen wurde. Ohne Zweifel ist er auch als religiöse Einstellung der Unterwürfigkeit gegenüber Gott zu verstehen, jedoch auch gegenüber der politischen Autorität eines Landes. Der traditionelle Islam, der in den kleinsten Verästelungen der Gesellschaft verwurzelt ist, wird oft als Sozialethik ausgelegt, die durch gegenseitige Hilfe, Gastfreundschaft, Toleranz, Großzügigkeit, Bescheidenheit und Frömmigkeit charakterisiert ist. Tatsächlich ist die islamische Offenbarung eine Öffnung der Menschheit zum Einzigen hin. Sie ist sicherlich eine ideale Vision der Gemeinschaft der Gläubigen, der umma islamya, ein geschichtliches Ideal, das sich faktisch nie vollständig realisiert. Sie besteht jedoch in und durch die Anstrengung der Gläubigen, diese Gemeinschaft in ihrem sozialen und persönlichen Leben in Form von Friede und Wohltätigkeit zu verkörpern. Sie ist zwar eine Wirklichkeit, die sich mit der Ereignisgeschichte aktualisiert, sie humanisiert jedoch diese Geschichte in ihrer Eigenschaft als imän und ihsän, Glaube und Wohltätigkeit. Dies ist der Grund, warum der traditionelle Islam Konflikte und Kriege, die fitna, zurückweist. Das Dasein des Muslims in der aktuellen Situation der Welt ist ohne Zweifel geprägt durch Verletzungen, Anstrengungen und Widerstand. Sein Engagement bedeutet hier, dass er sich seiner Wunden bewusst werden muss, einen Versuch unternehmen muss, die Welt zu ändern und sie zu verbessern. Der djihäd ist dabei in erster Linie ein gewaltloses Mittel der Überzeugung. Als Krieg verstanden ist er jedoch nur „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" und hört in diesem Verständnis auf, eine Fortsetzung des Glaubens, des imän, zu sein. Tatsächlich zeichnet sich die islamische Religion für die Gläubigen durch eine ihr eigene Besonderheit aus, die auf ihrem Heilsversprechen und ihrer Eigenschaft als Mobilisierungsfaktor beruht: Zum einen begründet sie „ein operatives und normatives Modell" von Macht, nämlich das des Propheten und der ersten Kalifen, welches prinzipiell alle Gewalten der islamischen Welt
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nachahmen müssen; 8 zum anderen definiert sie sich als eine die benachteiligten Massen mobilisierende Ideologie und nährt oft Widerstandsbewegungen gegen Ausbeutung und fremdes Eindringen. Wir teilen die Auffassung Rodinsons, dass „die islamische Welt besonders [ist], sie ist nicht außergewöhnlich. Sie wird sich nicht den großen Gesetzen der Menschheitsgeschichte entziehen können. Ihre Zukunft ist eine Zukunft des Kampfes. Des Klassenkampfes oder vielmehr der sozialen Gruppen, des Kampfes der Nationen oder viel umfassender der globalen Gesellschaften." 9 Als Religion des Engagements wird der Islam oft als Aufruf zum Kampf des „Guten" gegen das „Böse" erlebt. Den Islam politisch zu leben bedeutet, aus ihm eine leidenschaftliche Religion zu machen, eine mobilisierende Ideologie, die bis zum Äußersten fuhren kann. Man muss ebenfalls berücksichtigen, dass der Islam in seiner Eigenschaft als Ideologie des Engagements nur selten als Beschränkung und einfache Unterwerfung unter die Obrigkeit erlebt wird. Im Wesentlichen wird er vom Gläubigen als die Möglichkeit erfahren, „sich auf einem bereits vorgezeichneten Weg zu betätigen, um sich seinen eigenen Weg in der Welt, die ihn umgibt, zu bahnen. Der Islam bietet nicht die Sicherheit der Anerkennung, sondern das Risiko und die Gefahren des Hinterfragens, der Suche und der Auseinandersetzung, der kontinuierlichen Erklärung." 10 Daher rührt übrigens eine historische Dialektik zwischen dem heiligen Text des Islam (dem Koran), dem alltäglich Gelebten des Propheten und der Einheit stiftenden umma islamiya (der islamischen Gemeinschaft). Der Islam bedeutet eine Verpflichtung zum Sozialen, da er eine Bestätigung des zwischenmenschlichen Lebens ist, ein Weg zum gemeinschaftlichen Leben und „nicht zu inneren Schwelgereien; ein Weg, der durch eine Berufung gesichert ist, welche zur gesetzlichen Struktur des Islam wird, ein Weg, auf dem die wesentliche religiöse Bedeutung dem [göttlichen] Gesetz zukommt, welche das [theologische] Dogma nicht erreichen kann, und auf dem die reine Mystik immer von augenscheinlicher Heterodoxie geprägt erscheint. Nichts versinnbildlicht diesen Weg besser als der tazzakki, Läuterung und Geradheit, der sich in der ζakät, dem vorgeschriebenen Almosen als Schuldigkeit des Besitzstandes gegenüber den weniger Glücklichen, entfaltet ..."" Der Islam ist ebenfalls Aufforderung zu politischer Betätigung. Er hat nicht nur die ehemals dominante Ideologie verwandelt und eine Neukonzeption der politischen Organisation ermöglicht. Er hat sich auch den (arabischen) Menschen zugewandt und deren Wünsche, Bedürfnisse und Leben in die Zukunft und nach außen ausgerichtet. Von diesem Zeitpunkt an fühlt sich der arabische Mensch in sei8 Der Islam wurde oft als mobilisierende Ideologie angesehen, weil seine Ausübung häufig auf die Veränderung der Lebensweise der Menschen und ihrer Beziehungen untereinander ausgerichtet ist. Der Koran bereitet den ideologischen Grund für die Entstehung des „dar al-islam", des Ortes des Islam im Umfeld einer zentralisierten Macht (Gardet 1976, S. 27). 9 Rodinson 1964, S. 235. 10 Sinaceur 1978, S.259. 11 Ebd., S. 262.
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ner Eigenschaft als Mitglied einer neuen islamischen Gemeinschaft dazu berufen, sein Islamischsein und folglich sein Arabischsein zu verteidigen. Der Islam bedeutet schließlich auch Verpflichtung im Universellen. So erhebt sich der Araber dieser Zeit zum Universellen, indem er nicht den logos oder al 'aql (die Vernunft) anfuhrt, sondern den Glauben an einen einzigen Gott und an die Menschlichkeit des Menschen. 12 Vergessen wir nicht, dass der Begriff din (Religion) im Islam sehr komplex ist. Seine Etymologie umfasst auch den Sinn des Wortes „Stärke". Al-Müh!t erklärt den Terminus din folgendermaßen: „danä wa yadinu, sich stärken und sich unterwerfen, gehorchen und ungehorsam sein". Er präzisiert außerdem, dass er neben Unterwürfigkeit und Gehorsam auch Inquisition, Unterdrückung, Transzendenz, Macht, Obrigkeit etc. bedeutet.13 D.B. Macdonald bemerkt, dass sich hinter diesen unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes din drei etymologische Ursprünge verbergen: ein dem Hebräischen entlehntes Wort mit der Bedeutung „Urteil", ein ursprünglich arabisches Wort mit der Bedeutung „Brauch" und ein persisches Wort für „Religion".14 Obwohl Macdonald auf der Verwirrung besteht, die durch diese dreifache Bedeutung geschaffen wird, bezeichnet das Wort din eine göttliche „Institution", die die vernunftbegabten Wesen mit Hilfe der von ihnen getroffenen Entscheidungen führt, um ihres Wohlergehens hier und im Jenseits willen. Es umfasst gleichermaßen den Glauben an Gott und die sich daraus ableitenden Verhaltensweisen (imän) sowie das rechte Handeln des Menschen gemäß den Regeln der Moral und der Religion in der Gesellschaft (ihsen). Ist es notwendig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass din bereits zu Zeiten Mohammeds unterschiedslos die „Religion und/oder die Regierung" bezeichnete, wie es Hamidullah gezeigt hat? 15 „Religion" heißt folglich im Islam Brauch, Wahrheit, richtiges Verhalten. Im weitesten Sinne stellt sie die Einheit des Glaubens {imän), der Unterwürfigkeit gegenüber Gott (isläm) und der Tugend (ihsene) dar, was „Wohltätigkeit" im vollen Verständnis des Wortes bedeutet: alles gut, gewissenhaft und „unter den Blicken Gottes" tun.
12 Der Islam begreift sich als Botschaft, die sich an die gesamte Menschheit richtet: „Und wir entsandten dich nur zur gesamten Menschheit als einen Freudboten und Warner, jedoch wissen es die meisten Menschen nicht" (XXXIV, 28). Das humane Handeln im Islam wird in folgendem Vers verdeutlicht: „Aus diesem Grund haben wir den Kindern Israel verordnet, dass wer eine Seele ermordet, ohne dass er einen Mord oder eine Gewalttat im Lande begangen hat, soll sein wie einer, der die gesamte Menschheit ermordet hat. Und wer ein Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten" (V, 32). [dt. nach der Koranübers. von Max Henning, Stuttgart 1998]. 13 Vgl. Qämous al Muhit d'al-Fayrüzabadhi al-ghiräzi. Alam al-Kutub, Bd. 4, Beirut, S. 225. 14 In: Gibb/Kramers 1953, S. 77. 15 Hamidullah 1968, S.37.
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4. Islam und Ideologie Wie ist folglich diese Veränderung des Islam von einer Religion der Liebe zu einer Ideologie des Engagements zu verstehen? Warum erhebt sich der traditionelle Islam letztendlich wie ein Schutzschild gegen diese Ideologisierung des Kults? Ich kann hier nur wenig Licht auf diese Fragen werfen und nur Hypothesen über diese problematische Beziehung aufstellen, die den Islam an die Moderne bindet. Der politische Islam ist das Resultat einer Ideologie, die diese Religion ihres tatsächlichen Fundaments beraubt, sie als absolute und für alle Zeiten festgeschriebene Abstraktion errichtet und durch eine einzige und ausschließliche politisch-religiöse Doktrin vereinheitlicht hat, welche die absolute Wahrheit für sich allein beansprucht. Dieser Konservatismus, der das „Unveränderliche" des Islams verteidigt, hat sein Äquivalent in der fremdenfeindlichen Einstellung einiger westlicher Intellektueller aus Medienkreisen und sogar der Literatur, die immer wieder durch das obsessive Wiederholen von Klischees über die Unerträglichkeiten des Islam zutage gebracht wird. Georges Corm bemerkt: „[...] der seit allen Zeiten und in allen Orten unveränderliche und unbewegliche Islam, Religion der Verschlossenheit, der Intoleranz und der Gewalt, der Islam des djihad, der dhimma, des Schleiers der Frauen, der Geißelung und der abgehackten Hände: All dies empfindet die westliche Psyche seit der iranischen Revolution." 16 Letzten Endes ist der Islamismus als missbräuchliche Ideologisierung der islamischen Religion ein Totalitarismus der Identität. Er ist in keiner Weise die Suche nach einer angemessenen Positionierung des Muslims in der Welt und ebenso wenig die Verteidigung dieser von den anderen oft verkannten und verachteten Religion. Er ist ganz einfach eine muskelstrotzende Art und Weise, die verschiedenen Konfigurationen des Islam innerhalb verschiedener Gesellschaften zu verneinen. Ohne die Einheit des Dogmas zurückzuweisen, ist es möglich, die Verschiedenheit und Pluralität des tatsächlichen Islam, wie er tagtäglich gelebt wird, zu bekräftigen. Der Islam ist, wie jede Religion, in der Geschichte verwurzelt und muss sich den Strukturen der Gesellschaft, in der sie ausgeübt wird, anpassen. Ist es notwendig, daran zu erinnern, dass augenblicklich in 45 Ländern der Islam die Mehrheit repräsentiert, ohne hier Indien zu nennen, wo der Islam zwar eine religiöse Minderheit stellt, aber die Zahl der Muslime sich auf beinahe 100 Millionen beläuft, oder auch China, wo die Zahl der Muslime 80 Millionen übersteigt? Der Islam ist in mehreren europäischen, afrikanischen, asiatischen und amerikanischen Ländern mit einem Anteil zwischen 5 und 50 Prozent vertreten. Dies bedeutet einfach, dass die Gestalt des Islam so variabel wie ausdifferenziert ist und der Islam in den arabischen Staaten nur eine Minderheit darstellt (mit nur 17,3%). Vorzugeben, es gebe nur eine einzige Art, Muslim zu 16 Corm 1992, S. 105.
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sein, oder es gebe, einem ideologisch operierenden, normativen Modell folgend, das aus dem Schiismus, der Zeit des Propheten oder gar aus dem arabischen Islam bemüht wird, einen guten und einen schlechten Muslim, heißt, die außergewöhnliche Vielfalt des Islam auf einige unveränderliche, unbewegliche Satzungen zu reduzieren, die zwar erstarrt, aber dennoch erschreckend, gewalttätig und intolerant sind. Diese Intoleranz zielt nicht nur auf den Nicht-Muslim ab, sondern auch und besonders auf den Muslim, der nicht nach diesen Satzungen geformt werden kann.
5. Eine Welt ohne Grenzen Die permanente Anspannung wird verstärkt durch einen Aspekt des Islamismus, der oft vernachlässigt wurde, nämlich die „Deterritorialisierung"17 der islamischen politischen Aktion. Dieser Aspekt gründet in der Abwesenheit von Grenzen. In der Tat ist die islamische Gemeinschaft, die umma, aus der Gesamtheit der Muslime zusammengesetzt, ganz unabhängig davon, an welchem Ort der Welt sie leben. Der Glaube ist das einzige Kriterium der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, die Einheit des Territoriums spielt dagegen eine zu vernachlässigende Rolle. Aus diesem Grund können auf die islamische Machtstruktur nicht die gewohnten Kriterien der modernen, westlichen Zentralisierung des Politischen angewandt werden. Die Art des Regierens der unterschiedlichen Mächte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts formierte sich „durch Vertreter und Vermittler oder spontane Angriffe, um einen Vertreter einzusetzen oder Steuern einzutreiben."18 Die islamische Gemeinschaft ist daher grundsätzlich eine menschliche Einheit ohne Gebiet, weder mit einem genauen Ort noch mit einem gebietsbezogenen Denken. Alle Eroberungen zu Beginn des Islam hatten in erster Linie die Islamisierung der Bevölkerung zum Ziel und weniger die Aneignung des Raumes. Die einzigen von dieser Gemeinschaft anerkannten Grenzen verlaufen zwischen dar al-islam und dar al harb, dem Haus des Islam und dem des Krieges, in dem die Ungläubigen, welche zu islamisieren sind, wohnen. Aber dies sind politische und symbolische Grenzziehungen, denn in der Realität verändern sich diese je nach Lage der strategischen und taktischen Bündnisse der jeweiligen Zeit, vor allem jedoch in Abhängigkeit der möglichen Beitritte der Bewohner zu den Dogmen des Islam. Dies erklärt auch, dass der tatsächliche Gehorsam, der sich durch Überzeugung und Vertrag kundtut, nicht immer der Obrigkeit des Hauptortes einer Region geschuldet wird, sondern der religiösen Autorität, ganz gleich, wo diese ihren Sitz hat, es sei denn, dass sich 17 Vgl. die Bedeutung, die Deleuze und Guattari (1980, S.476) diesem Wort geben: „[...] wenn die Religion sich als Kriegsmaschine konstituiert, wird eine ungeheure Ladung an Nomadentum oder absoluter Deterritorialisierung freigesetzt [...]" [dt. S. 528]. 18 Zartmann 1980, S. 8.
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diese beiden Autoritäten überschneiden, was in der Geschichte der islamischen Zivilisation alle Regierungen zu erreichen trachteten. Eine weitere Konsequenz der Deterritorialisierung des politischen Islam gründet im Identitätskonzept des Individuums. Vor nicht allzu langer Zeit bildete der Islam das einzige Fundament, auf dem diese Identität fußte. Ungeachtet des Geburts- oder Wohnortes, ungeachtet des Herkunftslandes von Eltern und Vorfahren, definiert man sich über sein Islamisch-Sein und über die gesamte Symbolik, die mit dieser Zugehörigkeit transportiert wird. Nachdem das Prinzip des Nationalstaats durch die Kolonisation eingeführt und durch modernistische Rationalisten in einigen islamischen Ländern errichtet worden war, hat nun, nach der Unabhängigkeit, die nationale Zugehörigkeit Schwierigkeiten, sich als Identitätskriterium durchzusetzen. Der Panarabismus, der übrigens zunächst von arabischen Intellektuellen christlichen Glaubens eingeführt wurde, hat es nicht vermocht, die Zugehörigkeit zum Islam zugunsten einer neuen, auf dem Arabischsein fußenden Identität abzulösen. Die Leichtigkeit, mit der Aktionen politischer islamischer Gruppierungen weltweit - von den Philippinen über Tschetschenien und Nigeria bis in die USA - koordiniert werden, lässt sich zum Teil durch die Identifikation mit dem Islam erklären, die ohne jegliche politische Bindung an ein Territorium auskommt.
6. Eine Globalisierung durch Ausschluss Es ist offensichtlich, dass man nicht nur von einer einzigen heute möglichen Globalisierung sprechen kann. Jene aber, die der Hyperkapitalismus weltweit durchsetzen will, beruht auf drei zentralen Punkten: - einer intensiven Zirkulation von Geld, Gütern und Waren; - einer strengen Kontrolle aller bestehenden Kräfte, vor allem deijenigen, die diesen Austausch behindern können, - einer Kontrolle über die Bewegungsfreiheit der Individuen: Während der Norden sich überall auf der Welt frei bewegen kann, ist der Süden abhängig von Visa und muss sich unglaublichen Reglementierungen unterwerfen. Allen Kulturen dieselbe einheitliche und definitive Lebensweise vorschreiben zu wollen, kann jedoch nur in einer Gewaltspirale münden. In der Tat bestimmen derzeit zwei Arten der Beziehung zum Anderen die westlichen Gesellschaften: der Rassismus und der Kolonialismus, die die beiden Hauptmerkmale des Hyperkapitalismus in Bezug auf die Frage der Alterität sind. Rassismus: Die Welle von Attentaten auf Ausländer in mehreren Ländern der Welt während der letzten Jahre, der Aufstieg neofaschistischer Gruppen, die immer weiter in die Entscheidungsinstanzen vieler europäischer Länder vorrücken, die Aktivitäten ultranationalistischer und ultrafanatischer Minder-
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heiten, die Zunahme rassistischer und ausgrenzender Slogans und Parolen bei marginalisierten Jugendlichen, aber auch Entscheidungsträger, die rassistische Beleidigungen und unhaltbare Reden gegenüber Angehörigen anderer Rassen äußern, bezeugen die Schwere des Ausschlusses. Es gibt nicht nur eine Intensivierung „gewalttätiger und kollektiver Äußerungen des Rassismus".19 Vielmehr vereinen sich heute eine Banalisierung und eine Art öffentlicher Akzeptanz dieser Akte mit dem von vielen Denkern und Schriftstellern in den Medien verbreiteten intellektuellen Standpunkt, der die Fremden, ihre Kulturen, Religionen und Lebensweisen inkriminiert. Im Westen werden rassistische Äußerungen akzeptiert, wenn sie auf Schwarze, Araber und Muslime abzielen. Besser noch: Der Entscheidungsträger, der sich in dieser Weise öffentlich äußert, gewinnt in den Umfragen. Man redet heute, ohne sich um Genauigkeit zu scheren, vom Faschismus der Jugendlichen in den Pariser Vororten, von Jugendlichen beispielsweise, die aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit gesellschaftlich nicht eingebunden und doppelt fremd sind: fremd bezüglich ihrer Herkunftskultur und fremd in ihrem jetzigen Land.20 Die Ironie der Geschichte ist, dass die Unterdrückten als Faschisten und diejenigen, die täglich gewaltsam gegen diese Jugendlichen vorgehen, als Verteidiger der Demokratie angesehen werden. Ich halte diese Situation für äußerst schwerwiegend, da sie nur das Vor19 Balibar 1997, S.325. 20 Hierzu schreibt Etienne Balibar in La crainte des masses: „Was unbestreitbar neu ist, ist die Intensivierung gewalttätiger und kollektiver Äußerungen des Rassismus, ist der Übergang zur Tat, die kollektiv und öffentlich das Verbot des Mordes überschreitet und sich auf diese Weise, sogar in Formen, die Ihnen vulgär und primitiv erscheinen, das schrecklich gute Gewissen eines historischen Rechts gibt. Das Überschreiten dieser Schwelle, oder eher einer Serie von mehreren Schwellen in diese Richtung, hat sich in einem europäischen Land nach dem anderen ereignet, und immer mit einem gattungsspezifischen Blick auf fremde Bevölkerungsgruppen in Europa oder durchaus auch auf Teile der nationalen Bevölkerung, die dieselben sozialen Merkmale aufweisen (im Wesentlichen den Status der Heimatlosen, Flüchtlinge). Dies alles geschah, als wäre seit rund zehn Jahren von einem europäischen Land zum anderen der Staffelstab weitergegeben worden. Kein einziges europäisches Land kann heute von sich behaupten, unversehrt geblieben zu sein: von Osten nach Westen, von Frankreich und England nach Italien und Deutschland, bis hin zu Ungarn und Polen (ich wage erst gar nicht, vom ,Fall' Jugoslawien zu sprechen). Und jedes Mal wurde diese Intensivierung, mit jeweils mehr oder weniger engen und bestätigten Verbindungen, von einem Erstarken organisierter ultranationalistischer Gruppen begleitet und einem Wiederauftauchen des Antisemitismus - eines im Wesentlichen symbolischen Antisemitismus, was jedoch den Ernst nicht mindert, da dies beweist, dass es sich hierbei um das Modell handelt, an dem sich fremdenfeindliche Vorstellungen, getrieben vom Traum einer ,Endlösung der Immigrationsfrage', orientieren. Jedes Mal haben Meinungsumfragen allen denjenigen, die sich in der illusionären Annahme des Gegenteils wogen, enthüllt, dass die Argumente, die den Rassismus als eine Art Verteidigungsreaktion auf eine bedrohte nationale Identität und soziale Sicherheit rechtfertigten, von großen Teilen aller sozialen Klassen weitgehend akzeptiert sind - auch wenn seine extremen Formen nicht (oder noch nicht?) allgemein befürwortet werden: Vor allem handelt es sich hierbei um die Vorstellungen, dass die Anwesenheit vieler Fremder oder Einwanderer das Lebensniveau, die Beschäftigung, den öffentlichen Frieden bedroht und dass bestimmte kulturelle Differenzen - die in Wirklichkeit sehr gering ausfallen - unüberwindbare Schwierigkeiten im Zusammenleben darstellen und eventuell sogar unsere traditionellen Identitäten .verfremden' könnten."
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spiel zur Ausgrenzung und wahrscheinlich zur ethnischen Säuberung ist, wie sie sich in Bosnien ereignet hat. Sie ist umso schlimmer, als die Islamfeindlichkeit im Westen nicht einen einzigen ernsthaften und wirkungsvollen Widerspruch durch westliche Intellektuelle erfahren hat. Kolonialismus: Der Ausdruck „Kolonialismus" ist etwas grobschlächtig, jedoch sollte er nicht nur sehr ernst genommen werden, weil er ein Studienobjekt an amerikanischen Universitäten ist (Derrida spricht davon), sondern vor allem, weil er eine neue Einstellung des Imperialismus gegenüber den beherrschten Ländern zu erklären vermag. Wenn wir die Geschichte der Moderne in Bezug auf den Begriff des Fremden, den es zu beherrschen gilt, untersuchen, gibt es keinen Zweifel daran, dass die Kolonialisierung ein Schlüsselbegriff ist, der gewisse Befürchtungen über die gegenseitige Verständigung der Menschen untereinander zulässt. Die Moderne wurde durch die große Kolonialisierung Amerikas eingeleitet, die sich durch Massaker in vorher ungeahnten Ausmaßen angekündigt hatte, durch einen Völkermord an der eingeborenen Bevölkerung, der ungestraft geblieben ist, und vor allem durch die Etablierung einer rassistischen, ausgrenzenden Machtstruktur, die bis vor noch nicht allzu langer Zeit Bestand hatte. Dies verleiht dem Begriff des Kolonialismus einen besonderen Stellenwert für das Verständnis der interkulturellen Beziehungen, die die Vereinigten Staaten nach innen wie nach außen unterhalten. In Wirklichkeit ist es die Struktur westlicher Rationalität, die den Kolonialismus als eine mögliche Beziehung zum Anderen in sich schließt. Die Utopie der Freiheit, des Fortschritts und der Menschlichkeit, die sich die Aufklärung auf die Fahnen geschrieben hat, wurde mehrmals ideologisch und militärisch durch die Kräfte westlicher Herrschaft zurechtgerückt. Die ersten Resultate waren ewig währende Massaker und die Errichtung rassischer, politischer und wirtschaftlicher Machtstrukturen des Westens in der nicht-westlichen Welt. Das moderne Sklaventum selbst kann als ein echtes Resultat des Kolonialismus angesehen werden.21 21 „Unter diesem Gesichtspunkt wäre das koloniale Sklaventum als eine frühe Produktionsform anzusehen, in Analogie zum Feudalismus, den das Kapital nach und nach zu ersetzen geschafft hat. Die kapitalistische Ideologie der Freiheit wäre, in diesem Fall, eine reine Triebkraft der Aufklärung. / Die Beziehung des Kapitals zum kolonialen Sklaventum ist jedoch sehr viel inniger und komplexer. Zunächst einmal ist ihre Praxis eine ganz andere, auch wenn die kapitalistische Ideologie von ihrem Prinzip her dem Sklaventum entgegengesetzt ist: Das Kapital fasste die auf Sklaverei beruhenden Produktionssysteme nicht nur weltweit zusammen und verstärkte sie, sondern es schuf auch neue Sklavereisysteme in einer noch nie da gewesenen Größenordnung, vor allem in den beiden Teilen Amerikas. Man könnte diese Schaffung von Sklavereisystemen durch das Kapital als eine Art Lehrgang in Kapitalismus interpretieren, in dem das Sklaventum ein Übergangsstadium ist zwischen der natürlichen Wirtschaft, d. h. den geschlossenen und autarken Wirtschaftskreisen, die vor dem Eindringen der Europäer existierten, und dem Kapitalismus im eigentlichen Sinn. Tatsächlich kündigen die karibischen Plantagen im 17. Jahrhundert in Organisation und Ausmaß in gewisser Hinsicht die industriellen Stätten des 19. Jahrhunderts in Europa an. Dennoch waren die auf Sklaverei fußende Produktion in Amerika und der Handel mit Schwarzafrikanern nicht einfach (noch nicht einmal dem Wesen nach) ein Übergang zum Kapitalismus. Sie haben vielmehr einen
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Zu erklären, dass die auf Sklaverei gegründeten Regime der kapitalistischen Produktion und Entwicklung inhärent seien, suggeriert eine enge Beziehung zwischen dem Wunsch des arbeitenden Individuums, aus dem Zusammenhang der Unterwerfung unter Anweisungen zu fliehen, und den Versuchen des Kapitals, die Bevölkerung in den festen Grenzen eines Territoriums festzuhalten. Der „Flucht"-Wunsch der Vielen ist der Motor, der den gesamten Prozess kapitalistischer Entwicklung antreibt und den das Kapital beständig zu bremsen versuchen muss. In diesem Fall verstehen wir den Willen des Hyperkapitalismus besser, die nicht-westliche Welt, die ein besonderes wirtschaftliches oder strategisches Interesse weckt, ein weiteres Mal zu kolonialisieren - jedoch mit anderen Mitteln und Rezepten. Nach Palästina, Afghanistan und dem Irak werden weitere Länder unterliegen. Der Kolonialismus wendet sich augenblicklich auch bei Strategen wie bei Intellektuellen ins Positive, und es scheint, dass der Kolonialismus den eroberten Ländern nur Gutes bereitet habe, seitdem er im Namen einer gewissen Interpretation der Menschenrechte durchgesetzt wird. Seit kurzem unterrichtet man beispielsweise in Frankreich Kinder und Schüler des Gymnasiums über die Wohltaten der französischen Kolonialisierung in Algerien, Tunesien und Marokko. Durch diese zwei Bewegungen des Ausschlusses Fremder, hier des Arabers, Schwarzen und Muslimen, wenn er im Innern der westlichen Welt lebt (der Rassismus), dort die Übernahme der Sorge um sein Dasein und Schicksal, wenn er in seiner Welt lebt (der Kolonialismus), gelingt es der hyperkapitalistischen Globalisierung, die Beziehung zwischen den Kulturen für immer auf eine Beherrschung zu reduzieren, die nicht anders als blutig sein kann.
7. Widerstand durch Transkulturalität In Anbetracht dieser zwei Bewegungen, des islamistischen Prinzips identitärer Gesamtheit einerseits und der Ausgrenzung des Anderen durch Rassismus und Kolonialismus andererseits, erscheint das Angesicht der Menschheit entstellt. Eine Analyse Hannah Arendts besagt, dass der Grund fur die von Ungleichheit und Gewalt geprägte Moderne durch das Umstürzen der Hierarchie im Bereich der vita activa liege, in der die Arbeit, eine der Notwendigkeit geschuldete „prä-politische" Phase, sich der gesamten Sphäre des Politischen bemächtigt und das Erschaffen und Handeln dominiert. Ausgehend davon können wir ohne großes Risiko bestätigen, dass unsere Welt in immer stärkerem Maße von einer bilanzierenden Rationalität des wirtschaftlichen Austausche, relativ stabilen Unterbau gebildet, eine Art Sockel der systematischen Ausbeutung, auf dem sich der europäische Kapitalismus selbst errichtet hat. Es kann hier keinen Widerspruch geben: Die Sklavenarbeit in den Kolonien ermöglichte den Kapitalismus in Europa, und das europäische Kapital hatte kein Interesse daran, auf sie zu verzichten" (ebd.).
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von einer instrumentalisierten Rationalität der Techniken und von einer gewaltsamen Rationalität der Politiken bestimmt wird. Die Ideale von Gerechtigkeit, Gleichheit, Unabhängigkeit, die spirituellen Horizonte der Menschheit und die Vorstellungen von Glück und Miteinander - diese Prinzipien des demokratischen Zusammenlebens überlassen ihren Platz dem „Ideal" des Konsums einer stetig wachsenden Menge an materiellen Gütern, die im Übrigen äußerst ungleich verteilt sind. Die Menschheit bricht auseinander und zerfällt in zwei Blöcke: eine „echte" Menschheit, die man mit allen Mitteln schützt, und eine andere Menschheit, aus der sich die Achse des Bösen formiert, die Verbrechen, Kriminalität, Terrorismus und Armut hervorbringt. Sie kann zugunsten der ersteren geopfert werden. Hat nicht neulich ein Journalist und amerikanischer Politiker, Kissinger, dem amerikanischen Präsidenten Bush vorgeschlagen, Atombomben auf Iran, Syrien und Libyen abzuwerfen? Warum auch nicht: Die Einwohner dieser Länder gehören nicht zur „echten" Menschheit, welche die westliche politische Rationalität im Begriff ist, gegen den Rest der Welt aufzubauen. In diesem Fall macht leider keine Philosophie der Menschenrechte, kein universelles Denken einen Sinn, wenn nicht mit neuer Kraft dieser neuen, erschreckenden Politik widersprochen wird, die immer größere internationale Bedeutung erlangt. Die westliche politische Rationalität antwortet jedoch auf das integrale Prinzip identitärer Gesamtheit mit einem anderen, einseitigen Gesamtheitsprinzip, das auf Ausschluss beruht. Vor dem internationalen politischen Chaos, das durch eine „gewaltsame" Diplomatie bestärkt wird, die täglich ihre Kriegsdrohung erneuert, greift der sich bedroht fühlende Muslim auf ein Prinzip zurück, das den ersten Jahrhunderten islamischer Eroberungen entstammt: al-chahada, das Martyrium. Der Prophet selbst ist zwar nicht als Märtyrer gestorben, jedoch gilt dem Muslim, der sich tagtäglich in seinem Leben bedroht fühlt, das Sterben für die Verteidigung und die Verbreitung des Islam als der beste aller möglichen Tode. 22 Um den Teufelskreis aus Gewalt, in dem wir zur Zeit leben, auf nationaler wie internationaler Ebene durchbrechen zu können, bedarf es vielleicht der Entwicklung eines demokratischen Zusammenlebens, worunter ich eine aktive Demokratie verstehe, die die Gesamtheit der Grundrechte in das tägliche politische Handeln national und international einschreibt und die das politische Handeln auf von allen akzeptierten moralischen Prinzipien aufbaut. Durch die öffentliche Debatte, die soziale Solidarität und die Selbstbestätigung wird die Geschichtlichkeit des Menschen, etwa des Muslim, nicht geop22 Sich selbst zu töten, um ein Märtyrer zu werden, ist im Islam nicht wirklich vorgesehen, mehrere Texte (Koran und Sünna) verbieten sogar den Selbstmord. Die Vorstellung, den Akt des Selbstmordes mit dem Märtyrersein zu verbinden, findet sich explizit beim französischen Soziologen Dürkheim (1960, S. 30), wenn er über den Selbstmord in der westlichen Kultur schreibt. Diese Frage bedarf einer genauen Untersuchung, um den Status des Selbstmordes in der islamischen Religion und dessen Überschneidung mit dem Märtyrertod aufzuzeigen.
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fert und vergessen, aber auch nicht zur erschreckenden, gefühlsgeladenen Last. Sie wird sich notwendigerweise in eine „Historialität" (historialite) verwandeln, eine Art Handlungsanleitung für Zukünftiges, die zum essentiellen Bestandteil der Definition kultureller Identität wird. Im Moment allerdings ist eine Form des Widerstands notwendig, um gegen den neuen kolonialen Eroberungsgeist und die Banalisierung des Rassismus zu kämpfen. Das wirksamste Mittel dieses Widerstands bleibt trotz allem der interkulturelle Dialog, der von der Philosophie aufgegriffen werden und sich transkulturell verstehen muss.
A. d. Frz. von Constanze Fröhlich/ Markus Meßling/Bernhard Hunger
Literatur Balibar, Etienne: La crainte des masses. Paris 1997: Galilee. Castoriadis, Cornelius: Le monde morcele. Paris 1990: Seuil. Corm, Georges: Conflits et identites au Moyen-Orient (1919-1991). Paris 1992: Arcantere. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Capitalisme et Schizophrenie. Mille plateaux. Paris 1980: Minuit (dt. von G. Ricke/R. Vouille, Berlin: Merve). Deltombe, Thomas: L'islam imaginaire. Paris 2005: La decouverte. Dürkheim, Emile: Le suicide. Paris 1960: PUF. Freund, Julien: L'Essence du politique. Paris 1965: Sirey. Gardet, Louis: La cite musulmane. Vie sociale et politique. Paris 1976: Vrin. Gibb, Η. A. R./Kramers, J. H. (Hg.): Shorter Encyclopaedia of Islam. Leiden 1953: Brill. Hamidullah, Muhammed (1968): The First Written Constitution in the World. An Important Document of the Time of the Holy Prophet. Lahore: Ashras. Maffesoli, Michel: La violence fondatrice. Paris 1978: Champ urbain. Rodinson, Maxime: Islam et capitalisme. Paris 1964: Seuil. Sinaceur, Muhamed Allal: L'ideologie de l'islam. In: Francois Chätelet (Hg.), Histoire des Ideologies. Bd. 1. Paris 1978: Hachette. Weber, Max: Economie et societe. Paris 1971: Plön. Zartmann, William: Pouvoir et Etat dans l'lslam. In: Pouvoirs 12, 1980.
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MESSIANISMUS UND GEWALTKONTROLLE: ZUR ENTSCHÄRFUNG GEWALTFÖRDERNDER RELIGIÖSER TEXTE
1. Die „mediterrane Tradition" und ihre Ambivalenzen In der Zusammenfassung seiner politisch-theologischen Vorlesungsreihe The New Science of Politics hielt der deutsch-amerikanische Philosoph und Politikwissenschaftler Eric Voegelin 1952 fest, dass die von ihm kritisierte „Moderne" sich „innerhalb der westlichen Gesellschaft" im Wettstreit mit der „mediterranen Tradition" herausgebildet habe.1 Der Begriff „mediterrane Tradition" bezeichnete bei Voegelin die Auseinandersetzung zwischen griechischer Philosophie, jüdischer Offenbarungsreligion und christlicher Eschatologie im antiken Mittelmeerraum - eine Auseinandersetzung, die, ihm zufolge, in der Entwicklung eines weit-transzendenten Monotheismus gipfelte, der auf eine fundamentale „Entgöttlichung" irdischer Macht hinauslief, so, wie sie Augustinus (354-430) in seiner Unterscheidung zwischen civitas dei und civitas terrena, Kirche und Staat, zusammengefasst habe. Die „Moderne" hingegen sei, so Voegelin (1901-1985), einer innerchristlichen Häresie entsprungen, die die transzendente Eschatologie des Christentums in ein Problem der innerweltlichen Selbsterlösung verkehrt habe und damit die verhängnisvolle „Wiedervergottung" menschlicher Macht betreibe. Voegelin sah in dieser „Häresie" innerchristliche Restbestände des, von Augustinus theologisch überwundenen, jüdischen Messianismus der Antike am Werke.2 Den Aufstieg der modernen Varianten dieser Art von „politischer Religion" schrieb er dem jahrhundertelangen Fortwirken „gnostischer" Strömungen im Christentum zu. Diese hätten ihren ersten systematischen Ausdruck in der visionären Geschichtstheologie des italienischen Abts Joachim von Fiore (ca. 1130/35-1202) gefunden und nördlich der Alpen in den protestantischen Revolutionen des 16. und 17. Jahrhunderts ihren historischen Durchbruch erreicht. Für Voegelin bestand die zentrale theologisch-politische Errungenschaft der mediterranen Tradition in der „Entgöttlichung" (de-divinization) irdischer Macht. Von Säkularisierung" sprach er in diesem Zusammenhang allerdings nicht - mit gutem Grund, denn dieser Begriff war für ihn mit der Erbsünde der 1 Voegelin 1952, S. 187-188, 164. 2 Ebd., S. 107ff.
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Moderne verbunden, nämlich der neuzeitlichen „Wiedervergottung" (re-divinization) des Menschen. 3 Diese habe zwar ungeahnte innerweltliche Energien entfesselt; sie zerstöre aber die geistigen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens. Wer an ein Paradies auf Erden glaube, untergrabe die Idee der unsterblichen Seele als Grundlage verantwortlichen moralischen Handelns. 4 Wer der innerweltlichen Geschichte Heilscharakter zuspreche, verdränge zudem den Gedanken an das unvermeidliche Ende aller natürlichen Dinge. Dies fördere Träume von einer ewigen, perfekten Gesellschaft sowie die Bereitschaft, sie mit brutalen Mitteln gegen die widerständige Wirklichkeit durchzusetzen. 5 Auf der Strecke blieben dabei so wichtige gesellschaftsbildende Tugenden der „mediterranen Tradition" wie die sophia (Weisheit) und die prudentia (Klugheit).6 Und schließlich: Wer den Menschen philosophisch aus sich selbst heraus begründen wolle, beraube ihn seines Status als imago dei, der „wahren Quelle seiner unantastbaren Würde". 7 Der Ausschaltung Gottes aus dem öffentlichen Raum folge die Erosion der Menschenwürde, dem „Gottesmord" der Menschenmord. 8 Säkularisierung und Säkularismus gelten unter europäischen Intellektuellen heute meist als historische Vorbedingungen eines religionsneutralen Staates und damit des friedlichen Zusammenlebens multireligiöser Gesellschaften. Voegelin hingegen, die Exzesse des Faschismus und Kommunismus noch frisch vor Augen, sah in ihnen Begleiterscheinungen eines „gnostischen" Syndroms, das auf Erosion der Menschenwürde, Entfesselung von Gewalt und die Selbstzerstörung der Menschheit hinauslief - und zwar gleichgültig, ob es sich dabei um Kommunismus, Faschismus oder den liberalen Fortschrittskult der Aufklärung handele.
2. Messianismus, religiöser Pluralismus und Weltfrieden Voegelin sprach in seiner New Science kaum vom Islam, aber die Tatsache, dass er die Schriften Calvins, Comtes und Marx' als gnostischen „Koran" bezeichnete,9 deutet darauf hin, dass der Islam für ihn eine weitere Variante jener innerweltlichen Eschatologien war, die er als „Gnosis" bekämpfte. In der Vermutung, zwischen Islam und modernem Totalitarismus bestehe eine geistige Verwandtschaft, war er unter seinen Zeitgenossen nicht allein: 1949 hatte der französische Schriftsteller Jules Monnerot (1909-1995) die These aufgestellt,
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Ebd., S. 119. Ebd., S. 130-132, 163-166. Ebd., S. 166-173. Ebd., S. 169-170. Voegelin 1962, S. 173. Voegelin 1999, S. 98. Voegelin 1952, S. 139-140.
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der Kommunismus sei „der Islam des 20. Jahrhunderts". 10 Und 1952 hatte der israelische Historiker Jacob L. Talmon (1916-1980) die totalitären Bewegungen Europas mit dem der jüdischen Religionsgeschichte entlehnten Schlagwort „politischer Messianismus" belegt" - ein Begriff, der sich unterschwellig auch gegen den Zionismus David Ben Gurions richtete, 12 theoretisch aber gleichermaßen zur Charakterisierung des politischen Islam verwendet werden konnte, wie überhaupt aller Bewegungen, die im Staat mehr sehen wollten als einen liberalen Verband zur Verteidigung der Rechte seiner Bürger. All diesen Ansätzen war gemeinsam, dass sie die Geschichte der innerweltlichen Eschatologien des östlichen Mittelmeerraums durch die Brille der Totalitarismusideologien des Kalten Krieges lasen und damit zu einer stark verkürzten Interpretation der „mediterranen Tradition" gelangten. Denn im Gegensatz zu den europäischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zielten die innerweltlichen Erlösungsbewegungen der mediterranen Antike nicht auf die Ausrottung des jeweils „Anderen" ab, sondern auf seine abgestufte Einordnung in ein größeres Ganzes. Ebenso wie die Ausbreitung der monotheistischen Idee vom einen Gott spiegelte der Ruf nach einem göttlich erleuchteten irdischen Weltherrscher die schicksalhafte Erfahrung vieler Völker, in einer gemeinsamen Welt zu leben, die von keiner einzelnen Nation mehr aus eigener Kraft kontrolliert werden konnte. Der Begriff enthielt eine Antwort auf die zunehmende wirtschaftliche und politische Verflechtung der Alten Welt, eine Verflechtung, die nicht nur großen Reichtum produzierte, sondern auch steigende soziale Ungleichheit, politische Usurpationen und unablässige zwischenstaatliche Kriege. Entsprechend groß war der Wunsch, die Kräfte des Chaos durch eine weltweite Ordnungsmacht zu bändigen. Angesichts der Größe der Ökumene und der Rivalitäten zwischen ihren vielen Völkern war ein multinationales Friedensweltreich damals kaum anders zu denken denn als absolute Monarchie eines außergewöhnlichen Herrschers, der sich mit übermächtiger, quasi göttlicher Gewalt durchzusetzen wusste und neben einem höheren, weisheitlichen Wissen zugleich auch die Interessen und Traditionen der Unterworfenen in sich verkörperte. Die erfolg- und folgenreichste Form dieser Integrationsideologie nahm im Persischen Weltreich Gestalt an, dessen Begründer, Kyros II. (r. 559-529 v. Chr.), die Eroberung Babyloniens (539) mit dem Anspruch rechtfertigte, es seien die Götter Babylons selbst gewesen, die ihn bevollmächtigt hätten, die Sünden des Königs von Babylon zu ahnden und eine gerechte Ordnung herzustellen. 13 Entsprechend gestatteten die persischen Großkönige den von ihnen 10 Monnerot 1949. - Dass diese These auch in umgehrter Reihenfolge gelesen werden kann, zeigen die Diskussionen, die nach dem 11. September 2001 den „radikalen Islamismus" polemisch in die Tradition von Kommunismus und Faschismus stellten (vgl. ζ. B. Berman 2003). 11 Talmon 1952. 12 Vgl. Hazony 2001, S. 295-298, 409-410. 13 Lincoln 1998.
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unterworfenen Völkern, den Gesetzen und Bräuchen ihrer alten Götter zu folgen. 14 Dieses Verfahren beließ den Unterworfenen nicht nur ein beträchtliches Maß an Autonomie, sondern erlaubte ihnen auch, in den persischen Königen Willlensvollstrecker ihrer eigenen Gottheiten zu sehen. Langfristig lief die imperiale Autorisierung lokaler Gottheiten auf einen Machtzuwachs religiöser Spezialisten (Priester, Seher, Propheten) bei den Unterworfenen sowie auf eine Abwertung ihrer alten, aus imperialer Sicht rebellionsverdächtigen Kriegeraristokratien hinaus. Max Weber hat denn auch in der Aufwertung des Religiösen und der damit einhergehenden Begünstigung der Priesterherrschaft einen Akt der Depolitisierung bzw. „ein Mittel der Domestikation unterworfener Völker" gesehen. 15 Nicht zufällig wird Kyros bei Deuterojesaja zum „Gesalbten" (Messias) und historischen Werkzeug Jahwes verklärt.16 Jesajas Vision des messianischen Friedensreichs (Jesaja 11: 1-16), in der der Wolf beim Lamm wohnt, der Panther beim Böcklein liegt und die Kuh und der Bär sich anfreunden (Jesaja 11: 6-7), porträtiert metaphorisch eine complexio oppositorum, in der die Gegensätze der Untertanen durch die Gerechtigkeit und Weisheit des obersten Herrschers zusammengehalten werden (Jesaja 11: 2-5), so, wie es auch der ideale Anspruch des persischen Weltreichs war. Jesajas Prophezeiungen zur Endzeit feiern die Huldigung der (gedemütigten, bestraften und dezimierten) Weltvölker an Israel.17 Nicht deren Ausrottung steht im Mittelpunkt, sondern der Triumph der Differenz, die Anerkennung der Überlegenheit Jahwes und Israels. Während die antike Idee einer politisch-messianischen Welteinigung von oben der Entwicklung von Herrschertugenden wie der Gerechtigkeit und Weisheit hohen Wert beimaß, ging die Depolitisierung der Unterworfenen mit intellektuellen Entwicklungen einher, die die politischen Freund-Feind-Unterscheidungen vormals unabhängiger Völker zunehmend auf das Terrain abstrakterer Werte und Ressentiments verschoben. In ihrer historisch folgenreichsten Form, nämlich im biblischen Judentum, wurde sie von der Entwicklung zweier konfliktgeladener Unterscheidungen begleitet, nämlich der „mosaischen Unterscheidung" von wahrer und falscher Religion sowie der Idee vom auserwählten „Gottesvolk".18 Diese die gegenseitige soziale Abgrenzung fördernden Unterscheidungen wurden allerdings im Rahmen übergreifender imperialer Friedensordnungen entwickelt, die offene Religionskriege zwischen ihren Untertanen nach Möglichkeit unterbanden. So stellen die im biblischen Buch Esther geschilderten Gewaltprozesse, nämlich die vereitelte Vernichtung der Juden im Perserreich und das erfolgreiche, königlich autorisierte Gegenmassaker an den Feinden 14 15 16 17 18
Frei 1996. Weber 1972, S.689. Jesaja44: 28; 45: 1-5, 13; s.a. Jesaja41: 2-4, 46:11,48: 14-15. Jesaja 45: 14-25, 60: 1-22, 66: 18-21. Vgl. Assmann 1998, 2003; sowie die Diskussion zu Deuterojesaja bei Albertz 1992, S.431446.
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der Juden, keinen direkten Krieg oder Bürgerkrieg zwischen dem Gottesvolk und seinen Gegnern dar. Realpolitische Achse des Geschehens ist vielmehr der persische Großkönig Artaxerxes, der von den rivalisierenden Faktionen an seinem Hof umworben wird und die Gewalt der einen Faktion verbietet, die der anderen aber autorisiert. Insgesamt war die Integrationsideologie des persischen Weltreichs so erfolgreich, dass wesentliche Bestandteile auch von dessen irdischen und spirituellen Nachfolgern übernommen wurden: 19 Alexander der Große wurde gleichzeitig als charismatischer Weltenversöhner und als Spross lokaler Gottheiten verehrt, Augustus als Begründer eines neuen Friedenszeitalters vergöttlicht. Jesus von Nazareth wurde in den biblischen Evangelien als Messias (gr. christos) gekennzeichnet und sowohl mit den Attributen eines Königs als auch mit denen eines auf Erden erscheinenden Gottes ausgestattet. Das mit einem polyglotten Sprachwunder verbundene Ausgießen des Heiligen Geistes auf die Jünger beim Pfmgstfest (Apostelgeschichte 2: 1-36) verlieh seiner Kirche - als Leib Christi - sogar Züge eines kollektiven transnationalen Messias. In der islamischen Geschichte des Mittelmeerraums begegnen uns sowohl individuell- als auch kollektiv-messianische Strömungen: Hoffnungen auf einen göttlich erleuchteten Imam oder Mahdi im schiitischen Islam; im sunnitischen Islam hingegen die Idee eines von Gott ausgezeichneten Kollektivs, der Umma, dessen Charisma und weltweiter Herrschaftsanspruch sich aus der Befolgung des göttlichen Gesetzes, der Scharia, speisen (Koran 3:110). In beiden Strömungen geht es im Prinzip nicht um die Ausrottung oder Zwangskonversion der anderen Schriftreligionen. „In der Religion gibt es keinen Zwang", heißt es im Koran (2:256). Die politische Expansion des Islam dient vielmehr der Ausbreitung des Geltungsbereichs der Scharia, unter deren Dach auch Platz für die Angehörigen anderer Schriftreligionen ist, allerdings in untergeordneter Stellung. Auch gegenüber Abweichungen im eigenen Lager wurde oft relativ tolerant verfahren. Der koranische Imperativ, die Einheit der Umma zu erhalten (3: 103, 4: 59, 49: 9-13), wurde selten als Auftrag zu totalitärer Gleichschaltung verstanden, sondern eher als Auftrag zu einer vorsichtigen Konsenspolitik, die auch noch in Meinungsverschiedenheiten einen Segen für die Umma erblickte und das endgültige Urteil über diverse Differenzen Gott bzw. dem Jüngsten Gericht überließ. Im Ergebnis dieser relativ toleranten Form messianischer Oberherrschaft stellte sich den islamischen Regierungen des östlichen Mittelmeerraums über viele Jahrhunderte allerdings ein Problem, das im christlichen Westeuropa mit seiner wesentlich größeren Intoleranz gegenüber Andersgläubigen weit weniger wichtig war, nämlich wie die Gegensätze und Empfindlichkeiten zwischen den vielen „auserwählten Völkern" im eigenen Herrschaftsbereich auf möglichst friedliche Weise im Zaume zu halten seien.
19 Zum Folgenden vgl. vor allem Demandt 2000, S. 154-164, 289-296, 366-369, 378-380.
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3. Gewaltfördernde religiöse Texte und Wege zu ihrer Entschärfung Der wirksamste Weg, interreligiöse Gegensätze im Zaum zu halten, bestand zweifellos darin, die Alltagskontakte zwischen Mitgliedern verschiedener Religionsgemeinschaften auf das Allernotwendigste zu beschränken, zum Beispiel durch getrennte Wohngebiete, getrennte Festkalender, innere Verwaltungsautonomie und Tabuisierung interreligiöser Heiraten. Theologische Kontroversen im engeren Sinne beschränkten sich unter diesen Umständen auf die schriftkundigen Eliten. Teils schriftlich, teils durch kontrollierte Streitgespräche am Hofe muslimischer Herrscher ausgetragen, kreisten solche Kontroversen meist um zwei Problemfelder, nämlich erstens, die Wahrheit der jeweiligen theologischen Dogmen sowie zweitens, die Authentizität der jeweiligen heiligen Schriften. 20 Beide Probleme haben heute, im Zeitalter der Säkularisierung, viel von ihrer politischen Brisanz verloren. Debatten um Wahrheit, Sinn und Nutzen der Trinitätslehre, den Status des Jesus von Nazareth oder um die Frage, ob die Tora, die Evangelien oder der Koran „Fälschungen" enthielten, sind heute im Wesentlichen nur noch für Theologen, Althistoriker und kriminologisch interessierte Leser des Da Vinci Code interessant. Anders verhält es sich aber mit einem dritten Problemfeld, nämlich der öffentlichen Anstößigkeit von Passagen aus heiligen Schriften, etwa Texten, in denen Andersgläubige beleidigt, verflucht oder schlimmer: Verbrechen beschuldigt werden, oder in denen Gewalt gegen Andersgläubige offen verherrlicht wird. Gleichgültig, wie „fiktiv", „literarisch" oder „metaphorisch" solche Passagen gemeint sind - sie können zu Katalysatoren manifester Gewalt werden und damit den öffentlichen Frieden gefährden: erstens, weil sie bei den gläubigen Lesern der jeweiligen Textgemeinschaft aggressive Gefühle kultivieren, die unter Umständen in Gewalt umschlagen können; zweitens, weil sie Andersgläubige kränken; und drittens, weil sie bei Außenstehenden Zweifel an der Friedfertigkeit der betreffenden Religionsgemeinschaft schüren. Gruppen, die im Rufe stehen, insgeheim aggressive Gefühle gegen Andersgläubige zu hegen und die Regeln friedlichen Zusammenlebens mit ihnen nur auf Zeit respektieren zu wollen, müssen mit latentem Misstrauen und in Krisenzeiten mit feindseligen Überreaktionen rechnen. Andere Religionsgemeinschaften mithilfe von blutrünstigen Zitaten aus ihren heiligen Schriften als böse, intolerant, hinterhältig oder gewalttätig zu stigmatisieren, ist bis heute eines der verbreitetsten Hindernisse für den interreligiösen Dialog.
20 Vgl. Sirry 2005.
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3.1 Geheimhaltung Viele Religionsgemeinschaften waren sich des außertheologischen Gefahrenpotentials, das in ihren heiligen Texten schlummert, durchaus bewusst und haben diverse Gegenstrategien entwickelt, um es einzudämmen. Eine der gebräuchlichsten besteht darin, die betreffenden Texte bzw. Textpassagen vor Außenstehenden geheimzuhalten und sie auch im Innenbereich nur stufenweise einer kleinen Zahl Eingeweihter zugänglich zu machen. Beispiele von Geheimhaltung religiöser Riten und Texte sind aus den Mysterienkulten der Antike ebenso bekannt wie aus der jüdischen und christlichen Gnosis oder aus esoterischen Gemeinschaften der islamischen Schia, etwa den Drusen oder den Alawiten (Nusairiern). Die Verheimlichung oder Verleugnung eigener religiöser Überzeugungen kann sich aus vielen Motiven speisen, so ζ. B. aus dem elitären Versuch, den Zugang zu wichtigen Heilsressourcen zu beschränken oder aus der missionarischen Technik, die eigene Botschaft mit der exklusiven Aura einer geheimnisvollen, unaussprechlichen Macht zu umgeben und damit neue Anhänger zu werben. In vielen Fällen besteht jedoch auch ein konstitutiver Zusammenhang mit politischer Verfolgung. Der Koran (16: 106) spricht diejenigen Gläubigen von Schuld frei, die unter Zwang Gott verleugnen, aber im Herzen weiterhin am Glauben festhielten. Unter Berufung auf diese und ähnliche Passagen (Koran 5: 3, 6: 119) haben muslimische Theologen - vor allem in der Schia, aber nicht nur dort - die Praxis der taqiyya (arab. Furcht, Vorsicht) bzw. kitmän (Geheimhaltung, Zurückhaltung) in Zeiten der Gefahr gerechtfertigt. 21 Gleichgültig, ob die Geheimhaltung „nur" gegenüber Außenstehenden praktiziert wird oder auch gegenüber der Masse der eigenen Gemeindemitglieder, der soziale Preis ist ein gespaltener Wahrheits-Diskurs, der zwischen öffentlicher und „eigentlicher", sichtbarer und verborgener Wahrheit unterscheidet, einer Wahrheit fur die Menge und einer Wahrheit fur die Eliten. Den sozialen Abschottungstendenzen in mosaikförmig organisierten, hierarchisch gestaffelten traditionalen Gesellschaften kam dieses gespaltene Wahrheitsverständnis zwar ebenso entgegen wie dem Bestreben, offene Konflikte mit Außenstehenden im Alltag möglichst zu vermeiden. Das Reden in zweierlei Zungen wird aber dort zum Hindernis, wo sich die Abschottung zwischen einer inneren und einer äußeren Öffentlichkeit nicht mehr ohne weiteres durchhalten lässt. Im Zeitalter der Massenmedien und öffentlichen Indiskretionen behindert das taktische Hin- und Herschalten zwischen verschiedenen Wahrheitsstufen die für den Aufbau stabiler Demokratien erforderliche Vertrauensbildung zwischen verschiedenen religiösen Gemeinschaften und Klassen. 22
21 Vgl. Kippenberg 1991, S. 460-483. 22 Vgl. Scheffler 1999, S. 184-185.
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Thomas Scheffler 3.2 Interpretationsmonopole
Vom sozialen Effekt her der Geheimhaltung in vielem vergleichbar ist eine andere Methode zur Entschärfung heiliger Texte, nämlich die in den monotheistischen Religionen weit verbreitete Praxis, das Recht zur Auslegung der heiligen Schriften einer Klasse sorgfältig ausgewählter Schriftgelehrter zu überlassen. In traditionalen Gesellschaften, in denen nur die wenigsten lesen und schreiben konnten, waren schriftliche Texte ohnedies nur einer kleinen Minderheit zugänglich. Hinzu kam, dass die heiligen Schriften nicht immer in der örtlichen Umgangssprache der jeweiligen Gläubigen abgefasst waren. Bereits in der Antike waren zum Beispiel viele Diaspora-Juden nicht mehr des BibelHebräischen mächtig. Das Bibellatein der Vulgata wurde im mittelalterlichen Europa von vielen Priestern nicht beherrscht, und das Arabisch des Korans war für nicht-arabische Muslime eine Fremdsprache. Schriftgelehrte sind in der Regel keine Krieger und ihre sozialen Interessen sind denen von Kriegern oft diametral entgegengesetzt. Ihre Arbeitsbedingungen erfordern Ruhe, Muße und äußere Sicherheit, um sich ihren Studien, Gebeten und Kontemplationen widmen zu können. Zumindest in traditionalen Gesellschaften rekrutieren sie sich zudem häufig aus Mitgliedern sozialer Eliten und können ihre Schrift- und Gesetzeskenntnisse am ehesten in Zusammenarbeit mit der politischen Obrigkeit einsetzen. In der Mehrzahl haben sie daher in allen monotheistischen Religionen meist mäßigenden und ausgleichenden Auslegungen der heiligen Schriften den Vorzug gegeben. So ist der Aufstieg des rabbinischen Judentums eng verbunden mit dem innerjüdischen Übergang vom gewalttätig-aktivistischen Zelotentum zum quietistischen Messianismus nach der Zerstörung des zweiten Tempels (70 n. Chr.) und der Niederschlagung des Bar Kochba-Aufstands durch die Römer (135 n. Chr.). Die Strukturen des katholischen Klerus haben sich in der Bändigung anarchischer apokalyptischer Erwartungen und hyperaktivistischer Sektenreligiosität herausgebildet. Und im Islam hat die Mehrheit der sunnitischen und zwölferschiitischen Rechtsgelehrten meist einer eher quietistischen Haltung gegenüber der jeweils bestehenden (muslimischen) Obrigkeit zugeneigt und die Hinnahme eines korrupten Herrschers als das kleinere Übel gegenüber dem Chaos des Bürgerkriegs betrachtet.
3.3 Interpretationsstrategien In allen monotheistischen Religionen haben die Schriftgelehrten mannigfaltige Interpretationsmethoden entwickelt, um gefährliche Texte zu entschärfen. Hierzu gehören erstens textimmanente Verfahren, d. h. die Nutzung von Interpretationsspielräumen, die sich durch Widersprüche und Unklarheiten in den heiligen Schriften selbst ergeben. Als mindestens ebenso wichtig erwies sich zweitens die Ergänzung der heiligen Schriften durch Hinzufügen weiteren ka-
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nonischen oder apokryphen Materials. So hat sich der Talmud aus der Aufzeichnung und Kanonisierung einer „mündlichen Tora" entwickelt, in deren Licht die schriftliche Tora zu interpretieren sei. Und im Islam wurde der Koran durch die, quantitativ weit umfangreichere, Aufzeichnung der normativen Lebenspraxis des Propheten (sunna) ergänzt. Nur unter großem äußerem Druck haben sich monotheistische Schriftgelehrte zu einem dritten Verfahren durchringen können, nämlich Streichungen und Abänderungen in den heiligen Schriften selbst vorzunehmen. Doch auch hierfür gibt es Beispiele: So sahen sich Rabbiner im Spätmittelalter bisweilen veranlasst, anstößige christenfeindliche Passagen aus den offiziellen Ausgaben des Talmud zu tilgen oder durch euphemistische Begriffe zu ersetzen, die nur hebräischen Lesern verständlich waren. 23 Noch riskanter ist ein viertes Verfahren, nämlich das Bemühen, anstößige Passagen zu historisieren, d. h. ihre Gültigkeit an eine bestimmte Situation der Vergangenheit zu binden und damit ihre normative Bedeutung für die Gegenwart abzuschwächen. Zum Beispiel erklärte Maimonides (1135-1204) den biblischen Auftrag zu Vernichtungskriegen im Heiligen Land zu einem abgeschlossenen Kapitel der Vergangenheit, weil die sieben Völker, deren Ausrottung Jahwe im Deuteronomium (7: 1) befohlen hatte, nicht mehr existierten. 24 Zu einer kompletten Historisierung des deuteronomischen Kriegsrechts mochte sich aber auch er nicht entschließen. Denn „Amalek", dessen vollständige Ausrottung Jahwe ebenfalls angeordnet hatte, blieb in der rabbinischen Tradition nicht nur als „Volksstamm der fernen Vergangenheit" erhalten, sondern wurde im Laufe der Geschichte zum Inbegriff für die, jeweils bösartigste Ausprägung der gottfeindlichen und israelfeindlichen Weltmacht", d. h. zu einem absoluten Feindbild, das bei Bedarf auf den jeweiligen Hauptfeind Israels" übertragen werden konnte. 25 Die volle Brisanz der Historisierung heiliger Texte hat sich freilich erst durch den Aufstieg der historischen Religionswissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert enthüllt. Die Versuche, die heiligen Schriften mithilfe eines modernen Arsenals historischer und philologischer Textkritik chronologisch neu zu ordnen, biblische Aussagen aus ihrem historischen Kontext zu verstehen und sich auf die Suche nach dem „historischen Jesus" zu machen, wurden häufig als Versuche zur Relativierung des Gottesworts und seiner normativen Wucht verstanden. Sie provozierten schließlich den erbitterten Widerstand „fundamentalistischer" Gegenbewegungen, die im Prinzip jedes Wort der Bibel als göttlich inspiriert und absolut irrtumsfrei ansehen. Noch weniger Erfolg ist bisher muslimischen Reformern beschieden gewesen, die den absoluten, ewig gültigen Kern der koranischen Botschaft auf die frühen, in Mekka offenbarten Verse beschränken wollten, um daraus eine isla23 Vgl. Shahak 1981, S. 34-36. 24 Smith-Christopher 2001, S. 262; Maier 2000, S. 118. 25 Ebd., S. 120-121.
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mische Tradition der Gewaltlosigkeit herauszudestillieren. Der wichtigste Vertreter dieser exegetischen Richtung, Mahmud Taha, wurde 1985 im Sudan hingerichtet. Ein fünftes Verfahren, nämlich der Versuch, die schriftlich fixierte Lehre schöpferisch weiterzuentwickeln und dabei unter Umständen auch Teile des bisherigen göttlichen Gesetzes außer Kraft zu setzen, war im Prinzip nur dort erfolgreich, wo von einer fortdauernden göttlichen Präsenz in der Gemeinde ausgegangen werden konnte. Im Christentum war es die Lehre vom Heiligen Geist (Johannes 16: 7-15, 20: 22, Apostelgeschichte 2: 2-36), die es der Kirche gestattete, ihr Lehrgebäude immer neuen Herausforderungen anzupassen. Im Islam waren es messianische und mystische Bewegungen, in denen die Loyalität zur jeweiligen menschlichen Inkarnation des göttlichen Lichts in der Welt wichtiger war als die Treue zum Buchstaben des göttlichen Gesetzes. Religionsgemeinschaften, die sich um Dynastien göttlicher bzw. göttlich inspirierter Führer kristallisieren - wie ζ. B. die heutigen Nizari-Ismailiten oder die Ahmadiyya - gehören heute zu den modernsten und anpassungsfähigsten Gruppierungen der islamischen Welt überhaupt.
3.4 Die große Herausforderung: die Medienrevolutionen der Moderne Die technischen Entwicklungen der Neuzeit haben die Möglichkeit, heilige Texte durch das Interpretationsmonopol einer kleinen Kaste quietistischer Schriftgelehrter oder durch die Entscheidung inspirierter Charismatiker zu entschärfen, massiv geändert: Die Erfindung des Buchdrucks, zunehmende Alphabetisierung und Schulbildung sowie die Entwicklung der modernen Massenmedien geben heute vielen Gläubigen Gelegenheit, ihre heiligen Schriften nicht mehr durch den Filter etablierter Theologen, Rabbiner und Ulama zu lesen, sondern sich selber ein Bild von den Lehren ihrer Gemeinschaft zu machen - wie rudimentär und verkürzt dieses Bild auch immer sein mag. Hinzu kommt eine andere Entwicklung, nämlich die Pluralisierung und unterschiedliche Gewichtung der Medien, in denen heilige Texte weitergegeben werden. Schon in traditionalen Gesellschaften mit geringer Alphabetisierungsrate spielten Liturgien, Lieder, Gebete, Passionsspiele und Kirchenmalereien bei der volkstümlichen Verbreitung religiösen Wissens eine zentrale Rolle. Die Entwicklung der Druckindustrie hat zahlreiche weitere Möglichkeiten dafür eröffnet: neben preiswerten Bibel- und Koranausgaben auch Katechismen, Gebet-, Gesang- und Predigtbücher, illustrierte Flugschriften und missionarische Erbauungsliteratur. Die Rotationspresse, Radio, Film und Fernsehen haben die Breitenwirkung religiöser Propaganda noch weiter ausgedehnt, parallel dazu allerdings auch die Möglichkeiten von Nicht-Theologen vergrößert, auf die Weitergabe religiöser Texte massiv einzuwirken, etwa durch Romane, Hörspiele, Filme, Videokassetten und Schlagermusik. Die Kontrolle solcher
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sekundären Bearbeitungen ist weit schwerer, weil Romanautoren, Filmproduzenten und Popstars nur begrenzt der Kontrolle des etablierten Klerus unterliegen. Die scharfen Reaktionen, die die Verwendung religiöser Themen in Romanen wie Naguib Mahfouzs Awlad Haritna („Die Kinder unseres Viertels", 1959) oder Salman Rushdies Die satanischen Verse (1989) in der islamischen Welt auslösten, zeigen, wie brisant solche sekundären Bearbeitungen religiöser Stoffe werden können. Ein Lehrstück für das Problem der Entschärfung sakraler Texte sind die immer wieder aufflammenden Debatten um die Darstellung der Leidensgeschichte Jesu im Neuen Testament. Die überwiegend negative Rolle, die die christlichen Evangelien den Juden zuschreiben, ist im 20. Jahrhundert oft als zentraler Bestandteil des „christlichen Antisemitismus" ausgemacht und damit indirekt fur den Holocaust mitverantwortlich gemacht worden. Kritiker vermuten, die Passionsberichte der Evangelien stellten die historische Wirklichkeit auf den Kopf: Nicht die jüdischen Hohepriester und die von ihnen aufgehetzte Volksmenge seien fur Jesu Tod verantwortlich gewesen, sondern der römische Statthalter Pontius Pilatus. Die Evangelisten aber hätten Pontius Pilatus von Schuld freigesprochen, um die römische Besatzungsmacht in Palästina gnädig gegenüber der jungen christlichen Gemeinschaft zu stimmen. 26 Einer Abänderung oder Überarbeitung des Originaltexts des Neuen Testaments, um künftigen Ausschreitungen gegen Juden vorzubeugen, steht freilich der zentrale Status der inkriminierten Passagen im Christentum im Weg. Die Auseinandersetzung hat sich daher auf eine sekundäre Ebene verlagert, nämlich (a) auf die Weitergabe und (b) auf die Kommentierung von Inhalten des Neuen Testaments in Schulbüchern, missionarischen Traktaten, Predigten, Filmen, populären Fernsehsendungen, offiziellen Stellungnahmen der Kirchen und dergleichen mehr. Die Möglichkeiten, auf die Weitergabe anstößiger Text-Passagen einzuwirken, sind hier überraschend vielfältig, wie sich ζ. B. 2003 zeigte, als bekannt wurde, dass der Schauspieler Mel Gibson an einem Film über die letzten Stunden im irdischen Leben des Jesus von Nazareth arbeite. Der Film, The Passion of the Christ (2004), von Gibson aus eigenen Mitteln finanziert, trat mit dem Anspruch besonderer Originaltreue auf: Gesprochen wurde in ihm ausschließlich in lateinischer und aramäischer Sprache; maßgeblich war der Text der Evangelien. Schon vor Veröffentlichung des Films kam es zu Protesten gegen seinen - wie vermutet wurde - antisemitischen Charakter. Die Kritiken zeigten Wirkung: Im August 2003 entschlossen sich die Produzenten, den Film noch einmal umzuarbeiten: Man werde, so Gibsons Pressesprecher, u. a. auf den bei Matthäus 27: 25 überlieferten Ausruf der jüdischen Menge verzichten: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder". Zusätzlich würden Rufe aus der Menge zu hören sein, die gegen die Hinrichtung protestieren (wovon die Bibel nichts sagt). Und schließlich werde man eine sympathische Figur einfügen und 26 Fredriksen 2000, S. 107-126; Pageis 1995, S. 89-111.
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deutlich als Juden kenntlich machen, nämlich Simon von Cyrene, der - wie bei Matthäus 27: 32 und Lukas 23: 26 überliefert - von den römischen Legionären gezwungen wurde, Jesu Kreuz zu tragen. 27 Gleichgültig wie man diese Bearbeitungen bewertet, sie zeigen, wie vielfaltig heute die Mittel sind, heilige Texte zu entschärfen. Allein im vorliegenden Fall wurden drei Methoden sichtbar, nämlich (a) Passagen des Originaltexts wegzulassen; (b) zusätzliche Passagen aufzunehmen, die in den Heiligen Texten fehlen, und (c) bestimmte Passagen der Texte in den Vordergrund zu schieben, andere in den Hintergrund treten zu lassen. Das Arsenal dürfte damit kaum erschöpft sein. Wie wirksam solche sekundären Bearbeitungen sind, sei dahingestellt. Aber sie zeigen, dass die Entwicklung der modernen Massenmedien nicht nur die Möglichkeiten religiöser Propaganda vergrößert, sondern auch deren Abhängigkeit von äußeren Einflüssen. Die Weitergabe religiösen Gedankenguts wird heute von vielen nicht-klerikalen, ζ. T. nicht einmal religiös motivierten Akteuren mitbestimmt: Forscher, Journalisten, Geldmagnaten, Politiker, Schauspieler, Talkmaster, Filmproduzenten, Verleiher, Verleger und dänische Karikaturisten - sie alle nehmen Einfluss auf die öffentliche Deutung religiöser Fragen und können doch - wie die dänische „Karikaturenkrise" (2005-2006) zeigte - die globalen Kettenreaktionen, die ihre Einflussnahme auslöst, nur begrenzt aus eigener Kraft kontrollieren. Mehr denn je werden religiöse Fragen und, mehr noch, die Aura der Empfindlichkeit, die sie umgibt, daher heute zu einem Problem der Weltgesellschaft im Ganzen - einem Problem, das nicht mehr nur die „Gläubigen" im engeren Sinne angeht, sondern alle, die vom Zustand des öffentlichen Friedens in dieser Welt betroffen sind.
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27 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. August 2003, S. 33.
Messianismus und Gewaltkontrolle
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Angelika Neuwirth
GEWALTTEXTE UND VERSÖHNUNGSLITURGIEN IM JUDENTUM, CHRISTENTUM UND ISLAM 1
1. Einleitung: Zur Eigengesetzlichkeit heiliger Schriften Der Diskurs „Gewalt, Glaube und Interkultureller Dialog" - der inter alia die Frage nach der Rolle aufwirft, die den Grundurkunden der Religionen, ihren kanonisierten heiligen Schriften, in politischen Krisensituationen zukommt kann nicht auf eine Reflexion darüber verzichten, wie heilige Schriften sich im Leben ihrer Glaubensgemeinschaften manifestieren. Der folgende Text versucht, sich dieser komplexen Funktionalität zu nähern, indem er exemplarische Fälle von Dramatisierung heiliger Schriften im kultischen Leben der drei monotheistischen Religionen beleuchtet. Er geht dabei von der These Yosef Hayim Yerushalmis aus, dass „das kollektive Gedächtnis durch das Ritual wesentlich nachhaltiger bewahrt wird als durch die Chronik".2 Yerushalmi zufolge wird sich eine Gesellschaft bei der Konstruktion ihres Weltbilds unter Rekurs auf ihre heiligen Schriften nicht direkt auf dort erzählte Begebenheiten berufen, sondern sich vielmehr an den exegetischen Bedeutungs-„Mehrwert" halten, der den Geschichten aus ihrer Dramatisierung in Ritualen und liturgischen Inszenierungen zugewachsen ist. Das Erscheinen von Yerushalmis bahnbrechender kulturkritischer Studie ist sicherlich nicht isoliert zu verstehen von der gegenwärtig gerade in säkularen Kreisen weit verbreiteten vereinfachenden Vorstellung von Religion, nach welcher heilige Schriften ihren Glaubensanhängern ein unerschöpfliches Reservoir von Visionen, Ideen und Prinzipien darbieten, und daher - weit mehr als die in dieser Argumentation marginalisierten sozialen und politischen Faktoren - geeignet sind, das Leben der Gläubigen normativ zu bestimmen. Eine solche Perspektive gestattet im Gegenzug, die Beweggründe für soziales Fehlverhalten, für offensive Haltungen und Agressionen, die von Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft ausgehen, nicht in deren Lebenswelt zu suchen, sondern die „Verantwortung" - nicht zuletzt für Gewalt direkt auf die betreffenden heiligen Schriften abzuwälzen. Insbesondere dem Islam wurde und wird von Außenstehenden immer wieder immanente Gewaltbereitschaft zugeschrieben, zumeist unter Berufung auf
1 Eine ausführliche Fassung dieses Textes findet sich in Neuwirth 2002a. 2 Yerushalmi 1982, S. 15.
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den Koran, wo der Djihad, 3 wörtlich: „die Anstrengung (auf dem Wege Gottes)", in einigen Versen (K 2:218, 8:72, 9:19 u.ö.) als eine den Gläubigen obliegende Pflicht dargestellt ist. Obwohl der Begriff des Djihad keineswegs auf das heute grassierende vereinfachende Verständnis im Sinne einer religiös motivierten Kriegführung reduziert werden kann und obwohl die einschlägigen Bestimmungen im Koran ganz offensichtlich mit besonderen historischen Umständen in Beziehung stehen und von der islamischen Tradition auch in diesen Kontexten diskutiert worden sind, werden sie angesichts der unterstellten zeitlos-verbindlichen Autorität des Schrifttextes oft als allgemein verbindliche Legitimationen oder sogar als Aufforderungen zur Ausübung von Gewalt gewertet. Auch innerhalb ihrer eigenen Glaubensgemeinde ergeht es den heiligen Schriften nicht immer besser: Ihre Erzählungen und Anweisungen werden heute von großen Gruppen ihrer eigenen Anhänger historisch de-kontextualisiert, politisch instrumentalisiert und auf präzise Rezepte für Krisensituationen hin gelesen. Im Islam erlebt so die koranisch begründete Idee des Djihad gegenwärtig in einer neuen, extrem militanten Interpretation ein ungeahntes comeback in aktivistischen Bewegungen. Es verlohnt jedoch, sich dabei die von dem libanesischen Historiker und Kulturphilosophen Samir Kassir getroffene Unterscheidung zwischen dem Djihad-Verständnis heutiger Aktivisten und dem traditionell islamischen Begriff Djihad präsent zu halten: Bei dem gegenwärtigen Todeskult der Djihadisten „geht es nicht um ein unveränderliches Wesensmerkmal des Islam, sondern um den Anblick des Blutes, das unaufhörlich vergossen wird. Dann wird Blut vergossen, um das Blut zu rächen, weil jenes Blut darüber hinwegtröstet, dass der Sieg ausbleibt. Selbstverständlich das Blut der Anderen, aber auch das der Unsrigen. [...] Wohlgemerkt, nicht die Idee des Opfers soll infrage gestellt werden. Sie liegt seit dem Beginn der Geschichte allen Kämpfen der Menschheit zugrunde. Die Araber bildeten dabei keine Ausnahme, und hierin liegt der wahre Sinn des als Krieg verstandenen Djihad - außer dem es noch andere, friedliche Formen des Djihad gibt." 4 Versuche von „Aktualisierungen" der heiligen Schriften sind jedoch nicht auf den Islam beschränkt. In allen drei Religionen ist gegenwärtig eine fundamentalistische Tendenz virulent, aus heiligen Schriften vermeintlich ewig-gültige Prärogativen für ihre jeweils eigene Identitätsgemeinschaft abzuleiten, die im Extremfall die Diskriminierung, Vertreibung oder sogar Vernichtung Außenstehender rechtfertigen sollen. Dieser Missbrauch stützt sich auf die kanonische Geltung heiliger Schriften, die sie mit einem Status jenseits der Geschichte ausstattet, in dem - wie Aziz al-Azmeh (1994) formuliert - „die chronometrische Zeit stillgestellt ist und der heilige Text sich selbst in ein vorgegebenes Kontinuum der Ewigkeit einreiht, gestanzt in den Rhythmen einer Heilsgeschichte" [dt. i. Orig.]. Diese Geltung ist jedoch in der langen Tradition der Religionen von einer Fülle exegetischer Deutungen und Praktiken relativiert 3 Vgl. Tyan 1965; Sayyed 2002; Weber 2002; s. jetzt Reuven Firestone 2006, S. 308-320. 4 Kassir 2006, S. 84.
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worden. Die buchstäbliche Lektüre wurde damit von einer mythopoietischen Lektüre überlagert, in der die vom Kanon gewährleistete „ewige und verpflichtende" Gültigkeit einer eher poetischen, „psychagogischen", die Imagination beherrschenden Gültigkeit Platz gemacht hat. Es ist die inzwischen eingetretene Entfremdung von diesen „Supertexten", die Reduktion der heiligen Schriften auf den - durch das Medium des Buchdrucks allgemein und isoliert zugänglich gemachten - Grundtext, der die anachronistische Lektüre der heiligen Schriften im Sinne der Aktualisierung ihrer Aussagen möglich gemacht hat. Sollte die kanonische Geltung heiliger Schriften aber nicht eher als epistemologischer „Filter" wirken, der dem Leser zusätzliche Prozesse des Neubedenkens und der Rekontextualisierung abverlangt? Konkret: Ist kanonischen Texten nicht ein besonderer, aus der kultisch-rituellen Praxis hervorgegangener, hermeneutischer Code zu eigen, der sie vor einer - zu keiner Zeit intendierten - Lektüre im Buchstabensinn bewahrt? Der folgende Text, der diese fatale Entwicklung brandmarken möchte, ist vor allem an den kognitiven Aspekten der Sonderstellung von heiligen Schriften, ihrer Skripturalität, interessiert. Er widmet sich dem Prozess, durch den sich die faktisch historische Natur der Texte zu einer das Historische transzendierenden Natur, zu jener „unanfechtbaren Behauptung einer inneren Einheit und Homogenität"5 hin wandelt, die Azmeh als das Charakteristikum kanonischer Texte ansieht. Zugleich sollen Strategien der Sinnpflege beschrieben werden, die in der kultischen Praxis eingesetzt werden, um einen heiligen Text so zu re-kontextualisieren, dass ein Bewusstsein für seine Offenheit entsteht und eine vereinfachende buchstäbliche Lesart ausgeschlossen wird.
2. Skripturalität I: Sinnpflege Strategien zur Erreichung und Erhaltung von Kanonizität, des Status einer heiligen Schrift (Skripturalität), sind von Aleida und Jan Assmann unter der Rubrik „Sinnpflege" untersucht worden.6 Dass heilige Schriften, sobald sie als kanonisch anerkannt sind, ihren Platz, ihren Sitz im Leben, in öffentlichen Auffuhrungen haben, ist offenkundig angesichts ihrer ubiquitär praktizierten Unterlegung mit Musik oder Gesang. Die künstlerisch raffinierte Form der biblischen und koranischen Kantilene (hebr. hazzanut, gr. psalmodia, arab. tartil), wie sie im Judentum, im östlichen Christentum und im Islam bis heute gepflegt wird, basiert auf einem komplexen System phonetischer und musikalischer Regeln, die von den Rezitatoren peinlich genau zu befolgen sind.7 Im Falle des Koran scheint die Rezitation des Textes mit einer Kantilene sogar bereits an der Ent5 6 7
Ebd. Assmann/Assmann 1987. Siehe im Einzelnen Neuwirth 2002a, S. 53f.
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stehung des Textes selbst beteiligt gewesen zu sein, ein Umstand, der auf den schnell erlangten kanonischen Status des Textes hindeutet.8 Der hohe Rang ritualisierten Koran-Lesens im sozialen Leben des Islam wird durch zahlreiche Praktiken bestätigt - vom ausgiebigen Gebrauch der Koran-Texte im täglichen Gebetsritual, wo meist einzelne kleine Suren rezitiert werden, bis zum feierlichen Verlesen großer Teile des Textkorpus im Laufe verschiedener Feste und rites de passage. Als ganzer soll der Koran während des Monats Ramadan rezitiert werden, dazu ist der Text bereits früh zum einen in 30 gleich lange Abschnitte unterteilt worden, zum zweiten in sieben Abschnitte, die als tägliches oder wöchentliches Pensum zu rezitieren sind. Dieses Lesen wird niemals außerhalb eines rituellen Rahmens praktiziert. Nicht nur rituelle Reinheit ist unverzichtbar, sondern im Falle des Gebets ist zusätzlich eine bestimmte Positionierung des Beters und Rezitators im von ihm eingenommenen Raum, seine räumliche Ausrichtung hin zum Zentralheiligtum sowie eine besondere, kosmisch bestimmte zeitliche Terminierung erfordert. Auch im Judentum und im östlichen Christentum werden heilige Schriften weiterhin auf eine Weise gelesen, die sich deutlich von deijenigen individueller modern-säkularer Leser unterscheidet. Beide Traditionen pflegen einen eher kollektiv orientierten, rituell bestimmten Zugang zur Repräsentation ihrer heiligen Schriften, der den Bibelvortrag in einen komplexen liturgischen Kontext stellt. Bis heute binden das Judentum wie auch die Ostkirche biblische Texte in bestimmte zeitliche Rahmen ein. So „wurden die Geschichten des Pentateuch, die den historischen Bericht bis unmittelbar vor die Zeit der Eroberung von Kanaan heranführen, zusammen mit den wöchentlichen Lesungen aus den Prophetenbüchern vom Anfang bis zum Ende (in wöchentlichen Gottesdiensten) laut in der Synagoge verlesen. Dieses öffentliche Verlesen nahm in Palästina drei Jahre in Anspruch, in Babylon ein Jahr (ein Rhythmus, der sich heute allgemein durchgesetzt hat), unmittelbar darauf begann man wieder von vorn."9 Ganz ähnlich werden die Texte der Evangelien, die im Christentum den Pentateuch als Herzstück der heiligen Schrift abgelöst haben, in der Ostkirche über das ganze Jahr verteilt, aufgegliedert in „Perikopen", Tagesabschnitte, die den jüdischen Lesungen wöchentlicher Kapitel des Pentateuch, parashah, entsprechen. Der Zyklus von Lesungen aus dem Herzstück der Schrift wird im christlichen Kult wie in der jüdischen Praxis begleitet von einer zweiten Folge von Texten, die anderen Teilen der Schrift entnommen sind. Die Briefe des Apostel Paulus und zusätzliche „Lesungen" aus den prophetischen Büchern des Alten Testaments sollen die „Perikopen" aus dem Evangelium näher beleuchten, indem sie den narrativen Text mit einem diskursiven Kontext zusammenstellen. Auch mit dieser Praxis wird eine jüdische Tradition fortgeführt: die an die Pentateuch-Verlesung anschließende Lesung aus den prophetischen Büchern
8 9
Siehe dazu Neuwirth 2002b. Yerushalmi 1982, S. 15-16.
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(,haftarah), deren Rang als notwendiger exegetischer Hintergrund für den Pentateuch als unbestritten gilt. In beiden Religionen finden die Lesezyklen ihren Höhepunkt in Festtagen. Die Lesungen stellen nicht nur eine Abfolge von Berichten dar, die ungefähr in der zeitlichen Ordnung der Ereignisse mitgeteilt werden, auf die sie sich beziehen. Sie sind darüber hinaus auch an bestimmte Zeiten innerhalb des Jahres gebunden, die von den Hörern heilig gehalten werden. Zwei Zeitlichkeiten sind also beteiligt: „Die historischen Geschehnisse [...] bleiben einzigartig und irreversibel. Psychologisch jedoch werden jene Geschehnisse zyklisch erlebt, repetitiv, und zumindest in diesem Maße außer-zeitlich."10 Die Geschehnisse „ereignen sich" jedes Mal, wenn die Gemeinde sich versammelt, und so wird Geschichte „dramatisiert" und geeignet gemacht, die von den Kultteilnehmern gelebte Geschichte zu durchdringen. In den Worten Andre Lacocques „gibt es ein synchronisches Lesen und Erfahren im Kult, das durch eine Metaphorisierung oder Symbolisierung der geschichtlichen Ereignisse erreicht wird, so dass diese für keine Generation je ihre Aktualität verlieren."11 Obwohl es für den Koran keinen festen Zyklus von Lesungen gibt, die das Nacheinander einer historischen Entwicklung widerspiegeln, wie die Geschichte des Pentateuch oder des Lebens Jesu nach den Evangelien, gilt die Beobachtung Lacocques auch für den Islam. Eine Metaphorisierung findet hier in der Rezitation längerer - teilweise narrativer - Texte im privaten oder öffentlichen Rahmen statt, ohne auf die Freitagsgottesdienste beschränkt zu sein.12 Darüber hinaus kommt Metaphorisierung bereits im Akt des Rezitierens selbst zur Geltung, der im Islam als die Re-Inszenierung der Offenbarungserfahrung des Propheten selbst durch den Gläubigen verstanden wird. Die zwei durch den kultischen Rahmen bedingten Praktiken der Sinnpflege, d. h. die künstlerische und damit „de-naturalisierte", „künstliche" Präsentation des Textes sowie seine unmittelbare Metaphorisierung, dienen in den drei Religionen gleichermaßen dazu, den Text über den Bereich der „normalen" Texte hinauszuheben. Diese Entferntheit - als ein Zeichen der Andersartigkeit gelesen - stellt eine Barriere gegenüber jedem Versuch dar, von isolierten Teilen des Textes direkten Gebrauch im Sinne bloßer Informationsquellen zu machen. Das steht in keinem Widerspruch zu der Tatsache, dass heilige Schriften daneben auch als Lehr- und Lerntexte und damit als Grundlagen der Wissenskultur fungieren; in dieser Funktion werden sie verschiedengradig ent-ritualisiert. 10 Ebd., S. 42. 11 Lacocque 1981, S.8-9. 12 Worin sich der Islam gravierend von den beiden anderen Traditionen unterscheidet, ist sein Verzicht auf den Parallelfluss zweier Historien: derjenigen der erzählten Begebenheiten der Heilsgeschichte und derjenigen der von den späteren Hörern und Lesern erlebten Zeit. Nicht nur sind die Geschichten im Koran nicht als Teile einer linearen Entwicklung überliefert; auch das auf ihnen aufbauende Festjahr bildet keine narrative Struktur ab, so dass von keinem Festjahreszyklus die Rede sein kann. Viel zentraler als der Fluss der Heilsgeschichte figuriert im Islam das Gründungsgeschehen des von Mohammed erfahrenen Offenbarungsempfangs.
