Gewalt und Ästhetik: Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik 9783110202854, 9783110184327

In modern art, central importance is accorded to the diverse experiences of physical and mental violence. The resultant

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German Pages 322 [324] Year 2006

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Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Die Tyrannis als Wunsch- und Schreckbild
Gewalt als präsente und als diskursive Obsession in der griechischen Klassik
Blutvergießen am Altar: Zur Ritualisierung der Gewalt im griechischen Opferkult
Distanz und Nähe: Zur Darstellung von Gewalt in der griechischen Tragödie
Körper und Geist in tragischen Schmerz-Szenen
Der Ort der Gewalt: Was sehen wir auf der Bühne?
Zur ästhetischen Funktion von Gewalt-Darstellung in der Griechischen Tragödie
Gewalt der Darstellung: Zur Inszenierung antiker Tragödien im (post)modernen Theater
Gefährliche Bilder? Gewalt und Leidenschaft in der archaischen und klassischen Kunst
Als die Gewaltbilder zu ihrem Wirkungspotential fanden
Backmatter
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Gewalt und Ästhetik: Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik
 9783110202854, 9783110184327

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Gewalt und Ästhetik

Gewalt und Ästhetik Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik Herausgegeben von Bernd Seidensticker und Martin Vöhler

Dieses Buch entstand im Rahmen der Arbeiten des Sonderforschungsbereichs 626 der Freien Universität Berlin „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“. Gedruckt wurde es mit der freundlichen Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Sonderforschungsbereich 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste Freie Universität Berlin

◯ ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN-13: 978-3-11-018432-7 ISBN-10: 3-11-018432-X Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Satzherstellung: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Vorwort Nicht Gewalt, sondern Demokratie und Aufklärung, Literatur, bildende Kunst und Architektur, Philosophie und Wissenschaft prägen die moderne Vorstellung von der griechischen Klassik. Es ist vor allem die Goethezeit, die dieses einseitige Bild entworfen und durchgesetzt hat: Von Schiller, Humboldt, Schlegel und vielen anderen wird die Antike der Moderne als Korrektiv gegenübergestellt. In ihrer ‚edlen Einfalt‘ und ‚stillen Größe‘ bilden die Griechen einen starken Kontrast zur Zerrissenheit der Moderne. Im Rahmen dieser Konzeption werden die Griechen der Sphäre von Macht und Gewalt gänzlich enthoben. Trotz polemischer Kritik – etwa bei Nietzsche und in der ‚Wiener Moderne‘ – hat dieses Griechenbild eine erstaunliche Resistenz bewahrt und seine suggestive Kraft nicht einmal im 20. Jahrhundert völlig verloren, als dem Thema Gewalt und seiner Geschichte vor dem Hintergrund unerhörter Gewalterfahrungen eine besondere Aufmerksamkeit zukam. Dabei war das 5. Jahrhundert, in welchem Athen so strahlend hervortrat, daß es schon im darauffolgenden Jahrhundert als politisches und kulturelles Ideal empfunden und stilisiert wurde, auch und nicht zuletzt ein Jahrhundert der Gewalt. An seinem Anfang stehen die existenzbedrohenden Kriege der Griechen gegen die Perser; am Ende erlischt der Glanz der athenischen Macht im dreißigjährigen Krieg mit Sparta und seinen Bundesgenossen, einem Krieg, der in zunehmender Verrohung und Brutalisierung immer neue Exzesse von Gewalt gebiert. Aber auch zwischen den beiden ‚Weltkriegen‘ gegen die barbarischen Fremden aus dem Osten und gegen die griechischen Brüder gab es selten Frieden. Die aggressive, imperialistische Politik Athens führte zu immer neuen Kämpfen. Nur wenige der 100 Jahre des 5. Jahrhunderts waren ohne Krieg, und auch die Auseinandersetzungen im Inneren verliefen keineswegs gewaltfrei. Am Anfang der Demokratie steht die Vertreibung der Tyrannen, und es ist bezeichnend, daß nicht Kleisthenes oder seine Phylenheroen, sondern die Statuengruppe der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton mit ihren gezückten Schwertern zur Ikone der Demokratie wird – Symbol legitimer Gewalt, aber eben auch eindrückliches Bild physischer Gewalt.