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3. Skripturalität II: Kontextualisierung heiliger Texte Kommen wir zur Ausgangsfrage zurück: Welche Wirkung hat der situative Kontext des Einsatzes heiliger Schriften im liturgischen Leben auf das Verständnis des Textes? Bezogen auf die Thematik dieses Bandes gefragt: Ist die bloße Präsenz „historischer" Darstellungen von Gewalt in einer heiligen Schrift geeignet, unter den Anhängern der jeweiligen Religion ein bestimmtes Verhältnis zur Gewalt zu begünstigen? Oder gibt es angesichts der liturgischen Kodierung der heiligen Texte auf der einen, ihrer Metaphorisierung auf der anderen Seite eine zusätzliche Dimension der Referentialität, die von dem individuellen „historischen" Gegenstand wegfuhrt und den heiligen Text mit einer komplexeren, universellen Bedeutung unterlegt? Um einer Antwort näher zu kommen, sollen einige heilige Texte in ihrer festspezifischen Kontextualisierung beleuchtet werden. Dazu soll je ein großes Fest in den drei Religionen fokussiert werden, das jüdische Pessah, das christliche Ostern und der islamische Monat Ramadan.
3.1 Drei Hauptfeste: Texte und Ätiologien Es ist offensichtlich, dass die den drei Festen zugrundeliegenden Ereignisse eine enge Beziehung zu Gewaltakten aufweisen. Jeweils wird in der Festlegende das Gründungsereignis einer Gemeinschaft erzählt, das in ihrer Erlösung von einer drohenden Gefahr der Vernichtung kulminierte. Weniger offensichtlich mag sein, dass die drei Feste auch untereinander mehr oder weniger eng zusammenhängen - eine Beobachtung, die die synoptische Behandlung der drei Feste in unserem Rahmen besonders reizvoll erscheinen lässt. Dass Pessah und Ostern in Verbindung stehen, ist bereits äußerlich evident. Beide sind zeitlich verbunden, wobei Ostern ein Ereignis ins Gedächtnis ruft, das in der Pessah-Woche stattfand. Jesus Christus wurde einen Tag nach Pessah gekreuzigt; den ersten drei Evangelien zufolge wurde er in Haft genommen, unmittelbar nachdem er das Fest mit seinen Jüngern gefeiert hatte. Insoweit Ostern Pessah als zeitlichen Hintergrund reklamiert, verleiht das jüdische Fest dem späteren christlichen Fest wichtige Dimensionen ritueller und symbolischer Bedeutung: als stellvertretendes Opfer, als Gedenkmahl und als Erinnerung an das entscheidende biblische Ereignis kollektiver Erlösung. Die beiden letzteren Aspekte - nicht jedoch der zentrale erste - werden sich als charakteristisch auch für den Festmonat Ramadan erweisen. Pessah Die biblischen Texte zeigen Pessah in statu nascendi. Ein bereits existierender ritueller Brauch, genannt pesah (sowie ein zweiter Brauch, der zeitweilige Genuss ungesäuerten Brotes, matsa), bildet einen Teil der Vorbereitungen und Er-
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eignisse, die den Exodus der Israeliten aus Ägypten einleiten. Das alte pesah war jedoch ursprünglich eine Zeremonie, die von nomadisierenden Schaf- und Ziegenzüchtern begangen wurde, um Schutz fur ihre Herden zu sichern, bevor sie von den Winterweiden in der Wüste in bewirtschaftete Regionen aufbrachen. Es fand am 14. Tag des ersten Monats statt und bestand in der Schlachtung und dem Verspeisen eines Pessah-Tieres, Schaf oder Ziege. Die Zeremonie der Pessah-Opferung und des Mahls schloss den weiteren apotropäischen Ritus ein, die Schwelle und die Türpfosten des Hauses mit dem Blut des Opfertieres zu bestreichen. Im Kontext des Exodus wird dieser Ritus gezielt umfunktioniert, er wird auf Anweisung Moses' mit dem neuen Zweck ausgeführt, die israelitischen Familien vor der Ermordung ihrer Mitglieder zu bewahren (Ex 12:21-31), da nach göttlicher Ankündigung in jedem nicht mit Blut bezeichneten Haus die Erstgeburt getötet werden soll. Die Errettung der Israeliten vor Gewalt wird erreicht, indem Anderen Gewalt zugefugt wird - die „Plage" der Tötung der Erstgeborenen ist dabei nur der Höhe- und Schlusspunkt der zehn „Plagen", die allesamt den Ägyptern - als Vergeltung fur ihre gewaltsame Behandlung der Israeliten - zugefugte Gewaltakte darstellen. Pessah markiert somit den Höhepunkt einer Akkumulation von Gewalt, nicht aber ihr Ende: Die letztliche Errettung der Israeliten aus der Sklaverei erfordert, dass ihr Feind auch persönlich zugrunde geht, der Pharao ertrinkt mit all seinen Truppen bei der Verfolgung der Israeliten auf ihrem Exodus (Ex 14:15-31) im Roten Meer. Das Pessah-Fest wird von Moses neu eingesetzt als ein Fest der Erinnerung, das von den kommenden Generationen begangen werden soll, um alles in Erinnerung zu halten, so als ob es von den späteren Kultteilnehmern selbst erlitten worden wäre, denen der Ausruf in den Mund gelegt wird: „Gott hat es mir getan [das Heil der Errettung], als ich aus Ägypten kam" (Ex 13:8). Ostern Ostern vereinigt nicht nur die entscheidenden Merkmale des Pessah-Festes: ein stellvertretendes Opfer, ein Gedenkmahl und die grundlegende Sinngebung der Errettung, es erhebt darüber hinaus den zusätzlichen Anspruch, das Neue Pessah zu sein. Durch eine mythisierende Deutung hat Ostern die Bedeutung einer universell bedeutsamen Neu-Inszenierung des Pessah-Festes angenommen. An die Stelle der geschichtlichen Errettung einer einzelnen Gemeinschaft aus der Sklaverei ist die universal-menschliche Errettung aus der Sklaverei der Todesfurcht getreten. Das Opferlamm, das im alten hebräischen Kontext für die Erlösung der Gemeinde von ihrer Schuld geschlachtet wurde, wird ersetzt durch das Opfer des Gottessohnes, der stellvertretend für die Erlösung der Menschheit von ihrer Schuld stirbt - eine Bedeutung, die bereits im JohannesEvangelium anklingt und die wiederholt wird in einer Fülle sich auf das Osterfest beziehender Hymnen. Christi Erleiden von Gewalt, seine Passion, wird in den vier Evangelien detailliert erzählt, wobei ein hohes Maß physischer und symbolischer Gewalt zur Sprache kommt.
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Der Festmonat Ramadan Das Fest, das im Islam Pessah und Ostern typologisch am nächsten kommt, ist der Festmonat Ramadan, der in der abschliessenden Feier des Fastenbrechens, ld al-fltr, kulminiert. Gewiss sind Ausmaß und Rigorosität der asketischen Anforderung, die völlige Enthaltung von Essen, Trinken und sexueller Aktivität während der Tageszeit über einen ganzen Monat hinweg als eine der gesamten Gemeinde der (erwachsenen) Gläubigen auferlegte Leistung - ebenso wie ihre unmittelbare Verbindung zu verschwenderischem Angeben und unbeschränkten Vergnügungen während der Nacht - einzigartig in den heute praktizierten Religionen und scheinbar ohne Vergleich. Dennoch lassen sich Ähnlichkeiten zu Pessah und Ostern feststellen. Der muslimische Fastenmonat ist auf ein früheres - altes semitisches - Fastenritual aufgepropft, die umra aus dem Frühlingsmonat Rajab, die wie das alte israelitische pesahn in einem Opfer kulminierte. Wie im Judentum wurde also auch im Islam ein älteres jahreszeitliches Fest in eine monotheistische Feier umgewandelt, die den Akt der göttlichen Errettung der Gemeinde in Erinnerung bringt. Nicht unähnlich Pessah und Ostern ist auch der islamische Festmonat Ramadan eng verbunden mit einem Gewalt involvierenden Geschehen, der Schlacht von Badr, die im zweiten Jahr nach der Ankunft des Propheten in Medina stattfand. Die sich herausbildende islamische Gemeinde wurde von überlegenen feindlichen Kräften der Mekkaner angegriffen; es gelang ihr aber in einer als wunderbar wahrgenommenen Auseinandersetzung, die Oberhand über die Feinde zu gewinnen. Diese Errettung vor der drohenden Vernichtung wird im Koran verstanden nicht als die Leistung einer siegreichen Armee, sondern als eine göttliche Intervention (K 8:42-43): (Damals) als ihr (die Gläubigen) auf der näheren Talseite wäret, und sie (das mekkanische Aufgebot) auf der ferneren, und die Reiter (der Karawane) unterhalb von euch! Und wenn ihr euch gegenseitig (zu einem Treffen) verabredet hättet, wäret ihr über die Verabredung nicht einig geworden. Aber (es kam durch höhere Fügung zum Treffen) damit Gott eine Sache entscheide, die ausgeführt werden sollte, (und) damit diejenigen, die (dabei) umkamen, auf Grund eines klaren Beweises umkämen, und diejenigen, die am Leben blieben, auf Grund eines klaren Beweises am Leben bleiben würden. Gott hört und weiß (alles). (Damals) als Gott sie dir in deinem Traum gering (an Zahl) erscheinen ließ. Wenn er sie dir zahlreich hätte erscheinen lassen, hättet ihr (es) aufgegeben (weiter zu kämpfen) und miteinander über die Angelegenheit (?) gestritten. Aber Gott hat (euch) bewahrt (?) (oder: hat (es) (euch) zum Heil gewandt?). Er weiß Bescheid über das, was die Menschen in ihrem Innern (an Gedanken und Gesinnungen) hegen. 1 4
13 Wellhausen 1961. 14 Korantexte nach der Übersetzung von Paret 1979.
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Diese Schlacht muss gewaltsames Sterben auf beiden Seiten mit sich gebracht haben; aber gerade die Erfahrung des Zufügens und Erleidens von Gewalt bekanntlich extrem wirkmächtige Faktoren sozialen Zusammenhalts - dürfte als Auslöser für die Stiftung des Festes nicht zu unterschätzen sein. 15 Die Umformungen antiker Jahreszeitenwende-Feste zu Festen des Gedenkens an heilsgeschichtliche Ereignisse haben jedoch in keiner der drei Religionen die Ursprünge vollständig auslöschen können. Eine Spur des Jahreszeitenwende-Ursprungs vor allem hat sich mit besonderer Vitalität erhalten: die kosmisch ausgezeichnete Nacht. So ist es im Christentum die österliche Nachtwache, die den entscheidenden Wendepunkt vom Fasten zum Fest markiert, vom Gedenken an Christi Leiden und Tod zur Feier der Eucharistie mit Christus. Sie entspricht der ersten Pessah-Nacht, die im Judentum als „anders als alle anderen Nächte" gefeiert und durch eine komplexe häusliche Zeremonie ausgezeichnet wird. Vergleichbar damit hat auch der Islam - bereits zu Lebzeiten des Propheten - den Ritus der „besonderen Nacht", der Nacht der Bestimmung - oder präziser: Entscheidung Laylat al-qadr, aufgenommen, die ursprünglich in den altarabischen Frühlingsmonat Rajab fiel und während Mohammeds Wirkungszeit in Medina in den Monat Ramadan integriert wurde. Es kann kaum überraschen, dass es gerade diese kosmische Dimension der Feste ist, die sich als bedeutendes Gegengewicht zum historisch Berichteten erweisen und mit der eine Ausbalancierung der Gewalt-Dimension der geschichtlichen Fundierung der Feste ermöglicht wird.
3.2 Aufführungen Judentum Obwohl die Feste in allen drei Fällen aus kollektiver Erfahrung von Gewalt entstanden sind, konzentrieren sich ihre Auffuhrungen in der Liturgie nicht auf die Gewalt-Dimension der in Erinnerung zu rufenden Ereignisse. Im Judentum ist das in der Synagoge stattfindende Verlesen 16 der Gründungszeugnisse des Festes aus den heiligen Schriften von hoher Bedeutung, es ist aber nicht die einzige liturgische Aufführung zu Pessah. Yerushalmi hat die Bedeutung prägnant zusammengefasst, die , jene entscheidende kollektive Übung für das jüdische Kollektivgedächtnis [hat], die im Pessah-Seder [„Ordnung"; die häusliche Feier zu Pessah] vollzogen wird. Hier werden im Verlauf eines Mahls um den Familientisch Ritual, Liturgie und sogar kulinarischer Genuss zu einer Feier orchestriert, die wirkmächtig genug ist, um eine lebendig gehaltene Vergangenheit von einer Generation an die nächste weiterzugeben. Der gesamte Seder ist die symbolische Aufführung eines historischen Szenarios, dessen drei
15 Wagtendonk 1968. 16 Zu einer Diskussion der Texte vgl. Neuwirth 2002a, S. 67f.
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große Akte die Haggadah (d.h. den bei der Feier laut zu verlesenden Text, eine Art Libretto zur Aufführung) strukturieren: Sklaverei - Errettung - endgültige Erlösung. Überraschenderweise ist eine der ersten auszuführenden rituellen Handlungen das Erheben eines Stücks ungesäuerten Brotes (matsa) vor den Versammelten, eine Geste, die begleitet wird von der Erklärung ,/fa lahma de 'anya ", „dies ist das Brot der Heimsuchung, das unsere Vorväter im Lande von Ägypten aßen" 17 - eine verblüffende, historisch leicht zu erklärende Ähnlichkeit zu den christlichen Einsetzungsworten. „Sprache wie Geste zielen denn auch nicht so sehr auf einen Gedächtnis-Sprung in die Vergangenheit als darauf, eine Fusion von Vergangenheit und Gegenwart herbeizuführen." 18 Im zu Pessah gehörenden Schrift-Text (Ex 12:8) war es zur Pflicht gemacht worden, am 14. Tag des Monats Nisan ein Lamm zu schlachten zur Erinnerung an die Befreiung der Israeliten aus Ägypten. Es sollte in der Nacht des 15. Tages verzehrt werden. Nach der Zerstörung des Tempels und der Abschaffung des Opfers wurde das Verspeisen des Fleisches vom Pessah-Lamm und des ungesäuerten Brotes - beides von der Schrift auferlegte Pflichten - in den hochsymbolischen Gedenkakt des Seder-Mahls überfuhrt. Das alte Opfermahl wird bildlich heraufbeschworen: das Vorderbein eines Lamms („Arm", zero"a) wird von Speisen umgeben, die sämtlich symbolische Interpretationen provozieren. So erinnern bittere Kräuter (merorim) an die bitteren Leiden im Lande der Knechtschaft, und eine Paste aus sauren Früchten, die haroset („Lehm") genannt wird, erinnert nicht nur etymologisch, sondern auch durch ihre braune Farbe an den Lehm, den die Israeliten in Ägypten zu bearbeiten gezwungen wurden. Das ungesäuerte Brot, matsa, soll das „Brot der Heimsuchung" darstellen, das die Vorväter in den Tagen der entscheidenden Krise des Exodus aßen. Der zero α schließlich symbolisiert nicht nur das bis zur Zerstörung des Tempels gebräuchliche priesterliche Opfermahl, sondern erinnert auch an den Arm des „Zerstörers", der - die israelitischen Häuser überspringend - die Erstgeborenen der Ägypter tötete. So haben sich verschiedene Erinnerungen an erlittene und zugefugte Gewalt zu einem neuen Ensemble von Zeichen kristallisiert. Sie wurden in ein Mahl verwandelt, das am Pessah-Fest von den Feiernden zu verzehren und damit zu „verinnerlichen" sein sollte. Christentum Es ist erstaunlich zu beobachten, dass es eine vergleichbare Umwandlung von Gewalt auch in der christlichen Liturgie gibt. In der christlichen Osterliturgie markiert die Osternachtwache den Höhepunkt einer langen Reihe von Lesungen, die sich über mehrere Tage erstrecken und mit den Berichten der Evangelien über die einzelnen Phasen der Passion Christi hoch-dramatische Texte präsent machen, die ein hohes Maß an Gewalt thematisieren. Mit der Verinner17 Yerushalmi 1982, S.44. 18 Ebd.
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lichung dieser Lesungen begleitet die Gemeinde „zeitgleich" das Leiden Christi während der letzten Tage vor seiner Kreuzigung und die Zeit von seinem Tod bis zu seiner Wiederauferstehung, wobei die erzählte zeitliche Dauer der Dauer ihrer liturgischen Darstellung ideell entspricht (Vergegenwärtigung). Am Ende des zweiten Tages von Christi Abwesenheit in der Welt der Toten, am Ostersamstag, braucht keine weitere Darstellung von Leiden und Gewalt präsentiert zu werden. Die Osternachtwache dient vielmehr dazu, sich auf die Erfahrung der Erlösung vorzubereiten, der universalen Erneuerung, die am Ende der Passionszeit gefeiert werden soll. Die Zeremonie beginnt am späten Abend des Ostersamstags und dauert bis in den frühen Morgen des Ostersonntags, wobei sie dramaturgisch von dem natürlichen Übergang von der Dunkelheit zum Licht als ihrem symbolischen Hintergrund Gebrauch macht. Nach Stunden des Lesens - insgesamt werden 15 biblische Texte präsentiert - und des Vortrags von Hymnen, die allesamt das Bild des physischen Todes und der Wiederauferstehung beschwören, 19 oder den Gedanken der kosmischen, gesellschaftlichen und spirituellen Erneuerung 20 und die Erfahrung von Errettung und Erlösung gestalten,21 gelangt um Mitternacht die Nachtwache mit der Verkündigung der Wiederauferstehung Christi nach dem Matthäus-Evangelium (Mt. 28:1-20) an ihr Ende. Darauf folgt unmittelbar die Ostermesse, die mit einem Text beginnt, der in einzigartiger Weise den christlichen Anspruch auf eine neue Schöpfung ausdrückt, Johannes 1:1-17, „Am Anfang war das Wort ..." Die christologische Um-Schreibung des Schöpfungsberichts der Genesis (Gen 1), die das neue Paradigma der Gnade zum Nachfolger des Paradigmas des Gesetzes erklärt, kündigt eine radikal neue Phase der Heilsgeschichte an und verschiebt den Akzent vom Gedenken auf die Neustiftung einer Welt der Zukunft. Mehr als alles andere aber fängt die Eucharistie den Geist des Osterfestes ein. Hier werden Bilder einer Gewalt von äußerster Grausamkeit, das vergossene Blut und der gebrochene Körper, umgewandelt in Zeichen der Erlösung; jeden Aggressionspotentials entkleidet sind sie zum Herzstück eines Versöhnungsrituals geworden. Die Gläubigen, die der Einladung zu diesem kollektiven Mahl folgen, können eine Teilhabe an der spirituellen Nahrung beanspruchen, die in der gemeinsamen Erinnerung an das Opfer des Erlösers zugänglich wird. Islam Ein Blick auf die performativen Aspekte des Festmonats Ramadan wird markante Unterschiede, aber auch verblüffende Ähnlichkeiten zu den erwähnten jüdischen und christlichen Festen offenlegen. Obwohl es keine eigene koranische Schrift-Perikope für den Ramadan gibt, die im Festgottesdienst zum abschließenden 'Id al-fitr zu lesen wäre, sind die heilsgeschichtlichen Umstände, die zur Stiftung des Ramadan geführt haben, doch allgemein bekannt; sie wer19 Tod und Wiederauferstehung: 1 Könige 17:8-18:1,2 Könige 4:8-38, Jonas 1-4, Daniel 3:1-88. 20 Erneuerang: Gen 1:1-14, Isaiah 60:1-17, Zephaniah 3:8-16, Isaiah 61:10-62:6, Isaiah 61:1-10. 21 Erlösung: Ex 12:1-12, Ex 13:20-15:20.
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den nicht zuletzt in den Predigten während der regelmäßigen Nachtgottesdienste thematisiert, die den ganzen Monat über stattfinden. Und doch ist es erstaunlich zu beobachten, dass dabei gerade die Aspekte von Gewalt und Leiden eher marginalisiert werden. Die historischen Ereignisse, wie wunderbar sie sich im Koran auch reflektieren, haben nicht jenen Prozess der Mythisierung durchlaufen, der etwa die Berichte über die Exodus-Ereignisse in eine elaborierte Ätiologie, eine Festlegende, überfuhrt hat. Im Koran werden die Ereignisse nicht als entscheidender Wendepunkt, als faktischer Moment der Entstehung einer eigenen religiösen Gemeinschaft, wahrgenommen, noch befindet sich der Text, der die betreffenden Ereignisse dokumentiert, innerhalb des Koran an hervorgehobener Stelle. Obwohl der Koran in einem Maße auf der Notwendigkeit des Erinnerns insistiert, das durchaus an das mosaische Vorbild heranreicht, ist es weniger das Gewalt-Geschehen der Vergangenheit als vielmehr die im Zuge der Ereignisse gewonnene Erfahrung der Nähe zum göttlichen Beschützer, was im Koran zu zählen scheint (K 8:26): Und gedenket (der Zeiten), als ihr wenig (an Zahl) und (überall) im Land unterdrücket wäret und furchten mußtet, daß die Leute euch (mit Gewalt) wegholen würden! (Denket daran) wie Gott (w. er) euch dann Aufnahme gewährte, euch mit seiner Hilfe stärkte und euch (allerlei) gute Dinge bescherte in der Erwartung, daß ihr vielleicht dankbar sein würdet!
Es ist von daher nicht erstaunlich, dass ausgerechnet ein Text, der die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen den himmlischen und den irdischen Bereichen feiert, die den Menschen im Ramadan als dem Monat des Gedenkens gewährt wird, den prominentesten Rang unter den liturgischen Texten zum Ramadan behauptet. Sure 97 feiert die besonders ausgezeichnete Nacht, Laylat al-qadr, in der sich Himmlisches und Irdisches annähern. Es ist dieser Text, der die Erinnerung an das Gewalt-Geschehen der Gründungsereignisse mit einer ganz anderen, versöhnlichen Vision überlagert. Anstelle der Gewalt-Erinnerung tritt das Bild einer kosmischen Öffnung, einer frei fließenden Kommunikation zwischen Gott und Mensch, die ihren Höhepunkt in der gegen Ende des Festmonats anfallenden Nacht der Bestimmung bzw. Entscheidung findet (Sure 97): Wir haben ihn (den Koran) hinabgesandt in der Nacht der Bestimmung. Wie kannst du wissen, was sie ist, die Nacht der Bestimmung? Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate. Die Engel und der Geist kommen in ihr mit der Erlaubnis ihres Herrn hinab, lauter Logos(wesen). Sie ist (voller) Heil (und Segen), bis die Morgenröte sichtbar wird (w. aufgeht). 22
Es ist nicht nur die während dieser Nacht, der Laylat al-qadr, erwartete göttliche „Bestimmung" (Paret) oder präziser: Entscheidung über die Ereignisse des neu beginnenden Jahres, die den Monat Ramadan zu einem Fest der Er22 Parets Übersetzung wurde geringfügig modifiziert.
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neuerung macht. Auch das den Monat abschließende Fest, Id al-fitr, weist eine Reihe von Merkmalen auf, die charakteristisch sind für den ersten Tag eines neuen Zeitabschnitts und zugleich gesellschaftliche Kohärenz stiftende Züge tragen, wie die Autopsie des Neumonds, das obligatorische Einkleiden der Familien - zumindest aber der Kinder - mit neuen Kleidungsstücken wie auch Bräuche, die den Zusammenhalt der Gemeinde über die Generationen hinweg stärken, etwa Besuche der Toten auf den Friedhöfen, der Austausch von Besuchen unter Verwandten und Freunden und nicht zuletzt das Verteilen von Almosen an die Armen. Mehr als alles andere jedoch ist es das Alternieren zwischen Heiligem und Profanem, der ständige Wechsel zwischen Enthaltung und Verzicht auf das gewohnte soziale Leben - bei Hinwendung aller emotionalen Energien an die transzendente Welt - während des Tages einerseits und der Wiederaufnahme des sozialen Lebens in intensivierter Form in den Nächten andererseits, die den Festmonat charakterisieren. Dieser Rhythmus wird im Ramadan zu einer zeitweiligen Lebensweise erhoben, die von der Gemeinde als ganzer geteilt wird. Es ist die gemeinsame Zeremonie des Speisens, die sich fast dreißigmal während des Monats wiederholt, die alle Erinnerung an Gewalt auslöscht - sei sie erlittene oder zugefügte Gewalt. Das vorherrschende Bild des Festmonats Ramadan ist das einer Gemeinschaft, die die sinnlich erkennbare gott-menschliche Versöhnung durch den kohärenzstiftenden Akt par excellence, das Mahl, inszeniert.
4. Konklusion Ist es im Judentum das Erinnern einer göttlich gelenkten Geschichte - dem Gläubigen im synagogalen Vortrag des biblischen Textes explizit auferlegt und von ihm in der häuslichen Re-Inszenierung des Geschehens im Seder-Mahl theatralisch aufgeführt - , das als die zentrale, Zusammenhalt generierende Kraft wirkt und die Gewalt-Erinnerung überlagert, so ist es im Christentum die Reflexion der heilsgeschichtlichen Sinngebung der Inkarnation und des erlösenden Opfers Christi für die Menschheit als ganze. Dieses Verständnis, das den biblischen Berichten über die Passion unterliegt, wird am prägnantesten ausgesprochen in der das symbolische Mahl der Eucharistie begleitenden Formel, die das Bild blutig erlittener Gewalt in das einer im Mahl verwirklichten Versöhnung wendet. Im Islam wiederum ist es die Bewusstwerdung der kosmischen Ordnung, der „Zeichen" göttlicher Gnade, die in der Weltordnung manifest sind, und mehr noch das Ereignis der dem Propheten Mohammed zuteil gewordenen Offenbarung des Koran - alles konzentriert in der besonderen Zeit des Ramadan - die den Raum der Erinnerung füllen. In allen drei Religionen wurde der Gewalt involvierende Charakter des Gründungsgeschehens, aus dem das jeweilige Fest hervorging, entschärft durch das Bewusstsein der Versöhnung, das sich nirgends symbolkräftiger darstellt als im Ritus des gemeinschaftlichen Mahls.
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Erzählungen von Gewalt wurden somit durch die Hermeneutik der die Texte rituell und exegetisch mit zusätzlichem Sinn aufladenden Liturgien umkodiert. Ein religionswissenschaftlich angemessenes Lesen heiliger Schriften muss dieser ihnen eigenen, von der Tradition gestifteten Vielschichtigkeit Rechnung tragen: Die Kanonizität eines Textes, obwohl sicherlich ein status extra historiam, lässt keine simplistische Deutung zu, sie sperrt sich gegen ihre Unterlegung mit einer zeitlosen und universellen Geltung im politisch-sozialen Alltag. Kanonizität, die im Falle heiliger Schriften von exegetischen und liturgischen Praktiken nicht zu trennen ist, ist vielleicht am besten beschrieben als ein hermeneutischer Kokon, den die Tradition um den Text gewoben hat nicht zuletzt, um ihn vor einer willkürlichen, seiner eigenen Geschichte entfremdeten Lektüre zu schützen.
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Christina von Braun
ALPHABET UND SCHLEIER
Die Geschlechterordnung in der Begegnung von Orient und Okzident
Die Kategorie Geschlecht ist zu einem Knotenpunkt aller Arten des Fundamentalismus und auch der Begegnung von Orient und Okzident geworden. Das ist nicht erstaunlich, bildet die symbolische Geschlechterordnung doch den Kern jeder Gesellschaftsordnung, ob religiöser oder säkularer Art. In diesem Zusammenhang wurden Schleier bzw. Kopftuch zu einem Signifikanten vielschichtiger Art: Einige assoziieren damit Frömmigkeit, andere sehen darin politische Agitation. Einige sagen, die Frauen werden eifersüchtig vom öffentlichen Raum ferngehalten; andere sagen, sie schützen sich vor dem penetrierenden Auge des fremden Beobachters. Das Kopftuch ist zu einem „leeren Signifikanten" geworden, der sehr unterschiedliche und paradoxe Bedeutungsweisen zulässt. Um auf die Konflikte einzugehen, die historisch und aktuell das Verhältnis aller drei Religionen des Buches kennzeichnen, lohnt es sich, auf den Ursprung und die Entstehungsgeschichte dieser Religionen zurückzugehen. Zwar erheben alle Religionen Anspruch auf Zeitlosigkeit, indem sie sich auf eine transzendente und ewige Ordnung berufen - und eben darin besteht auch ihre Macht über die Gefühlswelt von Menschen. Doch wissen wir ziemlich genau, wann jede von ihnen entstanden ist. Sie hatten also einen Anfang. Diesem historischen Moment möchte ich mich zuwenden. Er könnte dazu beitragen, einige paradoxe Aspekte, mit denen wir heute im Verhältnis der drei Religionen des Buches konfrontiert sind, besser zu entziffern.
Das Alphabet Die entscheidende historische Neuerung, die der Entstehung von allen drei Religionen des Buches vorausging oder diese begleitete, war das Alphabet. Ich unterstelle nicht, dass das Schriftsystem der einzige Grund für die Entstehung der jüdischen, der christlichen Religion und des Islam war. Noch viel weniger bestreite ich, dass diese Religionen, erst einmal etabliert, eine eigene Dynamik und eine spezifische Bedeutung entwickelt haben. Doch das Schriftsystem war grundlegend für die spezifische Form von sozialer, intellektueller und ritueller Kohäsion, die jede dieser drei Religionen entwickelte. Warum das Alphabet?
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Es handelt sich um ein Schriftsystem, bei dem ein Laut, ein Phonem, in ein visuelles Zeichen überfuhrt wird. Es unterscheidet sich von anderen Schriftsystemen - etwa den Hieroglyphen oder der chinesischen Schrift, die sich ebenfalls von Piktogrammen ableitet - dadurch, dass es eine direkte Beziehung zwischen Sprechen und Schrift herstellt. Der Vorgang hat einen Abstraktions- und Entkörperungsprozess zur Folge, denn der gesprochene Laut gehört zum Leib des Sprechenden. Das Zeichen hingegen, auf Papier oder Stein verewigt, bedarf keines lebendigen Körpers; es unterliegt nicht dem Gesetz der Sterblichkeit. Ein Gedicht, eine Erinnerung, ein Gebot können bewahrt und noch gelesen werden, wenn ihre Verfasser schon längst verstorben sind. Diese Tatsache hatte mehrere Folgen: Auf der einen Seite setzte sich mit dem Alphabet ein neuer Ewigkeitsgedanke durch, bei dem es vorstellbar erschien, dass sich der Mensch dem Zyklus von Untergang und Erneuerung entzieht. Es vollzog sich eine Abstraktion von der sinnlich wahrnehmbaren Welt, und damit verbunden fand eine Erfahrung von kollektiver Entkörperung statt. Im Westen führte dieser mit dem Alphabet einhergehende Vorgang u. a. zur Entstehung eines Konzepts von Wissenschaft, das sich außerhalb der Körper ansiedelt. Nicht durch Zufall werden sich hier die „toten Sprachen" - Altgriechisch und Latein - als Wissenschaftssprache besonders gut eignen. Nur über tote Sprache lassen sich „neutrale", gefühlsfreie Begriffe bilden, die dem Zugriff des Einzelnen und seiner Körperlichkeit/Subjektivität/Geschlechtlichkeit entzogen sind. Dieser Abstraktions- und Entkörperungsvorgang ist die Voraussetzung dafür, dass die Vorstellung entstehen konnte, dass es nur eine Form von Rationalität, Logik oder sogar Mathematik gibt. Diese Vorstellung ist in erster Linie ein westliches Phänomen - aus Gründen, auf die ich gleich zurückkomme. Die Entstehung der alphabetischen Schriftsysteme muss als tiefgehender historischer Einschnitt und Umbruch wahrgenommen worden sein - so wie auch die Vorstellung eines einzigen und unsichtbaren Gottes für den Menschen der Antike kaum zu ertragen war. Die griechischen Tragödien erzählen immer wieder von diesem traumatisierenden Übergang von einer Ordnung, die vom Körper und der Oralität bestimmt war, zu einer Ordnung, die auf dem Gesetz der Schrift beruht. Dasselbe gilt für die Entstehung des Monotheismus. Man kann die Geschichte des Exodus als die historische Auswanderung eines unterdrückten Volkes aus Ägypten begreifen. Man kann Moses aber auch als eine Erinnerungsfigur sehen, durch die der historischen Emigration einer Denkweise und eines Schriftsystems gedacht werden soll, die nicht nur die Idolatrie, sondern auch die Piktogramme der ägyptischen Hieroglyphen hinter sich ließ. Obgleich dieser Prozess als Verletzung erfahren wurde, eignet ihm doch auch ein „zivilisatorisches" Moment. Die geschriebenen Gesetze stellen Instanzen dar, die über dem Machtbestreben Einzelner liegen. Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz wurden möglich. Bald nach dem Alphabet entstanden in Griechenland Demokratie und Polis. Dank der leichten Erlernbarkeit der wenigen alphabetischen Schriftzeichen wurde die Verfügungs-
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macht einer Elite über das Gedächtnis und Wissen der Gemeinschaft eingeschränkt: 1 Wissen wurde Gemeingut. Mit dem Übergang der Gesellschaft von einer oralen zu einer „textuellen Gemeinschaft" 2 veränderten sich auch die Familienstrukturen. Zu den tiefen sozialen und psychologischen Einschnitten, die von der Schriftforschung als Folgen der Alphabetisierung beschrieben worden sind, gehört die Änderung der symbolischen Geschlechterordnung: Männlichkeit wurde mit Geistigkeit, Rationalität, dem Gesetz - die allesamt auf dem Prinzip der Schrift beruhen gleichgesetzt, während der weibliche Körper zum Symbolträger für Leiblichkeit, Sexualität, Sterblichkeit und der gesprochenen Sprache wurde: Bei den christlichen Gelehrten des Mittelalters hieß die Schriftsprache „Vatersprache", während sie die gesprochene Sprache als „Muttersprache" bezeichneten. Auf dieser symbolischen Zuweisung an den männlichen und weiblichen Körper basieren viele Regeln der sozialen Geschlechterordnung, die die Geschichte der drei Religionen des Buches begleitet haben: die Nichtzulassung von Frauen zum Priesteramt, die Entmündigung von Frauen vor dem Gesetz, das Verbot fur Frauen, sich Bildung und Wissen anzueignen etc. Allerdings hatte die auf den Zeichensystemen basierende symbolische Geschlechterordnung auch Konsequenzen für den männlichen Körper. Der „Vater" - Repräsentationsgestalt des „Gesetzes", des Staates oder der Schriftlichkeit selbst - durchlief mit der Einführung des Alphabets einen Prozess der Abstraktion vom biologischen Vater zum geistigen Vater: Der männliche Leib entkörperte sich und wurde zunehmend zum Repräsentanten von geistiger Macht. Der Vater wird also einerseits „entmachtet", andererseits als abstrakte Gestalt aber auch ermächtigt: als Erzeuger und Beherrscher von Wissen, Gesetzen und Strukturen. Von diesem doppelten Vorgang erzählt die Geschichte der Buchstaben des Alphabets: Das Wort eleph oder aleph bedeutet im gesamten semitischen Sprachraum „Stier" bzw. „Ochse". Der erste und hierarchisch wichtigste Buchstabe des Alphabets repräsentierte zunächst ein von Hieroglyphen abgeleitetes Piktogramm, das einen klar erkennbaren Stierkopf, Symbol für Männlichkeit und sexuelle Potenz, darstellte. Der Stier war das höchste Opfertier - durch seine Opferung sollte die Natur, imaginiert als weibliche Gottheit, befruchtet werden. Mit der allmählichen Entwicklung des Alphabets wurde der Buchstabe, das Symbol für den Stier, zum Symbol für geistige Potenz.3 Die Buchstaben des Alphabets, die sich allesamt aus Hieroglyphen - also Piktogrammen - entwickelten, stellen, laut Alfred Kallir, der sich jahrzehntelang mit den Buchstaben des Alphabets beschäftigt hat, Fruchtbarkeits- und religiöse Symbole dar.4 Ich möchte in diesem Kontext daran erinnern, dass das Wort,Allah" (das seine Nähe zum Alpha nicht verleugnen kann) nicht der Name Gottes ist, son1 Vgl. u. a. Goody 1986, S. 63-122. 2 Der Begriff stammt von Stock (1983). 3 Wir haben auf diesen Zusammenhang schon vielfach hingewiesen und begnügen uns hier mit kurzen Verweisen. Vgl. u. a. Braun 2001, 2005; Mathes 2005, S. 81-90. 4 Kallir 1961.
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dem einfach nur „Gott" bedeutet. In den arabischen Gegenden wurde es in Zeiten des frühen Islam auch von Christen und Juden beim Gebet verwandt. Auf das Schriftsystem übertragen, würde das Wort „Allah" auf eine Form von geistiger Macht verweisen. Die Form des „B" wiederum leitet sich aus einem Piktogramm ab, das für das Haus (hebr. bait) und Weiblichkeit steht. (Man braucht sich das Β nur liegend vorzustellen, um die mütterlichen Brüste im Buchstaben zu erkennen.) Warum beginnt die Bibel nicht mit einem A, sondern mit einem B? Der Heilige Text stellte den durch die geistige Potenz „befruchteten Acker" dar: ein Samen, der in der Heiligen Schrift sichtbar und irdisch geworden ist. Später wird das Christentum noch einen Schritt weitergehen und diese Idee auf Christus als das „Fleisch gewordene Wort" übertragen. Darstellungen der Verkündigung aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit zeigen Maria, die durch das Wort Gottes befruchtet wird: entweder durch das Ohr (das entspricht der oralen Kultur bis zur Renaissance), oder durch die Augen: Letzteres entspricht der Schriftkultur, zu der sich das Abendland spätestens mit dem Buchdruck entwickelte. Diese ganze geschlechtlich codierte Vorstellungswelt wurde auf säkularer Ebene von der Druckerpresse aufgegriffen. Die Wachsbuchstaben hießen „Matrix", die Bleibuchstaben, mit denen das Papier bedruckt wurde, „Patrix"; leere Seiten wurden als „Fleisch" bezeichnet, damit unterstellend, dass die bedruckten durch den Geist befruchtet worden sind.
Die drei „Religionen des Buches" Alle drei „Religionen des Buches" - Judentum, Christentum und Islam - basieren auf alphabetischen Schriftsystemen. Dementsprechend finden wir auch in den Gesellschaften, die nach den Gesetzen dieser Religionen leben, viele Ähnlichkeiten: ein machtvoller, unsichtbarer Gott, der aus dem Geist (oder dem Wort) die Welt erschaffen hat; eine Geschlechterordnung, in der das Männliche das Gesetz, die Logik, die Schrift repräsentiert, während das Weibliche die Leiblichkeit und Oralität verkörpert. Dennoch gibt es große Unterschiede - und diese haben u. a. damit zu tun, dass sich die drei Alphabete und ihre Entwicklungsgeschichte unterscheiden. Diese Unterschiede wirkten zurück auf die Gemeinschaftsbildung und offenbarten sich immer wieder in den Konflikten zwischen den drei Religionen. Eine Gemeinschaft mit oraler Kommunikation erfahrt die in der Gemeinschaft zirkulierende Sprache als eine Art von Lebenssaft, der die vielen Körper der Gemeinschaft zu einem einzigen Körper verbindet. Dieses Band wurde durch die Verschrifitung der Sprache durchschnitten. Der „Lebenssaft" hörte auf zu zirkulieren. Der Körper des Einzelnen war nicht mehr in derselben Weise im kollektiven Körper verwurzelt. Einen solchen Verlust von Gemeinschaft haben die drei Religionen des Buches auf unterschiedliche Weise zu
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kompensieren versucht: In der jüdischen Religion ist es vor allem die Orthopraxie. Es gibt die vielen Zeremonialgesetze, nach denen der Gläubige zu leben hat und die sich fast alle auf seinen Körper beziehen: Speisegesetze, Reinheitsgebote, Regeln zum Umgang mit Sexualität, Krankheit, Tod etc. In den hassidischen Traditionen wird diese Praxis noch durch die Rolle des Körpers beim Gebet betont: Der Körper wird zum „Medium" der Kommunikation mit Gott. Die gemeinsame Orthopraxie lässt die vielen Körpern zu einem Gemeinschaftskörper zusammenwachsen, der die Gegenwart Gottes auf Erden repräsentiert. Das „kompensatorische" System der christlichen Heilsbotschaft bestand in der Menschwerdung Gottes, der „Fleischwerdung des Wortes". Das Christentum kennt kaum Regeln, die sich auf den Körper des Einzelnen beziehen, wohl aber besteht sein Grundgedanke in der Zusammenfuhrung von Zeichen und Leib, Symbol und Symptom, vom Göttlichen und Menschlichen: ein Gedanke, der im Heiligen Abendmahl rituell zelebriert wird. Das Verhältnis von Körper und Zeichen im Islam ist noch einmal anders: Es ist einerseits gekennzeichnet von den Geboten, die sich auf den Körper beziehen: Speisen, Reinheit, Fastenzeit, aber etwa auch das fünfmal am Tag ausgeführte Gebet, bei dem die Einbeziehung des Körpers eine wichtige Rolle spielt: „durch eine Abfolge von Bewegungen: Stehen, Verbeugen, Knien, Berührung des Bodes mit der Stirn, Sitzen ,in der Verehrung Gottes vereint wie ein einziger Körper' ", 5 Andererseits offenbart sich die Nähe von Körper und Zeichen im Islam aber auch an der Bedeutung, die der mündlichen Sprache beigemessen wird. Das gilt vor allem für den arabischen Raum und mag mit der Tatsache zu tun haben, dass sich die arabische Sprache erst nach der Entstehung der Religion zu einer vollen Schriftsprache entwickelte. Eine endgültige, voll vokalisierte Fassung der arabischen Kursivschrift lag erst im 10. Jahrhundert vor,6 also einige Jahrhunderte nach der Etablierung der Religion in vielen Gebieten. Die jüdische Religion wiederum entwickelte sich - zumindest in der streng monotheistischen Form - parallel zum Alphabet, während die christliche Religion (die eng mit dem Hellenismus zusammenhängt) erst entstand, als das griechische und lateinische Alphabet voll entwickelt waren. Man sollte nicht vergessen, dass die christliche Religion zwar historisch und kulturell im Judentum entstand, doch seine Verschriftung und Kanonisierung fand auf Latein und Griechisch statt. Beide waren von zentraler Bedeutung für die Dogmen und die religiöse Heilsbotschaft, die die Kirche entwickeln sollte. Diese Unterschiede hingen wiederum mit dem Verhältnis von Oralität und Schriftlichkeit in den drei Religionen des Buches zusammen. Die Gemeinschaftsbildung des Christentums war von Anfang an geprägt vom Topos der Schriftlichkeit, und nicht durch Zufall wird die Gutenbergpresse auch im christlichen Kulturraum entstehen. Die Druckerpresse war keine unerwartete 5 Esposito 2003, S. 35. 6 Ahmed 1988, S. 93.
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Erfindung, es bestand eine Notwendigkeit für dieses Werkzeug. Viele Klöster waren gegen Ende des Mittelalters nur noch mit Abschriften beschäftigt, so sehr war die Zahl der zirkulierenden Texte angewachsen. Die Gemeinschaftsbildung von Judentum und Islam verlief anders: In beiden Fällen erhielt sich ein Nebeneinander von Heiliger Schrift und hoher Bewertung der mündlichen Tradition. Der Grund für die hohe Bewertung der Oralität - im Islam wie im Judentum - hängt mit den Charakteristika der beiden Alphabete zusammen, die ursprünglich nur die Konsonanten schreiben. Das hatte zur Folge, dass das Geschriebene nur von dem gelesen werden konnte, der auch die gesprochene Sprache beherrschte. So kam eine Hochschätzung des gesprochenen Wortes zustande, denn das Geschriebene bedurfte der Mündlichkeit - etwa zur Auslegung des Textes. In der jüdischen Religion findet die Aktualisierung des Textes für jede historische Epoche durch die mündliche Exegese statt, auch dann, wenn sie, wie im Fall der Midrash, verschriftlicht wurde, galt sie als „mündliche Thora". In den islamischen Traditionen ging es nicht um die Exegese. Der große islamische Gelehrte Ibn Sinä Avicenna wurde exiliert, weil er eine Interpretation und Aktualisierung des Korans forderte. Die oralen Traditionen zeigten sich jedoch auf andere Weise. Die Hadith zum Beispiel basiert auf einer Erinnerungskette, wie sie oralen Gesellschaften eignet. Der Koran selbst wird auswendig gelernt, der Text schreibt sich dem Körper des Gläubigen durch Reim und Rhythmus ein. Viele Moslems verstehen das Hoch-Arabisch nicht, in dem der Koran geschrieben ist. Aber durch die orale Kultur wird der Text zu einem Teil ihrer Beziehung zum Transzendenten. Die Arabistin Angelika Neuwirth schreibt: „Die Verwandlung historischer Zeit in Gegenwart ist auffallend im islamischen Gebet. [...] Allein die Tatsache, dass der Koran vom Gläubigen rezitiert wird, dass Gottes Worte über seine Lippen kommen und mit seiner Stimme wiederholt werden, kann als eine kontinuierliche Vergegenwärtigung des Vorgangs verstanden werden, bei dem der Prophet die göttlichen Worte empfing." 7 Im Christentum geschieht der Vorgang der „Vergegenwärtigung" vornehmlich durch das Auge und fur das Auge - ein Symptom unter vielen für die Dominanz der Schrift (des Sehens) über die Sprache (das Gehör). Unter diesen Umständen wird es aber auch verständlich, weshalb der Koran weder in modernes Arabisch noch in eine andere Sprache übertragen werden darf (was türkische und andere nicht-arabische Moslems durchaus getan haben). Es geht nicht nur darum, dass jede Übersetzung eine neue Auslegung des Textes impliziert, wie sie etwa von Martin Luther und Moses Mendelssohn für die Bibel vorgenommen wurden. (Was die Übersetzung bewirkte, kann man an diesen beiden Beispielen sehr gut erkennen: Die Luther-Übersetzung der Bibel führte zu einer völlig neu strukturierten und von Rom unabhängigen christlichen Gemeinde; mit der von Moses Mendelssohn wurde der Grundstein für die Entste7
Neuwirth 2002, S. 58.
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hung der „Wissenschaft des Judentums" gelegt: einer säkularen Auslegung jüdischer Traditionen und jüdischer Ethik. In beiden Fällen hatten die Übersetzer diese Konsequenzen freilich nicht beabsichtigt.) Beim Koran geht es offenbar auch darum, dessen „körperliche" oder orale Qualität zu bewahren. Ein weiteres Symptom für die Rolle der Mündlichkeit ist die Zeitwahrnehmung: Die christlichen Gesellschaften leben weitgehend nach dem Sonnenkalender und damit auch nach den Gesetzen der linearen Zeit. (Übrigens verdanken wir unseren heiligen Sonntag nicht der Auferstehung Christi, sondern vielmehr dem Mithraskult, den Aurelian im 3. Jahrhundert zur Staatsreligion erhob. Der dem Sonnengott geweihte Tag wurde später von den Christen übernommen.) Judentum und Islam hingegen hielten am Mondkalender fest, der typisch ist fiir die zyklische Zeit oraler Gesellschaften. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die unter Christen lebten, lernten allmählich, nach zwei Kalendern zu leben: dem römischen und gregorianischen und dem eigenen, religiös bestimmten, so wie sie auch lernten, in zwei Sprachen zu leben: dem Hebräischen oder Jiddischen und der Sprache ihrer Staatsbürgerschaft. In beiden Fällen - sowohl der jüdischen Exegese als auch der islamischen Inkorporation des Textes - trug das Konsonantenalphabet zur Koexistenz von oralen und schriftlichen Traditionen bei und verhinderte so eine „Entkörperung". Im Christentum sehen wir eine andere Entwicklung. Es ist zwar richtig, dass die meisten frühen Christen illiterati waren und dass die Ungelehrtheit sogar eine hohe Wertschätzung erfuhr. Aber schon im ersten Jahrhundert wurde die Religion von der Schriftlichkeit dominiert. Wir finden hier nicht die hohe Wertschätzung von Mündlichkeit, die die beiden anderen Religionen charakterisiert. Es entstand vielmehr eine Hierarchie zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, und diese hing eng mit dem griechischen Alphabet zusammen, das von Anfang an auch die Vokale schrieb. Die im griechischen Alphabet geschriebenen Texte umfassten alle Formen des Sprechens und bedurften nicht notwendigerweise der Oralität, um verstanden zu werden. So kam allmählich eine Dominanz und Überlagerung der gesprochenen Sprache durch die geschriebene zustande. Die gesprochene Sprache wurde nach den Gesetzen und der Logik der Schrift gestaltet. Schrift und Geist wurden als Gestalter der Materie gedacht - und diese Vorstellung beeinflusste sowohl das theologische als auch das politische und wissenschaftliche Denken. Wir haben es also mit drei verschiedenen Schriftsystemen zu tun und drei verschiedenen Gottesvorstellungen, für die diese Schriftsysteme von eminenter Bedeutung sind. In der jüdischen Religion ein unsichtbarer Gott, der sich einzig durch die Zeichen der Schrift offenbart: Im Zentrum dieser Gottesvorstellung steht der Gedanke, dass die Grenze zwischen Zeichen und Fleisch, Gott und Mensch nie überschritten werden darf, ein Gedanke, der u. a. im Bilderverbot seinen Ausdruck findet. Im Christentum ein Gott, der einen Leib annimmt, also die Assimilation von Zeichen und Fleisch, Gott und Mensch. Im Islam schließlich ein unsichtbarer Gott, der die Heilige Schrift im Himmel be-
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wahrt und diese dem Propheten über eine mündliche Offenbarung mitteilt. In dessen Nachfolge findet wiederum die Verschriftung des göttlichen Wortes statt, die auch eine Verschriftung der arabischen Sprache zur Folge hatte.
Schrift und Geschlechterordnung Die Charakteristika dieser drei Schriftsysteme hatten auch Rückwirkungen auf die symbolische Geschlechterordnung. Generell gilt, dass die Geschlechterordnung einer Gemeinschaft als das Spiegelbild ihrer göttlichen und davon abgeleiteten sozialen Ordnung gelesen werden kann: In der jüdischen Religion erzählt die strikte Segregation, der die Geschlechter rituell unterworfen sind durch die Beschneidung, die Gesetze der Nidda, die Trennung während des Gottesdienstes etc. von der unüberwindbaren Differenz zwischen Mensch und Gott. Den beiden Geschlechtern wird ihre menschliche „Unvollständigkeit" durch die am eigenen Leib praktizierten Riten immer erneut in Erinnerung gerufen und rituell performiert. Doch der als „männlich" imaginierte Text kann ohne die als weiblich gedachte „Oralität" nicht zur Welt kommen, und die Oralität bedarf ihrerseits der „Geistigkeit", um ihrer selbst bewusst zu werden. Eine ähnliche Funktion scheinen auch die Segregationsgesetze des Islam zu haben: Im Bilderverbot wie in den Riten, die sich auf den männlichen und weiblichen Körper beziehen, findet das Gesetz einer unaufhebbaren Differenz von Mensch und Gott seinen Niederschlag. Es ist - in meinen Augen - kein Zufall, dass die beiden Religionen des Buches, deren Geschlechterordnung ein Differenz-Modell verkündet, dieselben sind, deren Kultur auf einem Konsonantenalphabet beruht, d.h. auf einem Schriftsystem, das die Trennung und Nicht-Überlagerung von Mündlichkeit und Text beinhaltet Für die christliche Religion hingegen, die das Bilderverbot aufhob, weil so die Begründung - Gott Mensch und somit sichtbar geworden sei, besteht die Heilsbotschaft in der Aufliebung der Differenz von Mensch und Gott. Diese stellt eine Umsetzung der Gesetze eines Schriftsystems dar, das die Aufhebung der Differenz zwischen gesprochener und geschriebener Sprache beinhaltet. Auch diese Heilsbotschaft findet in der Geschlechterordnung ihren Ausdruck. So begründet Paulus seine Forderung nach einer Verschleierung der Frauen in der Kirche damit, dass sich der Mann das Haupt nicht zu verhüllen brauche, „weil er Bild und Abglanz Gottes ist; die Frau dagegen Abglanz des Mannes." 8 Paulus macht ganz deutlich, dass sich diese Vorstellung von der Geschlechterordnung direkt vom Verhältnis zwischen Mensch und Gott ableitet. Er bezeichnet Christus als das Haupt der Gemeinde, und diese als seinen „Leib". 9 Ebenso solle auch in der Ehe der Mann das Haupt der Frau und sie seinen Leib bilden. Paulus fordert: „So sollen auch die Männer ihre Frauen lieben wie ihren eige8 1 Kor 11:7. 9 Eph. 5:23 u. 28.
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nen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst."10 (Deutlicher als in diesem Bild eines Hauptes, das seinen eigenen Leib heiratet, lässt sich das Gesetz von der Unauflösbarkeit der Ehe, das von allen Religionen der Welt nur das Christentum kennt, kaum benennen.) Kurz: Im Gegensatz zu den beiden anderen Alphabeten hatte das griechische Alphabet zwei entscheidende Folgen: Das eine ist die Bedeutung, die der Visualität, dem Sehen beigemessen wird, die andere ist das Ideal der Symbiose von Zeichen und Fleisch - und beides spiegelt sich in der symbolischen Geschlechterordnung wider. Ich möchte nun - unter der Perspektive der skizzierten unterschiedlichen Verhältnisse von Schrift und Sprache, von Gott und Mensch, von Männlichkeit und Weiblichkeit - einen Blick auf die europäische Debatte über das Kopftuch werfen. In Europa wird der Schleier bestenfalls toleriert, im Allgemeinen gilt er jedoch als Symbol für die angebliche Rückständigkeit islamischer Länder, deren mangelnde Fortschrittsfahigkeit in niedrigen Alphabetisierungsraten und der Unterdrückung der Frau ihren Ausdruck findet. Es ist unbestreitbar, dass die Alphabetisierungsraten in einigen islamischen Ländern nicht sehr hoch sind, aber keineswegs in allen, und dies ist weniger die Konsequenz der Religion als politischer Verhältnisse. Man sollte aber auch über etwas nachdenken, auf das William Graham in seinem Buch Beyond the Written Word: Oral Aspects of Scripture in the History of Religion hingewiesen hat, dass nämlich nicht die Geringschätzung der gesprochenen Sprache, sondern die westliche Hochschätzung der Schrift die Ausnahme bildet. Spielt es wirklich eine Rolle, dass unsere moderne westliche Erfahrung von Texten aus historischer Perspektive vielleicht nicht normativ (ja sogar abwegig) ist? Spielt es eine Rolle [...] dass wir unsere standardisierte Behandlung von Texten (als stillen Speichersystemen visueller Daten) als Modell für das Verständnis von Texten in anderen Zeiten und Kulturen anwenden? Ich glaube, es spielt eine erhebliche Rolle für ein angemessenes Verständnis der Rolle der Schrift als bedeutendem Instrument der Religion. Ganz offenbar war in der Geschichte die orale/aurale Interaktion mit heiligen Texten die überwiegende Regel und nicht die Ausnahme. 11
Was nun das Kopftuch und die Geschlechterordnung angeht: Seine Rolle als „leerer Signifikant" offenbart sich, wenn man den Umgang der Türkei mit dem des Iran vergleicht. In der Türkei dürfen verschleierte Frauen keine öffentlichen Ämter bekleiden noch die Universität besuchen. Im Iran sind Frauen verpflichtet, den Schleier zu tragen, und dennoch repräsentieren sie mehr als die Hälfte aller Studierenden und sind auch in vielen akademischen Berufen aktiv. Das heißt, dem Kopftuch - angeblich Symbol des islamischen Fundamentalismus - werden auch im Islam selbst sehr unterschiedliche und paradoxe Bedeutungen zugewiesen. Bei den Taliban repräsentierte es tatsächlich Gewalt gegen Frauen - in anderen Ländern kann es aber auch Schutz oder sogar Fortschritt und Emanzipation repräsentieren. In der Türkei z.B. taucht der Schleier heute vor allem unter Akademikerinnen und gebildeten Frauen 10 Eph. 5:28. 11 Graham 1987, S. 160. Ich verdanke Angelika Neuwirth den Hinweis auf diese Arbeit.
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auf. Sie erfinden alle möglichen Mittel - den „Turban", die Perücke um ihren Kopf zu bedecken und dennoch den strengen Regeln des laizistischen Staates zu entsprechen. Genauso paradox ist die europäische Debatte um den Schleier. Frankreich hat das Kopftuch an den Schulen verboten, weil es sich als säkularer Staat versteht. In deutschen Schulen wurde das Kopftuch verboten, weil die deutsche Gesellschaft „christlich geprägt" sei. So gesehen, erscheint nicht nur das Kopftuch als ein leerer Signifikant, sondern erscheinen auch Säkularisierung und christliche Religion als austauschbare Begriffe. So muss man sich fragen, ob sich hinter dem Bild „islamischer Rückständigkeit" - und dafür dient der Schleier oft als Beweis - nicht etwas anderes verbirgt. Ich denke, es ist eher das unterschiedliche Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das hier zum Tragen kommt. Das westliche Denken ist geprägt vom Prinzip der Vorherrschaft der Schrift über die Sprache den Körper und findet in der Dominanz des Sehens seinen Ausdruck. Vergegenwärtigt man sich nun, dass sich der westliche Fortschrittsgedanke parallel zu einer rasanten Entkleidung des weiblichen Körpers entwickelte und der nackte Frauenkörper gleichsam zur Symbolgestalt des Fortschritts wurde, so wird die Frage noch brisanter. In der Eingangshalle der Pariser Ecole de Medecine zum Beispiel steht die Statue einer Frau, die sich entkleidet. Darunter steht: „Die Natur entschleiert sich vor der Wissenschaft". Bei dieser Phantasie einer „Ent-deckung" (dis-covery, άέ-couverte) der Natur und der Welt spielten die technischen Sehgeräte, die der Westen entwickelte und die Teil seines Fortschrittgedankens werden sollten, eine wichtige Rolle. Die Entkleidung des weiblichen Körpers erbrachte den Beweis für die Macht des Auges, in alle Geheimnisse vorzudringen. Für diesen Vorgang ist der weibliche Körper mehr als nur Metapher: Als Objekt des Begehrens wurde er auch zum Motor des Wissensdrangs. Frantz Fanon hat schon vor vielen Jahren, am Beispiel der Besitzergreifung von Algerien, dargestellt, wie sehr der Kolonialdiskurs mit dem Bedürfnis einer „Entschleierung" der anderen Kultur einherging. „So geht im Traum des Europäers der Vergewaltigung der algerischen Frau [und damit meinte er auch die algerische Nation] immer das Zerreißen das Schleiers voraus. Es handelt sich um eine doppelte Defloration."12 Etwas Ähnliches gilt auch fur den westlichen Gedanken des Fortschritts in der Wissenschaft. Das Entfernen des Schleiers geht dem Fortschritt voraus. Allerdings entsteht dabei ein Problem: Was macht der Fortschritt, wenn er den weiblichen Körper völlig entkleidet hat? Womit befriedigt der Wissensdrang sein Bedürfnis nach einem Geheimnis, das es zu lüften gilt? Sehr einfach: Das westliche Auge sucht sich ein neues Geheimnis, ein neues Terrain fur seinen Eroberungsdrang. Wenn es sich dann auch noch trifft, dass das Objekt der Begierde tatsächlich einen Schleier trägt, sind alle Voraussetzungen erfüllt. Ich möchte den Vorgang abschließend kurz an einigen Beispielen aus den Fortschrittsdiskursen des 19. Jahrhunderts darstellen, die den „Orient" nicht nur 12 Fanon 1968, S. 17, 28.
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zum Ort erotischer Phantasien, sondern auch zum Motor der Innovation gemacht haben.
Der Schleier als „Motor" der Innovation Der Orientalismus des 19. Jahrhunderts, der den Schleier, den Harem, die Geheimnisse des weiblichen Körpers als Sinnbild der verlockenden „Fremde" gepriesen hat, war auch geprägt von der Sehnsucht nach einer Rückkehr in die Körperlichkeit der gesprochenen Sprache und das, was diese repräsentierte: die ruhende Zeit, Reim und Rhythmus, die Behausung in einer Sprache, die nicht nach dem Gesetz der Schrift gestaltet ist. Gustave Flaubert, den Edward Said zu einem seiner Hauptzeugen für den literarischen Orientalismus machte, webt, wie Said schreibt, „eine fast gleichmäßige Assoziation zwischen Orient und Sex". 13 Doch Flaubert tut noch mehr: Er thematisiert mit dem Orient auch die Sehnsucht nach der verlorenen „Sprache des Körpers". Das tritt im Dialog von Sphinx und Chimäre in seiner Versuchung des Heiligen Antonius besonders deutlich zutage. Man muss sich dabei in Erinnerung rufen, dass „Sphinx" im Französischen männlich ist. In diesem Dialog sagt der Sphinx von sich selbst, „Ich wahre mein Geheimnis! Ich denke und rechne. [...] Mein Blick, den nichts abwenden kann, bleibt durch die Dinge hindurch auf einen unnahbaren Horizont gespannt." Die Chimäre antwortet: „Ich galoppiere in den Gängen des Labyrinths, ich schwebe auf den Bergen, ich streife in den Fluten [...] Ich bin leicht und freudig! Ich enthülle den Menschen blendende Aussichten auf Paradiese in den Wolken und ferne Seligkeiten. Ich gieße ihnen Wahn in die Seelen [...] Ich suche nach neuen Düften, größeren Blumen, ungeahnten Genüssen." Der Sphinx erklärt: „O Phantasie, trage mich auf deinen Flügeln davon." Die Chimäre umkreist ihn „wie ein läufige Hyäne", das „Verlangen nach der Begattung verzehrt" sie. Doch der Sphinx kann sich nicht erheben, ihr nicht folgen. „Da ich zuviel nachgedacht habe, bleibt mir nichts mehr zu sagen." Flaubert beschreibt in diesem Dialog ein Liebesverhältnis und zugleich die Sehnsucht der Schrift nach der Lebendigkeit und Unberechenbarkeit der gesprochenen Sprache, die dem Westen, der nach dem Gesetz der Schrift organisiert ist, abhanden kam. Es ist eine Sehnsucht, der man in vielen Werken europäischer Schriftsteller dieser Zeit begegnet - bis zu Rimbaud, der - nachdem seine Suche nach der absoluten Sprache gescheitert war - sein Leben in Nordafrika beendete. Der Orient wurde für Flaubert und viele andere Schriftsteller des 19. Jahrhunderts zum Ort dieser anderen lebendigen Sprache. Das war einer der Gründe für die erotischen Phantasien, die sich auf ihn richteten. Der andere war der einer Erneuerung. Gerard de Nerval ortete in Ägypten ,jenes mütterliche ,Zentrum, mysteriös und erreichbar zugleich', von dem sich alle Weisheit ab13 Said 1981, S. 213.
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leitet." 14 Der Orient wurde zum weiblichen Schoß, aus dem eine Erneuerung hervorgehen sollte. Und dieser Gedanke tauchte nicht nur bei den Schriftstellern, den Nostalgikern der verlorenen Mündlichkeit, auf. Er wurde auch leitend für Sozialutopien. Etwa bei Charles Fourier, der eine neue - auf der „Mutter" basierende - Weltordnung schaffen wollte. Als deren Hauptstadt hatte er Konstantinopel ausersehen: Dass Gott die Neuordnung der Gesellschaft nicht dem Zufall überlassen habe, lasse sich daran erkennen, „dass er auch schon den Ort für die Hauptstadt der universellen Einheit geschaffen hat. Schon jetzt ist jeder beeindruckt von den einmaligen und wunderbaren Vorkehrungen, die er zum Nutzen und für die Anmut von Konstantinopel getroffen hat. Jeder errät Gottes Absicht und sagt sich: ,Hier muss die Hauptstadt der Welt sein'." 1 5 Die auf den Orient projizierten Sehnsüchte nach dem „Mutterschoß" lassen sich, wie Mary Harper schreibt, als „Mythos einer Wiedergeburt fur das Frankreich des 19. Jahrhunderts" lesen. 16 Eine solche Wiedergeburt war nach den Umwälzungen, die die Französische Revolution sowie die napoleonischen Kriege und Reformen mit sich gebracht hatten, notwendig, und sie fanden in Gesellschaftstheorien ihren Ausdruck, die „die Frau" ins Zentrum stellten. Zu den Hauptakteuren dieser Erneuerungsbewegung gehörten die Saint-Simonisten, die unter ihrem selbst ernannten „Vater" Barthelemy P. Enfantin eine neue Gesellschaft gründen wollten, basierend auf den Prinzipien von Gleichheit, Gerechtigkeit und „universeller Harmonie". In dieser Gesellschaft sollte „die Frau" eine Schlüsselrolle einnehmen. Die Saint-Simonisten zogen in den Orient, in der Hoffnung, dort den „weiblichen Messias", die „Mutter" zu finden, mit der das Goldene Zeitalter eingeläutet werden sollte. Das Jahr 1833 wurde zum „Jahr der Mutter" erklärt, und unter der Leitung von Emile Barrault brachen die Jünger Enfantins nach Ägypten auf: „Dies ist keine Reise in den Orient, sondern eine Reise zur Frau. [...] Die Ritter der Kreuzzüge wollten das Grab Christi befreien. Wir, die Gilde der Frauen, suchen im Orient nicht ein Grab, sondern das Leben." 17 Denn „in der orientalischen Frau' wohne die Quintessenz sowohl des Orients, Ort der göttlichen Offenbarung fur Juden, Moslems und Christen, als auch ,der Frau', Verkörperung des Fleisches." 18 Durch die Verbindung von Orient und Okzident sollten „weibliche Sinnlichkeit" und „männlicher Verstand" zusammengeführt und fruchtbar gemacht werden - eine Phantasie, in der man das Verhältnis von „Vatersprache" und „Muttersprache" erkennen kann. Doch den Saint-Simonisten ging es nicht um die Erneuerung der Sprache, sondern um die von Technik und industriellem Fortschritt. Für sie bezog sich der Erneuerungsgedanke auf die Gesellschaftsordnung, auf Wissenschaft und technische Innovation. Sie erklärten das Mittel14 15 16 17 18
Ebd., S. 208. Fourier 1808, S.71. Harper 1985, S. 6. Zit. n. D'Ivray 1928, S. 144. Harper 1985, S. 7.
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meer zum „Ehebett von Orient und Okzident". 19 In den Plänen fur den Bau des Suez-Kanals finde diese neue Fruchtbarkeit, so Enfantin, ihren deutlichsten Ausdruck. An den Ideen des Saint-Simonismus, der entscheidend zur Entfaltung des modernen Bank- und Verkehrswesens beitrug, wird deutlich, dass der Orient als Projektionsfläche einer Wiedergeburt der westlichen Gesellschaft imaginiert wurde. Es ging nicht nur um die Penetration des Orients und die Eröffnung eines neuen Kolonialreichs im Osten, es ging auch um eine Innovation, wie sie von der Industrialisierung und einem neuen Verständnis der Produktivität und „Fruchtbarkeit" des Kapitals erwartet wurde: „Die westliche Zivilisation, die sich heute mit der brodelnden und ungeregelten Zivilisation des Ostens verbindet, ist dazu bestimmt, diese zu befruchten und sich selbst zu befruchten. Aus dieser Mischung wird eine verjüngte Zivilisation hervorgehen, die weder orientalisch noch okzidentalisch, sondern allgemein menschlich ist." 20 Um diese seltsame Projektion einer westlichen Erneuerung aus dem angeblich „rückständigen" Orient zu verstehen, muss man sich die spezifische Art vor Augen fuhren, in der Weiblichkeitsbilder - und die Phantasie von der Fruchtbarkeit des „Mutterschoßes" - in der Geschichte des westlichen Denkens auftauchten. Als Beispiel sei Francis Bacon, der Autor der großen Wissenschaftsutopie der Neuzeit, Nova Atlantis, zitiert, der in einer Schrift von 1623 die Hexenverfolgung mit der „Inquisition der Natur" verglich, die dazu dienen solle, der Natur ihre „Geheimnisse" zu entlocken. Der moderne Mensch solle „keine Skrupel haben, in die dunklen Ecken und Löcher einzudringen und diese zu penetrieren", denn die Wahrheit lasse sich ,nur mit den Mitteln der Inquisition' erkunden." 21 Durch „Forscher und Spione" sollten die „Verschwörungen und Geheimnisse" der Natur an den Tag gebracht werden. Denn es gebe Grund zur Hoffnung, „dass der Schoß der Natur noch ausgezeichnete Geheimnisse bewahrt, die keine Ähnlichkeit mit bekannten Dingen haben." 22 An dieses Bild schloss Michelet an, als er im 19. Jahrhundert den Orient zum „Schoß der Welt" erklärte. Wenn sich also der Diskurs des Orientalismus so sehr auf das Bild der Entschleierung und der „Defloration" konzentrierte, so offenbarte sich in diesen „Penetrationsphantasien" einerseits ein Eroberungsdrang, andererseits aber auch ein Forscherdrang, wie ihn Bacon formuliert hatte - nur dass das Geheimnis nun nicht auf den weiblichen Körper, sondern auf den als Frau imaginierten Orient projiziert wurde. In den Schriften der Orientalisten des 19. Jahrhunderts finden sich zahlreiche sexuell aufgeladene Bilder, in denen der Orient als „Sybille, die die Zukunft enthüllt", erscheint. 23 Warum aber wird auf den Orient die Phantasie projiziert, dass sich aus ihm neue Erkenntnisse gewinnen lassen und dass er noch „ausgezeichnete Geheim19 20 21 22 23
Michel Chevalier, Systeme de la Mediterranee (1832), zit. n. Harper 1985, S. 7. Emile Barrault, Occident et Orient. Paris 1835, zit. n. Harper 1985, S. 7. Francis Bacon, De Dignitate et Augmentis Scientiarium (1623), zit. n. Merchant 1980, S. 168. Merchant 1980, S. 169. Harper 1985, S.8.
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nisse bewahre, die keine Ähnlichkeit mit bekannten Dingen haben"? Um auf diese Frage zu antworten, müssen wir auf eine spezifische Dynamik eingehen, die dem westlichen Fortschrittsgedanken eignet. Dabei wird auch deutlich, dass mit der Kopftuchdebatte, in der immer von der Modernisierung des „rückständigen" Orients die Rede ist, eigentlich die Hoffnung auf eine Erneuerung des stagnierenden Westens gemeint ist. Die abendländische Wissenschaft beruht - im Gegensatz zur jüdischen und zur islamischen Kultur - auf einer paradoxen Struktur: Die Erneuerung des Denkens findet nicht durch die orale Tradition oder Exegese statt, also durch die „Verlebendigung" des Textes durch die gesprochene Sprache. Sie findet auf schriftliche Weise statt. Es entsteht das, was man als „fließenden Kanon" bezeichnen kann: Ein Text schließt an einen vorangegangenen kanonischen Text an und „aktualisiert" diesen. Der Kanon, ein festgelegter Text mit Instanzcharakter, erhebt an sich Anspruch auf Endgültigkeit und Universalität. Ein „fließender Kanon" impliziert jedoch, dass jeder dieser (endgültigen und universellen) canones in Frage gestellt werden kann. Und er soll es auch: Der Akt der „Zerstörung" ist die Voraussetzung dafür, dass ein neuer Kanon entstehen kann. Das heißt, der abendländische Fortschritt ist fur seine Innovation angewiesen auf das Prinzip der kreativen Destruktion und bezieht eben daraus seine Erneuerungskraft. Bei diesem Prozess spielt das Rätsel eine wichtige Rolle. Der Fortschrittsmotor bedarf einer immer wieder zu erneuernden „Fremde", die traditionell dem weiblichen Körper zugewiesen wurde. Einerseits inkarniert der weibliche Körper den Zustand der Homogenität, die Einheit und Ganzheit des Gemeinschaftskörpers: als Ecclesia, als Nationalallegorie oder Verkörperung der Republik und des Fortschritts. Auf der anderen Seite repräsentiert er jedoch das Andere, das Fremde, das Ausgeschlossene: eine Uhr, die „nicht ganz richtig tickt". Kurz, er ist „das Rätsel", der „schwarze Kontinent". Mit dem Beginn der Moderne - und der Entkleidung des westlichen Frauenkörpers - wurde diese Funktion zunehmend auf den Orient übertragen. Wenn es im Kanon, wie Jan Assmann schreibt, „um Ordnung, Reinheit und Harmonie, um den Ausschluß von Zufall und unkontrollierter Abweichung, von , Schlendrian' und lavierender Anpassung ans Gegebene" geht, 24 so werden damit nicht nur die traditionellen Bilder über den weiblichen Körper, sondern auch aktuelle Bilder über den Orient benannt. Das bedeutet aber, dass die Bilder vom „rückständigen" oder „ungeordneten" Orient dazu dienen, den Impuls für die Erstellung eines neuen Kanons, einer Innovation zu geben. In diesem Kontext bietet die verschleierte Frau eine ideale Projektionsfläche. Hätte es den Schleier nicht schon gegeben, der Westen hätten ihn erfinden müssen, um seinen eigenen Denk- und Wissensstrukturen zu entsprechen. Der Schleier stützt die Hoffnung, dass es doch noch einen „schwarzen Kontinent" gibt, der auf seine Eroberung wartet. Hierin scheint mir einer der Gründe für die westlichen Erregungen über dieses Klei24 Assmann 1999, S. 109.
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dungsstück zu liegen: Sie richten sich auf eine terra incognita, die die Verheißung in sich trägt, dass, entgegen allen Befürchtungen, die Zeit der Entdeckungen noch nicht vorbei ist.
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M e h r e z Hamdi
IST DIE RELIGION EIN HINDERNIS FÜR DEN INTERKULTURELLEN DIALOG?
Aus gewissen Verlautbarungen europäischer Politiker, die von auflagenstarken Medien aufgenommen werden, kann man heraushören, dass die Gründe gegen einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union im Wesentlichen kulturelle und darauf zurückzuführen seien, dass die Türkei ein Land mit einer moslemischen Mehrheit und die Erbin des letzten moslemischen Reiches ist, welches das westliche und christliche Europa über Jahrhunderte bekämpft hat. Die geographische Zugehörigkeit zum europäischen wie zum asiatischen Kontinent kann daran nichts ändern. A u f diese Weise mischt man ein doppeltes Amalgam an. Zunächst verkürzt man die türkische Kultur oder vielleicht die türkischen Kulturen auf eines ihrer Elemente, nämlich die islamische Religion. Und dann sieht man im Islam nur seine historische Dimension, die sich im Rahmen der gegebenen politischen Ausformungen der christlichen Welt entgegenstellen musste. Die Auflösung des osmanischen Reiches, das Aufkommen der modernen und modernistischen Türkei sowie die geschichtliche Entwicklung haben diese Ideen nicht aufhalten können. Und man hat heutzutage das Recht zu fragen, ob sich das westliche Europa seit dem Moment verändert hat, als Montesquieu die Lettres persanes schrieb, und ob es nicht immer noch dabei ist, sich zu fragen: „Wie kann man Perser sein?" Man muss sagen, dass die Ereignisse des 11. September und die von gewissen Widerstandsbewegungen islamischer Prägung verfolgten Wege nur noch mehr Öl ins Feuer des Hasses gegossen und somit den von der Geschichte ausgehobenen Graben vergrößert haben, der einerseits zwischen dem Islam und den verschiedenen Kulturen, die ihn ausmachen, und andererseits der christlichen Welt verläuft. So wird auf den Islam heutzutage mit dem Finger gezeigt und er wird beschuldigt, eine Religion der Gewalt zu sein, mit der man einzig durch Abbruch der Beziehungen und Krieg in Kontakt treten kann. Die Aufstände, die in letzter Zeit die Vorstädte von Paris erschüttert haben, sind sie nicht Wasser auf die Mühlen derer, die den Abbruch der Beziehungen predigen? Hat man in diesen Ereignissen nicht den Beweis gesehen, dass die islamische Kultur mit der Modernität, wie sie von der Kultur der Westens repräsentiert wird, unvereinbar ist? Die mehr oder weniger klaren Geister, die über dieses Problem gestritten haben, haben letztlich alle festgestellt, dass die Integration der Jugendlichen aus den Pariser Vororten gescheitert ist, und die Unbesonnenen sind so weit
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gegangen, die islamische Religion dafür verantwortlich zu machen, die von der islamischen Religion mehr oder weniger erlaubte Polygamie, den Bekehrungseifer der religiösen Oberhäupter usw. Auf diese Weise überträgt man ein Versagen der politischen und wirtschaftlichen Ordnung auf das, was persönlich ist und der Überzeugung angehört, auf den Glauben und die Werte. Und es ist erbärmlich, jene Politiker zu sehen, die die ENA und die angesehensten Schulen Frankreichs absolviert haben, wie sie Imame zu Hilfe rufen, die quasi Analphabeten sind, um ihnen zu sagen, dass sie die Jugendlichen zur Ruhe auffordern sollen. Dies ist andererseits um so beklagenswerter, als es das Versagen der Republik und ihrer laizistischen Institutionen ahnen lässt, die ihr Gleichgewicht in einer Welt der Theologie suchen. Alle hier und dort in den islamischen Ländern unternommenen Anstrengungen, die Bereitschaft der islamischen Religion zum Dialog und zur Toleranz zu bezeugen, sind zum Scheitern verurteilt, solange die anti-islamischen Vorurteile im westlichen Denken festsitzen.
1. Vorbemerkungen Nun sind wir an einem Punkt angekommen, an dem wir uns immer noch fragen, ob die Religion ein Hindernis für den interkulturellen Dialog und ob der Glaube nicht die Quelle und das Fundament der Gewalt und des Terrors ist. Ich werde mich hier mit der islamischen Religion beschäftigen, nicht mit der Religion im Allgemeinen. Davor erscheinen einige Bemerkungen zu Methode und Analytik erforderlich. Zuallererst, und das ist Allgemeinwissen, kann es mehrere Kulturen innerhalb der gleichen Religion geben. Die Religion ist in diesem Fall der Faktor, der einen noch nicht vorhandenen interkulturellen Dialog favorisiert und auf den Weg bringt. Und in diesem Fall liegt die Größe, die Stärke, die Universalität einer Religion in ihrem Vermögen, lokale Kulturen zu integrieren, zu assimilieren und zu tolerieren, über die sie sich erstreckt, oder aber sie versucht, diese zu ersticken. Je mehr eine Religion die moralische und geistige Offenheit predigt, die das Fundament für allen interkulturellen Austausch ist, desto mehr Völker und ethnische Gruppen umfasst sie. Die Religion erscheint also dann als ein Hindernis für den interkulturellen Dialog, wenn es sich um Kulturen mit verschiedenen Religionen handelt. Es sind folglich ganz offensichtlich nicht die Kulturen, die sich ihm entgegenstellen, sondern die Religionen, die die jeweiligen Kulturen ausmachen. Über die Tatsache hinaus, dass diese Opposition den Dialog behindert, lässt sich nur sagen, dass sie der Ursprung konfliktreicher Beziehungen sein kann, die bis zur Gewalt fuhren können. Und es ist in diesem Kontext schwer zu bestimmen, wer wen einnimmt: die Kultur die Religion, oder umgekehrt? Wir denken, zumindest für unseren Teil, dass die Religion eines der Elemente ist, aus der sich
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eine Kultur zusammensetzt, und ihre Wichtigkeit je nach der Phase variiert, die eine kulturelle Einheit in ihrer historischen Evolution erreicht. Aus diesem Grund ist der Einfluss der Religion und ihr Status innerhalb der Kultur davon abhängig, welche Beziehung die Menschen zur Religion, ihren Dogmen und Riten im alltäglichen Leben, ihrer Repräsentation in der Welt und der in ihr enthaltenen Wahrheit haben. Es empfiehlt sich daher, wenn auch nur theoretisch, zwischen der Kultur einerseits und der Religion andererseits zu unterscheiden. Denn jegliches Vermischen der beiden trägt dazu bei, die Dinge zu verwirren, die Verwechslungen zu nähren und zwischen den Kulturen und Religionen immer weitere unüberwindbare Barrikaden zu errichten. Es muss noch eine zweite Unterscheidung hinsichtlich der Religion selbst gemacht werden. Es empfiehlt sich, das, was den Glauben an sich betrifft, von dem zu trennen, was die Dogmen betrifft. Letztere leiten sich nicht immer aus einer Offenbarung ab, sondern sind weitgehend Menschenwerk. Sowohl die Lektüre der heiligen Schriften und ihre Interpretation als auch die Kanonisierung und die Riten, die sie betreffen, resultieren sehr oft aus dem Bemühen der Theologen, die nicht immer und einzig im Dienste Gottes stehen. Schließlich kann man den Glauben nicht immer für alles Schlechte verantwortlich machen, was das Zusammenleben der Menschen beeinträchtigt und der Interkulturalität schadet. Auch wenn die Religion aus theoretischer Sicht nicht verdächtig ist, verhindert dies nicht, dass der Grund für das Schlechte und die Gewalt in der Beziehung liegt, in der die Gläubigen mit ihr stehen. Es ist hier wie bei allen Beziehungen, die Menschen mit der Wahrheit pflegen welcher ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit sie auch immer sind. Jede geschlossene Wahrheitskonzeption, die auf einer absoluten Einheit beruht, stellt eine Bedrohung für Toleranz und Fortschritt dar. Zwischen der Rationalität und der Objektivität der Wahrheit, die ihre Universalität begründen, und dem Dogmatismus einer Ideologie, dem darin enthaltenen Fanatismus und der daraus hervorgehenden Gewalt ist die Grenze so verschwommen, dass sich selbst Gelehrte täuschen. Und wir wissen, dass es die Gutgläubigkeit und der Eifer des Gläubigen sind, die aus ihm einen Kämpfer im Dienste des Despotismus und der Gewalt machen, und dass die Einbildung, die absolute Wahrheit zu kennen und neben dieser keine andere zuzulassen, aus dem Menschen ein armseliges Tier macht, das wütend, dem Anderen und seinen Vorstellungen gegenüber verschlossen und zu den schlimmsten Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten bereit ist. Ist der Weg zur Hölle nicht mit guten Vorsätzen gepflastert? Und die Geschichte lehrt uns, dass die Religionskriege vielleicht mörderischer als alle anderen waren. Am Anfang der Gewalt steht fur den Philosophen folglich dieses exzessive Verhältnis des Menschen zur Wahrheit, zu welcher auch immer, das bewirkt, dass er sie für absolut, unveränderlich und einzigartig hält. Und an dem Tag, an dem der Mensch lernen wird, die Wahrheit zu relativieren (auch die religiöse Wahrheit), könnte er seine Freiheit und seine Befreiung aus den Ketten der Gewalt und der Bürde des Hasses ausrufen. Keine
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Überzeugung und keine menschliche Repräsentation verdient es, dass sich Menschen ihretwillen umbringen, um sie so zum Schaden des Anderen zu wenden. Zeigt uns die große Lehre der kulturellen Anthropologie nicht, dass alle Kulturen gleichwertig sind, dass kein Glaube besser ist als der andere? Ist nicht das Wesentliche, dass die Werte, Modelle, Techniken, das Wissen und der Glaube, die eine Kultur ausmachen, es ihr erlauben, ihr Ziel zu erreichen, nämlich dass die Menschen ihre Umwelt beherrschen und sich ihr anpassen, indem sie sich gegenseitig und auch andere Menschen aus anderen Gruppen in der größtmöglichen sozialen und politischen Harmonie unterstützen?!
2. Das Beispiel des Islam Es soll im Folgenden um die zivile und politische Berufung der islamischen Religion anhand der Kategorie des 'iman gehen. Der 'iman ist ein Pakt. Vielfältige philologische Betrachtungen haben uns zur Annahme geführt, dass der Begriff des 'iman viel mehr beinhaltet als die Konnotation des Glaubens. 'Iman und „Islam" führen in die Religion über das Metaphysische hinaus das Zivile, das Soziale und das Politische ein. El 'Iman zu haben, Muslim zu sein zwei Begriffe, die übrigens nicht immer übereinstimmen - heißt, Anderen Frieden und Sicherheit zu garantieren und sich der Wechselseitigkeit der Garantie durch den Anderen sicher zu sein. Es ist die Spezifität des Islam, um nicht von Ursprünglichkeit zu sprechen, dass er lange vor allen Vertragstheorien der politischen Philosophie die Idee des Gründungsaktes der Zivilgesellschaft formuliert hat, und warum nicht auch des Staates. An Gott, das Jüngste Gericht usw. zu glauben, all die metaphysischen Implikationen im und durch den el'iman können uns nicht seine zivilen und politischen Implikationen vergessen lassen: Seinen Glauben beteuern bedeutet Treue und Zugehörigkeit zu einem Bund zu erklären, ohne den kein soziales Leben und keine politische Gesellschaft existieren könnte. Es ist ein gewaltfreier Bund, der dem Anderen die Sicherheit seiner Person, der Seinen und seines Guts versichert.1 Aber das Eigentliche dieses Bundes ist, dass er nicht ausschließlich auf den Menschen bezogen ist. Was das Menschliche organisieren wird (das Soziale wie das Politische), ist die Vermittlung durch die göttliche Transzendenz. Die müminun, die „Gläubigen", sind jene, die dem Glauben an einen transzendenten Gott anhängen, um ihre gegenseitigen Beziehungen zu bestimmen und ihre Rechte und Pflichten zu definieren, indem sie die „Grenzen" zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen festlegen. Die 'ibada, die Anbetung, 1 Zum Begriff 'iman und seinen Beziehungen zum Sicherheitskonzept und zur Idee des gesellschaftlichen Bundes vgl. R.B. Sergeant, The Sunnah Jämiah, Pacts with the Yathrib Jews, and the Tahrim of Yathrib: Analysis and Translation of the Documents Comprised in the socalled „Constitution of Medina". Aus einem Nachdruck des Bulletin of the School of Oriental and African Studies, University of London, vol. XLI part 1, 1978.
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hat die staatsbürgerliche Gesinnung zum Ziel, und alle staatsbürgerliche Gesinnung ist letzten Endes 'ibada. Der mümin, der Gläubige, hat von einem mümin nichts zu furchten - selbst wenn dieser Partner kein Moslem ist. Zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen gibt es Gott. Der Bund wurde von Gott besiegelt.2 Oder genauer: Der Bund besteht nicht zwischen dem Menschen und dem Mitmenschen. Er besteht zwischen Gott und dem Menschen und wiederholt sich bei jedem Menschen, der gläubig ist. Diejenigen, die das zivile und soziale Leben und die politische Ordnung in Gefahr bringen könnten, sind zuallererst die Ungläubigen oder all jene, die über keine Vorstellung von der Transzendenz verfügen und bei denen das Menschliche dem Menschlichen nackt gegenüber steht, mit unbedecktem Gesicht, ohne die regulierende Vermittlung des Göttlichen, bei denen das soziale und zivile Leben nur eine verkappte Fortsetzung des Naturzustands ist. Anschließend kommen die „Heuchler", die munafikun, jene, die ihre scheinbare Zugehörigkeit zum Islam erklären, ohne dass es bei ihnen eine wahrhaftige und tiefe Unterwerfung gibt, so dass jederzeit ihre Rückkehr zum Naturzustand möglich ist. Sie haben dem Gewaltgebrauch gegen andere nicht abgeschworen und sind an ihre natürliche Freiheit gebunden. Sie haben sich den sozialen und politischen Anforderungen des iman unterworfen, ohne im Innern eine wahrhafte Veränderung durch den Kontakt mit dem Göttlichen vollzogen zu haben.3 Schließlich gibt es die fasikun, die „Schurken", und die asun, die Renegaten, diejenigen, die dem 'iman anhängen, aber den Versuchungen des Lebens und der Schwäche des Fleisches unterliegen. Jede Gesellschaft muss die ihren ertragen und Anstrengungen unternehmen, ihre Zahl durch Erziehung und Betreuung zu verringern und ihre schädlichen Auswirkungen auf das Leben der Gemeinschaft und der müminun zu begrenzen. Kurz gesagt, el'iman ist jenes Glaubensbekenntnis, das als Gründungsakt der zivilen Gesellschaft und als soziales und politisches Regelwerk dient. Ein Akt, der sich mit jedem Gläubigen ständig und sein ganzes Leben lang erneuert, solange er keine Handlungen begeht, die seine Zugehörigkeit zur umma, zur Gemeinschaft der Gläubigen, in Frage stellen.
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Vgl. Francis Fukuyama (Das Ende der Geschichte. München 1992: Kindler, S. 390): „Die an Locke orientierten Liberalen, die Väter der Amerikanischen Revolution wie Thomas Jefferson und Benjamin Franklin, waren der festen Überzeugung, dass die Freiheit den Glauben an Gott voraussetzte. Und auch Abraham Lincoln, der leidenschaftlich für Freiheit und Gleichheit kämpfte, war gläubig. Dies bedeutet, dass der Gesellschaftsvertrag, der zwischen Individuen im Namen des rationalen Eigeninteresses geschlossen wurde, sich nicht selbst trug, sondern durch den Glauben an den Lohn und die Strafe Gottes untermauert wurde." 3 „Die Wüstenaraber sagten: ,Wir glauben!' Sage ihnen: ,Ihr glaubt nicht. Sagt lieber: Wir haben uns nur scheinbar ergeben. Der Glaube ist nicht in Eure Herzen eingedrungen. Wenn ihr Gott und seinem Gesandten gehorcht, belohnt Gott Euch voll und ganz für Eure Werke.' Gott ist voller Vergebung und Barmherzigkeit." (K 49: 14; Koran-Zitate nach Auswahl aus den Interpretationen des heiligen Koran. Hg. von Al-Azhar/Ministerium für Awqaf/Oberster Rat für islamische Angelegenheiten, Arabische Republik Ägypten. Übers, von Moustafa Mäher. Kairo 1999).
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Das Zivile ist der Zweck der Metaphysik, und das Religiöse schließt beide ein. Das Soziale und das Zivile dienen ferner immer als Kompensation, als Buße für Mängel bei der Anbetung, der 'ibada: Den Armen und Hungrigen in Not Essen zu geben, einen Sklaven befreien usw. können dazu dienen, eine Überschreitung der Gesetze während des hadj (der Pilgerfahrt nach Mekka), des Fastens oder des Gebets abzugleichen; die zakat, eine der wichtigsten Säulen des Islam, soll nicht dazu benutzt werden, die eigene Rolle in der Festigung der sozialen Brüderlichkeit zwischen den müminun zu bezeugen. Es gibt keinen Bruch zwischen dem Göttlichen, dem Himmlischen und dem Irdischen, dem Weltlichen. Jedem Akt kann eine Heiligkeit verliehen werden, vorausgesetzt, dies wurde unter den müminun vereinbart. Und das, was alle Konventionen leiten muss, ist der gesellschaftliche Nutzen: der Nutzen für die umma der müminun. Der göttliche Wille wüsste sich Zuwiderhandlungen zu widersetzen. Wie übrigens jede menschliche Handlung mit Rücksicht auf das Gute und das Glück nicht gegen den göttlichen Willen und sein Gesetz sein kann.
3. Gleichheit und Hierarchie der Menschen Die göttliche Gerechtigkeit impliziert die ursprüngliche Gleichheit aller Menschen. Die Unterschiede (kulturelle, ethische oder rassische) geben keinen Anlass zu irgendeiner Hierarchie unter den Menschen. Nur die Gottesfurcht, als Unterwerfung, Treue und Gehorsam gegenüber dem Schöpfer kann eine Unterscheidung zwischen den Menschen implizieren: Die Frommsten unter ihnen sind diejenigen, die Gott am nächsten sind.5 Die Frömmigkeit drückt sich nicht nur durch Gebet oder Gotteskult aus, sondern auch in der zwischenmenschlichen Beziehung. Die Anderen zu respektieren, ihnen gegenüber gerecht und tolerant zu sein, sie nicht auszunutzen, usw. - dies alles beweist Frömmigkeit, weil Gott es so will. In der Nächstenliebe zeigt sich die Liebe, die man Gott entgegenbringt.6 Davon können wir uns auch überzeugen, wenn wir uns an den islamischen fikh, das kanonische Recht wenden, das sich in zwei Teile gliedert: a) Der erste bezieht sich auf die Regeln, die den Kult bestimmen, den man Gott entgegenbringt, und auf die Art, ihn zu praktizieren (Fasten, Beten, zaket, hadj etc.); man bezeichnet ihn als 'ibadat (Plural von 'ibada).
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„Azzaket" ist das vom Koran und der Rechtsprechung vorgeschriebene obligatorische Almosen. „O ihr Menschen! Wir haben euch aus Adam und Eva erschaffen und haben euch zu Völkern und Stämmen werden lassen, damit ihr euch kennen lernt. Der Edelste vor Gott ist der Frommste unter euch. Gottes Wissen und Kenntnis sind unermesslich" (K 49: 13). 6 „Die Gläubigen sind Brüder. Versöhnt eure Brüder miteinander und fürchtet Gott, auf dass er euch in seine Barmherzigkeit aufnimmt" (K 49: 10).
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b) Der zweite verweist auf die Regeln und Gesetze, die das wirtschaftliche und soziale Leben sowie die Beziehungen der Menschen untereinander im Rahmen von Gesellschaft und Staat leiten. Es passiert sehr oft, dass die offenbarten Texte selbst die Verbindung zwischen den beiden Feldern regeln, indem sie den Menschen suggerieren, dass die guten Handlungen (Armen Essen zu geben, dem Waisen und der Witwe zu Hilfe kommen, den Reisenden willkommen zu heißen usw.) vor einem Vergessen, einem Regelbruch, einer Unfähigkeit oder sogar vor einer bewussten Vernachlässigung des rituellen Kults und der rituellen Pflichten (der Kranke oder der Reisende, der nicht fasten kann, usw.) schützen können. Ein Ersatz ist fast immer möglich. (Außer für das Gebet: Man kann es nicht durch anderes ersetzen, es ist jedoch erlaubt, das Gebet zu sprechen, selbst wenn man nur die Wimpern dabei bewegen kann.) Auf diese Weise ist das Zivile, das Soziale sichtbar privilegiert, oder sagen wir besser, dass man nur auf Gott zugehen kann, wenn man auf die Menschen zugeht. Es scheint mir, dass eine wesentliche Dimension der islamischen Religion darin liegt, zu wissen, dass das zivile und soziale Leben ein Ziel an sich ist, welchem die Metaphysik, das Credo, sehr oft untergeordnet wird. Aber liegt das nicht im Konzept des Islam selbst? Es ist die Etymologie, die uns dieses lehrt: Salam heißt Frieden. Islam bedeutet Gehorsam und Unterordnung im Rahmen eines inneren und äußeren Friedens. Der Moslem ist jener, der sich Gott unterwirft und dadurch dem Anderen Frieden schenkt. Er ist deijenige, „von dem der Andere nichts zu furchten hat, weder von dessen Hand noch von dessen Zunge", sagt der Prophet Mohammed.7 Und auch „deijenige, von dem der Andere nichts zu furchten hat, nicht für sein Blut noch fur sein Geld."8 So wird es in der Tradition des Propheten überliefert. Das gleiche gilt für das Konzept des 'iman, was Glaube (foi) heißt. Es bedeutet nicht nur Credo oder Gläubigkeit. Seine Etymologie sagt uns, dass es Sicherheit, Vertrauen, Versicherung und Frieden heißt. Dadurch ist der Glaubensakt ein Akt der Ablehnung von Gewalt, durch den die Menschen den Naturzustand verlassen und in zivilen und sozialen Zustand treten. Der Naturzustand ist ein Kriegszustand, in dem die Angst regiert. Nur der Glaube an Gott kann uns von dieser Angst befreien (wie es in der Sure „Uaraich" heißt: „Gott befreit euch von der Angst durch die Sicherheit, die er euch schenkt."9) und so Frieden garantieren, was die notwendige Voraussetzung dafür ist, dass die Menschen sich der Arbeit und der Produktion von Gütern zu ihrem Lebensunterhalt widmen können. Der Friede ist die Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung, und indem Gott die Menschen von der Angst befreit, befreit er sie auch vom Hunger, wie es obige Sure zeigt. 7 Boukhari. Kitab al 'Iman. 8 Boukhari. Ebd. 9 Vgl. Κ 106: 1-4.
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Über den Umweg des Glaubens, der Gott zwischen Mensch und Mitmensch stellt, wird so das Einverständnis und das Zusammenleben zwischen den Menschen möglich gemacht. Man hat von niemandem etwas zu furchten, der Gott furchtet, im Gegenteil, alles Schlechte ist möglich von jemandem, der nicht an Gott glaubt. Und jemand, der einem Anderen Schaden zufugt, fugt ihn auch Gott zu. Jede Verletzung des auf dem Glauben basierenden sozialen Bundes gefährdet das Zusammenleben, welches das zivile Leben begründet und lässt die Drohung einer Rückkehr zum Naturzustand aufkommen. Derjenige, der nicht gläubig ist, gefährdet das Leben des Anderen, seine Bedürfnisse und seine Nächsten. Und jede Untreue gegen den sozialen Bund ist eine Untreue gegen Gott. Hobbes sah im despotischen Staat, symbolisiert durch das kalte Monster des Leviathan, den besten Garanten für den Frieden und einen sozialen Bund, die einzige Gewalt also, die die Menschen davon abbringen kann, Gewalt anzuwenden, um das Leben des Anderen in Gefahr zu bringen und so den zwischen ihnen bestehenden Vertrag zu brechen.10 Ferner hat Rousseau in der Souveränität des Staates, solange dieser die Repräsentanz des Gemeinwillens ist, die einzig mögliche Garantie dafür gesehen, dass niemand ein Interesse daran haben wird, das soziale Bündnis zu belasten, wenn nicht um den Preis seines Lebens und seiner Sicherheit. Die Unterordnung unter diesen Pakt ist eine Unterordnung unter das Gesetz, das man sich selbst gegeben hat. Und das Gesetz, das man sich selbst gegeben hat, ist keine Unterwerfung unter eine Person, sondern Freiheit. Darüber hinaus ist es eher diese Unterordnung, die uns nachhaltig Freiheit garantiert, denn „der Stärkere ist nie stark genug, immer Herr zu sein", sagt Rousseau.11 Schließlich sind es in der islamischen Religion Gott und seine Gesetze, welche die Grenzen festlegen, die der Mensch nicht überschreiten kann, ohne das soziale und zivile Leben in Gefahr zu bringen. Das Fundament des Rechtsstaats zwischen den Menschen einer Gesellschaft oder zwischen sozialen 10 Vgl. Thomas Hobbes [1651], Leviathan. Hamburg 1965: Rowohlt, S. 141: „Das Ziel jeder Staatsgründung ist Friede und Schutz. Wer immer dieses Ziel verfolgt, muß auch über die Mittel verfugen können, mit denen er es anstreben kann. Ein jeder Souverän muß folglich sowohl über die Mittel zum Frieden und zur Verteidigung entscheiden können wie auch über die notwendigen Mittel zur Beseitigung eines Widerstandes oder irgendwelcher Unruhen. Er muß für Frieden und Sicherheit Vorsorge treffen, indem er der inneren Zwietracht und der Feindschaft von außen begegnet, und muß versuchen, sie wiederherzustellen, falls sie einmal verloren gehen sollten." 11 Jean-Jacques Rousseau [1762], Gesellschaftsvertrag. Stuttgart 1977: Reclam, S. 9. Vgl. ebd., S. 27: „Die erste und wichtigste Folge der oben aufgestellten Prinzipien ist, daß allein der Gemeinwille die Kräfte des Staates gemäß dem Zweck seiner Errichtung, nämlich dem Gemeinwohl, leiten kann: denn wenn der Widerstreit der Einzelinteressen die Gründung von Gesellschaften nötig gemacht hat, so hat der Einklang derselben Interessen sie möglich gemacht. Das Gemeinsame nämlich in diesen unterschiedlichen Interessen bildet das gesellschaftliche Band, und wenn es nicht irgendeinen Punkt gäbe, in dem alle Interessen übereinstimmen, könnte es keine Gesellschaft geben. Nun darf aber die Gesellschaft nur gemäß diesem Gemeininteresse regiert werden."
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Gruppen ist der von Gott im Akt des Glaubens besiegelte Pakt, der sich mit jedem Einzelnen erneuert. Im kanonischen Recht des Islam werden diese Grenzen „die Grenzen Gottes" genannt (wie etwa das menschliche Leben in Gefahr zu bringen, andere oder sich selbst zu töten). Der Anfang des Zusammenlebens ist die Sicherheit, die man den Anderen angefangen beim Nachbarn, daher auch das hochheilige Respektieren des Nachbarn, wie es der Prophet gepredigt hat - im Akt des Glaubens verspricht, des 'iman, der uns heute einigt rund um unser Mutter-Meer (mer/mere), das Mittelmeer. Sind wir keine Nachbarn, keine Nächsten? Und ist uns der Nachbar, wie es in der islamischen Tradition heißt, nicht näher als unsere Nächsten?
4. Die islamische Moral Ich denke, dass die islamische Moral diesen sozialen Aspekt in ihren Geboten zugleich explizit und implizit verkörpert hat, so wie andere moralische Vorstellungen religiösen Ursprungs. Das Ziel des moralischen Handelns ist letztendlich immer eine grammatikalisch definierte Entität (der Verwandte, der Arme, der Nachbar, das Waisenkind, die Witwe, der Reisende, der Fastende usw.), die in Wirklichkeit aber anonym bleibt. Immer vorausgesetzt, dass es ein Mensch ist; vorausgesetzt, dass er ein Mitglied der sozialen Gruppe ist, der wir uns zugehörig fühlen; vorausgesetzt, dass er ein Zeichen Gottes trägt und sein Geschöpf ist. Es gibt ein Ideal (ob es Gott ist oder die Gesellschaft), dem wir uns anschließen, denn es gibt in jedem von uns, in jedem Mitglied der Gruppe, etwas von diesem Ideal. Daher der Respekt, den man der Menschheit in ihren verschiedenen empirischen Individualitäten entgegen bringen muss. Der bestimmte Artikel (der) definiert also nur allgemeine und spezifische Typen, wo wir unaufhörlich von der Gemeinschaft, der Umma, zu den sie zusammensetzenden Untergruppen übergehen, ohne dass ein bestimmtes Individuum als Ziel benannt wird. Das Verfolgen eines bestimmten Ziels und das Interesse eines bestimmten Individuums würden der Handlung letztlich ihre Moralität rauben, weil es sich dann um einen Akt handelte, bei dem ein Ego einem anderen Ego hilft. Es scheint aber so, dass es einen Weg gibt, über den der Altruismus im moralischen Handeln aufrechterhalten werden kann, wobei uns jedoch bewusst sein muss, dass dieser dann einem egoistischen, zumindest weniger altruistischen Ziel dient. Sagen wir lieber, dass immer die Möglichkeit besteht, sich über einen blinden, weil idealistischen Altruismus zu erheben und einen geordneten oder vernünftigen, weil realistischen Altruismus zu praktizieren. Gerade hier bestünde vielleicht die Möglichkeit, das soziale Fundament der Moral zu stärken, ohne die Würde seines Altruismus anzutasten. Nützlich sein für die Gesellschaft muss nicht unbedingt unmoralisch sein. Genauso wenig wie der Egoist nicht immer das Synonym für Immoralität ist.
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5. Die Alterität, eine geordnete Welt Machen die Vielzahl der Gruppen und die Vielfalt der Arten der Bindungen an Gruppen moralisches Verhalten unmöglich, weil das Amoralische so der Moral immer immanent ist? Soviel ich weiß, hat Dürkheim keine Abstufungen oder, genauer gesagt, verschiedene Ebenen von Moralität definiert. Es gibt für ihn mehr oder weniger große soziale Gruppen, aber die Zugehörigkeit zu solchen Gruppen ruft keine verschiedenen Moralvorstellungen hervor. Moral bildet eine Einheit, und eine interne Hierarchie ist offensichtlich nicht möglich. Dieser Schwierigkeit begegnet die islamische Moralvorstellung. Sie sieht im Nächsten, sofern er das Ziel moralischer Handlungen ist, eine Pluralität von Bereichen, der eine mehr oder minder ehrenhafte, mehr oder minder gehobene und insofern eine geordnete Moralhierarchie zugrunde liegt. Es gibt eine Hierarchie der Ziele: Gott, der Prophet, der Nächste (die Eltern usw.). 12 Und jedes höhere Ziel beinhaltet eine höhere Moralität in Bezug auf die Zwecke, die es darstellt oder die ihm über- oder untergeordnet sind. Diese Zwecke werden nach ihrer sozialen und zivilen Notwendigkeit klassifiziert (Zusammenhalt und Macht der Gruppe, Schutz der Blutbande usw.) und mit den höchsten Zielen, Allah und seinem Boten Mohammed, in Einklang gebracht. Um auf den Koran zurückzukommen: Man muss also annehmen, dass alle Suren, ob sie in Mekka oder Medina offenbart wurden, sowie bestimmte Worte des Propheten eine gewisse Topographie der Alterität enthalten. Aus ihr kann eine Hierarchie etabliert werden und von dieser ausgehend auf die Moral geschlussfolgert werden, wo sie ihren Höhepunkt, ihre größte Intensität hat, oder im Gegenteil, wo sie ihren Glanz verliert und nur eine Moralität mit schwachen Werten und Interessen repräsentiert. Eins ist gewiss: Der Moslem betrachtet als bestes moralisches Handeln jenes, das sich diskret und anonym vollzieht. Damit ist nicht nur die Anonymität des Anderen gemeint, der das Ziel dieses Handelns ist, sondern vor allem auch die des Handelnden selbst, „desjenigen, dessen linke Hand nichts von der vollbrachten guten Tat der rechten weiß". Darüber hinaus aber weiß jeder Moslem, dass es Prioritäten gibt. Wenn das Ziel der Zusammenhalt und das Fortbestehen der sozialen Gruppe ist, wird kein anderes Ziel diesem vorangestellt werden. Es ist aber wichtig zu wissen, dass dies nur durch das Praktizieren des Respekts erfolgen kann, den das Individuum sich selbst, seinem Leben, seinem Körper, seiner Gesundheit und zuvorderst seiner Menschenwürde schuldet. Anschließend kommt die Familie; denn man kann von jemandem, der es ablehnt, sich selbst, seinen Eltern und seiner Familie die Aufmerksamkeit entgegen zu bringen, die eine moralische Handlung verlangt, nichts erwarten. Es 12 Die Ergebenheitsordnung im Islam: Gott - Der Prophet - Vater und Mutter - Die Blutsverwandten - Die Waisen - Die Armen - Der Reisende - Der Nachbar - Der Bettler - Der Sklave.
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folgen diejenigen, die am meisten Zuwendung, Hilfe und Sorge brauchen: das Waisenkind, der Arme, die Witwe. Danach kommt der Nächste, nicht im Sinne der Blutsverwandtschaft, sondern räumlich verstanden: der Nachbar. Er hat einen besonderen Platz in der islamischen Moral, eine größere Bedeutung als die „Nähe der Blutsverwandtschaft", oder man setzt ihn dieser zumindest gleich. Desgleichen ist es von Grund auf moralisch, den Reisenden willkommen zu heißen, der nur vorübergehend kommt, der sich in der Fremde befindet, weit weg von den Seinen, ihm Essen und Trinken zu geben und ein Dach über dem Kopf für die Zeit, die er braucht, um Kräfte zu schöpfen und seine Reise dann fortzusetzen. Dies ist in der Wüste, wo es keine Herbergen für die Reisenden gibt, von großer Wichtigkeit. Die Ehrenhaftigkeit dieser Handlung rührt daher, dass wir Leben retten, indem wir sie ausführen. Aber kommt sie nicht auch daher, dass der Reisende ein Unbekannter ist und wir ihn bereits morgen nicht mehr sehen werden? Es gibt keine uneigennützigere und edlere Handlung: „Wir geben euch Gott zuliebe zu essen und wollen von euch kein Entgelt und keinen Dank" (K 76: 9). Schließlich hängt die Ehrenhaftigkeit und der moralische Grad der Handlung auch von den Umständen ab, die sie begleiten: Hungersnot, Mittellosigkeit usw. Es ist in späteren Arbeiten möglich, auch diese sich in verschiedenen Versen wiederholende Ordnung aufzuschlüsseln, ihre Bedeutung zu bestimmen und die Wiederholungen und manchmal auch die Brüche herauszuarbeiten.
Anhang: Einige Referenzen zur Vervollständigung Das Hindernis ist zu überwinden durch Befreiung eines Sklaven / oder durch Beköstigung an einem Tag der Hungersnot, / einer verwandten Waise, / oder eines notleidenden Bedürftigen. (K90: 13-16) Du sollst die Waise nicht unterdrücken und den Bettler nicht hart abweisen. (K 103: 9,10) Gib dem Verwandten seinen rechtmäßigen Anteil, auch dem Armen und dem mittellosen Durchreisenden, doch sei nicht verschwenderisch! (K 17: 26) Gib dem Verwandten sein Recht, desgleichen dem Bedürftigen und dem mittellosen Durchreisenden! (K 30: 38) Gott gebietet Gerechtigkeit walten zu lassen, das Gute zu tun und den Verwandten zu geben und er verhietet abscheuliche, rechtswidrige und unwürdige Taten. Er ermahnt euch, auf dass ihr nachdenken mögt. (K 16: 90) Dient Gott allein und gesellt ihm keinen bei! Seid gut zu den Eltern, Verwandten, Waisen, Bedürftigen, den verwandten Nachbarn, den nichtverwandten Nachbarn, den Gefährten, den Reisenden und den Leibeigenen! Gott liebt nicht die Überheblichen und die Selbstherrlichen. (K 4: 36)
A. d. Frz. von Constanze Fröhlich/ Markus Meßling/Bernhard Hunger
II. Politik und Religion
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POLITISCHE THEOLOGIEN IM WESTLICHEN DENKEN
1. Im Februar 1987 erteilt Jakob Taubes einer kleinen Gruppe von Studenten vier Unterrichtsstunden über den Apostel Paulus. Er hält sie, als seien sie sein Testament, denn er weiß, dass das Rendezvous mit dem Tod unmittelbar bevorsteht. Er hatte sich schon immer mit dem Leben des Paulus beschäftigt, und bereits zehn Jahre zuvor hatte ihn Carl Schmitt dazu aufgefordert, seine Ideen in einem Seminar zu präsentieren. Jakob Taubes, jüdischer Professor an der Freien Universität Berlin, zusammen mit seinem Freund Herbert Marcuse „maitre ä penser" der linken Studenten in den sechziger und siebziger Jahren, widmete sein Hauptinteresse den Arbeiten von Carl Schmitt, dem scharfsinnigen deutschen Juristen, der sich irgendwie in allen politischen Sümpfen beschmutzte, auch in denen der Nazis. Schmitts politische Verwicklungen hätten für den Juden Taubes Grund genug sein können, jegliche Begegnung mit ihm zu vermeiden. Doch im September 1979 erhält er von dem erkrankten Schmitt eine Nachricht mit der inständigen Bitte, ihn zu besuchen. Taubes erfüllt ihm den Wunsch, und ein paar Tage lang reden sie vor allem über den Römerbrief. Schmitt ist einem Brief vom 24. November zufolge sehr beeindruckt von der Vision Taubes: etwas, dass „mich mein ganzes Leben lang beschäftigen wird". „Taubes", so sagt er am Schluss, „bevor Sie sterben, müssen sie es einigen Menschen erzählen." Der tut das im Februar 1987, an der Schwelle zum Tod, vor einer Handvoll protestantischer Studenten in Heidelberg. 2. Taubes, großer Kenner des jüdischen Denkens, ist ein Philosoph und aufmerksamer Beobachter der Probleme seiner Zeit. Die Tatsache, dass er trotz eines der Lehrtätigkeit gewidmeten Lebens bis zu seinem Tod nur ein einziges Buch geschrieben hatte - Abendländische Eschatologie erklärt sich aus der Lebhaftigkeit seines Denkens, das immer auf Konfrontation aus war. Er brachte etwas auf den Punkt, ohne sich in Gelehrsamkeit zu verlieren. Seine Argumente kamen von weither, doch die Probleme waren die, die er vor sich hatte. Besonders zwei standen im Zentrum seiner Aufmerksamkeit.
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An erster Stelle war das die Bedrohung „des Menschen", so wie wir ihn kennen. Er bemerkte, dass die Zahl der Philosophen anstieg, die die Verabschiedung „des Menschen" forderten, den anspruchsvolle moralische und rationale Argumente vor exzessive Verpflichtungen stellten, die weit über seine tatsächlichen Möglichkeiten hinausgingen (dabei dachte er an Hans Blumenberg, Odo Marquard, Hans M. Enzensberger und natürlich an Nietzsche und seine heutigen Anhänger, die die Konsequenzen aus dem „Tode Gottes" ziehen). Taubes war nicht bereit, dies geschehen zu lassen, ohne wenigstens auf den Verlust hinzuweisen, den das bedeuten würde. Zweitens wollte er denen, die die Erschöpfung der spirituellen Reserven der Menschen proklamierten, entgegenhalten, dass auch eine andere Welt möglich sei (hierbei dachte er an die Neo-Gnostiker, an die modernen Verehrer des Fortschritts, an die unerschöpfliche Zeit oder an diejenigen, die antimessianisch das Ende der Geschichte deuten). Taubes wird die Schlacht auf seine Weise schlagen, im ersten Fall die apokalyptische Flagge hissend, im zweiten die der Eschatologie. Ausgehend von diesen zwei biblischen Konzepten wird er seine eigene Weltanschauung sowie sein Bild vom Menschen entfalten. Paulus ist der Sturmbock seiner Strategie, gelesen von einem Juden, der sich der Lektüre der kanonischen Schriften stellt, die der Judaismus wie das Christentum über Paulus hervorgebracht haben. Paulus ist als jüdischer Ketzer zu sehen, der nur aus der kritischen Tradition verstanden wird, aus der er hervorgeht. Man muss ihn von innen heraus, auf jüdisch lesen und erkennen, dass das Christentum (ein Ausdruck, den Paulus nicht gebraucht, obwohl er ihn kennt), also das neu erwählte Volk, genau wie der Shabbetayismus1 eine messianische Ketzerei, eine interne Bewegung ist, die das zeitgenössische Rabbinertum erschüttert. Als roten Faden der Theologie bei Paulus entdeckt Taubes die politische Polemik.2
3. Warum Paulus? Wie Benjamin sagen würde: Wie können wir den Paulus der Vergangenheit schätzen, ohne die Gründe des modernen Interesses an diesem Bürger von Tarsus zu berücksichtigen? Die Zeitschrift Esprit blickt im Februar 2002 auf „l'evenement [das Ereignis] Saint Paul"; es soll das Interesse von A. Badiou, G. Agamben, S. Breton, J. Taubes, K. Barth und C. Schmitt am Römerbrief untersucht werden. Man weist ganz richtig daraufhin, dass wir nicht vor einer retour religieux stehen, sondern vor der Notwendigkeit, auf eine Reserve zurückzugreifen, von der man annahm, dass sie aufgebraucht war.3
1 Taubes verknüpft die paulinische Christologie mit dem Messianismus von Shabbetay Tsebi. 2 Vgl. im Nachwort von W. D. Kartwich und Aleida und Jan Assmann zu Taubes 2003, S. 144. 3 Esprit Februar 2002, S. 79.
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Paulus ist, so kann man sagen, die Kreuzung vieler Wege, die den Problemen unserer Zeit nicht fremd sind. Zunächst einmal betrachtet man ihn als den eigentlichen Gründer des Christentums, und als solcher hat er mit Europa zu tun, mit seiner Geschichte, seinen Werten, seinen Konflikten und seinen Aporien. Die Geschichte Europas ist mit Paulus in einer Art und Weise verbunden, dass es ohne diesen Bezugspunkt nicht möglich ist, viele ihrer entscheidenden Ereignisse zu verstehen. Denken wir an Luther, Augustinus, Pascal, Kierkegard; andeutungsweise auch an Hegel oder Heidegger, und den nicht zu vergessen, der sich selbst als seinen größten Gegner erklärt, weil er seine Genialität beneidet: Friedrich Nietzsche. Zum zweiten ist Paulus als Erbe des Alten Bundes der Eckstein zwischen Christen und Judentum - Stein des Anstoßes für die Juden, weil er das Gesetz für überwunden erklärt; Eckstein des Christentums, das zum Erbe des Alten Bundes ausgerufen wird. Paulus sieht sich in die Dialektik „integriertausgeschlossen" verwickelt, die weder Christen noch Juden zufriedenstellen wird. Um ihn auch der Platz der großen Themen, die den strikt religiösen Bereich überschreiten: Universalität und Singularität, Gesetz und Geist, Gabe und Dankbarkeit, Verwandlung der Weisheit in Wahnsinn, Zusammenhang zwischen Altem und Modernem, das Politische und das Unpolitische. Wenn Paulus sagt: „Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christo Jesu (Gal 3:28), kündigt sich eine Art an, den Universalismus zu verstehen, die laut Badiou fruchtbar sein kann, wenn man den Universalismus allgemein als ein ungelöstes Problem der westlichen Kultur ansieht. Der neue Universalismus existiert nicht durch Hinzufügen (gleichzeitig Jude, Grieche und Römer zu sein), auch nicht durch Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Natur (zur Menschheit, wie später der aufgeklärte Lessing sagen wird), sondern ist wie das Ergebnis einer Subtraktion oder ein Rest (weder Jude, Grieche noch Römer, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau), die Konsequenz eines singulären Ereignisses, welches das Ganze betrifft: die Gegenwart des Messias Jesus, der aus jedem Menschen einen Erben der Verheißung macht (Gal 3:29). Diese singulare Tatsache verwandelt sich in den Schleifstein eines Universalismus, ohne den die jüdische Präsenz nicht dieselbe wäre. Die Tatsache, dass sich das jüdische Volk selbst ausschließt, verwandelt den Universalismus in eine fast unmöglich zu realisierende Herausforderung: Ohne das Ausgeschlossene gibt es kein Ganzes, und es kann nur ein Ganzes geben, wenn sich das Ausgeschlossene in den Rest verwandelt, aus dem das Ganze rekonstruiert werden soll. Die kritische Überprüfung, die Taubes anbietet, sollte man nicht als neue Version der christlichen Polemik gegen das Judentum verstehen (wie sollte das auch möglich sein, wenn er selbst Jude ist!), sondern als Ausdruck des bedeutenden Potentials des Messianismus. Wir stehen also vor der politischen Lektüre des Paulus. „Ich denke nicht theologisch", sagt Taubes. „Ja, ich arbeite
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mit theologischem Material, aber ich denke unter einem eigenen Gesichtspunkt an die intellektuelle Geschichte, übereinstimmend mit der realen Geschichte [...] Mich interessiert das politische Potential, das die theologischen Metaphern verbergen",4 d. h. wir stehen vor einer politischen Theologie, um es mit einem von Carl Schmitt geprägten und später von J. B. Metz (wenn auch mit anderer Bedeutung) wieder aufgenommenen Ausdruck zu sagen.
4. Als Taubes seine Arbeitsmethodologie festlegt - „mich interessiert das politische Potential, das die theologischen Metaphern verbergen" - , fehlt ihm die Zeit, hinzuzufügen, „in der gleichen Art und Weise, wie Carl Schmitt das in den juristischen Konzepten verborgene theologische Potential interessiert." Seine Komplizenschaft läuft in die entgegengesetzte Richtung: Zum ersten interessiert ihn die politische Dimension der Religion, zum zweiten die theologische Dimension der Politik. Es ist wahrlich nicht das Gleiche, an einer hermeneutischen Philosophie zu arbeiten, die versucht, die politischen Dimensionen des Glaubens zu eruieren (das ist es, was Taubes interessiert), oder aber etwas, das so zu unserer Welt gehört wie die Politik, derart überzudimensionieren, dass sie in den Dienst außerweltlicher Instanzen oder Intentionen gestellt wird (die theokratische Versuchung Schmitts). Die Sympathie oder Mittäterschaft eines jüdischen Denkers, „linker Extremist", mit einem Juristen, der sich durch Sympathie für die Nazis auszeichnete, „rechter Extremist", war so auffällig in Deutschland, dass es eine Betrachtung lohnt. Was Taubes an Schmitt faszinierte, war dessen Radikalität, sein Wille, an die Wurzel der Probleme zu gehen. Schmitt war sich des Endes und des Scheiterns der Bildung bewusst, der Hochkultur des deutschen und jüdischen Bürgertums, die während eines langen Jahrhunderts das Zusammenleben zwischen beiden geformt hatte, die aber auch sowohl dem Stoß des ethnischen Nationalismus wie den ökonomischen Interessen eines grausamen Kapitalismus, der die Gesellschaft in Klassen zerlegt, erlegen war. Die aus dem berühmten deutschen Bildungskonzept hervorgehenden Prinzipien des Zusammenlebens zeigten gegenüber dem Kapital und der Rasse eine chronische Schwäche. In der Ablehnung dieses Modells der liberalen Säkularisation durch Schmitt wie Taubes lag ihre „apokalyptische Affinität"5: einerseits Religion und Politik zu verbinden, andererseits jede Anschauung des Menschen oder der Geschichte zurückzuweisen, die auf der Unbegrenztheit der Zeit basiert.
4 Taubes 2003, S. 95f.; 1999, S. 105. 5 „Obwohl apokalyptischer Denker, wusste und weiß ich, dass es eine intellektuelle Affinität zwischen uns gibt. Wir haben uns über die gleichen Themen Gedanken gemacht, wenngleich wir unterschiedliche Schlüsse gezogen haben" (Taubes 1999, S. 160).
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5. Eschatologie oder Für den Menschen, den wir gekannt haben Es ist schon gesagt worden, dass Taubes kein Interesse an der Exegese nur um der Exegese willen hat. Er ist vor allem ein Philosoph, der versucht, seine Zeit zu verstehen, und der die Schlüssel der Probleme an Orten sucht, die auf den ersten Blick so ungewöhnlich sind wie die jüdische Kultur. Hinter der Fassade einer Zeit ohne schwerwiegende Verwerfungen - wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - merkt Taubes, dass etwas sich gerade endgültig verändert: der Mensch, der wir waren. J. M. Coetzee, Nobelpreisträger für Literatur, erklärte uns, was das bedeutet, als er über Saul Bellows Dangling Man sprach. Er wiederholte folgende Idee, die Taubes bei Hans Blumenberg entdeckt hatte: Im Zuge der „Säkularisierung" hat die Aufklärung ein Idealbild des Menschen entworfen, das seine Fähigkeiten übersteigt. Coetzee schrieb: „Als der Mensch zum Zentrum des Universums wurde, hat uns die Aufklärung - insbesondere in ihrer romantischen Phase - unmögliche psychische Anforderungen gestellt, deren Ergebnis nicht nur kleine Gewaltanfälle sind, wie unsere eigenen, oder moralische Störungen, wie die Suche nach Großartigkeit durch Verbrechen, sondern vielleicht auch der Krieg, der die Welt aufbraucht." 6 Es gibt hier eine Übereinstimmung mit dem, was Blumenberg Anfang der 80er Jahre in Die Lesbarkeit der Welt schrieb. Er verteidigt dort die These, dass die Welt ohne Sinn sei und dass die großen Fragen, die Kant für die Fragen aller Menschen hielt, veraltet seien und heutzutage exzessiv wirkten, weil sie nichts mehr mit der realen Existenz des Menschen in der Welt zu tun hätten.7 Unter den Totengräbern des Menschen, die sich Jahrhunderte lang von diesen Fragen ernährt haben, befinden sich einerseits diejenigen, die jeden Rest von Monotheismus abschaffen wollen. Anderseits gibt es aber auch diejenigen, die wie Odo Marquard oder Hans Blumenberg mit der Rückkehr der Mythen - vor allem der gnostischen Art - kokettieren, während sie das Ende des Monomythos feiern. Und es gibt solche, wie Carl Schmitt, denen es gelingt, im Namen des Gnostizismus die Apokalypse von jeder Eschatologie zu entleeren, wie wir später sehen werden. All diese Offerten vereint die Verneinung des eschatologischen Ausmaßes der Zeit, sei es mittels der Umwandlung der Zeit in Mythos oder indem der Geschichte alle eschatologischen Referenzen entzogen werden. Taubes stellt sich dem im Namen des Versprechens der Rückkehr des Messias entgegen.
5.1 Die Gegner des Monotheismus, wie Martin Walser und Peter Sloterdijk, gehen von der Idee aus, der biblische Gott habe die Menschen nicht besser gemacht, 6 7
El Pais, Babelia, 14. August 2004. Vgl. Weltz 1993; Mate 1994.
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sondern böser. Sie sind davon überzeugt, dass die Bibel mit ihren befreienden und erlösenden Utopien den Menschen nur mehr Leiden gebracht hat. Walser sagt: „Bloß keine Ethik für alle. Bloß keinen säkularisierten, auf Demokratie frisierten Monotheismus. Statt Glaubensleistungen nach oben, die Fähigkeit zum Genuss unter uns." 8 Für Sloterdijk liegt die Gefahr nicht in der Selektion (ein Begriff, den er auf Auschwitz bezieht), sondern in einem Humanismus, der sich von seiner biblischen Herkunft nicht befreit hat.9 Hans Magnus Enzensberger steht ihnen in nichts nach: „Die Idee der Menschenrechte erlegt jedermann eine Verpflichtung auf, die prinzipiell grenzenlos ist. Darin zeigt sich ihr theologischer Kern, der alle Säkularisierung überstanden hat. Jeder soll für alle verantwortlich sein. In diesem Verlangen ist eine Pflicht enthalten, Gott ähnlich zu werden, denn es setzt Allgegenwart, ja Allmacht voraus. Aber da alle unsere Handlungsfähigkeiten begrenzt sind, dehnt sich der Abstand zwischen Streben und Realität immer mehr aus. Bald werden die Grenzen der objektiven Heuchelei überwunden, und dann wird der Universalismus wie ein moralischer Sturz erscheinen." Und er endet: „Die Stunde ist gekommen, sich von den omnipotenten moralischen Phantasien zu befreien." 10 Das Christentum legt die Last der absoluten Verantwortung auf das Gewissen des Menschen, und dies ist für niemanden erträglich. Anstatt uns besser zu machen, macht uns diese Überbelastung schlechter, weil sie den Problemen eine Wichtigkeit gibt, die sie nicht haben. Merkwürdig ist, dass diese moralische Überlast religiöser Herkunft den „Tod Gottes" überlebt. Wie soll man das erklären? Es wird dadurch erklärt, dass wir diesen Tod mit einem Ersatz ausgleichen wollen: mit den Menschenrechten, was jedoch eine große Inkongruenz nicht ausschließt. Wenn Gott tot ist, muss die Art des Zusammenlebens, die auf Heimat, Erde oder Fortpflanzung basiert, sterben. Der Mensch ist eine Erfindung des Menschen und ist nur sich selbst verpflichtet: Es zählt nur das Erlebnis, das er von sich selbst hat. 11 Taubes sind diese Autoren sehr gegenwärtig, ohne dass er aus den Augen verliert, woraus alle trinken: Nietzsche. Die Rolle des Paulus als Begründer im Christentum hat Nietzsche nicht übersehen. 12 In dem Maß, in dem Nietzsche der neue Bezug einer Welt sein will, in der Gott gestorben ist, ist Paulus das notwendige Zitat, um die zu verstehen, die später versuchen, das Programm einer Welt zu vervollständigen, die sämtliche Werte des Monotheismus umgeworfen hat. Nietzsche möchte 8 9 10 11 12
Walser, Ich vertraue. In: Neue Züricher Zeitung, 10, XI, S. 98. Sloterdijk 1999. Enzensberger 1994, S. 36-86. Sloterdijk 1993, S. 73. Taubes (2003, S. 112) hat diesbezüglich ein sehr eloquentes Fragment von Nietzsche zitiert: „Jesus ist das Gegenstück eines Genies: er ist ein Idiot [...] Jesus ist in seinen tiefsten Instinkten unheroisch: er kämpft nie: wer etwas wie einen Helden in ihm sieht, wie Renan, hat den Typus vulgarisiert ins Unerkenntliche. [...] Niemand hat ihm verrathen, dass es eine Natur giebt. Er kennt nur moralische Wirkungen: Zeichen der untersten und absurdesten Cultur. Man muss das festhalten: er ist Idiot inmitten eines sehr klugen Volkes [...] Paulus war ganz und gar kein Idiot! - daran hängt die Geschichte des Christentums."
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Paulus nacheifern, deshalb rivalisiert er mit ihm, doch um das Gegenteil zu tun: Er möchte wie Paulus die existenten Werte umwandeln und so eine neue Grammatik der Wertelehre schaffen. Doch im Unterschied zu Paulus geht es dabei nicht um den Messias Jesus, sondern um den Tod Gottes. „Wer", so fragt sich Taubes, „hat im Westen die Bestimmung der Werte im Sinne Nietzsches festgelegt, wenn nicht Paulus? Man muss ihn für den bedeutendsten Menschen halten, denn was Nietzsche wollte, die Umwertung, hatte schon jemand erreicht: Paulus. Und Nietzsche war sehr neidisch [...] Wenn wir es schaffen würden (würde sich Nietzsche sagen), all diese Werte zu überwinden, wäre ich der größte Gesetzgeber. Es war Nietzsche bewusst, entweder er scheitert oder er wird der Initiator einer neuen Ära, die mit einer neuen Bibel beginnt, wissend, dass Zaratustrah eine Parodie auf die Bibel ist, geschrieben im biblischen Stil, um seinen Ehrgeiz klarzustellen."13 Was nach Taubes mit dieser modernen Kritik am Monotheismus auf dem Spiel steht, ist nicht eine neue Rechtfertigung der Unabhängigkeit des Menschen, sondern die Beendigung eines Vermächtnisses, das sogar in seinen säkularisiertesten Formen eine Last moralischer Anforderungen oder politischer Maßlosigkeiten mit sich bringt. Das Problem ist nicht die Unabhängigkeit des Menschen (Taubes würde sagen: „Das Wenigste ist die Unabhängigkeit"), sondern ein an den Monotheismus gebundenes Konzept des Menschen und der Welt, das bis jetzt unter säkularisierten Formen überlebt hatte. Paulus oder Nietzsche.
5.2 Die Feier der Rückkehr der Mythen Anders als es in einer so durch Wissenschaft und Technik bestimmten Gesellschaft wie der unseren scheinen könnte, wächst das Interesse an Mythen, als ob sich die schwarze Prophezeiung Webers verwirklicht hätte,14 aber nicht, wie er es vorausgesehen hatte. Diese Wiederverzauberung der Welt wird nicht als Scheitern des Entzauberungsprogramms gesehen, das die Aufklärung sein sollte. Nicht umsonst begrüßt man diese Rückkehr nicht so sehr der Götter wie der Mythen mit einer freudigen Apologie des Polytheismus.15 Die Rückkehr der Mythen, nicht der Götter, und ihre freudige Aufnahme, das sind zwei wesentliche Unterschiede zur Weber'schen Prophezeiung. Anders als früher furchtet man sie nicht mehr, sondern feiert sie, und es sind keine Götter, die zurückkehren, sondern ihre Inkarnation in Mythen. Ein schneller Blick auf die heutige Philosophie erlaubt uns, zwei Haltungen bezüglich des Mythos zu unterscheiden. Auf der einen Seite wird der Mythos 13 Ebd., S. 110. 14 „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen K a m p f (Weber 1967, S. 28). 15 Marquard 1981.
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als das Andere der Vernunft betrachtet, wie bei den Befürwortern der Vernunft, die die Aufklärung als Prozess der Säkularisation sehen, d. h. der Entmythologisierung; man muss sich bei der Konzeption der Wirklichkeit vom Mythos entfernen. Auf der anderen Seite wird daran gezweifelt. Es gibt keine Möglichkeit, dem Mythos zu entkommen, und der eindeutigste Nachweis ist der Fall der Aufklärung selbst in den Mythos. 16 Für Levy-Strauss, H. Blumenberg, L. Kolakowski und selbst für O. Marquard bedeutet Stärke, anzuerkennen, dass der Mensch nicht ohne Mythen leben kann. Wie man sieht, wird der Polytheismus nicht von den anti- oder post-modernen Namen gestützt, sondern von der Philosophie der Moderne, von denen, für die sich die klassische Philosophie mit ihrem universalen Streben nach Wahrheit und Güte vollendet hat, ohne die erstrebten Antworten zu geben. Deshalb verabschiedet sich der Polytheismus in aller Öffentlichkeit von dem, was bis jetzt substantivistisch schien: Man muss die großen Worte vergessen, die den Philosophen so gut gefielen, ob sie sich Wahrheit oder Ethik nennen. Genau dieser Ersatz- oder Erbanspruch - der Polytheismus möchte das Erbe der Philosophie behalten - verpflichtet dazu, sein Bestes zu tun. Der Disput um das philosophische Erbe ist ein Kampf um die Wahrheit und die Ethik. Das heißt, das aktuelle Interesse am Mythos ist neu, denn es hält sich nicht mit einem romantischen Wiederaufbau des Mythos auf. Weder interessiert das mobilisierende Potential des Mythos noch seine Ersatzfunktion für eine instrumenteile Vernunft. Die neuen Polymythisten wollen mehr, sie wollen auch die neuen Vermittler dessen sein, was man Wahrheit oder Moral nennt. „Das Lob des Polytheismus", so hat Taubes es zusammengefasst, „erscheint genau in dem Augenblick, in dem es zur Krise der Philosophie und der Geschichte kommt, und am Horizont des Selbstverfalls der Philosophie, angekündigt von Hegel und Marx, im Zusammenhang mit der Theorie und Praxis des Marxismus." 17 Es ist eine grundsätzliche Herausforderung, die sich auf eine Stimmungslage unserer Gesellschaft bezieht, die wir als „mythogen" bezeichnen könnten, im Gegensatz zu früher, als mehr Vertrauen in die Macht des Schöpfers des Logos („logogen") gelegt wurde. Aber es ist an der Zeit, den Sinn des Begriffes „Mythos" zu präzisieren. Odo Marquard ζ. B. bezieht sich auf Aristoteles, der sich selber für einen „Mythophilen" hielt, d. h. jemand, der sich gern Geschichten anhört. Mythen sind Geschichten, die man erzählt und die man sich anhört. Aus diesem Grund wird derjenige, der den Mythos zu verneinen sucht, die Geschichten zunichte machen müssen. Man muss sich selbstverständlich fragen, was die Geschichten, die in Legenden, Fabeln, Märchen oder Romanen erzählt werden, mit der Wahrheit zu tun haben. Verstummen die Fabulierungen nicht, wenn die Wahrheit der Tatsachen objektiv dargelegt wird? 16 Dass Aufklärung ein Mythos und der Mythos Aufklärung sei, ist, wie man weiß, die fundamentale These der Dialektik der Aufklärung. 17 Taubes, Zur Konjunktur des Polytheismus, in Taubes 1996, S. 342.
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Man kann und soll zwischen dem Wissenschaftswissen und den Geschichten des Mythos unterscheiden. Das Wissen hat mit der Wahrheit und mit dem Irrtum zu tun. Der Mythos hat mit der Freude und mit der Unzufriedenheit zu tun. Es sind nicht zwei hierarchisch geordnete Momente desselben Prozesses (der Mythos als Vorgeschichte des Logos, der allein die wahre „Geschichte" darstellen kann), sondern unterschiedliche Prozesse mit der gleichen Doktrin: das konkrete Leben. Es geht nicht um eine undifferenzierte Bekehrung zum Mythos. Da die Sache der Wahrheit nicht abwesend sein kann, muss man zwischen Mythen unterscheiden. Es gibt wahre, falsche, gute und schlechte Mythen. Der Monomythos ist schlecht; der Polymythos ist gut. Nur letzterer garantiert die Freiheit und die Individualität. Wer jedoch von vielen Geschichten ausgeht, identifiziert sich nur teilweise mit jeder einzelnen, und zwischen der einen und der anderen findet er den Freiraum fur die freie Entscheidung. Wer sich im Gegensatz dazu nur auf eine Geschichte bezieht, der wird ihr unbedingt folgen müssen. Er wird die Treue zum Monomythos mit dem Verzicht auf Freiheit bezahlen, oder um es mit Marquards Worten zu sagen, mit dem „Verzicht der Freiheit in der Identität bei einer Identität, die keine Freiheit zuläßt." 18 Das zwischen guten und bösen Mythen differenzierende Konzept ist also das der Freiheit. Jeder Mythos bringt Macht mit sich, aber dem Polymythismus ist die „Trennung der Mächte" eigen. Von hier ausgehend sind nur die Mythen und nicht der Mythos Garanten der Freiheit. Spricht man vom Monomythos, denkt man nicht nur an den Gott Abrahams, sondern auch an seine säkularisierte Version: Der Mythos des unaufhaltsamen Fortschritts der Menschheit zur Freiheit, angekündigt durch die Philosophie der Geschichte der revolutionären Emanzipation, war ein Auswuchs des Verstandes, nächtlich und hinterlistig hergestellt im 18. Jahrhundert; die Freiheiten mit Gewalt zur Freiheit zusammengepresst, und die Geschichten zur Geschichte. Dieses Auf und Ab des Mythos oder der Mythen, wenn es auch noch so sehr bedeckt mit der Idee der Freiheit daherkommt, setzt das Auflösen der Ethik voraus. Taubes nimmt sich der Analysen von Hermann Cohen an, der die Überwindung des Mythos in der Individualisierung der Schuld ansiedelt, die der Prophet Hesekiel zu Ende bringt. In der Bibel ist leicht zu beobachten, wie sich während eines langen Zeitabschnittes die mythische Überzeugung der „genealogischen Schuld" wiederholt: Die Kinder müssen für die Schuld der Eltern bezahlen. In Exodus 24 bleibt die Kraft des Mythos unverkennbar. Die Schuld und die Sühne ist das mystische Band, das vergangene Generationen vereint und die Logik der Ereignisse im Schoß der Völker bestimmt. Mit den beiden Propheten Hesekiel und Jeremias zerbricht jedoch der mythische Zauber: „Was treibt ihr unter euch im Lande Israel dies Sprichwort und sprecht: ,Die Väter haben Herlinge gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden'? / So wahr als ich lebe, spricht der Herr Herr, solches Sprichwort soll nicht mehr unter euch gehen in Israel" (Hesek 18:2-3). 18 „Unfreiheit der Identität aus Mangel an Nichtidentität", sagt Marquard (1981, S. 98).
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Und weiter unten: „Denn welche Seele sündigt, die soll sterben. Der Sohn soll nicht tragen die Missetat des Vaters, und der Vater soll nicht tragen die Missetat des Sohnes; sondern des Gerechten Gerechtigkeit soll über ihm sein, und des Ungerechten Ungerechtigkeit soll über ihm sein" (Hesek. 18:20). Taubes zitiert Cohen: „Der Mensch macht sich zum Individuum in dem Bewußtsein seiner eigenen Sünde. Der andere verwandelt sich in das Ich dank der Macht, sich ein neues Herz und eine neue Seele zu geben. Das neue Herz und die neue Seele zerstören die mythischen Formen des Bewußtseins".19 Cohen entdeckt so etwas wie den genetischen Code der Subjektivität („Urgeschichte der Subjektivität") in der Individualisierung der Schuld, und das ist so, als ob man sagt, in der Verneinung des Mythos. Zum Mythos zurückzukehren heißt, auf die Individualisierung zu verzichten. Und es steht noch etwas auf dem Spiel. Was das Judenchristentum vom Mythos unterscheidet, ist die Möglichkeit der Geschichte. Die Geschichte ermöglicht, die Vergangenheit als Momente einer Freiheitsgeschichte zu artikulieren. Für diese Freiheit, die die Türen der Geschichte öffnet, ist der Mythos keinerlei Hilfe, wohl aber die Offenbarung. Wenn Schelling, so Taubes, zwischen einer Philosophie der Mythologie und einer Philosophie der Offenbarung unterscheidet, dann um die Existenz des Menschen in einer Welt zu erklären, die anders als die der Tiere ist. Taubes ergänzt allerdings etwas in Bezug darauf, wie man die Freiheit des Menschen erlangt. Die Geschichte beginnt am 8. Tag der Schöpfung. 20 Vorher gibt es Schöpfung, aber keine Geschichte. Die Geschichte beginnt mit einer Entscheidung Adams. Eine Entscheidung, die ein Verstoß ist. Adam sieht diese freie Tat nicht als ein natürliches Ereignis, sondern als Fehler und Schuld. Die Geschichte des Menschen ist die Spannung zwischen der Tat Adams und der Antwort, die ihn erlöst. Taubes weist wiederholt darauf hin, Adam sei eine Figur, die die Propheten und Evangelisten nicht interessiert, wohl aber Paulus. Seine messianische Vision der Zeit, d. h. die Bedeutung, die er der zweiten Ankunft des Messias gab, erlaubt ihm die Offenlegung der Bedeutung des ersten Adam. Darin besteht die messianische Vision der Zeit, die Paulus beim Feststellen einer Beziehung zwischen dem ersten und dem letzten Adam bemerkt. Taubes schlussfolgert: „Nur dank dieser eschatologischen Dimension hat die Geschichte, die mit Adam begann, einen Sinn", 21 d.h. nur, wenn es das Verlangen nach einer Antwort gibt, hat die Existenz des Menschen in einer Welt, die durch einen Irrtum gekennzeichnet ist, einen Sinn. Diese eschatologische Spannung gehört nicht zu einer „übernatürlichen" Geschichte, sondern zu einer Geschichte, die nur natürlich ist, d. h. zu einer Geschichte tout court. Im Gegensatz zum Heiligen Thomas spricht Taubes nicht von einem übernatürlichen Ende des Menschen, unverhältnismäßig hinsichtlich seiner natürlichen Möglichkeiten, sondern von 19 Taubes, Zur Konjunktur, S. 344. 20 Ebd., S. 349. 21 Ebd.
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einer Geschichte des Menschen, die aus Freiheit und Irrtum besteht. Was diese Geschichte menschlich - und nicht natürlich - macht, ist, dass diese Erfahrung wie Schuld gelebt wird und nicht wie eine natürliche Tatsache. Die eschatologische Spannung ist der Ausdruck einer Kultur, die gründlich über Freiheit und Schuld nachdenkt.
5.3 Moderne contra Gnosis Der Monotheismus wird auch von einer moderneren Seite verneint, die dem Mythos so allergisch gegenübersteht wie dem Polytheismus. Das ist die Haltung von Hans Blumenberg, der die Moderne als Überwindung des Mythos sieht, vor allem des gnostischen Mythos, der am wirksamsten und am hartnäckigsten die Geschichte des Westens geformt hat. Blumenberg ist, wie man weiß, der Verfechter einer Theorie (vgl. Die Legitimität der Neuzeit), die sich der so verbreiteten und akzeptierten Theorie der Säkularisation frontal entgegenstellt. Die Verteidiger der These, dass die moderne Welt eine „Säkularisation" der christlichen sei, übten ein unterschwelliges Embargo über die Moderne aus, um sie daran zu erinnern, dass sie nicht mehr Substanz habe als das Erbe der Religion. Im Gegenteil ist für Blumenberg der Schritt der christlich-mittelalterlichen Welt zur modernen Welt kein Einschenken von theologischen Wahrheiten in weltliche Schläuche, sondern die Ersetzung einer Kultur mit ihren Fragen und ihren Antworten durch eine andere.22 Die moderne Kultur wäre Erbin einer säkularen Tradition, die auf den gnostischen Mythos trifft, oder besser gesagt, der zweite und endgültige Versuch, den Mythos im Namen einer völlig autarken Kultur zu überwinden. Ohne eine ausführliche Darstellung des Gnostizismus anstreben zu wollen, können wir daran erinnern, dass der Gnostizismus die radikalsten Züge der christlichen Eschatologie aktualisiert: dass die Welt schlecht ist und nur mit ihrer Beendigung gerettet werden kann, mit der noch bevorstehenden Rückkehr des Herrn. Der Gnostizismus erscheint in dem Moment, in dem die Gemeinschaft beginnt, die Hoffnung zu verlieren, weil sich die Ankunft des Herrn nicht ereignet. Für die sich ausbreitende Enttäuschung bietet der Gnostizismus eine Doppellösung an: a) die Flucht in das Innere seiner selbst, sich dabei von der schlechten Welt fernhaltend; b) die Konstruktion eines dualistischen Modells der Prinzipien von gut und böse. Augustinus von Hippo ist der erste Protagonist im Kampf gegen den gnostischen Dualismus. Er konfrontiert sich auch mit dem Bösen in der Welt, aber er löst es nicht auf manichäische Weise, sondern anthropologisierend. Die Welt ist nicht schlecht und es gibt auch kein Prinzip des Bösen. Das Problem des Leidens ist ein Problem der Freiheit des Menschen. Das vermag der manichäi22 Hxauflaire 1970, S. 81.
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sehen Erklärung des Bösen den Boden zu entziehen, indem es sich auf die Freiheit des Menschen bezieht, hat aber drei Nachteile: als ersten, Gott zu entschuldigen, also der Theodizee den Sinn zu entziehen, indem man den Boden für die Banalisierung des Bösen bereitet. Als zweiten die Entmaterialisierung des Bösen, das als „Sünde" betrachtet zu werden beginnt anstatt als „Ungerechtigkeit"; das übersetzt man auf die Art, dass Gott aufhört, der „Retter" (vor dem Bösen) zu sein, um der „Erlöser" (von schlechter Moral) zu werden. Als dritten, die Zeit zu existenzialisieren, d.h. den Ablauf der Zeit auf die menschliche Existenz anzuwenden, nicht aber auf die Welt, womit der Wert „Zeit" für das Schicksal der Welt unbedeutend wird. 23 Doch es waren nicht diese beunruhigenden Gefahren, die den gnostischen Alarm auslösten, sondern eine ganz andere: die Gefahr der Freiheit des Menschen, die sogar befähigt ist, der Grund des Schlechten zu sein, die göttliche Allmacht einzuschränken. Das war der casus belli, der den Nominalismus geboren hat, vor allem mit seiner Debatte über die Universalien. Der Nominalismus, eifersüchtig auf die Freiheit des Menschen, fühlt sich verpflichtet, die Fähigkeit, Übles zu wollen, völlig abzuschneiden, indem er Gott über diese Fähigkeit stellt. Gott, mit der „absoluten Potenz" versehen, verleugnet die Welt, indem er alles, was seine allmächtige Freiheit begrenzt, verneint. Das ist der Punkt, den die „Universalien" erörtern, die ein Emblem der Souveränität der Wesen waren, wonach sie entscheidende Merkmale haben, die auch Gott nicht ändern konnte und die den Menschen bekannt waren. Der „theologische Absolutismus" des Nominalismus konnte diese Einschränkung Gottes nicht ertragen. Daher die Verneinung der „Universalien", die die Verneinung der Autonomie der Welt war. Wir stehen vor dem zweiten Sieg des Gnostizismus durch den Nominalismus, denn: „Die Verneinung der Welt ist die Bestätigung eines der Welt fremden Gottes." 24 Mit dem Nominalismus kehrt der Gnostizismus zurück. Also haben wir auf der einen Seite Gott, der einzige außerhalb und gegen diese Welt, und auf der anderen Seite diese Welt, verlassen vom Glück, vom Prinzip des Chaos und vom Krieg regiert, vor allem den religiösen Kriegen. Die Moderne ist die Reaktion eines Menschen, der sich alleine fühlt in der Welt und der Ordnung schaffen möchte, indem er die Ursachen der zivilen Konfrontation neutralisiert. Das erste, was er tut, ist die Neutralisierung der Eschatologie - vergessen wir nicht, dass die Eschatologie die Figur Gottes beschwört, der Welt fremd, die sich gegen ihn stellt - mittels der Gestalt des Staates, den man mit göttlichen Mächten ausstattet, ohne dass es zu seinen Zielen gehört, die Welt zu retten. Diese Welt muss sich nicht für die Vorausnahme der Kommunion der Heiligen halten, es reicht aus, wenn sie sich, bescheidener, als „beste der möglichen Welten" sieht. Der zweite Moment der Neutralisierung der Eschatologie wird Sache der Wissenschaft sein, die sich 23 Vgl. Metz 1992; s.a. Metz 1999. 24 Marquard 1984, S. 33.
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an das Interpretieren und Organisieren der Welt hält, welche vermutlich einige natürliche Gesetze hat, die der Mensch kennen und beherrschen, aber Gott nicht ändern kann. Die gnostische Strategie ist immer die gleiche: Man muss Gott, den Schöpfer, angreifen, weil die erschaffene Welt unbefriedigend ist. Das heißt, nicht zu den polytheistischen Mythen zurückzukehren, denn sie stellen sich zu sehr gegen die Erfahrung der Transzendenz, wie die Bibel sie sieht. Die Antwort ist eine andere: Man degradiert den superweltlichen Gott zum Weltenschöpfer, und so bleibt Platz für einen antiweltlichen Gott, der im Inneren des Menschen lebt. Es besteht kein Zweifel darin, dass sich der gnostische Mythos von der Erfahrung des Bösen nährt. Die Schöpfung ex nihilo ist eine Art, das nicht zu Erklärende zu erklären: Der Schöpfer einer schlechten Welt hat nichts mit dem guten Gott zu tun. Marcion stellt den Judengott als Ursache für das Böse hin. Das Leiden des Menschen erscheint dem einzigen Gott so fremd, dass ein anderer ausgerufen werden muss, der sich dessen annimmt; nebenbei lässt man Platz für einen anti- und außerweltlichen Gott, von dem die Erlösung kommt.
5.4 Der Gnostizismus von Carl Schmitt Es fehlt auch nicht jemand, der, wie Jürgen Manemann, 25 die politische Theologie von Carl Schmitt zu einer gnostischen Form erklärt. Sicher ist, dass Taubes empfiehlt, Schmitt wie einen Ausdruck des historischen Christentums zu lesen. Und was dieses Christentum charakterisiert, ist die permanente gnostische Versuchung, wie Metz sagt. Für den Christen ist der Messias schon gekommen, so dass es keinen Platz für neue messianische Erwartungen gibt. Was zu tun ist: dem Rat von Tertullian zu folgen: „Beten wir dafür, dass sich das Ende verschiebt" - und vergessen wir das leidenschaftliche „Komm, Herr Jesus". Auch wenn Schmitt mit dem Gnostizismus im Verschieben oder Verdrängen des Endes übereinstimmt, so vertritt er doch einen sehr politischen Gnostizismus. Zunächst einmal nimmt der Dualismus zwischen dem Guten und dem Bösen die Form des Unterscheidung zwischen Freund und Feind an, bis zu dem Punkt, dass dieser Unterschied die Substanz des Politischen ist. Doch worin sich dieser säkularisierte Gnostizismus tatsächlich fundiert, ist die Figur des katechon. Davon spricht der zweite Brief des Apostel Paulus an die Thessaloniker, als ob der Autor die Beharrlichkeit aufwiegen wollte, mit der im ersten Brief von der Rückkehr des Messias gesprochen wurde. Da einige Christen eine Art Bummelstreik beschlossen hatten und man bemerkte, dass das Ende nahe war, fühlt sich der Autor verpflichtet zu präzisieren, dass der Herr „im richtigen Augenblick" kommen werde. Davor werden sich in jedem Fall eine Reihe von Anzeichen zeigen, die keinesfalls beruhigend sind, denn sie sind das Werk des Antichrist. 25 Manemann 2002, S. 167-201.
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An diesem Punkt angekommen, sagt der Brief: „Und was es noch aufhält, wisset ihr, daß er offenbart werde zu seiner Zeit" (2 Thes: 2,6). Was es aufhält - qui tenet, sagt die Vulgata - , ist der berühmte katechon: die Macht, die gegenwärtige Zeit zu ertragen und so das Ende zu verzögern. Diese gewonnene Zeit macht die christliche Ära aus. Eine Ära, die man nur dadurch erreicht, dass man den Triumph der Kräfte des Antichristen verhindert. Schmitt glaubt nicht, dass es für einen ursprünglich christlichen Glauben eine andere geschichtliche Vision geben kann als die des katechon. Der Glaube, dass eine Barriere das Ende der Welt verzögert, stellt die einzige Brücke dar, die von der eschatologischen Lähmung allen menschlichen Geschehens zu einer so außergewöhnlichen geschichtlichen Kraft wie dem christlichen Imperium der deutschen Könige führt. 26 Ist der katechon die Strategie des historischen Christentums, das Ende zu verzögern, muss man ein Subjekt finden, das dies vollendet. Schmitt spricht hier vom mittelalterlichen christlichen Reich. Es gab andere. Wichtig ist, aus seinem Mund zu hören, dass das Recht die letzte Inkarnation dieses Protagonisten war. Die Rolle des Juristen, die er rühmt, ist es, einem Staat zu dienen, der dem Chaos entgegentritt, seine Auflösung verhindert27 und schicksalhaft das Eintreffen des Endes verschiebt. Das Recht wird Zeuge des christlichen Reichs und der Jurist enthebt den mittelalterlichen Kaiser seines Amtes. Ein Gnostizismus, der einen schöpferischen Gott wählt und anstatt die Welt Welt sein zu lassen, alles daran setzt, sie zu erhalten, erweist sich als merkwürdig. Der punctus saliens dieser These ist jedoch die Verschiebung des Endes (die Konsequenz der Spiritualisierung der Eschatologie als Antwort auf die Enttäuschung der Gemeinschaft über die geschichtliche und politische Nicht-Realisierung), etwas, was das Christentum zutiefst gezeichnet hat und aus dem Schmitt mit größter Härte seine politischen Konsequenzen zieht. Was sagt Taubes? Er teilt mit Schmitt das Prinzip der Politik als Repräsentation. Darunter ist zu verstehen: „Es gibt keine immanente Kategorie, die in der Lage ist, eine politische Ordnung zu legitimieren."28 Die politische Ordnung bezieht sich auf eine über sie hinausgehende Instanz. Das verstehen Schmitt und Taubes jedoch auf sehr unterschiedliche Weise. Während der Jurist zu dem Schluss kommt, dass sich die gesamte politische Macht in der göttlichen Macht legitimieren muss, siedelt der Philosoph das Prinzip der Legitimation in der Gesellschaft an. Wir stehen vor zwei verschiedenen politischen Theologien: eine horizontale, die sich auf die Macht für das Volk und fur die Gesellschaft bezieht, und eine vertikale, die sich auf die göttliche Macht beruft. Wir sprechen durchaus von politischen Theologien, denn die Instanz, auf die sich die Politik bezieht, ist die Religion. Aber Taubes interpretiert diese politische Theologie von einem Judaismus aus, der aus der Theokratie eine misslungene Erfahrung machte (mit dem Verschwinden der Könige von Juda ungefähr im 26 Schmitt 1950. 27 Vgl. Esprit, Februar 2002, S. 118, Anmerkung 8. 28 Nachwort von W. D. Kartwich und Aleida und Jan Assmann zu Taubes 2003, S. 176.
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6. Jahrhundert v. Chr.). Seitdem ist der Judaismus entschlossen, als Volk ohne Staat innerhalb anderer Staaten zu leben. Dabei praktiziert man nur eine partielle Identifikation, d.h. man hält sich im Namen des messianischen Ideals von diesen Staaten fern. Es ist dieser Kontext, in dem eine Konzeption des Volkes reift, verstanden als freie Gesellschaft in Bezug auf die Macht und frei in Bezug auf die Geschichte, wie Emanuel Levinas sagt. 29 Davon ausgehend ist es nicht möglich, eine weltliche Ordnung zu sanktionieren, sondern man muss sich gleichgültig zeigen. Taubes versteht das Politische dank dieses jüdischen Hintergrundes als die „Frage nach der religiösen Vergemeinschaftung" einer von der messianischen Erfahrung animierten Gesellschaft, nämlich in der Erinnerung eines Volkes, das an eine versöhnte Gesellschaft glaubt, die erst noch kommt. Im Gegenteil dazu versteht Schmitt das Politische als eine profane Übersetzung der Macht, der Offenbarung und des Gehorsams, d. h. als Antwort auf die Frage, wer in dieser Gemeinschaft die Macht zur Entscheidung hat. Der Akzent verschiebt sich von der Gesellschaft auf den Herrscher. Im Grunde, so denkt Taubes, hat Schmitt in seiner Denkweise die Grenzen des Rechts oder die Talente eines Juristen nicht hinter sich lassen können. Schmitt beunruhigen die Gegebenheiten, und ganz konkret, dass die Welt der Tatsachen nicht zum Chaos wird. Er reduziert alles auf diese Verneinung - dass die Welt nicht zum Chaos werde - , was ihn dazu bringt, nicht zwischen „weltlich" und „spirituell" zu unterscheiden; eine Unterscheidung, die der Schlüssel der ganzen westlichen Kultur ist, und konkret, der Schlüssel der Unterscheidung zwischen Politik und Recht. Wenn man das Spirituelle auf das Weltliche reduziert, ist alles das möglich oder besser, was zum Erhalt der Ordnung und Sicherheit beiträgt, und es wird nötig sein, z.B. die Freiheit aller zu opfern oder die Ausmerzung der sozialen Gruppen zu initiieren, die eine Gefahr darstellen: „Sie sehen schon, was ich von Schmitt will: ihm zeigen, dass die Trennung der Mächte zwischen dem Weltlichen und dem Spirituellen absolut nötig ist. Wenn man diese Abgrenzungslinie nicht zieht, geht der westliche Geist unter oder stirbt. Ich wollte, dass er sich trotz seiner totalitären Konzeption dessen bewusst wird." 30 Es gibt einen anderen Aspekt, über den Taubes nicht hinwegsehen kann. Wir haben schon gesagt, dass Schmitts Gnostizismus unter dem Freund-FeindSchema daherkommt. Dass Schmitt, seiner Überzeugung treu, dass „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatstheorie säkularisierte theologische Begriffe sind", 31 sich für seine Definition des Politischen in Freund-Feind-Kategorien auf Rm 11,28 beruft, 32 kann Taubes nicht tolerieren. Der Text seiner 29 „In der heutigen Zeit Jude zu sein besteht, mehr noch als im Glauben an Moses Propheten, darin, das Recht auf die Beurteilung der Geschichte einzufordern, d. h. eines Bewusstseins einzufordern, das sich bedingungslos bestätigt" (Levinas 1965, S. 30 „Nachtrag", in Taubes 2003, S. 181. 31 Schmitt 1934, S. 50. 32 [„Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Wahl Geliebte um der Väter willen."]
und die den Ort 220).
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Vorträge übermittelt perfekt die Emotion Carl Schmitts, als Taubes ihm erklärt, dass dieser harte Ausdruck, „inimici propter vos", den Paulus fallen lässt, um die Situation in Israel, in Bezug auf das neue Volk, zu erklären, nicht von dem zu trennen ist, den er gleich darauf gebraucht: „charissimi propter patres". Es sind Feinde, weil sie das Evangelium zurückgewiesen und sich gegen den neuen Kurs der Heilsgeschichte gestellt haben. Doch durch das Versprechen, das sie ihren Eltern gaben, sind sie auch die von Gott „sehr Geliebten".33 Als der neunzigjährige Schmitt sprachlos schaut, bis hin zu einem zerknirschten Stottern, „ich wusste das nicht," 34 geschieht dies nicht nur, weil er intuitiv erkennt, dass sein Fehler zum Säkularen einer Kirche beitrug, die den Antisemitismus genährt hat, der zu Auschwitz gefuhrt hat, und weil er der „rassistischen Theologie" zugrundeliegt, die derselbe Schmitt „ohne Skrupel von 1933 bis 1936" praktizierte, sondern auch, weil dieser Fehler seine Definition des Politischen als „Freund-Feind-Unterscheidung" genährt hat. Das Christentum hat über Jahrhunderte die Aussage „Feinde im Sinne des Evangeliums" im politischen Sinn interpretiert, d. h. als militante Opposition der Heilsgeschichte, und ist so zum Ursprung einer antisemitischen Tradition geworden, mit der die Schmitt'sche Theorie getränkt ist. Wenn sich Taubes in diesem Punkt so brillant unter dem überraschten Blick Schmitts entfaltet, dann weil er weiß, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hat: Er ist bei der Interpretation von Paulus in die Tiefe gegangen und auf den Kern des Unterschiedes zwischen der messianischen Lektüre der Politik (bei Taubes bzw. Paulus) und der katechonischen Lektüre (bei Schmitt, im Katholizismus) gestoßen. Mit Schmitt, also mit der ganzen katechonischen Interpretation der Welt, ist kein Universalismus möglich, da es immer einen Rest gibt, der ausgeschlossen ist; mit Paulus ist er möglich, weil das Ganze nicht denkbar ist ohne diesen Rest. Wenn der paulinische Bezug auf das jüdische Volk als inimicus die Definition des Politischen im Freund-Feind-Schema nicht erlaubt, dann weil dies die dialektische Spannung diese Adjektivs bezogen auf charissimi vergisst. Taubes bemüht sich, seine messianische Sicht der Politik ausgehend von diesem dialektischen Zusammenhang zu erklären. Wenn Israel Feind und Geliebter zugleich ist, dann weil die Liebe zwischen Gott und Israel schon vor dem Christentum existierte und nicht unterbrochen wurde. Die Wahl der Heiden hat nicht das Ziel, die Juden auszulassen, sondern ihre Eifersucht anzuregen. Das neue Volk hat keine Ausschlüsse, denn es hat ja Israel, vielmehr, so Taubes, ist es das (ganze) Land Israel. Wenn es ein politisches Konzept gibt, das sich aus diesem Ansatz ableiten lässt, ist es das einer Gemeinschaft ohne Ausschlüsse. Paulus rivalisiert mit den Ambitionen des Römischen Reiches, aber von einer anderen Strategie ausgehend: der Liebe für den Mitmenschen. 33 Taubes insistiert wie Schmitt darauf, die lateinische Übersetzung von echthroi sei nicht inimicus, sondern hostis. Man versteht, was sie sagen wollen - man muss den Terminus „Feind" im politischen und nicht im psychologischen Sinne verstehen die Vulgata aber übersetzt inimicus und nicht hostis. 34 Taubes 2003, S. 72.
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Diese neue politische Ordnung will sich auf die Basis der Liebe gründen, Liebe für den Mitmenschen: den nächsten und den entfernten. Um diese Nächstenliebe zu erklären, greift Taubes auf das paulinische Konzept zurück, demzufolge alle Gebote eins sind: Liebe für den Mitmenschen. „Ich betrachte dies als eine absolut revolutionäre Tat [...] ich würde sogar mit Kojeve sagen, dass er [Paulus] sich feuerbachisiert hat." 35 Worin besteht das Neue? Paulus bleibt dabei: die universellen Grundlagen eines neuen Volkes zu setzen, das keine Theokratie ist, sondern ein „Körper in Christus". Der Zugang zu diesem Körper wird nicht basierend auf einer theologischen Kenntnis vollbracht, sondern, nach 1 Ko 13, basierend auf einer eigenen Gnosis, die unter den Formen des Wissens auch den Beischlaf beinhaltet, die Einbindung. Definitiv ist nicht die abstrakte Kenntnis, und auch nicht der Glaube, sondern diese Verbindung mit den anderen Menschen, die Liebe für den Mitmenschen. So wird ein sozialer Körper gebildet „nicht durch die fleischlichen Bindungen, sondern die pneumatischen". 36
5.5 Was kann man aus dem Gesagten ableiten? Hinter all den Koketterien des modernen oder postmodernen Denken mit den Mythen und der offenkundigen Konfrontation mit dem Monotheismus verbirgt sich eine Alternative, die Taubes jeglicher Rhetorik entzieht, um sie in all ihrer Strenge zu präsentieren: entweder Nietzsche oder Paulus; entweder der Gekreuzigte oder Dionysos. Was mit dieser Entscheidung auf dem Spiel steht, ist nicht die Wahl zwischen Judentum oder Heidentum, sondern die Bewertung des Leidens. „Nietzsche", sagt Taubes, „war vielleicht der einzige, der verstanden hat, was zwischen dem Christentum und unserer Zeit aufs Spiel gesetzt worden war. Er hatte verstanden, dass sowohl bei Dionysos wie bei Christus das Martyrium, das Leiden, mit im Spiel war." 37 Er zitiert einen Text von Nietzsche, der beide Lektüren aufhellt: Auf der einen Seite sind diejenigen, die wie er selbst verstehen, „dass das Leben als solches, seine ewige Fruchtbarkeit, seine ewige Rückkehr die Qual, die Zerstörung, den Willen zum Vernichten provozieren"; auf der anderen, die wie Paulus sehen, „dass das Leiden, der Gekreuzigte als Unschuldiger, als Argument gegen das Leben dient und seine Verurteilung zum Ausdruck bringt. Niemandem entgeht es, dass das Problem kein anderes ist als der Sinn des Leidens: im christlichen Sinne oder im tragischen [...] der Gekreuzigte Gott ist ein Fluch gegen das Leben, eine Einladung, sich nicht ums Leben zu kümmern." 38
35 36 37 38
Taubes 2003, S. 74; 1999, S. 83. Nachwort in Taubes 2003, S. 165. Ebd., S. 116. Ebd., S. 117.
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Reyes Mate
Wird in moralischer Hinsicht der Sinn des Leidens in Frage gestellt, so in metaphysischer Hinsicht die Zeit. Die Ankündigung des Todes Gottes ist die Ankündigung der Herrschaft der Zeit, ewig wie Gott, unsterblicher als all die anderen Götter. Die Zeit, erhoben zum Mythos unserer Gegenwart, verwandelt die Welt in unaufhörliches Dasein, ohne einen anderen Sinn als die eigene Dauer. Benjamin hatte diese Zeit, die sich hinter unseren Idealen von Fortschritt oder Entwicklung verbirgt, als continuum oder leere Zeit charakterisiert, der man die Unterbrechung oder die volle Zeit entgegensetzen müsste. Das ist das Thema des Apokalyptischen, das der Jude Taubes vor den katholischen Schmitt bringt.
A. d. Span. v. Laura Gerber
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Sadik J. al-Azm
ISLAM, TERRORISMUS UND DER WESTEN
Persönliches Ich war als Gastprofessor an der Tohoku-Universität in Sendai, Japan, als am 11. September 2001 die Flugzeuganschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington ausgeübt wurden. Zufällig war ich gerade beim Fernsehen, als das überwältigende Bild des ersten rauchenden Turms auf dem Bildschirm aufleuchtete. Sobald ich mich vergewissert hatte, dass dies weder der Science-Fiction-Kanal noch irgendein Psychothriller aus Hollywood und das, was ich sah, Realität war, konnte ich nichts daran ändern, ein starkes Gefühl der Schadenfreude zu empfinden, das ich versuchte zurückzuhalten, zu kontrollieren und zu verstecken. Dieses primitive Gefühl erfasste mich trotz der strengen Vorschrift in der arabisch-islamischen Kultur, die eine solche Reaktion (arab. shamateh) in Zusammenhang mit dem Tod verbietet, selbst wenn es ein gewaltsamer und verdienter Tod deines Todfeindes ist. In diesem Augenblick wusste ich intuitiv, dass Millionen von Menschen in der arabischen Welt und darüber hinaus dieselbe Emotion durchlebten. Alle würden sie spontan, laut oder leise, die traditionelle Formel von sich geben: „Allahumma la shamata"! (Oh Herr, dies ist keine Schadenfreude!), um sich selbst von der Verlegenheit zu befreien, unwillkürlich von diesem verbotenen Gefühl überwältigt worden zu sein. Während das makabre Drama der beiden Türme seinen Lauf nahm und ich meine Fassung wiedererlangte, schössen mir spontan zwei Gedanken und eine Frage durch den Kopf. Der erste Gedanke war, dass Islamisten es getan hätten, da sie tiefsitzende Rachegedanken gegen das World Trade Center hegen, nachdem 1993 ihr Versuch gescheitert war, es in die Luft zu sprengen. Wie das bei Fehden im arabischen Raum und im Nahen Osten vorherzusehen ist, kehrte die gekränkte Seite mit schlimmeren Rachegedanken als zuvor zum Schauplatz zurück, um die Rechnung zu begleichen und Vergeltung zu üben. Ich erinnerte mich daran, wie Mitglieder der Al-Qaida im Jahr 2000 nach dem fehlgeschlagenen Angriff auf das amerikanische Kriegsschiff USS Sullivan nahe des Hafens Aden (Jemen) etwa acht Monate später nach Aden zurückkehrten, um ihren tödlichen Angriff auf den amerikanischen Zerstörer USS Cole auszufuhren. In einem anderen Fall, als es Al-Qaida misslang, einen amerikanischen Diplomaten in Amman in Jordanien zu ermorden, kamen die gescheiterten Männer zurück und „beglichen die Rechnung", indem sie einen anderen ame-
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rikanischen Diplomaten, Lawrence Foley, an ungefähr demselben Ort töteten. Aufgrund dieser Erinnerungen hatte ich niemals den geringsten Zweifel daran, wer das schreckliche Verbrechen begangen hatte. Als Araber kann ich etwas sagen über die Macht des Verlangens nach Rache in unserer Kultur und ihre Eigenschaft, zu manchen Zeiten das gesamte Verhalten zu beeinflussen und jede Perspektive zu beeinträchtigen, zum Nachteil aller weiteren Überlegungen. Um diese Tatsache zu verstehen, braucht man nur einen kurzen Blick auf die endlosen tödlichen Vergeltungs- und Gegenvergeltungsschläge zu werfen, die in Palästina und Israel seit dem Beginn der zweiten Intifada in Gang gesetzt wurden. Meine zweite Reaktion war, dass die Vereinigten Staaten mit voller Kraft daran arbeiten würden, die islamistische Bewegung weltweit bis zur Bewusstlosigkeit niederzuschlagen. Die Frage, die ich mir stellte, war: Warum war da Schadenfreude auf meiner Seite? Warum diese unwürdige und verurteilenswerte Freude - wenn auch unbehaglich, schüchtern und verstohlen - in Reaktion auf ein Massaker an Unschuldigen? Verschiedene Antworten stürmten auf mich ein. Die Nachrichten aus Palästina waren in den letzten paar Tagen besonders schlecht gewesen. Vielleicht war es die heimliche Befriedigung darüber, die Arroganz der Macht abrupt gedemütigt zu sehen, wenn auch nur vorübergehend. Vielleicht war es der Anblick der djihad als Frankensteins, den die Vereinigten Staaten so sorgfaltig aufgebaut, genährt und benutzt hatten, die plötzlich ihre tödlichen Fähigkeiten gegen ihre Lehrmeister, Anfuhrer und Manipulatoren wendeten. Ein berechtigter Anlass für solch eine Schadenfreude in meiner arabisch-islamischen Kultur ist sicherlich der Augenblick, in dem „die schwarze Magie sich schließlich gegen den Magier wendet", wie wir auf Arabisch sagen: die dramatische Enthüllung des Zynismus und der Scheinheiligkeit eines Ronald Reagan, der die Taliban ins Weiße Haus einlud und sie als „moralisches Pendant zu den amerikanischen Gründungsvätern" begrüßte. Auch spürte ich die natürliche Abneigung der Schwachen und Marginalisierten an der Peripherie von Imperien gegen das Zentrum, und in diesem Fall gegen einen derart selbstgerechten und prahlerischen Kern des Zentrums. Erschrockene Kollegen und Freunde aus Japan waren unsicher, was sie von der ganzen Situation halten sollten. So sahen sie Fernsehbilder von Palästinensern - einschließlich kleiner Jungen und Mädchen die jubelnd die Anschläge vom 11.9. feierten, persönliche Glückwünsche in der Öffentlichkeit austauschten, Süßigkeiten in den Straßen verteilten, als ob es eine Zeit zum Feiern wäre. Sie hörten auch, dass die Palästinenser die Festlichkeiten von offizieller Seite leugneten und sie als Handlungen unschuldiger kleiner Kinder bezeichneten, die nicht verstehen, was sie tun, und sahen Yassir Arafat dem amerikanischen Volk und der Regierung sein tiefstes Beileid ausdrücken, während er - im grellen Schein von Fernsehkameras - den Opfern in New York Blut spendete. Ich erklärte meinen verwirrten japanischen Kollegen und Freunden ziemlich offen, dass die Palästinenser und ihre Kinder, die ohne zu verstehen in den
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Straßen feierten, ehrlich die spontanen Gefühle von Massen von Menschen in der arabischen Welt ausdrückten, und dass Arafats Verleugnungen, Beileidsbekundungen und Gesten die Heuchelei in der heutigen Politik in ihrer reinsten Form darstellten. Um meinen Standpunkt deutlich zu machen, erklärte ich auch, dass es heutzutage schwer sei, einen Araber zu finden, der, wie objektiv, kultiviert oder gebildet er auch sei, im Innern nicht auch Schadenfreude empfinde über das, was den Amerikanern am 11. 9. geschehen ist. Ist dies Huntingtons Wirklichkeit gewordener Kampf der Kulturen, und das so schnell? Die Japaner, mit denen ich gesprochen habe, sahen die Sache etwas anders. Die ganze Angelegenheit schien ihnen wie ein Religionskrieg aus einem lange vergangenen und wiederbelebten dunklen Zeitalter. Der islamische djihad begeht einen aufsehenerregenden Akt der Gewalt ohne Beispiel gegen das Herz des Westens, und der Präsident der Vereinigten Staaten reagiert sofort, um die christliche Welt zu einem gewaltigen Gegenkreuzzug gegen den Islam zu mobilisieren. Es ist daher kein Wunder, dass eine kultivierte Japanerin meiner Frau zuflüsterte: „Was für wilde Religionen habt ihr auf eurer Seite der Welt? Heutzutage ist es am besten, Buddhist zu sein." Genaugenommen fand ich es sehr bereichernd, den Schock des 11. Septembers und seine ersten Auswirkungen in einer Kultur erlebt zu haben, die so unterschiedlich zu dem ist, was ich gewohnt bin, in einer Kultur, in der solche allgemeinen Ausrufe wie „my God", „mon Dieu", „mein Gott", „ya Rabbi", „ya Ilahi" und dergleichen überhaupt keine Bedeutung haben. Im Oktober 2001 kehrte ich in meine Heimat Syrien zurück, nach Damaskus, um mich in die intensiven Debatten über die Anschläge vom 11.9. zu vertiefen, die in der gesamten arabischen Welt stattfanden, und um die wild kursierenden Verschwörungstheorien zu rezipieren. Der Zweck dieses Spektakels war es, die Araber, den Islam und die Muslime davon zu distanzieren, was dem World Trade Center und dem Pentagon zugestoßen war, indem die ganze Schuld den üblichen Verdächtigen gegeben wurde: dem Mossad, der CIA, dem Pentagon selber, der jüdisch-zionistisch-imperialistischen Verschwörung, den obersten Verschwörern und Intriganten der Globalisierung, dem amerikanischen militärisch-industriellen Komplex usw. Die interessanteste Frage, die in Damaskus, in Kairo und in anderen arabischen Hauptstädten gestellt wurde, war folgende: Seit wann sind die Araber fähig zu so strategischer Planung, langfristigen Vorbereitungen, brillanten Taktiken, fehlerloser Koordination, Synchronisierung und Ausführung? Zwangsläufig folgte der beruhigende Schluss: Da die arabischen Zeitgenossen weder Deutsche noch Japaner sind, konnten sie nichts damit zu tun haben, was in New York und Washington geschehen war. Was mich angeht, argumentierte ich mit einer viel einfacheren Erklärung: Die Amerikaner hatten die Mudschaheddin in Afghanistan so gut ausgebildet, und ausnahmsweise hatten die Araber unter ihnen so gut gelernt, dass diese zum ersten günstigen Zeitpunkt ihr vernichtendes Training gegen ihre Lehrmeister wandten.