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Vorwort

Im Kampf um die Macht innerhalb der Demokratie drohte denn auch stets der Einsatz von Gewalt. Daran erinnern bereits die erbitterten Auseinandersetzungen um die Areopagreform, die Aischylos in der Orestie mit seiner Analyse des Wegs von der Vergeltungsgerechtigkeit der aristokratischen Familien zur Gerichtsbarkeit der demokratischen Polis reflektiert hat. Die Bitte, die Athene am Ende der Eumeniden an die Erinyen richtet: Laß unter meinen Bürgern den Bürgerkrieg nicht seßhaft werden, der innerhalb eines Volks den einen gegen den andern hetzt hat sich trotz aller Schutzmaßnahmen und Regelungen der athenischen Demokratie nie völlig erfüllt. Vor allem in Krisenzeiten – wie am Ende des Peloponnesischen Kriegs – kam es immer wieder zu Stasis und blutiger Gewalt. Darüber hinaus gab es wie in jeder menschlichen Gesellschaft auch im Athen des 5. Jahrhunderts alle Arten von intrafamiliärer Gewalt (von Schlägen bis zur Kindstötung) und struktureller Gewalt (etwa in den Machtverhältnissen von Mann – Frau, Vater – Sohn, Herr – Sklave, aber auch Gott – Mensch). Von Kampfsport und Jagd, Schlachtopfer und anderen Ritualen vieler Feste und Kulte waren mehr oder minder stark ritualisierte Formen legitimer Gewalt jedem Athener vertraut. Angesichts der Omnipräsenz politischer, militärischer, gesellschaftlicher und kultischer Gewalt verwundert es nicht, daß Macht und Gewalt auch in den Diskursen der Sophistik und in der Literatur und Kunst des 5. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit erfahren. Mythos und Tragödie schreckten mit jeder denkbaren Form physischer Gewalt. Satyrspiel und Komödie amüsierten ihre Zuschauer mit der handfesten Prügelgewalt, wie wir sie von Comics und Slapstick-Komödie kennen. Rhapsoden trugen bei offiziellen und privaten Festen und auf Marktplätzen die homerischen Epen vor, in denen sich der Glanz heroischer Leistungen und Heldenehre mit brutaler Gewalt mischen, wie beim Rachesturmlauf Achills oder bei der Bestrafung der Schuldigen am Ende der Odyssee. Bildende Künstler integrierten mythische Gewaltszenen und Krieg in die Bildprogramme, mit denen sie Tempel, wie den Parthenon, und andere Gebäude schmückten, und verzierten das Trinkgeschirr für die Symposien mit Darstellungen mythischer Gewalt. Es ist dieser Bereich innerhalb des weiten Spektrums von Gewalt im 5. Jahrhundert, dem sich die folgenden Beiträge widmen. Sie konzentrieren sich auf das Verhältnis von Gewalt und Ästhetik und behandeln somit nur einen Aspekt des großen Themas: Es geht nicht um die Sammlung und

Vorwort

VII

Differenzierung verschiedener Formen von Gewalt oder um die Bestimmung der gesellschaftlichen Orte, an denen sie erscheint. Und es geht auch nicht um die Funktionen, die die Gewalt in den politischen, sozialen, kultischen und kulturellen Kontexten der klassischen Polis erfüllt, um die Bewertung, die sie in den politischen und philosophischen Diskursen der Zeit erfährt, oder um die Intentionen ihrer Darstellung in Literatur und Kunst. Im Zentrum steht vielmehr – nach einem historischen Auftakt – der Vorgang der Ästhetisierung: Wie wird Gewalt im Medium der Künste dargestellt? Lassen sich spezifische Formen und Techniken ihrer Darstellung bestimmen? Den gemeinsamen Ausgangspunkt der Beiträge bildet eine Besonderheit, die die Gewaltdarstellungen im 5. Jahrhundert auszeichnet: Tragödie und bildende Kunst verzichten beide auf die direkte Präsentation physisch zerstörerischer Gewalt. Der besondere Reiz lag und liegt offenbar in dem komplexen, immer neu zu bestimmenden Verhältnis von Distanz und Nähe und in den Techniken, mit denen Dichter und bildende Künstler das Furchtbare darstellen. Gerade indem sie den Akt des Vollzugs ausblenden, gelingt es ihnen, die Gewalterfahrung ästhetisch und emotional besonders eindrücklich zu präsentieren. Die beiden ersten Beiträge gehen den historischen Voraussetzungen nach, indem sie nach der Bedeutung des Gewaltdiskurses im Kontext des 5. Jahrhunderts fragen: KAI TRAMPEDACH arbeitet die Ubiquität der Macht in den politischen, rhetorischen und symbolischen Diskursen vor allem Athens heraus. Zahlreiche Zeugnisse – wie die Geschichten von Gyges im Platonischen Staat oder der Melierdialog in den Historien des Thukydides – dokumentieren, daß das individuelle und kollektive Streben nach Macht im klassischen Griechenland als anthropologische Konstante betrachtet wurde und Gewaltherrschaft folglich nicht nur als attraktiv, sondern als unausweichlich galt. Dieser Grundkonsens habe die Gewaltbereitschaft in Krieg und Bürgerkrieg maßgeblich gefördert und im Rahmen der Polis sowohl der Legitimierung demokratischer Schutzmaßnahmen als auch deren Delegitimierung gedient. EGON FLAIG untersucht die strukturbildende Funktion der Gewalt im griechischen Kulturraum der klassischen Zeit, um zu zeigen, daß die Gewalt einen stets präsenten semantischen Faktor in der Ordnung des öffentlichen Raums der Poleis und ihrer Diskurse darstellt. Nach einem Blick auf