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Es gibt vier wesentliche Punkte in der differenzierteren Form der arabischen Debatten und Diskussionen, die es wert sind, beachtet zu werden: 1. Die Verschwörungstheorien traten angesichts sich häufender Beweise, welche Seite für die Anschläge des 11.9. verantwortlich war, allmählich, aber stetig in den Hintergrund, wobei hier und dort einige Zweifel, Vorbehalte und Fragezeichen blieben. Aber wie immer können die Verschwörungstheoretiker, die zum harten Kern gehören, nicht davon überzeugt werden, dass sie falsch liegen, egal wie viele Beweise sich finden lassen. 2. Einige warnen davor, sich von der maßlos übertriebenen Rhetorik des 11. Septembers mitreißen zu lassen. So wird er etwa als ein historischer Wendepunkt im Leben der Menschheit gesehen - so dass man von einer Welt vor und nach dem 11. September sprechen könnte, so wie wir von vor und nach Christus sprechen, vor und nach der Hedschra des Propheten Mohammed, vor und nach dem Zweiten Weltkrieg oder vor und nach der Atombombe über Hiroshima. Es wurde darauf hingewiesen, dass, indem man diese Art pseudoapokalyptischer Rhetorik zulässt, um die Begriffe zu diesem Thema in der internationalen Debatte zu klären, oder man sie unsere hiesigen Ansichten und Programme dominieren lässt, man schlichtweg den Vereinigten Staaten in ihren gegenwärtigen Bemühungen hilft, dem Rest der Welt die eigenen Vorstellungen aufzudrängen. Außerdem hilft es Ariel Sharon in Israel, seine nicht weniger aggressiven Ansichten der arabischen Welt und dem Rest des Nahen Ostens überzustülpen. 3. Es gibt eigennützige Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen dessen, was aussieht wie eine Bewegung der Rechten, die sich bemüht, die etablierten Bürgerrechte in den Vereinigten Staaten und Westeuropa im Namen des Schutzes der nationalen Sicherheit und der Unterstützung des Krieges gegen den Terrorismus zu beschneiden. Jede ersichtliche Kürzung der bürgerlichen Rechte und Freiheiten in westlichen Demokratien versorgt unsere Kriegsrechtsregimes und die Autoritäten der Sharia mit dem Vorwand, nach dem sie sich sehnen, um mit ihrer repressiven Politik und mit Willkürmaßnahmen fortzufahren. Wenn die fortgeschrittensten Demokratien der Welt im Moment der Gefahr auf solche Methoden zurückgreifen, was sollen wir dann zu unseren eigenen autoritären Gesellschaften und diktatorischen Regierungen sagen, insbesondere angesichts ihrer beständigen Besessenheit von „nationaler Sicherheit" und ihrem immer vorrätigen Bestand an realen und eingebildeten inneren Bedrohungen und äußeren Gefahren? 4. Man hat Angst um die Sicherheit, den Zustand und die Zukunft der beträchtlichen nahöstlichen, muslimischen und arabischen Minderheiten in westlichen Ländern, speziell in Europa. Nach jeder Welle anti-arabischer und antimuslimischer Hysterie in Europa tendieren die Erscheinungsformen von Feindseligkeit, Rassismus und Diskriminierung gegen die betroffenen Minderheiten dazu, zu ihrem ursprünglichen Grad und zu überkommenen For-
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men zurückzukehren. Dies geschah nach dem palästinensischen Attentat auf das israelische Team bei den Olympischen Spielen in München 1972. Es ereignete sich nach dem Triumph der islamischen Revolution 1979 im Iran und nach dem aufsehenerregenden Drama von Imam Khomeinis Fatwa gegen Salman Rushdie 1989. Wird sich dasselbe Schema wieder behaupten, nachdem die Leidenschaften, die durch das ungeheure Ausmaß des 11.9. ausgelöst wurden, abgekühlt sind?
Politisches Hat es Sinn, im Eifer des von Amerika geführten Kriegs gegen den globalen Terrorismus nach einer „akzeptablen" Definition des Terrorismus zu suchen? Genauer gesagt, ist die gegenwärtige beharrliche Forderung von Seiten der Araber und Muslime nach einer solchen Definition vom vorherrschenden Westen realistisch? Solange der Wille zur Macht unangefochten an erster Stelle steht, muss die Antwort ein überwältigendes „Nein" sein. Immerhin wissen wir alle, dass Terrorismus in den meisten Fällen die Waffe der Schwachen ist, obwohl die Mächtigen niemals gezögert haben, darauf zurückzugreifen, wann immer sie es für nötig hielten. Momentan bemühen sich die Vereinigten Staaten sehr, die herkömmliche Bedeutung von „Terrorismus" auszuweiten, um jeden Akt von Gewalt, Aufstand, Rebellion, Bürgerkrieg, bewaffnetem Widerstand usw. abzudecken, den der Westen ablehnt. Das hebt wahlweise und beliebig die Grenzen auf zwischen Terrorismus einerseits und verschiedenen Formen gewaltsamen Widerstands gegen fremde Okkupation, nationalen Befreiungskämpfen und Aufständen gegen unerträgliche Unterdrückung andererseits. Außerdem entleert es das Konzept des Terrorismus seines spezifischen Inhalts und seiner Bedeutung, indem es in eine reine Ermessenssache verwandelt wird, die den unmittelbaren Interessen der Mächtigen dient. Ein differenzierteres und sorgfältiger definiertes Konzept des Terrorismus ist genau das, was die Mächtigen derzeit nicht wollen, da ihr Krieg gegen den Terrorismus dazu gedacht ist, weit über spezielle terroristische Handlungen, Organisationen und Strukturen hinauszugehen. Dieser Prozess hat absurde Ausmaße angenommen mit Israels militärischer Besetzung des Westjordanlands und der Zerstörung der palästinensischen Autonomiebehörde unter dem Deckmantel der Kriegsführung Amerikas gegen den Terrorismus. Die Absurdität nötigte sogar die Washington Post in einem Leitartikel vom 25. April 2002, Präsident George W. Bush an bestimmte unerlässliche Unterscheidungen zu erinnern, wenn sein verallgemeinerter Krieg gegen den Terrorismus nicht an Wirksamkeit verlieren soll: Der kompromisslose Widerstand der Regierung Bush gegen den Terrorismus nach dem 11. September ist politisch und moralisch stark und hat beeindruckende Resultate sowohl in Afghanistan als auch in vielen anderen Teilen der Welt gebracht. Dennoch muss die Regierung, wenn der Kampf gegen den Terror eine wirksame Kraft bleiben soll, un-
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Sadik J. al-Azm terscheiden zwischen Terrorismus und den manchmal legitimierenden politischen Ursachen, deretwegen er angewendet wird, und sie muss auch differenzieren zwischen legitimer Verteidigung gegen den Terrorismus und Versuchen, den Kampf gegen den Terror zu benutzen, um inakzeptable Ziele zu rechtfertigen. 1
Der israelische Schriftsteller Arnos Oz hat beobachtet, dass Israel an zwei separaten Kämpfen gegen die Palästinenser beteiligt ist - ein gerechtfertigter Krieg gegen den Terrorismus und eine „ungerechte und nutzlose" Bemühung um Kontrolle über das Westjordanland und den Gazastreifen. Die Regierung Bush braucht eine Politik, die zwischen beidem unterscheiden kann. Die Suche nach einem alternativen Ansatz führte mich zu Joseph Conrads Charakterisierung der idealen terroristischen Handlung in seinem Roman The Secret Agent: „Aber was soll man sagen zu einem Akt destruktiver Grausamkeit, so absurd, dass es unfassbar ist, unerklärlich, fast undenkbar - im Grunde wahnsinnig? Der Wahnsinn allein ist wahrhaft schreckenerregend, insofern, als man ihn nicht beschwichtigen kann, weder mit Drohungen noch mit Überredung oder Bestechungen."2 Diese Bemerkung kommt aus dem Munde Vladimirs, des sanften Ersten Sekretärs an der russischen Botschaft in London. Er versucht, den halbherzigen Anarchisten und Polizeispitzel Mr. Verloc dafür zu gewinnen, einen Akt terroristischer Gewalt zu begehen, außerordentlich genug, um England (die Groß- und Hegemonialmacht dieser Zeit) zu schockieren und aus seiner Selbstgefälligkeit zu reißen, in einem Moment, in dem gerade eine internationale Konferenz über „die Unterdrückung politischer Verbrechen", wie transeuropäischer Terrorismus in diesen Tagen genannt wurde, zusammengerufen wird. Der geplante Anschlag soll das Royal Greenwich Observatory, dieses große Symbol britischer wissenschaftlicher Überlegenheit und fortschrittlicher internationaler Zeitmessung, in die Luft sprengen. Wenn es jemals einen konkreten, gewaltsamen Acte gratuit „des Wahnsinns und der Verzweiflung" gegeben hat, der Conrads Definition einer idealen terroristischen Tat vollständig erfüllt, dann ist es das spektakuläre Attentat auf das World Trade Center, dieses große Symbol globaler Überlegenheit Amerikas in der Welt und seiner internationalen wirtschaftlichen und finanziellen Bedeutung. Ein Teil des Wahnsinns liegt in seinem vernichtenden Einfluss auf die Verschwörer und Täter selbst, den Islamismus auf der Welt im Allgemeinen und die Al-Qaida-Netzwerke, Organisationen und Systeme der Unterstützung im Besonderen (einschließlich des Taliban-Regimes in Afghanistan). Der andere Teil liegt im Spektakel der alleinigen Supermacht der Erde, wenn sie hilflos Aktionen mit der Raffinesse von Teppichmessern und Zivilflugzeugen gegenübersteht in einem Moment, in dem sie sich selbst darauf vorbereitet, die futuristischsten Hightech-Abwehrraketen zu bauen, die man sich vorstellen kann.
1 Leitartikel in der Washington Post, 25. April 2002. 2 Joseph Conrad, Der Geheimagent, Kapitel 2.
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Andere Beispiele gewalttätiger Handlungen aus der jüngeren Vergangenheit, die, bezogen auf ihre Zeit und ihren Ort, Conrads Definition gerecht werden, sind die Entführung und Ermordung des deutschen Industriellen Hanns-Martin Schleyer durch die Baader-Meinhof-Grappe im Sommer 1977 und die vergleichbare Entführung und Ermordung A l d o Moros, des am längsten amtierenden Regierungschefs Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg, durch die italienischen Roten Brigaden ein Jahr später. Auch in diesen Fällen waren die zerstörerischen Konsequenzen für die Verschwörer, Täter, ihre unterstützenden Netzwerke und Organisationen, für die beschützenden kommunistischen Regime und weltweiten linksradikalen B e w e g u n g e n nicht weniger katastrophal. D i e Literatur hat sogar etwas Erbauliches zur zerstörten Stadt N e w York anzubieten - w i e die Beschreibung H. G. Wells' in „Wie der Krieg über N e w York kam": Viele Generationen hindurch hatte New York sich um den Krieg nicht gekümmert, außer als etwas, das irgendwo in der Ferne vor sich ging, das die Preise beeinflusste und die Zeitungen mit sensationellen Schlagzeilen und Illustrationen füllte. Die New Yorker fühlten sich vielleicht noch sicherer als einst die Engländer, dass der Krieg in ihrem eigenen Land etwas Unmögliches sei. Sie teilten hierin den Wahn von ganz Nordamerika. Sie fühlten sich so sicher wie die Zuschauer bei einem Stierkampf: Sie riskierten vielleicht ihr Geld dabei; das war alles. [...] Sie dachten, Amerika säße sicher hinter all seinen aufgestapelten Geschossen. Sie schwenkten ihr Banner, sie schrien Hurra aus alter Gewohnheit und Tradition, sie verachteten die anderen Nationen, und wenn es irgendeine internationale Schwierigkeit gab, waren sie unendlich patriotisch, das heißt sie waren Feuer und Flamme gegen jeden ihrer eigenen Politiker, der nicht das gegnerische Volk in Wort und Tat laut beschimpfte und bedrohte. [...] Und dann, plötzlich, - in diese Welt, die sich in aller Friedlichkeit hauptsächlich mit Kriegsrüstung und der Vervollkommnung von Geschossen beschäftigte - kam der Krieg. [...] Dann spritzten nach allen Richtungen blendende Flammen hinaus, und der kleine Mann, der eben gehüpft war, ward einen Augenblick lang zum Feuerstrahl und verschwand - verschwand vollständig. Die Menschen, die auf die Straße herausstürzten, machten lächerliche, linkische Sätze; dann fielen sie und lagen ganz still, mit zerfetzten Kleidern, aus denen die Flammen brachen. [...] Staub und schwarzer Rauch wälzten sich in die Straße; gleich darauf schössen rote Flammen dazwischen auf. [...] Hinter sich ließen sie Ruinen und lodernde Feuersbrünste und aufgehäufte und umhergestreute Tote: Männer, Weiber und Kinder - alles durcheinander, als wären sie nichts weiter als Neger, Zulus oder Chinesen. Das südliche New York war bald ein einziger Hochofen voll roter Flammen, aus dem kein Entrinnen war. Straßenbahn, Eisenbahn, die Fähren - alles hatte aufgehört, und kein Licht erhellte in dieser düsteren Wirrnis den Weg der verzweifelten Flüchtlinge als das Licht des Brandes. „Wie der Krieg über N e w York kam" ist das sechste Kapitel des Zukunftsromans The War in the Air aus d e m frühen 20. Jahrhundert. Es soll hier noch Erwähnung finden, dass Conrad The Secret Agent niemand anderem als Wells gewidmet hat. 3 Es scheint mir eindeutig, dass der Terrorismus der Linken in den 70er Jahren in Europa ein verzweifelter Versuch war, auszubrechen aus der histori3 H. G. Wells, Der Luftkrieg (1907), dt. von Gertrud J. Klett, Kap. 6, Berlin u. a. 1983. Ich schulde Mike Davis Dank, dass er mir die Verbindung zwischen meinem erwachten Interesse an Conrads Widmung und diesem speziellen Roman von Wells gezeigt hat. Siehe Mike Davis, The Flames of New York, New Left Review 12 (November-Dezember 2001), S. 34-72.
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sehen Sackgasse und endgültigen strukturellen Krise, die der Kommunismus, die radikalen Arbeiterbewegungen, die Dritte-Welt-Bewegung und revolutionäre Entwicklungen überall erreicht hatten, indem zu einer gewaltsamen Action directe der außergewöhnlichsten und phänomenalsten Art gegriffen wurde. Heute können wir erkennen, dass der Terrorismus dieser Zeit erstens die damals kaum sichtbare Manifestation dieser Sackgasse und Krise war, und zweitens der Auftakt zum endgültigen Untergang all dieser Bewegungen und Richtungen, einschließlich des Weltkommunismus selbst. Die extravagante Vorgehensweise der Action directe, die in den Anschlägen vom 11.9. ihren Höhepunkt erreichte, stellt deutlich einen nicht weniger verzweifelten Versuch von Seiten bestimmter Hardcore-Islamisten dar, aus dem historischen Engpass und der endgültigen strukturellen Krise, in welche die islamistische Weltbewegung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geraten war, auszubrechen. Meiner Einschätzung nach wird sich dies gleichermaßen als Auftakt zur Vertreibung und zum endgültigen Untergang des militanten Islamismus erweisen. Diejenigen, die in Form bewaffneter Gruppen und Fraktionen zur Action directe in Europa gehörten, nahmen Abstand von der Gesellschaft, von politischen Parteien, Reformen, der proletarischen Revolution, traditionellen kommunistischen Organisationen und den trägen Massen zugunsten eines blinden und spektakulären Aktivismus, achtlos und mit Verachtung der Konsequenzen und langfristiger Überlegungen zu Möglichkeiten des Erfolgs oder Scheiterns. In ähnlicher Weise haben die Action i&'recie-Islamisten Abstand genommen von der gegenwärtigen muslimischen Gesellschaft, ihren sozialpolitischen Bewegungen, der spontanen Massenreligiosität, ihrem endemisch falschen Bewusstsein, von etablierten islamischen Organisationen, dem Attentismus der ursprünglichen und traditionellen Muslimbrüderschaft (von der sie üblicherweise kommen, genauso wie die ursprüngliche Action directe vom europäischen Kommunismus herkam) zugunsten ihres eigenen Markenzeichens blinden und spektakulären Aktivismus', ebenso achtlos und mit Verachtung der Konsequenzen und Möglichkeiten des Erfolgs oder Scheiterns. Michel Foucault wurde einmal nach der gesellschaftlichen und revolutionären Tragweite seiner Bücher gefragt. Er antwortete dahingehend, dass sie nichts anderes als Molotowcocktails, Handgranaten oder Schallbomben seien, die ins System geschleudert wurden, sich im Moment der Explosion selbst verzehrten und keine Bedeutung hätten über die Flamme hinaus, die sie erzeugten. Das ist verzweifelte Rebellion, ohne einen Anlass oder ohne ein klar definierbares oder erreichbares Ziel. All das ist Teil von Foucaults allgemeinerer Sicht, dass unter den gegebenen Umständen der einzig mögliche Widerstand die Action directe in Form von lokalen Angriffen, intermittierenden Gefechten, GuerillaÜberfällen, blindwütigen Aufständen, besinnungsloser Gegenwehr, unwilligen Ausbrüchen, anarchistischen Anschlägen und plötzlichem Aufruhr ist. Wenn wir dies auf minimalistischer Ebene in die ein wenig primitivere Ausdrucksweise der islamistischen Aktivisten übersetzen, kommen wir als erstes
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zu dem, was einige Islamisten „einen Akt des Zornes für die Sache Gottes" (ghadba lillah) und gegen das System nennen, einen Akt, der keine unmittelbare Bedeutung über sich selbst hinaus zu haben braucht und von dem nicht erwartet wird, dass er irgendeine Relevanz über die Flamme hinaus hat, die er erzeugt. Zweitens kommen wir zu einer ungeduldigen Ablehnung und einer Verachtung beinahe jeder Form der Politik - konventioneller, radikaler, agitatorischer oder revolutionärer - zugunsten der gewaltsamen Taktiken des Nihilismus und der Verzweiflung. Die einzig denkbaren Alternativen für sie sind Kooptation, Rückzug oder ein Eingeständnis der Niederlage. Wenn wir dieselbe Zeile von Foucault in den maximalistischen Islamismus übersetzen, kommen wir zum Action directe-Terrorismus in globalem Ausmaß, wobei die einzige erlaubte Form der Politik der direkte und unmittelbare bewaffnete Angriff gegen den Feind ist. Die Annahme, die einem solchen apokalyptischen islamistischen Selbstbewusstsein zugrunde liegt, ist die, dass es 1. die Hindernisse auf dem Weg des weltweiten Triumphes des Islam wegsprengen wird, 2. den strukturellen Engpass, in dem das islamistische Vorhaben sich gegenwärtig befindet, überwinden wird, 3. bessere Zielsetzungen für den Erfolg dieses Vorhabens entwickeln wird, 4. die Kräfte der muslimischen Völker zum eigenen Nutzen katalysieren und 5. Pole der Attraktion erschaffen wird, bei welchen die Muslime der Welt sich sofort zusammentun könnten, zum Beispiel die Al-Qaida-Kette der Netzwerke, die Organisationen, Trainingscamps und das Taliban-Modell der angeblich ersten authentischen muslimischen Gesellschaft und Regierung in modernen Zeiten. Wie die Anschläge vom 11.9. gezeigt haben, sind die Action directe-Islamisten, wie ihre europäischen Pendants, kein ungeordneter Haufen. In der Mehrzahl sind sie wohlhabende, sozial aufsteigende Jugendliche mit Universitätsausbildung, die mit ihren europäischen Pendants unwissentlich ein Gefühl für die Provokation einer strafbaren Handlung innerhalb einer fremden und entfremdenden monolithischen sozialpolitischen Realität teilen, eine Ontologie der vollkommenen Ablehnung dieser Realität, und einen tragischen Blick auf die Welt, der sich auf das erlösende Potential des äußersten Moments der Krise konzentriert, den Moment der Wahrheit in einer einhüllenden Welt von Unwahrheit, falschem Bewusstsein und irreführendem äußeren Anschein. Die Flucht aus dieser „Societe du spectacle", um den Titel eines bekannten europäischen Buches 4 zu zitieren, besteht darin, wahllos in die Richtung des Krisenmomentes zu drängen, aus welchem der Augenblick der islamischen (oder irgendeiner anderen) Wahrheit explodieren wird. Dies ist auch die gängige Illusion einer Abkürzung zur Wiederherstellung einer authentisch islamischen Ordnung (der Reduktionismus solcher Slogans wie „Islam ist die Lösung" und „Islam ist die Antwort") oder einer authentischen humanen und egalitären sozialistischen Gesellschaft in Europa. 4
Guy Debords Buch La societe du spectacle ist in englischer Übersetzung unter dem Titel Society of the Spectacle (New York 1995) erhältlich.
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In Saudi-Arabien zum Beispiel besteht die herrschende Stammeselite darauf, sich selbst, ihre Gesellschaft und ihr System deutlich sichtbar in strikte muslimische Orthodoxie, moralische Reinheit, soziale Rechtschaffenheit und beduinische Strenge einzubinden. Der Widerspruch zwischen dieser nach außen gerichteten offiziellen Vortäuschung und dem wirklichen Leben des Landes vertieft und verschärft sich weiter bis zu dem Punkt, an dem er explosiv wird. Er trieb diejenigen Söhne und Töchter des Systems, die darauf bestehen, die religiösen Vorspiegelungen ernst zu nehmen, dazu, den Aufstand zu organisieren, der 1979 den heiligen Schrein in Mekka besetzte und das Königreich im Verlauf bis in seine Grundfeste erschütterte. In der islamischen Welt gibt es keine spektakulärere und weltbewegendere Aktion als die Erstürmung und Inbesitznahme der Kaaba selbst. Wie die jungen Saudis, die in die Attentate des 11.9. involviert waren, waren die Besatzer des Schreins von Mekka alle typische Produkte desselben schizophrenen Systems. Ihr Anfuhrer, Juhaiman al-'Utaibi, machte unmissverständlich klar, dass der Zweck dieser dramatischen Rebellion und erstaunlichen Demonstration war, die irrsinnige Diskrepanz zwischen der offiziellen saudischen Ideologie und den Inhalten des wirklichen Lebens des Königreichs zu beenden, indem letzteres in genaue Übereinstimmung mit der religiösen Orthodoxie gebracht würde, so wie es offiziell verkündet und dargelegt wurde. Tatsächlich könnte man bin Laden als eine gefährlichere, fortgeschrittenere und differenziertere Version von Juhaiman al-'Utaibi sehen, die sich international ausgerichtet hat und global geworden ist. Während Juhaiman seine verzweifelte spektakuläre Intervention gegen das wichtigste Symbol richtete, das der Rechtfertigung des saudischen Systems diente, hatte es bin Laden auf den Kern Amerikas abgesehen, ohne den das dortige System keinesfalls überleben oder weiterbestehen könnte.
Kulturelles Auf einer noch tieferen kulturellen Ebene gibt es eine zweite Form der Schizophrenie, die mit der gequälten, hinausgezögerten und widerwilligen Anpassung der arabischen (und muslimischen) Welt an die europäische Moderne mit all ihren Konsequenzen und Anforderungen verbunden ist. Dieser scheinbar unendliche Prozess hat die modernen Araber zum Hamlet des 20. Jahrhunderts und späterer Zeiten gemacht. Wie der gefeierte Prinz scheinen sie in der Lage zu sein, sich der tieferen Leidenschaft des Elementaren für die brütende Intellektualität des Geistigen und das lyrische Feingefühl des Dichters anzuschließen, um dann in unerlöster Tragödie zu enden. Die Tragödie besteht aus ewigem Zögern, Hinausschieben, Oszillationen und Schwanken zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen asala und mu 'asara (Authentizität und Gleichzeitig-
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keit), zwischen turath und tajdid (Herkunft und Erneuerung), zwischen huwiyya und hadatha (Identität und Moderne), zwischen Religion und Säkularität. Daher glauben einige der besten kritischen Köpfe der arabischen Welt, dass das neue Jahrhundert nur den siegreichen Fortinbrassen dieser Welt gehören kann und niemals den Hamlets, die davon nicht loskommen, endlos das klassische, aber jetzt völlig überholte europäische Stück La quereile des andern et des modernes zu üben. Dann ist es kein Wunder, um mit Shakespeares berühmtestem Drama zu sprechen, dass die Zeiten für die Araber aus den Fugen geraten zu sein scheinen und etwas faul aussieht in ihrem Staate. Kein Wunder, wenn sie sich weiterhin wie der Prinz von Dänemark und mit ebenso viel tragischer Intensität fragen, ob sie die Urheber ihrer Nöte sind oder ob es eine Gottheit gibt, die ihr Schicksal bestimmt. Daher kommt auch das Bewusstsein vieler in der arabischen Welt, dass die Araber, um ihre Gegenwart einzunehmen und sich für ihre Zukunft verantwortlich zu fühlen, mit einem gewissen Bild von sich selbst fertig werden müssen, das tief in ihrem kollektiven Unterbewusstsein vergraben ist. Als Araber und Muslime (und ich benutze „Muslim" hier im rein historischen, kulturellen und zivilisatorischen Sinne) hören wir nicht auf, uns uns selbst als Eroberer vorzustellen, als Gestalter der Geschichte, als Schrittmacher, Pioniere und Anführer in der weltgeschichtlichen Aufteilung. Im Mark unserer Knochen sehen wir uns als Subjekte der Geschichte, nicht als deren Objekt, als ihr Akteur und nicht als ihr Patient. Wir konnten uns niemals wirklich mit der Marginalität und der Reaktivität unserer Position in den modernen Zeiten abfinden, geschweige denn uns damit versöhnen. Tief unten in unserer kollektiven Seele finden wir es in Wirklichkeit unerträglich und eine Ungeheuerlichkeit, dass eine angeblich bedeutende umma (Nation) wie wir hilflos am Rand nicht nur der modernen Geschichte allgemein, sondern auch unserer jeweiligen regionalen Geschichte steht. Nicht weniger unerträglich finden wir den Zustand, das Objekt einer Geschichte zu sein, die von anderen gemacht, geführt, manipuliert und geregelt wurde, insbesondere wenn wir daran denken, dass diese anderen die Objekte einer Geschichte waren (und von Rechts wegen sein sollten), die von uns selbst gemacht, gefuhrt, manipuliert und geregelt wurde. Hinzuzufügen wäre eine nicht weniger tiefsitzende Überzeugung, dass diese Position weltgeschichtlicher Herrschaft und ihres Ruhmes uns geraubt und irgendwie vom modernen Europa usurpiert wurde, fi ghaflaten min al-tarikh (während die Geschichte ein Schläfchen hielt), wie wir auf Arabisch sagen. Ich sage usurpiert - und Usurpation ist der Kern von Hamlets Drangsal - , weil viele in der arabischen Welt glauben, dass diese Position uns gehören sollte, von Rechts wegen, aufgrund des Schicksals, der Wahlen, der Vorsehung oder weshalb auch immer. Mit dieser Ansicht Hand in Hand geht die Überzeugung, dass die Dinge sich letztendlich von selber lösen werden, indem der regierende westliche Usurpator, dessen Zeit ohnehin abläuft, entmachtet wird und den rechtmäßigen Füh-
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rem der Geschichte ihr rechtmäßiger Platz, ihre ehemalige Position und natürliche Funktion zurückgegeben wird. Gedanken und Sehnsüchte dieser Art treten klar und deutlich hervor im Werk von Autoren wie Ägyptens Hasan Hanafi und im späteren Werk ζ. B. von Anouar Abdel-Malek, sowie in den Abhandlungen, Analysen und der Propaganda der anspruchsvolleren islamistischen Denker und Theoretiker. Die Abfolge von Vorstellungen, die diese Denker als Krücke benutzen, könnte man zusammenfassen unter dem Titel eines europäischen Klassikers, Spenglers Untergang des Abendlandes, mit seiner falschen Schlussfolgerung, dass, falls der Westen an Macht verliert, dies den Aufstieg für die Araber und den Islam bedeutet. Oder, um es etwas anders auszudrücken (nämlich bezogen auf den Titel von Abdel-Maleks Buch Rih al-Sharq, Der Wind des Ostens), falls der Wind der Geschichte die Segel des Westens fallen lässt, dann muss er die des Ostens bewegen, womit hauptsächlich der Islam und die Araber gemeint sind. Der Titel eines unter Islamisten ähnlich berühmten Klassikers von Muhammad Qutb, Jahiliyyat al-Qarn al- 'Ishrin (Dschahiliyya des 20. Jahrhunderts), deutet an, dass die Araber und Muslime jetzt, da die europäische Moderne zum Ausgangspunkt des Zustandes von Dschahili zurückgekehrt ist {Dschahiliyya bezieht sich auf die Zeit der Ignoranz, des Heidentums und der Gottlosigkeit, die dem Aufstieg des Islam in Arabien voranging), kurz davor sind, die Menschheit noch einmal aus der Dschahiliyya herauszufuhren, die von Europa erschaffen und vom Westen im Allgemeinen verteidigt wurde. Aber dies ist nicht das Ende der Geschichte. Wenn ich die Klassiker des arabischen Nationalismus noch einmal durchgehe, scheint es mir jetzt, dass das tiefere Ziel dieser Werke die arabische Einheit war, und zwar nicht so sehr als Selbstzweck, sondern als Mittel, um diese widerrechtlich angeeignete Rolle weltgeschichtlicher Herrschaft zurückzuerobern. In Wirklichkeit war ihre größte, aber nicht zum Ausdruck gebrachte Sorge nicht so sehr Kolonialismus, Imperialismus, fremde Besetzung, Befreiung, Unabhängigkeit, Wohlstand, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit als solche, sondern die Wiederherstellung des Rechts, das dieser bedeutenden umma unrechtmäßig genommen worden war, die Hauptrolle in der Weltgeschichte zu spielen, für die sie sich selbstverständlich von Natur aus und von ihrer Mission her fur geeignet hielten. Schließlich waren durch die Geschichte hindurch die Kulturen auf unserem Teil des Erdballs immer die der Eroberung und der Expansion: das antike Persien, das Griechenland überfiel, Alexander, der Persien und alles andere innerhalb seiner Reichweite eroberte, Hannibal, Rom, der Islam, die Ottomanen, die europäische Moderne usw. Wenn also dieses Selbstbild, das nicht überprüft, nicht gestrichen ist, das tiefsitzend und äußerst stark ist, mit den allzu offensichtlichen alltäglichen Gegebenheiten arabisch-muslimischer Machtlosigkeit, Rückwärtsgewandtheit, Frustration und Bedeutungslosigkeit kollidiert, speziell auf der Ebene internationaler Beziehungen, dann wird alles möglich auf der arabisch-muslimischen
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Seite. Dies schließt gewaltige Illusionen ein, massive Minderwertigkeitskomplexe, enorme Wahnvorstellungen von Entschädigung, wildes Abenteurertum, politische Rücksichtslosigkeit, verzweifelte Gewalt und neuerdings in großem Rahmen Terrorismus einer Art, die man auf der ganzen Welt kennengelernt hat. Natürlich ist damit garantiert, dass einem weder die Gegenwart noch die Zukunft gehört. Stattdessen ist der Rückzug aus jeglicher Verantwortung gegenüber der Gegenwart wie der Zukunft vorprogrammiert. Den Widerspruch, den ich zu beschreiben versucht habe und mit dem sich meines Erachtens Araber (und Muslime) offen anfreunden müssen, wenn wir überhaupt irgendeine Zukunft haben wollen, ist vielleicht am besten - recht sanft, aber sehr ironisch - im Titel von Hussain Ahmad Amins pointiertem und anschaulichen Buch Dalil al-Muslim al-Hazin ila Muqtada al-Suluq fi alQarn al- 'Ishrin festgehalten. Der Autor ist ein berühmter ägyptischer Historiker, ein hochrangiger Diplomat und Sohn von Ahmad Amin, dem großen Historiker aus der Zeit, die der späte Albert Hourani das arabische liberale Zeitalter genannt hat. Interessanterweise spielt der Titel von Amins Buch auf den großen Klassiker von Moses Maimonides an, Dalalat al-Ha 'irin (Führer der Unschlüssigen). Eine freie Übersetzung von Amins Titel hieße: Ein Führer der traurigen und unschlüssigen Muslime für das Verhalten, das vom und im 20. Jahrhundert verlangt wird. Der heutige Muslim oder Araber, oder wen wir uns gerade denken, ist so traurig und unschlüssig in Amins Bericht, weil seine instinktiven Überzeugungen, sein tief empfundenes Selbstbild und seine gehegten Illusionen über umma, Religion, Kultur, Zivilisation, Schicksal und ihre Rolle und Funktion in der modernen Geschichte in jeder Minute seines Lebens Lügen gestraft werden von den tatsächlichen Gegebenheiten der heutigen Welt. Darüber hinaus werden die radikalen Transformationen, Revolutionen und Opfer, die erforderlich sind, um diesen Widerspruch zu überwinden, von Amins völlig frustriertem Araber oder Muslim weiterhin als unerträglich, unannehmbar und unerwünscht erachtet. Was bleibt ihm also, außer sich mit seiner traurigen Benommenheit direkt durch das 21. Jahrhundert hindurchzuwurschteln, während er die fromme Überzeugung in sich trägt, dass vielleicht eines Tages Gott oder die Geschichte oder das Schicksal oder die Revolution oder die moralische Ordnung des Universums den Usurpator zugrunde richten und seine eigene umma wieder in den Status der Weltherrschaft erheben wird. Währenddessen werden die Fortinbrasse dieser Welt die Erde auf seine Kosten eingenommen haben. (In Mamdouh Adwans Adaption von Hamlet, die vor einigen Jahren in Damaskus aufgeführt wurde, ist es zu dem Zeitpunkt, als der Prinz aufwacht, schon zu spät.) Unter diesen Umständen erscheinen verschiedene Arten der Gewalt mittels Action directe (einschließlich des Terrorismus in einigen seiner spektakulärsten Formen) als die einzigen Methoden, diese hoffnungslose Sackgasse zu durchbrechen. Die Moderne ist grundsätzlich eine europäische Erfindung. Europa erschuf die moderne Welt, ohne die Araber, Muslime oder irgendjemand anderen um
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Rat zu fragen und tat dies zu dem Preis, allen anderen einen Tritt zu geben. Man kann vor der Tatsache nicht weglaufen, dass die Araber auf der einen Seite schreiend und mit den Füßen tretend in die Moderne gezerrt wurden und dass die Moderne ihnen auf der anderen Seite durch mehr Macht, Effizienz und Leistung aufgezwungen wurde. Die Kreuzzüge wurden letztendlich abgewehrt, aber Bonapartes militärisch unbedeutender Feldzug und sein Abenteuer in Ägypten und Palästina trugen nicht nur einen Sieg davon, sondern räumten auch gründlich mit allen auf, die historisch die Fähigkeit verloren hatten, auf unserer Seite des Mittelmeers zu leben und zu bleiben. Der eklatante Unterschied zwischen den Folgen der Kreuzzüge und den Folgen des französischen Feldzugs von 1798 stellt, was uns betrifft, die Essenz der europäischen Moderne dar und stellt sie zu unserer Zurechtweisung und zu unserer Erbauung zur Schau. Meiner Ansicht nach erzeugte das moderne gewaltsame Eindringen der Europäer in das islamische und das arabische Reich einen eindeutigen, ausschlaggebenden und endgültigen Bruch mit der Vergangenheit, den ich nur vergleichen kann mit dem nicht weniger eindeutigen und endgültigen Bruch, der durch die gewaltsame arabisch-muslimische Einmischung in die Geschichte des sassanidischen Persien hervorgerufen wurde. Und so wenig Sinn die Geschichte von Persien nach seiner Eroberung ohne die Araber, den Islam und ihren Ausbruch ins dortige Farsische ergibt, so wenig Sinn ergibt die Geschichte des arabischen Reiches nach Bonaparte ohne Europa, die Moderne und deren Ausbruch in die dortige arabische Welt. Ich glaube, wir können dieser Realität nicht ausweichen, egal wie oft wir die Teilwahrheit und oft wenig überzeugende Rationalisierung wiederholen, dass das moderne Europa sowieso alles von uns bekommen hat: Averroes, die andalusische Hochkultur und Zivilisation, die arabische Wissenschaft, Mathematik, Philosophie und alles andere. Ohne sich schließlich ernsthaft und eingehend mit diesen schmerzlichen Realitäten und ihren bis jetzt lähmenden Widersprüchen, Spannungen, Paradoxien und Anomalien zu befassen, kann den Arabern weder ihre Zukunft gehören noch können sie irgendeine wahre Verantwortung für die Gegenwart haben. Mit anderen Worten, entweder finden wir uns kritisch mit diesem tiefsitzenden, ritualisierten und vielschichtigen Komplex hoch emotionaler Überzeugungen, Einschätzungen und Bilder ab, die wiederum der Heiligkeit, dem Tabu, der Unveränderlichkeit übernommener Illusionen, archaischer Institutionen, dysfunktionaler Grundhaltungen und Übereinkünfte, den anachronistischen, aber in Ehren gehaltenen Formen des Lebens, Denkens, und Regierens ihre Bestätigung geben, oder die Fortinbrasse dieser Welt werden wieder den Sieg davontragen und das letzte Wort haben. Gibt es dann einen unausweichlichen Kampf der Kulturen zwischen einem archaischen islamischen Reich und dem modernen säkularen Westen, wie es Samuel- P. Huntington in seinem berühmten Buch, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, behauptet? Im engeren und wörtlichen Sinne
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des Wortes clash (Zusammenstoß) nein, aber im weiteren und übertragenen Sinne des Begriffs lautet die Antwort ja. Ich lese in Huntingtons Grundthese zwei Dinge. Erstens hörte nach dem Zusammenbruch des Weltkommunismus in seinem innersten Kern die feindliche Rivalität zwischen zwei miteinander unvereinbaren ökonomischen Systemen (oder Methoden der Produktion und Distribution, wenn Ihnen das lieber ist) auf, die Hauptquelle schwerwiegenden internationalen Konflikts (und möglicher Kriege) zu sein. Zweitens liegen diese Quellen jetzt in der antagonistischen Selbstbehauptung und dem Konkurrenzkampf der großen, umfassenden und mehr oder weniger abgeschlossenen Systeme fundamentaler Ansichten und Werte, die den Weltschauplatz nach dem Kalten Krieg beherrschen, nämlich der traditionelle Islam auf der einen, der triumphierende westliche Liberalismus auf der anderen Seite. Das heißt, dass wir jetzt, da die historischen Herausforderungen des Kommunismus, des Sozialismus, der Arbeiterbewegung und der Dritten Welt für die westliche kapitalistische Vorherrschaft eindeutig an ihr Ende gelangt sind, nach den Quellen internationaler Spannung in den bestehenden vorrangigen Glaubens- und Wertesystemen suchen müssen, die nicht nur mit dem kapitalistischen Liberalismus unvereinbar sind, sondern auch miteinander. Für Huntington scheint sich die Zivilisation selbst zur Kultur zu reduzieren, und Kultur zu Religion, und Religion zu einer archetypischen Konstante, die den Homo islamicus zwangsläufig auf Kollisionskurs mit, sagen wir mal, dem Homo economicus des Westens und seinem instinktiven Liberalismus schickt, sowie Indiens Homo hierarchicus und seinem natürlichen Polytheismus. Ich glaube, es ist eindeutig, dass Huntingtons These sowohl eine Rückkehr zur altmodischen deutschen Philosophie des Geistes bedeutet als auch eine Rehabilitation des klassischen orientalistischen Essentialismus, den Edward Said in seinem Buch Orientalism so gut zunichte gemacht hat. Was mir in diesem Kontext unmittelbar in den Sinn kommt, ist beispielsweise die berühmte Zusammenstellung von Geist und dem System protestantischer Ethik und ihrer fundamentalen Werte, die von Max Weber benutzt wurde, um den Aufstieg des Kapitalismus in Europa zu erklären. Hier sehen wir den Geist des Kapitalismus im Kampf mit dem vorherrschenden Geist des Feudalismus, und die neue protestantische Ethik im Kampf mit ihrem Vorläufer, dem benachbarten und rivalisierenden römisch-katholischen Glaubenssystem. Webers Rivalität der beiden Einstellungen und Ethiken bekommt durch Huntington einen globalen und internationalen Rahmen. Dieser Gegensatz von Einstellungen und Glaubenssystemen ist nicht rein historisch, soziologisch oder evolutionär, sondern essentialistisch, ontologisch und statisch. Solche Art ahistorischer und antihistorischer Logik bereitet den Boden für den Kampf der Kulturen, indem ein konkretisiertes System grundsätzlicher westlicher Vorstellungen und Werte in ausschließender Weise gegen ein anderes konkretisiertes, aber unvereinbares System gleichermaßen grundlegender muslimischer Vorstellungen und Werten gestellt wird.
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Auf einer mehr praktischen Ebene bedeutet das, dass Werte wie Liberalismus, Säkularismus, Demokratie, Menschenrechte, religiöse Toleranz, freie Meinungsäußerung usw. als höchste Werte des Westens angesehen werden, von denen die muslimische Welt auf Dauer ausgeschlossen ist, weil ihre eigenen höchstgeschätzten Werte bis ins Innerste antithetisch sind zum Liberalismus, Säkularismus, der Demokratie und allem anderen. Die Ironie dabei ist interessanterweise, dass die Islamisten sich selbst in voller Übereinstimmung nicht nur mit Huntingtons These befinden, sondern auch mit deren theoretischen Auswirkungen und praktischen Folgen. Ihre Theoretiker und Ideologen reduzieren Zivilisationen ebenfalls auf Kultur, Kultur auf Religion, und Religion auf inhärent unvereinbare archetypische Konstanten, die mit- und gegeneinander kämpfen. Für sie wird der Islam am Ende triumphierend als Sieger hervorgehen. Um vorübergehend die Härte der These vom Kampf der Kulturen zu mildern, rief der iranische Präsident Khatami stattdessen zu einem Dialog der Kulturen auf. Das Hauptanliegen des Präsidenten ist natürlicherweise ein Dialog zwischen dem Islam und dem Westen allgemein und dem Iran und den Vereinigten Staaten insbesondere. Auf lange Sicht ist Khatamis Ruf heuchlerisch, denn die islamistische Version der Huntington'sehen Logik, auf die er strategisch festgelegt ist, erfordert einen Kampf der Kulturen und den endgültigen Triumph der eigenen. Auf kurze Sicht ist er ehrlich, denn der Dialog ist keine schlechte vorübergehende Taktik für die weitaus schwächere Seite in dieser Konfrontation. Ich glaube, dass der Kampf der Kulturen zwischen dem Islam und dem Westen in dem weiteren und normalen Sinne von clash bereits existiert, aber in der engeren und dramatischeren Bedeutung des Begriffs nicht passieren wird. Der Islam ist schlichtweg zu schwach, ernsthaft irgendwelche Herausforderungen oder Konfrontationen auszuhalten, die einen offensichtlich triumphierenden Westen ernsthaft bedrohen. Genaugenommen bildet der heutige Islam nicht einmal eine „Zivilisation" in der aktiven, tatsächlichen Bedeutung des Wortes. Man könnte vom Islam sagen, er stelle eine Zivilisation im historischen, traditionellen, passiven, reaktiven und folkloristischen Sinne dar, aber nicht mehr. Die beiden angeblich kämpfenden Seiten sind so ungleich in ihrer Macht, militärischen Stärke, Produktionsleistung, Effizienz, in ihren erfolgreichen Institutionen, dem Wohlstand, gesellschaftlichen Organisationen, der Wissenschaft und Technologie, dass der Kampf nur ein Kampf auf irrelevantem Niveau sein kann. Denn, wie ein Bild aus der Literatur beschreibt: Wenn das Ei auf einen Stein fällt, bricht das Ei, und wenn der Stein auf das Ei fallt, bricht das Ei ebenfalls. Das ist der Grund, weshalb von der arabisch-muslimischen Seite der Kluft der Westen für feine Augen so mächtig aussieht, so leistungsfähig, so erfolgreich, so unaufhaltsam, dass der bloße Gedanke an einen ultimativen clash unrealistisch erscheint.
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Was die momentanen Probleme, Schwierigkeiten, Spannungen, Verdächtigungen, Konfrontationen und Feindseligkeiten angeht, die die Beziehungen des Islams zum Westen charakterisieren, so sind sie gewiss keine rein geistigen Angelegenheiten, oder Kämpfe religiöser Ideen oder sich widersprechender theologischer Interpretationen, oder bloße Fragen des Glaubens, der Werte, der Bilder und Auffassungen. Sie sind Teil normaler geschichtlicher Angelegenheiten, Angelegenheiten der Machtpolitik, der internationalen Beziehungen und des Verfolgens wichtiger Interessen.
A. d. Engl. v. Cornelia
Brabant
Mustapha Laarissa
V O M POLITISCHEN GEBRAUCH DES RELIGIÖSEN
Der Titel zeichnet in gewisser Weise die Schwierigkeit nach, die darin liegt, die Frage der Beziehung zwischen Religion und Politik frontal zur Sprache zu bringen. Wie soll man die Trennlinie zwischen Politik und Religion wieder herstellen? Was ist eigentlich Politik? Was ist eigentlich Religion? Welche Probleme verstecken sich hinten diesem Singular: die Religion? 1st alles in der Politik politisch? 1st alles in der Religion religiös? Wodurch könnte eine Politik - auch wenn sie selbst laizistisch wäre - auch künftig vor dem Religiösen schützen, was den Gebrauch von Glaubenshaltungen und die Errichtung von Wahrheits-Regimen betrifft? Andere Arten von Fragen weniger allgemeiner Art drängen sich ebenso auf: Wie kann man die so genannte Politisierung des Religiösen und umgekehrt die Theologisierung der Politik im Islam zur Sprache bringen, die jedoch nicht einfach mit Islamismus zu verwechseln ist, wenngleich dieser sich auf sie bezieht und sie einfordert? Was ist irrig daran, im Islam unbedingt eine politische oder eine apolitische Essenz finden zu wollen? Was versteckt sich hinter der oft übereilten und in jedem Fall sehr problematischen Bezeichnung politischer Islam? Die den muslimischen Gesellschaften eigenen historischen Prozesse konfrontieren uns kontinuierlich mit einer essentiellen Pluralität, die für diesen „einen" politischen Islam konstitutiv ist. Die Zahl der islamischen und islamistischen Bewegungen (letztere interessieren uns hier) steigt unaufhörlich und verstärkt sich aufgrund des gegenwärtigen politisch-militärischen Spiels mit den Kräften und Konflikten im Namen der Welt, sie nehmen weiterhin weit auseinanderliegende und manchmal sogar todbringende konträre Organisationsformen an, in weit verstreuten Orten und Gegenden (Marokko, Tunesien, Algerien, Ägypten, Iran, Pakistan, Afghanistan, Libanon und anderswo.) Dennoch, und ohne all diese Schwierigkeiten aus den Augen zu verlieren, die das Verhältnis des Politischen zum Religiösen mit sich bringt, glaube ich, dass wir vor Bewegungen stehen, die, obwohl sie häufig in Bezug auf ihre politischen Projekte divergieren, eine gewisse Gemeinsamkeit von Bezügen und von Grundthesen beibehalten, was es erlaubt, einen schematischen Gesamtüberblick über sie zu geben. Um dies zu tun, stütze ich mich auf die hervorragende Untersuchung und die Schlussfolgerungen des arabischen Philosophen Adel Dhaher. Er fasst fünf Grundthesen der fundamentalistischen Muslime zusammen:
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1. Vorrang des Offenbarten, ob mündlich oder als Text, gegenüber jeglicher anderen Quelle, in diesem Fall auch gegenüber der menschlichen Vernunft. 2. Der Islam ist gleichzeitig dirt wa dawla, Religion und Politik; die Religion ist vom Staat unabtrennbar. 3. Der Mensch kann die Angelegenheiten seines irdischen Lebens weder ohne göttliche Orientierung, mit anderen Worten ohne religiösen Führer, noch ohne Erleuchtung durch göttliche Eingebung begreifen. 4. Der offenbarte Text stellt ein Gesetz dar und fungiert als Hauptquelle für jede Gesetzgebung, chariaa, daher das Verb, charra'a, also zum Gesetz machen; also Vorrang des Offenbarten als Quelle des Rechts gegenüber dem, was in der Geschichte geschieht. 5. Es gibt keine Unvereinbarkeit zwischen Islam und Demokratie, insofern die choura (das System der Beratung) das demokratische System ersetzt. Dhaher stellt fest, dass die vier ersten Thesen auf andere Fundamentalismen, die aus anderen Religionen (Judentum, Christentum und Buddhismus) stammen, übertragen werden können, während die fünfte These charakteristisch für die innerislamische Debatte bleibt. Zu bezweifeln ist jedoch, ob die islamistischen Fundamentalisten auf ihrer überzeugten Behauptung der Gleichsetzung von Religion und Politik beharren können. Die fundamentalistischen Muslime sind weit von einer wirklichen Zustimmung zum demokratischen Ideal entfernt, selbst wenn sie auf das System der choura verweisen und dies als Demokratieäquivalent auffassen; ja man muss sich angesichts der radikalen Verschiedenheit der historischen und ideologischen Referenzbereiche von choura und Demokratie sogar fragen, ob diese Annäherung nicht lediglich ein zutiefst opportunistisches politisches Manöver ist. Bürgertum im modernen demokratischen Sinne ist weit entfernt von einer Gleichsetzung mit der Haltung des „Dienens" gegenüber Gott im religiösen Glauben und der Praxis der Fundamentalisten. Erinnern wir uns zudem daran, dass die Politisierung der Religion, ebenso wie die politische Verwendung des Religiösen, weder ausschließlich muslimischen Gesellschaften noch ausschließlich Fraktionen und Bewegungen, die innerhalb dieser Gesellschaften entstanden sind, zu eigen ist. Fundamentalistische Bewegungen existieren sehr wohl außerhalb der muslimischen Welt (der Fall Israel spricht für sich) und manchmal sogar dort, wo man es am wenigsten erwartet (die Vereinigten Staaten von heute, wo gerade die politische Rechte mitwirkt an der Umsetzung einer fundamentalistischen Weltsicht, mit allen kriegerischen Folgen, die sich daraus ergeben ...). Man müsste wohl herauszufinden versuchen, was die fundamentalistischen religiösen Bewegungen überall in der Welt gemeinsam haben, ihre Ähnlichkeiten und ihre Nähe zueinander jenseits der Verschiedenheit der Zugehörigkeits-Kontexte, aus denen sie stammen. In jedem Fall steht eine Konstante im Zentrum aller religiösen Fundamentalismen: der Rückgriff auf religiöse Über-
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legungen, um sich Zugriff auf das öffentliche Leben und die politischen Entscheidungen ihrer Anhänger zu sichern. Diese Überlegungen werden immer aus so genannten „heiligen" Texten geschöpft, die einer göttlichen Instanz zugeschrieben werden. Der politische „Mehrwert", der sich daraus ergibt, ist enorm: eine symbolische Überlegenheit über jegliche rivalisierende Vorstellung, ein Erkenntnisprivileg und eine Tendenz, das Absolute des transzendentalen Bezuges über jegliche menschliche Erkenntnis und jegliches menschliche Handeln triumphieren zu lassen. Politik auf Religion zu gründen bedeutet in diesem Zusammenhang, den religiösen Gesichtspunkt als überlegene moralische Autorität aufzubauen gegenüber jenen, die Politik auf säkularisierter Grundlage verwenden, was man sogleich dem Zustand der Ungläubigkeit, des kofr (Religionslosigkeit) und des jahilia (Zeitalter der Unwissenheit) gleichsetzt. Und insofern der Übergang von der Religion zur Politik über einen Vermittler geschieht, einen Meister, Scheich, Ayatollah oder eine andere politisch-religiöse Institution, wird es in einer solchen Konfiguration schwierig, eigenständig zu denken und unabhängig von jeglicher Quelle der Offenbarung auf eine angemessene private wie öffentliche Lebensführung zu achten. Also Vorrang von naql (dem entsprechenden Offenbarungstext) vor aql, der menschlichen Vernunft, die versucht, mit ihren eigenen Mitteln die realen Lebensumstände zu bewältigen. Diese Festlegung auf und durch den Text der Offenbarung ist keine Eigenheit des buchstabengetreuen muslimischen Fundamentalismus (der überzeugt ist, die Bedeutung auf der Ebene des Wortlauts der Äußerungen finden zu können). Äquivalente hierzu lassen sich auch in anderen religiösen Traditionen finden. Natürlich ist die hier genannte buchstabengetreue Auslegung nur eine Wirkung von Lektüre und Interpretation; man kann weder die Übereinstimmung einer früher offenbarten Bedeutung mit späteren Gegebenheiten noch die Vereinbarkeit heiliger Botschaften mit dem Fluss von Ereignissen, die ihnen nachfolgen, behaupten, ohne eine interpretierende Arbeit zu leisten, die eben diese Botschaften transformiert - ohne also selbst eine Äußerung auszufuhren, die, wie uns Linguisten und Pragmatiker lehren, immer einen eigenen Raum und eine eigene Zeit voraussetzt. Um die Brücke zu schlagen zwischen dem, was „wirklich" in einer vergangenen Zeit gesagt wurde, und dem, was jenseits des ursprünglichen Raum-Zeit-Rahmens gelebt wird und sich ereignen kann, sind Auslegung und Interpretation zwingend, damit der Graben der Zeit gefüllt und die erste Bedeutung wiederhergestellt wird, so dass man sich jedes Mal wieder in der Gegenwart einer komplexen Praxis findet, die sich in keiner Weise reduzieren lässt auf eine einfache Sinn- und Bedeutungssammlung auf der Basis einer Lektüre, die angeblich den offenbarten Text buchstabengetreu berücksichtigt. So ließe sich die Vielzahl von Instanzen und Institutionen erklären, die - als Vermittler - diese buchstabengetreuen Quellen „rezipieren", um sie den Anwendern zur Verfugung zu stellen. Diese Vermittler sind in Wirklichkeit in den Spielen des Wissens und den Macht-Beziehungen gut verankert. Daher
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wäre es interessant, das Kapitel der Interkulturalität in Hinblick auf diese Frage nach den Ähnlichkeiten zwischen religiösen Fundamentalismen zu öffnen, die zwar gewiss aus verschiedenen kulturellen Zusammenhängen stammen, sich jedoch überschneiden, was ihren Wunsch nach Macht und Herrschaft betrifft. Die Religion zu politisieren oder die Politik zu theologisieren, indem man deren Praxis und Handlungen auf einen transzendentalen Text rückbezieht, läuft darauf hinaus, sie unter die Vormundschaft einer Autorität zu stellen, die sich selbst oberhalb jeder menschlichen Fähigkeit ansiedelt, um in unser tägliches Leben einzugreifen, unser Verhalten zu formen und unser Schicksal festzulegen: Die menschliche Vernunft findet sich somit in ihrer Aktions- und Reaktionsfähigkeit sehr eingeschränkt; Leitmotiv ist demgegenüber die Beachtung der heiligen Texte und dessen, was aus deren wörtlicher Lektüre hervorgeht. Diese Buchstabentreue ist jedoch nur ein Trugbild, nämlich der Versuch, das, was gesagt wurde, und das, was gemeint ist, einander anzunähern; genauso erfordern auf der politischen Ebene Demokratie und choura eine subtile Interpretationsarbeit; die bloße wörtliche Lektüre würde nie die Möglichkeit einer solchen Annäherung oder Austauschbarkeit ergeben. Fragen wir uns nach diesen Bemerkungen also, was aus der Demokratie wird in einer Gesellschaft oder einem Staat, in dem sich die religiöse Bezugnahme als ausschließliche Quelle jeder Macht und jeder Gesetzgebung darstellt. Einfach behaupten, ein Staat theokratischen Charakters könne mit einem demokratischen Staat vereinbar sein, wäre ein absurdes Höchstgebot. Dennoch vertreten wir nicht die Vorstellung, dass jeder Hinweis auf die Religion in sich selbst schädlich sei, oder dass die Willkür der Politik das Schicksal der Religion, im vorliegenden Fall des Islam, besiegeln würde. Weder ist die Politik das Fatum der muslimischen Religion noch ist die Vernunft ihr alter ego. Man muss den Islam in seiner Historizität und in der Materialität seiner Kontingenzen aufgreifen, um diese Frage zu beantworten. Vernunft und Religion ist zu bestimmten Zeitpunkten in der Geschichte der islamischen Gesellschaften durchaus eine Begegnung geglückt. Der Islam ist seinem Wesen nach weder theokratisch noch laizistisch oder antilaizistisch. Nimmt man ihn in den historischen und sozialen Erfahrungen, die nicht aufeinander reduzierbar sind, so erweist sich der Islam immer wieder als Hintergrund für unterschiedliche politische und rituelle Praktiken, trotz grundsätzlicher Gemeinsamkeit auf der doktrinären Ebene. Somit ist die Frage der Beziehung zwischen Politik und Religion in Wirklichkeit eine historische Frage, die sich eher aus der Kontingenz und dem Zufall ergibt als aus einem Wesen, das, ein für alle Mal und unumstößlich etabliert, den Islam als Zivilisation über seinen religiösen Kern hinaus charakterisieren würde. Die Geschichtlichkeit der Beziehung zwischen Religion und Politik ist eine Frage von großer philosophischer und anthropologischer Bedeutung; sie eröffnet uns die Möglichkeit, ja sogar Notwendigkeit, verschiedene Arten und Weisen des Seins und des Handelns in Betracht zu ziehen, in denen der Islam als
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strukturelles Element enthalten wäre, gelebt würde, dekliniert würde in variablen Praktiken und Erfahrungen, wie die historischen und politischen Ereignisse von der Ausbreitung des Islams bis in unsere Tage uns unaufhörlich zeigen. Im Übrigen war die Bildung islamischer Staaten innerhalb der muslimischen Gesellschaft immer eine Frage der Umstände und erkennbarer und datierbarer Gegebenheiten, die auch heute über einen Rahmen „gleicher muslimischer Gesellschaften" hinausgehen. Wenn die Bedingungen heute nicht mehr jene der Muslime von gestern sind, ist es folglich durchaus normal, wenn auch die Lebensstile, die mit jenen verbunden waren, aufgefordert sind, anderen, völlig neuen oder von andernorts gekommenen Lebensweisen Platz zu machen angesichts der Austauschbewegungen, der Zirkulation, der wechselseitigen historischen Durchdringungen, denen die muslimischen Gesellschaften nicht entkommen konnten. Im Glauben, die Gründung eines islamischen Staates, in dem sich Religion und Politik decken, in der gleichen Konfiguration und der gleichen Praxis, sei eine religiöse Verpflichtung, liegt der Irrtum, dessen Folgen unheilvoll sind; das Verhalten und das derzeitige und künftige Leben sind im Vorhinein besiegelt, der Triumph der salaf (der Vorfahren) über die khalaf (die Nachkommen) ist unwiderruflich, weil der Code, der der Geste vorgängig ist, dies definitiv festlegt. Genau hieraus schöpft der Salafismus als nostalgischer Abgesang eines „goldenen Zeitalters" eine seiner hauptsächlichen Grundlagen. Im muslimischen Glaubenssystem ist Allah Schöpfer von allem, und nichts geschieht außerhalb seines Willens. Das ist eine grundlegende Überzeugung, die in der Praxis des muslimischen Gläubigen von nichts in Frage gestellt werden darf. Gott kann alles, er umfasst alles mit seinem Wissen und seinem Willen und wird gerade deshalb zur Quelle moralischer Verpflichtung für den Muslim, der seinerseits sein Wollen dem Wollen Gottes einschreibt: Hier liegt - wie Adel Dhahir zu Recht feststellt - „der doktrinäre Kern des Islam", die Existenz eines einzigen Gottes, des ewigen Schöpfers. Die vertikale Verbindung zwischen dem Menschen und Gott durchkreuzt die horizontale Beziehung des Menschen zur Welt und ist ihr vorgängig, die politisch-religiöse Verbindung wird in diesem Kontext somit zur unausweichlichen Folge. Das verwundert nicht. Die These vom Islam als din und dawla, Religion und Staat, findet hier ihren Ursprung und erklärt die Feindseligkeit der Orthodoxen gegenüber jeglichem Paradigma des Laizismus. Die Islamisten halten in der Tat die These einer Unvereinbarkeit von Islam und Laizismus aufrecht, die aus deren beider Natur folgt. Letzterer wird häufig als Religionslosigkeit oder sogar als Krieg gegen die Religion angesehen. Wir finden hier auch die Neigung wieder, den Islam als substantiell anti-laizistisch zu essentialisieren. Diese These verliert ihre ganze Kraft, wenn man die Realität bestimmter islamischer Staaten genauer betrachtet, in denen der Islam als Religion und als zivilisatorische Grundlage vorherrscht. Länder muslimischer Kultur und Sensibilität haben durchaus den Laizismus als politisches Organi-
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sationsprinzip verwendet. Andere Länder mit anderen monotheistischen Traditionen haben ebenfalls Laizität als politische Wahl getroffen und praktiziert, nämlich als Trennung von Religion und Politik und als Reduktion religiöser Glaubensfragen auf die Sphäre des privaten Lebens. Hieraus können wir also schließen, dass die Islamisten entweder den Monotheismus selbst für sich beanspruchen und monopolisieren oder aber darin Unrecht haben, zwischen Religion und Laizismus eine Nicht-Kompatibilität zu sehen. Die Gründe eines solchen Widerstandes sind im theokratischen Modell der Legitimität und der Macht zu suchen, das durch diese fundamentalistischen Strömungen propagiert wird, wo der Mensch im Namen einer göttlichen Kraft regiert wird, die jede Beziehung der Gleichheit und effektiven Konstitutivität zwischen den Menschen transzendiert. So taucht also als logische Folge dieser Frage die nicht weniger problematische Frage nach der Demokratie auf. Gegenüber der Demokratie variieren die islamischen Interpretationen und Positionen: von einer einfachen und klaren Ablehnung von Seiten bornierter Konservativer über eine unentschiedene Annäherung und Vermischung bei Politikern und verkleideten Orthodoxen, die auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzen, bis hin zur fragmentarischen und schließlich unrealisierbaren Verwendung bei einigen Denkern, die um die Ehrfurcht besorgt sind und kollektiven Entscheidungen und einer etwas forcierten Synthese zwischen Tradition und Modernität unkritisch gegenüberstehen. Die Islamisten, die auf die Demokratie mit kategorischer Ablehnung reagieren, rechtfertigen ihre Einstellung im Allgemeinen mit dem Umstand, dass die Demokratie ein an eine andersgeartete, ja sogar konkurrierende und islamfeindliche Zivilisation gebundener Entwurf sei, die westliche Zivilisation eben; die Prediger des Zusammenstoßes der Kulturen verstärken sie nur allzu sehr in dieser Einstellung. Was jene betrifft, die als Äquivalent die choura, die Praxis der Beratung akzeptieren, so behalten sie von der Demokratie nur die Idee einer politischen Vertretung bei, berauben sie also ihrer kulturellen und historischen Tiefe, die aus ihr in der Tat mehr macht als nur eine einfache Verfahrenspraxis. Merkwürdigerweise verkünden Denker wie Abed Jabri, ein arabischer Philosoph, der sich der kritischen Analyse der arabischen Vernunft widmet, dass das Problem der muslimischen Welt heute darin läge, eine demokratische Gesellschaft zu gründen, nicht eine laizistische (dies bleibt für ihn ein Problem der christlichen Minderheit innerhalb der muslimischen Welt). Für Jabri gibt es also eine Möglichkeit, politischen Islam und Demokratie miteinander in Einklang zu bringen, aufgrund „der Nicht-Existenz eines Klerus im Islam" (Wunsch oder Wirklichkeit?!). Auf diese Art und Weise weicht Jabri dem Problem des Laizismus als einem künstlichen Problem aus. Adel Dhaher bestreitet diese Trennung von Demokratie und Laizismus, da letzterer seines Erachtens notwendige Bedingung jeder Demokratie ist, weil Demokratie nicht in einem System aufblühen kann, das die Religion als Grundlage festlegt.
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Für meinen Teil mache ich Jabri den Vorwurf, Politik auf ihre sichtbaren, oder, wie Deleuze sagen würde, molaren institutionellen Manifestationen zu reduzieren, und sich nicht zu erlauben, nach ihrem mikroskopischen Niveau zu suchen. Das würde unausweichlich eine Mikrophysik der Politik nach sich ziehen und eine Anatomie des Despotismus und der totalitären Praktiken bei den religiösen Fundamentalisten, dem nichtdeklarierten Klerus im Inneren der muslimischen Gesellschaften, wo es tatsächlich Formen eines Klerus gibt, wie aus dem Spiel um die Herrschaft über das Leben und die politischen Entscheidungen der Gläubigen in diesen Gesellschaften zu schließen ist, ebenso aus den inquisitorischen Praktiken und dem Entzug aller möglichen Freiheiten, überall dort, wo diese Emire des Glaubens und Gottesritter daran arbeiten, ihre Wahrheiten in den Lebensstil des Alltags zu übersetzen. Kreativität oder Revirement bei Jabri wie bei so vielen anderen heutzutage, wo die Vernunft attackiert wird und die formale Demokratie Gefahr läuft, populistische politische Parteien religiöser Couleur nach vorne zu bringen! Indem sie fur sich den abrahamitischen doktrinären Kern des Monotheismus beanspruchen, dem der Islam angehört, verbuchen die fundamentalistischen Muslime das Dogma, nämlich: „Wir wollen, was Gott will", für sich und gelangen gewissermaßen zur Ablehnung der Demokratie durch eine bewusst getroffene Entscheidung von Menschen aufgrund von Lebensbedingungen und vernünftigen Erwägungen. In der Tat kann ein demokratisches politisches System nicht in einem religiösen Staat gedeihen, sei dieser nun islamisch, christlich oder jüdisch, denn der religiöse Staat nährt sich auf einer bestimmten Ebene aus der despotischen Versuchung und verstärkt totalitäre Praktiken, wie Hannah Arendt sie beschrieben hat. Die Demokratie kann nicht wirklich das Attribut eines religiösen Staates sein! Man kann im Übrigen eine Art „Episteme" schematisch skizzieren, die religiösen Staaten zu eigen ist, die man leicht bei den islamistischen Integristen wiederfindet und die uns sofort zum totalitären Paradigma zurückbringt, obwohl ihr eine direkte Bezugnahme auf eine Religion im üblichen Sinn des Wortes fehlt. Die theologisch-politischen Reden der Islamisten führen in der Tat eine Reihe von Konzepten an - Schlaglichter, die diese totalitäre Grundlage illustrieren können; wir zitieren einige von ihnen: - chariaa oder das göttliche Gesetz; - hakimiya oder die ausschließliche Macht Gottes; - die absolute Zentralposition des Vermittlers zwischen Gott und Menschen als Imam, Scheich, Kalif, Ayatollah (Beweis Allahs) oder unter einem anderen Namen; - der umfassende Einfluss auf das Leben der unterworfenen Subjekte, hier unten und im Jenseits; - die hegemoniale Durchdringung des Lebens des Gläubigen bis in die unscheinbarsten Bereiche ihrer physischen, moralischen und sozialen Existenz;
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- das Ausradieren der Grenzlinie zwischen privatem und öffentlichem Leben, auf das die verstärkte Verbindung zwischen din und dawla verweist; - die Transzendenz und der hermetische Charakter des Gesetzes wie auch desjenigen, der es repräsentiert; - der Persönlichkeitskult um den Führer, der zwangsläufig an den Status des höchsten Führers totalitärer Parteien erinnert; - der Clan-Geist auf der Grundlage einer „negativen Solidarität" gegenüber dem Anderen, dem Andersartigen, dem Fremden, mit dem zusätzlichen Konformismus einer Masse, die schweigend und ohne kritischen Geist folgt; - die Abgeschlossenheit des Systems und der Gruppe - so sehr das Rekrutieren neuer Mitglieder gewünscht wird, so unversöhnlich ist die „kon-zentrierende" Praxis in Hinblick auf die Weltsicht. Schauen wir uns das ein wenig näher an. Die religiöse Doktrin des Politischen versteht sich in der Tat als total und allgemein. Sie will sich mit dem Leben auf Erden und darüber hinaus befassen, mit Hilfe göttlicher Gesetze als Quelle und Referenz für jedes Gesetz und jede menschliche Verhaltensregel; letztere dürfen ersteren in keiner Weise widersprechen. Daraus folgt eine sehr erfindungsreiche Arbeit von Interpretationstechniken und ta 'wil (vergegenwärtigen, was sich in der ursprünglichen Bedeutung der Dinge ereignet). Die göttlichen Gesetze, die dem Propheten und Gesandten Gottes offenbart wurden, erfordern eine Instanz, die sie rezipiert, interpretiert und bei den Anwendern verbreitet, was einen privilegierten Status erzeugt und zum Zentralismus desjenigen fuhrt, der mit dem „Interpretieren" beauftragt ist und der auch die Auswirkungen auf praktischer und politischer Ebene ermessen kann. Es gibt hier bereits einige Mechanismen, die den religiösen Staat und den Totalitarismus zusammenbringen: die Unterordnung der menschlichen unter die göttlichen Gesetze, die Totalisierung dieser Gesetze auf die Gesamtheit des Lebens der Betroffenen, die Zentralisierung der Macht in den Händen einer Elite oder einer Organisation: eine besondere Form von Klerus; der Fall des Irans ist ein beredtes Beispiel. Alle islamistischen Strömungen treffen sich in der Vorstellung, der Islam sei zugleich Religion und Politik, und diese Beziehung sei eine notwendige Beziehung, die aus dem Wesen des Islam herrührt und nicht das Produkt historischer Umstände ist, diktiert durch die Genese und Konstituierung des Islam über soziale und politische Konflikte, welche die Geschichte uns zeigt. Diese Synthese zwischen din und dawla, Religion und Politik, fällt auf jeden Muslim herab wie ein kategorischer Imperativ. Die theologisch-politische Literatur in diesem Bereich ist reichhaltig: Sayed Qotb, Mawdoudi, Abessalam Yassine, Qaradaoui, die Strömungen des Wahhabismus, der Khomeynismus und andere sind nur deren jüngste Variationen. Die Theorie der hakimiya, verstanden als ausschließliche Macht Gottes, die durch dessen irdische Vertreter übersetzt werden muss, unterminiert die demokratische Konzeption von Macht, die ihrerseits die Legitimität der politischen
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Praxis auf die Sphäre der Stadt, der Bürger, des demos zurückfuhrt. Letztlich ist es Gott, der leitet. Der Mensch vertritt nur dessen Willen; die politische Forderung wird zur religiösen Forderung und beansprucht damit einen absoluten Charakter. Der religiöse Staat kann also nicht umhin, in den Absolutismus zu verfallen, indem er sich selbst zur Repräsentation des Göttlichen unter den Menschen macht! Und schließlich geht man dazu über, die eigene Verehrung als Vertreter Gottes einzufordern und die „Ordnung", die man auferlegt, mit dem Absoluten und der Heiligkeit zu rechtfertigen. Die Forderung nach ta 'ha (Gehorsam) und imtithal (Unterordnung) unter die göttlichen Befehle (chariaa) übersetzt sich zugleich in eine ta 'ha und ein imtithal gegenüber den Befehlen ihrer weltlichen Vertreter, die zugleich politische Chefs und religiöse Führer sind. Das Politische stützt sich also auf eine absolute Legitimität, weil es im Namen Gottes ausgeübt wird, und man wird zu einem Macht-Zentralismus gebracht, der den Anwendern der Gesetze keinen Spielraum lässt. Wer regiert also? Wer ist das wirkliche Subjet der Macht? In jedem Fall, wenn es denn eines gibt, nimmt es den Anschein des Propheten an, in Ermangelung neuer Propheten nach dem letzten, dem Propheten Mohammed! Wir haben es mit einer Persönlichkeit oder mit einer Instanz zu tun, die über ein politisch höchst wertvolles Wissen bezüglich der Macht über die Seelen im Namen Gottes verfügt. Daher der privilegierte Status der religiösen Führer in den muslimischen Gesellschaften, der foqaha 'a (Lehren des religiösen Rechts) und der Richter. Auch wenn man ein wenig zögert, die Ähnlichkeit des religiösen Staates mit einem totalitären Staat festzustellen oder einer totalitären Partei, wie sie die gegenwärtige Geschichte uns zeigt, so liegt hier doch die totalitäre Versuchung, ja sogar das totalitäre Paradigma, in diesem hinterlistigen Funktionieren nämlich: Dem Prinzip der Generalisierung und der Totalisierung im totalitären Staat oft genug gestützt auf eine laizistische Ideologie - entspricht innerhalb des religiösen Staates eine religiöse Doktrin, die zur Quelle der Gesetze, Verhaltensweisen und der privaten wie öffentlichen Handlungen wird. Wir haben es in beiden Fällen mit Gruppen zu tun, die an die Überlegenheit ihrer Ideologien und Überzeugungen glauben, denen sie einen verbindlichen und nicht hinterfragbaren Status zusprechen. Auf der anderen Seite wird der Führer, Ayatollah oder der integrierende Emir zur Reinkarnation der totalitären Partei durch das Monopol der Entscheidung und das In-Beschlag-Nehmen der Wahrheit über die Leben und über die Dinge. Die unterstellte Nähe zu Gott, also dem Ursprung allen Sinns, fuhrt zu einer ideologischen Verhärtung und zum Bedeutungs- und Wahrheitsmonopol des Klerus nach dem Beispiel der totalitären Partei. Die „Partei" Gottes wendet sich also gegen jede andere Partei, die oft abgelehnt und verteufelt wird; die Stimme des göttlichen - rabbani - Chefs blockiert den Weg für jegliches andere Wort, das von einer anderen Entscheidung zeugt: Ermordung des Wortes also vor dem symbolischen Mord an den Individuen!
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Ein religiöser Staat als Variante des Totalitarismus ist ein ideologisch geprägter Staat, er verfügt über eine religiöse Identität, die, so wird unterstellt, heiligen Ursprungs ist: die Religion. Er kann angesichts unterschiedlicher religiöser Wahlmöglichkeiten nicht in einer Situation der Neutralität sein, so wie dies einem demokratischen Staat - zumindest theoretisch - unterstellt wird. Der religiöse Staat, der glaubt, auf der Basis göttlichen Rechts zu handeln, geht systematisch zum Ausschluss anderer Gruppen und Individuen über, die, religiös oder nicht, seine Ideologie nicht teilen. Der Ausschluss kann unterschiedliche Formen annehmen: zum Schweigen bringen, der ίαβάτ oder die Exkommunizierung, ja sogar die physische Liquidation des Anderen, des ideologischen Feindes. Eine solche Identität, die auf religiöser Basis geformt wurde, führt notgedrungen zu segregierenden Politiken, nicht nur hinsichtlich der Laizisten und Religionslosen, sondern auch hinsichtlich derjenigen Religiösen, die diejenige Version der Religion (die als din und dawla verstanden wird) nicht teilen, die durch einen solchen Staat vorgegeben wurde - die zuweilen brudermörderischen Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Auf der sozialen Ebene und auf dem politischen Schachbrett äußert sich das durch eine systematische Ungleichheit von Chancen und Rechten. So wird also das Recht auf Verschiedenheit geschwächt, und durch die generalisierte Unterordnung unter die gleichen Denkmodi, Verhaltensweisen und ganz einfach Seinsmodi ersetzt. Geschwächt wird auch die Schranke zwischen öffentlichem und privatem Leben, unter dem Druck einer „Religionspolizei", die zensiert, kontrolliert, überwacht und bestraft: eine ganze Menge von Zutaten, die uns dazu bringt, den religiösen und den totalitären Staat eng miteinander in Verbindung zu bringen. Der religiöse Staat befindet sich wie der totalitäre Staat in einer strukturellen Unmöglichkeit, Bürgerrechte zu akzeptieren - wie es das demokratische Paradigma festlegt - unabhängig von jeglicher religiösen oder weltanschaulichen Zugehörigkeit, gleich welcher Art diese sei; aufgegeben wird die Anwendung des Grundsatzes, die Autonomie des bürgerlichen Subjekts zu respektieren: Auch hier findet man einen Punkt der Übereinstimmung zwischen den beiden Staatstypen, die oft beide danach trachten, ihre Bevölkerung zur rein numerischen Masse zu reduzieren, die Befehle ausfuhrt, welche in ihrer Abwesenheit ausgegeben wurden, vom abgeschlossenen Kader einer zentralisierten Nomenklatura. Abschließend möchte ich sagen, dass das Ausmessen der Risiken einer Politisierung der Religion und einer Theologisierung der Politik in keiner Weise mit einem Verbot gleichzusetzen ist, auf religiöse Erwägungen zurückzugreifen, um Probleme des öffentlichen Lebens abzuwägen und sie mit Gläubigen gleich welcher Konfession zu lösen. Es ist der fundamentalistische Stil, um den es hier geht, weil er sich außerhalb der demokratischen Spielregeln ansiedelt und den Ausschluss der anderen Komponenten der Agora betreibt - im Namen einer religiösen Entscheidung. Der Fundamentalist gesteht nicht zu, dass es außerhalb der religiösen Referenzen, die als endgültig angesehen wer-
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den, Normen und Kriterien gibt, politisches Handeln weiterzuentwickeln; er kann also nicht ein Bürgerrecht auf der Basis der Gleichheit anerkennen, fur alle öffentlichen Projekte, die sich gegenüberstehen und friedfertig miteinander konkurrieren. Man konkurriert nicht mit Gott, ist seine Devise. Man konkurriert auch nicht mit jenem, der die Züge des Göttlichen trägt und eine Art rote Linie und absolute Grenze darstellt: Auflösung also jedes „allgemeinen Willens" als Entscheidungsquelle in den öffentlichen und privaten Angelegenheiten. Die Entscheidungen werden im Voraus getroffen, und das Apriori des ijmaa (Konsens innerhalb eines Klerus, einer religiösen Gruppe Auserwählter, geistiger Führer oder Ayatollahs) annulliert jeden Rückgriff auf die kollektive Vernunft, auf Vernunft ganz allgemein als Führer und Schiedsrichter. Ist es also nicht eine Täuschung, weiter an eine mögliche Vereinbarkeit von religiösem Staat und Demokratie zu glauben oder sie glaubhaft machen zu wollen?
A. d. Frz. von Ursula Liebing
Rachida Triki
FÜR EINE POIESIS DES DEMOKRATISCHEN LEBENS
Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf die Demokratie als einen schöpferischen Prozess, der durch die Umsetzung der eigenen Institutionalisierung beeinflusst wird und zugleich durch die interaktive und kommunikative Dynamik der Individuen, die sich zusammenschließen, um Formen der Sozialität neu zu erfinden. Mit anderen Worten geht es darum, sich die Möglichkeit einer sozial wirksamen Poiesis expliziter und akzeptierter demokratischer Selbst-Institution vorzustellen. Ich werde von zwei Feststellungen ausgehen, die auf zwei Grenzen der heutigen Demokratie Bezug nehmen: Die erste Grenze ist die immer schwächer werdende Ausübung der eigenen Souveränität durch das bürgerliche Individuum angesichts der Imperative des globalisierten ökonomischen Liberalismus. Die zweite, die aus der ersten folgt, ist die Ablehnung kultureller Unterschiede und Partikularismen im Namen eines Universalismus von Rechten und Pflichten. Es geht also darum, ausgehend von dieser Feststellung über eine Emanzipation des demokratischen Lebens nachzudenken, indem man sowohl die Zivilgesellschaft als auch die kulturelle Vielfalt im Licht der Poiesis als Prozesse der Erschaffung von Bedeutungen und von neuen Werten betrachtet. Hierdurch könnte man sich demokratischen Lebensraum vorstellen vermittels einer Art Erschaffung einer plurikulturellen Bürgerlichkeit [citoyennete] und einer Art Erfindung einer sozialen Bürgerlichkeit.
I. Sozialität und Modus der bügerlichen Subjektivation So sehr auch die Demokratie heute als Bewertungskriterium jedes politisch korrekten Regimes ins Feld gefuhrt wird, so sehr entfernt sie sich doch von ihrem Ideal, das auf der Konzeption eines Vertrags beruht, der die Teilnahme freier Individuen mit vollen Rechten impliziert. Während die Gleichheit in juristischer Hinsicht durch den Rechtsstaat gewährleistet wird und nach wie vor gängiges Schaustück der Demokratie ist, befindet sich deren Subjekt, das souveräne Individuum, auf dem Weg des Verschwindens - damit es Gleichheit gibt, bedarf es nämlich zunächst der Individualitäten. Die Ausübung der Souveränität, der Redefreiheit, der Teilnahme an der Entscheidungsfindung werden durch die Freiheit des Konsums und die Falle eines Wahl-Formalismus ersetzt. Angesichts des wirtschaftlichen Liberalismus, der
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alle Bereiche einschließlich des kulturellen berührt, werden die Institutionen immer mehr zu Auffangstrukturen fur den globalisierten Markt. Die Individuationsformen der Bürger sind immer mehr gefangen in einem Konformismus, der durch Medien und Kulturindustrie massiv vorangetrieben wird. Tatsächlich bedroht der ins Massenhafte gesteigerte Kulturkonsum die Individualität des Bürgers, indem er ihn der Singularität seiner Wahrnehmungen, seiner Bedürfnisse und der Autonomie seines Geschmacksurteils beraubt. Die Marketingmaschine vereinheitlicht die Verhaltensweisen, indem sie zugleich Objekte jeglicher Art als auch das Bedürfnis danach produziert. Sie tut dies mittels einer subtilen Kontrolle, die sich in Form von Liberalismus, von Vielfalt und Wahlfreiheit kommuniziert und an die Intimität der Menschen appelliert. Selbst der Bereich der Künste ist von diesem Werbe-Prozess betroffen. Und während diese Form der Demokratisierung des Konsums durch die Kulturindustrien vorgeblich auf dem Ausschluss des Elitarismus zugunsten der Gleichheit von Rezeption und Geschmack basiert, vereinheitlicht sie tatsächlich das Verhalten bis zu dem Punkt, das Gefühl der Existenz selbst in der Aneignung seines Imaginären und seiner Bedürfnisse zu schwächen. Heute ist deutlich, dass die neuen Mythologien des erdumspannenden Marktes ein symbolisches Elend bewirken, das die bürgerlichen Individuen ihrer kreativen Fähigkeiten und ihrer Fähigkeit zu einer wirkungsvollen Sozialität beraubt. Zudem erzeugt die offensichtliche Trennung von Staat und Zivilgesellschaft eine Mikro-Politik, die jede Form der Individualisierung der Bürger kontrolliert: durch allgemeine Über-Information, durch die Technologie der Meinungsumfragen und durch die Inszenierung von Wahlen, die in ebensolchem Maße zu Überzeugungsprozeduren werden. Diese Macht der Überzeugung und Verbreitung arbeitet darauf hin, die Bewertungen zu standardisieren angesichts einer konsensuellen Sphäre, die die Funktion eines Ortes der Zugehörigkeit einnimmt (wenn man anders denkt, als dies jeder sieht und hört, läuft man Gefahr, ausgegrenzt und abgelehnt zu werden). Diese subtile Konfiszierung von Bewertungen und Ansichten führt zu einer Verarmung der Vorstellung vom Vermittlungsspiel zwischen dem Stand der Bürgerschaft und der öffentlichen Hand. Die rechtliche und politische Repräsentation wird als Äußerlichkeit einer Macht erlebt, der sich jeder Bürger unterzuordnen hat. Ist also die Demokratie aufgrund ihrer liberalen und egalitären Bestimmung dazu verurteilt, an ihre Grenzen zu stoßen: an die der Freiheit ohne Unterscheidungsvermögen und an die eines Bürgertums ohne Individuation und ohne Reflexion? Wie ist die Ausübung jenes Grundrechtes, das die Souveränität darstellt, innerhalb anderer Formen der Sozialität vorstellbar? Die politischen Theoretiker legen die Betonung heutzutage auf die Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Entwicklung des demokratischen Lebens. Auf dieser Ebene kann die Betrachtung im Lichte der Poiesis die kreative und emanzipatorische Dynamik der Zivilgesellschaft verdeutlichen, indem sie ermöglicht, sie als den Raum zu denken, in dem die Fragen der Gerechtigkeit,
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der Freiheit und der Souveränität stets offen bleiben und Gegenstand der Diskussion und der Erprobung sind. Während der gemeinsame Raum zwischen dem demokratischen Staat und seinen Bürgern die Triebfeder eines demokratischen Regimes darstellt, bleibt die Zivilgesellschaft das Foyer von Konflikt und Kreativität, das ihr ihre Konsistenz verleiht. Den demokratischen Staat aus der Zivilgesellschaft heraus zu denken bedeutet also, auf dessen ideale Form zurückzukommen, in der die Individuen zu sozialen Akteuren werden, die in den Institutionen den Ausdruck und die Unterstützung ihrer eigenen Anliegen an die Gemeinschaft erkennen. Deshalb muss die Zivilgesellschaft, die sich innerhalb der Struktur des demokratischen Staats selbst organisiert, sich gleichzeitig davon unterscheiden, um das Auftauchen dessen zu erlauben, was man „ein soziales Bürgertum" nennt. Es geht um die Umsetzung alternativer Formen von Sozialität und die Schaffung neuer Emanzipationsräume, die ein Mehr an Demokratisierung bewirken und der Existenz des demokratischen Staates größere Bedeutung geben. Dieser Vorgang funktioniert sowohl als Begrenzung wie als Gegenmacht zu dem Autoritarismus, der jeden Staat bedroht. Er funktioniert auch als kreative Dynamik einer demokratischen Ethik, das heißt, einer bewussten Übereinkunft zwischen dem Prinzip des Handelns und dem Lebensraum, in dem die Werte der Solidarität, des Teilens, der Diskussion und des Widerstands zur Geltung kommen. Als kreativer Prozess wirkt das Handeln der Zivilgesellschaft auch durch Kampf und Konfrontationen. Sie wird zur internen Bewegung der Sensibilisierung angesichts von Ungerechtigkeiten und Ausgrenzungen im Inneren eines Rechtsstaats, in dem das bürgerliche Individuum immer das Risiko der Schwächung seiner Autonomie eingeht. Dieses Kräftespiel ist dem kreativen Prozess immanent. Im Übrigen kann man auf dieser Ebene auch auf die Konzepte von Deleuze und Foucault von Macht als Immanenz zurückgreifen, aber mit den Bewegungen der Entterritorialisierung der Linien, die sich der formalen Transzendenz der Institutionen entziehen. Diese Bewegungen machen aus dem Staat ein Foyer der Resonanz, dessen Dispositiv in der Tat als Immanenz funktioniert. Diese Konzeption der Macht stellt eine Alternative zum abstrakten und juristischen Charakter der Bürgerlichkeit [citoyennete] dar und erlaubt, die Zivilgesellschaft als Ort positiver Kräfte zu denken, die neue Bedeutungen einsetzen, hier nämlich die Bedeutung einer sozialen Ethik. Durch die Dynamik der Zivilgesellschaft ist die Demokratie als ein Modus vorstellbar, der im Hinblick auf das soziale Leben verallgemeinerbar ist. Infolgedessen läuft die Vorstellung vom selbstkonstituierenden Funktionieren der Demokratie darauf hinaus, die Idee einer Bürgerlichkeit durch die Aktivität oder die Kreativität der Zivilgesellschaft zu stärken. Heute geben die zivilen Organisationen der Freiheit Bedeutung, dem Willen, sich zusammenzuschließen und in der wechselseitigen Anerkennung der Rechte jedes Einzelnen zu handeln, am sozialen Leben teilzunehmen. Sie sind ein Raum des Teilens
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und des Anerkennens der Autonomie der Bewertungen jedes Einzelnen. In diesem Sinn ermöglichen sie eine Stärkung der Solidarität und der über-individuellen Werte, die der kommunikativen Natur des Menschen eigen sind. Als aktive und kreative Foyers und Netze unterscheiden sie sich von den Zusammenschlüssen, die die Institutionen aufgrund des administrativen Charakters der Beziehungen zwischen den Beteiligten verdoppeln und die manchmal sogar anti-bürgerliche Zweckbestimmungen haben. Das einer demokratischen Entwicklung immanente Hervorbringen als emanzipatorisch zu konzipieren, läuft darauf hinaus, die Pflicht zur Individuation zu legitimieren als Pflicht zur Erhaltung der Person, aus Respekt vor dem BürgerSein. Dieser Respekt hängt davon ab, die Fähigkeiten des Anderen anzuerkennen, Bedeutung zu erschaffen. Die Ausübung von Freiheit und Souveränität manifestiert sich am besten in der Fähigkeit des schöpferischen Hervorbringens, die eine Bewertung des Anderen und eine Konfrontation mit ihm veranlasst. Aus diesem Grund kann die Anerkennung eines Potentials der Aktion und der Erfindung von (neuen) Bedeutungen im Anderen es erlauben, das soziale Leben miteinander zu teilen und zu intensivieren - Bedingungen der Möglichkeit einer akzeptierten und bewussten Gleichheit.
II. Kreation und plurikulturelle Demokratie Was die oben angesprochene zweite Feststellung der Grenzen der Demokratie angeht, so betrifft sie eine Form des Ausschlusses des Anderen, von der die Rede ist im Prozess der Erschaffung aktiver Sozialität, die zunehmend gewünscht, ja sogar definiert wird als eine nicht determinierte und nicht partikularistische Sozialität. In der Tat nehmen wir heute aufgrund der Mobilität der Personen und deren medialer Darstellung an einer republikanischen und demokratischen Zurückweisung vor allem der kulturellen Unterschiede teil, im Namen des Universalismus der Rechte und der Pflichten. So zeigt sich etwa bei der Konstruktion Europas, einer Frage, die derzeit zur Diskussion steht, dass die nicht-wirtschaftlichen Versuche der Legitimation, die für den Beitritt zur EU gefordert werden, neben dem erklärten Wert der Demokratie zumindest antinomische sozio-kulturelle Argumente darstellen. Sowohl auf der Ebene mancher Befürworter einer Idee Europas als auch bei manch widerspenstigen Nationalisten sieht man einen Diskurs von identitärer Natur auftauchen, der zuweilen jenem der ethnischen und religiösen Kommunitarismen in nichts nachsteht. Die wiederkehrende Bezugnahme auf das Sediment einer gemeinsamen Geschichte mit einem symbolischen Universum, auf das man aus diesem Anlass zurückgreift, erzeugt mehr und mehr eine reduktionistische Konzeption von Kultur, Gesellschaft und sogar von den demokratischen Grundlagen.
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Tatsächlich geschieht dies durch die Verdunklung der Diskontinuitäten, der internen Konflikte jeder Religion, der Durchmischung von Bevölkerungen und Kulturen, die den trans-zivilisatorischen Reichtum eines alten Kontinents wie Europa und seiner Nationen ausmachen. Dieser Reduktionismus der Vielfalt und der Veränderungen, die jeder Geschichte eigen sind, arbeitet im Übrigen mit Hilfe des medialen Apparates an einer Verinnerlichung der identitären Vorstellungen und wird zu einer ethischrhetorischen Kraft, einer Art Ideologie des Moments, die den sozialen Konsens subtil organisiert. Der perniziöse Charakter dieser Diffusions-Macht erzeugt einen Raum der Standardisierung der Wahrnehmung seiner selbst und des Anderen, um einen Konsens um die Ablehnung der Unterschiede herum zu schmieden. Es ist klar, dass, indem man bis zum Äußersten ein bestimmtes Kleidungsverhalten vermittelt, indem man den Blick fokussiert auf die Spannungen in den neuen Orten des Urbanen Eingeschlossenseins und indem man sich über die Polygamie einiger Illegaler indigniert, ein künstliches und verkümmertes Bild kultureller Unterschiede hervorhebt, das als Schreckgespenst wirkt. Angesichts eines solchen Bildes ist es schwierig zu begreifen, dass die Herausforderungen „der Demokratie der Anderen", um den Ausdruck von Amartia Sen aufzugreifen, den „künftigen" Demokratien anderer Länder, seien sie nun die Dritte, Vierte oder die Neue Welt, als Modell dienen könnte. Es scheint also heute umso wichtiger, das Kulturkonzept zu überdenken, um den demokratischen Lebensraum neu zu konzipieren. Sich Kultur in ihrer poietischen Dimension vorzustellen, sie also als Prozess der Erschaffung eines offenen Werkes anzusehen, dem Rückwendungen und Überschreitungen innewohnen, könnte es ermöglichen, im Modus der kulturellen Zugehörigkeit eines jeden ein kommunikatives und schöpferisches Potential zu identifizieren. Um dem Projekt eines demokratischen Lebens treu zu bleiben, handelt es sich also darum, die Grenzen des Rechts-Egalitarismüs in seinen universalistischen Grundlagen in Richtung einer Gleichheit der Individuen mit all ihren kulturellen Unterschieden auszuweiten. Neben der Abstraktion der institutionellen Werte von Freiheit und Gleichheit müsste man vielleicht die Authentizität des Anderen in dessen Erfindungsgeist anerkennen, und in dessen Fähigkeit, zu kommunizieren, um sich selbst als ein Anderer zu identifizieren und um neue Werte schaffen zu können. Kultur im Licht der Poiesis zu denken, also zu versuchen, die verschiedenen Beziehungen zu untersuchen, die sie mit dem kreativen Prozess unterhält, könnte es ermöglichen, eine starre und globalisierende Konzeption zu vermeiden. Diese Überlegung könnte anhand von zwei Leitlinien erfolgen, deren erste in einer Hinterfragung bestehen würde, und darin, auf Unterschiede, auf Brüche, auf Verwurzelungs- und Überschreitungsvorgänge zu achten, die jede Gemeinschaft beschäftigen - in ihren Praktiken, ihren Repräsentationen, ihren Sinnproduktionen.
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Dieser erste Ansatz nährt sich aus der Methode der Poiesis, die ihren Gegenstand als offenes und lebendiges Werk betrachtet, der sich innerhalb der Unterschiede individualisiert. Das Projekt erfordert unterschiedliche und interdisziplinäre Konzepte, um einerseits eine Art Archäologie der Unterschiede zu ermöglichen, die den Sedimenten der gemeinsamen Geschichte innewohnen, den anerkannten Wissensformen, dem kollektiven Imaginären, aber auch, um die kinetischen Energien zu erfassen, die unbegrenzt in Projekten, Revolten, Hoffnungen, Bedürfnissen auftauchen. Das Verdienst eines solchen Konzeptes bestünde darin, die normativen Konzeptionen zu vermeiden, die die Kultur auf eine primitive Szene reduzieren, zu der alle Interpretationen gegeben werden können, während sie doch das aktive Foyer der komplexen Beziehungen und der Netze ist, in denen sich über Zufalle und Notwendigkeiten Prozesse der Regulierung und der Bedeutungserfassung weben und herauskristallisieren. Diese Operationen erzeugen die „Spielflächen", die die gemeinsamen symbolischen Räume darstellen, die zwar unscharf, aber immer identifizierbar sind. Die zweite Orientierung besteht darin, ausgehend von diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken nicht so sehr ein Paradigma zu entdecken, als eine kosubstantielle Verbindung zwischen dem Schöpferischen - insbesondere dem Schöpferischen der Kunst - und der Kultur. Sie ermöglicht es, ausgehend vom Werk als einem Phänomen, das mit der Kultur zu tun hat, die Arbeit am Werk als einen Prozess zu betrachten, der untrennbar verbunden ist mit Wünschen, Hindernissen, Missgeschicken und Grenzen, mit Bezugnahmen und mit Überschreitungen. In dieser Hinsicht ist das Schöpferische nicht einfach Reproduktion oder Aktion, die mit dem Netz der Aktionen des Anderen interferiert, es ist durch und durch Zeitlichkeit, das heißt also etwas, worin sich das [eigene] Wesen verändert und in seinem Gefolge neue Wahrnehmungen produziert. Diese Veränderung ist kein radikaler Unterschied, sondern der Übergang zu neuen Signifikationen, zu einer Anreicherung des Wesens, die aus dem künstlerischen Schöpfungsprozess herrührt (wenn sie bedeutsam ist, spricht man von einer formalen Revolution oder der Entstehung eines Stils). Diese zwei Modi der Untersuchung sind in der Tat komplementär, weil sie durch die grundlegende Idee der internen Dynamik jeder lebenden Kultur gestützt werden, deren Geschicke durch Rückwendung und Ausweitung, durch Sicherheiten und Utopien, durch Übertragung und Überschreitung bestimmt werden. Dieses Pulsieren zwischen Veränderung, Zurückfuhrung und Sedimentation von Bedeutung gibt sicherlich Anlass zu einem „In-Worte-Fassen" einer gegebenen Gemeinschaft, die sich konstituiert und konsolidiert in einer Gesamtheit weitgehend geteilter Normen, die aus symbolischen Strukturen auftauchen, die differenziert, jedoch immer offen für Änderungen sind. Während Kommunikation und Identifikation untrennbar sind von gemeinsamen semantischen und symbolischen Reservoirs, schließt doch das Teilen von Bedeutungen weder deren Abweichen noch deren Erneuerung aus.
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Was wäre eine Kultur, die jede Alterität ablehnen würde? Alles in allem eine Gesamtheit mumifizierter oder im Modus neurotischer Wiederholung abgenutzter Praktiken. Aber das, was es an Authentischem und gerade deshalb Universellem in einer Kultur gibt, ist deren Vitalität; j e mehr die Mitglieder einer Gemeinschaft Akteure ihrer eigenen Kultur sind, um so mehr wird diese in der Lage sein, sich weiterzuentwickeln, anderen Kulturen entgegenzutreten und sich zur Universalität zu erheben, denn es sind die kulturellen Praktiken, die in sich die immer aktiven Spuren der kreativen Dimension des Menschlichen tragen, in seiner Fähigkeit zur Soziabilität, zur Kommunikation und zur Erzeugung von neuem Sinn und von Universalisierbarem. Die Arbeit am Werk und insbesondere am Kunstwerk könnte also den kulturellen Prozess beleuchten, in seiner sowohl unvorhersehbaren als auch einschränkenden, ereignisbezogenen und neuen Sinn stiftenden Dimension. Künstlerisches Schaffen ist also poietisches Einfügen der Alterität in die Erfahrung des Gleichen. Die Erscheinungsformen, die die Werke darstellen, die immer durch die Umstände bedingt und doch bedeutungsschwer sind, entziehen sich ständig den Beschreibungen und der Sicherheit bietenden Rückkehr zur Gewohnheit; vielmehr verleihen sie der Referentialität einen anderen Sinn. Diese wird zum Produktionsfeld von Reproduktionen, die gewiss identifizierbar sind, jedoch immer offen für die sich auftuenden Möglichkeiten und Unbestimmtheiten, die ihr Erscheinen leiten. Die Beispielhaftigkeit der Kunst in ihrer Umsetzung funktioniert also als kreative und einmalige Wiederaufnahme unseres Verhältnisses zum Instituierten. Sie enthüllt unsere Historizität. Der schöpferische Prozess erweist sich, indem er von den Dogmen und Sklerosen befreit, die jede Kultur bedrohen, in der Tat als regulierend, weil er die kulturellen Praktiken jedes Mal neu in ihre authentische zeitliche Dimension einschreibt. Er bestätigt die Temporalität des Zusammenlebens in der unendlichen Möglichkeit der Ereignisse, die aufgrund einer Anarchie nur die Verbindung und Begründung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer Gemeinschaft ist, für die das Leben eine immer wiederkehrende Ressource für neue Projekte darstellt. Der poietische Ansatz der künstlerischen Hervorbringung kann es also erlauben, die lebenswichtige Funktion der Unterschiede und der Überschreitungen im kulturellen Feld zu erfassen. Diese Dynamisierung ist dem Wesen der Kunst eigen; dies, weil der Künstler durch eine Art Verpflichtung die gewöhnliche Erfahrung überschreitet, indem er sich von den Offensichtlichkeiten befreit und indem er die absolute Zufälligkeit der Dinge aufzeigt, die er für eine kritische Betrachtung soziokultureller Phänomene öffnet. A u f dieser Ebene können die künstlerischen Praktiken in ästhetischen Formen identifiziert werden und Politisches implizieren. Jacques Ranciere unterscheidet zwei: die Politik des Leben-Werdens der Kunst und die Politik des Widerstandes der Form (im Sinne Adornos). „Erstere", so schreibt er, „identi-
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Rachida Triki
fiziert die Formen der ästhetischen Erfahrung mit den Formen eines anderen Lebens. Sie gibt als Zweckbestimmung der Kunst die Konstruktion neuer Formen des gemeinsamen Lebens an, also deren Selbst-Unterdrückung als einer getrennten Wirklichkeit. Die andere schließt dagegen das politische Versprechen der ästhetischen Erfahrung ein, und zwar gerade in der Absonderung der Kunst, im Widerstand ihrer Form gegen jede Verwandlung in eine Lebensform." Beide Formen bleiben, jede auf ihre Art und Weise, wirksam, um den Prozess des Erschaffene als die kritische Dynamik zu identifizieren: Die Form, die die Kunst an das soziale Leben bindet, bleibt expliziter, was unseren Gegenstand betrifft. In der Tat sind die künstlerischen Praktiken, die im relationalen ästhetischen Bereich Inbegriffen sind, eine treffend symbolische Darstellung, die als MikroPolitik fungiert. Die relationale Ästhetik von Nicolas Bouriaud, der sich auf Praktiken der zeitgenössischen Kunst wie Installationen und Happenings stützt, beantwortet die Frage, wie eine Form von Sozialität erzeugt werden kann durch die Schaffung spielerischer und geselliger Verbindungen zwischen den Künstlern und den Bürgern, die mit ihren Fähigkeiten für den Schaffensprozess benötigt werden. Diese Ästhetik würde eine Form des Widerstandes aufzeigen gegen „die Reifikation, die durch das Warensystem auferlegt wird". Die künstlerischen Aktionen brechen mit der ikonischen oder fetischistischen Konzeption des Kunstwerks zugunsten von „experimentellen Formen" nach Art von „Utopien von Nähe". Diese partizipativen Annäherungen zwischen Zuschauern aus unterschiedlichen Kulturen und den Künstlern erzeugen einen Raum der Intersubjektivität. Die demokratische Emanzipation der Gesellschaft kann mit Hilfe einer plurikulturellen Poiesis konzipiert werden, bei der das kulturelle Potential der einen wie der anderen zu einer Kraft werden kann, die die Gesellschaft kreativ macht, weil offen für die Alterität. Die kommunikative Ethik würde dort durch eine relationale Poiesis verstärkt. Und so könnte sich die Fähigkeit zu demokratischem Leben, in ihrer kulturellen Dimension erfasst, an ihrer Potentialität der Erschaffung, der Erfindung und der Erneuerung messen. Je mehr eine Kultur, als kreativer Organismus betrachtet, fähig ist, von ihrer Kritik zu leben, umso mehr wird sie von einer Ethik durchzogen, bei der die Toleranz und der Respekt vor dem Anderen diejenigen Werte darstellen, die für die Entwicklung der Zivilgesellschaft unentbehrlich sind.
A. d. Frz. v. Ursula Liebing
III. Globalisierung und Kultur
Mona Abousenna
GLOBALISIERUNG, GEWALT UND INTERKULTURELLER DIALOG
Dieser Beitrag befasst sich mit drei zusammenhängenden Themen, der Globalisierung, der Gewalt und dem interkulturellen Dialog. Ich werde zunächst den hier verwendeten Begriff der Globalisierung erläutern. Sodann werde ich ihn auf die beiden anderen Themen beziehen, Gewalt und interkultureller Dialog. Dabei benutze ich meine Vorstellung von Globalisierung als Rahmen, um die beiden anderen Themen darzulegen und zu analysieren. Erstens: Was verstehe ich unter „Globalisierung"? Etymologisch stammt der Begriff der „Globalisierung" vom lateinischen Wort globus, Kugel, ab, das später den Planeten Erde meinte. Er verweist so auf die Erdkugel als eine zusammengefugte Einheit, in der als Folge der wissenschaftlichen und technologischen Revolution alle Schranken gefallen sind, einschließlich derer von Raum und Zeit. Daher ist die Globalisierung als Resultat der wissenschaftlichen und technologischen Revolution anzusehen, die beispiellose Veränderungen auf den Gebieten des Wissens und der Wissensvermittlung hervorgebracht hat, in einem Ausmaß, dass Peter Drucker in seinem berühmten Buch, The New Realities, den Ausdruck „Wissensgesellschaft" geprägt hat, um das Zeitalter, in dem wir leben, zu charakterisieren. Dieses neue, in sich vielfach verbundene Universum erzeugt ein globales Bewusstsein, das die alte, fragmentierte Welt der einzelnen und abgegrenzten kulturellen Identitäten ablöst. Mein Verständnis von Globalisierung widerspricht dem aktuellen und populären Verständnis dieses Begriffs, das ihn auf die wirtschaftliche und die politische Sphäre beschränkt. Diese Verengung des Begriffs führt zu einer Analyse der Globalisierung, also eines Phänomens des 21. Jahrhunderts, auf der Basis längst überholter Erfahrungen aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert, überholt durch die Globalisierung selbst, vor allem in Bezug auf den Charakter regionaler und globaler Konflikte und die Mittel und Wege zu ihrer Lösung. Als Beispiele globaler Phänomene, die globale Lösungen erfordern, kann man nennen: den globalen Terrorismus, den globalen Handel, globale Umweltprobleme, globale epidemische Erkrankungen und vieles andere mehr. Zweitens: Was verstehe ich unter „interkulturellem Dialog"? Was meint überhaupt „Dialog"? Die Etymologie des Wortes fuhrt zum griechischen Ursprung dialogos und dialegomai zurück, die „sich unterhalten, austauschen" bedeuten. Insofern unterscheidet sich der „Dialog" von der „De-
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Mona Abousenna
batte", in der alle Beteiligten ihre eigenen Ansichten vertreten, ungeachtet der Meinung des Anderen. Im Dialog hingegen ist jeder Teilnehmer gehalten, dem Anderen so offen und sympathetisch wie möglich zuzuhören im Versuch, seine Denkweise so gut wie möglich zu verstehen und sich in sie hineinzuversetzen. Im kulturellen Sinn kann ein Dialog, oder genauer: ein Dialog der Kulturen, als Austausch zwischen zwei oder mehreren Parteien, seien es Einzelpersonen oder Gruppen, über ein gemeinsames Thema definiert werden, wobei die Beteiligten eine gleiche Meinung oder verschiedene Ansichten vertreten können und es darum geht, voneinander zu lernen, um sich dadurch zu entwickeln und zu verändern. Diese Auffassung schließt die Möglichkeit ein, dass die Dialogpartner jederzeit den Standpunkt und die Argumente des Kontrahenten so überzeugend finden können, dass sie sich selbst verändern. In diesem Sinne kann die Veränderung radikal sein. Kulturen treten in einen Dialog ein, damit sie voneinander lernen, wachsen und sich wandeln können. Es geht nicht darum, eine Veränderung aufzuzwingen, wie im Falle einer Debatte. Zudem kann ein Dialog nur zwischen Gleichgestellten stattfinden, was heißt, dass es keinen „einseitigen" Dialog geben kann. Ohne Gleichheit kann es sich nur um das Sammeln von Informationen handeln, wie bei einem Fragebogen oder einer Befragung. Ein Dialog kann nur auf der Basis gegenseitigen Vertrauens zustande kommen. Personen, die in den Dialog eintreten, müssen wenigstens ein Minimum an selbstkritischen Fähigkeiten aufbringen, sich selbst wie ihren eigenen kulturellen Traditionen gegenüber, vor allem denjenigen, die den Dialog behindern. Ein Mangel an Selbstkritik bedeutet, dass einem die eigene Tradition bereits alle richtigen Antworten liefert und so dem Absoluten gleichkommt. Diese Einstellung macht den Dialog nicht nur überflüssig, sondern unmöglich, weil wir grundsätzlich in den Dialog eintreten, um zu lernen, und dieser Zweck kann offensichtlich nicht erfüllt werden, solange wir unsere eigene Tradition für unfehlbar halten. Diese Einstellung hindert die Partner am Versuch, sich gegenseitig in ihre Kulturen hineinzuversetzen und sie von innen heraus zu erfahren. Der interkulturelle Dialog geht einen Schritt über den kulturellen Dialog hinaus, insofern er auf den Voraussetzungen eines Dialogs der Kulturen aufbauen muss, ohne die er nicht zustande kommt. Während das Ziel des kulturellen Dialogs Veränderung ist, die auch radikal sein kann, setzt der interkulturelle Dialog diesen Wandel bereits voraus. Er gestattet es den Partnern, gegenseitig in ihre Grundüberzeugungen zu intervenieren und sie radikaler Kritik zu unterziehen, mit dem Ziel der Beseitigung von Konflikten und der Etablierung eines wahren Dialogs, der zu friedlichen Beziehungen zwischen den Kulturen fuhrt. Wie der Dialog der Kulturen besteht auch der interkulturelle Dialog darin, die Kommunikation zwischen Kulturen in einem gemeinsamen Bezugsrahmen zu fuhren. Darunter verstehe ich eine spezifische Perspektive, die die menschliche Zivilisation in ihrer historischen Entwicklung als Weg vom Mythos zum Logos betrachtet, der die Zivilisation eint und zur gleichen Zeit die Vielfalt
Globalisierung, Gewalt und interkultureller Dialog
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der Kulturen im Prozess der Zivilisation anzeigt. Einheitlichkeit (oneness) der Zivilisation und kulturelle Vielfalt {diversity of cultures) bilden den gemeinsamen Nenner des kulturellen Dialogs. In diesem Sinne wird die kulturelle Vielfalt, die Unterschiede und Konflikte zwischen den Kulturen in den Vordergrund stellt, durch die Gemeinsamkeiten und die Einheitlichkeit der Zivilisierung bewältigt und auf Partnerschaft und friedliche Interdependenz ausgerichtet. Drittens: Was verstehe ich unter „Gewalt"? Das englische Wort violence (Gewalt) kommt vom lateinischen violentia, was „Vehemenz" bedeutet, also eine leidenschaftliche und unkontrollierte Kraft, deren Wirkung darin besteht, ein natürliches oder menschliches Objekt von seinem natürlichen Entwicklungsverlauf abzubringen. Das Verb violare bedeutet, auf etwas „Gewalt ausüben". In der deutschen Sprache bezeichnet das Wort „Gewalt" sowohl physische Gewalt als auch Macht. Daher unterscheidet Hannah Arendt in ihrer Definition von Gewalt zwischen Macht (power) und Gewalt (violence). Sie meint: „Tatsächlich besteht einer der offenkundigsten Unterschiede zwischen Macht und Gewalt darin, dass Macht immer der großen Zahl bedarf, während Gewalt bis zu einem gewissen Punkt ohne sie auskommt, da sie sich auf Hilfsmittel verlässt." Als weiteren Hauptunterschied zwischen Macht und Gewalt stellt sie anschließend fest, „die Extremform der Macht ist Alle gegen Einen, die Extremform der Gewalt ist Einer gegen Alle. Und letztere ist nie ohne Instrumente möglich." 1 Das 20. Jahrhundert war Zeuge nie gekannter Formen „extremer Gewalt" im von Arendt definierten Sinne. Die Zahl der Opfer in der Zivilbevölkerung, das Ausmaß der Zerstörung und die Erfindungsgabe in der Auswahl der Instrumente sind ohne historische Parallele. In diesem Jahrhundert wurde Gewalt zum Terrorismus umgeformt. Um daher die heutige Gewaltproblematik zu verstehen, brauchen wir einen unorthodoxen Ausgangspunkt. Gewalt ist eine Kontra-Aktivität, d. h. sie ist nicht-dialogisch und gegen die Koexistenz, bloße Verletzung des Status quo, bloße Rebellion. Wälzt sie den Status quo vollständig um, ist e§ eine Revolution, eine radikale Veränderung. Gewalt setzt von ihren Wurzeln her auf den völligen Zusammenbruch der Kommunikation und negiert somit auch den interkulturellen Dialog. Kommunikation benötigt einen gemeinsamen Nenner; Gewaltanwendung gegen Andere bis hin zu ihrer Vernichtung aber bedeutet, dass das gewalttätige Subjekt sich auf die Ebene des Absoluten erhebt. Der Ethnologe Konrad Lorenz war überzeugt, dass die menschliche Art zu töten uns von anderen Tierarten unterscheidet. Ihm zufolge gibt es selbst unter den „niederen" Tieren einer beliebigen Spezies kaum je den Brudermord, und er erinnert an Abel, der von seinem Bruder Kain ermordet wurde. Es sind jedoch nicht nur die Instrumente, die bei heutigen Formen „extremer Gewalt" anders sind; wichtiger noch ist, in Arendts Worten, der „Eine gegen 1 Hannah Arendt, On Violence, New York 1969, S. 43f.
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Mona Abousenna
Alle". In diesem Sinne möchte ich als Ausgangspunkt setzen, dass „der Eine" vom globalen Phänomen des islamischen Fundamentalismus repräsentiert wird, weil er anders als alle anderen Formen des religiösen Fundamentalismus die Islamisierung des gesamten Globus anvisiert, der hier für „Alle" steht. So gesehen ist die Gewalt bis hin zum Terrorismus der Ideologie des islamischen Fundamentalismus inhärent. Das werde ich näher ausführen anhand der Schriften der Gründer der „Brüderschaft", die im Jahr 1928 in Ägypten entstand und sich seitdem über die ganze Welt verbreitet hat. In seinem berühmten Buch mit dem Titel Landmarks (in manchen Übersetzungen auch Milestones) reduziert Quttb den Islam auf den Koran. Er schreibt: „Der erste Springbrunnen, aus dem die erste Generation schöpfte, war der Koran, und der Koran allein, da der hadith des Propheten eben ein Erguss aus dieser Quelle ist" (S. 16). Er fährt dann fort zu erläutern, wie er den Islam versteht: „Der Islam ist nicht nur ein Glaube (a'keeda). Er ist ein universeller Aufruf zur Befreiung des Menschen aus der Versklavung durch Menschen. Sein Hauptziel ist es, die Regime und Regierungen zu beseitigen, die sich auf die Herrschaft über Menschen und die Versklavung von Menschen durch Menschen stützen" (S. 71). Für Quttb ist Religion oder deen wesentlich umfassender als der Glaube oder a 'keeda. Er schreibt: „Religion ist die Methode und das System, welche das Leben kontrollieren. Obwohl sie auf dem Glauben gründet, ist sie viel breiter und umfassender als er" (S. 71). Quttb meint damit, dass Religion, die für ihn der Islam ist, das ganze Spektrum des menschlichen Lebens umfasst, von der Politik bis hin zum privaten, persönlichen Bereich. Demzufolge wird Religion zum Imperativ, die Herrschaft von Allah, die er hakimiyya nennt, in der menschlichen Gesellschaft einzusetzen, indem die göttlichen Gesetze der shari 'a eingeführt werden, die für ihn „die einzige Form der absoluten Befreiung des Menschen aus der Versklavung durch Andere" ist, und „das ist die menschliche Zivilisation" (S. 118). Auf die Frage, wie dieses Ziel zu erreichen ist, antwortet er: „durch Djihad." Im Kapitel „Djihad für Allah" beschreibt er den Djihad als „eine Bewegung islamischer Aktivisten, die gleichermaßen das Schwert und das Wort gebrauchen", und fügt hinzu: „Djihad war nie und wird nie eine defensive Bewegung sein können in dem engen Sinne, der heutzutage als Verteidigungskrieg' kursiert. Der Islam war immer eine progressive Bewegung mit dem Ziel, den Menschen auf der Erde zu befreien durch realistische Mittel und unter Verwendung der angemessenen Instrumente für jede Phase" (S. 72). Aus den obigen Zitaten geht deutlich hervor, dass der Glaube, den Quttb als festen Bestandteil der Religion sieht, mit dem Gebrauch von Gewalt notwendig und unabdingbar verbunden ist. Dabei sind die geeigneten Instrumente einzusetzen als Mittel zur Führung des heiligen Angriffskrieges, des Djihad, mit dem Ziel, der gesamten Welt den Islam aufzuzwingen. (Die Auffassung vom Märtyrertum im schiitischen Islam unterscheidet sich nicht wesentlich von dem Bild, das Ali Sharati, der Theoretiker der iranischen islamischen Re-
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Globalisierung, Gewalt und interkultureller Dialog
volution, in seinem Buch Die Soziologie des Islam gezeichnet hat.) Vor dem Hintergrund der Ideen von Quttb wurde von Hassan el-Banna in Ägypten die moslemische „Brüderschafits"-Bewegung, Hizb al-Ikhwan
al-Muslimum,
ge-
gründet, die sich das Motto gab: ,Allah ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unser Gesetzbuch. Der Djihad ist unser Weg. Auf dem Weg zu Allah zu sterben ist unsere höchste Hoffnung." Seitdem hat die Bewegung das politische Leben im Nahen Osten tiefgreifend geprägt. Wobei der Nahe Osten nur ein Teil der moslemischen Welt ist, auf die die Bewegung abzielt. Mit der Herausbildung des Phänomens der Globalisierung und parallel dazu des Terrorismus am Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts wurde es zunehmend klar, dass nach vier Jahrzehnten der organisierten politischen Ausbildung und militärischen Aktivität die „Brüderschafits"-Bewegung ihren Einfluss auf alle Erdteile ausgedehnt hat, und insbesondere auf Europa. Europa ist zu einem Brutkasten geworden, in dem sie ihr Gedankengut und ihre Politik weiter entwickelt. Seit den sechziger Jahren sind die moslemischen Mitglieder und Sympathisanten der Bewegung nach Europa gezogen und haben dort langsam, aber konsequent ein weites und stabiles Netzwerk aus Moscheen, Wohltätigkeitsvereinen und islamischen Organisationen aufgebaut. Anders als die große islamische Gemeinde verfolgt die B r ü derschaft" das ultimative Ziel, das islamische Recht im gesamten Europa und in den Vereinigten Staaten durchzusetzen. Von den bisherigen Informationen ausgehend, können wir also die folgenden Fragen stellen: - Ist der interkulturelle Dialog angesichts des globalen islamischen Fundamentalismus und Terrorismus überhaupt noch möglich? - Welche historischen Umstände haben zu der Entstehung dieses Phänomens gefuhrt, im europäischen wie im arabischen und moslemischen Kulturkreis? - Wie können wir in der Epoche des Postkolonialismus den Kolonialismus im Lichte des gegenwärtigen islamischen Fundamentalismus und Terrorismus neu bewerten? - Ist es möglich, eine Philosophie oder Philosophien der Globalisierung zu entwickeln, die das Phänomen des islamischen Fundamentalismus und Terrorismus in ihrem Zusammenhang erklären? Es wird die Aufgabe des euro-mediterranen interkulturellen Dialogs sein, diese Fragen in den folgenden Konferenzen zu beantworten. A. d. Engl. v. Teresa Bacz-Solgala/Michael
Sonntag
Mourad Wahba
DER GLAUBE UND DIE GLOBALISIERUNG
Wir bewegen uns in einem Jahrhundert, in dem es möglich sein wird, einen neuen Begriff oder genauer eine neue Interpretation des Glaubens zu schmieden angesichts des neuen Phänomens, das „Globalisierung" genannt wird. Das setzt voraus, dass eine organische Verbindung zwischen Glauben und Globalisierung besteht. Um diese Verbindung zu erläutern, muss man die folgenden drei Fragen stellen: Was ist Globalisierung? Was ist der alte Begriff des Glaubens? Was ist der neue ? Beginnen wir mit der ersten Frage: Was ist Globalisierung? Nach meiner Vorstellung beruht Globalisierung auf dem, was ich als „das Quartett der Zukunft" bezeichnet habe, welches die Bedingung für eine geeinte Welt darstellt. Die Elemente des Quartetts sind: Universalismus, Globalisierung, wechselseitige Abhängigkeit und Kreativität. Universalismus bedeutet, den Kosmos von innen zu studieren und nicht unseren Globus als Betrachtungsperspektive zu nehmen. Globalisierung bedeutet, unseren Globus, d.h. den Planeten Erde, von außen - aus der kosmischen, nicht aus der irdischen Perspektive - zu studieren. In diesem Fall wird die Erde als eine Einheit ohne Trennungslinien und Dichotomien gesehen werden. Mit dem Internet sind die zeitlichen wie die räumlichen Entfernungen verschwunden, und aus diesem Verschwinden erwachsen die Interdependenzen und die Globalisierung von allem und jedem. In der Folge können regionale Probleme oft nur im globalen Kontext gelöst werden. Und umgekehrt machen sich die globalen Probleme auch auf der regionalen Ebene bemerkbar. Auf diese Weise fuhrt Globalisierung zur wechselseitigen Abhängigkeit. Da diese Phänomene neu sind, erfordern ihre Inhalte eine neue, genauer: eine kreative Denkweise. In diesem Zusammenhang soll vom „Quartett der Zukunft" die Rede sein. Dann stellt sich zunächst die Frage, wie dieses „Quartett der Zukunft" realisiert werden kann. Oder negativ formuliert: Welche Hindernisse stehen diesem Vorhaben im Wege? Meiner Meinung nach bilden das wesentliche Hindernis, das alle anderen überragt, die religiösen Fundamentalismen. Historisch betrachtet datiert der Fundamentalismus auf den Beginn des 20. Jahrhunderts, als zwischen 1910 und 1915 eine Reihe von Broschüren mit dem Titel The Fundamentals in Um-
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lauf kamen. Diese Broschüren kritisierten den Versuch der christlichen Religion, sich den Entwicklungen der Moderne, wie der Wissenschaft, der Theorie der Evolution, dem Liberalismus anzupassen und plädierten für das unauflösliche Festhalten an der wortgetreuen Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift. Von hier aus könnte man den Fundamentalismus als eine anti-moderne Ideologie definieren, die sich gegen den aufgeklärten Kapitalismus wendet, der die religiöse Weltanschauung [dt. i. Orig.] abgelöst hat. In diesem Sinne unterscheidet sich der Fundamentalismus vom Konservatismus. Der Konservatismus akzeptiert die moderne Einschränkung des Status von Religion sowie die moderne Welt als Bühne, auf der die theologische Aufgabe wahrgenommen werden muss. Der Fundamentalismus dagegen verweigert sich dem modernen logos. Daher geht es ihm nicht darum, Religion in die Kategorien modernen Denkens zu übersetzen, sondern umgekehrt diese Kategorien so zu ändern, dass sie Religion in sich aufnehmen. Die fundamentalistische Bewegung wurde zu einem internationalen Phänomen; in meiner Darstellung werde ich mich aber auf zwei fundamentalistische Bewegungen, die christliche und die islamische, beschränken. Der christliche Fundamentalismus hat sich 1979 in der Moral Majority, der „Moralischen Mehrheit" verkörpert. Die Bewegung wurde von dem evangelikalen Reverend Jerry Falwell gegründet, mit dem Ziel, die USA von der Rüstungskontrolle zu befreien, ein militärisches Verteidigungsnetz zu errichten und die anti-kommunistische Propaganda auszuweiten. Zur Untermauerung dieses Vorhabens formte er aus seinen Anhängern eine Koalition, die Christen, Juden und Mormonen einschloss, mit dem Zweck - wie er selbst formulierte - , „die Gewehre der Theologie auf Liberalismus, Humanismus und Säkularismus zu richten." 1 Dem christlichen entspricht der islamische Fundamentalismus, wie er repräsentiert wird von islamischen Gruppen unter der Führung von Mawlana AbulA'ala al-Mawdoudi in Pakistan, Saiyed Quttb in Ägypten und Ayatollah Khomeini im Iran. Alle drei betrachteten den kapitalistischen Westen und den kommunistischen Osten als die beiden Lager der Ignoranz, die vom islamischen Fundamentalismus gleichermaßen ausrangiert werden sollten, zu Gottes Ehre und um Araber und Moslems durch den Islam zu stärken. Wer aber nach Ehre und Stärke außerhalb des Reiches Gottes suche, sei verachtenswert. Was genau jedoch meint das Wort „Ignoranz" oder arabisch jahiliyyal Quttb zielt damit auf die Renaissance, die Reformation und die Aufklärung, deren Folgen die militanten Moslems verpflichtet seien, zu beseitigen, und zwar unter der Bedingung, dies nicht mit friedlichen Mitteln, sondern durch den Krieg zu bewerkstelligen. Diese Forderung wurde weiter ausgearbeitet vom Theoretiker der iranischen Revolution, Ali Shariati, in seinem Buch Soziologie des Islam, in dem er die Weltgeschichte unter dem Aspekt der Religion interpretiert. Er erkennt in der Geschichte von Kain und Abel den Anfang eines Krieges, 1 Jerry Falwell, Listen America, New York 1980: Doubleday, S. 16-18.
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Mourad Wahba
der heute immer noch ausgefochten wird und dessen Ende nicht absehbar ist. Beide Brüder haben sich der Religion als Waffe bedient, und von hier aus ist der Krieg zwischen den Religionen zu einer Konstante der Menschheitsgeschichte geworden. Auf der einen Seite gibt es die Religion von „shirk", was bedeutet, die Partner Gottes in der Welt zu bestimmen. Dies ist die Religion der Drückeberger, die die soziale Ungleichheit verteidigt. Auf der anderen Seite haben wir die Religion von „ tawheed" oder der göttlichen All-Einheit, die die Gleichheit aller Klassen und Rassen verteidigt. Ausgehend vom unvermeidlichen Krieg zwischen shirk und tawheed, bestimmt Shariati als wichtigstes islamisches Prinzip die Fähigkeit, sich selbst zu opfern, um Zeugnis abzulegen. Dieses Prinzip treibt den Moslem ohne Zögern in den Krieg. In dieser Hinsicht ist es nicht der Tod, der den Märtyrer heimsucht, sondern der Märtyrer wählt bewusst und aus freiem Willen den Tod. Das ist kein Märtyrertum oder shihada der Tragödie, sondern das eines Ideals, denn das Blutopfer als Glaubenszeugnis stellt den höchsten Grad der Perfektion dar. Was bedeutet, dass der wahre Moslem der militante Märtyrer ist. In der Konsequenz kann man alle Fundamentalisten beschreiben als das, was ich „die Herren der Wahrheit" [truthlords] genannt habe, die glauben, die absolute Wahrheit zu besitzen. Vor diesem Hintergrund werden sie unweigerlich zu Agenten des Terrors, der Gewalt und des Anschlags, mit dem Anspruch, für die absolute Wahrheit gegen die Drohung ihrer Vernichtung zu kämpfen. In diesem Sinne kann der religiöse Fundamentalismus aus einer umfassenderen Perspektive gesehen werden, der des Dogmatismus. Wenn wir daher darauf zielen, die religiösen Fundamentalismen zu beseitigen, müssen wir die Dogmen entdogmatisieren, um den Weg für ein neues Verständnis des Glaubens zu bereiten. In diesem Zusammenhang muss die Frage nach der ursprünglichen Bedeutung von „Glauben" gestellt werden. Im Lateinischen bedeutet credo „ich setze mich mit ganzem Herzen ein" oder „ich fühle mich verpflichtet". Der Terminus cred ist ein Kompositum aus core, cordis. Das bedeutet „Herz", wie im englischen cordial und den Ableitungen cardiac und electrocardiogram zum Ausdruck kommt, oder im verwandten griechischen Wort kordia. Im Laufe der Zeit änderte das Verb credo jedoch seine Bedeutung hin zu „glauben". Drei Jahrhunderte hat es gedauert, bis auch die Kirche den neuen Sinn des Wortes credo übernahm. Bis dahin musste man Fragen, die mit credo begannen, anders verstehen, etwa: „Fühlst du dich dieser Sache verpflichtet oder nicht?" Später nahm dieselbe Frage die Bedeutung an: „Fühlst du dich diesem oder jenem Dogma verpflichtet?" Hier trat das Wort „Dogma" an die Stelle des Wortes „Glauben". Bevor ich fortfahre, möchte ich den Begriff „Dogma" kurz erläutern. „Dogma" stammt aus dem Griechischen, wo dieses Substantiv einen Gedanken bezeichnet, der leicht veränderlich ist, weil er sich nicht auf logische
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oder wissenschaftliche Überlegung stützt. Der Plural „Dogmen" steht für die grundlegenden Ideen, die das Denken einer Person oder einer Gemeinschaft bestimmen und sie dadurch auch in ihrem Handeln leiten. Dogmen werden eher von einer externen Autorität abgeleitet als durch einen individuellen Denkprozess hervorgebracht. Hieraus entsteht ein Dogmatismus, der den menschlichen Verstand von der Bestätigung einer Meinung abhält und zu einer Denkweise fuhrt, die auf von der Reflexion nicht geprüften Voraussetzungen basiert. „Dogmatisieren" kann daher bedeuten, autoritativ zu sprechen ohne einen Bezug auf Argumente oder Belege. Dann begann man, mit dem Wort die Lehrsätze der Konzile und des Papstes zu bezeichnen: Sie wurden „Dogma" genannt. Im Laufe dieser historischen Entwicklung wurde Dogma zum Wort für die Sammlungen von Doktrinen, die nach den Entscheidungen kirchlicher Autoritäten formuliert und für ihre Gemeinde obligatorisch wurden. Ein Dogma enthält also immer zwei Elemente: die unveränderlichen Wahrheiten und die kirchliche Autorität, die deren Unwandelbarkeit und Unfehlbarkeit garantiert. Die Schöpfer dieser Wahrheiten sind die Theologen, und ihre Wissenschaft wird als die der Dogmatik bezeichnet, oder genauer eben als Theologie. Hier muss die Frage gestellt werden, wie die Theologie funktioniert. Sie funktioniert, indem sie den Glauben mit dem menschlichen Verstand in Einklang bringt, unter der Bedingung, dass der Verstand den Glauben als seine Lebenswelt voraussetzt. Das heißt, die Essenz des Glaubens besteht darin, nach seiner eigenen Vernunft zu suchen. So grenzt der Verstand sich selbst ein. Trotzdem treiben die Neuerungen der Realität den Verstand dazu, seine Grenzen zu überschreiten, um die entstandene Situation zu bewältigen, was die Theologie in eine Krise treibt. Wie jede Krise enthält auch die der Theologie einen grundlegenden Widerspruch. Hier betrifft er die Dogmatik: Wenn ein Dogma sich entwickelt, wird es kein Dogma mehr sein. Bleibt es aber unverändert, wird es von der Wirklichkeit überholt und verliert seine Geltung. Angesichts dieser Herausforderung argumentieren die Theologen, was sich im Laufe der Zeit am Dogma entwickelt oder verändert zu haben scheine, sei nur eine Illusion, insofern es von Anfang an im Dogma enthalten gewesen sei. Demzufolge bleibt das Dogma an sich unverändert, lediglich seine Artikulationen gewinnen mit der Zeit an Komplexität. Die historische Realität hat diese Theorie jedoch in Gestalt von vier Präzedenzfallen widerlegt. An erster Stelle erwähne ich die religiöse Reformation im 16. Jahrhundert, die die Lehre der Hermeneutik hervorbrachte, welche die vollständig rationale Auslegung der heiligen Schriften legitimierte. Dies hatte zur Folge, dass der Verstand nicht mehr an den buchstäblichen Wortsinn gebunden war, den er nun in allegorischen und metaphorischen Interpretationen übersteigen konnte. Seither begannen die Interpretationen zu divergieren, ohne dass der Autor der Ketzerei oder des Atheismus bezichtigt wurde.
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Mourad Wahba
An zweiter Stelle steht die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die eine absolute Befreiung des Verstandes von jeglicher Autorität außerhalb seiner eigenen postulierte. In diesem Rahmen entstand die Theorie des Sozialvertrags und die Gesellschaft wurde auf menschliche Bündnisse und Satzungen gegründet statt auf göttliche. Die dritte nennenswerte Entwicklung war die Entstehung des logischen Positivismus, der alle bestehenden Formen des theologischen Diskurses, ob konservativer oder liberaler Orientierung, als sinnlos, belanglos oder banal diskreditierte. Sinnvoll könne eine theologische Sprache nur noch dort sein, wo sie sich gegen ihre eigene historische Identität wende bzw. die Theologie sich selbst negiere und ihrer Dogmen entsage. Die Theologie mit dogmatischem Angesicht hätte sich zu verabschieden. Schließlich der „Universalismus" als Ergebnis der wissenschaftlichen und technologischen Revolution, die ihren Höhepunkt in der Eroberung und Erforschung des Weltalls erreicht hat. Der Mensch landet auf dem Mond, und seine Instrumente erreichen Venus, Mars und andere Planeten. Damit fallen allmählich die Barrieren zwischen Mensch und Kosmos, aber auch zwischen Mensch und Mensch, und das Fallen dieser Barrieren bedeutet auch das Ende des Dogmas. Das bringt uns zu unserem „Quartett der Zukunft", das den Tod des Dogmas realisiert. Auf welche Weise? Das „Quartett der Zukunft" beinhaltet den Tod der Entfernung, in Zeit und Raum, wodurch Barrieren im Allgemeinen und im religiösen und kulturellen Bereich im Besonderen vernichtet werden. Da solche Barrieren unabdingbar für die Artikulation von Dogmen sind, können nach ihrem Verschwinden keine Dogmen entstehen. In diesem Fall wäre der Mensch zufrieden mit Glauben als einer persönlichen Beziehung zwischen ihm und dem Objekt seines Glaubens, ohne jedes Dogma oder, genau genommen, ohne absolute Wahrheit. So erhebt sich die Frage, welches Schicksal in diesem Fall den Begriff der absoluten Wahrheit erwartet. Mit dem Tode des Dogmas kommt auch die absolute Wahrheit an ihr Ende, denn sie wird als Illusion erkannt. In diesem Fall werden wir den interkulturellen Dialog fortsetzen können ohne Gefahr, in Dogmatismus zu fallen oder der absoluten Wahrheit zu verfallen, welche die wesentlichen Hindernisse für diese Art von Dialog darstellen.
A. d. Engl. v. Teresa Bacz-Solgala/Michael
Sonntag
F r a n c i s de Bernard
ARMUT UND GEWALT
Im Vorfeld möchte ich erwähnen, dass der Titel nicht von mir stammt, sondern von den Organisatoren unseres Zusammentreffens vorgeschlagen wurde. Es ist wahrscheinlich nicht der Titel, den ich gewählt hätte, aber da ich davon überzeugt bin, dass es überragende Gründe gibt, diese Problematik zu untersuchen, habe ich mich ohne Diskussion und vorhergehende Klarstellung des Themas angenommen. Ich stelle übrigens fest, dass es eine allgemein sehr profitable Spielregel ist, sich mit Themen auseinanderzusetzen, mit denen man sich normalerweise (aus Gewohnheit oder Not) nicht beschäftigt, und ich empfehle, diese Regel auf den Entwicklungsrahmen des interkulturellen Dialognetzes auszuweiten, an dem teilzunehmen wir eingeladen sind. Ich mache diese Bemerkungen, weil es berechtigt wäre, denjenigen für unvernünftig zu halten, der auf egal welcher Bühne auftaucht und vorgibt, mit seiner Rede eine derart furchterregende Problematik wie „Armut und Gewalt" zu umfassen, die doch die essentiellen Übel der modernen und vergangenen Menschheit ausdrückt... Wenn ich also dennoch diese Herausforderung angenommen habe, dann nicht aus Eigendünkel, auch nicht aus dem Motiv zu vermutender „Kompetenz"' heraus, sondern um unserem Ziel zu dienen, das uns durch die Dynamik der europäischen Mittelmeerpolitik vorgegeben ist, nämlich die Idee des Nachdenkens, des Begleitens und wenn möglich des Befürwortens einer derartigen Dynamik für das Inkraftsetzen eines kulturellen Dialoges, der die Bindungen zwischen den Völkern und den Nationen der Mittelmeerregion vertiefen soll - zwischen jenen 35 Ländern, die sich bemühen, die Konturen eines gemeinsamen und pazifistischen Zukunftsprojekts zu definieren, bei dem alle in gegenseitigem Respekt das Gefühl haben könnten, Gewinner zu sein.
1. Vier Paradigmen Um damit zu beginnen, diese Herausforderung zu erfüllen, erscheint es mir unerlässlich, mit vier Paradigmen anzufangen, welche die Debatte monopolisieren, seit es darum geht, Fragen der Armut und der Gewalt anzusprechen.
1 Vgl. insbesondere meine beiden Arbeiten Le Gouvernement de la pauvrete (Paris 1995) und La Pauvrete durable (Paris 2002).
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Francois de Bernard
1. Das erste Paradigma kann man den ,JCreislauf von Armut und Gewalt nennen. Es bezieht sich auf die gegebenen Fakten, dass (a) Armut systematisch Gewalt erzeugt, und (b) die so erzeugte Anhäufung von Gewalt selbst wieder Armut produziert, die dann wiederum ... usw. Diese Feststellung wird bei jeder Gelegenheit mit zahlreichen Belegen zur Bekräftigung2 hervorgehoben. 2. Das zweite Paradigma ist das von forden vs. Süden". Das ist die Vorstellung, dass die Beziehungen zwischen Armut und Gewalt zuerst vom Verhältnis zwischen Norden und Süden ausgehend gedacht werden müssen, und zwar mit einer historischen und geopolitischen Perspektive, die mindestens bis zu den ersten modernen Kolonisierungen zurückreicht. Von diesem Blickwinkel aus kann alles oder alles Wesentliche durch die ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Asymmetrien erklärt werden, die von den Kolonialherren einfuhrt wurden und deren gegenwärtige Effekte sich in den Migrationsströmen zeigen, die durch die Verarmung der aus dem „Süden"3 stammenden Völker erzeugt werden. 3. Das dritte Paradigma, die „zwei Ufer der Mittelmeerregion", könnte man auch durch die symbolische Darstellung Europa/(Maghreb+Machrek) bezeichnen. Es stellt eine Spezifikation des vorherigen (Nord/Süd) dar, wobei die Entwicklung der Gewalt und der Armut im „Mittelmeerraum" vorrangig in Bezug auf die zwischen den beiden Ufern errichteten historischen Asymmetrien analysiert werden muss. Das Sinnbild dieses Paradigmas kann in den kürzlichen Ereignissen in Ceuta und Melilla4 gefunden werden, und in den chaotischen Interpretationen, die ihnen folgten. 2 Der folgende Auszug stammt aus einer UNO-Mitteilung vom August 2005 und bietet eine der grundlegenden Illustrationen: „Die Ungleichheit ist oftmals die Quelle der Gewalt. Es ist fur den Frieden und die nationale und internationale Sicherheit gefahrlich, die ökonomischen und politischen Ungleichheiten sich noch weiter vertiefen zu lassen. Tatsächlich erzeugen die Ungleichheiten, insbesondere die des Kampfes um die politische Macht, Land und andere Güter, die Desintegration der Gesellschaft, den sozialen Ausschluss und fuhren zu Konflikten und Gewalt." 3 Zu diesem Punkt zitiere ich einen kürzlich erschienen Bericht der Technischen Mission der EU in Ceuta und Melilla (Oktober 2005): „Africa had 221 million inhabitants in 1950 (8.7% of the world population); the figure is now 800 million (13.5% of world population). Projections foresee a population of 1.3 billion in 2025 and 1.75 billion in 2050. Economic growth has not matched demographic growth, and so hundreds of millions of Africans live in poverty. In 2001, 46.4% of the Sub-Saharan population lived on less than US$ 1 a day. Moreover, Africa is confronted with large scale environmental degradation which causes many people to leave their homes. In addition, we cannot exclude that there will remain a number of conflicts on the African continent or that conjectural events such as last year's locust invasion in the Sahel region will urge people to seek refuge outside their countries of origin. Misery and fear are pushing people out of their regions of origin in search of a better life in more stable and developed regions, first among them Europe. Therefore, in the medium term, it is expected that migration pressure will further increase." 4 Dieses Paradigma findet man im folgenden Auszug aus der Humanite vom 6. Oktober 2005: „Die heftige Antwort der spanischen Streitkräfte auf die wiederholten Anstürme der Immigranten führte am gestrigen Donnerstag zu fünf Toten, während täglich ein weiteres Dutzend Einwanderer verletzt wird. Die Brutalität der Konfrontationen scheint Madrid, das mit 70%iger
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4. Schließlich das vierte Paradigma - es nimmt einen beachtlichen Platz in den Diskursen über Armut und Gewalt ein: der Begriff der „Globalisierung", der sich mit dem ersten Paradigma, dem des Kreislaufs, artikuliert, um es fortzusetzen und zu verstärken. Aus der Sicht dieses Paradigmas muss die „Globalisierung" (ökonomisch, finanziell und informationell, im Unterschied zu den anderen Mondialisierungen) hic et nunc als der „erste Motor" einer Betonung der „Armut" (global, regional und lokal) betrachtet werden, reduziert auf ihre ökonomischen und sozialen Dimensionen, sowie einer begleitenden Ausdehnung von „Gewalt", wobei sich die drei „Phänomene" wechselseitig so verstärken, dass die Mittel und Wege, einen solchen „Zyklus" zu verlassen, offenbar nur äußerst mühsam zu erarbeiten sind. 5
2. Ursprünge und Modalitäten der Paradigmen Tatsächlich gehen die verschiedenen Arten von Begriffen, die hier genannt wurden, alle aus einer Idee der Grenze hervor, die noch kein Konzept beschreibt, sondern eine vage und konfuse Vorstellung bleibt. a) Zuerst die konzeptuellen Grenzen: jene zwischen arm und reich; zwischen Armut und Entwicklung; Okzident und Orient, Nord und Süd; Europa und den „Entwicklungsländern"; und letztendlich - natürlich - zwischen Armut und Gewalt. b) Es folgen die geographischen, staatlichen oder regionalen Grenzen. Man betrachtet sie normalerweise als gesichert und von entscheidendem Einfluss auf die Situationen von Armut und Gewalt - aber kann man sich nicht auch einen anderen Standpunkt denken? c) Die Grenze wird meistens als einfache Schranke wahrgenommen und als nichts anderes (eine „Grenzschranke"), die nichts weiter hervorbringt als Trennung zwischen Staaten, zwischen den Regionen, den Menschen, den Wirtschaften, den Politiken, den menschlichen Phänomenen - wie der emblematische Charakter der Grenzschranken von Ceuta und Melilla, der niemandem entgangen ist.
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Unterstützung der öffentlichen Meinung entschieden hatte, die Armee als Verstärkung zu entsenden, nicht zu berühren. Der Bürgermeister von Melilla gab vor kurzem den Bau einer .dringend benötigten' dritten Umzäunung um die Enklave bekannt, die sich an die beiden bereits existierenden anfügen soll. Auf marokkanischer Seite wurde ebenfalls hart agiert. Seit einigen Tagen durchkämmen hunderte von Polizisten die an die Enklave angrenzende Zone mit dem Ziel, eventuelle Immigrationskandidaten abzufangen." „In der Eigenschaft als Konsequenz oder als eigentlicher Teil dieses Phänomens [der Globalisierung] zirkuliert die Gewalt frei, und das im Angesicht machtloser Staaten, die bis dahin die Garanten einer politischen, ökonomischen und moralischen Ordnung darstellten" (La communaute internationale ä l'epreuve de la „libre circulation de la violence", Universität von Kinshasa n°3, Februar 2003).
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d) Schließlich scheint die hauptsächliche Funktion der Grenze das Einrichten und Verstärken der binären und normativen Logik der Beziehungen zwischen Armut und Gewalt zu sein, sowie jener, die sie schon unterhalten mit Entwicklung, Globalisierung, Nord, Süd, Okzident, Islam ... Die Grenze scheint sich immer zu ereignen um des Erklärens6 willen, eines bequemen Erklärens mit einer Klarheit, die einen schwindeln lässt. Das ist eine arrangierte Antwort auf eine unangebrachte Frage. In der normativen Darstellung wird die Armut als Ursache für die Gewalt gezeigt, dann die Gewalt als Ursache für die Armut und dann wieder, gemäß einer aufsteigenden Spirale, beide als die realen Effekte des Einen und des Anderen. Fügt man die Globalisierung noch als Grund (der Steigerung) der Armut hinzu, erhält man ein beruhigendes Kausalitätsschema. Dieses aber radiert das Wesentliche womöglich aus - d. h. diejenigen Verknüpfungen ζ. B., die nicht auf einer simplen (einer offensichtlichen) Kausalität beruhen, sondern auf einer Verbindung, einer Angrenzung, einer Kontamination, einer Ausweitung, einer Überschwemmung, einer Inklusion usw. Folglich geschieht alles so, als ob diese anderen Artikulationsmöglichkeiten der Form von Exklusivität widersprechen würden, die man der Kausalitätsbeziehung zwischen Armut und Gewalt meist zuspricht. Als ob diese Möglichkeiten - von der Verbindung bis zur Inklusion - schändlich erschienen, ja nicht einmal darstellbar. Scheinbar fällt es sehr schwer, Armut und Gewalt verbunden in unterschiedlichen Maßstäben zu denken, indem man sich fähig zeigt, andere als rhetorische Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Rahmen zu etablieren, in denen sie sich einbringen. Wenn man dies z.B. mit den folgenden Rahmen versucht: zuerst 1.) einen lokalen Rahmen (die Tizi Ouzou-Provinz), dann 2.) einen nationalen (Algerien), weiter 3.) einen „regionalen" (Mittelmeer) und schließlich einen „globalen" („die Globalisierung"), so muss man sich fragen, wie man die Verknüpfungen zwischen Armut und Gewalt in der Funktion für jeden einzelnen dieser Rahmen denken kann, aber gleichzeitig muss man die Beziehungen berücksichtigen, die diese Rahmen miteinander unterhalten. Wie soll man den beiden normativen Ansätzen widerstehen, die da sind: a) das Verständnis sektorisieren (also die Idee verfolgen, dass alles von einem besonderen Rahmen abhängt) und b) alles über das Aufsaugen des Lokalen durch das Globale erklären? Als Resultat trifft man auf den Widerspruch, dass c) man Armut und Ge6
Die Mittelmeerregion ist die unausgeglichenste Grenze der Welt; keine andere Grenze teilt so große Einkommensunterschiede. Zwischen 1994 und 2004 hat sich das BSP pro Einwohner der 15 nördlichen Staaten mehr als verdoppelt und erreicht damit heute mehr als 30000 Dollar. Zur gleichen Zeit stieg am südlichen Ufer des Mittelmeers das Einkommen von etwas unter 5000 Dollar auf etwas darüber. Für die zehn neuen Mitglieder der EU stieg das Einkommen von 6000 auf fast 15000 Dollar - so Präsident Borrel zur Eröffnung der außerordentlichen Plenarsitzung der Parlamentarischen Versammlung der Mittelmeerregion APEM (Assemblee parlementaire euromediterraneenne) am 21. November 2005 in Rabat.
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wait nicht mehr „lokal denken" will, aber d) nicht (oder noch nicht) ,.global denken" kann (man arrangiert sich, indem man das Lokale in die Funktion des Globalen zurückfuhrt - und spricht folglich vom „Glokalen", um Ignoranz oder Unfähigkeit zu verbergen); und e) zeigt man sich unfähig, selbst die Verbindung zwischen den verschiedenen Rahmen zu denken, in denen sich Armut und Gewalt entfalten. Die normative Recherche ist fast immer auf die verantwortlichen Ursachen und die schlechten Entscheidungen ausgerichtet: politische, ökonomische, soziale, nationale oder multilaterale - sie alle sind geeignet, die fortschreitende Armut und Gewalt zu erklären. In diesem Punkt wird der Ausweitung der Globalisierung eine besondere Verantwortung zugeschrieben - ein Allzweck-Grund, der viel missbraucht wird. Also verbleibt man in einer gewissen „Selbstverständlichkeit", die man immer mit Quantität und Statistiken verbinden und mit der man sich sogar zufrieden geben kann. Aber all dies geschieht, als ob man - nebenbei - das Wichtigste vermeiden (oder unterlaufen) würde: den Einfluss und die (eigentliche und deutliche) Rolle der organisierten Zerstörung der Politik, ihrer vielfachen Anfechtung und ihres Verlustes an planetarischem Terrain. Eine Auflösung, in welche die Globalisierung als Projekt (als Herrschaft der Wirtschaft über alle anderen Aktivitäten und Sektoren), aber auch andere Entwürfe (kommunitaristische, ethnische, terroristische etc.) effektiv eingreifen und die Politik zurückweisen.7
3. Abgrenzungen, Schranken, Grenzen Bevor wir die verschiedenen Paradigmen hinter uns lassen, in deren Inneren sich wie in einer Falle die Problematik von „Armut und Gewalt" findet, schlage ich vor, sie anhand einiger verfügbarer Instrumente, die sich bereits bei einigen Gelegenheiten bewiesen haben, noch einmal zu besprechen. Diese Instrumente sind die Begriffe Schranke [borne], Grenze [limite], Abgrenzung [frontierej, Borderline, aber auch Inklusion. Das erste analytische Instrument - und ohne Zweifel das wertvollste - wird uns von Kant in seinen wichtigsten Werken geliefert,8 nämlich das Wortpaar Schranke/Grenze. Kant unterscheidet zwischen den Schranken der Erkenntnis, die die Unfertigkeit in der Wissenschaft markieren, und den Grenzen, den Negationen, die ihr immanent sind. Um die Kraft dieser Dynamik zwischen 7
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„Die Globalisierung des Wirtschaftsmarktes scheint nicht nur die traditionellen Organisationsformen der Politik und der nationalen Souveränität zu annullieren, sondern setzt die Gesellschaft zugleich neuen Gewaltformen, Ausschließungen und Unhöflichkeiten aus, die an die Delegitimierung der politischen Autorität und an das Verschwinden gemeinschaftlicher Markierungszeichen gebunden sind. Darin konstituiert sie eine wirkliche Herausforderung für die Politik, für ihren modus operandi und zugleich für das, was ihm Sinn gibt" (Etienne Tassin, Hg., Eine gemeinsame Welt: für eine Kosmopolitik der Konflikte, Paris 2003). Prolegomena, Kritik der reinen Vernunft etc.
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Schranken und Grenzen zu unterstreichen, greife ich auf einen Abschnitt aus einer Vorlesung von Deleuze zurück, der das kantische Instrument auf bewundernswerte Art und Weise beschreibt: Ich würde sagen, mit Kant gewinnt die Zeit einen tonalen Charakter, sie hört auf, modal zu sein [...] Sie sehen die zyklische Linie, wenn die Zeit zyklisch ist, ist sie eine Linie, die die Welt einschränkt, und wenn die Zeit eine gerade Linie wird, schränkt sie die Welt nicht mehr ein, sondern sie wird sie durchqueren. Im ersten Fall ist die zyklische Zeit eine einschränkende und dadurch wirkende Zeit, die - was für die griechische Kultur immer den höchsten Akt darstellte - dadurch die Begrenzung bewirkt. Wenn die Zeit eine gerade Linie wird, die Welt nicht mehr beschränkt, sondern sie durchquert, ist sie nicht mehr eine Grenze im Sinne einer Begrenzung, sie bildet eine Grenze im Sinne von: am Ende sein, sie ist immer weiter am Ende, im Sinne eines Übergangs zur Grenze. Das gleiche Wort,Grenze' ändert seine Bedeutung radikal, es ist nicht mehr eine Handlung, die etwas begrenzt, sondern es ist im Gegenteil das (Grenz-) Mal [terme], zu dem alles hinstrebt, und sie ist zugleich das Streben danach und das Ziel des Strebens, das ist eben die Zeit. 9
Wir sind daran gewöhnt, die Fragen nach Armut, nach Gewalt und nach „Armut und Gewalt" in gesetzten Schranken zu denken (im Sinne einer einfachen Negation, die nichts darüber sagt, was jenseits ist). So die Schranken, an denen die Armut „beginnt" oder „endet", 10 und Vergleichbares gilt für die Gewalt, die man zunehmend mit „soziopolitischen" Indikatoren misst: Unterhalb der von den Indikatoren bezeichneten Schranken wäre es noch keine Gewalt (wer misst dann wohl die Gewalt des konzeptuellen und sprachlichen Ausschlusses?); oberhalb davon wäre es etwas anderes als Gewalt (was andere Kategorien erfordern würde, wie ζ. B. Terrorismus, Monstrosität, Unmenschlichkeit). Das Gleiche gilt für „Armut und Gewalt", die zuerst in ihrer Trennung durch eine oder mehrere Schranken gedacht werden: Der normative Diskurs bezeugt, dass Armut (hier) und Gewalt (dort) gewiss koexistieren können, auch ihr gemeinsames Vorkommen wird natürlich häufig verzeichnet, aber ohne dass man ihnen eine wirkliche Gemeinschaft von Ort und Sein zuschreiben könnte. Ich schlage vor, die Perspektive wie folgt zu ändern. Zuerst wird man Armut und Gewalt als nicht beschränkt denken, aber als gemeinsame (wenn nicht gar geteilte, das wäre zu untersuchen) Grenzen aufweisend mit anderen Objekten des Denkens wie „der Globalisierung", „dem Weltmarkt", „der Entwicklung", „der Auflösung der Politik", „der Deregulierung", „den Menschenrechten". Zweitens wird man Armut und Gewalt als mit gemeinsamen Grenzen ausgestattet denken, mit anderen Worten, wie zwei Ränder derselben Grenze. Armut und Gewalt sind sicher nicht „dasselbe", können aber auch nicht länger getrennt voneinander behandelt werden: Dies ist die Idee vom „Übergang zur Grenze" von Deleuze.
9 Gilles Deleuze, Vorlesung vom 21. März 1978, Universität Vincennes. 10 Vgl. den berühmten „Armutsindex", hauptsächlich monetärer und statistischer Natur, über den man sich seit über 40 Jahren streitet, nur um unerschütterlich auf die angebliche Schwelle von „ein Dollar pro Tag und Einwohner" zurückzukommen.
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Drittens könnte nach einer Deterritorialisierung im Sinne der Entfernung von Schranken11 dann eine Reterritorialisierung erfolgen, wie sie favorisiert werden würde durch ein andersartiges Denken der (existierenden und vorzustellenden) Grenzen zwischen Armut, Gewalt, Demokratie, Globalisierung, Weltmarkt, Nationalstaaten, Europa, Mittelmeerregion, Afrika, der Welt und schließlich: der Politik... Dies würde erlauben, insbesondere die Armut als einen anderen Abhang, als einen anderen Rand, als eine gemeinsame Grenze der Globalisierung zu verstehen - was ganz und gar nicht dasselbe ist, wie sie als deren „Produkt", deren Konsequenz anzusehen - und daher als Werk innerhalb der Globalisie12
rung. Die als „Borderline" bezeichneten psychiatrischen Phänomene sind hier einschlägig, weil sie sich an der Grenze aufhalten, in einer höchst unbequemen Position sind sie dort blockiert, werden oft als „instabil", „antisozial" beschrieben, zwischen diesem und jenen (und besonders zwischen Neurose und Psychose). Wenn es darum geht, sich diesen Borderlines13 zu nähern oder sie zu definieren, werden Armut und Gewalt oft als Gründe genannt. Die Borderline platziert sich in der Tat zugleich am Rand der Armut und am Rand der Gewalt (desozialisiert, verarmt, gewalttätig ...!). Aber es ist wichtig hervorzuheben, dass Borderline nicht den Begriff der Schranke im engeren Sinne wiedergibt: Man befindet sich nicht „auf einer Schranke", wie man sich „auf einer Borderline" befinden kann. De facto werden die Grenzschranken von Ceuta und Melilla in einer ersten Analyse als Schranken wahrgenommen, die durchbrochen werden können. Gewalt und Armut scheinen in diesem Akt eng miteinander verbunden zu sein. Als Resultat muss man sich selbst im Zuge dieses Verhaltens einfach „Gewalt antun" lassen und sich der Gewalt der Grenzwächter stellen. Man denkt, dass, sobald die Schranke überwunden ist, Armut sich in „Reichtum" verwandeln wird (so wie der Kürbis von Aschenputtel sich in eine Kutsche verwandelt), aber in den meisten Fällen transferiert man nichts als die Armut, und überdies noch die empfangene bzw. zugefügte Gewalt. Es ist interessanter, zu erwägen, was es auf dieser Grenze, die Ceuta und Melilla verkörpern, geben könnte: Borderline-Bürger, die nicht mehr darunter („das Zuhause der Armut") und sicherlich nicht mehr darüber sind. Bürger, die an genau diesem Ort die extreme Spannung zwischen diesen Rändern derselben und gemeinsamen Grenze hervorheben: Globalisierung14/Verschwinden der Politik/Armut und Gewalt. Weil diese Bürger tatsächlich nichts weiter als einen „Kunstgriff zu durchbrechen haben, die übersprungene Schranke, wer11 Diese Grenzmarkierungen, die vorgeben: „Anmut hinter dieser Grenze, Reichtum hinter jener". 12 Im Sinne von ,^4rmutsregierung'\ die ich im gleichnamigen Buch konzipiert habe (s. o.). 13 Das DSM IV (eine psychiatrische Lektüre, die nicht vielen Psychoanalytikern zusagt wird) fasst die Probleme einer Borderline-Persönlichkeit zusammen: eine markante Impulsivität und eine Instabilität der zwischenmenschlichen Beziehungen, des Selbstbildes und der Affekte. 14 Globalisierung im Sinne von Grenze, was nicht unbedingt offensichtlich ist.
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den sie am gleichen Ort bleiben, der auch die gleiche Grenze bleibt. Ihre Borderlinequalität hält sie am Ort dieser Grenze fest. Die Grenzschranke von Ceuta und Melilla ist nichts weiter als eine unüberwindliche Illusion, „von einer Welt in eine andere" hinüberzugehen. Tatsächlich ist der wirkliche Ort hic et nunc Armut und Gewalt, der Ort, von dem man sich nicht trennen kann, indem man sich auf die Seite „des Nordens" oder „des Südens" platziert, weil die Globalisierung diese Grenze zur selben Zeit aufgehoben hat, wie sie die Politik als letzte Instanz aufgehoben hat (die in der Lage wäre, die Verteilung der Spielkarten zu ändern). Das erinnert uns an die Situation des berühmten Sir Alfred auf dem Flughafen von Roissy, der seit vielen Jahren borderline bleibt, ohne Visum, ohne Status, ohne Abreisemöglichkeit. Auf dieser territorialen Grenze trägt er mit und in sich jegliche Gewalt und Armut einer globalisierten Welt, die ihm keine einzige Antwort gibt, weil es keine industriealisierbaren, verkaufbaren Güter gibt, die seinem Fall entsprechen und an seine Adresse geliefert werden könnten. 15 Auch auf den mathematischen Begriff der Inklusion zurückzugreifen, könnte in Ergänzung zu den angesprochenen philosophischen und analytischen Instrumenten sehr nützlich sein, um „Armut und Gewalt" zu denken. Tatsächlich erlaubt die mathematische Inklusion eine abermalige Erweiterung des Grenzbegriffs. Ihre geometrische Figur vereinfacht die Darstellung von Armut und Gewalt als zwei Phänomenen, deren Zone der (variablen) Inklusion geeignet ist, sich unter dem Einfluss eines „externen Zwanges" entscheidend zu entwickeln (was gegensätzliche Effekte hervorbringen kann, je nachdem, worum es sich handelt, insbesondere ob um Globalisierung oder um Politik). Meine Arbeitshypothese lautet daher: 1.) unter der Dominanz der Globalisierung erreicht die Inklusionszone ihr Maximum (Tendenz: Armut = Gewalt 16 ), während 2.) sie 15 „Sir Alfred Mehran. Einkaufszone. Terminal 1 Roissy Charles de Gaulle", eine Adresse, an die eine beachtenswerte Menge Post aus der ganzen Welt geliefert wird. 16 „Das ökonomische neoliberale Model verursacht mindestens vier Gewalttypen: der erste strukturelle, resultiert aus der Politik der Anpassung, die vom IWF, von der Weltbank und anderen internationalen Finanzinstitutionen denjenigen Staaten auferlegt wird, die auf diese Organe angewiesen sind - dies sind fast alle Länder der dritten Welt oder er wird im Innern der Ersten Welt ins Werk gesetzt durch die Regierungen oder supranationalen Instanzen, wie der Europäischen Union. Diese Anpassungen erzeugen Ausgrenzung und Armut in der Dritten und Vierten Welt und verursachen häufig gewalttätige soziale Eruptionen. Der zweite Typ besteht aus eben diesen Eruptionen sozialer und politischer Gewalt, die die neoliberale Globalisierung in den Staaten hervorruft oder ihnen aufbürdet. Der dritte ist die wachsende Fremdenfeindlichkeit, wie sie sich in charakteristischen Gewaltausbrüchen gegen Immigranten manifestiert, die aus den Staaten der Peripherie in die Länder der Ersten Welt gelangen, getrieben von Armut, Ausgrenzung oder bewaffneten inneren Konflikten. Der vierte Gewalttyp ist schließlich jene Globalisierung der Aktivitäten der Wirtschaftskriminalität, wie Drogenund Waffenhandel, Geldwäsche [...] sowie der Menschenhandel von Süd nach West und von Ost nach West" (Alfonso Monsalve Salvatoro, Art. „Gewalt", in: F. de Bernard, Red., Dictionnaire critique de , Ja Mondialisation ", Paris 2002).
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sich unter dem Einfluss der Politik, die als Regulator wirkt, der die Unterscheidungen einbringt, bis auf ein inexistentes Minimum reduzieren kann (Armut und Gewalt verschwinden als solche nicht von der Bühne, finden im Gegenteil ihre ursprüngliche Spezifität wieder und können von Neuem als Armut und als Gewalt identifiziert und „behandelt" werden).
3.1 Das Konzept der organisierten Zerstörung der Politik Dieses seit vielen Jahren von Etienne Tassin und mir entwickelte Argument ist heute allseits bekannt. Ich fasse es auf meine Art zusammen: Das Projekt der (ökonomischen, finanziellen, informationellen) Globalisierung ist das der Rückkehr zum Nomos [Gesetz] des Oikos [Hauses] (zur Oikonomia) als notwendigem Primat für die Förderung und Ausweitung des Weltmarktes. Als Nebenwirkung erfolgt eine systematische Zerstörung der Politik, ihrer Projekte und ihrer Ansprüche. Dieses Gesetz des reanimierten [reaffirmee] Oikos sowie die Herrschaft des Weltmarktes haben (nicht zum Ziel, sondern) zur Konsequenz nicht nur die Auflösung jeglichen Einflusses, jeglicher Mittel und Instanzen der Politik, sondern auch insbesondere (und dies interessiert uns hier ebenso) die komplette Veränderung der „Kartenverteilung" bezüglich Armut und Gewalt. Tatsächlich wird unter dem Druck der Globalisierung als Projekt und in dessen Rahmen die Armut zu einem „Rest" (im mathematischen Sinne), der zugleich das Produkt der „Markteffizienz" 17 und das der „Funktionsstörungen" des Marktes ist (was die Neoliberalen natürlich der vorausgegangenen Herrschaft der Politik zur Last legen). Kurz, je mehr „globalisiert" wird (die ganze, nicht nur ein Teil der Ökonomie), umso mehr Armut wird gebraucht, die endlich als Schmieröl der Globalisierung zum Vorschein kommen sollte. Die Gewalt muss sich notwendigerweise ebenfalls ausbreiten, weil die Oikonomia verlangt, auf keine einzige Schranke zu treffen (aus Gründen der „Markteffizienz "), schon gar nicht auf eine politische Schranke. Die globalisierende Oikonomia, die systematisch die Politik zurückweist und zerstört, hat daher ein großes Bedürfnis nach Armut als Bedingung für ihre Effizienz ebenso sehr wie nach Gewalt als einer Modalität für ihre Entfaltung. Die „globalisierte Gewalt" wird somit zu einer geteilten Grenze mit der Armut als Grenze der Globalisierung, die nur durch die Politik eingeschränkt werden kann. Wenn man jetzt diese Lesart durch eine Konfrontation mit kürzlichen Ereignissen in der Mittelmeerregion bestätigen will - wohin fuhrt dies? Betrachten wir das Ereignis „Ceuta und Melilla" aus einer neuen Perspektive. 1. Der Beginn des Prozesses (die lokale Verarmung des Emigranten; Exilprojekt; Emigration; Beförderung in Richtung „Europa" ...) fugt sich gut ein in 17 Damit er das wirklich ist, heißt es, brauchte man immer mehr Profit, aber man sollte hinzufügen, dass man zuvor immer noch mehr Armut braucht!
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den allgemeinen Rahmen der Substitution der Globalisierung und ihres Projekts anstelle der Politik, unter den jeweiligen nationalen, regionalen und internationalen Modalitäten. Subjekt der Gewalt und der Armut und ihnen unterworfen, macht sich der Emigrant unter dem Druck der Globalisierung und angesichts der erwiesenen Machtlosigkeit der Politik in ihren diversen Gestalten auf den Weg. 2. Der Emigrant ist selbst begrenzt (er ist sozial und auch in Bezug auf die Staatsbürgerschaft borderline) und Träger einer Grenze (Armut/Gewalt), die beim Treffen auf eine Schranke (die Nord/Süd-Grenze oder EU/Afrika) verschwinden würde. 3. Er hat keinen anderen sozialen (oder sonstigen) Status und keine andere „Lösung", als diese Grenze zu verkörpern, in sich zu integrieren und darunter zu leiden, in der Armut und in der (erlittenen und dann womöglich als Strafe auferlegten) Gewalt. 4. Was den Ort betrifft, an dem sich das „Treffen" ereignet - (die Schutzbarrikaden von Ceuta und Melilla), so präsentiert er sich in der Tat als Schranke (zwischen den „Welten"), eine künstliche Schranke - nicht nur auf Grund ihrer materiellen Zerbrechlichkeit, sondern hauptsächlich, weil sie - wie eine Grenze - durchlässig ist. Es ist eben nicht der Fall, dass Armut und Gewalt diesseits, Reichtum und demokratischer Friede jenseits existieren, wie es der Menschenschmuggler in seinem schmierigen Szenario dem Migranten verspricht, sondern alle Welt erkennt - mit neuen Brillen - sehr wohl, dass Armut und Gewalt mehr und mehr (durch die Globalisierung) auf „beide Seiten" verteilt sind und dass dadurch alle normativen Kategorien erschüttert werden (angefangen bei der Zivilisation, der Demokratie, dem Westen usw.). 5. Die Bewährungsprobe des Emigranten - seine Passage zur Grenze, sein Beibehalten der Grenze (wie die borderline, die er tatsächlich ist), die Übertretung der Schranke, die Entdeckung, dass jene Schranke nichts ist (als eine offene Grenze) und dass dahinter nichts ist, was dem ähnelt, das antizipiert worden war (diese Politik, diese Demokratie, dieser mystifizierte Reichtum): Eine derartige Bewährung ist nichts weiter als das Treiben (die berühmte „notwendige Gewalt"), das die Globalisierung erzwingt und bis zu den extremsten Konsequenzen durchfuhrt, um ihr oikonomisches Projekt abzuwickeln. Die Globalisierung resultiert nicht in der Aufhebung aller vormals verabscheuten Grenzen, sondern in 1.) einem permanenten (und gewaltsamen) Überwinden aller Schranken, die noch nicht abgeschafft wurden, und 2.) der Einsetzung einer inklusiven Grenze (der Globalisierung selbst), die dem Weltmarkt und der Wirtschaft jegliche Freiheit gibt und gleichzeitig jegliche Politik daran hindert, sich (wieder) zu entfalten. 6. Es ist daher kaum erstaunlich, dass seither die Sprache dessen, was von der Politik übrig bleibt, sich als „konsterniert" ausgibt, dass die staatlichen Entscheidungsträger (im gegenwärtigen Fall die spanische und marokkanische
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Regierung) die Europäische Union, die Afrikanische Union, die UNO um Hilfe anrufen und sich keine einzige substanzielle Veränderung der gegebenen Verhältnisse am Horizont abzeichnet... 7. De facto wäre die einzige Möglichkeit, diese Verhältnisse zu ändern, 1.) zunächst alle betroffenen Kategorien „wiederanzuhören" (angefangen mit Armut und Gewalt, aber auch Migration, Grenze, Asyl...); 2.) zu erwägen, ob nicht jene, die migrieren, etwas anderes darstellen als ökonomische Subjekte, die die Ökonomie und deren Effizienz beeinflussen;18 und schließlich 3.) die Fragen von Armut und von Gewalt von einem kosmopolitischen Standpunkt her 19 vollständig neu zu denken, Fragen, die aus der ökonomischen Perspektive heraus privatisiert worden sind (ebenso wie der seit langem auf multilateraler Ebene geführte vorgebliche ,JCampf gegen die Armut" und der entsprechende Kampf gegen die Gewalt).
4. Die gemeinsame und unteilbare Antwort der Politik und der Kultur Ich erlaube mir, in fine, eher einen Nachtrag als eine Schlussfolgerung. Denn in einem Nachtrag liegt häufig das Essentielle, während eine Schlussfolgerung oftmals pleonastisch wirkt. De facto möchte ich nicht das Gefühl befördern, dass man bei der gegebenen Antwort der Politik verweilen kann - unausweichlich, omnipräsent und omnipotent! Nicht, dass diese Antwort obsolet wäre, aber sie ist nicht vollständig und sie wird nicht durch Beschwörungen realisiert werden. Im Gegenteil, das Ziel einer wahrhaftigen Kosmopolitik, als ein Projekt, das in der Lage ist, sich mit dem der Globalisierung zu messen, und das im Triumph, wenn nötig, kann nicht ohne den entscheidenden Beitrag einer kulturellen Dynamik erreicht werden. Ohne eine gemeinsame (und unteilbare) Antwort von Politik und Kultur wird aus dem kosmopolitischen Versprechen nichts werden. Diese Feststellung erlaubt wiederum, eine andersartige Grenze zu erreichen und einen anderen „Grenzübergang" vorzuschlagen. Wir müssen uns zunächst einmal bemühen, die beschränkte Konzeption und die einschränkende Praktik 18 Zum Beispiel die des politischen Lebens und der Staatsbürgerschaft beraubten Bürger auf der Suche nach einer anderen Staatsbürgerschaft - diese politische Problematik sollte in der Lage sein, die Politik (national, regional, weltweit?) aufzuwecken und zu einer politischen Antwort zu bewegen, trotz des ökonomischen Gesetzes. 19 „Die Politik ist die Komposition der Welten. Oder auch die Komposition einer gemeinsamen Welt, gemäß den - oftmals konfliktreichen - Beziehungen, die die Gemeinschaften miteinander unterhalten. Von solcher Art ist eine Kosmopolitik, eine Politik der Welten. Sie strebt nicht danach, die gesamte Welt einer gemeinsamen Administration, einer gemeinsamen Verwaltung der Ressourcen, der Produktion, des Austausches und des Konsums zu unterwerfen, oder einer Regierung mit gemeinsamer Macht, die sich das Monopol der Ausübung legitimer Gewalt sichern würde; ebenso wenig, wie sie eine mythische natürliche Regulation der Bedürfnisse oder eine natürliche Harmonie der Genüsse geltend machte" (Tassin, a. a. O.).
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von Armut und Gewalt zu verlassen. Dann muss, indem man bei der Grenze Armut/Gewalt stehen bleibt (Grenze Nr. 1), ihr Wort für Wort mit jener anderen Grenze, Politik/Kultur (Grenze Nr. 2), entgegnet werden. Beim Übergang von Grenze 1 zu Grenze 2 können Armut und Gewalt sich also nicht nur als eingeschränkt, sondern auch als aufgelöst betrachten. Eine solche (untrennbar) politische und kulturelle Geste ist keine andere als die, die in vivo vom Dichter-Präsidenten Senghor im Senegal in den 60er und 70er Jahren ausprobiert wurde. Auf dieselbe Geste trifft man heute im „Balafon Dreieck", initiiert von mehreren afrikanischen Staaten,20 ebenso das seit drei Jahren existierende „Festival der Drei Grenzen", veranstaltet von Argentinien, Brasilien und Paraquay, nachdem endlich die Gewalt und endemische Instabilität in der als strategisch wichtig angesehenen wasserhaltigen Region Guarani, am Kreuzungspunkt der beiden Flüsse Iquacu und Parana, überwunden werden konnte.21 Letztendlich - und um die Problematik Armut und Gewalt noch einmal anders aufzugreifen - existieren zwei völlig unterschiedliche Optionen, zwischen denen man sich entscheiden muss, nämlich 1.) entweder die Option einer reinen oikonomia, in der die Globalisierung dazu fuhrt, dass Armut und Gewalt sich bis ins Grenzenlose ausdehnen (gr. aiori), oder 2.) eine Kosmopolitik, in der es, weil sie wieder eine gemeinsame Grenze geworden sind, Politik und Kultur gemeinsam gelingt, Armut und Gewalt einzuschränken.
A. d. Frz. v. Luise
Franke
20 Dieses „Festival" steht im Geist der Deklaration der kulturellen Vielfalt der UNESCO. Das Konzept wurde von jenen entwickelt, die an diese Deklaration glauben und verstanden haben, dass die Kultur ein Friedens-, Stabilitäts- und sozialer Kohäsionsfaktor ist. Diese Überzeugung, die zur Gründung des Festivals führte, entstammt dem festen Willen seiner Gründer (der Agentur fur Francophonie, Burkina Faso, der Elfenbeinküste und Mali), denen sich Gambia, Guinea und Senegal angeschlossen haben. Das Balafon Dreieck strebt globale und spezielle Ziele an. Zu den globalen Zielen gehören: mittels Erfahrungsaustausch, Kennenlernen und gegenseitigem Respekt kulturelle Beziehungen zwischen den benachbarten afrikanischen Staaten zu etablieren; einen Beitrag für die Friedens- und IntegrationsfÖrderung zwischen den Völkern von Burkina Faso, der Elfenbeinküste und Mali zu leisten und das Kulturerbe der Region aufzuwerten (Afribone.com 29 Juni 2005). 21 Die Gründungserklärung des Festivals unterstreicht: „1. Dass die darstellenden Künste ein entscheidendes Instrument fur die Vertiefung der kulturellen Integration der betroffenen Völker sind. 2. dass ihre Entwicklung einen fundamentalen Beitrag für die Stärkung der nationalen Identitäten leistet, aufgebaut auf dem Respekt vor der kulturellen Vielfalt, der sie vereinigt, auf dem Recht der Schaffenden, sich frei auszudrücken und auf dem freien Zugang der gesamten Gemeinschaft zu den kulturellen Gütern - garantiert durch einen ungehinderten, freien Kreislauf. 3. Dass, damit diese Entwicklung gelingt, eine größere Kooperation zwischen den Regierungen, den Künstlern und dem Privatsektor im Rahmen der interregionalen Projekte ermöglicht werden muss. 4. Dass die Steigerung der kulturellen Aktivitäten in der Region zu neuen Projekten führen wird, die das Verständnis von Grenze im Sinne von Begrenzung verändern werden im Sinne eines privilegierten Ortes für das Zusammentreffen verschiedener und miteinander verbundener Kulturen." Vgl. zu diesem Thema unseren Film Die Kultur im Zentrum (42', GERM, 2004).