VIII

Vorwort

Peitsche und Gesetz als Mittel der Differenzierung zwischen Freien und Sklaven bzw. der Eingrenzung von Gewalt zwischen Freien, deutet er berühmte Stellen bei Homer, Heraklit und Pindar als Apotheose der Gewalt und behandelt dann die obsessive Furcht der Griechen vor Gewalt und Bürgerkrieg und ihre Gründe sowie – am Beispiel der Aischyleischen Hiketiden – die Opposition Bia (Gewalt) und Peitho (Überredung). Dem religionsgeschichtlichen Zusammenhang von Mythos, Kult und Gewalt wendet sich ALBERT HENRICHS zu. Er untersucht das Verhältnis von Tier- und Menschenopfer im Spannungsfeld von Religion und Gewalt und seine Bedeutung für die griechische Tragödie: Während das Blutvergießen beim Tieropfer den kultischen Normalfall darstellt, gehört das Menschenopfer in die imaginäre Welt des Mythos. In der Tragödie wird das Menschenopfer fast durchgängig in der Bildlichkeit des Tieropfers vorgestellt bzw. am Vorgang des Opferrituals orientiert. Es erscheint auf diese Weise als eine ungeheuerliche Steigerung und Perversion des Tieropfers (z. B. Iphigenie, Polyxena); gleichzeitig ermöglicht die metaphorische Verhüllung und Anlehnung an das vertraute Ritual aber auch eine gewisse Distanz zu dem Schrecklichen, das sich auf der Bühne ereignet. Den Untersuchungen zu den historischen und religionsgeschichtlichen Voraussetzungen folgen Studien zur Darstellung von Gewalt in der Literatur des 5. Jahrhunderts. In ihrem Zentrum steht die Tragödie, die sich durch eine besondere Nähe zur Gewalt auszeichnet: Sie transformiert die vielfältigen Formen physischer, psychischer und struktureller Gewalt im Medium der Kunst und bietet Modellstudien zu ihrer Genese und zerstörerischen Dynamik. BERND SEIDENSTICKER weist auf, daß das Spannungsverhältnis von Distanz und Nähe, das in vielen Theorien zum paradoxen Vergnügen an tragischen Gegenständen eine wichtige Rolle spielt, bereits von Aristoteles als konstitutiv für die Erfahrung der tragischen Lust erkannt worden ist. Der Beitrag faßt die Überlegungen der Poetik und der Rhetorik, aus denen sich dies erschließen läßt, systematisch zusammen und stellt ihnen eine literarische Analyse zur Seite, die spezifische Bauformen der Gewaltdarstellung unterscheidet und zeigt, daß die griechischen Tragiker auf die Konvention, zerstörerische physische Gewalt in die Distanz des hinterszenischen Raums zu verbannen, mit der Entwicklung von Techniken reagiert haben, mit denen sie dem Zuschauer das Distanzierte bedrängend nahe rücken können.

Vorwort

IX

FELIX BUDELMANN konzentriert seine Untersuchung auf die Darstellung von Schmerzen, die in der Tragödie – wie etwa die ausgeprägten Darstellungen in den Trachinierinnen und im Philoktet zeigen – ein ungleich größeres Gewicht als im Epos gewinnt. Unter Berücksichtigung der medizinischen Schmerz-Forschung bestimmt er zunächst den Schmerz als ein psychophysisches Phänomen, dessen körperliche Dimension durch ein breites Repertoire von Ausrufen, Klagelauten, Gesten und Bewegungen stilisiert dargestellt wird. In einem zweiten Teil widmet er sich den Deutungsmöglichkeiten und dem emotionalen Potential der Schmerz-Szenen. Die Stilisierung wird dabei als Strategie der ästhetischen Distanzierung und der Aktivierung des Vorstellungsvermögens verstanden. SIMON GOLDHILL analysiert – auf dem Hintergrund des modernen Theaters, in dem Gewaltakte auf der Bühne selbstverständlich sind, und nach einem Blick auf die Komödie, die weitaus geringere Bedenken gegen die direkte Darstellung von Gewalt hat als die Tragödie – die besonderen dramatischen, dramaturgischen und selbstreflexiven Formen, in denen die griechischen Tragiker Gewalt sichtbar machen. Am Beispiel der Sophokleischen Elektra entfaltet er seine These von der Dialektik des Verbergens, das zugleich ein Akt des Enthüllens sei: Gerade indem der Gewaltakt des Muttermordes auf der Bühne nicht dargestellt wird, erschließe sich dem Publikum die Einsicht in die Gewaltbereitschaft Elektras und das überraschende Ende vor der Ermordung Aigisths diene dazu, alle Fragen nach der Tat und ihren Folgen an das Publikum weiterzugeben. Auch KARL HEINZ BOHRER konzentriert sich auf die sprachliche Vermittlung der Gewalt und untersucht, wie das Gewaltereignis durch die Sprache vorstellbar gemacht wird und wie es sich in der Sprache niederschlägt. Als Untersuchungsbeispiele dienen ihm die Täterin Klytaimestra und das Gewaltopfer Antigone. Seine Analyse hebt die Darstellungsmittel hervor, mit deren Hilfe es den Tragikern gelingt, in beiden Fällen das mythische Gewaltmoment eindringlich zur Erscheinung zu bringen. Erst durch die ästhetische Transformation werde die Gewaltdarstellung zum poetischen Ereignis. PATRICK PRIMAVESI geht von der Darstellung der Gewalt in der antiken Tragödie zu einer Gewalt der Darstellung über, die viele (post)moderne Inszenierungen der klassischen Texte zu entfesseln versuchen. Als ein gemeinsames Interesse solcher Inszenierungen beschreibt er die Arbeit an Darstellungsformen, die sich nicht bloß den heutigen, von technischen