Abd al-Karim al-Barghuti
GLOBALISIERUNG UND FUNDAMENTALISMUS
Die Globalisierung erzeugt ein Milieu, das das Wachsen von Fundamentalismen in ihren verschiedenen Ausformungen erleichtert. Dies trifft sowohl auf die Gesellschaften des Zentrums zu, die Zentren der Globalisierung, wie im gleichen Maß auch auf die Gesellschaften der Peripherie, wenn sich auch Formen und Ausdruck dieses Wachstums unterscheiden. Um diese These zu belegen, werde ich das, was Edward Said im Kontext von Kultur und Imperialismus das „kontrapunktische Lesen" genannt hat,1 als einen methodologischen Einstieg nutzen, der zeigt, dass in der historischen Beziehung von „Hegemonie" und „Widerstand" eine gegenseitige Beeinflussung vorliegt, mit Konsequenzen für die Konfrontation zwischen „Wissen" und „Macht" im Diskurs von Kolonialismus und Postkolonialismus. Ich beginne mit einem bewussten methodologischen „Wegräumen", und zuerst mit dem „Beseitigen" dieser Geschichte, was dazu dienen kann, die Autorität der historischen Details zu vermeiden und sich stattdessen auf die Wechselwirkung von Globalisierung und Fundamentalismus zu konzentrieren, ohne dies unbedingt zu verbinden mit anderen Wechselwirkungen in anderen Diskursen, Texten und wissenschaftlichen Werken. Ein kurzes Tippen auf die Tastatur des Computers lässt garantiert tausende Titel erscheinen, die sich mit der Globalisierung befassen. Genauso erscheinen mehr als tausend bei der Suche nach dem Wort Fundamentalismus. Wenn man jedoch beide verbindet, geizt der Computer, als ob er auf eine verschwörerische Art und Weise programmiert worden wäre, die die Suche nach dem Wort „Verbindungen" (al-ala'iq), dem Plural für Beziehung (alaaqa) zwischen den beiden geläufigen Begriffen, schwieriger macht als die Suche nach dem Wort flüchtige „Beziehungen" zwischen den Geschlechtern (Affaren). Das liegt daran, und hier kommt das zweite notwendige „Wegräumen", dass der „Fundamentalismus", wie er behandelt wird, nicht mehr ist als eine 1 Edward Said hat den zugrunde liegenden Begriff in seinem Buch Kultur und Imperialismus gebraucht. Sein Arabischübersetzer schlug vor, hier vom „kontrapunktischen Lesen" zu sprechen, um deutlich zu machen, dass Said sich auf die Musik bezieht, aber auch verdeutlichen will, dass es möglich ist, gegensätzliche Dinge auf sich ergänzende Weise zu betrachten. Dies gilt unserer Meinung nach auch für die Beziehung zwischen Globalisierung und Fundamentalismus, denn es ist ein Verhältnis des Nebeneinander, ein gegensätzliches und sich ergänzendes Verhältnis, aber nicht unbedingt ein kausales. Mehr zu diesem Begriff im Vorwort des Übersetzers Kamal Abu Dib (Edward Said, Kultur und Imperialismus. Dar al-Adab, Beirut 1997, S.20f„ 71).
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globalisierte Ware, eingekapselt und vorbereitet darauf, von sich aus zu jedem von uns zu gelangen, durch einen einzigen Blitz oder Blick, ob wir wollen oder nicht. Ein unangenehmer Gast, der sich ohne Erlaubnis auf den Monitor schleicht und ungeprüft Bilder hervorquellen lässt, und der Programmierer der neue Gott, der Erschaffer der Bilder und der Namensgeber - ist die Globalisierung. Damit kommen wir zum dritten methodologischen „Wegräumen", denn die Geschichte der Globalisierung geht weit in alte Zeiten zurück. Einige glauben, dass die Globalisierung aus Wellen oder mehreren Globalisierungen besteht. Ich werde hier aber auf das, was man aktuell unter „Globalisierung" versteht, eingehen, die in jenen tausenden Veröffentlichungen behandelt wird, als habe sie es nicht nötig, definiert zu werden, denn sie selbst gibt die Definition. Und trotz der nicht vorhandenen eindeutigen Definition werde ich ihre wichtigsten Charakteristika behandeln, und zwar unter der Annahme, dass sie Ausdruck der „unvollendeten Transformation" einer krisenhaften Moderne ist, die sich losgelöst hat von der Geringschätzung der „alten Gottheit" und die unablässig bei den „Posts" (der Postmoderne, dem Postkolonialismus usw.) nach Möglichkeiten der Wiederbelebung ihrer säkularen Werte und ihrer universalen Vorstellungen sucht. Die Globalisierung ist ständig in Bewegung, und ihre umfassende Leistung ist die Schaffung eines weltweiten ökonomischen Netzes und die Herrschaft der supranationalen Konzerne, mit allem, was damit für die Wirtschaft zusammenhängt an Verlagerung der Produktion vom Zentrum zur Peripherie, inklusive der Länder des Südens. Ebenso die Entwicklung eines zusammenhängenden Netzes audio-visueller Technologie, die sich ausdehnt in, ja eindringt in alle möglichen oder wahrscheinlichen „Märkte", als deren Ergebnis die Welt ein „globales Dorf' geworden ist, womit das „Ende der Geographie" angekündigt ist. Die einen nennen es den ungeordneten Kapitalismus (der sich auf das Chaos, die Unordnung und die Ungewissheit stützt),2 die anderen den ausschließenden Kapitalismus.3 Dem Erfinder des Begriffs der „kulturellen Ökonomie der Globalisierung"4 zufolge ist die Globalisierung das Ergebnis des Zusammenwirkens zweier gegensätzlicher, aber sich ergänzender Mechanismen: 1. der Mechanismus der Vereinigung oder der Transformation ins Globale. Sie umfasst Ströme von Technologie, Finanzen (den Strom von Besitztümern und Arbeitsmärkten und der Börsen), von Ethnien (die Bewegung von Migran2 Siehe ζ. B. Samir Amin, Das Imperium des Chaos; Übersetzung Sanaa' Abu Shaqra (Beirut, Dar al-Farabi, 1991). 3 Siehe z.B. Michael Mann, Globalization and September 11; Übersetzung Hasan Bahri (alThaqafa al-Aalamiyya, Nr. 119, Juli/August 2003, Kuwait). 4 Vgl. A. Appaduria, Disjuncture and Difference in Global Cultural Economy; I. Wallerstein, Culture as the Ideological Battleground of Modern World System, in: M. Featherstone (Hg.), Global Culture, London 1990). Siehe auch Ahmad Zayid, Das Globale und der Mechanismus der Zerschlagung der nationalen Kultur; Studien der Konferenz zur Zukunft der arabischen Kultur; Hoher Rat der Kultur, Kairo 1997, S. 356f.
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ten, Touristen und Fremden), die Ströme von Medien (von Bildern, Informationen) und von Ideologien (von Vorstellungen über Demokratie, Freiheit und Aufklärung), sowie den damit zusammenhängenden Prozess, in dem all diese Ströme zur Ware gemacht werden, inklusive der Transformation und der wechselseitigen Wirkungen der Formen der Macht aufeinander. 2. der Mechanismus der Zerschlagung, besonders der lokalen Handelsorganisationen, so dass sich das lokale Kapital den Strategien des ausschließenden Kapitalismus unterwirft, wie auch die lokalen Kulturen und Gesellschaften der Zerschlagung, Neuformung und Anpassung unterworfen sind. In Gestalt dieser beiden Mechanismen ist die Globalisierung eine aktive Bewegung mit Einflüssen auf die Staaten des Zentrums wie der Peripherie. Die globale Vereinigung gibt dem, was Michael Mann5 die „Beziehungen zwischen den Formen der Macht" (der ökonomischen, ideologischen, politischen und militärischen) genannt hat, eine neue Prägung. Angefangen mit den Staaten des Zentrums (wobei es schwierig ist, die Begriffe Zentrum und Peripherie zu definieren) scheint es „im Zeitalter des Endes der Geographie" eine Vereinigung der Staaten des Zentrums zu geben, das die Beteiligung der ökonomisch stärksten dieser Staaten an der Ausformulierung der Gesetze der Beherrschung des internationalen Marktes möglich macht. Die Globalisierung der Wirtschaft bedeutet nicht ihre „Verallgemeinerung" in dem Maß, wie sie „eine Neuaufteilung der Arbeit" oder eine „Spezialisierung" bedeutet, in der die supranationalen Konzerne und die staatlichen Organisationen (die ökonomischen und andere) eine Rolle spielen, die man für eine Transformation wesentlicher Werte des Staates oder der modernen Nation hält, was im Folgenden zu einem Streit über die Stellung und Bedeutung der Nation fuhrt. Dennoch unterwirft die „Macht der Staaten des Zentrums" nach wie vor ihre Gesellschaften dieser Entwicklung, da fortwährende Ausdehnung und erstrebte Hegemonie zu ihren höheren Werten zählen. Die Globalisierung gestaltet also die Beziehung zwischen dem Staat und der Gesellschaft neu, indem sie einige seiner Aufgaben an die internationalen Organisationen und an Organisationen der weltweiten Zivilgesellschaft und den Privatsektor überträgt. Es ist ein Rückgang des sog. „Wohlstandsstaats" zu beobachten, was sich normalerweise darin ausdrückt, dass der Staat in Zeiten der Globalisierung reduziert werden muss auf ein „Symbol für das, was kulturell allgemein ist" gegenüber der Bewahrung der „individuellen Freiheit", die ein grundlegender Wert ist, eine der Grundlagen der Liberalismus, so dass wir uns vor einer Reduzierung des Allgemeinen gegenüber der Verallgemeinerung des Privaten befinden. Die Globalisierung verkündet den „Tod der Ideologie", um sich auf den modernen Liberalismus zu stützen, der die Wertegrundlage der Globalisierung der Wirtschaft bildet, damit die Werte „Moderne, Individualismus, Demokratie" zu einer Ware gemacht und vermarktet oder exportiert werden können. Hier 5
Mann, a. a. O., S. 59.
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spielt der Mechanismus der Vereinigung die Rolle des Schöpfers globaler Formen der Moderne durch die Überwindung der Grenzen von Raum und Zeit. Hier möchte ich auf die bedeutsamsten Einflüsse der Globalisierung eingehen, insbesondere auf den Einfluss der digitalen Revolution der Informatik auf die Gesellschaften der Moderne selbst. Ich beziehe mich auf die Aussagen von Deleuze und Derrida. Dadurch, dass die Globalisierung alles zur Ware macht, was man sich nur vorstellen kann, inklusive der „realen Ereignisse" und selbst der „hypothetischen Kriege", spiegelt sie die Geschwindigkeit der Transformation von der „Fiktion" in die „Realität" wider und umgekehrt, so dass die Realität selbst zur Fiktion wird, die man chiffrieren, kodieren und digitalisieren kann, so dass der Mensch selbst zu einer Nummer wird. Auf diese Weise macht sie das Individuum zu einem entfremdeten Menschen, einer bloßen Nummer, die von Millionen anderer Nummern umgeben ist - ein endloser Strom von Nummern. Für diesen Menschen ist es schwierig, auf dem Laufenden zu bleiben, und gleichzeitig kann er sich mit den tradierten Formen nicht zufrieden geben. Denn die Gesellschaft, in der er sich befindet, hat sich von dem, was Deleuze „disziplinierte Gesellschaft" nennt, zu einer „gesteuerten Gesellschaft" gewandelt.6 Durch diesen Wandel wird die Kultur zur konsumierbaren Ware, Wissen, Macht, Hegemonie und Widerstand werden zu Illusionen. Nach Derridas These bestehen grundsätzliche Unterschiede zwischen der mündlichen Kultur einerseits und der literaten und postliteraten digitalen Kultur andererseits.7 Die Globalisierung hat ein Monopol für die Erzeugung von Bildern und Darstellungen und setzt ihre Narrationen auch bei den Menschen an den Rändern der Globalisierung durch. So werden Texte bestimmter Gruppen im Internet ζ. B. als heilig erachtet, die ein paar Seiten weiter von anderen geschändet werden. Dieser Prozess ist unabhängig davon, ob sich die Befürworter der heiligen Texte oder ihre „Schänder" im Zentrum oder an den Rändern der Weltgesellschaft befinden.
Fundamentalismus (im Zentrum) Die wichtigsten Auswirkungen der Globalisierung verraten eine Gegensätzlichkeit im Aufbau der Moderne selbst. Die post-moderne, post-aufklärerische Kritik spiegelt den durch die Globalisierung erzeugten Wandel in den modernen Zentrumsgesellschaften wider. Ihr gilt die Rationalisierung und Säkularisierung der Gesellschaften aufgrund der Globalisierung als zügelloser Prozess. Die post-moderne Kritik erinnert als Suche nach einer Neugestaltung der Ge6 Gilles Deleuze, Negotiations, New York 1995, S. 177-182. 7 Siehe „andere Interpretationen der Aussagen Derridas" in Faleh Abdul Jabaar, Betrachtungen der arabischen Kultur. Studien der Konferenz zur Zukunft der arabischen Kultur; Hoher Rat der Kultur, S. 118ff.
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sellschaften, die eine Möglichkeit bietet für Formen der Konfrontation zwischen „dem (heiligen) Buch/dem Text" und „der Säkularisierung/der Vernunft", bisweilen an die Beschwörung alter Götter, die gegen den „zügellosen Globalisierungsgott" ins Feld geführt werden. Wir erleben also eine Konfrontation der beiden Parteien des Modernismus - der Säkularisierung der Religion und der neu erwachten Religiosität im Säkularisierungsprozess.8 Das macht sich auch in der zunehmenden Entkoppelung zwischen „Europäisierung" und „Amerikanisierung" als zwei Varianten der Moderne bemerkbar, gerade im Unterschied der jeweiligen Form der Konfrontation von Religion und (säkularisierter) Vernunft. In Europa, besonders in Frankreich, kommt es zu einer Art „fundamentalistischem Säkularismus". Der laizistische Staat bewahrt die Fundamente der Moderne gegenüber der Amerikanisierung oder jeglichen anderen Fundamentalismen.9 In den USA hingegen, dem Herkunftsland des „religiösen Fundamentalismus",10 erfahren die fundamentalistischen Bewegungen gerade vor dem Hintergrund der zügellosen Erweiterung Amerikas einen Wandel von den puritanischen, asketischen und frommen Bewegungen, anti-modernistisch und anfällig für rückwärtsgewandte Tendenzen, hin zu anti-globalistischen Bewegungen (der Übergriff von Oklahoma gegen Symbole der globalisierten Handels) oder zu Bewegungen auf der Suche nach politischer Geltung, die Instrumente der Globalisierung benutzen (Fernsehen, Medien, Bild). Diesen religiös inspi-
8 So spricht man von einer Verbindung zwischen Post-Modeme und Fundamentalismus; vgl. ζ. B. Murad Wahbeh, Post-Modeme und Fundamentalismus, Zeitschrift Ibda, Kairo, S. 42-43. 9 Ich verweise auf die Eigentümlichkeit der kulturellen und religiösen Identität der Immigranten aus dem Süden und die Problematik ihrer Integration in die europäischen Gesellschaften. Die „universale Vereinigung", die mit der Geographie aufräumt, wird ihnen gegenüber anders gehandhabt: Hier werden Grenzen zur Verhinderung ihrer Integration aufgebaut, so dass ihnen nichts anderes übrig bleibt als Verschmelzung oder Ausgestoßensein. 10 Der Gebrauch des Fundamentalismus-Begriffs ist unpräzise. Manchmal wird er überschattet von Eigentümlichkeiten seines historischen Entstehens. Der Begriff kam 1902 auf mit der Herausgabe von 12 Bänden durch eine Gruppe amerikanischer protestantischer Theologen unter dem Titel Fundamentalism. In die westlichen Wörterbücher (Larousse, Encyclopaedia Britannica usw.) wurde er später mit den dortigen Eigentümlichkeiten der Starre, Intoleranz, Verschlossenheit usw. aufgenommen. Aber es kann auch einen Fundamentalismus ohne Berufung auf Texte geben, und ebenso sind religiöse Texte nicht zwangsläufig fundamentalistisch und gibt es eine nichtpolitische Religiosität. Zu Versuchen, alternative Begriffe für die Konjunktur des politischen Gebrauchs der Religion zu entwickeln, vgl. ζ. B. Nicki R. Kiri, Neue religiöse Politik: Warum tritt „der Fundamentalismus" zutage? Al-Nahdj Zeitschrift, Damaskus, Nr. 23, S. 47, Summer 2000, wo der Fundamentalismus-Begriff durch den Begriff der religiösen Politik ersetzt wird. Vgl. auch Fritz Steppat, Zehn Thesen zum Islamischen Fundamentalismus, ein Arbeitspapier, das 1993 einem Seminar an der Freien Universität Berlin vorgelegt wurde und darauf hinweist, der Fundamentalismus sei nicht ausschließlich charakteristisch für den Islam, sondern auch in anderen Religionen und Ideologien vorhanden und weise Schnittpunkte mit dem - religiösen oder ideologischen - „Dogmatismus" auf. Auch wird der nicht-islamische Ursprung des Begriffs betont oder es werden seine positiven Bedeutungen hervorgehoben; vgl. ζ. B. Muhammad Amara, Der Fundamentalismus zwischen dem Westen und dem Islam, Dar Asch-schuruq, 1998, S. 5-17.
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rierten Drang zur Herrschaft in Politik und Staat erleben wir seit Ronald Reagans Präsidentschaft. Dieser sich beschleunigende Prozess ist ein Ausdruck des aufgrund des „Scheiterns" der Moderne in der „Privatisierung" der Religion entstandenen Wandels. Dem Geist der Aufklärung, der die Verbannung der Religion und der heiligen Bücher in die Legendenregion der Zauber und Rätsel bewerkstelligt hat, folgt eine Globalisierung, die auf säkularer Wissenschaft, Wirtschaft und Militarisierung fußt, dabei aber auch „die Moderne" und deren Werte deprivatisiert und den Begriff des „Staates" oder der „Nation" in ein Bild und kulturelles Symbol „des Allgemeinen" im Inneren übersetzt. Damit provoziert sie den schriftlichen, religiösen „Fundamentalismus" zum Wettlauf um die Produktion von Bedeutung und Symbolen. In diesem Zuge vollzieht sich eine „Deprivatisierung" der Religion gegenüber einer „Privatisierung des Säkularismus". Auch wenn die Globalisierung eine Säkularisierung der Welt durch Export bedeutet, der die neuen liberalen Werte zur Ware macht, akzeptiert der religiöse Fundamentalismus etwa in den USA die Behauptungen der Globalisierung bezüglich des säkularen Charakters des Exportes der Werte der Moderne in die Peripherien der Welt. Zum Ausgleich dafür werden die Instrumente der Globalisierung zum Zweck der Beherrschung der „Produktion von Kultur und Sinn" in diesen Ländern benutzt, zumal die kulturelle Hegemonie des Westens die Instrumentalisierung und den Export seiner kulturellen Güter als einen Schritt auf dem Weg zur „Christianisierung" der Welt zulässt. Diesem Denken liegt die Annahme zugrunde, die westliche Eigentümlichkeit entspringe im Grunde genommen den jüdisch-christlichen Werten, selbst wenn der Säkularisierungsprozess mit der Verbannung der Religion gleichzusetzen sei. In diesem Sinn füttert der Fundamentalismus die falsche Vorstellung über den , jüdisch-christlichen" Charakter des Westens, derzufolge Gegnerschaft zur Globalisierung auch Gegnerschaft zu Judentum und Christentum bedeutet. Das erleichtert die Ausweitung des religiösen zu einem kulturellen Fundamentalismus, der über die Anwendung der Instrumente, Bilder und Symbole der Globalisierung zu einem globalisierten Fundamentalismus im Inneren wie im Äußeren des Staates wird, ein Mittel zur „Deprivatisierung" der Religion infolge der religiös-schriftlichen Interpretation der Welt als einem Verbündeten der Politik und der Militarisierung der internationalen Beziehungen insgesamt - was auch als „unheilige Allianz zwischen der religiösen und der politischen Rechten" bezeichnet wurde. Ohne lange bei den verschiedenen Erscheinungsformen der „Rückkehr der religiösen Traditionen" in die Konkurrenz um das öffentliche Leben in den Zentren der Globalisierung zu verweilen, wissen wir doch, dass es große Unterschiede zwischen den Formen dieser Rückkehr gibt, und dem damit verbundenen Versuch, die Welt als Antwort auf die Säkularisierung der Religion zu missionieren. Was ich aufzudecken versuche, ist die Synchronisierung und innere Entsprechung zwischen der Transformation des kulturellen Fundamenta-
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lismus in den religiösen und umgekehrt und den Wandlungen der religiösen Bewegungen zu „fundamentalistischen", die Auslegung und Interpretation nicht akzeptieren, sondern nur das buchstabengetreue Verständnis der heiligen Texte und die Überführung der inneren Gegensätze zwischen Moderne und Postmoderne in politisch-religiöse oder religiös-politische Bewegungen, die sich als Rettung und Erlösung anbieten,11 welche die Welt von ihrer Weltlichkeit befreit. Sie beginnen als fromme, asketische und rückwärtsgewandte Bewegungen in Harmonie mit den kapitalistischen Privatisierungsentwicklungen, um sich dann in eine modernistische und globalisierte Bewegung zu verwandeln, die die Instrumente der Globalisierung verwendet, ohne deren Logik zu übernehmen, um eines Tages als alternatives Projekt zur gegenwärtigen Globalisierung dazustehen.
Der Einfluss der Globalisierung auf die Peripherie Die „Gegenüberstellung" der Fundamentalismen im Zentrum und in der Peripherie bietet eine Möglichkeit zum Vergleich, manchmal auch unter Absehung größerer Unterschiede, um dadurch das Gemeinsame hervortreten zu lassen. Dazu gehören die unvollendeten Transformationen, zu denen wiederum eine Entwicklung von der reinen religiösen Lehre zur Implikation weltlicher Belange zählt, mit dem Versuch, zunächst im Inneren und schließlich international politische Kontrolle und Hegemonie zu erlangen. Ich werde im Folgenden auf die hiesigen Auswirkungen der Globalisierung eingehen, dann auf die Differenzen und schließlich auf die Unterschiede der Fundamentalismen. 1. Die Mechanismen der Vereinigung und der Zerschlagung bringen die Erweiterung der Macht der „Superstaates" mit sich und den notwendigen Zusammenbruch der Nationalstaaten in der Peripherie. Es kommt zur Neuformulierung der Welt als eines einheitlichen Marktes durch den „exklusiven Kapitalismus", der über die „Gesetze des Marktes" und seine globalisierten Instrumente (Weltbank, WHO etc.) funktioniert, indem er Staaten in Freihandelsabkommen lockt (ζ. B. Katar und die USA), um seine wirtschaftliche Hegemonie abzusichern. 2. Die Nationalstaaten, die in gewisser Weise das Ergebnis der Arbeitsteilung des alten Imperialismus waren und daher eine „örtlich-zeitliche Souverä11 Erwähnenswert ist hier eine soziologische Studie von Kasanova über den Wandel der Rolle der Religion in fünf Ländern (vier katholisch, eines protestantisch) seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit der Schlussfolgerung, die Säkularisierung sei fähig zur Absorbierung des „Deprivatisierungsprozesses" der Religion, und die Religion in ihrer Konkurrenz zur Säkularisierung könne in Richtung auf eine menschlichere Globalisierung wirken, die die Mängel der Moderne kompensiert: „Es ist vielleicht die Ironie des Schicksals, dass die Religion, wenngleich unabsichtlich, dem Modernismus hilft, sein Gesicht nicht zu verlieren, allen Schlägen, die sie von ihm serviert bekam, zum Trotz" (Jose Kasanova, Die großen Religionen in der modernen Welt, rezensiert von Paulus Wahbeh, Beirut, Al-Munathma Al-arabia Littardjama, 2005).
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nität" besaßen, erfahren im Zeitalter des Superstaates mit seiner Hegemonie und Kontrolle, der „die Geographie erledigt" und beispielsweise Katar dazu einlädt, in seine Zeit und seine Modernität einzutreten, zugleich eine Neuinterpretation ihrer eigenen Modernität und ihrer Formen der Integration von Tradition und Moderne. Die Globalisierung braucht den „Nationalstaat" nicht mehr, um mit den Gesellschaften dieser Staaten zu kommunizieren, auch wenn ich der These zustimme, dass die Symbole der Souveränität jener Staaten wegen deren Abhängigkeit einen unwirklichen Charakter haben, aber trotzdem Symbole des Öffentlichen sind, die eine umfassende nationale Identität „schützen" und sich dabei über lokal begrenzte und folkloristische Identitäten hinwegsetzen, auch wenn sie dadurch ihre Existenz stillschweigend bestätigen, obgleich sie diese Identitäten als hinderlich für die Modernisierung betrachten. Die „globale" Vereinheitlichung unserer Tage aber bedeutet eine Verstärkung der Möglichkeiten direkter Kommunikation mit den lokalen Identitäten, ohne den Umweg über den modernistischen Staat gehen zu müssen. Insofern ist die gegenwärtige „geographische" Expansion/Reversion als Scheitern der Modernisierungsprojekte zu interpretieren, mit deren Hilfe die Eliten in den Ländern der abhängigen Modernisierung eine Verteidigung der lokalen oder alten Identitäten bewirken wollen. So wird man heute die „Geschichte" des Nationalstaats nicht nur in entwicklungsbezogener Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf den Ausgleich zwischen Modernität und Vormodernität als gescheitert ansehen müssen. Dementsprechend fuhrt die Globalisierung als Angriff auf alles, was die Gesellschaften der Peripherie regelt, notwendig zur „Zerschlagung" der umfassenden Identität und zur Auflösung der kulturellen Gemeinschaften. Folglich sind die Gesellschaften nurmehr ein „Objekt" oder ein „Versuchsfeld" für Entwicklungsprojekte zu einem „Neuen" oder „Großen" Mittleren Osten, dessen bisherige enge Grenzen durch ihre Erweiterung aufgehoben werden sollen, um damit zu suggerieren, dass der Anschluss an die Globalisierung lediglich ein Akt der Eingliederung in die globalisierte Weltgemeinschaft sei. 3. Die Globalisierung gewährleistet durch die Militarisierung der internationalen Beziehungen12 - unter gleichzeitiger Garantie „friedlicher Koexistenz" zwischen den Staaten in den Zentren der Globalisierung und einer Befriedung der ihre Erweiterung begleitenden inneren Konflikte - und durch das ZurWare-Machen und Exportieren der „Gewalt" in die Gesellschaften der Peripherie die Einheit im Zentrum auf Kosten der Zerschlagung der lokalen Gesellschaften und Kulturen, die keine andere Wahl haben, als sich neu zu formieren und anzupassen. 12 Vgl. Mann, a.a.O., S. 65: Was die USA für Militärzwecke ausgeben, übersteigt das, was die 12 nächsten Staaten zusammen dafür aufwenden. Dies zeigt, wie die Militarisierung der Globalisierung auch eine Amerikanisierung bei „wenn auch widerwilliger Akzeptanz der militärischen Rolle Amerikas durch andere westliche Staaten" bedeutet.
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4. Die Gewährleistung einer friedlichen Koexistenz zwischen den inneren fundamentalistischen Tendenzen und der Expansion des zentralen, unipolaren Nationalstaats verdeckt, dass die Globalisierung von Kultur eine Globalisierung der westlichen Kultur bedeutet. Sie beinhaltet auch einen Schritt auf dem Weg zur „Christianisierung der Welt", so dass diese Entwicklung zu verallgemeinerten, in den Zentren der Globalisierung akzeptierten Prinzipien fuhrt, die in der Peripherie abgelehnt werden. Demzufolge ist die „Verweigerung der Globalisierung" als eine Form von „Anpassung und Widerstand" der Peripherie tatsächlich ein Widerstand gegen die zuweilen so genannte „Bilderflut" in elektronisch-digitaler Form, die eine vereinfachte, jedoch sehr wirksame Verbreitung von Kultur beinhaltet. Des öfteren verschiebt sich sodann die Zurückweisung von einer „kulturellen" hin zu einer „religiösen", so dass die Erscheinungsformen dieser Entwicklungen zuweilen den Charakter eines Kampfes um Bilder oder auch Karikaturen annehmen. Ich verweise hier auf die Ausführungen des arabischen Schriftstellers Abdel Ilah Belaziz, der „Globalisierung" auf die kulturelle Durchdringung durch die „Globalisierungskultur" einschränkt, wobei für ihn das Bild zu einer symbolischen Macht wird. Das Bild ist Ausdruck postskriptaler Kultur (post-scriptum)13 und trägt dazu bei, eine Kultur zu entwickeln, deren Entstehung mit dem Ende der Schriftkultur einhergeht.
Fundamentalismus (in der Peripherie) Ich werde hier nicht auf alle fundamentalistischen Bewegungen eingehen, sondern mich auf den islamischen Fundamentalismus beschränken. Ich weise aber darauf hin, dass eine ausbleibende Gesamtdarstellung des Fundamentalismus zu Projektionen führt, die weder in historischer noch in erkenntnistheoretischer Hinsicht exakt sind. Deswegen fällt es ihnen leicht, die verschiedenen Fundamentalismen im Bild eines einzigen islamischen Fundamentalismus zusammenzufassen. Dies bedeutet den Verzicht auf die Betrachtung der Unterschiede zwischen den verschiedenen fundamentalistischen Bewegungen in den Kulturen und Gesellschaften der Peripherie. Meiner Auffassung nach liegt der Grund für diesen Verzicht in den Bildern, die die Globalisierung anbietet und die selbständig erscheinen. Sie sind jedoch charakterisiert durch den einfachen semantischen Wechsel zwischen einem Bild und dem anderen (Islam, Orient, Terror usw.). Somit erscheinen die Bilder in den Bildern als Ausdruck einer echten Realität, auch wenn sie es nicht sind. In diesem Prozess wird das komplexe Verhältnis zwischen Realem und Imaginärem deutlich. 13 Abdel Ilah Belaziz, Die Globalisierung und die Widerstände, Studien zum kulturellen Thema, S. 59, Dar Al-hiwar, Syrien, 2002.
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Wie andere Fundamentalismen stützt der islamische Fundamentalismus sich auf ein heiliges Buch und versteht sich als dessen gelebte Präsenz in der Welt. Diese Präsenz hat aber verschiedene Formen. Ich möchte hier auf drei davon hinweisen, die für die Vielfalt des islamischen Fundamentalismus stehen sollen. Die erste Form hängt mit Napoleons Feldzug bzw. den darauf folgenden „Modernisierungsversuchen" zusammen, insbesondere in „Dar El Islam", wie die Erfahrung von Mohammed Ali Basha bei der Koalitionsbildung zwischen dem Herrscher und dem modernisierten Geistlichen „Sheikh" zeigt. Als Folge wurden „fundamentalistisch modernisierende" oder „Salafia modernisierende" Stimmen laut, die keine Schwierigkeit bei der Interpretation der „Rückkehr zu den Fundamenten" hatten, die für den Westen die „Gründe seiner Überlegenheit", seiner Renaissance und Moderne darstellen. Denn es wurde davon ausgegangen, dass sich die westliche Moderne auf den Grundlagen der ersten islamischen Renaissance entwickelte. Daraus abgeleitet wurde dann die „SalafiaModerne", die nicht gegen den Westen gerichtet war, sondern die Fundamente für eine „eigene Moderne" gelegt hat, welche sich mit einer wörtlichen Interpretation der Texte oder der Geschichte nicht zufrieden gab, sondern sich um Auslegung und Interpretation bemühte. Die zweite Form resultiert aus der Kolonialisierung und dem Zerfall des osmanischen Kalifats. Hier wandelte sich der Fundamentalismus nicht zur Moderne, sondern betonte die Feindschaft gegen die westliche Kultur und ihre Vorstellungen vom Islam. Die Fundamentalismen wurden dementsprechend zu Widerstandsbewegungen. Man hing eng am Text und berief sich auf Konfrontation und Gewalt legitimierende Stellen der heiligen Texte. Die dritte Form hängt mit der iranischen Revolution und der Zurückweisung des liberalistischen Modernisierungsprojekts zusammen - liberal im Sinne der Verallgemeinerung der Herrschaft des Marktes und des Bedeutungsverlusts der Nationalstaaten. Trotz einiger Entsprechungen zwischen dem religiösen Fundamentalismus und den Herrschaftssystemen, die wirtschaftlich liberal, politisch aber traditionell und erblich sind (der so genannte Öl-Islam), haben all diese Entwicklungen zur heutigen Globalisierung geführt. Diese Globalisierung bringt den religiösen und den kulturellen Fundamentalismus zusammen. Das zeigt sich im Wandel der fundamentalistischen Gruppen von lokalen Protestbewegungen zu Protestbewegungen gegen die westlichen christlich-jüdischen Fundamentalisten. Vielen dient dafür der „Fundamentalismus und Rassismus" Israels als Rechtfertigung. Dennoch besteht innerhalb der politischen islamischen Bewegung eine große Vielfalt unterschiedlicher Positionen gegenüber der Globalisierung und der Moderne. 14 Die Tatsache, dass der Fundamentalismus sich in verschiedene Gewänder von gegnerisch bis freundlich gegenüber der Moderne - kleidet, ist darauf zu14 Vgl. Raschid Al-Ghanuschi, Die öffentlichen Freiheiten im islamischen Staat, 1993, Markaz Dirasat Al-wihda Al-arabia, Beirut, S. 330; s. a. Oliver Roy, Globalized Islam.
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rückzufiihren, dass dies durch die Globalisierung, als Zufluss von Bildern, wie oben angesprochen, ermöglicht wird. 15 Zu beachten ist hier die Vielfalt, die die Globalisierung hinsichtlich der Präsenz des „Heiligen" neben der Unheiligkeit der Bilder und Zahlen aufzwingt. So ergeben sich neue Bilder einerseits durch den Rollenwechsel, durch das Abschreiben von Bildern - Fundamentalismen des Zentrums und der Peripherie. Andererseits wird das Bild des Fundamentalismus aber auch nachhaltig dadurch geprägt, dass ihm ein heiliger Charakter verliehen wird. Ebenso werden die durch diesen Fundamentalismus vorgeschlagenen „Erlösungsprojekte" als heilig bewertet und andere Projekte als unheilig abqualifiziert. Ich werde einige Phänomene dieses Konfliktes festhalten, um zu zeigen, wie das in ihnen enthaltene „Weltbild" erzeugt und global dargestellt wird. 1. Der zeitgenössische islamische Fundamentalismus, auch wenn er in Anbetracht der gemeinsamen Geschichte einige Merkmale mit anderen Fundamentalismen teilt - tendiert zurzeit zur Entwicklung einer einfachen Gesetzeswissenschaft „fiqh". Sie benutzt die gleichen Globalisierungsmethoden ein Bild und seine Ausstrahlung über die verschiedenen Satellitenkanäle - , ohne die Rechtmäßigkeit dieser Methoden zu erklären oder zu rechtfertigen. Dies drückt den Versuch aus, neue Gebiete erobern und das Zur-Ware-Machen kultureller und religiöser Projektionen instrumentalisieren zu wollen. Das heißt, wir stehen vor einem Konflikt der Bilder, in dem ζ. B. al-Zarqawi in ikonischer Anlehnung an Rambo dargestellt wird. 2. Die räumliche und zeitliche Ausdehnung macht eine grenzüberschreitende Kommunikation zwischen islamischen Gesellschaften in der Peripherie möglich. Sie trägt dazu bei, die Vorstellung einer „globalen islamischen Nation" zu schaffen, die in der Lage ist, die Folgen des wirtschaftlichen und kulturellen Eindringens zu überstehen. Dies geschieht als Ersatz für das Scheitern der verfehlten Entwicklungsprojekte der modernisierenden Länder und Eliten. Damit wollen die Vertreter einer „globalen islamischen Nation" das Scheitern der Nationalstaaten in ihrer Region übergehen und eine islamische Globalisierung entwickeln, die in der Lage ist, die Probleme nicht nur in der Peripherie, sondern auch in den Gesellschaften der Zentren der Globalisierung zu lösen. 3. Darauf aufbauend stellen wir einen Wandel in den fundamentalistischen Bewegungen und eine Vielfalt in ihren Diskursen fest. In bestimmten Fäl15 Ähnliche Haltungen finden wir in anderen Kulturen mit der gleichen Gegensätzlichkeit, die zum „Abbruch mit der Kultur des Eroberers" selbst innerhalb der westlichen Kultur aufruft. Die Konfrontation nahm die Gestalt eines politischen, religiösen und in bestimmten Perioden kulturellen Protestes an. Wir stoßen ζ. B. auf „Kritik der Spanier an der westlichen Aufklärung" und „an allem, was französisch ist", oder auf „die amerikanische Haltung gegen alles, was deutsch ist" oder „die deutsche gegen alles, was französisch ist", oder den protestantischkatholischen Konflikt innerhalb Amerikas (Dominic Lusurudo, Fundamentalismus, übers, v. Mäzen Al-Husseini (Ramallah: Dar Attanweer littardjama wal naschr wal tawziia), 2005, S. 73.
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len lehnt man sich an die post-aufgeklärte Kritik der Moderne an, um die Leere der rein rationalen Erkenntnis aufzudecken und zu unterstreichen, dass die westliche Vernunft im Konflikt mit der Religion steht oder sie sogar „schändet". Somit wird auch die westliche Rationalität in den Bereich der Mythen geschoben, um zu zeigen, dass sie nicht überleben wird. Die „westliche Kultur" ist es, die zwar jüdisch-christliche Ursprünge hat, jedoch ein entstelltes Islambild erzeugt. Deshalb versteht sich der islamische Fundamentalismus manchmal als „Erlöser der gesamten Menschheit", die Angehörigen der christlichen und jüdischen Religion eingeschlossen. Im Unterschied dazu akzeptieren andere Bewegungen „die Globalisierungslösungen", d. h. das Wertemodell und die Grundzüge des modernisierten Liberalismus (Freiheit und Demokratie), als einen Schritt auf dem Weg zur Islamisierung der Welt. An dieser Stelle sind als Beispiele die Unterschiede in den Diskursen zwischen Al-Qaida und Hamas oder der Wandel im Diskurs der Hamas und der Bewegung der Moslem-Bruderschaft anzuführen. Man sollte die so genannte Islamisierung der Gesellschaften, des Wissens und der Welt und ihre Globalisierung genauer betrachten. Vor der Globalisierung erschien der Konflikt zwischen „Islamisierung" und „Modernisierung" als Variante eines nationalistischen religiösen Konflikts (z.B. in Ägypten). Jetzt erleben wir eine Globalisierung, die weit über die nationale Ebene hinausgeht und gleichzeitig als nationale Islamisierung zu verstehen ist. Der Prozess hat zwei kontroverse Dimensionen: Die erste besteht darin, den Islam zu einer nationalen Angelegenheit zu machen; die zweite bedeutet, ihn in einem fortdauernden Prozess zu globalisieren und zu militarisieren. Wir erleben ein widersprüchliches Phänomen. Wir stellen bei den Vertretern des ersten Diskurses aus nationalen Bedürfnissen heraus eine Akzeptanz der Demokratie fest, und deren Ablehnung aus den gleichen Gründen bei den Vertretern des zweiten Diskurses. Wir stellen einen Wandel in der wechselseitigen Verwendung der Methoden der Globalisierung und des Fundamentalismus fest. Der Fundamentalismus nimmt, wie im Westen, jedes Bild an. Das heißt, er wandelt sich von der Position „gegen die Moderne" zu einer Bewegung, die vor allem einen politischen Einfluss auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene sucht. In diesem Prozess wird die Religion als Aspekt der Befreiung und als eine Art des kulturellen Widerstands verstanden. Ferner wandelt sich der Fundamentalismus zur Bewegung, die die Übernahme der Macht anstrebt, ob in der Peripherie, wie in Afghanistan, oder näher zum Zentrum, wie in Palästina. Man tendiert zu einer alternativen Art der Globalisierung oder zur Islamisierung der bestehenden Globalisierung. Die undifferenzierte Vereinfachung der Ergebnisse dieser Transformation zu einem monotonen Block („der Islam") im Zuge der Globalisierung und die
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Zunahme des Fundamentalismus-Phänomens, insbesondere in der gewalttätigen Form des islamischen Fundamentalismus, sind Ausdruck für das Fehlen einer differenzierten Perspektive auf diese Entwicklungen und „den Islam". Der Fundamentalismus in den Zentren der Globalisierung und der in der Peripherie überschneiden sich in der Reproduktion eines erheblichen Vorrates von Klischees und Stereotypen, die sich wechselseitig dadurch stützen, dass sie Negatives, Böses und Unheiliges aufeinander projizieren. Sie agieren in der Welt, sei es durch Anpassung oder Kampf, und halten sich an die Instrumente der Globalisierung. Dadurch unterliegen sie dem Gott der Globalisierung, der sich von ihren Opfern ernährt, in deren großer Zahl sich das Schicksal der noch nicht abgeschlossenen Transformation der Moderne zeigt.
A. d. Arab. v. Mutasem Alashhab
Jacques Poulain
KULTURELLE MONDIALISIERUNGEN UND TRANSKULTURELLER DIALOG 1
1. Ökonomische Globalisierung, kulturelle Mondialisierungen und philosophisches Experimentieren Die ökonomische Mondialisierung erlegt sich den Geschehnissen nicht nur als „Globalisierung" auf, die dem sozialen Leben aller Länder das Gesetz des Marktes ebenso wie seine Deregulation aufzwingt, sondern sie scheint in gleicher Weise diversen Mondialisierungen ihre Gesetze zu geben, die sie begleiten oder sie konstituieren: der Mondialisierung des politischen Liberalismus, der Mondialisierung der östlichen, westlichen, der religiösen und der säkularisierten Kulturen, der Mondialisierung des Systems von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), die fur Solidarität und Schutz von Mensch und Umwelt eintreten, sowie den Mondialisationen von Kunst, Wissenschaft und Technik. Sie erzeugt daher ein System der Verarmung und Exklusion, wie man es sich effektiver nicht vorstellen könnte, scheint zugleich aber eine damit kontrastierende kulturell geprägte Welt auftauchen zu lassen, der sie ebenfalls die Gesetze ihrer Herausbildung und Beschaffenheit diktiert: Sie lässt eine nie da gewesene internationale öffentliche Meinung entspringen, die von einem universellen Prozess des Austausches lebt, in dem die Entbindung vom nationalen Kontext assoziative Prozesse der Kreativität und der kritischen Emanzipation anstößt. Diese kulturellen Mondialisierungen bieten sich als Gegengift zur Globalisierung an und schaffen eine Unabhängigkeit von den Nationalstaaten, die sich als eine noch nie da gewesene Quelle der intellektuellen Emanzipation und Kritik gibt. „Wo die Gefahr ist, wächst das Rettende auch" - das Diktum Hölderlins hätte sich noch nie auf so universelle Weise bewahrheitet. Das größte Übel, die größte soziale Ungerechtigkeit, die die Globalisierung gebiert, schiene auch das größte Gut hervorzubringen, die intellektuelle und kulturelle Emanzipation, die die Völker und Individuen ihren materiellen Existenzbedingungen und ihrer Veräußerung an den Konsum abringen. Die kulturelle Verschiedenheit scheint sich somit als ein spezifischer Raum auf der Basis eines kritischen „Nein" zu etablieren, das sich den aus der Globalisierung hervorgehenden Effekten sozialer Ungerechtigkeit entgegenstellt. 1
[Französische Autoren unterscheiden zwischen globalisation (Globalisierung) und mondialisation - von le monde, die Welt, im Folgenden als „Mondialisierung" übersetzt.]
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Trotz der Universalität dieser Ablehnung sollte man sich aber keine Illusionen machen. Denn wie sehr sie auch die Antreiber der wirtschaftlichen Globalisierung so zu tun zwingt, als wären sie selbst Teil von ihr, und immer neue Floskeln von einer dauerhaften Entwicklung zu kreieren, so bringt sie zugleich einen bisher nicht gekannten Konflikt der Kulturen hervor: Um sich als religiöse, etwa christliche, moslemische oder jüdische, als politische, etwa republikanische oder liberale, oder aber als wissenschaftlich-technologische Kultur zu bestätigen, müssen die einzelnen Kulturen die Einzigartigkeit ihres Anspruchs auf universelle Gültigkeit unterstreichen. Innerhalb der kulturellen Ordnung, die ihnen eigen ist, müssen sie also den Willen ausprägen, ihr Monopol zu behaupten, und zwar in genau der Art und Weise, in der die wirtschaftliche Globalisierung das Konzept des freien Wettbewerbs mit der Monopolisierung und Privatisierung verschiedener Bereiche des Weltmarktes krönt. Der Kampf um die verschiedenen kulturellen Monopole lässt so Fundamentalismen aller Art wieder aufleben und neutralisiert die beschriebene Emanzipation, die aus der Schwächung der Nationalstaaten und ihrem durch die Spekulation der Banken entstehenden Machtverlust hervorgeht. Das erzwungene Absterben der letzten sozialstaatlichen Residuen und das Öffnen der Büchse der Pandora durch die neoliberalen Gesellschaften legt nicht nur die Politik zurück in die Hände der Neokonservativen, sondern transformiert die Kulturen auch in Mächte, die nur zu gern bereit sind, ihre eigene Macht und die Universalität ihres kritischen Geistes sowie den mangelnden Wert der anderen Kulturen zu propagieren und sich erneut als Träger eines universellen geistigen und weltlichen Heils zu begreifen. Die Zeit der Koexistenz und der Zusammenarbeit der Kulturen im Rahmen eines toleranten und wohlwollenden Multikulturalismus ist vorbei. Selbstherrlich verzichten die Kulturen ganz auf Selbstkritik und sehen sich ein fur alle Mal durch das Label „kritisch" ausgezeichnet, wenn sie nur die ökonomische Mondialisierung als höchste Unkultur verwerfen. Was uns anzunehmen erlaubt, dass sie sich somit von vornherein selbst disqualifizieren, ist der Umstand, dass die kulturellen Mondialisierungen und die ökonomische Globalisierung von einem Prozess völligen Experimentierens des Menschen getragen werden, der das liberale Denkmodell, das ihnen zugrunde liegt, jeder Überprüfung entzieht. Indem das liberale Experiment im Respekt vor der Freiheit des Einzelnen auf maximale Bedürfnisbefriedigung zielt, macht es den sozialen Konsens zur letztgültigen Instanz, anhand derer die über das soziale und kulturelle Leben formulierten Hypothesen des Experiments bewertet werden. Das geschieht in der gleichen Weise, in der das wissenschaftliche Experiment die Übereinstimmung der Hypothese mit der sichtbaren Welt zur Bewertungsinstanz erhebt. Die Rechtfertigung dafür ist simpel: Die Reaktion des sozialen Konsenses scheint ebenso unabhängig vom Wunsch der Gesellschaftsmitglieder zu sein, ihr ökonomisches oder kulturelles Experiment für gültig zu erklären, wie die Reaktion der sichtbaren Welt vom Wunsch der Wissenschaftler, den Wahrheitsgehalt ihrer Hypothesen bestätigt zu sehen.
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Die Unbeeinflussbarkeit des Ereignisses der Bestätigung oder der Validierung scheint in beiden Fällen die erwünschte Objektivität zu garantieren. Da keine andere Instanz als der demokratische Konsens vorstellbar und geeignet scheint, in der Welt verbreitet zu werden, und da er die beste Instanz zu sein scheint, ist er notwendigerweise mit einer kritischen Macht von universeller Gültigkeit ausgestattet, einer Macht, die bisher nur die Philosophie für sich in Anspruch zu nehmen gewagt hat. Indem sie aber an die gleiche Instanz appellieren wie die wirtschaftliche Globalisierung, sind die verschiedenen kulturellen Mondialisierungen anscheinend ebenso machtlos, das Urteil durchzusetzen, das sie über die Resultate der wirtschaftlichen Globalisierung fallen, wie unfähig, sich gegeneinander in ihrem Anspruch auf Wahrheit und universelle Gültigkeit zu profilieren. Da sie einen rationalen Konsens geltend machen, wie er in den Wissensgesellschaften regiert, eröffnen sie nichtsdestotrotz die Möglichkeit, die Globalisierung und die Mondialisierungen zu beurteilen, wie sie auch sich selbst dazu zwingen, über einander zu urteilen. Erlaubt die Aufnahme der kulturellen Mondialisierungen in dieses Experiment, ihre Wirkung auf den weltweiten sozialen Konsens zu ermessen? Oder wird man auch mit ihrer Hilfe nur die vollendete Tatsache der neoliberalen Globalisierung konstatieren können, die Unterwerfung der nationalen und internationalen Politik unter das Pokerspiel des freien Marktes und der Finanzspekulation? Kann es mit ihrer Hilfe gelingen, die Gesellschaften, die sich der sozialstaatlichen Kultur verpflichtet fühlen, zu mobilisieren, um die neoliberale Ungerechtigkeit als politisches Problem auszumachen und ihr eine Kultur des sozialen Lebens entgegenzusetzen, die eine wirkliche Alternative wäre? Oder trägt diese Dynamik des Experimentierens eine Vorstellung vom Menschen in sich, die es erlaubt, jene Art und Weise als überholt zu betrachten, in der die politische Kultur seit Beginn der Moderne jede andere Kultur regiert? Kann und muss der Mensch, der von diesem Experimentieren zum Adressaten und Richter seiner selbst gemacht wird, die Bilder seiner selbst integrieren, die ihm aus den vormodernen Kulturen zurückstrahlen und als letztes Refugium dienen? Kann er so den Kampf der Kulturen beenden? Erlaubt dieses Versuchsmodell, die Universalisierung des kritischen Geistes zur allgemeingültigen Lebensform zu machen, die zu verbreiten es ihn reizt? Oder stellt es am Ende doch nur die Quintessenz des westlichen Traums dar? Um diese Fragen der Reihe nach zu beantworten, scheint es zunächst geboten, kurz in Erinnerung zu rufen, wie die Wandlungen des Neoliberalismus diese interkulturelle Welt, die heute den Horizont unseres Denkens absteckt, hervorgebracht haben und wie sie zugleich zur Dekonstruktion der modernen politischen Welt übergegangen sind.
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2. Die neoliberale Genese der interkulturellen Welt und die Dekonstruktion der modernen politischen Welt Die Flucht von Völkern und Individuen in die kulturellen Gemeinschaften und deren Resakralisierung ist ebenso das Ergebnis des Scheiterns des liberalen Staates wie des voranschreitenden Verlustes ziviler Rechte der Gesellschaftsmitglieder, Vorgänge, die mit der Schaffung des neoliberalen Staates und der Verbreitung des Phänomens der Exklusion zu tun haben. Wie die Analysen von Sheldon Wolin aufgezeigt haben, die er zwischen 1980 und 19832 in seiner Zeitschrift Democracy publizierte, nahm diese beispielhafte Entwicklung ihren Lauf in den USA, bevor sie von dort in die Beziehungen der Vereinigten Staaten mit den anderen Industrienationen und den Entwicklungsländern Eingang gefunden hat. Die Verfassung der Vereinigten Staaten hat die Menschenrechte über das Austarieren der Kräfteverhältnisse zwischen Wirtschaft und Politik gestellt und dem Staat daher nur die Funktion zugewiesen, die Minderheiten und Individuen vor subversiven Gruppierungen und den gewählten Mehrheiten zu schützen, wo deren Interessen eine Bedrohung für die Freiheit darstellen. Um seine Funktion wahrzunehmen, die Freiheit aller gegenüber allen anderen und so die individuelle Inanspruchnahme der zivilen Rechte zu garantieren, hat der Staat als Schiedsrichter zwischen den verschiedenen kapitalistischen Interessengruppen dienen müssen. Diese Rolle hat er im 19. und 20. Jahrhundert jedoch nur wahrnehmen können, indem er die ihm zustehenden Rechte als ökonomischen und politischen Handlungsspielraum interpretierte, den er aber zum Gegenstand von Verhandlungen machen musste, in deren Verlauf ihm die gegebenen Kräfteverhältnisse schließlich ihre Vorstellungen aufzwangen. Nachdem der Staat nach dem Zweiten Weltkrieg als Repräsentant einer Weltmacht dadurch rehabilitiert wurde, dass er in der Lage war, die Pauperisierung aufzufangen, indem er allen Bürgern „wirtschaftliche Rechte" {economical rights) auf Bildung, soziale Sicherheit und Gesundheit, Altersversorgung und Unterkunft gewährte und so neue Legitimität erhielt, musste er diese wohlfahrtsstaatlichen Funktionen während der Stagflation der 70er Jahre wieder aufgeben. So bereitete er den Weg für die Zunahme sozialer Exklusion. Durch den völligen Verlust ihrer ökonomischen Grundlagen haben die Ausgeschlossenen ihre zivilen Rechte zunehmend nicht mehr wahrnehmen können, das heißt, dass der Schutz ihrer Menschenrechte verloren ging. Aber die Entbindung des neoliberalen Staates von seinen politischen Verantwortlichkeiten funktionierte darüber hinaus auch nur um den Preis, dass ein wachsender Anteil der Bevölkerung gezwungen war, Zuflucht in einem Staatsersatz zu suchen, den die kulturellen Gemeinschaften darstellen. Deren Status hat sich daher geändert. Der Staat hatte die Koexistenz der Kulturen im Sinne eines neutralen Multikulturalismus geschützt, in dem die ideologische Kon2 Vgl. vor allem Sheldon Wolin, L'action revolutionnaire aujourd'hui. In: John Rajchman/Cornel West (Hg.), Lapensee americaine contemporaine. Paris 1991, S. 363-384, bes. S. 373f.
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kurrenz durch wirtschaftliche Abhängigkeiten eingedämmt war, die das Überleben sicherten. Dieses multikulturelle Miteinander hat sich nun in einen interkulturellen Raum verwandelt, in dem die kulturelle Identität der Gemeinschaft wieder zur Quelle der Orientierung für Gruppen und Individuen geworden ist, etwa in Form lokaler Tauschhandelsgemeinschaften, während der interkulturelle Konsens zugleich zum politischen Ersatz für den Staat geworden ist. Der Transfer des staatlichen Scheiterns und der damit verbundenen interkulturellen Folgen in den Rest der Welt ist mit der Ausdehnung eines interkulturellen Raumes auf globaler Ebene einhergegangen, der von säkularisierten Heilserwartungen aufgeladen ist, die jedoch von den Nationalstaaten bzw. den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften nicht erfüllt werden können. Dieser Transfer kennzeichnet die interkulturelle Mondialisierung, die von der neoliberalen Globalisierung hervorgebracht wurde. Diese interkulturelle Mondialisierung, deren einheitliches Moment in der Ablehnung der neoliberalen Ungerechtigkeit liegt, hat den Aufbau einer politischen wie intellektuellen europäischen Alternative ins Leben gerufen, die auf der Rückkehr zum Konzept des Sozialstaats basiert und etwa von Jacques Delors, Dominique Strauss-Kahn, Michel Rocard und Jürgen Habermas vertreten wird. Der experimentelle neoliberale Konsens scheint de facto mit den Diktaten des Weltmarkts gleichzusetzen zu sein, der den durch Spekulation bedingten Deregulierungen unterworfen ist. Die einzige Lösung, die er daher anzubieten hat, ist der Versuch, seine eigenen finanziellen Deregulierungen durchzusetzen oder aber den interkulturellen und internationalen Raum durch Staatsstreiche oder groß angelegte militärische Interventionen zu verändern. Es würde reichen, ein kritisches Gesellschaftskonzept wiederzubeleben und den Sozialstaat wieder zu etablieren, einen Staat, der stark genug wäre, im Sinne einer kritischen Instanz seiner Eigendynamik das totale liberale Experiment, auf das er sich eingelassen hat, zu reglementieren, indem er sich über seine partizipativen, exekutiven und judikativen Organe auf einen Dialog mit den in ihm vertretenen öffentlichen Meinungen einlässt. Diese Alternative, die Jürgen Habermas als „deliberative Demokratie" bezeichnet hat, macht ein republikanisches Demokratiekonzept geltend, in dem die Demokratie nicht nur im Sinne der negativen Freiheit aller in Bezug auf alle, sondern im Sinne einer positiven Freiheit verstanden wird, die in der Gewährung des Rechts für alle besteht, in einem legislativen Konsens an der Schaffung von Gesetzen teilzuhaben, welche eine gerechte Redistribution der Rechte, Pflichten und Güter garantieren, und über den so erreichten Stand sozialer Gerechtigkeit zu urteilen. Sie bezieht sich auf die Europäische Union als Union der Mitgliedsstaaten, die in der Lage ist, die Macht einer gemeinsamen Währung sowie ihre vernetzten Produktions- und Wirtschaftsbeziehungen in das internationale Spiel Wirtschaft licher und politischer Kräfte einzubringen, und soll so nicht nur die soziale Gerechtigkeit im Innern der EU wiederherstellen, sondern auch ein neues Gleichgewicht in den europäischen Beziehungen zu den Ländern des Südens
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erreichen und eine gerechte und effektive Beurteilung der notwendigen Bedingungen für eine dauerhafte Entwicklung ermöglichen. Man kennt die innere Zerbrechlichkeit, die die Umsetzung dieses von Rousseau und Kant geerbten Ideals belastet. Die deliberative Demokratie, die auf einer kommunikativen Dynamik fußt, welche im 20. Jahrhundert im Kern der Dynamik von Institutionen wie auch der menschlichen Psyche entdeckt wurde, verleiht dem föderalen Staat oder dem Nationalstaat die politische Vollmacht, mit seinem Handeln die virtuell uneingeschränkte Gemeinschaft der Adressaten zu repräsentieren, mit der sich jeder Einzelne als ethisches und politisches Subjekt identifiziert, das zu beurteilen hat, was der Staat im Namen aller zu sagen, zu wissen und zu tun hat. So wird in den Institutionen wie in den Mentalitäten ein Bezug zu einem staatlichen - nationalen oder föderalen - Gegenüber wiederhergestellt, das jenem vergleichbar ist, welches religiöse Menschen, die an souveräne Götter glauben, an ihre göttlichen Gegenüber bindet, wobei es sich hier um das Verhältnis zum göttlichen Gegenüber der virtuell unbegrenzten Gemeinschaft der Adressaten handelt. Von diesen Gegenübern wird vorausgesetzt, dass sie in jedem Fall günstig auf die Erwartungen antworten, die die Subjekte in Anbetracht der wissenschaftlichen und technischen Veränderung der Welt zu Recht äußern, und so zwingt deren Unfehlbarkeit sie dazu, uneingeschränkt auf die Erwartungen zu antworten. Ihr Scheitern aber wird von ihren Wählergemeinschaften gnadenlos sanktioniert. Die Europäische Union, deren Integration einen kulturellen und politischen Transnationalisierungsprozess neben anderen darstellt, mag sich zwar als Stütze eine Währungsgemeinschaft geben, der demokratische Konsens, auf den sie sich in jedem der Mitgliedsländer beruft, reicht dennoch nicht aus, um diese Staaten vor den Angriffen durch Spekulation und dem Erbe finanzieller Instabilitäten zu schützen, das im Osten durch den Staatskapitalismus des ehemaligen Sowjetreichs entstanden ist. Als ein kaum abwendbares Scheitern muss sie sich der Tatsache der Transformation ihrer deliberativen Demokratien und Sozialstaaten in neoliberale Demokratien stellen, die gezwungen werden, ihren wohlfahrtsstaatlichen Vorsatz aufzugeben, um das wirtschaftliche Überleben ihrer Gemeinschaften zu sichern. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, denen Deutschland bei der Integration der ehemaligen DDR begegnet, sind in dieser Hinsicht paradigmatisch für die Probleme, auf die die Europäische Union sich bei der politischen und kulturellen Integration der zehn neuen Mitgliedsländer einstellen muss; sie können gar nicht überschätzt werden. In allen diesen Fällen scheint der deliberative Konsens - in Form des europäischen oder des nationalen politischen Konsenses - vom neoliberalen Konsens überholt, der jenem durch die wirtschaftliche Globalisierung aufgezwungen wird. In Form eines kulturellen Konsenses scheint es ihm dagegen vor allem durch die Achtung, die ihm die kulturelle Vielfalt verschafft, zu gelingen, Anerkennung für eine neue weltweite kulturelle Instanz zu schaffen, die in der Lage ist, Verbrechen gegen die Menschenrechte und Angriffe von Nationalstaaten auf den internationalen Raum
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zu ächten sowie die Bildung einer internationalen öffentlichen Meinung im Schnittfeld der kulturellen Mondialisierungen voranzutreiben. Ist dieser Konsens gezwungen, seine politische Machtlosigkeit anzuerkennen und den Kampf der Kulturen vor dem Horizont einer neodarwinistischen Globalisierung fortleben zu lassen? Das ist die historische Frage, vor die uns die Existenz eines interkulturellen Raumes stellt, der für gewöhnlich als „kulturelle Vielfalt" bezeichnet wird. Meines Erachtens kann man darauf nur antworten, indem man dem neuen Menschenbild, das die Humanwissenschaften und die Philosophie im Verlauf dieses totalen Experiments des Menschen aufgedeckt haben, die größtmöglichen Chancen einräumt - einem Menschenbild, das das traditionelle Bild vom Menschen, das die Philosophie den modernen Gesellschaften zu ihrer Orientierung hinterlassen hat, als falsch ausweist. Man muss dieses neue Menschenbild in den Universalisierungsprozess des kritischen Denkens einordnen können, bzw. in das, was man gängigerweise die Demokratisierung von Lehre und Forschung nennt, weil es die Anerkennung einer transkulturellen Philosophie ermöglicht. Der interkulturelle Dialog praktiziert diese bereits jetzt, indem er dieses Menschenbild in die kulturellen Schaffensprozesse und in nicht regierungspolitische Aktionen einfließen lässt. Weil dieses Bild unter anderem den Reflexionsraum aufzeigt, der es ermöglicht, die Objektivität jener Aprioris zu beurteilen, auf denen die verschiedenen Optionen der kulturellen Mondialisierungen fußen, eröffnet es einer wechselseitigen Integration der verschiedenen vormodernen kulturellen Mondialisierungen den Weg und macht es möglich, sie von dem sterilen Konflikt zu befreien, in den die neoliberale Globalisierung sie hineingeworfen hatte, als sie sie wieder ins Leben rief.
3. Die philosophische Mutation des Menschen im Experiment der kulturellen Verschiedenheit Um der Mondialisierung der neoliberalen Abschaffung „ökonomischer Rechte" sowie dem Dogmatismus der kulturellen Mondialisierungen entgegenzutreten, bedarf es auf den Ebenen des Handelns und des Begehrens einer Art kopernikanischen Wende, einer theoretischen Wende, die mit der kantischen Revolution der Erkenntnistheorie vergleichbar ist. Jeder Einzelne und jedes Volk muss anerkennen können, dass jeder - schon aufgrund der Tatsache, dass er spricht - sich selbst und seinen privaten oder kollektiven Partner als Richter des Urteils einsetzt, das er auf Grundlage dessen ausspricht, was er kennt bzw. was er meint, tun oder veranlassen zu müssen oder was er meint, verlangen zu können. Nur wenn jedes Individuum oder jedes Volk dieses Recht anerkennt und durchsetzt, diese ihm obliegende Objektivitätspflicht im ethisch-politischen Bereich wirklich zu erfüllen, gewährt es sich tatsächlich das Recht, über sich und die Anderen zu verfügen. Indem es über die gemeinsamen und tatsäch-
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liehen Existenzbedingungen urteilt, kann es den Subjekten anderer Kulturen ihr Recht zugestehen, selbst zu beurteilen, wer sie sind und was ihre menschliche „Natur" ausmacht, und dann darüber urteilen, ob die Ausführung des Urteils, das diesen überlassen wurde, den eigenen theoretischen Anforderungen genügt - und zwar unabhängig davon, ob es gut oder schlecht ausfallt und ob es sich auf Andere oder sich selbst bezieht. Allein dieses zweite Moment und der tatsächliche Zugang der Individuen und Völker zu dem Recht und der Pflicht, sich auf der Grundlage dieser Objektivität selbst zu definieren, erlaubt es ihnen, sich von dem politischen Wahnsinn und dem Missbrauch der Urteilsmacht zu heilen, derer man sich anmaßt, wenn man sie sich im Namen eines Anderen als Monopol zuschreibt, sich blind an ihr ergötzt und die eigenen Gedanken, die schlicht und einfach Zufall sind, zu einem göttlichen Wissen davon erhebt, was sein sollte und was der Andere tun sollte. Dieses Gründen von Rechten in der dem Sprachgebrauch inhärenten Beurteilung von Wahrheit führt eine kulturelle Wandlung der Konzeption der Menschenrechte und des Politischen mit sich. Diese Wandlung hat zur Folge, dass hinter der Steigerung des Kapitalismus und seiner kollektiven moralischen Verurteilung in den kulturellen Mondialisierungen der positive Prozess erkannt wird, der von diesen nur als parasitärer Nebeneffekt mitgeneriert wird und darin besteht, dass mit Hilfe des Gesetzes der Kreativität, die der Sprache und der Psyche eigen ist, eine Weltöffentlichkeit hergestellt wird. Dies geschieht, indem im Denken und in der Sprache in jeder schwierigen Situation eine affektive, kognitive, praktische und einverleibende Vor-Übereinstimmung mit der Welt, mit sich und mit Anderen entworfen und dann beurteilt wird, ob die so imaginierte Welt derjenigen entspricht, die man braucht und die bereits die einzig mögliche Wirklichkeit darstellt, in der man sich wiederfinden kann. Es ist allgemein bekannt, dass man eine positive Konzeption der Zivilgesellschaft und des juristischen Systems nur dann erhält, wenn man die sie bewegende Dynamik von Angebot und Nachfrage rückbezieht auf die Anwendung der kommunikativen Dynamik von Reiz und Reaktion im Bereich der Bedürfnisse; händlerische und unternehmerische Vorstellungen können sich nur entfalten, wenn sie die Rolle dessen übernehmen, was G. H. Mead den „verallgemeinerten Anderen" genannt hat und was die pragmatischen Ethiken der Sozialkritik von Apel und Habermas als „kontra-faktische Antizipation eines Konsenses mit der Gesamtheit der Adressaten einer virtuell unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft" bezeichnen. Weniger bekannt ist aber, dass die Antizipation der Bedürfnisse Anderer und der erforderlichen Mittel zu ihrer Befriedigung genauso abhängig vom Wahrheitsurteil ist wie die Herstellung einer Wahrnehmung und eines wissenschaftlichen Wissens, die man daraus ableiten kann. Denn bevor sie als moralisches, soziales und regulatives Prinzip aufgefasst werden kann, ist sie konstitutiv fur die Identifikation des lebenden Menschen mit Sprachlauten und gibt in dieser Hinsicht sowohl die Regeln der Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit als auch der Übereinstim-
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mung mit den Anderen vor. Sie lässt den Menschen seine Bedürfnisse und Handlungen ebenso verobjektivieren wie seine Wahrnehmungen, indem sie Übereinstimmung zwischen den geäußerten und den gehörten Lauten in seinen Wahrnehmungen, Bedürfnissen und Handlungen entstehen lässt, um ihnen Existenz zu verleihen, sie von sich selbst zu entheben und den betreffenden Menschen erkennen zu lassen, ob diese Wahrnehmungen, Handlungen und Bedürfnisse auch wirklich so sehr er selbst sind, wie er es annehmen musste, um sie überhaupt in Gedanken hervorbringen zu können. Um sowohl Bedürfnisse als auch Handlungen, Mittel und Maschinen, die zu ihrer Befriedigung erforderlich sind, zu erdenken, müssen wir sie in Form von Behauptungen denken, die man unweigerlich für wahr halten muss, um sie überhaupt denken zu können. Dabei müssen wir erkennen können, ob die Welt, die wir auf diese Weise erschaffen, geeignet ist, diese Bedürfnisse zu befriedigen, und zugleich in dem Maße wahr ist, wie wir es annehmen. Die praktische Anerkennung dieses Gesetzes macht das aus, was ich das totale Experiment des Menschen genannt habe, auch wenn der liberale Missbrauch des Konsenses dieses Experiment verstümmelt hat, indem er das essenzielle Moment des Urteilens aus ihm entfernte und so das Herausbilden eines ethischen Substituts, nämlich die europäische und republikanische Korrektur dieses totalen Experiments durch einen ethischen Konsens, provoziert hat. Die Konstruktion der ökonomischen und politischen Welt entkommt diesem Gesetz nicht und ist daher immer schon die Korrektur der nicht bezähmbaren Widerspenstigen, des liberalen Idols bedingungslosen Wachstums nationaler Bruttosozialprodukte. Die Konstruktion der ökonomischen und politischen Welt kann aber nicht nur diesem Gesetz nicht entkommen, sondern trägt im Gegenteil zu dessen Anerkennung im öffentlichen Raum des Urteilens und des Äußerns bei, dank dessen der ökonomische und politische Raum zu einer politischen Welt wird, die so objektiv und unveränderlich ist, wie sie sein muss, um in ihr leben zu können. Diese Universalisierung des Wahrheitsurteils, das dem Sprachgebrauch und dem öffentlichen Urteilen innewohnt, fuhrt eine Wandlung des Konzepts der Menschenrechte mit sich. Während die moderne Rechtstheorie als Erbe der Neuzeit die Menschenrechte aus dem Prinzip der Gleichheit zwischen den Menschen und der Handlungsfreiheit, die der Mensch als rationales Wesen besitzt, hergeleitet hat, betont die heutige Philosophie, dass der Mensch ein sprachliches Wesen ist, das von seiner Urteilskraft Gebrauch machen und die Wahrheit seines Urteils von seinen Partnern akzeptiert wissen muss, um sich von seinen Mitmenschen als Mensch anerkannt zu fühlen. Gleichheit und Handlungsfreiheit können nicht mehr schlicht und einfach als angeborene Eigenschaften betrachtet werden, die α priori alle besitzen und die es zu verteidigen gilt, wie man sein Recht auf Besitz verteidigt, nämlich indem man Verträge schließt, die den Zugriff der Besitzer auf ihren Besitz nachweisen und Anderen verbieten, sich diesen Besitz zu verschaffen. Als Hörer und Adressat der Anderen und seiner selbst ist jeder Mensch dazu bestimmt, über die Objektivität seiner
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Lebensverhältnisse zu urteilen und im Sinne der Wahrheit seiner Urteile zu handeln, soweit es ihm gelingt, diese zu vermitteln. Sein Wahrheitsurteil basiert also allein auf der Urteilsausübung und der Teilhabe daran, als unhintergehbaren Bedingungen der Anerkennung ihrer tatsächlichen Objektivität. Dieses Urteil ist also ebenso in Bezug zu den Kenntnissen des betreffenden Menschen und der Richtigkeit seiner Handlungen zu sehen wie zu der Objektivität der Bedürfnisse, die jeder als menschlich anzuerkennen hat. Daher reicht es auch nicht mehr aus, jedem per Vertrag die Freiheit zuzusprechen, sich im Sinne seiner Urteilsschlüsse zu verhalten, sondern man muss jedem die Möglichkeit einräumen, deren Wahrheit anzuerkennen und ihr Anerkennung zu verschaffen. Das Recht darauf, dieses Wahrheitsurteil auszuüben, ist die Wurzel jeden Rechts, weil das Ausüben der Urteilsfähigkeit ausschließlich auf dessen Eignung beruht, die objektiven Lebensbedingungen zu verobjektivieren, auf den Wahrheiten, die sie zugänglich macht, und darauf, dass diese geteilt und mitgeteilt werden. So ist dieses Urteil seinem Wesen nach ein philosophisches und macht jeden zum Philosophen, der zu seinem Mensch-Sein nur findet, indem er der Wahrheit bei Anderen auf die gleiche Art wie bei sich selbst Anerkennung verschafft. Die öffentliche Anerkennung des Rechts zu urteilen geht daher einher mit der Anerkennung der Demokratie als objektiver Bedingung des menschlichen Lebens. Soll dieses Recht keine leere Worthülse bleiben, können wir uns also nicht damit begnügen, es mithilfe einer rein defensiven, vertraglichen und negativen Konzeption der Rechte zu verteidigen, als ob man einen Besitz verteidigt, indem man jemandem das Zugriffsrecht darauf zuspricht. In Anbetracht der neoliberalen wirtschaftlichen Globalisierung verpflichtet die Ausübung dieses Rechtes den Einzelnen nicht nur dazu, den Wahnsinn der Spekulation als Triebkraft der kapitalistischen Bedürfhismaximierung und die Perversität des kapitalistischen Bewusstseins zu erkennen, das die Verarmung und Exklusion von Bürgern und anderen Völkern rechtfertigt, indem sie gänzlich von deren elementarsten Rechten absieht, sondern sie verpflichtet den Einzelnen auch dazu, die anthropologischen Fehler zu erkennen, die dem politischen Konzept des Staates eigen sind, und zu begreifen, dass Staaten und Individuen sich immer nur orientieren konnten und können, indem sie sich von der Ausübung dieses Urteils leiten ließen. Die geforderte kulturelle Veränderung ist nicht einfach eine Wandlung, sondern auch und gerade eine kulturelle Wandlung, weil sie eine Veränderung ist, der sich die Individuen und Staaten in der Praxis und durch die Funktionsweise der Institutionen gezwungenermaßen unterwerfen, bevor sie überhaupt merken, dass sie es tun müssen. Der anthropologische Fehler, auf dessen Annahme sowohl der souveräne Staat und der Rechtsstaat als auch die moralischen Rechtfertigungen des liberalen Rechtswesens basieren, besteht in dem im Menschen angenommenen Antagonismus zwischen Geist und Trieb sowie in der unterstellten Notwendigkeit, das soziale und das geistige Leben als Prozess der Beherrschung der Bedürfnisse und Interessen durch den Geist zu verstehen. Seit Piaton sind die
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antagonistischen Beziehungen der Triebe, von denen angenommen wurde, dass sie den ewigen Antagonismus der Götter widerspiegeln, dem Menschen großzügig als ihn determinierende „Natur" zugeschrieben worden, die vom Fall des Geistes in den Körper abgeleitet wurde. Diese antagonistische Natur ist dann in der Moderne in die zwischenmenschlichen und politischen Beziehungen hineinprojiziert worden, und zwar so weitgehend, dass der Triebmensch zum Feind seines geistigen Selbst gemacht und nach dem berühmten Wort von Hobbes schließlich zum Wolf für seinesgleichen wurde. Der aktuelle Kampf der kulturellen Mondialisierungen stellt nur eine jüngere Variante davon dar. Es handelt sich dabei um einen philosophischen Fehler, der der Unkenntnis der Antike und der Moderne wie auch zahlreicher Zeitgenossen darüber geschuldet ist, wie sich im Menschen der Bezug zu seinen Trieben als α priori rationaler Bezug herstellt: Man kann die eigenen Triebe nicht jenseits wahrer Sätze denken, das heißt, ohne anzunehmen, dass man genauso objektiv seine Triebe „ist", wie es wahr ist, dass man sie denken musste. Außerdem ist es ratsam, dieses Vor-Urteil, das jeder Repräsentation des Triebs inhärent ist, dem Wahrheitsurteil zu unterwerfen und zu beurteilen, ob man ebenso objektiv diese Triebe „ist", wie man sie erdenken und empfinden musste. Aus diesem Grund besteht die politische Ausübung des Wahrheitsurteils darin, nur das zu verwirklichen und Andere verwirklichen zu lassen, von dem man gedacht hat, dass man es sei oder dass Andere es seien, um es überhaupt denken zu können. Und es gibt keinen anderen Weg, dies zu erreichen, als Andere dazu zu bewegen, das Wahrheitsurteil zu teilen, das man diesbezüglich geäußert hat. Die demokratische Identität der Gesellschaftsmitglieder kann als solche nur angeeignet und anerkannt werden, wenn es zugleich gelingt, die Teilhabe an einer Lebensform als richtig beurteilen zu lassen - was man in jeder Kommunikation versucht. Diese Identität des Urteils und deren Anerkennung als solche beruhen allein aufeinander. Sie sind daher philosophischer Natur und können nur angeeignet werden, wenn ein System juristischer, moralischer, politischer oder sprachlicher Regeln respektiert wird, aber sie verlangen von jedem Einzelnen, dass er das Wahrheitsgesetz, das seiner Identifikation mit der Sprache eingeschrieben ist, respektiert, indem er die Objektivität des Urteils anerkennt und dafür Anerkennung schafft. Indem er nämlich dieses Gesetz anerkennt, sorgt er für eine gerechte Teilhabe an der Wahrheit und etabliert Gerechtigkeitsbeziehungen dort, wo sie hingehören: in den Verteilungsbeziehungen des Denkens, die die Entlohnung der Wahrheit regeln, die man darin sucht. Solange die Harmonie mit der sichtbaren und sozialen Welt als Antizipation der Übereinstimmung mit sich selbst und den Anderen verstanden wird, die uns zwingen, über uns selbst ein fur alle Mal aus der fremden Sicht, das heißt, vom Standpunkt eines blinden Konsenses bzw. eines idealen Gegenübers zu urteilen, der zwar mit allen anderen identifiziert wird, von dem jedoch niemand erkennen kann, dass er es selbst ist, erweist sie sich als unerreichbar. Dabei wird der Versuch unternommen, aus dem Menschen ein wohlgeformtes
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Lebewesen zu machen: ein strenges und unfehlbares System der Abstimmung eines einzigartigen Systems von Handlungen und Bedürfnissen mit einem einzigartigen System von kognitiven und stimulierenden Wahrnehmungen. Diese Konzeption des zoon logikon haben wir zwar von Aristoteles geerbt, in Anbetracht der Tatsache aber, dass zunächst im Menschen nur die auf das Innere bezogenen Triebe der Nahrungsaufnahme, der Fortpflanzung und Verteidigung existieren, ist sie deswegen nicht weniger falsch. Es ist aussichtslos, ausgehend davon institutionelle Abstimmungen mit dem physischen und sozialen Umfeld vorzunehmen, die so klar und unfehlbar wie die Instinkte wohlgeformter Tiere sind. Sucht man eine politische Lösung für das Problem, vor das wir uns durch das totale Experiment gestellt sehen, kommt man auf die Macht der Rede [parole] zurück, von der zum Schutz des Menschen vor der Aggression anderer Gebrauch gemacht wird und deren öffentliche Natur als bedeutendste Institution des politischen Lebens in den Religionen, die sich durch die Vorstellung souveräner Götter auszeichnen, anerkannt wurde. Aber in diesem politischen Gebrauch der Rede sucht man ein Analogon zum regulierenden Instinkt und schränkt den Gebrauch der Rede willkürlich auf deren politische Funktion ein. Die Ohnmacht der Nationalstaaten, die die Achtung der Menschenrechte nicht aufrechterhalten und die Exzesse der multinationalen Konzerne und die Turbulenzen der Spekulation nicht eindämmen können, hat die ganze Nichtigkeit der Säkularisierung der souveränen Götter in den Nationen und ihren Staaten vor Augen gefuhrt. Die Phänomene der Exklusion, die zum Programm erhobene Arbeitslosigkeit, die durch die weltweite Vernichtung der Handarbeit voranschreitet und als erforderlich für die technologisch rentabelste Ausbeutung der Welt betrachtet wird, sowie das Ausnutzen der nachhaltigen Entwicklung für die Verschärfung der Verarmung von Entwicklungsländern haben dem Glauben an den Staat und die kulturelle Mondialisierung des Politischen ein Ende gesetzt, indem sie die Verfälschungen aufgezeigt haben, die die Ansprüche des Staates und des Politischen in einer weltweiten Herrschaft, die nach den hegemonialen Gesetzen des Weltmarkts geordnet ist, erfahren haben. Die Destabilisierung der klassischen politischen Kräfteverhältnisse, die durch die von Spekulanten verursachten Währungskrisen aus den Fugen geraten sind, hat es den Staaten unmöglich gemacht, ihre minimale verbliebene Macht anders zu gebrauchen als ihre Fähigkeit geltend zu machen, hinter den internationalen politischen und ökonomischen Kräfteverhältnissen die einzigen objektiven Lebensbedingungen auszumachen, die sie gegenüber der internationalen öffentlichen Meinung vertreten können. Dabei zeigten sie, dass diese Lebensbedingungen ihren jeweiligen Ländern unabhängig von der Frage der Dominanz und der Hegemonie einiger Länder über andere zugesprochen werden mussten. Respekt für ihre Entscheidungen konnten die Staaten sich nur verschaffen, indem sie dafür sorgten, dass sie als voll berechtigte Bürger in der internationalen Demokratie und als Träger eines Urteils anerkannt werden, das gegenüber der öffentlichen Meinung gerechtfertigt werden kann, und zwar aus dem einzi-
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gen Grund, dass sie diese Meinung als eine von ihren internationalen Partnern zu respektierende Notwendigkeit durchsetzen konnten. Im Kontext der kulturellen Mondialisierungen erweist sich der interkulturelle Dialog als notwendig, um die Fähigkeit jeder einzelnen Kultur zu prüfen, sich als eine Lebensform anzubieten, die sowohl von allen, die daran beteiligt sind, als auch von den Anderen ausgeübt werden kann. Dabei ist er auf den universitären Austausch zwischen den Kulturen als einen seiner wichtigen Pfeiler angewiesen. Denn in der Tat ist der universitäre Diskurs nicht irgendeine beliebige Gelegenheit für eine Kultur, sich ihrer selbst zu versichern. Er stellt vielmehr die Instanz dar, durch die sich die betreffende Kultur ein kritisches Bewusstsein der eigenen Grenzen in Bezug auf das Verstehen anderer Kulturen bildet und über die sie die Notwendigkeit erkennt, den interkulturellen Dialog von dem Missverständnis zu befreien, das darin liegt, ihn als reine Mitteilung oder Aufzeichnung eines gegenseitigen Verstehens bzw. Missverstehens aufzufassen. So eröffnet er die Möglichkeit zu erkennen, wo die gegebenen Verhältnisse kultureller Komplementarität anthropologische Konstanten aufdecken, die sich nur dann als solche herausstellen, wenn sie von den Partnern aus den diversen einbezogenen Kulturen adaptiert wurden. Mithilfe dieses kritischen Diskurses können die Grenzen der verschiedenen Kulturen bestimmt und die Art und Weise, wie die Kulturen der Partner diese Grenzen überschreiten, kann in die Ausgangskultur integriert werden. Der Respekt gegenüber den Kulturen im kulturellen Dialog darf sich in der Tat nicht auf eine formelle Haltung der Anerkennung der Existenz einer anderen Kultur beschränken, die etwa vergleichbar wäre mit der rechtlichen Pflicht, die Existenz einer anderen Person anzuerkennen. Vielmehr muss der Respekt im Akt der Kritik zum Tragen kommen, über den eine Kultur anerkennt, dass sie sich einverleiben muss, was ihr selbst fehlt und was das Fundament derjenigen Kultur ausmacht, mit der sie im Dialog steht. Diese sich in der Handlung vollziehende Anerkennung der Besonderheit der anderen Kulturen, ihrer anthropologischen Bedeutung und ihres tatsächlichen Beitrags zur Konstruktion einer Gesellschaft, die dem, was sie sein muss, so sehr entspricht, dass sie tatsächlich auch so beschaffen ist, ermöglicht den Austausch der kritischen Kraft des universitären Diskurses im interkulturellen Dialog. Diese Form des Respekts erlaubt daher, die Wissenschaftler in die Transformation ihrer Kultur und der aus ihr hervorgehenden Institutionen einzubeziehen und ermöglicht zudem ein Eingreifen ihrerseits in andere Kulturen, und zwar über den Umweg, dass die in den anderen Kulturen geprägten Wissenschaftler ihren Beitrag anerkennen können, sobald der Beitrag der fremden Kultur in ihrer grundsätzlichen anthropologischen Bedeutung anerkannt wurde. Wenn man beispielsweise an die jüngere interkulturelle Spaltung denkt, die zwischen dem Liberalismus und der islamischen Kultur stattgefunden hat, so erscheint es auf der einen Seite zwingend erforderlich, die Notwendigkeit anzuerkennen, die Vertragskultur des amerikanischen Liberalismus zu erweitern:
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Kulturelle Mondialisierungen
Und zwar, indem man die Bedingungsverhältnisse anerkennt, die zum einen die Entwicklung der sozialen Kulturen an die Wirklichkeit der Menschen binden, die uns zum anderen dazu zwingen, die Gesetze, die den wirtschaftlichen Austausch regeln und eine Verteilungsgerechtigkeit in Bezug auf Güter, Rechte und Pflichte durchsetzen, als objektiv anzuerkennen. Allein eine solche Anerkennung kann den europäischen Traum von einer universellen deliberativen Demokratie aus seinen internen ethischen Grenzen befreien. Die islamische Kultur eröffnet die Möglichkeit, die internen Grenzen des vertraglichen Denkens und der von ihr geforderten willkürlichen Austauschabkommen zu kritisieren. Sie bietet diese Möglichkeit unter der Bedingung, dass sie sich selbst dem Bild vom Menschen anpassen kann, das durch das totale Experimentieren mit sich selbst, dem sich der Mensch verschrieben hat, entworfen wurde, und dass sie ihre akritische Flucht in einen Schicksalsglauben aufgeben kann, der allem den Kampf ansagt, was sich dem Schicksal der Auserwählung seiner Gläubigen entgegenzustellen scheint. Aber die universitäre Kritik sollte, wie Fathi Tikri gezeigt hat, transkultureller Natur sein, und zwar in dem Sinne, dass sie es sich schuldig ist, den Standpunkt ihrer kulturellen Gegenüber einzunehmen: Um die kulturelle Kreativität der anderen Kulturen und die Vorgehensweise ihrer Kritik verstehen und erproben zu können, darf man nicht nur annehmen, dass der Andere Recht haben könnte, sondern man muss davon ausgehen, dass er tatsächlich Recht hat, indem man fur wahr hält, was er denkt, unabhängig davon, ob man danach einsehen muss, dass es tatsächlich wahr oder aber falsch ist. Dieses eine anthropologische Kriterium für einen kritischen interkulturellen Dialog ist unabdingbar. Die Übereinkunft über die Wahrheit des Anderen war vielleicht das, worauf das biblische Verbot zielte, die Macht zum letztgültigen Urteil an sich zu reißen, die allein dem judaischen Gott zugesprochen wurde. Auch wenn es absolut unmöglich ist, dem Menschen der kulturellen Mondialisierungen zu verbieten, sich als urteilendes und die Wahrheit suchendes Wesen zu definieren, so bleibt doch der Einwand, dass wir von der judaischen Kultur lernen müssen, dass der Mensch unfähig ist, die Wahrheit dessen zu erkennen, was er sagt und denkt, wenn er sein Urteil über die Wahrheit nicht mit Anderen hat teilen können und sie nicht davon überzeugt hat, die Objektivität seiner Erfahrung und der Welt, die er sie nachkonstruieren lässt, anzuerkennen. Vielleicht macht das den verdeckten jüdischen und islamischen Gehalt (la judeite, I 'islamite) des Europäischen aus, wie R. Mate so hervorragend aufzeigt, vielleicht stellt es die innere Begrenzung des Gebrauchs des philosophischen Urteils dar - ob es sich um ein alltägliches oder ein professionelles handelt jedenfalls, wenn es wahr ist, dass dieses (Mit-)Teilen und der uns und den Anderen gewährte Zugang zu diesem Teilen die einzigen Belege fur die Existenz der Wahrheit darstellen, die, um überhaupt zu sein, von allen geteilt und anerkannt sein muss. A. d. Frz. v. Constanze Markus Meßling/Bernhard
Fröhlich/ Hunger
IV. Dialog und Interkulturalität
Benmeziane Bencherki
D A S MITTELMEER: ERGEBNIS EINES INTERKULTURELLEN DIALOGS
In seinem Buch Grammaire des civilisations erklärt Braudel seine neue Strategie für den Geschichtsunterricht in Frankreich mit folgender Feststellung: „Hier befinden wir uns nun, jenseits der Trennlinie, jungen Leuten gegenüber, die heutzutage vielleicht viel freier, aber auch viel trauriger sind, als wir in ihrem Alter; sie revoltieren, während es tatsächlich die Gesellschaft, die Welt, die Art und Weise zu leben sind, die alles um sie herum verändern und über ihre Bewegungen, ihre Zwänge und ihre Wut hinweggehen. Sie sind vielleicht weniger intellektuell, weniger belesen, aber ebenfalls intelligent, und mit Sicherheit neugieriger, als wir es am Ende unserer Ausbildung waren. Welchen historischen Diskurs sollen wir ihnen also auferlegen?"1 Mit dieser Fragestellung will Braudel bewirken, dass der Geschichtsunterricht den Willen zum Gestalten, die Ambitionen und die Sorgen dieser jungen Generation berücksichtigt, die sich ein Leben in Frieden ohne Konflikte und Kriege wünscht, und die von einer milden und großzügigen Welt, von der Teilhabe an Wissen und Kultur träumt, sowie von einer Interkulturalität als Ergebnis eines interkulturellen Dialogs.