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Vorwort

Medien geprägten Wahrnehmungsgewohnheiten anpassen, sondern die dem Theater eigene Gewalt der Darstellung bewußt machen. Dabei wird Primavesi zufolge vor allem die Rolle des Zuschauers vorgeführt, der Anteil des Betrachters an der Hervorbringung und Deutung von Gewalt. Diese These wird anhand exemplarischer Tragödien-Inszenierungen (von Klaus Michael Grüber, Einar Schleef und Wanda Golonka) expliziert und an aktuellen Produktionen von Euripides’ Bakchen (Sebastian Nübling, Christof Nel und Jossi Wieler) vertieft. Die abschließenden beiden archäologischen Beiträge gehen von der Literatur zur bildenden Kunst über: Sie konzentrieren sich auf die Darstellung von Gewalt in der griechischen Vasenmalerei. BARBARA BORG setzt bei dem von der neueren Archäologie weithin anerkannten Umbruch in der Gewaltdarstellung auf attischer Keramik zwischen ca. 490 und 470 v. Chr. ein, indem sie die Abschaffung der Tyrannis, die sukzessive Einrichtung der athenischen Demokratie und eine damit einhergehende Sorge um die Gefahren übermäßiger Leidenschaften als maßgebliche Ursachen für ein neues Verhältnis zur Gewalt darstellt. Das archaische Bildprogramm, das dem Ideal von physischer Stärke, Mut, Kampfbereitschaft und Durchsetzungskraft entspricht, werde abgelöst durch ein neues ‚klassisches‘ Ideal, welches das Individuum stärker in die Gemeinschaft integriere und in der Vasenmalerei zu einem markanten Rückgang an Formen von Gewaltdarstellungen führe. SUSANNE MUTH widmet sich ebenfalls dieser Umbruchszeit, die sie zwischen dem späten 6. und frühen 5. Jahrhundert ansetzt, um sie in anderer Weise zu begründen. Ihre Bildanalyse leitet den Übergang aus der Entwicklung neuer Darstellungsstrategien her: Die Gewaltdarstellung wird pathetisiert, indem es gelingt, Leiden, Sterben, Angst und Verzweiflung mit Hilfe von Nahansichten genauer zu erfassen; andererseits kann die Gewalt aber auch implizit dargestellt werden, indem die Wucht des bevorstehenden Angriffs an der Reaktion des Besiegten gespiegelt wird. In diesem Zusammenhang stellt die Autorin eine markante Wahrnehmungsdifferenz heraus: Während der moderne Betrachter dazu neige, sich mit dem Angreifer oder dem Opfer zu identifizieren und dementsprechend den Gewalteinsatz für akzeptabel bzw. inakzeptabel zu halten, gehe es dem griechischen Betrachter nicht um eine Bewertung der vorgeführten Gewalt, sondern um die Bestimmung des Kräfteverhältnisses sowie der Machtkonstellation.

Vorwort

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Die Konzeption des Bandes geht auf das Symposium „Gewalt und Ästhetik. Gewalt und Formen der Gewaltdarstellung in der griechischen Klassik“ zurück, das im Juli 2005 an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 626 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ abgehalten wurde. Besonderer Dank gilt Dr. Peter Kahrs für die umsichtige Redaktion der Beiträge, Jörn Mixdorf für die Durchsicht des Griechischen, Dr. Sabine Vogt und dem de Gruyter Verlag für die ausgezeichnete Zusammenarbeit sowie schließlich der DFG, die die Drucklegung des Bandes und das vorbereitende Berliner Symposium mit ihrer großzügigen finanziellen Unterstützung des SFB Projekts „Antike Konzepte ästhetischer Erfahrung und ihre moderne Rezeption“ ermöglicht hat. Berlin im September 2006

Bernd Seidensticker und Martin Vöhler

Inhaltsverzeichnis Bernd Seidensticker und Martin Vöhler: Vorwort . . . . . . . . . .

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Geschichte Kai Trampedach (Konstanz) Die Tyrannis als Wunsch- und Schreckbild . . . . . . . . . . . . . .