1. Das Mittelmeer als Wiege kultureller Verschiedenheit Das Mittelmeer wird, wie wir wissen, schon immer als ein großer See angesehen, geschlossen und weit weg vom offenen Meer. Ein ruhiges Meer, weit entfernt von klimatischen Veränderungen. Aber eine Region, die seit der Antike bis in unsere Tage mehrere Kriege, Zivilisationen und Religionen erdulden musste. In seiner fernen Vergangenheit barg das Mittelmeer gewiss günstige historische Bedingungen in Richtung auf ein Zusammenleben voller Hoffnung. Große Städte wie Alexandria bewiesen dies. Heutzutage ist der Mittelmeerraum unglücklicherweise ein Ort der Kriege, mit ethnischen, religiösen und sprachlichen Konflikten sowie gegenseitigen Fehleinschätzungen geworden. Ein Ort der Verschiedenheit. Dieser Ort der Erinnerung, den wir heute wieder besichtigen und über den wir nachdenken, ist die Wiege mehrerer wichtiger Ereignisse, die der Mensch1 Braudel 1997, S. 21.
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Benmeziane Bencherki
heit ihre spirituelle und kulturelle Dimension gegeben haben. Aus Athen kommt die Philosophie, aus Rom die Geschichte, aus Alexandria und Damaskus der religiöse Humanismus, der seine kosmische Dimension einbringt, und in Karthago und El-Bona nimmt sich das Christentum seiner an und entschleiert seine Existenz; aus Tanger und Toledo werden philosophische Texte überliefert: „Diese Geschichte, die sich an seinen Küsten abspielte, ist des Mittelmeeres eigene Geschichte geworden, aus der Tatsache heraus, dass alle Völker des Landesinneren sich seit dem Morgengrauen der Geschichte ihm zuwandten."2 Diese Reise zu den Erinnerungsorten deckt zwei wichtige Momente auf: Zuerst die aus einem Klima von Toleranz und religiösem Humanismus hervorgegangene arabisch-muslimische Kultur, heute Opfer und Täter von Gewalt. Sodann die Interaktion der drei großen Religionen, die sich Erläuterungen, philosophischen Kommentaren und Interpretationen widmeten, die ihnen humanistische Dimensionen gaben und sie durch eine kulturelle Umwandlung und Übersetzungen öffneten. Denn die Rolle, die die Übersetzung gespielt hat, hat nach einer langen sterilen Phase die heutige, fruchtbare Welt hervorgebracht, die Europa im Mittelalter berührte, wie Alain de Libera unterstreicht: Es gibt mehrere Übersetzungsarbeiten zur Zeit des Übergangs von der Antike zum Mittelalter. Ein Weg fuhrt von Athen nach Persien, und von Persien nach Havran [...], ein anderer von Alexandria zu den syrischen Klöstern des 7. und 8. Jahrhunderts, ein dritter bahnt sich über die syrische zur arabischen Kultur von Alexandria nach Bagdad. Diese Bewegungen beschäftigen das gesamte Hochmittelalter. Sie reichen aus, um eine Geschichte zu umschließen und zu strukturieren. Sie dauern allerdings verschieden lang an. Zur gleichen Zeit ist der christliche Westen philosophisch unfruchtbar. Er erwacht aus seinem langen Schlaf erst mit der neuen Übersetzung, die von Bagdad nach Crodue kommt, anschließend nach Toledo. 3
Zum einen zeigt uns die Geschichte, dass die jüdische und die christliche Religion schon Glaubenswelten waren, als der Islam geboren wurde, und dass er sie aus seiner Strategie der Besitzergreifung nicht ausschließen wollte. Die arabische Sprache wurde, wie das Englische heute, eine Sprache des Wissens und der Wissenschaft, die auch die anderen Kulturen gebrauchten, um eine höhere Stufe ihrer Wissenschaftlichkeit zu erreichen. Das Stadium, das das Arabische zu jener Zeit erreicht hatte, war das Ergebnis einer großen Anstrengung, angeführt von den Gelehrten, den Sprachwissenschaftlern und Philosophen. Mit einer geographischen Ausdehnung von Asien bis nach Poitiers in Europa stellt die arabisch-muslimische Kultur eine Hochkultur dar, die das Wissen empfängt und erblühen lässt, ohne sich den Meinungen der Anderen aufzudrängen. Perser, Türken, Europäer etc., sie alle haben ihre sprachliche Identität bewahrt, selbst einige sprachliche Ethnien wie die Berber in den Ländern des Maghreb.4
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Moulfi 2002, S. 290. De Libera 1998, S. 7. Dieses Phänomen ist für die gegenwärtigen Mächte in der Region zu einem entscheidenden politischen Problem geworden, insofern alle Demokratisierungsprojekte an den Punkt gelangt sind, dass in ihrer Erörterung die Politik die Rolle der Wissenschaft eingenommen hat.
Das Mittelmeer
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Diese Entwicklung kann zurückgeführt werden auf das Aufkommen einer Vernunft des Möglichen, wie sie Al-Maqdisi5 erläutert, oder auch einer emergenten Vernunft, wie sie Arkoun ausweist: „Die emergente Vernunft unterscheidet sich von allem vorherigen Gebrauch der Vernunft in den Bereichen des Religiösen, Philosophischen und Anthropologischen durch die Werkzeuge des Denkens und des Blicks, die sie sich aneignet, um alle die Ereignisse in ein Werden zusammen- und überzufuhren, in denen sich die Erwartungen und Hoffnungen der Menschen und der Gesellschaften an die Entfaltung der individuellen und kollektiven Existenzen widerspiegeln."6 Oder sogar auf eine Vernunft als Form der praktischen Vernünftigkeit bei Al-Farabi, wie sie Fathi Triki unterstreicht, „dieses Ensemble von theoretischen Kriterien und praktischen Dispositionen, deren Beziehung im tagtäglichen Handeln des Menschen das Individuum verständig macht, so dass es nach den Anforderungen der Vernunft leben und in seiner Existenz verbleiben kann". 7 Von dieser Vielfältigkeit der Vernunft und ihrer variablen Konzeption her also, die sich jedem Dogmatismus und totalitären Geist entgegenstellt, hat das islamische Denken Europa erobert: mit einem Diskurs des Friedens und des Wissens, einem Diskurs des Sich-Wiedererkennen-Wollens und Kennen-Wollens, einem Diskurs der Überzeugung, der Offenheit gegenüber dem Anderen, des Glaubens an die Unterschiedlichkeit und nicht an die Gewalt. Die arabische Sprache hat dieses Denken über acht Jahrhunderte auf ihrer Reise verbreitet. Die Schwestern der islamischen Religion, die jüdische und christliche, fanden es sehr vorteilhaft, dass die berühmten Texte von Maimonides (dalalatcal-ha 'irin, Führer der Verirrten) und Avicebron (Ibn Gabirol, Die Quellen des Lebens) und vor ihnen sogar die von Sa'adyah ibn Yusuf al-Fayyumi, bekannt unter dem Namen Saadia Gaon, auf arabisch übermittelt wurden. Dieses Bild, das uns die Sprache übermittelt, gibt uns die Gelegenheit, folgende Fragen zu stellen: In welchen Diskurssprachen lehren wir unsere Kinder heute (die) Geschichte? Mit welcher Strategie bilden wir jene, die jetzt schuldig und/oder Opfer eines Glaubens und/oder von Gewalt sind? Diese Fragen geben uns heute die Berechtigung und die Möglichkeit, über die Fragestellung von Braudel erneut nachzudenken. Das zweite historische Moment, das ich wiederbeleuchten will, ist Andalusien, das heutige Spanien, ein Land des Glaubens und des Dialogs, des Denkens und der Übersetzung. In diesem Gebiet, von uns heute, südlich des Mittelmeers, als Ausland betrachtet, erbrachte das Mittelmeer den Beweis eines 5
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Er nimmt eine Dreiteilung der Dinge vor: das Notwendige, das Negative und das Mögliche (welches sowohl das ist, was geschehen kann und von der Vernunft an sich erdacht werden kann, wie auch das, was man von den vergangenen Jahrhunderten und von fernen Ländern erzählt, oder von dem man vorhersagt, es müsse geschehen). Vgl. Maqdisi 1899, S.25. Arkoun 2005, S. 11. Triki 1998, S. 79f. Eine umfassendere Erklärung dieser Definition Al-Farabis findet sich in zwei weiteren (arabischen) Texten von Triki, „Philosophie des Zusammenlebens und die Vernunft" und „Die Freiheit".
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toleranten Zusammenlebens und eines fruchtbaren Dialogs des Glaubens und der religiösen Verschiedenheiten. Juden, Christen und Muslime haben bewiesen, dass Demokratie nur eine Kultur sein kann, die die Verschiedenheit voraussetzt. Der Islam, als Religion der Gelehrten, hat nie wieder so viel Größe, Fülle und Ausstrahlung gehabt wie zu dieser Epoche und innerhalb dieses Territoriums. Europäische Könige wie Karl der Große und Ludwig XIV. ließen Texte dieser Philosophen, Gelehrten, Theologen und Mystiker übersetzen. Bekannt durch ihre Thesen, werden Averroes oder Avicenna zu Meistern in einer wichtigen Reihe europäischer Philosophen und Gelehrter, trotz einer gelegentlich schlechten Rezeption ihrer Texte, wie bei der Kritik des Heiligen Thomas an Averroes' Thesen über die Einheit des Geistes. Wir können nach diesem Flug über die Orte der Erinnerung des mediterranen Denkens sagen, dass der Dialog im Mittelmeerraum geboren wurde. Der Dialog ist nicht nur ein gegenwärtiges Thema, und wenn wir ihn heute als Denkweise oder als Verteidigungsstrategie gegen jegliches totalitäre Denken sehen wollen, dann weil wir ein Volk sind, das im interkulturellen, interreligiösen Dialog verwurzelt ist. Was wir heute dem internationalen Recht vorschlagen, ist das Recht auf die Verschiedenheit, wie es die Charta der Vereinten Nationen unterstreicht, denn dieses Recht ist heute, nach der Einseitigkeit, die die Globalisierung will, ein Zeichen der Würde, wie es Jonathan Sacks (2002) hervorhebt.
2. Das Recht auf Verschiedenheit In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts fand auf der internationalen Ebene ein radikaler Wandel statt. Das letzte Jahrhundert war eine Bühne von Veränderungen: Zwei Weltkriege, Teilung in Ost und West, Länder, die ihre Freiheit nicht aufgeben wollten, Dritte Welt, wirtschaftliche Krisen, Einsetzung von internationalen Organen, Konflikte, Kriege. Dieser amalgamartige Zustand, den ich noch weiter ausführen könnte, ist die Konsequenz eines modernen Denkens, dessen Identität die Vernunft bildet. Diese Modernität unterscheidet sich, wie mehrere Denker unterstreichen, unter ihnen Arkoun, vom Erbe des Mittelalters. Sie hat einen Zustand der Vernunft etabliert (bzw. des Verstandes, der „bestverteilten Sache der Welt"8), für den zwei Bewegungen die Grenzsteine dieser europäischen Demarkation vom Mittelalter setzten: eine am Anfang des 17. Jahrhunderts, die andere im 18. Jahrhundert, allgemein bekannt unter den Bezeichnungen „Les Lumieres" in Frankreich und „Aufklärung" in Deutschland. Ihnen kommt die Ehre zu, die Rolle der Vernunft und die Freiheit des Geistes vor jeglicher Macht zu verteidigen, wie es Kant in seinem berühmten Text Was ist Aufldärung? unterstreicht: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen 8
Descartes, Discours de la methode, S. 3.
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aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen." 9 Dies ist die Bahn, auf der sich die ganze Zivilisation des 20. Jahrhunderts im Namen der Vernunft verändert hat. Die Vernunft als Trägerin der Zivilisation. Mehrere Länder des Mittelmeerraums haben hingegen den vernichtenden Kolonialismus kennengelernt, der aus Europa kam, der Mutter von Demokratie und Freiheit. Dieser Zustand der Missachtung und der Entpersonalisierung hat eine Atmosphäre des Widerstands und des Krieges geschaffen, die die Bevölkerung am südlichen Ufer des Mittelmeers ermutigt hat, sich wieder dem Glauben als Kampfmotiv, der Logik des Heiligen Krieges (djihad) hinzugeben. Der religiöse oder der mystische Diskurs, wie der von Mohamed Abdou in Ägypten oder Abdelhamid Benbadis in Algerien, haben ihren entsprechenden Platz in den Herzen derer gefunden, die von der Misere und der Armut betroffen sind, nämlich der „Eingeborenen", wie sie vom französischen Recht in Algerien eingestuft wurden. Von der Vernunft, dem Traum des europäischen Kolonialismus, bis zum Zurückweichen aufgrund des Widerstands hat der Kampf die Spaltung der beiden verschiedenen Welten hervorgebracht, trotz der Verbindungen, die das Mittelmeer eingefädelt hat. Die Vernunft der Aufklärung und die von innen (den Regierungen der Länder) wie von außen (USA) aufgezwungene Globalisierung haben das Recht auf Verschiedenheit im Sinne eines Naturrechts vergessen. Eines Rechts, das während des Mittelalters ein strategisches Element der Kommunikationsfähigkeit und Interkulturalität im Mittelmeerraum darstellte und eine Annäherung der drei Religionen und unterschiedlichen Kulturen ermöglichte; in jener Zeit, in der sich im Imaginären der klassischen Metaphysik „die mittelalterlichen, monotheistischen Theologien geformt haben, die die nationalen Ideologien der Befreiung in den 1950er Jahren verschlungen haben" 10 , was heute zum Problem der aktuellen Mächte und ein Faktor für erbitterte Gewalt wird. Wir erleben heute eine beängstigende und aufgezwungene Globalisierung, aber diese „ökonomische und politische Globalisierung zeigt eine unvermeidbare moralische Dimension. Ihr Ziel muss sein, die menschliche Würde voran zu bringen, und nicht, sie zu fesseln." 11 Das Recht auf Verschiedenheit in einer Logik der kulturellen Kohabitation und sozialen Grenzziehung und eines öffentlichen Gebrauchs der Vernunft, wie es Rawls oder Habermas vorschlagen, muss Ziel jeder möglichen Verteidigungsstrategie sein. Das Recht auf eine Zugehörigkeit, die man noch gestern in Bagdad oder in Al-quds fand, heute Orte der Gewalt und des Terrorismus, muss anstelle jeglichen Denkens der Ausgrenzung und des Wegs der Gewalt regieren. Die kulturelle Verschiedenheit und das Festhalten an der Brüderlich9 Kant 1964, S.53. 10 Arkoun 2005, S. 10. 11 Sacks 2002, S. 14.
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keit, wie wir sie in Alexandria und Crodue erfahren hatten, kann ein wesentlicher Punkt in einer interkulturellen Debatte sein, denn wir wissen alle: „Die Idee, gemeinsam nachzudenken, hat im 20. Jahrhundert mit dem Zusammenbruch der moralischen Sprache einen fatalen Schlag erlitten, das Verschwinden des ,ich muss' zugunsten des ,ich will', ,ich fühle', ,ich empfinde'. Die Pflichten sind immer noch diskussionswürdig."12 Von diesem Zustand, den Sie während der Reise zu den mediterranen Orten der Erinnerung erblicken konnten, kommen wir zurück zu dem, was man in unseren Geschichtsstunden unterrichtet. Dies ist der Grund, warum Braudel auf dem taktischen und didaktischen Wandel der Geschichtsvermittlung besteht. Er kommt zu der Überzeugung, den Geschichtsunterricht bei den großen Zivilisationen der Vergangenheit zu beginnen: „Wir haben unsere Studie bei den nicht-europäischen Zivilisationen begonnen: Islam, Schwarzafrika, China, Indien, Japan, Korea, Indochina und Indonesien. Es hat den Vorteil, eine gewisse Distanz in Bezug auf Europa zu nehmen, uns selbst ein Gefühl der Fremdheit zu vermitteln, um uns davon überzeugen zu können, dass Europa nicht das Zentrum des Universums ist. Europa und Nicht-Europa: Hier befindet sich jedoch immer noch die sehr große Opposition gegen alle ernsthafte Erklärung der Welt."13 Es bleibt anzudeuten, dass eine Soziologie der Hoffnung, wie sie Arkoun will, ein notwendiges Element geworden ist, um die Logik des Widerstandskampfes umzuwandeln in Ziele der Kommunikation und des interkulturellen Austausche, die der Mittelmeerraum im Laufe seiner Geschichte bereits realisiert hatte. Denn wie unser großer Philosoph Hegel meinte: „Das Mittelmeer ist so das Herz der Alten Welt, denn es ist das Bedingende und Belebende derselben. Ohne dasselbe ließe sich die Weltgeschichte nicht vorstellen, sie wäre wie das alte Rom oder Athen ohne das Forum, wo alles zusammenkam."14
A. d. Frz. v. Constanze Fröhlich/ Markus Meßling/Bernhard Hunger
Literatur Arkoun, Mohamed: Humanisme et Islam combats et proposition. Paris 2005: Vrin. Braudel, Fernand: Grammairedes civilisations. Paris 1997: Flammarion. De Libera, Alain: Laphilosophie medievale. Paris 1998: PUF. Descartes, Rene: Discours de la methode [1637], Übers, u. hg. v. Lüder Gäbe. Hamburg 1960: Meiner.
12 Ebd. 13 Braudel 1997, S.34. 14 Hegel 1980, S. 115.
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Werke, red. v. E. Mollenhauer/K. M. Michel, Bd. 12. Frankfurt/M. 1980: Suhrkamp. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Werke in zwölf Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. XI. Frankfurt/M. 1964: Suhrkamp, S. 51-61. Maqdisi, al-: Le Livre de la Creation et de l'Histoire. Trad. C. Huart. Paris 1899: Ecole des langues orientales. Moulfi, Mohamed: Pour un cosmopolitisme Mediterraneen. In: Nedret Kuran-Burcoglu (Hg.), Representations of the „ Others " in the Mediterranean World and their Impact on the Region. Istanbul 2002: Isis Press. Sacks, Jonathan: The Dignity of Difference. London, New York 2002: Continuum. Triki, Fathi: La Strategie de I 'identite. Paris 1998: Arcantere.
Antoine Seif
INTERKULTURELLER DIALOG UND HISTORISCHES BEWUSSTSEIN
1. Dialog und Gewalt Der Dialog wird weitläufig als die Gewaltvermeidung par excellence betrachtet, sowohl auf persönlicher wie auf internationaler und interkultureller Ebene. Die scheinbar entspannten Umstände, die jeden Dialog begleiten, und die Erfolg und Vorteil versprechenden Folgen, die darin liegen, verbergen jedoch die vor allem unbewussten Herausforderungen, die den Dialog hervorrufen und notwendig machen. Der Dialog wird von vielen Faktoren beeinflusst, unabhängig von seiner Tagesordnung oder seiner Agenda, von denen eine Mehrzahl denen unbekannt ist, die den Dialog fuhren. Zuallererst wird er von der jeweils gegenwärtigen verschlüsselten und komplexen Situation bestimmt, in der er stattfindet, vor allem von den wirtschaftlichen und politischen Umständen sowie von den kulturellen Bedingungen, die oft als Vorurteile und Illusionen in Bezug auf sich selbst und den Anderen wahrgenommen werden. All diese Bedingungen, die dem Bewusstsein aufgrund fehlenden Erkenntnisinteresses entgehen, wirken sich negativ auf die zweckdienlichen Ergebnisse aus, die ein Dialog erreichen will, und lassen die optimistischen Ziele verfehlen. Nicht alle Dialoge werden ganz oder teilweise von Erfolg gekrönt. Denn es gibt trotz allem „falsche Dialoge", die aus dem Dialog einen „verschleierten Dialog" (Armengaud 1984) machen. Das geschieht aufgrund fehlenden Wissens über die notwendigen Bedingungen, einen „wahren Dialog" zu fuhren, insbesondere in Bezug auf den Anderen: etwa seine Sorgen und seine Geschichte. Der Andere wird auf diese Weise lediglich als eine verformte, entmenschlichte Realität angesehen. Die Vorstellung vom Dialog als Austausch vorgefertigter Informationen zwischen zwei Parteien erweist sich als naiv und irrig. Der Dialog ist vielmehr ein Prozess mit einer eigenen Geschichte, er ist ein dynamisches Ganzes, das Werk einer Zusammenarbeit, das die eigenen Schöpfer und ihre Vorurteile überwindet. Er ist ein Nachdenken, das eine dialektische, unvorhersehbare Entstehung erlebt. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Dialoge Piatons keine „wahren" Dialoge sind, weil der sokratische Meister bereits im Voraus die Wahrheitskriterien festlegt (Goldschmidt 1947).
Interkultureller Dialog und historisches Bewusstsein
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Welchen Inhalts und welcher Art der Dialog auch sein mag, er erweist sich für einige Philosophien und Ideologien als etwas Verdächtiges: für die Marxisten ist die Idee des Dialogs eine ideologische Mystifikation, die dazu dient, den Konflikt der gesellschaftlichen Klassen zu verdecken, der nicht anders als durch Gewalt zu überwinden ist. Die Existentialisten betrachten die Veränderung vom Ego aus: Der Andere ist nach Husserls Phänomenologie des Bewusstseins ein Für-sich. Sartre erkennt, dass der Dialog einem schlechten Gewissen die Gelegenheit bietet, eine Freiheit zu unterdrücken! Die Psychoanalytiker vermuten ihrerseits, dass der Dialog eine Augenwischerei sein könnte, denn man verschleiere oder verstecke darin spontan seine unbewussten Impulse. Die Notwendigkeit, in einen Dialog zu treten, wird von Drohungen und Krisen begleitet: etwa in Folge eines Krieges zwischen Sieger und Besiegtem, oder während des Krieges, um ihn zu beenden, oder vor einem absehbaren Krieg, um ihn zu vermeiden. In diesem Zusammenhang scheint der Dialog einzig aus einem Klima der Gewalt oder sogar als Ersatz einer Gewalttat oder eines Kampfes zu entstehen, der seine gewalttätige Sprache durch eine andere Diplomatie ersetzt hat. Eine solch pessimistische Haltung erinnert an das berühmte, von Clausewitz vorgeschlagene Äquivalent: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln." Die Verbindung zwischen Krieg (Gewalt), Politik (darin enthalten u. a. der diplomatische Dialog) und Wirtschaft (anders gesagt, soziale oder internationale Gerechtigkeit) steht auf festem Grund und gibt sich nicht von selbst der Auflösung hin. Hier scheinen der Dialog im Allgemeinen und der Dialog zwischen den Kulturen im Besonderen eine regulierende und antreibende Rolle für menschliches Handeln im Rahmen von Demokratie und Frieden zu haben.
2. Das erneut aufgewertete Mittelmeer Weswegen sollte diese Einführung allgemein und methodologisch notwendig sein, wenn man die negativen Effekte des historischen Bewusstseins (oder genauer des Bewusstseins der Geschichte, der gemeinsamen Vergangenheit der beiden Parteien, die den Dialog führen) für den interkulturellen Dialog demonstrieren will? „Die mediterrane Welt", wie sie Fernand Braudel (1949) schon vor mehr als einem halben Jahrhundert nannte, die sich um das Mittelmeer gruppiert und verschiedene, bemerkenswerte, hervorragende Kulturen einschließt, deren Erbe tiefgreifend und für lange Zeit viele andere Kulturen geprägt hat, wurde als eine Einheit mit einer gleichen Geschichte betrachtet, und dies war nicht notwendigerweise nur eine politische, sondern auch eine gemeinsame wirtschaftliche und kulturelle Makrogeschichte. Diese „mediterrane Welt" war nie von ihrem nicht-mediterranen Umfeld getrennt oder isoliert, weder in Asien und Europa noch - wie kürzlich bemerkbar - in (Nord-) Afrika. Nach dem
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Kalten Krieg „nimmt die Mittelmeerregion heute, mehr als jemals zuvor", so der Präsident der Europäischen Kommission, Jose-Manuel Barroso, „eine absolute Vorrangstellung für Europa ein." Und nach der Aufzählung der Herausforderungen, die diese Region angehen muss, darunter Terrorismus, Armut, Entwicklung, Bildung etc., schließt er: „Europa ist unfähig, seine Stabilität, seine Sicherheit und seinen Wohlstand zu garantieren, wenn es seinen Nachbarn nicht hilft, das gleiche Niveau an Stabilität, Sicherheit und Wohlstand zu erreichen."1 Sowohl der Gipfel der euro-mediterranen Partnerschaft in Barcelona wie auch die erste in Palma de Mallorca abgehaltene Konferenz der „Allianz der Zivilisationen", genauso wie unsere Konferenz hier in Alexandria, haben die gleichen Sorgen, und im Großen und Ganzen die gleichen gemeinsamen Ziele, und sie finden im selben geografischen und zeitlichen Kontext statt. In diesem gigantischen Partnerprojekt, das Staaten, Völker und Kulturen vereint, ist für sie das Mittelmeer, immer noch nach Barroso, „ein Binnensee" geworden.
3. Der Eine aus der Sicht des Anderen Angesichts der Herausforderung des interkulturellen Dialogs müssen jedoch gewisse sachbezogene Schwierigkeiten angegangen werden, wenn er vom Allgemeinen zum Besonderen kommt, besonders in Bezug auf die gemeinsame Geschichte der Gesprächspartner, d. h. die Geschichte der Muslime (insbesondere der Araber und Türken) und der Europäer (Christen?). Die zur Zeit gebräuchlichen Bezeichnungen sind nicht mehr eindeutig und verweisen häufig auf überholte Realitäten. Das historische Bewusstsein der beiden Seiten wiederholt seit mehreren Jahrhunderten dieselben Erzählungen, die als Tatsachen gelten und für jegliche Diachronie unempfänglich sind. Das vorherrschende Bild eines jeden der beiden in den Augen des Anderen ist ein Stereotyp. Das Fehlen einer historisierenden Auffassung, die jegliches historische Ereignis im soziokulturellen Kontext begreiflich machen würde, in dem es sich abgespielt hat, lässt Archetypen auferstehen, die für jeden eventuellen und notwendigen Dialog ernsthafte Hindernisse sind. Die Ethnographen zeigen, dass die archaischen Stereotype weder aus einem historischen Bewusstsein entstanden sind noch von einem solchen geformt wurden. Ihre Klischeebilder hielten sich im Laufe der Jahrhunderte und wurden folglich immer wieder hervorgerufen. In Bezug auf die Geschichte kommt es zu einer Art „Schizophrenie", die gegen jede Rationalität oder Kritik aufsässig ist. Das historische Bewusstsein vieler Europäer betrachtet den Islam, so die Muslime, als „eine Religion, ausgedacht von Mohammed, gekennzeich1 Rede von Jose-Manuel Barroso auf dem Euro-Mediterranen Gipfel in Barcelona im November 2005.
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net durch Lüge, als eine Religion der Zwänge, der Gewalt, der Kämpfe; der Muslim ist für sie ein grausamer, wilder Krieger, der plündert und foltert."2 Der Europäer sieht die Quellen des Terrorismus in der Religion des Islam, der eine Art djihad ist. Diese Vorstellungen, sagen die Muslime, sind das Werk westlicher Orientalisten, die jenes Bild des Islam und der Muslime wiedererweckt haben, das aus Zeiten der Feindschaft und der Brutalität der Kreuzzüge stammt, und das während der Kolonialzeit durch eine Haltung der Überlegenheit und durch den Eurozentrismus wieder bestätigt wurde. Das historische Bewusstsein vieler Muslime und Araber wird vor allem durch den langen Krieg während der Kreuzzüge und eine Serie von militärischen Niederlagen gegen die westliche Welt und ihre Alliierten (die Israelis) seit dem Verlust von Andalusien bedingt und geformt. So auch die Kolonialisierung, das Versprechen der Unabhängigkeit, eingebracht von den Engländern während des Ersten Weltkriegs, die Besetzung Palästinas und die Gründung des israelischen Staates und die folgenden arabischen Niederlagen, bis zur militärischen Besatzung des Irak durch die Amerikaner und ihre Alliierten. Die westliche Vorherrschaft hat lange gedauert und dauert immer noch auf Kosten der Muslime und Araber an. Das Symbol dieser Vorherrschaft ist, so die letzteren, die „aufgezwungene" kulturelle „Verwestlichung", die aber zurückgewiesen und bekämpft wird. Die Mehrzahl militärischer Aktivitäten, die „terroristisch" genannt und durch Muslime verübt werden, ist in den Augen vieler Muslime der Ausdruck eines manchmal ungeschickten, aber „legitimen" Widerstands, ja sogar eines „heiligen" Widerstands gegen den „Besatzer-Aggressor".
4. Die Manipulation des historischen Bewusstseins Muss man diese Ansichten als Varianten eines „Clash of Civilizations" betrachten? Und was ist zu der breiten Mehrheit in den islamischen Ländern zu sagen, die diese Aktivitäten anprangert, sie als mörderisch einstuft und ihren religiösen Charakter zurückweist, besonders wenn sie Zivilisten schaden? Und was zu einer ebenfalls schweigenden Mehrheit der Muslime, die einerseits zwischen der Enttäuschung über ein despotisches, nicht religiöses Regime ihres Landes und der Angst vor „Bewegungen", die die Arbeitslosen und Armenviertel beherrschen, eingeengt ist, und die andererseits bei den Parlamentswahlen, die dramatisiert und von vornherein gefälscht werden, trotzdem für diese „Retter" stimmt, die sich als „Reformatoren" präsentieren und in einer Flut von Mitteilungen eine „ideale Gesellschaft" versprechen? Das Bild eines mächtigen, blühenden und dominierenden islamischen Staates, wie er existiert haben soll, treibt immer noch das islamische historische Bewusstsein um und steht im Kontrast mit den gegenwärtigen Zuständen der 2
So ein arabisch-muslimischer Journalist.
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islamischen Staaten. Unter verschiedenen Bezeichnungen (Tradition, Sitten, Erbe etc.) macht das historische Bewusstsein den wesentlichen Aspekt der kulturellen Identität sichtbar, wie es von Hegel bestätigt wurde: „Das Wesen ist das, was gewesen ist." Diese Konzeption einer eindimensionalen Identität (die der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart reicht und dort das Bewusstsein bestimmt) ist in der Tat selektiv und verkürzt, sie nimmt die Geschichte ein und verformt sie. Dieses Bewusstsein der Konservativen, das vorgibt, die kulturelle Identität zu retten, endet tatsächlich in einer Art Schizophrenie, die in den aktuellen Veränderungen, vor allem in den Neuerungen jeglicher Art, nur unzulässige Störungen eines strengen Status quo sieht, der ebenso alt ist wie die Identität selbst. Dieses in den islamischen und arabischen Ländern sehr präsente historische Bewusstsein wird von den konservativen Gruppierungen vertreten, die in der Regel islamistisch sind, aber es wird sowohl von linken Modernisierern wie von liberalen Rechten verspottet. Es handelt sich nämlich um ein „ahistorisches" Bewusstsein, das das frappierende Modell einer „geschlossenen Gesellschaft" präsentiert. Es ist das widerspenstigste Hindernis, das sich angesichts jeden interkulturellen Dialogs erhebt, weil es zwischen den Kulturen nur Grenzsteine und sehr klare und unüberschreitbare Demarkationslinien sieht. Alex Boraine (2005) hat den Inhalt einer immer noch lebendigen Erinnerung als ghosts of the past, „Geister der Vergangenheit" bezeichnet, in dem Sinn, dass der wahre Zusammenstoß in Wirklichkeit zwischen dem Sich-Erinnern und dem Vergessen stattfindet, weil das historische Bewusstsein die Vergangenheit nicht denkt, sie aber in der Gegenwart weiterlebt. Es ist also in Wirklichkeit des Gedächtnisses beraubt. Hier liegt eine Art „kulturelle Amnesie" vor, in der die Erinnerungen kaum auf das Niveau des klaren Bewusstseins gelangen. Ein solches Bewusstsein ist unfähig, einen Dialog zu fuhren und kann folglich auch zu keiner „dialogischen Wahrheit" gelangen, die deswegen ursprünglich wäre (und nur eine solche wäre Gegenstand einer philosophischen Reflexion, weil nur sie als neue „erstaunlich" ist, nach dem berühmten Wort des Aristoteles), weil sie durch das Zusammenwirken, die Diskussion und die Debatte entstand. Dieses „kranke" historische Bewusstsein verbirgt sich auch in den Schriften mancher arabischer Denker, die der islamischen Gesellschaft „Zukunftsprojekte" vorschlagen, indem sie vorgeben, die „aggressive" Identität allen „fremden" Denkens klar und deutlich beurteilen zu können. Für sie stellen weder die Besonderheit noch die Universalität von Kulturen ein Problem dar, sondern sind die augenscheinlichen Voraussetzungen ihres „logischen" Denkens! Um das Bewusstsein von den „Geistern der Vergangenheit" zu befreien, schlägt Boraine die Ausarbeitung einer „retrospektiven Rechtsprechung" vor, und vor allem anderen eine Aussöhnung innerhalb der Gesellschaft sowie schließlich zwischen den historisch gegensätzlichen Kulturen. Und er rät vor allem zu einer gerechten wirtschaftlichen Verteilung. Aber selbst, wenn diese
Interkultureller Dialog und historisches Bewusstsein
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Maßnahmen praktisch ergriffen worden sind, bleibt die Aussöhnung immer unvollendet und braucht gemeinsame und dialogische Anstrengungen.
5. Für ein neues Vokabular Nichtsdestoweniger altert das Vokabular und führt uns zu einem „Dialog von Stummen". Die Debatten über den Terrorismus, das Gezerre und die Meinungsverschiedenheiten über seine Definition berufen sich, wenngleich implizit, auf eine gemeinsame Geschichte und die Darstellung der differierenden und sich widersprechenden Interessen. Die Terminologie ändert sich, wenn nicht der Begriff selbst, dann doch und vor allem seine Bedeutung und sein Umfang. Schon vor dreißig Jahren hat Roger Bastide (1984) den Ausdruck vom „Dialog zwischen den Kulturen" angeprangert: „Die Kultur ist nur eine Abstraktion. Es sind nicht die Kulturen, die in Kontakt miteinander stehen, sondern handelnde Individuen, und jedes reagiert verschieden auf die Reize, die von den Anderen kommen." Bastide, der den amerikanischen Anthropologen vom Ende des 19. Jahrhunderts folgt, bevorzugt hierfür den Ausdruck der „Akkulturation": „Die Akkulturation ist das Lernen des Prozesses, der sich ergibt, während zwei Kulturen sich miteinander in Kontakt befinden, aufeinander bezogen sowohl agieren als auch reagieren [...] Es wird ein Diffusionsphänomen geben, das die Übertragung eines kulturellen Zuges ist, von einer Kultur zu einer andern." Obwohl der Begriff der „Akkulturation" aus bestimmten sozialen Kontexten stammt und dazu benutzt wird, die Phänomene der „Assimilation" und der „Integration" ethnischer Minderheiten innerhalb von Nationen in ihrer Entstehung (ζ. B. der Vereinigten Staaten) zu erhellen und zu vereinfachen, blieb er konsequent umstritten. So lautete etwa eine Kritik, dass die Akkulturation eine verkleidete und aufgezwungene „Dekulturation" sei, die das Erbe und die Schätze (in Wissenschaft und Technik) gering entwickelter Kulturen bedrohe und von den westlichen Imperialismen wirtschaftlich und politisch dominiert werde (die Kolonialisierung eingeschlossen). Die Akkulturation, die mehrere Typen und Formen annehmen kann, ist in der Tat ein generelles internationales und intra-nationales Phänomen (weil alle Gesellschaften aus mehreren Ethnien bestehen), deren Konsequenzen und Wirkungen nicht immer einfach zu beobachten und kurzfristig aufzudecken sind. Das heißt mit anderen Worten, dass im Kontext des internationalen Ungleichgewichts zwischen Norden und Süden, Westen und Osten, entwickelten Ländern und Entwicklungsländern der kulturelle oder ein anderer Austausch unvermeidbar unausgeglichen ist. Er erweist sich als ungerecht für eine Seite und lenkt die Profite fast nur in eine Bahn. Diese Haltung zum Dialog beeinhaltet Aggressivität (die von denjenigen als gerechtfertigt angesehen wird, die sie als legitimen Gegenstoß empfinden; oder im äußersten Fall als einen Ge-
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Antoine Seif
genangriff, oder als implizite Gewalt und Ambiguität, die trotz allem nicht in der Lage ist, den internationalen Frieden zu gefährden). Die Welt erlebt gegenwärtig einen Austausch auf verschiedenen Ebenen, zufallig, schlecht geordnet und mit unsicherem Ausgang, der mit dem Begriff der Globalisierung \mondialisation] ausgedrückt wird. Der Ersatz dafür, so einige Anthropologen, ist die „geplante" oder „kontrollierte Akkulturation" (ebd.), eingeleitet durch die dem Austausch zugeneigten Länder und Regierungen (die Rolle der UNESCO ist hier bemerkenswert), wobei all diese Länder unabhängig und souverän sind oder sein sollten. Der Begriff der Akkulturation überbewertetet den Begriff der „Kultur", der hier und dort im Übrigen verschieden und verworren verwendet wird und abhängig von den Umständen ist!
6. Der „Zusammenstoß" der Kulturen Im Rückgriff auf die These von Bastide, dass „in der Tat niemals Kulturen miteinander in Kontakt treten, sondern Individuen als Träger verschiedener Kulturen", könnte man einen Umkehrschluss ziehen: „Tatsächlich sind es niemals die Kulturen, die zusammenstoßen, sondern es sind Individuen, politische Führer, die sich für eine nicht pazifistische und undemokratische Politik entschieden haben." Die Gewalttaten zwischen den Kulturen (von Samuel Huntington 1993 clash of civilizations, „Zusammenstoß der Kulturen" genannt), die manche ideologiegeleitete Gruppen durch terroristische Aktivitäten gegen Personen und Symbole anderer Zivilisationen ausführen, sind unter verschiedenen Begrifflichkeiten bekannt: Rassismus, Chauvinismus, Antisemitismus, Sektierertum. Man muss festhalten, dass diese „Kämpfe" unter verschiedenen „objektiven" Umständen vorbereitet werden und ausbrechen, darunter vor allem wirtschaftliche (Armut usw.), politische (Besatzung usw.) oder Ungerechtigkeit und Bedrohung der allgemeinen Sicherheit, und dies über einen recht langen Zeitraum. Es muss hinzugefügt werden, dass die „kriegerischen" Umstände hinsichtlich des Gegenstandes ihrer Aggression einem Phänomen des psychischen „Transfers" oder des „Ersatzes" [dt. i. Orig.] gehorchen, das zur Folge hat, dass sich die Entladung von Gewalt oft gegen falsch festgelegte „Feinde" richtet, sogar gegen Unschuldige. Es sind diese provozierenden „objektiven Umstände", die unterschätzt und in den Theorien vom interkulturellen „Zusammenstoß" paradoxerweise verneint werden. Das im so genannten Konflikt zwischen dem Westen und dem Orient implizierte historische Bewusstsein „re-präsentiert" gewisse Aspekte und Ereignisse einer fernen und überholten Vergangenheit, indem es sie „erhaben" macht oder aber „verteufelt", um unbewusst gegenwärtige Frustrationen zu kompensieren.
Interkultureller Dialog und historisches Bewusstsein
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Auf jeden Fall ist diese „kristallisierte" Geschichte eine Illusion, denn sie beraubt vergangene Ereignisse ihrer Historizität, d.h. der objektiven Umstände, die sie geformt haben. Die vergangenen christlich-islamischen Kriege, die fat'h (die bewaffnete islamische Expansion), die Kreuzzüge, die Kolonisierung, der israelisch-arabische Konflikt, die Golfkriege etc. bilden eine schwere und außergewöhnliche Materie, die dieses historische Bewusstsein ausfüllt; ein „entpolitisierter" Gegenstand, der aus seinem bestimmenden Kontext herausgerissen ist, ein wahres Delirium hervorrufend, das jegliche Objektivität und Wahrheit verschleiert. Vor einem dreiviertel Jahrhundert hat ein arabischer Denker und Politiker, der Libanese Chakib Arslan, ein Werk verfasst, das in der Folgezeit und bis heute die Frage stellt: „Warum haben sich die Muslime zurückentwickelt, und warum haben die Anderen sich weiterentwickelt?" Diese so provokante wie mahnende und aufstachelnde Frage beschreibt den dramatischen Zustand des arabisch-muslimischen Bewusstseins in aller Klarheit. Die Antwort ist bis heute eines seiner zentralen Probleme. Der interkulturelle Dialog, als pazifistische Zusammenarbeit, öffnet Horizonte fur Lösungen, während die Gewalt zwischen den Kulturen oder der „Zusammenstoß" der Kulturen (von Edward Said 2001 nicht ohne Ironie „der Zusammenstoß der Unwissenden" genannt), nur Zerstörung bedeutet (Selbstzerstörung aus Sühne)! Die interkulturellen Dialoge finden heutzutage, hier und dort, parallel zu gewalttätigen Handlungen statt, terroristischen und antiterroristischen. Obwohl diese Dialoge zufallig und viel zu spät erscheinen, nach einer langen Zeit von Vorurteilen und Missverständnissen, bleiben sie unverzichtbar und notwendig. Dennoch bleiben die Dialoge um den „Mittelmeer-See" die vielversprechendsten, aufgrund der gemeinsam gelebten Geschichte. Obwohl sie im Allgemeinen ein eher konfliktreiches als freundschaftliches Aussehen aufweisen, bleiben sie ein unvergleichlicher Reichtum, der mehr als alle anderen als feste Grundlage für zukünftige gemeinsame Projekte dienen kann, die nach und nach eine neue gemeinsame Geschichte beispielhafter Kooperation hervorbringen.
7. Der bedrohte Dialog Diese Hoffnung stößt jedoch auf Hindernisse. Denn das Fehlen von Demokratie in der arabischen und islamischen Welt, die Vorherrschaft des Modells der despotischen Staaten, engt die allgemeinen Freiheiten ein und beeinträchtigt die Menschenrechte, verantwortet das Scheitern von Entwicklungsplänen und die Ausweitung von Armut und Analphabetentum. Das macht offensichtlich, dass ein interkultureller Dialog, damit er effizient gefuhrt wird, zu allererst ei-
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Antoine Seif
nen interkulturellen Dialog innerhalb der arabischen Kultur selbst erfordert 3 trotz des kräftemäßigen Ungleichgewichts zwischen dem Westen und dem Orient. Die arabischen Intellektuellen nehmen an, dass das Zurückfallen der arabischen und muslimischen Welt größtenteils auf das Fehlen von individuellen Freiheiten und Demokratie zurückzuführen ist. Die fundamentalistischen muslimischen Bewegungen heben ausschließlich die militärischen Aggressionen hervor, besonders in Palästina, Irak und Afghanistan. Man kann sagen, dass die Rahmenbedingungen für einen vielversprechenden euro-mediterranen Kulturdialog nicht genügend gesichert sind. Jeder Veränderung durch eine andere Kultur muss eine Veränderung innerhalb der eigenen Kultur vorausgehen, in diesem Fall unserer Kultur. Das dialektische Denken ist am geeignetsten, um dieses komplexe Phänomen zu verstehen: Indem man den vernünftigen, ernsthaften und wagemutigen interkulturellen Dialog beginnt, verbessert dieser Tag für Tag seine eigenen Bedingungen, bereichert den kulturellen Austausch (die planmäßige Akkulturation) und überwindet die Hindernisse. Nach dem Beispiel der Demokratie, die Medikamente gegen ihre Krankheiten nur durch demokratische Mittel bei sich selbst finden kann, verhält es sich auch mit dem interkulturellen Dialog: Dadurch, dass er geführt wird, gewinnt er seine Kraft. Man muss das historische „Bewusstsein", bevor man es von feindseligen Tendenzen „säubert", trotzdem einer „Psychoanalyse" unterziehen, und zwar durch eine Erziehung zu Werten des Kooperierens, des „Gemeinsam-Kämpfens" und des Erkennens der gegenseitigen Komplementarität der Verschiedenheiten sowie mit Hilfe des vernünftigen Dialogs, um den Anderen in seiner Verschiedenheit besser zu kennen, ihn besser zu verstehen und so zu akzeptieren, wie er ist, und um sich schließlich selbst besser kennen zu lernen! Was auch geschehen mag, der interkulturelle Dialog wird auf keinen Fall enden, ob innerhalb der unseren oder mit anderen Kulturen. Es handelt sich trotz der verschiedenen Aspekte dabei definitiv um den gleichen Dialog, denn die Elemente und die Ziele sind kulturell. Diejenigen, die einen Dialog führen, schaffen oft ohne ihr Wissen neue (und immer größere?) Gruppierungen, die weiter kommen als ihre Vorgänger. Sie üben - wenn nicht so sehr über einen kurzen, so doch über einen etwas längeren Zeitraum - (aus tiefer Überzeugung) einen (tiefgreifenden) Druck aus, den zu verneinen und zu unterschätzen von Seiten der staatlichen und quasistaatlichen Autoritäten sich als schwierig herausstellt (wenn nicht auf kurze, dann auf lange Sicht). Dadurch, dass die Autoritäten manche dieser interkulturellen Dialoge weder wünschen noch gutheißen, weil sie ein Modell der Beziehung zwischen verschiedenen Kulturen, vor allem zwischen verschiedenen Religionen, Sekten und politischen Parteien ausdrücken, das jeden Versuch der Gewalt und des Terrorismus verurteilt und verbannt, werden sie zwangsläufig von den Autoritäten angezweifelt und in der Folge bedroht. 3
Vgl. Seif 2001.
Interkultureller Dialog und historisches Bewusstsein
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Sobald der interkulturelle Dialog Schritt für Schritt fortschreitet, kann er fortan nicht ohne Widerstand und ohne Bedrohung gefuhrt werden. Den Dialog zu verteidigen, wäre zwangsläufig ein wesentlicher Bestandteil des Dialogs selbst. Diese Verteidigung, besser Selbstverteidigung, durch pazifistische und gewaltlose Mittel und indem man häufiger auf den vernünftigen Dialog zurückgreift, wäre eine „intentionalisierte" Akkulturation, die in beiden Richtungen frei ist, wie es dem beispielhaften „Muster" menschlicher Beziehungen entspricht.
A. d. Frz. v. Constanze Fröhlich/ Markus Meßling/Bernhard Hunger
Literatur Armengaud, Fran^oise: Art. „Dialogue". In: Encyclopaedia Universalis. Paris 1984, S.6-82. Bastide, Roger: Art. „L'Acculturation". In: Encyclopaedia Universalis. Paris 1984, S. 1-105. Boraine, Alex: Tolerance in the Search for Justice and Peace. In: Seminaire international sur le theme „Philosophie et Democratie", UNESCO, Beirut, 17 novembre 2005. Braudel, Fernand (1949): La Mediterranee et le Monde mediterraneen ά l'epoque de Philippell. Paris 1979: A. Colin (4. Aufl.). Goldschmidt, Victor: Les Dialogues de Platon. Structure et methode dialectique. Paris 1947: Presses Universitaire de France. Huntington, Samuel: The Clash of Civilizations. In: Foreign Affairs, Vol. 72, Nr. 3, Sommer 1993, S. 22-49. Said, Edward: The Clash of Ignorance. In: The Nation, 18. Oktober 2001. Seif, Antoine: Das Selbstbewusstsein und der Einfluss der Anderen: Grundlagen des arabischen philosophischen Denkens [in arab. Sprache]. Beirut 2001.
Teresa Velazquez
DIE MULTIKULTURELLE GESELLSCHAFT UND DIE HERSTELLUNG DES BILDES VOM ANDEREN1 Die Rolle der Kommunikationsmittel
1
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Abb. 1: Das Mittelmeer als multikultureller R a u m
1. Multikulturelle Gesellschaft und Kommunikationsmittel Die heutige Gesellschaft ist multikulturell. Uns ist bewusst, dass dies eine polemische Behauptung ist, weil es in den Sozialwissenschaften keinen Konsens über ein verbindliches Konzept von Multikulturalität gibt, und bringt man es In diesem Beitrag präsentieren wir Teilergebnisse aus dem Forschungsprojekt Anälisis de la exclusion social en la fiction de la television Europea y del Mediterräneo Sur (SEC200203868), gefördert durch die Comision de Science et Tecnologie (CICYT) des Ministere la Science et du Tecnologie (Madrid-Espagne) aus Mitteln des FEDER. Einige Aspekte dieses Beitrags auch in T. Velazquez, Ce qui est dimension International ä la Communication, Troisieme Secteur et Capital Social, in: Stefano Martelli (Hg.), Dimensioni di Terzo Settore. Palerme, Departement de Sciences Sociales de l'Universite de Palerme, 2005 (elektr. Veröff.).
Multikulturelle Gesellschaft
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überdies noch in Verbindung mit Gesellschaftskonzepten, wird es noch schwieriger (vgl. Sartori 2001 und die Gegenposition bei Arango 2002). Daher halten wir es für sinnvoll, gleich zu Beginn unsere eigene Position darzustellen. Den multikulturellen Charakter, den wir mit der heutigen Gesellschaft verbinden, definieren wir als Wesen dieser Gesellschaft. Also als deren Qualität, deren Erstheit in Peirce'sehen Begriffen, in der es eine Beziehung zwischen dem gesellschaftlichen Sein in jeder seiner Manifestationen und der Existenz dieser Multikulturalität gibt, und schließlich deren teils vom konventionellen Establishment ausgehende Anerkennung als Gesetz der semiotischen und symbolischen Verständigung. In einer so definierten Gesellschaft sind verschiedene kulturelle Manifestationen präsent - Manifestationen, die unterschiedlichen Sektoren entstammen. Das können Gruppen von Jugendlichen sein, die verschiedenen Urbanen Gruppen angehören, aber auch Personen aus anderen Ethnien oder mit andersgearteten religiösen oder kulturellen Gewohnheiten. Das Besondere an diesem Fall ist, dass alle in einem gleichen Raum ko-existieren. In diesem Sinne, in vollem Respekt vor den unterschiedlichen Manifestationen und in der Akzeptanz für diese Diversität werden wir von kulturellem Pluralismus sprechen. In diesem Raum der heutigen multikulturellen Gesellschaft mit dem kulturellen Pluralismus als bürgerlichem Element des Respekts vor der Verschiedenheit kommt ein weiterer Aspekt hinzu, mit dem wir das Pragmatische in den sozialen und kommunikativen Beziehungen umfassen wollen. Gemeint ist die Interkulturalität, die wir gerne als Dialog der Kulturen bezeichnen, oder als Dialog zwischen den Kulturen. Dabei ist uns bewusst, dass nicht Kulturen miteinander in Dialog treten, sondern Personen aus unterschiedlichen Kulturen. Wird Multikulturalität mit dem Konzept von Gesellschaft assoziiert und als deren Wesen, als Qualität bezeichnet, ist konsequenterweise der kulturelle Pluralismus derjenige Prozess, der durch den bürgerlichen Respekt produziert wird; Individuen greifen ebenso in ihn ein wie soziale und institutionelle Akteure und bekräftigen dadurch, dass sie Teil dieser Gesellschaft sind. Und schließlich ist dieser Respekt möglich, weil es pragmatische Beziehungen des Dialogs als interkultureller Manifestation gibt, die in einer multikulturellen Gesellschaft installiert ist. Auf der anderen Seite glauben wir, dass im Respekt vor der Diversität auch die Verteidigung von Identität selbst enthalten ist. Man kann nicht jemanden respektieren, der verschieden ist, wenn dieser „Andere" nicht seinerseits den introspektiven Blick anwendet. In dieser Gesellschaft tauchen in Verbindung hiermit Prozesse und Situationen auf, aufgrund derer wir Beziehungen zwischen verschiedenen Konzepten herstellen können, die mit dem oben definierten Gesellschaftsmodell verbunden sind. Wir konzentrieren uns vor allem auf Phänomene, die von den von Juliano (1993) beschriebenen Prozessen herrühren und die wir im Zusammenhang mit der vorliegenden Thematik für wichtig erachten und mit Kommunikation in Verbindung bringen. Hieraus folgt:
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Teresa Velazquez
Multikulturalismus entspricht dem Modell einer Gesellschaft, die die Diversität akzeptiert und bewertet. Ein Konzept, das folglich mit dem der Ideologie verbunden ist und mittels der Massen-Kommunikationsmittel im Rahmen der produzierten öffentlichen Diskussion ein günstiges Meinungsklima für die Koexistenz in unserer heutigen Welt erzeugen kann. Es ist ein dynamisches Konzept und wir erfassen es im Rahmen der Situationen, die wir auf den Prozess der Enkulturation zurückfuhren. Interkulturalität können wir definieren als die dynamische wechselseitige Beziehung zwischen Kulturen, eine konstante Anpassung, die ebenso sehr Dynamik wie Dialog impliziert. Sie entspricht einem holistischen Modell. Das heißt, sie interpretiert eine Gesellschaft unter Berücksichtigung der Faktoren, aus denen diese zusammengesetzt ist und legt dabei den Akzent auf deren Beziehungen. Wir erfassen sie in den Situationen, die sich aus dem Prozess der Akkulturation ableiten. Unter Transkulturalität verstehen wir das Phänomen, das mit der Massengesellschaft verbunden ist, die kulturelle Modelle auferlegt. Wir können uns heute ausgehend von zwei miteinander verbundenen Phänomenen darauf beziehen, der Globalisierung als wirtschaftlichem Phänomen und der Globalisierung [mondialisation] der Kultur als kulturellem Phänomen, in einem neuen Raum, den wir Wissensgesellschaft nennen und der den Übergang von der Massen- in die Informations- und Kommunikationsgesellschaft inszeniert.
2. Multikulturalität und das Abbild des Anderen Aus unserer Sicht interessiert hier der kontinuierliche Beitrag von die Gesellschaft betreffenden Themen zur öffentlichen Debatte, in denen wir die verschiedenen Stadien der öffentlichen Meinung verorten können 2 und folglich die Erzeugung des Prozesses der thematisierenden Handlung (Luhmann 1978; Grossi 1985; Rositi 1982; Agostini 1984; Wolf 1985; Marletti 1985); wir finden sie natürlich in der Presse, aber auch in den anderen traditionellen Kommunikationsmitteln wie dem Radio und dem Fernsehen und in den neuen digitalen Medien. Das Konzept der öffentlichen Meinung als Thematisierung politischer Prozesse und öffentlicher Interessen mittels der Presse als einzigem Mittel, das in der Lage ist, diesen Prozess hervorzurufen, wird hierdurch in
2
In dieser Beziehung zwischen öffentlicher Meinung und Kommunikationsmitteln gehen wir davon aus, dass die Meinungsbilder als erstes Stadium in diesem Prozess durch die Information und deren Ausdrucksweisen konstituiert werden; die Meinungsströmungen ihrerseits gehören zum 2. Stadium der öffentlichen Meinung, wir finden sie als Typ in Artikeln, Leitartikeln, Debatten, Karikaturen; und über all diesem die Kommunikationsmittel selbst, das Meinungsklima, drittes Stadium der öffentlichen Meinung, das langfristige Resultat dieser Debatte über Themen von öffentlichem Interesse, auf das auch Kommunikationsmittel als eine weitere Institution einwirken. In diesen drei Stadien entsteht der kognitive Prozess der thematisierenden Handlung.
Multikulturelle Gesellschaft
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Frage gestellt. Wir glauben, dass nicht nur die Elitepresse oder die dominanten Referenzen, sondern auch andere Mittel, Formate, Themen und Inhalte den Prozess der thematisierenden Aktion hervorbringen können. Aus diesem Grund wollen wir unseren Beitrag auf fiktionale audio-visuelle Produkte konzentrieren, die von verschiedenen Fernsehsendern des mediterranen Beckens ausgestrahlt werden. Die vorliegende Darstellung ist eine Analyse der Werte, die mit den fiktionalen Inhalten verbunden sind, die durch das Fernsehen der ausgewählten Länder ausgestrahlt wird.
3. Einige Werte3 der Repräsentation des Anderen Zunächst geben wir eine kurze Beschreibung der ausgewählten Serien und damit einen deskriptiven Referenz-Rahmen hinsichtlich der Wichtigkeit der Vermittlung von Werten, die an kulturelle Aspekte oder Aspekte des Alltagslebens gebunden sind, in denen sich soziale Ausgrenzung manifestieren kann. Wir beschreiben europäische und anschließend arabische Serien. Cuentame cömo paso, eine von RTVE 1 Donnerstag nachts ausgestrahlte Serie, die von Cartel und der Ganga Gruppe seit 2001 produziert wird und sich in ihrer siebten Staffel befindet, mit mehr als hundert Folgen. Die Serie basiert auf dem Alltagsleben einer klassischen spanischen Familie der Mittelklasse in der Zeit des späten Franco-Regimes mit dem Wunsch nach sozialem und ökonomischem Aufstieg. Die Geschichte wird vom Sohn der Familie erzählt und vergegenwärtigt sowohl das Alltagsleben der Familie als auch die Charaktere im Viertel, Nachbarn, Arbeitskollegen, Studienkollegen und Schulfreunde, sowie historische Fakten aus dieser Zeit in Spanien. Die Zahl der Zuschauer ist in den verschiedenen Perioden der Ausstrahlung gestiegen: von 4 Millionen zum Zeitpunkt der Erstsendung bis zu sechs oder in den besten Zeiten sogar sieben Millionen. El cor la ciutat, von Televisio de Catalogne im Rahmen des NachmittagsProgramms ausgestrahlt, mit ungefähr 42% Zuschaueranteil. Die Geschichte basiert auf der Erzählung des Alltagslebens verschiedener Familien in zwei Stadtvierteln Barcelonas. In ihnen und ihrem Alltagsleben werden die Zuschauer selbst reflektiert. Zudem werden in die Handlung alltägliche Probleme und Realitäten der heutigen multikulturellen Gesellschaften integriert, Immigration, AIDS usw. Bislang wurden mehr als 1000 Folgen ausgestrahlt. Docteur Sylvestre, vom öffentlichen Sender France 3, der zur Gruppe France Televisions gehört, ausgestrahlt und von France 3, TSR et Alya Production seit 1995 und bis 2001 produziert; sie umfasst 25 Episoden und sieben ver3
Für die Klassifikation der Werte folgen wir den Vorschlägen von Pepi Soto und Susana Tovias, Forscher im Projekt SEC2002-03686, bezüglich der Kategorien, die bei der Analyse von Werten in der Untersuchung von Fiktion im Fernsehen berücksichtigt werden müssen. Dieser Beitrag wurde am 21. Oktober 2003 im UAB präsentiert.
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Teresa Velazquez
schiedene Zeitpunkte. Sendezeit war Mittwochabend zur abendlichen „Prime Time", Wiederholungen gab es Samstags und Sonntags zur Mittagszeit. Im Zentrum dieser Geschichte steht die Person des Docteur Sylvestre, der seinen Beruf als Arzt in einem kleinen Ort in Nordfrankreich ausübt, wo er mit verschiedenen Fragen menschlicher Natur konfrontiert ist, die im Zusammenhang mit seinem Beruf stehen und in denen er seine Fähigkeiten und seine Geschicklichkeit mit Effizienz und Entschlossenheit zeigt. Er repräsentiert die französischen Sitten und Gewohnheiten und richtet sich an ein breites, eher familiäres Publikum. Die Zuschauerzahlen waren durchschnittlich. II Maresciallo Rocca, eine Serie der RAI 1, 1996 in der Prime Time Sonntagabend, eine Massenproduktion für RAI und Mediaset. Im ersten Durchlauf dieser Serie nahm die Zuschauerzahl seit der ersten Folge mit 8 Millionen ständig zu - bis hin zu 17 Millionen im zweiten und letzten Kapitel dieser Saison. In späterer Zeit (1998, 2001, 2003, 2005), schwankten die Zuschauerzahlen zwischen 15 Millionen und etwa sieben Millionen Zuschauern. Die Geschichte erzählt Ereignisse im Zusammenhang mit dem Protagonisten und seiner täglichen Arbeit als „Maresciallo", der ein normaler Mensch ohne bewundernswertes Heldentum ist, jedoch mit großer Effizienz die Probleme seines Berufs löst. Diszipliniert und zugleich mitfühlend und großzügig, zeigt er auch Nüchternheit im täglichen Leben. La tante Nour ist eine arabische Serie ägyptischer Produktion, die von über 40 Kanälen während des Ramadan 2003 ausgestrahlt wurde. Wir verfügen über keine konkreten Zuschauerzahlen, aber angesichts des Ausstrahlungszeitraums waren die Zuschauerzahlen vermutlich beträchtlich. Erzählt wird die Geschichte einer ägyptischen Witwe, die nach 20 Jahren USA in ihr Land zurückkehrt, um mit ihrem Bruder zu leben. Die Rolle der Protagonistin besteht in der Verkörperung von Elementen der Modernität in einer Gesellschaft und einer Kultur, in der traditionelle Werte vorherrschend sind. Ihre Rolle ist daher die einer familiären und unserer Meinung nach auch sozio-kulturellen Vermittlerin. L 'hiver ne retournera jamais, eine Serie, die 2003 vom ersten Sender des marokkanischen Fernsehens ausgestrahlt wurde, ist eine ägyptische Produktion. Auch hier konnten wir keine konkreten Zuschauerzahlen ermitteln. Die Produktion wurde in der Prime Time des marokkanischen Fernsehens gezeigt, vor den Abendnachrichten. Sie zeigt das Alltagsleben einer typischen Familie, in der häusliche Orte genauso gezeigt werden wie mit dem Beruf der Personen verbundene, etwa ein Familienunternehmen. Die Familie und deren Verteidigung ist der Kern der Geschichte. Traditionelle Werte tauchen angesichts innovativer Elemente auf, in denen Sitten und Gebräuche eine Rolle spielen, ausgehend von der Kleidung und den Beziehungen zwischen den Personen, die in der Serie agieren. Die Rolle der Frau ist wichtig, und ihre Kraft und ihre Übernahme verschiedener Rollen, als Mutter, Tante, Partnerin, Schwester, geben ihr ein Element von Modernität. - Abb. 2 zeigt die Personenrollen, die in den Serien auftauchen, in den Häufigkeiten ihres Auftretens.
221
Multikulturelle Gesellschaft Geliebte 2%
Nachbarn
17%
Vater 23%
Kollegen 8% Mutter 8%
Paare 2% Freundschaften 13%
Andere Eltern 6%
Abb. 2: Die auftretenden Personen (Häufigkeit über alle Folgen)
Abb. 3/4 zeigen die Werte der Modernität und Tradition für die jeweiligen Serien, Tab. 1/2 deren Bewertung. 4
II Maresciallo Rocca
Docteur Sylvestre
L'hiver no retournera jamais
La tante Nour
El cor de ia ciutat
Cuentame como pasö 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
• Leistung • Freiheit •Individualität Ξ Schnelligkeit Ξ Aggressivität Abb. 3: Die Werte der Modernität
4 Die Ermittlung der quantitativen Daten umfasst sieben Sequenzen jeder Serie; zwei entsprechen der Metastruktur „Anfang", vier der Metastruktur „Entwicklung" mit den zwei ersten Entwicklungs-Sequenzen, der Knotensequenz und der abschließenden Entwicklungs-Sequenz. Schließlich haben wir die Abschluss-Sequenz ausgewählt, mit der Moral dieser und der Vorbereitung für die nächste Folge (die qualitative Analyse ist hier nicht mit einbezogen).
222
Teresa Velazquez positiv 25 71,4 75 37,5 37,5 37,5
II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame cömo pasö
negativ 75 28,6 25 62,5 62,5 62,5
Tab. 1: Die Bewertung der Modernität Bei der Bewertung dieser Ergebnisse fallt auf, wie in der Mehrzahl der Serien Modernität als negativer Aspekt betrachtet wird. Man beachte Cuentame cömo pasö im Vergleich zu beispielweise Le l'hiver ne retournera jamais.
II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver no retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame como pasö 0*
• Ehre
10%
• Kooperation
20%
30%
40%
0 Gehorsam
50%
60%
Ξ Scham
70%
80%
90% 100%
0 Anstrengung
Abb. 4: Die Werte der Tradition
II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame cömo pasö
positiv 87,5 87,5 75 50 87,5 100
negativ 12,5 12,5 25 50 12,5 00
Tab. 2: Die Bewertung der Tradition Wir heben hervor, dass in der Serie Cuentame como pasö keine negative Bewertung von traditionellen und eigentlich positiven traditionellen Werten vorgenommen wird. Wogegen in den beiden arabischen Serien die traditionellen Werte eine negative Bewertung haben. Bemerkenswert ist La tante Nour, was ihrer positiven Bewertung der Modernität entspricht und wohl auch der Absicht der Serie.
Multikulturelle Gesellschaft
223
Wir haben eine Auswahl von Werten der Modernität und der Tradition getroffen und sie auf die untersuchten Sequenzen angewendet. Die Ergebnisse stellen wir nun dar, in Prozenthäufigkeiten. II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuent ame cömo pasö
Individualität 42,9 00 33,3 16,7 20 25
Tab. 3: Individualität als Wert der Modernität
Eines der charakteristischen Elemente der Modernität ist die Individualität. Dieser Wert wird in der italienischen Serie II Maresciallo Rocca sicher nachgewiesen, während man ihn in Docteur Sylvestre nicht findet. In den spanischen und den beiden arabischen Serien taucht dieser Wert ausgewogen auf. Der Individualität gegenüber steht der traditionelle Wert der Kooperation: II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame cömo paso
Kooperation 28,6 20 16,7 00 20 00
Tab. 4: Kooperation als traditioneller Wert
Wir sehen, dass in der Serie II Maresciallo Rocca eine Korrektur der Individualität stattfindet. Bei Docteur Sylvestre scheint der Prozentwert der Kooperation nicht exzessiv, da es sich um eine Serie mit humanitärem Charakter handelt. Bei L'hiver ne retournera jamais scheint uns die Anwesenheit des Kooperationselements interessant, es zentriert sich hier hauptsächlich auf die Unterstützung der Familie für den jungen Protagonisten. Ein anderer wichtiger Wert der Modernität ist die Aggressivität: II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuent ame cömo paso
Aggressivität 14,3 33,3 33,3 50 40 00
Tab. 5: Aggressivität als Wert der Modernität
Interessant ist, dass „ A g g r e s s i v i t ä t " i m Fall von Cuentame cömo paso nicht auftaucht. - Wir kommen zum traditionellen Wert „Gehorsam":
224 II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais LatanteNour El cor de la ciutat Cuentame cömo paso
Teresa Velazquez Gehorsam 00 20 16,7 14,3 20 33,3
Tab. 6: Gehorsam als traditioneller Wert Uns überraschen die Ergebnisse von Cuintame cömo pasö nicht, denn es handelt sich um eine Serie, in der als wesentlicher Wert die Transformation einer Firma dank der kumulierten Anstrengungen der Mitarbeiter erscheint. Gehorsam richtet sich hier weniger vom Sohn auf den Vater oder von der Ehefrau auf den Ehemann als vom Mitarbeiter auf den Chef. Wir kommen zum Wert „Freiheit" als Element der Modernität: II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver rie retournera jamais LatanteNour El cor de la ciutat Cuentame cömo paso
Freiheit 14,3 00 00 16,7 20 25
Tab. 7: Freiheit als Wert derModernität Wir beobachten in zwei Fällen signifikante Abwesenheiten, bei L 'hiver ne retournera jamais und bei Docteur Sylvestre. Dagegen ist in den anderen Serien die Anwesenheit dieses Wertes angemessen. Betrachten wir nun, wie die Ehre im Vergleich zur Freiheit reflektiert wird. II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame cömo paso
Ehre 42,9 00 50 42,9 40 16,7
Tab. 8: Ehre als traditioneller Wert In Docteur Sylvestre ist Ehre kein zu berücksichtigender Wert, während sie in den anderen Serien ein wichtiges Element zu sein scheint, in etwas geringerem Maß bei Cuentame cömo pasö. Für uns ist die Tatsache bemerkenswert, dass es sich bei den Serien, die die Ehre als Wert darstellen, um La tante Nour und L 'hiver ne retournera jamais handelt und verbunden ist mit der Konzeption von Ehre in der Kultur, die sie vertreten. Bei II Maresciallo Rocca liegt der Wert in der inneren Anstrengung des Protagonisten, auch im Beruf selbst.
Multikulturelle Gesellschaft
225
Betrachten wir nun einen anderen Wert der Modernität, der in der heutigen Gesellschaft sehr präsent ist, die Schnelligkeit. II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame cömo pasö
Schnelligkeit 28,6 00 33,3 00 20 25
Tab. 9: Schnelligkeit als Wert der Modernität
Man beachte im Vergleich zu den anderen II Maresciallo Rocca. Erstaunlicherweise tritt dieser Wert weder in La tante Nour noch in Docteur Sylvestre auf. Es folgt die Anstrengung als traditioneller Wert. II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame cömo pasö
Anstrengung 28,6 40 00 28,6 00 33,3
Tab. 10: Anstrengung als traditioneller Wert
In jeder Serie konnotiert dieser Wert mit unterschiedlichen Aspekten. In Cuentame cömo pasö ist Anstrengung eine Konstante als Element sozialen Aufstiegs. Viel und lange zu arbeiten, um den Monat zu Ende zu bringen und den Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen zu können. In La tante Nour geht es um die Anstrengung der Protagonistin als familiäre Vermittlerin in einer Gesellschaft, die sich verändern muss in Richtung auf Modernität. In Docteur Sylvestre verdankt sich die Anstrengung dem Beruf und dem Versuch, den Patienten und Nachbarn diese Aktivität zukommen zu lassen. In II Maresciallo Rocca ist dieser Wert verbunden mit dem inneren Kampf des Protagonisten angesichts von Vermutungen über die sexuellen Neigungen seines Sohnes und dem Wunsch sie zu verstehen, wenn auch nicht zu akzeptieren. Betrachten wir nun den Modernitätswert „Effizienz". II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame cömo pasö
Effizienz 00 66,7 00 16,7 00 25
Tab. 11: Effizienz als Wert der Modernität
226
Teresa Velazquez
Man muss die Abwesenheit von „Effizienz" in der Hälfte der Serien hervorheben. Fast zwangsläufig ist es bei Docteur Sylvestre ein wichtiger Wert. Bei La tante Nour gilt, dass man ohne effiziente Überzeugungsstrategien gegenüber in der Tradition verankerten Personen seine Ziele nicht erreicht, nämlich den Übergang zur Modernität. Was letzteres angeht, so kann man auch in Cuentame como paso die Ziele der Verbesserung des eigenen Lebens und der Sicherung einer guten Zukunft für den Sohn nicht erreichen, ohne in der Arbeit und in Entscheidungsprozessen effizient zu sein. Wir kommen zur Schande als traditionellem Wert. II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame cömo paso
Schande 00 20 16,7 14,3 20 16,7
Tab. 12: Schande als traditioneller Wert
Uns überrascht die Abwesenheit dieses Wertes in II Maresciallo Rocca, weil die Ehre in dieser Serie in jedem Fall ein wichtiger Wert ist. Es kommt aber vor, dass Fragen der Ehre den Protagonisten innerlich beschäftigen, ohne dass sich das in irgendeiner äußerlichen Manifestation niederschlägt. Im Folgenden werden wir uns mit den Örtlichkeiten der Spielhandlungen näher beschäftigen. Wir betrachten zunächst die Häufigkeit verschiedener Ortstypen über alle Serien hinweg:
Institutionen
19%
Wohnung
37% Straße
17% Freizeit 10%
Arbeitsplatz
17%
Abb. 5: Orte der Handlung - Häufigkeiten für die Serien
Aufgeschlüsselt nach den einzelnen Serien ergeben sich die in Abb. 6 dargestellten Anteile. Die darauf folgenden Tabellen zeigen die Häufigkeit der einzelnen Ortstypen in jeder Serie.
227
Multikulturelle Gesellschaft
II Marescialo Rocca
ίι!:!··:ί1'··.
Docteur Sylvestre >
μ ! Β » Μ . γ » ι γ ι •>; \ : 11. ι. ι. ιι.ιIι;ι . Iι ..ιIΛι ι Λι ι ,ι ,ι ,ι ι ι ι ι L'hiver no retournera jamais ^ ^ J ^ ^ l ^ ^ i ^ ^ i ^ i ^ ^ ^ J ^ J ' i ' i V j j / ι' ι' ι' ι V i V i
El cor de la ciutat
·
·
3
'"'/www*
1
/ / / / / / / / / / S / / / S / S / /
Ί·.-'··-·'1·'· .' ..'• . -,*·,,·'
Cu6ntame cömo paso 0%
10%
• Wohnung
20*
30%
40%
• Arbeitsplatz
50%
0 Freizeit
60%
70%
Β Straße
90%
100%
E3 Institutionen
Abb. 6: Handlungsorte - Prozentuale Anteile pro Serie
II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame cömo pasö
Wohnbereich 25 25 37,5 62,5 25 50
Tab. 13: Anteil des Handlungsortes Wohnbereich pro Serie (in %) Das Wohnumfeld ist die einzige Handlungssituierung, die in allen Serien repräsentiert ist. In La tante Nour, Cuentame cömo pasö und L 'hiver il ne retournera jamais ist dieser Wert höher als im Rest der Serien. Tatsächlich ist der Raum der Familie, das Haus oder der Wohnbereich, in allen drei Serien wichtig.
II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame cömo pasö
Arbeitsplatz 25 12,5 37,5 00 00 25
Tab. 14: Anteil des Handlungsortes Arbeitsplatz pro Serie (in %)
228
Teresa Velazquez
Der Arbeitsplatz hat in der Serie L 'hiver ne retournera jamais einen hohen Wert, weil in der Geschichte die mit der Arbeit verbundenen Aspekte und die berufliche Position der Personen vor allem bei den Protagonisten einen bedeutenden sozialen Status kennnzeichnen und deren Kaufkraft zeigen. II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais LatanteNour El cor de la ciutat Cuöntame cömo pasö
Straße 37,5 00 00 12,5 25 25
Tab. 15: Anteil des Handlungsortes Straße pro Serie (in %)
Der Raum der Straße in Cuentame cömo paso verdankt sich dem kindlichen Erzähler der Geschichte, der mit seinen Freunden die Zeit auf der Straße verbringt, mit Spielen oder mit Begegnungen mit Freunden oder Nachbarn aus dem Viertel. Im Fall von El cor de la ciutat gibt es außerdem einen Begegnungsraum zwischen Freunden, Nachbarn und Bekannten im städtischen Raum. In La tante Nour verdanken sich die Momente auf der Strasse den Sequenzen, wo die Mitglieder ihrer Familien von einem Ort zum anderen wechseln. Der hohe Wert von II Maresciallo Rocca geht auf die Erzählhandlung und den Beruf des Protagonisten zurück.
II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame cömo paso
Freizeit 12,5 00 25 00 25 00
Tab. 16: Anteil des Handlungsortes Freizeit pro Serie (in %)
In L 'hiver ne retournera jamais und El cor de la ciutat entwickeln sich viele Sequenzen in Bars oder Restaurants. II Maresciallo Rocca Docteur Sylvestre L'hiver ne retournera jamais La tante Nour El cor de la ciutat Cuentame cömo paso
Institutionen 00 62,5 00 25 25 00
Tab. 17: Anteil des Handlungsortes Institutionen pro Serie (in %)
Diese Daten korrespondieren in Docteur Sylvestre mit dem Raum, in dem sich die Handlung gewöhnlich abspielt, im Krankenhaus. Im Fall von La tante
Multikulturelle Gesellschaft
229
Nour und El cor de la ciutat respräsentiert dieser Prozentwert diejenigen Sequenzen, wo die Personen in Verwaltungsbereichen auftauchen. Wir haben nun ausgehend von einem narrativen Modell die Repräsentationen des Bildes vom Anderen dargestellt, wie sie im Fernsehen auftauchen. Wir sind uns bewusst, dass die audio-visuelle Narration aus einem soziologischen und kulturellen Gesichtspunkt nicht alles repräsentiert, was zur realen Welt gehört, und eine Version der Realität ist. Darüber hinaus werden diese Produkte von einer enormen Anzahl von Personen konsumiert. Die Repräsentation wird also von dem, was real ist, gemacht und transformiert es, spiegelt aber aus unserer Sicht das, was man bekannt machen möchte. So zum Beispiel mögliche Lebensweisen, Alltagsprobleme, Situationen familiärer, sozialer oder Arbeits-Konflikte. Hinzu kommen Ideen von Veränderungen und kulturellen Transformationen der Gesellschaften, in denen die Serien gezeigt werden. Zum Beispiel in La tartte Nour oder L 'hiver ne retournera jamais die Erzählung von einer Gesellschaft, die das letzte Röcheln eines autoritären Regimes erlebt, um auf dem Weg der Fiktion eine neue Generation mit einem Land bekannt zu machen, das in Demokratie lebt, mit dem, was für normale Familien der Mittelklasse das Leben in dieser fiktionalen Gesellschaft bedeutet, wie dies bei Cuentame cömo pasö der Fall ist. Oder die Art und Weise, wie ein Beruf, etwa der des maresciallo oder des Arztes, in Dörfern oder kleinen Siedlungen repräsentiert wird, und wie man den Beruf mit dem Alltagsleben der Personen vereinbaren kann. Schließlich auch, auf welche Weise das Alltagsleben der Personen in den Vierteln einer großen Stadt, Barcelona, mittels der audiovisuellen Erzählung dargestellt wird (El cor de la ciutat). Es scheint uns aber am interessantesten, die Absicht jeder dieser Serien hervorzuheben, oder sagen wir die „Moral" oder die abschließende Lehre bezüglich der Personen und ihren Wandlungen, die darauf abzielt, dass das Durchschnittspublikum sich mit den Botschaften identifiziert, die vermittelt werden. Sei es um eine bestimmte Zeit kennen zu lernen oder um ein Problem zu lösen oder innere Zweifel, die aus dem Beruf oder aus Überzeugungen der Personen stammen, oder um eine zeitgenössische Realität darzustellen, wie sie die multikulturelle Gesellschaft ist, oder um bereits die Rolle der Frau als Vermittlerin zu betonen oder die Familie als zentrale Achse des Alltagslebens darzustellen. Auf der anderen Seite lassen uns die Analyse der traditionellen und modernen Werte und die erhaltenen Ergebnisse zu dem Schluß kommen, dass diese Serien das zeigen wollen, was die Zuschauer, an die sie sich richten, am meisten interiorisiert haben: Wünsche, Hoffnungen, Befürchtungen, Schande, Neid, die Rolle von Frau und Mann, um nur einige von Ihnen zu nennen. An dieser Stelle scheint es uns von Interesse aufzuzeigen, welchen Zugang die Zuhörer der untersuchten Stichprobe aus den Mittelmeeranrainerstaaten zu Kommunikationsmitteln und zu IKTs (Informations- und Kommunikations-
230
Teresa Velazquez
technologien) haben; dies fugen wir hier ebenso hinzu wie den Index menschlicher Entwicklung dieser Gesellschaften. Es scheint uns wichtig, diese Daten mit einzuschließen - wir glauben, dass die Präsentation dieser Daten dazu beiträgt, mehr über den sozio-ökonomischen Rezeptions-Kontext der Zuschauer der untersuchten Serien zu erfahren.
4. Die Mittelmeeranrainerländer in Zahlen: Illustrationen und Vergleiche In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit den Zugangsmöglichkeiten der Menschen in denjenigen Ländern, mit denen sich unsere Untersuchung befasst, zu Kommunikationsmitteln und zu Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). Es scheint uns auch von Interesse, einige Daten zur menschlichen Entwicklung in diesen Gesellschaften mitzuliefern.5 Index menschlicher Entwicklung IDH
Index menschlicher Armut IPH1//IPH2
(%)
Rang
Wert IDH
Rang
Frankreich
16
0,938
10
Italien
18
0,934
18 11
11,6
Index technologischen Fortschritts Rang
Wert Index
11,4
17
0,535
29,9
20
0,471
Spanien
21
0,928
19
0,481
Israel
23
0,915
18
0,514
Griechenland
24
0,912
26
0,437
51
0,255
Libyen
58
0,799
33
Libanon
81
0,759
18
9,6 18,3
15,3
Tunesien
89
0,753
43
Jordanien
90
0,753
11
8,1
Türkei
94
0,75
19
9,7 21,3
58
0,221
13,8
56
0,24
57
0,236
Algerien
103
0,722
48
Syrien
106
0,721
29
30,9 34,5
Ägypten
119
0,659
55
Marokko
124
0,631
61
Tab. 18: Menschliche Entwicklung, Armut und technologischer Fortschritt
5 Die Daten bezüglich des IDH und zu IPH1 und IPH2 sind dem Bericht über die menschliche Entwicklung der UNDP aus dem Jahr 2005 entnommen. Die Daten zum IPH beruhen auf den im Jahr 2001 veröffentlichten UNDP-Daten, die Organisation hat keine aktuelleren Daten veröffentlicht.
Multikulturelle Gesellschaft
231
Nach meiner Meinung vermitteln die Daten in Tabelle 18 eine Vorstellung davon, welche Position die Mittelmeeranrainer einnehmen und verdeutlichen zugleich den Stand des Zugangs zu den IK-Technologien. Ich bin mir bewusst, dass sich diese letztgenannten Daten verändert haben dürften, seit sie vom UNDP veröffentlicht wurden, ebenso wie der Zugang der Personen zu IKT. Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor sind die Interessen der sektoralen Industrie in diesem Bereich - deren Ziel, die eigenen Produkte immer weiter und immer rentabler einzuführen. Die Zone ist ein unvergleichliches Investitionspotential. Es ist kein Zufall, dass der Weltgipfel zur Informations- und Kommunikationsgesellschaft im November in 2005 in Tunis stattfand. Aus der Perspektive der hier vorgelegten Arbeit glaube ich allerdings, dass die Situation, selbst wenn sie sich verbessern sollte, doch weiterhin große Schwierigkeiten birgt, was den Zugang der Bürger dieser Länder zur Wissensgesellschaft angeht. Dies impliziert Abhängigkeit und, so möchte ich bekräftigen, eine Hegemonie neuen Zeichens, eine wissensbezogene Hegemonie. Die Daten und die Überlegungen in den Weltentwicklungsberichten des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen UNDP von 2003 und 2004 für diejenigen arabischen Länder, die wir untersuchen konnten, bestätigen uns in dieser Haltung. Und natürlich machen, wie wir im folgenden Abschnitt zeigen werden, die politischen Gepflogenheiten (selbst wenn sie, was die formale Seite der Wahlen anbelangt, demokratisch sind), die fraglichen Regierungen, der Mangel an Freiheit und die Verletzungen der Menschenrechte es den Bürgern dieser Region nicht leichter, die Mündigkeit zu erreichen und das Netz zu verwenden. Aus diesem Grund wollen wir auf den folgenden Seiten darlegen, welche Rolle die Kommunikation und die IKTs bei den Möglichkeiten trans-kultureller Veränderungen spielen können.
5. Informations- und Kommunikationstechnologien: Gleiche Zugangsbedingungen? Ist die Situation des kommunikativen Systems des Mittelmeerbeckens ein weiteres Element der Ungleichheit? Aus unserer Perspektive ist die soziale Ausgrenzung nicht nur ein Problem von Armut und Reichtum, sondern beinhaltet auch den eingeschränkten Zugang zu Wissen. In der heutigen Gesellschaft, in der die IKTs zunehmend und ohne dass dies bewusst wird, den entwickelten oder sich im Entwicklungsprozess befindlichen Ländern ermöglichen, Wissensgesellschaften zu sein, sind Personen, Völker oder Nationen, die keinen Zugang hierzu haben, einer Ausgrenzung unterworfen, als Land und als Individuen. Infolgedessen halten wir es fur außerordentlich bedeutsam, ausgehend von Vergleichsdaten die reale Situation des Zugangs zu Informations- und Kommunikationsmitteln und -technologien
232
Teresa Velazquez
fur die Länder zu untersuchen, mit denen wir uns beschäftigen. Die Daten zeigen die Unterschiede zwischen verschiedenen Nationen, die alle Länder der gleichen Region sind. Die Daten, die uns die UNDP 2001 anbietet und die wir oben in Tabelle 18 präsentiert haben, informieren uns über den Stand der Alphabetisierung, über Haushaltseinkommen, Investitionen in Infrastruktur und Entwicklung und die Implementierung von IKT in der untersuchten Region - hier illustrieren sie bereits große Unterschiede zwischen Nord und Süd. Die Daten dagegen, die wir nachfolgend präsentieren, informieren über den Grad der Alphabetisierung in der Region, der nicht nur einen Zugang zu traditioneller Bildung, sondern auch zum modernen „Wissen" darstellt. Angesichts dieser Situation und der skandalösen Zahlen, die die Indikatoren zusammenfassen, sind die Regierungen und das Kapital in diesen Ländern nicht von ihrer Verantwortung entbunden, sich mit dieser fehlenden Anpassung an die Anforderungen des internationalen Wettbewerbs zu befassen, auch wenn man mancherorts bereits - auch institutionelle - Anstrengungen sieht, die Infrastruktur zu modernisieren. Die offensichtlichste Art und Weise, Privilegien und Macht, Hegemonien und Erbhöfe beizubehalten, besteht darin, das Volk in Unwissenheit zu halten, in der Bevormundung, in der Abhängigkeit, im Mangel an Information, in einer konstanten Zensur und unter Verletzung der Menschenrechte. Auf diese Weise in Unmündigkeit gehaltene Bürger sind nicht auf die Modernität vorbereitet und müssen in den ranzigsten Traditionen und der Sorge um die elementaren materiellen Lebensbedingungen verweilen, während das Wissen als eine der Voraussetzungen der Demokratisierung unterdrückt wird. Nachfolgend präsentieren wir zwei Tabellen, die diese Ausführungen illustrieren. Die Zahlen sind dem Weltbankbericht vom 10. März 2003 entnommen. Zeitungen 1995
TV
Radio
2001
1995
2001
1995
2001
Ägypten
41
31
333
339
118
217
Algerien
51
27
239
244
88
110
Jordanien
60
75
322
372
79
111
Libanon
82
107
669
182
357
336
Libyen
15
15
263
273
102
137
Marokko
24
28
227
243
158
159
Syrien
19
20
264
276
72
67
Tunesien
30
23
201
158
89
198
Tab. 19: Verteilung von Informationsquellen pro 1000 Einw. (Quelle: Weltbank)
233
Multikulturelle Gesellschaft Telefon
Internet in 1000
PC
Mobiltelefon
1995
2001
1995
2001
1995
2001
1995
2001
Ägypten
47
104
4,3
15,5
20
600
0
43
Algerien
41
61
3
0
60
0
3
Jordanien
58
127
6,4
7,1 32,8
1
212
2
167
Libanon
110
195
16,6
56,2
2
300
40
212
Libyen
59
109
0
0
0
20
0
9
Marokko
42
41
3,2
13,7
0
400
1
164
Syrien
68
103
16,3
0
60
0
12
Tunesien
58
109
7,1 6,7
23,7
1
400
0
40
Tab. 20: Verteilung von IKT pro 1000 Einw. (Quelle: Weltbank)
Nach unserer Überzeugung sind dies primäre Informationsquellen über den Zugang zu den Kommunikationsmitteln in den untersuchten Ländern. Die Unterschiede zwischen den Mittelmeerländern liegen auf der Hand.
6. Abschließende Fragen und Vorschläge Was ist die Rolle der Kulturindustrien hinsichtlich der Perspektive vom Osten auf den Westen und vom Westen auf den Osten? Gibt es Raum für einen gemeinsamen Blick? Mögliche Beispiele wären: • gemeinsame Produktionen und Koproduktionen der audiovisuellen Industrien der Region zu realisieren; • wirksame Kooperation und gemeinsames Handeln der relevanten berufsbezogenen Organisationen im mediterranen Raum; • direktere und vernehmlichere Intervention der Zivilgesellschaft der Region; • eine reale Demokratisierung auf allen Ebenen, in allen mediterranen Ländern. Dabei sollte das schlechte Gewissen des Westens Kooperation nicht mit Mildtätigkeit oder einem Volontariat verwechseln. Welchen Strategien sollte man folgen und wie sollte der Sektor involviert werden? Beispiele hierfür wären: • die Investition der audiovisuellen Industrie der nördlichen Anrainerstaaten des Mittelmeeres in Produktionen, die zu Kenntnissen und Wissen über die Kulturen in den südlichen Nachbarländer beitragen; • eine reale Kooperation zwischen den Unternehmen des audio-visuellen Sektors der Zone, in Hinblick auf Inhalte, Produktionen und Mitarbeiter sowie der Austausch von Erfahrungen und die Ausbildung der Mitarbeiter;
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Teresa Velazquez
• aus Sicht der Unternehmen der Informationsbranche ein Netzwerk zu schaffen, das zur Bildung einer mediterranen Nachrichtenagentur in mehreren Sprachen beiträgt. Wie trägt man dazu bei, nicht-stereotype symbolische Darstellungen zu erschaffen? Wir glauben an folgenden Weg: • Bildung und Erlernen der Kultur des Anderen, in Bildungszentren wie in den Kommunikationsmedien der beiden Teile des Mittelmeerraums; • Transfer von Daten für die Forschung; Schaffung thematischer Netzwerke, die Universitäten, Medienschaffende in diesem Sektor, berufsständische Organisationen und soziale Akteure umfasst; • lebenslange Weiterbildung von Mitarbeitern im Informationsbereich, damit die Ausübung ihres Berufs dabei hilft, ein Meinungsklima zu erzeugen, das den Dialog der Kulturen ermöglicht; • Kommunikation kann im Prozess der Erzeugung einer öffentlichen Meinung eine Rolle spielen, die zu einer Veränderung hin zu einem nicht stereotypen Meinungsklima fuhrt. Die Rede ist dabei nicht nur von Strömungen der öffentlichen Meinung, die aus der Debatte über Themen von öffentlichem Interesse, wie etwa der Politik herrühren, sondern auch von sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen usw. Themen und der Produktion von Fiktionalem. • Schließlich die Veröffentlichungsindustrie: Übersetzungen von Autoren in den verschiedenen Wissenssektoren, die Kommunikation des Arabischen in andere Sprachen, die des Nicht-Arabischen in die arabischen Sprachen, die Übersetzung französischer und englischer Autoren in andere Sprachen, beispielsweise spanisch, katalanisch, italienisch, portugiesisch, griechisch, türkisch und umgekehrt.
A. d. Frz. v. Ursula Liebing
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Multikulturelle Gesellschaft
235
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Elfie Poulain
SOZIALE ROLLE UND INDIVIDUELLES SCHICKSAL
Zwei literarische Modelle der heutigen Welt
Reflexionen zum Problem der kulturellen Identitäten sind sowohl in den westlichen als auch in den arabischen Ländern an der Tagesordnung. So hatte die UNESCO bereits im Jahre 2001 eine Erklärung zur kulturellen Vielfalt abgegeben, der am 20. Oktober 2005 eine Konvention zum Schutz und zur Förderung der kulturellen Vielfalt folgte. Ziel ist die allseitige Achtung der Völker, ihrer Sprachen, ihrer Traditionen und ihrer künstlerischen Ausdrucksformen. Es wäre indes falsch zu glauben, eine Gesellschaft sei in sich gesehen kulturell homogen, denn im Innern eines jeden Landes spielt die Vielfalt der kulturellen Vorstellungen ebenfalls eine Rolle. Sie beruhen auf Werten und Normen, die das Leben eines jeden Menschen sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen, die aber, gerade aufgrund ihrer Vielfalt, im kommunikativen Umgang aufeinander stoßen und Konflikte verursachen. Dies trifft keineswegs nur auf die sozialen Interaktionen innerhalb einer Gruppe oder eines Landes zu, sondern ebenso auf den Austausch zwischen den Ländern, und in noch größerem Maße auf den Austausch mit Ländern, deren Wertevorstellungen erheblich voneinander abweichen. Wenn wir der Frage nach dem Grund und dem Mechanismus nachgehen, welche diese Diskrepanzen und Kollisionen hervorbringen, so zeigt es sich, dass jene in letzter Instanz auf einem Bild oder einem Ideal beruhen, das sich ein jeder von sich selbst und seiner Beziehung zur Welt macht. Dieses Bild wird gewissermaßen zu einer theoretischen Instanz oder einem Vektor, der die Gedanken, Reden und Handlungen des Einzelnen bestimmt, sowie seine zwischenmenschlichen Beziehungen mit der sozialen und kulturellen Außenwelt. Die Literatur kann als ein Medium betrachtet werden, das die Vielfalt der Wertevorstellungen und der sich daraus ergebenden Konflikte zwischen den Individuen und Welten besonders deutlich zur Darstellung bringt. Anhand der Geschichten, die sie uns erzählt, können wir aus der Distanz die Vorstellungs- und Handlungsprozesse beobachten, die die literarischen Gestalten in Situationen fuhren, in denen die Unfähigkeit oder Unmöglichkeit des Dialogs zum Ausdruck gebracht wird. Vor diesem Hintergrund möchte ich zwei Romane heranziehen, die ein je spezifisches Denkmuster darstellen, das paradigmatisch für die Vielfalt der kulturellen Vorstellungen stehen mag, die auch die großen christlichen und moslemischen Traditionen bestimmt. Es handelt sich um den im Jahre 1968
Soziale Rolle und individuelles Schicksal
237
erschienenen Roman Deutschstunde des deutschen Autors Siegfried Lenz und den 1970 veröffentlichten Roman Der Erlkönig (Le Roi des Aulnes) des französischen Autors Michel Tournier. 1 Diese Romane stellen zwei entgegengesetzte Wertemodelle dar, die dennoch eine komplementäre Weltsicht bieten: die Selbstidentifikation mit der sozialen Rolle bei S. Lenz und der Glaube an ein individuelles Schicksal bei M. Tournier. Die Selbstidentifikation bei Lenz muss als ein Akt der Wahl verstanden werden. Das Individuum wird als frei betrachtet, seine Rolle selbst zu bestimmen, die Rechte und Pflichten festzulegen, die an diese Rolle gebunden sind, und so seine individuellen Handlungen zu wählen, die daraus entstehen. Diese Konzeption unterscheidet sich von traditionellen Rollenbegriffen, nach denen die Gesellschaft einem bestimmten Individuum eine bestimmte Rolle aufzwingt, je nach Funktion und Platz, den es innerhalb der sozialen Hierarchie einnimmt. Der Roman von Lenz führt uns dabei in die Welt des sozialen Handelns in einer modernen Industriegesellschaft. Es ist eine Welt, in welcher der Logos regiert und der vernunftgeleitete und für sein Handeln verantwortliche Mensch sich einem rationalen, von der Aufklärung ererbten Denken unterwirft. Der Roman von Tournier hingegen fuhrt uns in eine moderne, aber archaische Welt. Es ist die Welt des Mythos, in der sich die Hauptperson auf seine subjektive Intuition verlässt, um dem vom individuellen Schicksal vorgezeichneten Weg zu folgen. Diese Welt unterscheidet sich dabei von der Welt der griechischen Mythologie, in der das Schicksal immer ein tragisches ist, das die gesamte Familie und deren Nachkommen mit einschließt. Bei Tournier ist das Schicksal als eine unwiderrufliche individuelle Bestimmung zu verstehen, die von Geburt an determiniert ist, also in der biologischen Natur der Person gründet, und die stets erfüllt wird. Jeder der beiden Schriftsteller präsentiert uns damit eine Facette der ursprünglichen Welt, deren Spaltung viele heutige Denker bedauern. Was erzählen die Romane? Beide spielen vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs. Die Erzählhandlung der Deutschstunde beginnt 1943 und endet 1954. Sie spielt sich in zwei kleinen Dörfern ab, die in Norddeutschland liegen. Siggi, der Erzähler, berichtet, wie sein Vater, der Polizist Jepsen, im Jahre 1943 von den Nazibehörden den Befehl erhalten hatte, ein Malverbot an seinen Freund Nansen zu übermitteln. Das Regime hatte ihn zugleich beauftragt, dieses Verbot zu überwachen. Die Geschichte dieses Malers lässt an das Schicksal expressionistischer Maler denken, besonders an das Emil Noldes, der vom NaziRegime verfolgt wurde. Ihre Kunst, die als degeneriert und dekadent eingestuft wurde, war von der Zensur verboten worden. Im Roman zeichnet Siggi den Konflikt zwischen dem Polizisten und dem Maler nach. Er zeigt uns, wie sein Vater den aus Berlin erhaltenen Befehl ohne jegliche Kritik ausführt, wie er seinen ehemaligen Freund mit Hartnäckigkeit und ohne menschliches Mitge1 Siegfried Lenz, Die Deutschstunde, München 1973 (Erstausg. Hamburg 1968). Frz. La Lefon d'allemand. Trad, de l'allemand par Bernard Kreis. Paris 1973 [zit. als D]. Michel Tournier, Le roi des Aulnes. Paris 1970 [zit. als A].
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fühl überwacht. Nach und nach verwandelt sich seine formelle Pflicht in eine zwanghafte Pflicht. Der Maler versucht, sich gegen diese fanatische Verfolgung und die politische Blindheit des Polizisten aufzulehnen, was zur Folge hat, dass er von einem Tag auf den anderen zu dessen größtem Feind wird. Die beiden Personen, Jepsen und Nansen, werden im Wesentlichen bei der Ausübung ihrer Funktionen dargestellt. Jepsen taucht immer und überall in Uniform auf, die ihm in seiner dörflichen Gemeinde Macht verleiht. Nansen lässt sich von den Dorfbewohnern ganz einfach nur „der Maler" nennen. Die Leute sehen sie damit praktisch durch die Brille des Bildes, das sie von sich selbst auf ihre Umwelt projizieren. Und ihre entgegengesetzten Verhaltensweisen zeigen, dass beide mit Übereifer ihre Rollen wahrnehmen, die sie wie einen gegenüber der Gesellschaft zu erfüllenden Auftrag auffassen. Doch obwohl beide auf ähnliche Weise durch ihr Rollenbild gebunden sind, kann man einen fundamentalen Unterschied in ihrem Sozialverhalten feststellen. Die einzelnen Handlungen des Polizisten Jepsen, eines sehr pünktlichen, gewissenhaften und sorgfältigen Mannes, basieren auf dem Schema „erlaubt verboten", das mit dem Gesetz korreliert, dessen lokaler Repräsentant er ja ist. Vor allem seine Wortwahl zeigt die Selbstidentifikation mit dieser Rolle, denn er spricht die Sprache der polizeilichen Autorität. So sagt er zu Nansen, als er ihm das Malverbot erteilt: „Das Verbot hat mit Kenntnisnahme in Kraft gesetzt zu werden, steht das nicht so geschrieben, Max?" (D 29). Seine Sprache tritt in einen auffallenden Kontrast zur nachlässigen Ausdrucksweise, die den Dorfbewohnern so eigen ist. Man merkt an der Art und Weise, in der er sich der Sprache bedient, dass er seine Rolle als Polizist nicht spielt, sondern mit ihr identisch ist, denn die Sprache drückt die Verbindung aus, die der Einzelne mit der Welt und mit sich selbst unterhält: „Sprache sagt nicht nur sich selbst aus, sondern auch ebensoviel über den, der sie gebraucht", sagt der Schriftsteller Lenz.2 Das Subjekt Jepsen verschwindet in diesem kommunikativen Zusammenhang, um nur noch als Sprachrohr der Macht zu fungieren, mit der Konsequenz, dass es keinen wirklichen Dialog zwischen den beiden Personen gibt. Jepsen spricht nicht zum Maler, er sagt ihm nur das, was das Gesetz über ihn sagt. Von Anfang an fällt die Strenge des Polizisten auf, die sich im Laufe der Konfrontation mit dem Maler steigert und seine extreme Unterordnung unter die von oben kommenden Befehle zeigt, sowie seine absolute Intoleranz gegenüber jeder Einstellung, die von seinen eigenen Verhaltensnormen abweicht. Im Normalfall ist die Umsetzung der sozialen Rolle durch Raum und Zeit begrenzt. Nun kommt Jepsen allerdings an einen Punkt, an dem er seine private Rolle und seine Funktion als Polizist nicht mehr trennen kann. Eines Tages trifft sich das ganze Dorf bei Nansen, um den Geburtstag seines Förderers zu feiern. Zu dem Fest wurde auch Jepsen eingeladen. Schließlich erscheint er, aber nicht um zu feiern, sondern um den Befehl auszuführen, die Bilder des 2 Siegfried Lenz, Beziehungen, Ansichten und Bekenntnisse zur Literatur. Hamburg 1970, S. 202.
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Malers zu konfiszieren. In Bezug auf seine Funktion als Polizist stellt der Befehl, den er ausführt, tatsächlich eine gewisse Objektivität dar. Er hat nicht die Wahl ihn auszuführen oder nicht, umso mehr, da er unter dem Befehl eines totalitären Staates steht. Hier ist ausschlaggebend, wann und wie er ihn ausführt. Entscheidend ist die Art und Weise, in welcher er die Freiräume festlegt, über die er verfügen kann. Jepsen allerdings ist kein Mann, der sich Fragen dieser Art stellt. Nur eines ist ihm wichtig: perfekt dem Bild zu entsprechen, das er sich von einem vorbildlichen Polizisten macht, ein Bild, das er verinnerlicht hat und durch seine Worte und sein Handeln in sein soziales Umfeld nach außen trägt. Erinnern wir uns an dieser Stelle an einen alten Spruch: „Sag mir, was du tust, und ich sage dir, wer du bist." Das Bild eines idealen Polizisten wird für Jepsen zum Leitbild, zur Leitlinie seiner persönlichen und sozialen Identität. Was seine Identifikation mit diesem Bild so gefährlich macht, ist die Tatsache, dass sie ein blindes und unbegrenztes Vertrauen in die Polizei als Institution beinhaltet. Der Postbote des Dorfes versucht, den Polizisten in seinem Eifer, den Maler zu überwachen, zu beschwichtigen. Er erzählt ihm, gehört zu haben, dass die Nazis die konfiszierten Bilder des Malers verbrannt oder ins Ausland verkauft haben. Jepsens Reaktion ist folgende : Okko, sagte mein Vater, ich hab das nicht gehört, und wenn du es genau wissen willst: ich frage nich, was einer gewinnt dabei, wenn einer seine Pflicht tut, ob es einem nützt oder so. Wo kämen wir hin, wenn wir uns bei allem fragten: und was kommt danach? Seine Pflicht, die kann man doch nich nach Laune tun oder wie es einem die Vorsicht eingibt, wenn du mich verstehst. (D 260)
Es wird deutlich, dass er weder über den Zweck eines empfangenen Befehls noch über das, was sich jenseits seines kleinen dörflichen Horizonts abspielt, nachdenkt. Er macht sich über die politischen Implikationen keine Gedanken und ist im Grunde ein apolitischer Mensch. Die Selbstidentifikation mit seiner Rolle als Polizist zementiert sein grenzenloses Vertrauen in den Staat und dessen Unfehlbarkeit und bringt ihn dazu, ohne kritischen Geist und auf eine apolitische Weise zu handeln, wie sie das Naziregime von seinen Funktionären verlangte. Indem er sich blindlings mit seinen Polizeiaufgaben identifiziert, macht Jepsen von der Möglichkeit Gebrauch, jegliche individuelle Verantwortung von sich auf seine Vorgesetzten zu übertragen, denen er ein umfangreicheres Wissen zuspricht. Auf diese Weise kann er sein eigenes Gewissen beruhigen, denn er kann für all seine Handlungen auf Befehle verweisen. „Is in Berlin verfugt worden, das genügt" (D 66), erklärt er mit stoischer Ruhe, als Nansen versucht, ihn auf das politische Verhängnis aufmerksam zu machen. Mit der Person des Polizisten Jepsen zeichnet Lenz den treuen und gehorsamen Funktionärstypus, der den Hitlerstaat unterstützt und am Leben gehalten hat. Er gehört zu einem Menschentyp, den Adorno als „autoritäre Persönlichkeit" 3 bezeichnet hat. Dieser unterscheidet sich von anderen durch seinen strikten und unerschütterlichen Glauben an traditionelle Normen und Werte, und er 3 Vgl. Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/M. 1973.
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entwickelt all jenen gegenüber Verachtung, die die Normen der Autorität überschreiten. Deshalb verachtet der Polizist auch den Maler, der es ablehnt, die Gültigkeit der Nazibefehle anzuerkennen. Das Problem des Polizisten stellt sich jedem vernünftig denkenden Menschen: Wie kann man das äußere Sollen, d. h. die Erwartungen, die die Gesellschaft an uns hat, uns der jeweiligen Rolle entsprechend an die Regeln und Werte zu halten, und das innere Sollen, d. h. die von der Vernunft als objektiv notwendig erkannte Pflicht, miteinander vereinbaren? Das Problem des Polizisten Jepsen liegt darin, dass er nicht über die Richtigkeit der Befehle nachdenkt. Er bleibt vollständig unter der Bevormundung durch die Autorität, weil seine Entscheidungen immer identisch mit denen sind, die ihm seine Vorgesetzten diktieren, und sie drücken jene Wertvorstellungen aus, die er an das Idealbild eines Polizisten heranträgt. Der Maler Nansen hingegen, der in diesem Roman die Rolle des Gegenspielers innehat, legt eine konträre Mentalität an den Tag. Denn im Gegensatz zum Polizisten gründen seine Handlungen auf einer individuellen Beurteilung dessen, was der Einzelne in seiner sozialen Welt darf oder nicht darf. Und er unterstreicht dies besonders in seinem Kunstverständnis, das sich dem vom Naziregime propagierten widersetzt. Für dieses muss die Kunst im Dienste der Staatsideologie stehen und der Künstler hat die „große politische Umwälzung" mit künstlerischen Mitteln nachzuzeichnen.4 Allerdings ist Nansen nicht gewillt, das zu malen, was ihm der Staat befiehlt, also etwa das familiäre Glück, die Verbundenheit mit der Erde und eine saubere Moral. Um seine Selbständigkeit und künstlerische Gestaltungs- und Ausdrucksfreiheit zu verteidigen, malt Nansen das Grauen dieser Welt, und er zeigt durch die den Expressionisten eigene Technik der Deformierung, dass er die Welt, in der er lebt, als eine deformierte Welt betrachtet, als eine politisch deformierte Welt. Seine Haltung zeigt, dass er keine Vorschriften anerkennt, die von einer äußeren Autorität gemacht werden, wenn sie nicht mit den Prinzipien übereinstimmen, die er aufgrund seiner inneren Autorität annimmt und wertschätzt. Diese aber haben sich aufgrund der politischen Umstände gegen den Staat gewandt, obwohl er seine Rolle als Maler nicht grundsätzlich politisch begreift. Für Nansen ist die Malerei vielmehr ein Mittel, den Zuschauern die Augen zu öffnen. Der Psychologe Mackenroth schreibt in seiner Diplomarbeit über den Fall Siggi in Bezug auf Nansen, dass „der Maler ein für allemal beweist, dass große Kunst auch eine Rache an der Welt enthält, indem sie das, was ihr verachtungswürdig erscheint, zur Unsterblichkeit zwingt" (D 148). Die Bedrohung, die die Expressionisten für den Nazistaat darstellen, besteht darin, dass das große Publikum einen Bezug zwischen der bildlichen und der realen Welt herstellen könnte; daher auch die Berufsverbote.
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Vgl. Joseph Wulf, Die bildenden Künste im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Gütersloh 1963.
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In Anbetracht der Tatsache, dass beide Personen sich mit ihrer sozialen Rolle identifizieren, erwartet man natürlich, dass sie in dem Konflikt eine Position beziehen, die dem Bild und den Maßstäben entspricht, anhand derer sie ihre Rollen definieren. Die Spirale ihrer Interaktionen ist folgende: Der Polizist setzt sich das Ziel, das Malverbot durchzusetzen - koste es, was es wolle; der Maler versucht, sich dem nicht buchstäblich zu unterwerfen, aber mit dem Polizisten zu sprechen, um ihm die Lügen und Manipulationen des Staates begreiflich zu machen. Er betont zum Beispiel immer wieder die geographische Distanz, die ihr Dorf von Berlin trennt, wo die Machthaber sitzen, um den Polizisten zu bewegen, seine Überwachung etwas zu lockern. Jepsen aber stellt sich taub. Weil keiner der beiden sein anvisiertes Ziel direkt erreichen kann, fühlen sie sich gezwungen, ihre Erwartungen und ihre Verhaltensweisen den Reaktionen ihres Gegenübers anzugleichen. Das Spiel von Jensen besteht darin, den Maler zu bedrohen und Gewalt anzuwenden; das von Nansen besteht darin, den Polizisten von diesem unmittelbaren Ziel abzubringen und das Verbot zu umgehen, indem er heimlich malt. Der Leser nimmt an einer Kette sich steigernder Reaktionen teil: Je mehr Jepsen seine Überwachung verschärft, umso mehr Vorsichtsmaßnahmen ergreift Nansen. Bald konfisziert Jepsen die Bilder des Malers, was zur Folge hat, dass Nansen beginnt, unsichtbare Bilder zu zeichnen. Jepsen konfisziert daraufhin dessen weiße Blätter, und Nansen beginnt, bei Nacht zu zeichnen. Jepsen beobachtet ihn nachts und überrascht ihn schließlich. Er denunziert ihn und sperrt ihn ein. Man merkt, dass die Befriedigung durch eine Handlung bzw. die Niederlage bei einer bestimmten Handlung die Konzeption einer neuen Handlung in sich trägt, die zu einer Verschärfung des Konflikts und zu einer Verhärtung der sich gegenüberstehenden Positionen fuhrt. Das Recht des Einen wird zum Unrecht des Anderen, denn beide halten an der Wahrheit und der Bedeutung des Bildes fest, das sie sich von ihrer jeweiligen Rolle konstruiert haben. Ihr Konflikt übersteigt letztlich die Objektebene, also die Ebene des Verbots, und wird zum ideologischen Konflikt, in dem eine totalitäre und eine liberale Haltung aufeinander prallen. So fuhrt der Konflikt die Protagonisten schließlich in eine kommunikative Sackgasse, in der sich ein Dialog zwischen den beiden Figuren als unmöglich erweist. Man kann wohl sagen, dass beide starrsinnig sind. Wenn man sie allerdings näher betrachtet, merkt man, dass der Polizist Selbstbestätigung sucht, indem er Macht über das Individuum Nansen gewinnt, während Nansen durch das kritische Urteil auffällt, das er über Dinge und Menschen fällt. Das wird besonders deutlich, als der Polizist seinen eigenen Sohn verfolgt, weil dieser aus der Armee desertiert ist. Nansen nimmt den Sohn auf und versteckt ihn ohne das Wissen des Polizisten, was ihn noch stärker in Konflikt mit dem Gesetz bringt. Der Unterschied zwischen den beiden Personen ist grundsätzlich auf die folgende Tatsache zurückzufuhren: Der Maler bleibt offen für einen Dialog und versucht, durch sein Verhalten Andere zu retten; der Polizist hingegen
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weist jeglichen Dialog zurück und versucht, die Anderen im Namen eines allgemeingültigen Gesetzes zu zerstören, ohne je die Legitimität derer zu hinterfragen, die diese Gesetze machen. Man sollte annehmen, dass die Identifikation der Protagonisten mit ihren sozialen Rollenbildern vernünftige Wesen hervorbringt, die von tradierten Vorurteilen frei und fähig sind, einen fruchtbaren Dialog zu fuhren. Aber die Romanfiguren von Lenz zeigen uns das Gegenteil: Der Mensch mag frei und gleichberechtigt sein, es wird ihm trotzdem nicht gelingen, aus seinen kommunikativen Sackgassen zu entkommen. Michel Tourniers Protagonist scheint aus den Niederlagen, die der soziale Mensch während seines Werdegangs in der rationalen Welt erfahrt, seine Lehren zu ziehen. Le Roi des Aulnes erzählt die Geschichte von Abel Tiffauges, Mechaniker und Eigentümer einer Werkstatt bei der Porte-des-Ternes in Paris. Seine Abenteuer beginnen 1938 und enden 1945 in den Masuren, in Ostpreußen, mit der Kapitulation der deutschen Armee. In Folge eines Werkstattunfalls, der ihn hindert, seine rechte Hand zu gebrauchen und ihn so arbeitsunfähig macht, fangt Abel an, ein Tagebuch zu schreiben. Er nennt es „Ecrits sinistres", weil er gezwungen ist, mit der linken Hand zu schreiben, der „sinistra". Dieses Tagebuch, das seine Kindheit, Episoden aus seiner Vergangenheit und politische Informationen verbindet, ist vor allem eine Reflexion über sich selbst und seine eigene conditio in der Welt. Als Kind musste er Repressalien der Lehrer und die Launen seiner Schulkameraden erdulden. Aber er fand auch Beschützer, besonders Nestor, einen außergewöhnlichen Jungen, der den Appetit eines Menschenfressers hatte und dessen enorme Körperfülle und intellektuelle Reife selbst die Lehrer beeindruckten. Besonders gezeichnet hatten Abel das Ritterspiel auf dem Schulhof, bei dem Nestor ihn auf den Schultern trug, und der Schulbrand, der zu einem Zeitpunkt ausbrach, als er von einem Schulverweis gefährdet war. Der Leser erfährt, dass Abel mit 12 Jahren übermäßig zu wachsen begann, um ein wahrer Menschenfresser zu werden, ein Ebenbild von Nestor; dass er sich kaum für seinen Beruf als Mechaniker interessierte, dass seine Beziehung zu Rachel scheiterte und dass er schließlich an einen Punkt kam, an dem er sich ganz einsamen Freuden hingab, die ihn immer in die Nähe von Kindern führten, bis zu dem Tag, an dem man ihn anklagte, ein Verbrechen begangen zu haben. Aufgrund des Kriegsausbruchs entging er um Haaresbreite einer Verurteilung. Durch das Schreiben seines Tagebuchs wird ihm bewusst, dass er sich in seinem Leben an einem Wendepunkt befindet. Diese existentielle Zäsur wird durch einen narrativen Einschnitt zum Ausdruck gebracht. Man erfährt von der Einziehung Abels zum Militär, seiner Versetzung ins Eisass, dann nach Ostpreußen, wo ihm sich das Bild eines aus dem Moor gezogenen Erlkönigs einprägt. Während seiner Gefangenschaft wird er Jagdtreiber bei Hermann Göring, dem Menschenfresser von Rominten, und er entdeckt die Existenz des Men-
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schenfressers von Rastenburg, Hitler, dem man als Geburtstagsgeschenk eine ganze Generation Kinder schenkt, nämlich die Kinder einer paramilitärischen Schule, die dazu bestimmt war, die neuen Eliten des Reichs auszubilden. Dort wird Abel schließlich angestellt, um die Region nach jungen Rekruten zu durchforsten, was ihm den Beinamen des Menschenfressers von Kaltenborn einbringt. Während des Einmarschs der Roten Armee nimmt er Ephraim auf seine Schultern, einen kleinen jüdischen Jungen, den er in der Schule versteckt hielt, und rettet sich mit ihm, indem er tief in das von schwarzen Erlen gesäumte Moorgebiet vorstößt und versinkt. Der deutsche Filmemacher Volker Schlöndorff hat 1995 einen Film auf der Grundlage dieses Romans mit dem bezeichnenden Titel Der Unhold (frz. Le Monstre) gedreht. Nach seiner Erstausstrahlung in Deutschland zog er sich den Vorwurf der „Ästhetisierung des Faschismus" zu. Über das Hauptthema des Schicksals hinaus entwickelt er in seinem Film das Thema der Verfuhrung und Verfuhrbarkeit mit allen ihren möglichen verhängnisvollen Konsequenzen. Das individuelle Schicksal des Helden erfüllt sich dank, oder trotz, des jeweils gegenwärtigen historischen Schicksals, in diesem Fall des Zweiten Weltkriegs. Es wird deutlich, dass das Phantastische, das Mythische und die Realität in diesem Roman ineinander übergehen. Am Ende der romanhaften Erzählung wird Goethes berühmtes Gedicht Der Erlkönig zitiert bzw. paraphrasiert: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? [...] Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir: Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt: In seinen Armen das Kind war tot.
Das Gedicht steht hier als Epilog, durch den uns der Autor an das griechische Theater und die Ursprungsländer der Mythen erinnert. Es enthält als verschlüsselter Text in aller Kraft das ganze Schicksal von Abel, sein Schicksal als Menschenfresser und Kinderträger, die Entführung der Kinder, die er auf seinem schwarzen Pferd davonträgt, und schließlich den Tod von Ephraim, mit dem er in der Nähe der schwarzen Erlen versinkt. Abel ruft diesen Mythos ebenso hervor wie jenen von Nestor und noch weitere, weil er sich als Erbe und Reinkarnation dieser Heldenmythen versteht. Er erklärt: „Ich bin Nestor" (A137), „ich bin atavistisch" (A 346). In den Augen von Abel war Nestor im Besitz des Geheimnisses einer obskuren Komplizenschaft, die sein Schicksal mit dem allgemeinen Lauf der Dinge verband. Der Erzähler berichtet uns: Niemand besaß ein derart ausgeprägtes Bewusstsein seines Schicksals wie er [Abel], eines geradlinigen, unerschütterlichen, nicht beugbaren Schicksals, das noch die größten Ereignisse der Weltgeschichte seinen eigenen Zwecken zuordnete (A 171).
In dieser Logik muss das individuelle Schicksal Abels das kollektive Schicksal des Krieges nach sich ziehen. Abels Glaube an sein individuelles Schicksal wird mit dem Tagebuchschreiben geboren. Es führt Abel seine sozialen Nie-
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derlagen vor Augen und bringt ihn dazu, die Unstimmigkeit zwischen seiner wahren Natur und dem Menschen, den er im Kleide gesellschaftlich anerkannter Rollen spielt, anzuerkennen. Sein Glaube an die Auserwähltheit seines Schicksals verstärkt sich, als er anfängt, sich einige unerklärliche Zufälle ins Gedächtnis zu rufen, von denen ihn zwei besonders verblüffen: der Brand des Schulgebäudes und der Ausbruch des Krieges. Beide Ereignisse hatten ihn doch tatsächlich vor Bestrafung bewahrt, die ihn in der Gesellschaft erwartete. Aus diesem Grund erscheinen sie ihm wie ein Fegefeuer, das den Lauf der Dinge wendet und der Gesellschaft die Strafe auferlegt, die sie in seinen Augen verdient. Da er selbst von dieser rational strukturierten Welt nur Verachtung und Zurückweisung erfährt, einer Welt, die ihm nur Niederlagen zu bieten hat und ihn in eine Rolle zwingt, die in seinen Augen nicht seiner Natur entspricht, ist es nicht erstaunlich, dass er sie nun seinerseits verachtet und zurückweist, jene „Überangepassten", wie er sie nennt, die in ihrem Milieu wie ein Fisch im Wasser schwimmen: „Ich war entschlossen, mich in einer Gesellschaft vergessen zu machen, von der ich nur Böses erwartete" (A 73). Die räumliche Odyssee, die Abel erleben wird, wird von einer geistigen begleitet, die seine langsame und unaufhaltsame Veränderung zu einem neuen, mythologisierten Menschen hervorbringt. Seine sozialen Niederlagen haben zur Folge, dass er jeglichen Kontakt zu seinen Kriegskameraden meidet und sich stets um Aufträge bemüht, die einsame Ausflüge erforderlich machen. Auf diese Weise zeigt uns Abel, dass er die zivilisierte Welt als eine unmenschliche Welt erlebt, als einen Ort der Verderbnis, das Schlechte schlechthin. In dieser Haltung macht man unweigerlich den Rousseau'schen Gegensatz zwischen Zivilisations- und Naturmenschen aus. Denn dem sozialen Menschen, dem Werkstattmechaniker in Paris, steht der mythologisierte Mensch gegenüber, den Abel aus sich macht, der einsam die Landstriche Ostpreußens durchreitet. Es sind diese Gebiete, in denen er das Land seines Schicksals ausmachen und die er seine „terre promise", sein „verheißenes Land" nennen wird (A92). Seine Deutung des Erlebten beweist, dass er nach einer imaginären, ganz und gar subjektiven Vorgehensweise verfährt, mithilfe derer er in seinem individuellen Schicksal als Erfolg herausliest, was in den Augen der Gesellschaft eine Niederlage ist. Aufgrund dieser Selbstwahrnehmung bewegt er sich wie eine fensterlose Monade in der Welt, die hermetisch geschlossen und für die Dinge und Personen, denen er begegnet, nicht zugänglich ist. Zugleich lässt sie ihn das Glück verspüren, jenen authentischen Menschen auszuleben, der er von Natur aus zu sein bestimmt ist. Er allein und sonst niemand bemerkt und glaubt, dass die Dinge, die ihm passieren, von schicksalhafter Notwendigkeit sind, ihm zwar nicht Erfolg im Leben, aber - was ungleich wichtiger ist - die Erfüllung seines Lebens schenken. Die Bilder des Tragens und der Berufung zum Menschenfresser sind für ihn die treibenden Bilder, in denen sein Glaube an das individuelle Schicksal gründet, und die ihn dorthin „tragen", wichtige Ereignisse als Zeichen seines individuellen Schicksals zu entziffern.
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Zu diesem Schluss gelangt er auch durch seine physische Erscheinung, seinen Riesenkörper, der ihn in der Gesellschaft marginalisiert, ihm selbst aber als ein Zeichen der Auserwähltheit seines Schicksals als Menschenfresser und Kinderträger erscheint. Und auch seine Gefangenschaft in Deutschland trägt dazu bei. Er betrachtet sie nicht als Haftstrafe, sondern ganz im Gegenteil als großes Glück, da sein Schicksal ihn auf diese Weise an den Ort und in die Zeit seiner Vorhersehung gefuhrt hat, wo seine Apotheose, sein Versinken in den Moorsümpfen des Erlkönigs, stattfinden kann. Von ihm selbst wird sein Schicksal daher als ein unbewusster Wille wahrgenommen, eingeschrieben in die große Vernunft seines Körpers, die sein Leben bestimmt.5 Dieses Schicksal erlaubt es ihm, Tausenden von Übeln zu entkommen, welche die Gesellschaft für ihn bereithält, und bringt ihn dazu, Glück ob des wiedergefundenen authentischen Ichs, das ihm seine Natur vorherbestimmt hatte, zu empfinden. Es wird also deutlich, dass die Vollendung von Abels Schicksal mit jener des nach Vernunftmaßstäben handelnden Menschen kontrastiert, der sich bemüht, sich qua Einordnung in die Gesellschaft zu verwirklichen, denn Abels Schicksal spielt sich am Rande des Sozialen ab. Nur außerhalb sozialer, den Menschen von der Natur entfremdender Beziehungen glaubt er, jener authentische Mensch werden zu können, zu dem er sich prädestiniert fühlt. Die Verwirklichung seines Seins basiert auf der Leibniz'schen Idee der Kompensation, und zwar auf der Idee des „Glücks im Unglück". Odo Marquard zeichnet die Forschungen der Philosophen über Gleichgewicht und Kompensation nach und geht auf die Kunst der individuellen Kompensation ein.6 Vor allem der Weise ist darin ein Meister. Der studierte Philosoph Tournier überträgt die Haltung des Weisen in den Schicksalsglauben seiner Hauptperson, die als ihr eigener Hellseher auftritt und das praktiziert, was Odo Marquard als ausgeprägte Form der Kompensation bezeichnet, als „bonum-durch-malum-Gedanke": „... erst durch Übel entsteht, sie wettmachend, Gutes, das ohne diese Übel nicht zustandekäme".7 Der Glaube Abels an sein individuelles Schicksal bleibt ganz und gar subjektiv, da er die anderen Menschen aus dem Verfahren der Wahrheitsprüfung und aus seinen Realitätsmaßstäben austilgt. Dieser Glaube ist nichts anderes als die Überwindung des Intellekts durch den Willen, oder, anders gesagt, eine Sublimierung, die ihm als Gedankenoperation ein imaginäres Glück sichert. Doch obleich es illusorisch ist, ist es für ihn überlebenswichtig. Vergleicht man die beiden literarischen Modelle der Weltzuwendung, so stellt man fest, dass der Roman von Lenz den Mechanismus der Sozialisation eines Menschen nachzeichnet, der sich in und für die Gesellschaft zu verwirklichen versucht, während der Roman von Tournier das entgegengesetzte Mo5
Das Schicksal von Abel Tiffauges transportiert zugleich die Nietzscheanische Idee des Übermenschen: „meine übermenschliche Berufung" (A 90). 6 Odo Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch. In: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, S. 39-66. 7 Ebd., S. 45.
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dell aufzeigt, den Mechanismus der Zurückgezogenheit eines Menschen, der versucht, der Gesellschaft zu entfliehen, um ein Leben zu fuhren, von dem er meint, dass es seiner wahren Natur entspricht. Lenz hat es verstanden, die Gewissenskonflikte und Interaktionen zu rekonstruieren, die aus den gesellschaftlichen Rollen entstehen, indem er einen kritischen Blick auf ihre bedingungslose Ausübung und auf die Gültigkeit der Normen wirft, die daran geknüpft sind. Tournier beschreibt in seinem Roman den umgekehrten Versuch. Um dem Druck der gesellschaftlichen und intersubjektiven Normen zu entkommen, deren Gültigkeit sein Protagonist ablehnt, rettet dieser sich in eine Gegen-Welt am Rande der Gesellschaft, in die Konzeption vom individuellen Schicksal, das ihn zum Erwählten macht und sein Alltagsleben überragt. Man darf aus diesen literarischen Darstellungen allerdings nicht den Rückschluss ziehen, dass das eine Modell typisch deutsch, das andere typisch französisch sei. Es handelt sich eher um zwei sich ergänzende Modelle, derer sich das heutige Individuum bedient, um sich seiner selbst zu vergewissern und sich in der Gesellschaft zu positionieren. Gleichwohl: Das Interesse, das Lenz dem Kult des Gehorsams und der damit verbundenen Problematik der Identifikation mit gesellschaftlichen Rollen beimisst, ist ein Problem, das besonders stark in der deutschen Geschichte spürbar ist.8 Man muss sich nur an die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erinnern, die uns wahrlich Missbrauch und Exzesse des Eifers bei der Befehlsausführung zeigt, welche mit der gesellschaftlichen Rolle der Funktionäre in Zusammenhang stehen. Trotz der Verschiedenheit dieser beiden Modelle kann man zwischen ihnen eine strukturelle Ähnlichkeit feststellen: Sowohl die gesellschaftliche Rolle als auch das Schicksal beruhen nämlich auf einem Bild, das die Figuren im Laufe ihrer Lebenserfahrungen von sich selbst konstruieren. Und dieses Bild vermittelt, welche Werte sie für sich selbst und die Anderen für relevant halten. Auf diese Weise wird das Bild zum Idealbild, das theoretischer Natur ist und ihrem Dasein in der Welt sowie ihrer Beziehung zum Anderen als Orientierung dient. Beide Themen - das der gesellschaftlichen Rolle und das des individuellen Schicksals - erweisen sich als aussagekräftig und charakteristisch für unsere westliche Welt, weil sie auf ein allgemeines Bild verweisen, in dem sich das heutige Subjekt wiederzuerkennen sucht: jenes nämlich der Theorie vom Menschen als handelndem Wesen, das alle Möglichkeiten zu seiner freien Verwirklichung ausschöpft, das aber in der äußeren Welt auf eine objektive Begrenzung seines Freiheitsdrangs stößt. Wie unterschiedlich die literarischen Modelle auch sind, sie zeigen beide eine kommunikative Niederlage. Sie verdeutlichen uns, dass die Figuren es nicht schaffen, miteinander in einen Dialog zu treten, selbst dann nicht, wenn, wie im Falle des Malers bei Lenz, der zwischenmenschliche Dialog durchaus gesucht wird. Sie können also die eigentliche Bestimmung des Menschen, ein handelndes Wesen zu sein, nicht erfül8
Die Wurzeln dieser Mentalität verweisen auf die Geschichte des deutschen Denkens, auf Luther, Kant, Schiller u. a.
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len, weil sie das gesuchte Gleichgewicht zwischen ihrer Integration in die Gesellschaft und ihrer persönlichen Integrität nicht finden. Man mag einwenden, dass es sich hier lediglich um literarische, also erfundene und trügerische Bilder handele. Aber die literarische Welt ist eine virtuelle Welt, die sich dialektisch zur Welt unserer sozialen Realität äußert. Sie ist ein Paralleluniversum, das uns bisweilen in wörtlicher, manchmal in fragmentarischer Form sagt, was sich in der großen Welt abspielt. In diesem Sinne kann Literatur als Reflexion gelesen werden, die uns, den Lesern, abverlangt wird, um uns die Intoleranz, den fehlenden Dialog und das mangelnde Verständnis bewusst zu machen, das nicht nur zwischen Individuen, sondern auch zwischen den Kulturen, wie ζ. B. der christlichen und der moslemischen Welt, herrscht. So wird sie selbst zum Appell dafür, Einverständnis und eine gemeinsame Sprache jenseits der Verschiedenheit der Werte und Repräsentationen zu finden, die heute als Hindernis fur den interkulturellen Dialog empfunden werden.
Christoph Wulf
KULTURELLE VIELFALT UND IMMATERIELLES KULTURELLES ERBE
Wege zur interkulturellen Verständigung
Für die wechselseitige Verständigung von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen spielt der interkulturelle Dialog eine wichtige Rolle. Doch nicht weniger bedeutend sind andere Formen kulturellen Lebens und interkulturellen Austausche, in denen sich Menschen darstellen und in denen sie den Angehörigen anderer Kulturen viel über sich mitteilen. Zu diesen für die Bildung und Vermittlung kultureller Identität wichtigen Formen gehören mündliche Traditionen und Ausdrucksformen, soziale Praktiken, Rituale und Feste, Wissen und Praktiken des Umgangs mit der Natur und dem Universum, traditionelle Kunstfertigkeiten und handwerkliches Können sowie Performance-Künste. In diesen Praktiken drücken sich Menschen aus, inszenieren sie ihre Identität und fuhren sie Merkmale ihrer Kultur auf, mit denen sie ihre kulturelle Identität erzeugen, darstellen und weitervermitteln. Da für den Erwerb großer Teile kulturellen Wissen der Körper das Medium kulturellen Lernens ist, teilen uns seine Praktiken viel über die Kultur mit, in denen er enkulturiert ist. Dieses Wissen wird sinnlich aufgenommen und mimetisch verarbeitet; im Verlauf dieser Prozesse bildet sich das individuelle Imaginäre mit den mentalen Bildern anderer Kulturen als Teil individueller und kollektiver Identität. Im Kontext der UNESCO wird dieses auf dem menschlichen Körper basierende Wissen als „immaterielles kulturelles Erbe" bezeichnet. Im Unterschied zu den Stätten des Weltkulturerbes, deren Materialität viele Jahrhunderte überdauert, ist dieses „immaterielle Kulturerbe" an die Materialität, Plastizität und Vergänglichkeit des menschlichen Körpers gebunden. Daher ist es zwar von einer anderen Materialität als die Bauwerke des kulturellen Erbes, doch ist es im strengen Sinne des Wortes nicht immateriell. Dennoch hat sich heute der Begriff eingebürgert und wird daher auch im Folgenden weiter verwendet. Die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes für die kulturelle Vielfalt der Menschheit deutlich zu machen, war das Anliegen einer entsprechenden UNESCOKonvention von 2003,1 die aufgrund ihrer zügigen Ratifikation durch viele 1 Dieser Konvention gingen voraus: die Convention for the Protection of Cultural Heritage in the Event of Armed Conflict (1954); die Convention on the Means of Prohibiting the Illicit
Kulturelle Vielfalt
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Länder schon im Frühjahr 2006 rechtskräftig wurde. Während die Mehrzahl der asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Länder entschieden fur den Schutz des immateriellen Kulturerbes eintritt, sind die USA und viele westeuropäische Länder noch immer eher zögerlich, seine Bedeutung anzuerkennen. Dies überrascht umso mehr, als immaterielles und materielles Kulturerbe eng zusammenhängen und das eine ohne das andere nicht hätte entstehen können. Während sich prinzipiell alle Werke, die auf der Weltkulturerbe-Liste verzeichnet sind, als Teil des materiellen Kulturerbes bestimmen lassen, ist die Frage, was zum immateriellen Kulturerbe gehört, schwieriger zu beantworten. In Artikel 1, § 1 der Konvention heißt es dazu: „The ,intangible cultural heritage' means the practices, representations, expressions, knowledge, skills - as well as the instruments, objects, artefacts and cultural spaces associated therewith - that communities, groups and, in some cases, individuals recognize as part of their cultural heritage. This intangible cultural heritage, transmitted from generation to generation, is constantly recreated by communities and groups in response to their environment, their interaction with nature and their history, and provides them with a sense of identity and continuity, thus promoting respect for cultural diversity and human creativity." Die Diskussion um den Schutz immateriellen kulturellen Erbes wird in der UNESCO gegenwärtig von der Diskussion über den Schutz kultureller Diversität überlagert, die mit großer Intensität geführt wird und deren Ergebnisse sich unmittelbar auf den Umgang mit dem immateriellen kulturellen Erbe auswirken. Ein Ausgangspunkt dieser Diskussion besteht darin, dass viele Länder die Auffassung vertreten, kulturelle Güter dürften nicht mit Waren gleichgesetzt werden, deren freie Zirkulation im Rahmen der WTO- und der GATSVerhandlungen garantiert ist. Wenn diese Freizügigkeit auch fur Kulturgüte gelte, würden die Produkte der finanzstarken Länder bald die kulturellen Erzeugnisse ärmerer Länder, die jedoch für deren kulturelle Identität von zentraler Bedeutung sind, verdrängen. Dann wäre keine gezielte Kulturförderung mehr erlaubt und die großen Medienkonzerne würden mit ihren Unterhaltungsprodukten in kultureller Hinsicht anspruchsvolle Produkte zum Verschwinden bringen. Da sich in der internationalen Staatengemeinschaft gegen diese Entwicklung entschiedener Widerstand bildete, wurde auf der Generalversammlung der UNESCO im Herbst 2005 die Konvention zum Schutz kultureller Diversität mit überwältigender Mehrheit verabschiedet. Im Folgenden soll gezeigt werden, welches die Bedingungen immateriellen kulturellen Erbes sind und warum diese Praktiken im Interesse der Erhaltung kultureller Vielfalt geschützt werden müssen. Angesichts der Vereinheitlichungstendenzen der Globalisierung stellt die Förderung kultureller Vielfalt eine wichtige Gegenbewegung dar. Zwischen den Tendenzen der Vereinheitlichung Export, Import and Transfer of Ownership of Cultural Property (1970); die Convention Concerning the Protection of the World Cultural and Natural Heritage (1972) und die Convention on the Protection of the Underwater Cultural Heritage (2001).
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und der Erhaltung kultureller Vielfalt finden heute in allen Bereichen der Kultur heftige Auseinandersetzungen statt. In anthropologischer Hinsicht sind es mehrere Aspekte, in Bezug auf die sich zeigen lässt, wie wichtig die immateriellen Formen und Praktiken einer Kultur für das Selbstverständnis und die Entwicklung kultureller Identität ist. Denn ohne die immateriellen, den menschlichen Lebensalltag beeinflussenden Praktiken und Erzeugnisse sind kulturelle Bildung und Sensibilität fur kulturelle Vielfalt kaum möglich. An den folgenden Aspekten: 1) menschlicher Körper, 2) performativer Charakter immaterieller Praktiken, 3) Mimesis und mimetisches Lernen, 4) Andersheit und Alterität, 5) interkulturelles/transkulturelles Lernen soll dies verdeutlicht werden (Wulf 2006, 2004, 2001, 1997).
Der menschliche Körper Während sich die Monumente der Architektur leicht identifizieren und schützen lassen, sind die Formen des immateriellen kulturellen Erbes viel schwieriger zu identifizieren, zu vermitteln und zu erhalten. Während die architektonischen Werke des Weltkulturerbes aus haltbarem Material hergestellt worden sind, sind die Formen immateriellen kulturellen Erbes nicht dauerhaft, sondern unterliegen dem historischen und kulturellen Wandel. Während die architektonischen Werke materielle kulturelle Objekte darstellen, haben die Formen und Figurationen immateriellen und kulturellen Erbes den menschlichen Körper als Medium. Will man den besonderen Charakter immateriellen kulturellen Erbes begreifen, muss man sich die zentrale Rolle des menschlichen Körper als seines Trägers vergegenwärtigen. Da der Körper das Medium immateriellen kulturellen Erbes ist, ergeben sich daraus einige Folgen. Die auf dem Gebrauch des Körpers beruhenden kulturellen Praktiken werden durch den Gang der Zeit und durch die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens bestimmt. Während architektonische Monumente über lange Zeiträume erhalten bleiben, verändern sich die Formen und Figurationen immateriellen kulturellen Erbes äußerst schnell. Deshalb hängen die sozialen Praktiken immateriellen Kulturguts von der Dynamik von Raum und Zeit ab und sind an gesellschaftlichen Wandel und kulturellen Austausch gebunden (Liebau/Miller-Kipp/Wulf 1999; Bilstein/Miller-Kipp/Wulf 1999). Verbunden mit der Dynamik individuellen und kollektiven Lebens haben sie einen Prozesscharakter. Auch seinetwegen sind sie viel stärker den Tendenzen der Homogenisierung ausgesetzt und schwerer gegen die vereinheitlichenden Prozesse der Globalisierung zu schützen (Wulf/Merkel 2002).
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Der performative Charakter kultureller Praktiken Wenn der menschliche Körper das Medium der Praktiken immateriellen kulturellen Erbes ist, dann hat dies für ihre Wahrnehmung und ihr Verständnis Konsequenzen. Nach meiner Auffassung ist es vor allem der performative Charakter des Körpers, der Rituale und andere kulturelle Praktiken in kultureller und sozialer Hinsicht so wirkungsvoll macht. Da diese Praktiken mit dem Körper vollzogen werden, gilt es besonders die körperlichen Aspekte ihrer Inszenierungen und Aufführungen zu bedenken. Auf welchen Körperbildern und Körperkonzepten die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes beruhen, ist eine entscheidende Frage, die nur von Fall zu Fall beantwortet werden kann. Dabei gilt es die unterschiedlichen historischen und kulturellen Dimensionen der Körpervorstellungen zu berücksichtigen, die in den mannigfaltigen sozialen Praktiken kulturellen Erbes zum Ausdruck kommen. Doch es sind nicht nur unterschiedliche Körperbilder und -konzepte, die in der Inszenierung des sizilianischen Puppentheaters und in der Aufführung eines Cherkaoui story teller aus Marakech zum Ausdruck kommen. Nicht weniger wichtig sind die verschiedenen Formen praktischen Körperwissens, die es erst möglich machen, mannigfaltige rituelle Arrangements und andere soziale Praktiken zu inszenieren und aufzuführen. Ohne diese in komplexen Prozessen der Sozialisation und Erziehung erworbenen Formen praktischen sozialen Wissens können keine Rituale, Feste, künstlerische Praktiken oder Kunstfertigkeiten entstehen, modifiziert und weitergegeben werden. Auch Bourdieu hat immer wieder auf die Bedeutung solcher Formen verkörperten Wissens für die Gestaltung gesellschaftlicher kultureller Praktiken hingewiesen und in diesem Zusammenhang von Ritualen und Habitusformen gesprochen, die einerseits das Ergebnis sozialer Prozesse sind, andererseits aber auch diese formen und gestalten (Bourdieu 1976, 1987). Rituale gehören zu den wichtigsten Praktiken des immateriellen kulturellen Erbes, mit deren Hilfe kulturelle Identität erzeugt wird und in deren Inszenierung und kultureller Aufführung sie sich verstehen lässt. Sie haben viele soziale Funktionen. Rituelle Praktiken tragen dazu bei, den Übergang von einem sozialen Status zu einem anderen zu organisieren. Sie inszenieren und gestalten den Übergang anlässlich sozial und existentiell wichtiger Ereignisse wie Hochzeit, Geburt und Tod. Rituale umfassen Konventionen, Liturgien, Zeremonien und Feste. Sie vollziehen sich an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Laufe des Jahres. Wenn rituelle Praktiken ein Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen und das Soziale erzeugen, dann erfüllen sie ihre gesellschaftliche Funktion. Für die Konstituierung von Gemeinschaft und Kultur sind sie unerlässlich (Wulf u. a. 2001, 2004, 2007). Damit Rituale und andere soziale Praktiken erfolgreich aufgeführt werden können, bedarf es also eines individuellen, in den kollektiven Praktiken und im kollektiven Imaginären einer Kultur verankerten Körperwissens. Dieses
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mit dem Körper und Materialität verbundene Wissen sichert die Inszenierung und Aufführung der rituellen Handlungen und ihre performativen Wirkungen. Während der physische Charakter einer rituellen Aufführung die Ritualteilnehmer dazu anregen kann, unterschiedliche Interpretationen der Situation zu entwickeln, spielen diese Unterschiede bei der Aufführung und den Wirkungen von Ritualen nur eine sekundäre Rolle. Nicht die gemeinsame Interpretation, sondern die kollektive Inszenierung und Aufführung ist für die Wirkungen von Ritualen und anderen sozialen Praktiken entscheidend. Viele immaterielle , Aspekte" von Kultur und Geschichte werden in Ritualen und anderen kulturellen Praktiken, vor allem jedoch in ihrem performativen Charakter sichtbar. Dabei sind drei Aspekte wichtig. Der erste betont die Bedeutung des performativen Charakters der Sprache und ihrer Verwendung in rituellen Situationen. Indem John Austin herausgearbeitet hat, „how to do things with words", hat er diesen Aspekt der Sprache verdeutlicht. Wenn jemand in einer Hochzeitszeremonie „ja" sagt, dann hat er sprachlich eine Handlung vollzogen, durch die er verheiratet ist und die sein Leben verändern wird. Der zweite Aspekt besteht darin, dass Rituale und andere soziale Praktiken kulturelle Aufführungen sind, in denen sich Kulturen darstellen und ausdrücken. Mit Hilfe von Ritualen und anderen kulturellen Praktiken erzeugen Gemeinschaften eine Kontinuität zwischen Traditionen und den Erfordernissen der Gegenwart. Der dritte Aspekt der Performativität charakterisiert die ästhetische Seite der körperbezogenen Performance von Ritualen und Aufführungen. Wenn deren Analyse auf ihre bloße Funktion reduziert wird, können sie nicht angemessen begriffen werden (Wulf/Göhlich/Zirfas 2001; Fischer-Lichte/Wulf 2001, 2004; Wulf/Zirfas 2007). Rituale bearbeiten Differenzen und Alterität und schaffen kulturelle Gemeinschaften. Durch ihren performativen Charakter erzeugen sie kulturelle Identität. Im Bereich immateriellen kulturellen Erbes gehören sie zu den wichtigsten sozialen Praktiken, mit denen Angehörige einer communitas kulturelle Kontinuität von einer Generation zur anderen herstellen. Rituelle Praktiken können Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein ausgewogenes Verhältnis bringen. Einerseits übermitteln sie traditionelle Werte und Praktiken, andererseits tragen sie dazu bei, diese an die aktuellen Bedürfnisse und Erfordernisse der Gemeinschaft anzupassen. Rituale sind Fenster in eine Gemeinschaft, die es möglich machen, deren kulturelle Identität und deren Dynamiken zu begreifen. Wenn Rituale lediglich traditionelle Werte verkörpern und sich nicht auf die Belange gegenwärtiger Gesellschaft beziehen, werden sie zu rigiden Praktiken und Stereotypen und verlieren ihre Gemeinschaft bildende und soziale Identität erzeugende Kraft. Im Weiteren soll eine Reihe von Charakteristika sozialer und ästhetischer Praktiken immateriellen kulturellen Erbes verdeutlicht werden (Wulf 2005, 2006; Wulf/Zirfas 2003, 2004a,b, 2005):
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1. Alle Praktiken immateriellen kulturellen Erbes sind an die Räumlichkeit und Zeitlichkeit des menschlichen Körpers gebunden und entfalten sich in Raum und Zeit. Sie werden durch Bewegungen verbunden, in denen sich der menschliche Körper allein oder mit anderen Körpern in zeitlichen Sequenzierungen im Raum bewegt. 2. Praktiken immateriellen kulturellen Erbes wirken vor allem aufgrund ihres performativen Charakters, d. h. aufgrund ihrer körperlichen Inszenierungen und Aufführungen. 3. Praktiken immateriellen kulturellen Erbes erzeugen Gemeinschaften und kulturelle Identitäten. Sie verbinden kulturelle Traditionen mit den Erfordernissen der Gegenwart; sie sind dynamisch und verändern sich im Verlauf historischen Wandels. 4. Praktiken immateriellen kulturellen Erbes erfüllen ihre Aufgabe nicht dadurch, dass sie überlieferte Modelle einfach kopieren. Die Inszenierung und Aufführung solcher Praktiken ist keine bloße Wiederholung, sondern ein kreativer sozialer Akt, in dem unter Bezug auf Vorbilder jedes Mal etwas neu gemacht wird. Häufig schließen sich dabei verschiedene soziale Gruppen in einer performance" zusammen und erzeugen eine soziale Ordnung, die kulturelle Kohärenz schafft und potentielle gesellschaftliche Gewalt eindämmt. 5. Praktiken immateriellen kulturellen Erbes benötigen zu ihrer Inszenierung und Aufführung eines inkorporierten Wissens, das in mimetischen Prozessen erworben wird und das ohne diese nicht gelernt werden kann. 6. In vielen Praktiken immateriellen kulturellen Erbes spielt die Bearbeitung von Differenz und Alterität eine wichtige Rolle. In diesen Prozessen wird ein transkulturelles hybrides Wissen erzeugt. 7. Praktiken immateriellen kulturellen Erbes tragen zur Erinnerung bei. Häufig sind es synästhetische Erinnerungen, die mehrere Sinne einschließen. Manche sind kollektiv geteilte Erinnerungen, andere sind höchst individuell. Einige Erinnerungen sind primär an mentale Bilder, andere an Klänge, wieder andere an Bewegungen gebunden.
Mimesis und mimetisches Lernen Die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes werden zu einem wesentlichen Teil in mimetischen Prozessen gelernt. Dies geschieht vor allem dann, wenn Menschen an solchen Praktiken teilnehmen und das zu deren Inszenierung und Aufführung erforderliche Wissen mimetisch lernen. Mimetische Prozesse sind Prozesse kreativer Nachahmung, die sich auf Modelle und Vorbilder beziehen. In diesen Arrangements erfolgt eine Anähnlichung an Vorbilder und Modelle. Diese Angleichung ist von Mensch zu Mensch verschieden, hängt sie doch davon ab, wie sich Menschen zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst
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verhalten. In mimetischen Prozessen nimmt man gleichsam einen „Abdruck" von der sozialen Welt und macht diese dadurch zu einem Teil von sich selbst. In solchen Prozessen wird das immaterielle kulturelle Erbe an die nachwachsende Generation weitergegeben und dabei von dieser nach ihren Bedürfnissen gestaltet (Gebauer/Wulf 1992, 1998,2003). Die Bedeutung mimetischer Prozesse fur die Weitergabe von Praktiken immateriellen kulturellen Erbes einschließlich pädagogischer Praktiken kann kaum überschätzt werden. Mimetische Prozesse sind sinnlich; sie sind an den Körper gebunden, beziehen sich auf das menschliche Verhalten und vollziehen sich häufig unbewusst. In ihnen inkorporieren Menschen Bilder und Schemata der Praktiken immateriellen kulturellen Erbes und machen sie zu Elementen ihrer inneren Bilder- und Vorstellungswelt. Mimetische Prozesse überführen die Welt des immateriellen kulturellen Erbes in die innere Welt der Menschen. Sie tragen dazu bei, diese innere Welt anzureichern und zu erweitern. In mimetischen Prozessen wird praktisches Wissen als ein wichtiger Bestandteil immateriellen kulturellen Erbes erworben. Dieses Wissen entwickelt sich vor allem im Zusammenhang mit den Inszenierungen und Aufführungen des Körpers und spielt eine besondere Rolle dabei, die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes zu erhalten und zu modifizieren. Als praktisches Wissen ist dieses Wissen Ergebnis der mimetischen Verarbeitung eines performativen Verhaltens, das selbst Ergebnis eines körperbasierten Know-how ist. Da praktisches Wissen, Mimesis und Performativität wechselseitig verschränkt sind, spielt auch die Wiederholung bei der Weitergabe immateriellen kulturellen Wissens eine große Rolle. Kulturelle Kompetenz entwickelt sich in den Fällen, in denen ein kulturelles Verhalten wiederholt und in der Wiederholung verändert wird. Ohne Wiederholung, ohne mimetischen Bezug zu Gegenwärtigem oder Vergangenem entsteht keine kulturelle Kompetenz.
Andersheit und Alterität Wenn sich in den Praktiken immateriellen kulturellen Erbes kulturelle Identität konstituiert und verdichtet, dann sind diese Praktiken auch dazu geeignet, dass Menschen an ihnen Erfahrungen von Andersartigkeit und Alterität machen. In einer Zeit, in der angesichts der Globalisierung die Bedeutung des Umgangs mit kultureller Vielfalt wächst, bedarf es der Förderung eines Interesses für den Anderen und seine Alterität. Um die Reduktion kultureller Diversität auf Gleiches zu vermeiden, ist eine Sensibilisierung für kulturelle Heterogenität erforderlich. Nur dadurch, dass ein Interesse und ein Sinn für Alterität entwickelt wird, kann den Zwängen des uniformierenden Globalisierungsprozesses Widerstand entgegengebracht werden. Die Zeugnisse und die alltäglichen Praktiken immateriellen kulturellen Erbes spielen dabei eine wichtige Rolle (Wulf 2006; Wulf/Merkel 2002).
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Selbst, wenn es einige Zeit lang so aussah, als ließen sich Andersheit und Alterität auflösen, so zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre, dass dies nicht möglich ist. Der Versuch, durch die Ausweitung und Intensivierung von Prozessen des Verstehens des Anderen habhaft zu werden, hat nicht die erwarteten Ergebnisse erbracht. Stattdessen machen immer mehr Menschen die Erfahrung, dass inmitten der vertrauten Alltagswelt plötzlich Dinge, Situationen und Menschen fremd und unbekannt werden. Lange für bekannt gehaltene Zusammenhänge erscheinen dann verändert und unsicher. Vertraute Normen des Lebens werden in Frage gestellt und verlieren ihre Gültigkeit. Die Geste des Sich-die-Welt-vertraut-Machens hat nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt. Mit der Zunahme des Wissens wächst das Nicht-Wissen. Je mehr wir wissen, desto größer wird die Komplexität der Welt, der sozialen Zusammenhänge und des eigenen Lebens (Morin 1994). Drei Strategien der Reduktion von Alterität lassen sich identifizieren, die mit dem in der europäischen Kultur ausgeprägten Egozentrismus, Logozentrismus und Ethnozentrismus verbunden sind und die im Prozess der Globalisierung eine wichtige Rolle spielen (Waldenfels 1990). Egozentrismus: Elias, Foucault und Beck haben im Detail die Prozesse beschrieben, die bei der Konstitution des modernen Subjekts und bei der Entstehung des Egozentrismus eine Rolle spielen (Elias 1976; Foucault 1977, Beck u.a. 1995). Technologien des Selbst sind an der Entwicklung der Subjekte beteiligt. Viele dieser Strategien sind an die Vorstellung eines sich selbst genügenden Selbst gebunden, das als Zentrum des Handelns sein eigenes Leben fuhren soll und seine eigene Biographie entwickeln muss. Oft fuhren diese Ansprüche zu ungewollten Nebenwirkungen, überfordern und enttäuschen die Hoffnungen der Menschen auf autonomes Handeln. Einerseits gewinnt das moderne Subjekt aus seinem Egozentrismus Kräfte des Überlebens, der Durchsetzung und der Anpassung, andererseits fuhren diese dazu, Differenzen nicht wahrzunehmen und kulturelle Vielfalt zu reduzieren. Der Versuch des Subjekts, den Anderen auf seine Nützlichkeit, Funktionalität und Verfügbarkeit zu reduzieren, ist einerseits erfolgreich und schlägt andererseits immer wieder fehl. Diese Einsicht eröffnet neue Perspektiven für den Umgang mit Alterität als einem wichtigen Feld des Wissens und der Forschung. Logozentrismus: Infolge des entwickelten Logozentrismus nehmen wir den Anderen mit den Kriterien europäischer Rationalität wahr. Wir akzeptieren in erster Linie, was sich nach den Gesetzen der Vernunft verhält; Anderes wird ausgeschlossen. Wer auf Seiten der Vernunft steht, hat notwendigerweise Recht, selbst, wenn es sich um eine reduzierte Vernunft handelt. So haben Eltern Recht gegenüber ihren Kindern, zivilisierte Menschen gegenüber den „Primitiven", Gesunde gegenüber den Kranken. Wer Vernunft besitzt, ist denen überlegen, die weniger konsistente Formen vernünftigen Handelns entwickelt haben. Je mehr die Sprache oder Vernunft eines Menschen von der allgemeinen Norm abweicht, desto schwieriger ist es, sich diesem Menschen zu nähern
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und ihn zu verstehen. Nietzsche, Freud, Adorno und andere haben diese Selbstgenügsamkeit der Vernunft kritisiert und darauf hingewiesen, dass das menschliche Leben der Vernunft nur in begrenztem Maße zugänglich ist. Ethnozentrismus: Im Verlauf der Geschichte hat der Ethnozentrismus viele Formen der Andersheit und Alterität nachhaltig zerstört. Todorov (1985), Greenblatt (1994) und andere haben die Prozesse analysiert, die zur Zerstörung fremder, d. h. vor allem der mittel- und südamerikanischen Kulturen geführt haben. Die Eroberung Mittel- und Südamerikas führte dazu, die dortigen Kulturen zu unterwerfen bzw. auszurotten. An die Stelle der Werte, Vorstellungen und Glaubensformen der Eingeborenen wurden die Werte und Formen der europäischen Kultur gesetzt. Alles Fremde, Andersartige wurde vernichtet. Die indigenen Völker konnten die Skrupellosigkeit der Spanier nicht begreifen. Sie machten die für sie neue Erfahrung, dass Freundlichkeit nicht das war, was sie zu sein schien; Versprechen wurden nicht gegeben, um sie zu halten, sondern um die Indios in die Irre zu fuhren und zu täuschen. Jede Handlung diente anderen Zwecken, als es zunächst schien. Die Interessen der Krone, der christlichen Mission und die behauptete Minderwertigkeit der Eingeborenen legitimierten das koloniale Verhalten. Ökonomische Motive kamen hinzu und führten zur Zerstörung dieser Formen der Weltsicht. Egozentrismus, Logozentrismus und Ethnozentrismus sind miteinander verschränkt; als Strategien der Umformung des Anderen verstärken sie einander. Ihr gemeinsames Ziel besteht darin, Alterität auszuschalten und an ihre Stelle Vertrautes zu setzen. Besonders tragisch ist diese Situation in den Fällen, in denen sie zur Auslöschung lokaler und regionaler Kulturen führt. Um Menschen für die Bedeutung des immateriellen kulturellen Erbes und der kulturellen Vielfalt zu sensibilisieren, bedürfen sie der Erfahrung der Alterität. Nur mit Hilfe dieser Erfahrung sind sie in der Lage, mit Fremdheit und Differenz umzugehen und ein Interesse an dem Nicht-Identischen zu entwickeln. Dem entspricht auch die Tatsache, dass Menschen keine in sich geschlossenen einheitlichen Entitäten darstellen, sondern aus vielen, ζ. T. widersprüchlichen Teilen bestehen. Rimbaud hat für diese Bedingung des Menschen den schönen Ausdruck gefunden: „Ich ist ein Anderer". Auch Freuds Erfahrung, dass das Ich nicht Herr in seinem Hause ist, weist in diese Richtung. Die Integration der aus dem Selbstbild ausgeschlossenen Teile der Subjekte ist eine Voraussetzung dafür, dass Andersartigkeit außen respektiert werden kann. Nur wenn Menschen ihre eigene Alterität wahrnehmen können, sind sie in der Lage, sensibel mit der Andersartigkeit anderer Menschen umzugehen und ein heterologisches Denken zu entwickeln.
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Kulturelle Vielfalt Interkulturelles/Transkulturelles Lernen
Um Menschen fur den Wert kultureller Vielfalt und fur die Bedeutung des Schutzes und der Förderung immateriellen kulturellen Erbes zu gewinnen, bedarf es mehr als jemals zuvor der Berücksichtigung interkultureller und transkultureller Perspektiven. Um diese zu entwickeln, kommt den Praktiken immateriellen kulturellen Erbes eine ebenso große Bedeutung zu wie den Objekten des materiellen kulturellen Welterbes. Beide sind Träger kultureller Identität und erlauben die Erfahrung von Alterität, die fur viele Menschen von großer Bedeutung ist, die nicht mehr nur einer Kultur, sondern mehreren kulturellen Traditionen angehören. Die Auseinandersetzung mit kultureller Vielfalt zielt im Rahmen interkultureller Lernprozesse darauf ab, die Menschen dabei zu unterstützen, mit den kulturellen Unterschieden in ihrer eigenen Person, in ihrem Umfeld und in der Begegnung mit anderen Menschen zurechtzukommen. Da Identität nicht ohne Alterität gedacht werden kann, beinhaltet interkulturelles Lernen eine relationale Verbindung zwischen irreduziblen Subjekten und zahlreichen Formen kultureller Hybridität, die im Zusammenhang mit der Globalisierung immer stärkere Verbreitung finden (Wulf 1995, 1998; 2006; Wulf/Merkel 2002). Wenn die Frage nach dem Verständnis anderer Menschen auf die Frage nach dem Selbstverständnis und die Frage nach dem Selbstverständnis auf das Verständnis anderer Menschen verweist, dann sind Prozesse interkulturellen Lernens Prozesse der Selbstbildung, in denen mit dem heterologischen Denken auch die Einsicht in die prinzipielle Unverstehbarkeit des Anderen gewonnen wird. Angesichts der Entzauberung der Welt und der Gefährdung kultureller Vielfalt infolge der Globalisierung entsteht die Gefahr, dass in der Zukunft die Menschen nur noch sich selbst begegnen und dieser Mangel an Fremdheit zur Reduktion der Welt- und Selbsterfahrung fuhrt. Wenn der Verlust kultureller Vielfalt eine Bedrohung der conditio humana darstellt, so sind der Schutz und die Förderung kultureller Differenz eine unerlässliche Aufgabe der Erziehung. Bildung ist heute mehr denn je eine interkulturelle Aufgabe, in deren Rahmen der Umgang mit fremden Kulturen, mit der Alterität der eigenen Kultur und dem Anderen im Subjekt von zentraler Bedeutung ist.
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Traugott Schöfthaler
PLÄDOYER FÜR EINE REKONSTRUKTION UNSERES VERSTÄNDNISSES VON KULTUR UND KULTURELLEN IDENTITÄTEN
„Dialog zwischen den Kulturen" hat seit Jahrzehnten Konjunktur, seit dem 11. September 2001 mit steigender Tendenz und geographischem Schwerpunkt in der Europa und die arabische Welt umfassenden euro-mediterranen Region. Mehrere Generationen von Dialog-Experten waren hieran schon beteiligt. Sie verbindet, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Schwäche: In der Regel wurde das Konzept eines „Dialogs zwischen den Kulturen" begrenzt auf einen Dialog zwischen Nationen, Religionen, ethnischen oder Sprachgemeinschaften. Auf diese Weise und gegen beste Absichten haben die meisten Dialogaktivitäten daher einen „Kampf der Kulturen" plausibler gemacht, in dem Kultur zur ideologischen Waffe wird. Samuel Huntingtons Schema folgend, lässt sich eine Konfrontation entlang kultureller Grenzen global inszenieren. Für den globalen Terrorismus und leider auch einige Konzepte zu dessen Bekämpfung liefern kulturelle Unterschiede ebenso begehrte wie unerlässliche Munition. Der Schock des 11. September und seine Folgen dürfen jedoch nicht den Blick auf die „Vielzahl lokaler und regionaler Spannungen im Streit über knappe Ressourcen" verstellen, die, so der ehemalige UNO-Generalsekretär Javier Perez de Cuellar, lange durch die Konfrontation der Blöcke im Kalten Krieg verdeckt waren. Sie „drängten Menschen in das Korsett von Gruppenidentitäten, aus denen sich eine Welle neuer, wenn auch geographisch begrenzter Konfrontationen zwischen ethnischen, religiösen oder nationalen Gemeinschaften speiste" (so im Vorwort des Präsidenten zum Bericht der Weltkommission über Kultur und Entwicklung, Paris: UNESCO 1995). Es sind die alltägliche „Logik der Ausgrenzung" und der „Narzissmus der kleinen Unterschiede", die, so Perez de Cuellar, „Frieden und Sicherheit bedrohen und die Menschenwürde verletzen". Der libanesischfranzösische Schriftsteller Amin Maalouf präsentiert „mörderische Identitäten" (dt.: Frankfurt/M. 2000) in seiner Analyse zahlreicher Konflikte in der Mittelmeer-Region. Der Mechanismus, mit dem Trennlinien zwischen Menschen gezogen werden, folgt in der Regel einem einfachen Schema: Kollektive Identitäten werden, meist anhand eines einzigen Merkmals, definiert und dem Einzelnen aufgezwungen. Es ist das Gegenkonzept zu den Menschenrechten und ihren Grundwerten wie Gleichheit und Nichtdiskriminierung. Theodor W.
Kultur und kulturelle Identitäten
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Adorno und Max Horkheimer haben mit ihren kurz nach 1945 veröffentlichten Studien über „Die autoritäre Persönlichkeit" eine erste Analyse des Kults von Macht und Gewalt im Nazi-Deutschland vorgelegt, die sich auf psychologische Konzepte wie Ego- und Ethnozentrismus stützt. Javier Perez de Cuellar und Amin Maalouf kommen zu ähnlichen Schlussfolgerungen: Sie raten dringend von der Verwendung so populärer, jedoch zu schematischer Konzepte wie der Unterscheidung von „wir" und „die" in Kulturarbeit und Kulturpolitik ab. Sie wenden sich sogar gegen den weiteren Gebrauch des Konzepts des generalisierten „Anderen", einem Klassiker der interkulturellen Bildung, da dies den Weg bereite fur das Auferlegen kollektiver Identitäten auf den Einzelnen. Im Ergebnis gibt es keine Alternative zum Vorschlag, den Umgang mit kultureller Vielfalt auf die Grundlage der in den Menschenrechten verankerten universellen Werte zu stellen. Die „Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt", von der UNESCOGeneralkonferenz angenommen im November 2001, ist die erste internationale Vereinbarung zur Anerkennung der Bedeutung von Mehrfachidentitäten und überlappenden kulturellen Zugehörigkeiten des Individuums und sozialer Gruppen. Artikel 2 stellt fest: „In unseren zunehmend vielfältigen Gesellschaften ist es unerlässlich, harmonische Interaktion zwischen Menschen und Gruppen mit ihren mehrfachen, jeweils unterschiedlich konfigurierten und dynamischen kulturellen Identitäten sowie ihre Bereitschaft zum Zusammenleben sicherzustellen. Eine auf Integration und Partizipation aller Bürger gerichtete Politik ist die beste Garantie für den Zusammenhalt des Gemeinwesens, für Vitalität der Zivilgesellschaft und für Frieden. Ein so verstandener kultureller Pluralismus gibt der Existenz von kultureller Vielfalt politisch Gestalt." Dialog zwischen den Kulturen ist wesentlich Dialog zwischen Menschen, nicht zwischen anonymen kulturellen Entitäten. Es gilt daher, heutigen und künftigen Generationen die Werkzeuge für Dialog zu geben. In der euro-mediterranen Region sollten alle Menschen Gelegenheit erhalten, mindestens eine, vorzugsweise mehr Fremdsprachen zu erlernen und Wissen zu erwerben über alle religiösen und kulturellen Traditionen, die diese Region als Begegnungsraum für mehrere Zivilisationen gestaltet haben. Die Anna Lindh-Stiftung, deren Programm diese Grundsätze entnommen sind, orientiert sich an vier projektübergreifenden strategischen Zielen: 1. Dialog zwischen Kulturen und Zivilisationen muss über verbale Kommunikation hinausgehen und Zusammenarbeit anstreben. Dialog, verstanden als Dialog zwischen Menschen, muss der Darstellung mehrfacher, überlappender und dynamischer kultureller Identitäten Raum geben. Das Programm ist daher dem Ziel der Verwirklichung der Menschenrechte verpflichtet. 2. „Zusammenleben Lernen" gehört zu den neuen Bildungszielen, die die Weltkommission über „Bildung im 21. Jahrhundert" unter Vorsitz des früheren Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors vor zehn
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Jahren vorgeschlagen hat. Bildungssysteme müssen sich wandeln zu anregungsreichen Lernmilieus, die Lehrerrolle von der Unterrichtung hin zur Organisation von Lernprozessen, Schulen zu Lernzentren, in denen Toleranz täglich geübt wird durch Wahrnehmung und Achtung unterschiedlicher Meinungen. Multi-Perspektivität, das geistige Werkzeug zum Perspektivenwechsel, ist daher Kernelement von Bildungsqualität. 3. Wertevermittlung durch Orientierungshilfen. Werte können, so der DelorsBericht, „nicht wirklich unterrichtet werden: Das Verlangen, vorgefertigte Werte anderen aufzuerlegen, ist in letzter Konsequenz Negierung eben dieser Werte." 4. Die Strategie der Stiftung gründet sich auf den erst in den letzten Jahren gefundenen internationalen Konsens über den Wert kultureller Vielfalt für die Menschheit, der vergleichbar ist mit der Bedeutung von Artenvielfalt für die Erhaltung der natürlichen Umwelt. Achtung von Vielfalt und Pluralismus sind Grundlagen des sozialen Zusammenhalts. Ein Charakteristikum der Stiftung ist die Formel „2+2". Alle Projekte der Stiftung müssen jeweils zumindest zwei Partner aus verschiedenen Ländern des Nordens (EU-Länder) und des Südens der euro-mediterranen Region beteiligen. Die junge Generation (Altersgruppe 14-40) ist Zielgruppe, in allen Aktivitäten werden Synergien mit Partnern und die Erzielung von Mehrwert gegenüber bestehenden Projekten angestrebt. Die Stiftung lädt daher erfolgreiche bilaterale Projekte ein, dritte und vierte Partner zu beteiligen. Auf diese Weise will die Stiftung zur Verknüpfung der zumeist nicht aufeinander bezogenen Welten der bilateralen und multilateralen Zusammenarbeit beitragen. Die Stiftung zielt auch auf Vernetzung zivilgesellschaftlicher Projekte in der Region in ihrem Programmbereich - Jugend, Kultur, Bildung, Kommunikation, Wissenschaft, Menschenrechte, nachhaltige Entwicklung. Die Stiftung lädt junge Menschen aus den 35 Ländern der euro-mediterranen Partnerschaft ein, gemeinsam zu lernen und zusammenzuarbeiten. Traditionelle Formen des Kulturdialogs würden sie kaum interessieren. Zusammenarbeit schafft Vertrauen, weit mehr als Worte dies können. „Kulturelle Vielfalt" als Bildungsthema wurde der Stiftung als Priorität empfohlen von einer hochrangigen Expertengruppe zur Stärkung der sozialen und menschlichen Partnerschaft in der euro-mediterranen Region, die der frühere Präsident der Europäischen Kommission Romano Prodi berufen hatte („Prodi Gruppe des Sages", Dezember 2003). Der Mangel an mehr als nur oberflächlichen Kenntnissen über kulturelle Unterschiede ist offensichtlich. Der Ausbruch von Massenprotesten im Januar und Februar 2006 in den arabischen Ländern gegen den dort weithin empfundenen Mangel an Respekt der Europäer gegenüber islamischen Werten - die sog. Karikaturenkrise - ist Indiz einer tiefen Krise der kulturellen Beziehungen. In den arabisch-islamischen Ländern wurzelt diese Krise in einer Vielzahl akkumulierter Frustrationen und
Kultur und kulturelle Identitäten
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Diskriminierungserfahrungen, die ein ressentimentgeladenes Klima geschaffen haben, in dem schon Gerüchte tödliche Wirkung haben können - mit Konfrontationen entlang „mörderischer Identitäten". Ein solches Klima lässt sich nicht durch Wissensvermittlung allein ändern. Wenn Lernen über kulturelle Vielfalt etwas ändern soll, gilt es, unser Verständnis von Kultur zu rekonstruieren. Die in den letzten Jahrzehnten entwickelten Traditionen von Kulturdialog haben die Gemeinsamkeiten verschiedener Kulturen und Religionen in den Mittelpunkt gestellt. Solche Dialogformen müssen an der Aufgabe scheitern, zur Lösung der aktuellen Kulturkrise beizutragen. Diese Krise benötigt den Dialog über Unterschiede und Vielfalt, gegründet auf die universellen Werte der Gleichheit und Nichtdiskriminierung. Hilfreich ist hier die neuere Sprachregelung, die in den Vereinten Nationen gefunden wurde: Allen Kulturen kann gleiche Würde zugestanden werden - unter der einzigen Bedingung, dass dies nicht missbraucht wird als Vorwand zur Rechtfertigung von Menschenrechtsverletzungen. Auf beiden Seiten sind Stereotypen weit verbreitet. Europäer sehen Araber und Muslime als potentielle Terroristen oder zumindest Sympathisanten; umgekehrt ist das Europabild der meisten Menschen in der arabischen Region erstaunlich dunkel; die Behauptung, Europa habe keine moralischen Werte und ethischen Orientierungen mehr, gehört zum Standard. Ernsthafte Bemühungen um Dialog über Vielfalt sowohl zwischen den verschiedenen Ländern als auch innerhalb jedes einzelnen Landes sind dringlich. Die Neuorientierung des Kulturdialogs und die Entwicklung neuer Formen des Lernens über kulturelle Vielfalt benötigt eine Rekonstruktion unseres Verständnisses von Kultur. Es geht um die Frage, wie die in unserem Kulturverständnis aus dem Lot geratenen Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner kulturellen Umgebung ins Gleichgewicht gebracht werden können. Entscheidungen jedes Einzelnen zur Übernahme, Ablehnung oder Anpassung überlieferter kultureller Ausdrucksformen müssen das gleiche Gewicht haben wie die generalisierte, kollektive Dimension von Kultur. Den Rahmen fur eine solche kognitive wie moralische Rekonstruktion von Kultur hat der Perez de Cuellar-Bericht schon mit seinem wunderbaren Titel „Unsere kreative Vielfalt" gesteckt - Kultur als vielfaltige Tradition ebenso wie als Raum für Kreativität jedes Einzelnen. Ebenso wichtig wie die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen dem Menschen und seiner kulturellen Umgebung ist eine weitere: Kulturelle Vielfalt darf nicht reduziert werden auf Unterschiede zwischen Ländern, sondern muss Kompass der Wahrnehmung sozialer und kultureller Beziehungen innerhalb jedes Landes sein. Ein solches Gleichgewicht lässt sich nur dann herstellen, wenn jeder Mensch anerkannt wird als Träger kultureller Vielfalt, mit seinen mehrfachen, dynamischen und überlappenden kulturellen Identitäten und Zugehörigkeiten, wie sie im fortdauernden Prozess von Assimilation und Adaptation, von Anpassung und aktiver Umformung entstehen.
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Traugott Schöfthaler
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eine gemeinsame Sprache zur Kommunikation universeller Werte geschaffen, die ohne jeden Rückgriff auf eine einzelne kulturelle oder religiöse Tradition auskommt. Was wir jetzt brauchen, ist eine gemeinsame Sprache zum Reden über kulturelle Unterschiede, die Verständnis und Respekt ermöglicht, ohne den universellen Werten Abbruch zu tun. Einige Elemente einer solchen gemeinsamen Sprache sind in den letzten Jahren schon erarbeitet worden, insbesondere im Diskurs zur kulturellen Vielfalt. Weit mehr ist noch zu tun.
Danksagung Die Herausgeber möchten Herrn Dr. Roland Bernecker, dem Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission, dem Auswärtigen Amt und Herrn Dr. Traugott Schöfthaler, dem Direktor der Anna-Lindh-Stiftung in Alexandria, sehr herzlich für die Unterstützung dieser ersten Tagung des Netzwerks „Philosophie und Anthropologie des Mittelmeerraums" danken. Dankbar sind wir auch Herrn Dr. Jan Henningsson, dem Direktor des Schwedischen Instituts in Alexandria, dessen Gastfreundschaft wir während der Tagung genießen durften, sowie Herrn Gregory Kehailia und seinem Team von der Anna-Lindh-Stiftung, die unseren Aufenthalt in Alexandria mit soviel Sorgfalt und Engagement organisiert haben. Sehr herzlich möchten wir den zahlreichen Übersetzerinnen und Übersetzern danken, die die Beiträge aus fünf europäischen und sieben islamisch geprägten Ländern aus fünf Sprachen ins Deutsche übersetzt haben. Besonderen Dank jedoch schulden wir Herrn Dr. Michael Sonntag fur die zum Teil sehr schwierige redaktionelle Bearbeitung der Manuskripte.
Christoph Wulf, Jacques Poulain, Fathi Triki
AUTORINNEN UND AUTOREN
Mona Abousenna, Professorin an der Ain Shams Universität in Kairo, Ägypten; Generalsekretärin der Afro-Asiatic Philosophy Association und der International Ibn Rushd and Enlightenment Association. Sadik J. al-Azm, Professor emiritus für europäische Philosophie an der Universität Damaskus, Syrien und für Philosophie und Soziologie an der Universität Beirut, Libanon. Benmeziane Bencherki, Professor für Philosophie an der Universität Oran, Algerien. Frangois de Bernard, Präsident der GERM (Groupe d'etudes et de recherches sur les mondialisations, www.mondialisations.org) seit ihrer Gründung 1999, lehrt am Institut für Philosophie und am Institut für europäische Studien an der Universität Paris 8 Saint-Denis. Roland Bernecker, Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission, Bonn. Christina von Braun, Kulturtheoretikerin, Autorin und Filmemacherin. Seit 1994 Professorin für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mehrez Hamdi, Professor für Philosophie an der Universität Zeitouna in Tunis, Tunesien. Abd al-Karim al-Barghuti, Professor für Philosophie an der Birzeit Universität, Palästina. Mustapha Laarissa, Professor für Philosophie an der Universität Cadi Ayyad in Marrakech, Marokko. Reyes Mate, Gründungsmitglied des Instituts für Philosophie in Madrid, dem er 1990-1998 als Direktor vorstand. Mitglied des Conseil Scientifique du College International de Philosophie in Paris.
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Autorinnen und Autoren
Angelika Neuwirth, Professorin für Arabistik und Semitistik an der Freien Universität Berlin. Direktorin am Orient-Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Beirut und Istanbul 1994-1999. Elfte Poulain, Professorin für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Charles de Gaulle Lille 3, Frankreich. Jacques Poulain, Leiter des Philosophischen Instituts der Universität Paris VIII Saint-Denis; Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie der Kulturen und Institutionen in Europa. Thomas Scheffler, Freie Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients. Zurzeit Vertretungsprofessor am Carsten-Niebuhr-Institut, Kopenhagen. Traugott Schöfthaler, Direktor der Anna Lindh Euro-Mediterranean Foundation for the Dialogue between Cultures, Alexandria, Ägypten. Mitbegründer (mit Fatma Tarhouni, Tunesien) der Euro-Arab Task Force of National Commissions for UNESCO „Learning to Live Together", 2001. Antoine Seif, Professor für Philosophie an der Universite Libanaise, Libanon. Fathi Triki, Professor für Philosophie an der Universität Tunis, Tunesien; Inhaber eines UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie. Rachida Triki, Professorin fur Philosophie an der Universität Tunis, Tunesien. Teresa Velazquez, Professorin am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaften der Universidad Autonoma in Barcelona, Spanien. Mourad Wahba, Professor emeritus fur Philosophie an der Universität Ain Shams in Kairo, Ägypten; Präsident der Averroes and Enlightenment International Association sowie der Afro-Asian Philosophy Association. Christoph Wulf, Professor für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft und Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie an der Freien Universität Berlin.