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Egon Flaig (Greifswald) Gewalt als präsente und als diskursive Obsession in der griechischen Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mythos und Kult Albert Henrichs (Cambridge, Mass.) Blutvergießen am Altar: Zur Ritualisierung der Gewalt im griechischen Opferkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Literatur Bernd Seidensticker (Berlin) Distanz und Nähe: Zur Darstellung von Gewalt in der griechischen Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Felix Budelmann (Milton Keynes) Körper und Geist in tragischen Schmerz-Szenen . . . . . . . . . . 123 Simon Goldhill (Cambridge) Der Ort der Gewalt: Was sehen wir auf der Bühne? . . . . . . . . . 149 Karl Heinz Bohrer (Stanford) Zur ästhetischen Funktion von Gewalt-Darstellung in der Griechischen Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

XIV

Inhaltsverzeichnis

Patrick Primavesi (Frankfurt am Main) Gewalt der Darstellung: Zur Inszenierung antiker Tragödien im (post)modernen Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Bildende Kunst Barbara E. Borg (Exeter) Gefährliche Bilder? Gewalt und Leidenschaft in der archaischen und klassischen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Susanne Muth (München) Als die Gewaltbilder zu ihrem Wirkungspotential fanden . . . . . . 259 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Geschichte

Kai Trampedach (Konstanz)

Die Tyrannis als Wunsch- und Schreckbild Zur Grammatik der Rede über Gewaltherrschaft im Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr.1 Unter der Überschrift „Was ich den Alten verdanke“ schrieb Friedrich Nietzsche im Herbst 1888, kurz vor seinem Zusammenbruch: In den Griechen „schöne Seelen“, „goldene Mitten“ und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe in der Grösse, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern – vor dieser „hohen Einfalt“, einer niaiserie allemande zuguterletzt, war ich durch den Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs, – ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach Aussen: die Stadtgemeinden zerfleischten sich unter einander, damit die Stadtbürger jeder vor sich selber Ruhe fänden.2

Die Erfindung institutioneller Schutzmaßregeln, für die die Griechen bis heute immer wieder bewundert werden, hat allerdings ebenso wenig wie die Ableitung der Spannung nach außen verhindern können, daß die inneren Verhältnisse der meisten Poleis in Griechenland spätestens seit dem letzten Drittel des 5. Jahrhunderts v. Chr. durch eine besonders ausgeprägte Konflikthaltigkeit gekennzeichnet waren.3 Hemmungslose, exzessive Gewaltausübung in Krieg und Bürgerkrieg, die auch vor der Mißachtung religiös 1 Für Hinweise, Anregungen und Kritik danke ich Markus Asper, Norbert Kramer und besonders Ulrich Gotter. 2 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung. In: Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, Bd. 6, S. 157. 3 Vgl. Hans-Joachim Gehrke: Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., München 1985; zum zeitlichen Horizont vgl. bes. ebd. S. 258–60.

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fundamentierter Normen (wie der Verletzung von Heiligtümern4 oder dem Meineid5) nicht zurückschreckte, kam relativ häufig vor. Nietzsches Beobachtung enthält bereits eine Erklärung für diese Tatsache – die Erklärung eines „Psychologen“, der von Instinkt und Trieb spricht, von einem „inwendigen Explosivstoff“: dem „Willen zur Macht“. Bei seinem Rückgang auf die Ebene kollektiver Psychologie steht Nietzsche auf den Schultern von Platon. Schon Platon hat das Problem der politischen Instabilität und Gewalt in den Seelen, d. h. in der moralischen Wahrnehmung, der am politischen Prozeß Beteiligten verortet. Da ich mich im Grundsatz dieser Auffassung anschließen möchte, wenn ich im folgenden die Gründe für die faktische Ubiquität politischer Gewalt erörtere, rückt ihre Deutung durch die politischen Akteure in den Mittelpunkt meiner Überlegungen. Ich komme daher zwar nicht darum herum, mich vor allem mit dem Diskurs über Macht und Gewalt zu beschäftigen, tue dies aber mit dem Ziel, Handeln zu erklären. Da der angesprochene Diskurs zu seiner Zeit eine so gut wie alternativlose Interpretation von Gewalttaten darstellte, gehe ich davon aus, daß er die Praxis maßgeblich beeinflußt hat.6 An Platon und Nietzsche anschließend möchte ich im folgenden zeigen, daß der griechische Machtdiskurs an sich keine sophistische Übersteigerung ist, sondern in der „popular morality“ wurzelt und als Ausdruck einer konventionellen Einstellung verstanden werden muß.7 Als solcher prägt er die Wahrnehmung und das Bewußtsein der politischen Akteure, bestimmt 4 Vgl. Kai Trampedach: Hierosylia. Gewalt in Heiligtümern. In: Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., hrsg. von Günter Fischer und Susanne Moraw, Stuttgart 2005, S. 143–65. 5 Vgl. Jacob Burckhardt: Griechische Culturgeschichte, Bd. II. Aus dem Nachlaß hrsg. von Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz und Jürgen von UngernSternberg. In: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von der Jacob BurckhardtStiftung, München/Basel 2005, Bd. 20, S. 328–31. 6 Vgl. Ulrich Gotter: Cultural Differences and Cross-cultural Contact – Greek and Roman Concepts of ‚Power‘ (erscheint 2007 in: Harvard Studies in Classical Philology). 7 Zum Begriff „popular morality“ vgl. Kenneth J. Dover: Greek Popular Morality in the Time of Plato and Aristotle, Berkeley 1974, S. 1–8. Dover setzt die „popular morality“ als vorreflexiven, unsystematischen und nicht widerspruchsfreien Horizont von Wertmaßstäben und Verhaltensnormen der „moral philosophy“ entgegen. Die Debatte über „popular morality“ in Platons Dialogen behandelt Kai Trampedach: Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik, Stuttgart 1994, S. 155–75. Vgl. jetzt auch Ivan Jordovic: Anfänge der Jüngeren Tyrannis. Vorläufer und erste Repräsentanten von Gewaltherrschaft im späten 5. Jahrhundert v. Chr., Frankfurt a. M. 2005, S. 70–116.

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auf diesem Wege ihr Handeln und stellt ein analytisches Instrumentarium von universaler Reichweite zur Verfügung. So hat sich im Laufe des 5. Jahrhunderts in Griechenland die Kategorie der Macht als zentraler Maßstab durchgesetzt, mit dessen Hilfe sämtliche menschlichen Beziehungen klassifiziert werden können. Der Maßstab wurde sowohl auf die Verhältnisse im oikos (Herr – Sklave, Mann – Frau, Vater – Kind) als auch in der Polis (Monarchie, Oligarchie, Demokratie) als auch außerhalb der Polis (ebenso zwischen den Poleis wie zwischen Griechen und ‚Barbaren‘) angewendet.8 Gleichzeitig findet sich eine Fülle von Äußerungen, die das (individuelle und kollektive) Streben nach Macht in der menschlichen Natur verankern. Wenn aber alle politischen Subjekte (seien es nun Individuen oder Gruppen) herrschen wollen, folgt daraus im Umkehrschluß, daß niemand beherrscht werden will. Unter diesen Umständen muß jede Herrschaft außerhalb eines institutionellen Rahmens, also jede Herrschaft über oder durch die Polis, auf Gewaltherrschaft (tyrannis) hinauslaufen. Aber auch jede Überlegenheit im Rahmen der Polis kann dann leicht als Gewaltherrschaft verstanden werden. Um diese Zusammenhänge zu veranschaulichen, möchte ich nacheinander die Attraktivität der Tyrannis (I), die Unvermeidlichkeit der Gewalt und die daraus resultierenden rhetorischen und symbolischen Aktualisierungen (II) sowie die Wahrnehmung von Gewaltherrschaft im Rahmen der Polis (III) erörtern, bevor ich meine Überlegungen mit einem kurzen Fazit (IV) abschließe.

I. Die Attraktivität der Gewaltherrschaft Zu Beginn des zweiten Buchs von Platons Politeia (359c–360b) erzählt Glaukon die Geschichte vom Ring des Gyges. Gyges sei Hirt im Dienste des Königs von Lydien gewesen. Als sich einmal in der Gegend, wo er hütete, durch Unwetter und Erdbeben ein Erdspalt aufgetan habe, sei er mutig hinabgestiegen und habe dort viel Wunderbares gesehen, darunter 8 Vgl. Christian Meier: Der Wandel der politisch-sozialen Begriffswelt im 5. Jahrhundert v. Chr. In: Ders.: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980, S. 275–325; Jochen Bleicken: Die athenische Demokratie, Paderborn/München/Wien/Zürich 41995, S. 64–72. S. 536–42; ders.: Zur Entstehung der Verfassungstypologie im 5. Jahrhundert v. Chr. (Monarchie, Aristokratie, Demokratie). In: Historia 28 (1979), S. 148–72; Gotter (2007) [Anm. 6]. Als zentrales und selbstverständliches Instrument der Analyse aller menschlichen Beziehungen benutzt Aristoteles die Machtkategorie in seiner politica, wie schon zu Beginn seiner Abhandlung deutlich wird: Aristot. pol. 1252a8–b9. 1253b1–14.

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einen riesenhaften Leichnam, der nichts anderes getragen habe als einen goldenen Ring an der Hand. Gyges habe den Ring an sich genommen, auf den Finger gesteckt und bald bemerkt, daß der Ring ihm eine ungewöhnliche Eigenschaft verlieh; denn sobald er den Stein nach innen drehte, sei er unsichtbar geworden. Gyges konnte nun tun, was er wollte. Was aber wollte er? Wie benutzte er den neuen, über alle Maßen erweiterten Handlungsspielraum? Glaukons Antwort ist kurz und klar: Er sei zum König gekommen, habe dessen Frau verführt, sodann im Bunde mit dieser den König selbst getötet und die Herrschaft an sich gerissen. Dieses Ende der Geschichte erscheint dem Erzähler evident, ja unausweichlich. Jedermann würde, so behauptet Glaukon, seine Möglichkeiten ausschöpfen, „wenn er vom Markt ohne alle Besorgnis nehmen könnte, was er nur wollte, wenn er in die Häuser gehen und beiwohnen könnte, wem er wollte, wenn er töten oder aus Banden befreien könnte, wen er wollte, und wenn er auch alles übrige tun könnte recht wie ein Gott unter den Menschen“.9 Zunächst ist der historische Ort dieser Haltung zu ermitteln. Platons Glaukon beansprucht im Namen der „Vielen“ zu sprechen. Die Berechtigung dieses Anspruchs wird von Sokrates ohne weiteres eingeräumt. Im Gesprächskontext verfolgt Glaukon (in der Folge von seinem Bruder Adeimantos mit weiteren Argumenten unterstützt) das Ziel, Sokrates zu einer umfassenden Apologie der Gerechtigkeit zu animieren. Dieser soll die Gerechtigkeit als an und für sich gut erweisen, d. h. auch abgesehen von ihren Folgen, und auf diese Weise die Schlüssigkeit von Gyges’ Vorgehen widerlegen. Sokrates benötigt dann bekanntlich den Rest der Politeia, also fast neun Bücher, und außerdem ein Jenseits, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.10 Die Dialoggestaltung läßt mithin keinen Zweifel, daß Platon die Gyges-Geschichte und ihre Interpretation durch Glaukon für repräsentativ hielt. Repräsentativ für wen, ist die Frage: für die Athener, die Griechen, die Lyder oder alle Menschen? Der exotische Rahmen der Geschichte und die allgemeinen Formulierungen des Kontextes deuten darauf hin, daß Glaukon das Verhalten des Gyges als allgemein-menschliches 9 Plat. rep. 360 bc. Zu der Figur des Glaukon und zum Gyges-Mythos vgl.: Platone. La Repubblica, Vol. II: Libri II e III, hrsg. von Mario Vegetti, Pavia 1998, S. 151–72 (M. Vegetti). S. 173–88 (F. Calabi); Kent F. Moors: Glaucon and Adeimantus on Justice. The Structure of Argument in Book 2 of Plato’s Republic, Washington D. C. 1998, S. 3–77. 10 Am Ende der Politeia meldet Sokrates die Erfüllung der von Glaukon gestellten Aufgabe: „[…] wir fanden in der Gerechtigkeit an sich das höchste Gut für die Seele, sie muß daher das Gerechte tun, ob sie nun den Ring des Gyges besitzt oder nicht – und zu diesem Ring auch noch die Hadeskappe“ (612b).

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Handlungsmuster begreift. Wie wir sehen werden, ist dieser Anspruch auf universale Geltung nicht überzeugend, wie übrigens fast immer, wenn wir in der griechischen Literatur auf anthropologische Fundamentalaussagen treffen. Was Glaukons Darlegung repräsentiert, ist vielmehr eine in Griechenland und speziell in Athen weitverbreitete und einflußreiche Auffassung über die geheimen Wünsche und instinktiven Reflexe der politischen Akteure. Die politischen Konsequenzen einer solchen Einstellung können sich verheerend auswirken. Dies gilt natürlich insbesondere dann, wenn es, wie im Falle des Gyges, gelingt, die institutionellen „Schutzmaßregeln“ (um mit Nietzsche zu sprechen) außer Kraft zu setzen. Gyges strebt nach direkter und unbeschränkter Macht auf allen Gebieten. Seine Machtergreifung geschieht gewalttätig und ohne Rücksicht auf geltende Normen. Seine Machtausübung wird, wie Glaukons Kommentar zeigt, ebenso gewalttätig und rücksichtslos ausfallen. Es erübrigt sich wohl heutzutage, die kulturelle Bedingtheit dieser Reaktion eigens hervorzuheben. Das Märchenmotiv, bei dem ein magischer Gegenstand seinem einfachen Finder ungeahnte Macht verleiht, gibt es in vielen Kulturen.11 Vor diesem Hintergrund erscheint der Gebrauch, den Gyges von seinem Ring macht, ungewöhnlich, wenn nicht einzigartig. Gyges könnte ja die Kraft des Ringes (wie etwa Aladin den Geist seiner Wunderlampe) auch verwenden, um seinem Handeln Akzeptanz zu sichern oder zumindest den Anschein von Legitimität zu verleihen. Doch gehört es gerade zu den Bedingungen der von Gyges repräsentierten Einstellung, daß ein solches Vorgehen in seiner Lage als unnötige und sozusagen überflüssige Einschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten empfunden würde. Die Fähigkeit, jederzeit Gewalt einzusetzen, wird vielmehr als Teil der vollendeten Freiheit im Sinne des „Tunkönnen-was-man-will“ verstanden. Dieser Zusammenhang wird vielleicht nirgends so klar ausgesprochen wie von dem Sophisten Polos in Platons Gorgias. Auf eine berühmte Formel des Sokrates reagiert Polos mit ungläubigem Staunen: „Du wolltest also lieber Unrecht erleiden als Unrecht begehen? […] Du würdest es also nicht annehmen, als Tyrann zu herrschen?“ Auf die Nachfrage, was er mit „als-Tyrann-herrschen“ (tyrannein) meine, erklärt Polos: „Ich meine damit […], in der Polis das tun zu können, was einem gut zu sein scheint, zu töten und zu vertreiben und alles nach seinem Gutdünken zu tun.“12 11 Vgl. Antti Aarne: The Types of Folktale, Helsinki 41987, Nr. 560; Stith Thompson: Motif-Index of Folk-Literature, Vol. II, Kopenhagen 1956, Nr. D 1361. D 1470. 12 Plat. Gorg. 469c.

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Obwohl Polos als Schüler des Gorgias eingeführt wird, ist das keine spezifisch sophistische Aussage, wie Platon wiederum durch seine Gesprächsführung erkennen läßt. Vielmehr beansprucht Polos hier lediglich, unbezweifelbaren und unstrittigen Wahrheiten Ausdruck zu verleihen, weshalb ihn Sokrates’ Weigerung, den gesunden Menschenverstand als Maßstab zu akzeptieren, aus der Fassung bringt und schließlich resignieren läßt.13 Das „Tun-können-was-man-will“ zielt also äußerstenfalls auf die Herrschaft über Leben und Tod. Davor nennt Glaukon, der die Figur des Gyges mit den typischen Merkmalen eines Tyrannen ausstattet, das Eigentum und die Frauen der Unterworfenen, womit zwei weitere Vorzüge des Tyrannenlebens genannt sind: Reichtum und Lust. Ähnliche Ziele spricht in der berühmten Verfassungsdebatte bei Herodot der Perser Otanes dem Alleinherrscher zu: „Er rührt an den altüberlieferten Ordnungen, er vergewaltigt Frauen und tötet ohne Gerichtsverfahren.“14 Warum nimmt die Vergewaltigung von Frauen (bzw. Jünglingen) unter den Tyrannentopoi eine so prominente Position ein? Das Motiv veranschaulicht zum einen die durch keinen (und sei es noch so heiligen oder universalen) Brauch beschränkte Grenzenlosigkeit der tyrannischen Triebbefriedigung. Es macht zum anderen aus der Perspektive der Untertanen klar, daß nicht nur das Vermögen, die Freiheit und das Leben dem willkürlichen und gewalttätigen Zugriff des Tyrannen ausgesetzt sind, sondern auch die Ehre, die in der Unantastbarkeit der Frauen einen besonders sinnfälligen Ausdruck findet. Die Lust an der Gewaltausübung auf der Seite des Tyrannen korrespondiert mit Erniedrigung und Scham auf der Seite der Unterworfenen.15 So erscheint die Alleinherrschaft als Wunsch- und Schreckbild zugleich. Leo Strauss hat diese Ambivalenz, die in der griechischen Literatur des 5. und 4. Jahrhunderts allgegenwärtig ist, sich aber im Grunde schon bei Homer findet, in seinem Buch „On Tyranny“ auf die Formel gebracht: „Tyranny is bad for the city but good for the tyrant, for the tyrannical life is the most enjoyable and desirable way of life“.16

13 Vgl. Plat. Gorg. 471a–d mit Joachim Dalfen: Platon Gorgias, Übersetzung und Kommentar, Göttingen 2004, S. 276. 14 Hdt. 3,80,5. 15 Vgl. bes. Eur. Suppl. 445–454. 16 Leo Strauss: On Tyranny. A Interpretation of Xenophon’s Hiero, New York 1948, S. 20; vgl. Walter R. Connor: Tyrannis Polis. In: Ancient and Modern: Essays in Honor of Gerald F. Else, hrsg. von John H. D’Arms und John W. Eadie, Ann Arbor 1977, S. 95–109.

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Die praktischen Folgen dieser Haltung sind, wie Kurt Raaflaub betont hat, „bereits in der Auseinandersetzung des zeitgenössischen Adels mit dem Phänomen der ‚älteren Tyrannis‘ im frühen 6. Jahrhundert zu fassen: Wer unter der Tyrannis zu leiden hatte, haßte sie aus tiefstem Herzen; wem sie sich anbot, der griff mit beiden Händen danach“.17 Im 5. Jahrhundert jedoch, besonders in dessen zweiter Hälfte, ließ sich eine solche Haltung mangels Gelegenheit nicht mehr einnehmen; als Verfassungsform hatte die Tyrannis in Griechenland vorerst ausgedient. Wie erklärt sich unter diesen Umständen die fortdauernde Präsenz des ambivalenten Tyrannenbildes in der politischen Debatte?18 Das Bild war offenbar so plausibel, daß es ohne Abstriche auf andere politische Kontexte übertragen werden konnte. Ob ‚barbarischer‘ Monarch, insbesondere persischer Großkönig, ob eine ganze Polis wie Athen, ob Demos oder Demagogen – es läßt sich beobachten, daß jegliche Herrschaft nach dem Muster der Tyrannis konstruiert wurde.19 Selbst Zeus, der Herrscher im Himmel, wurde auf der Bühne als Tyrann dargestellt.20 Von Zeus und den fremden Monarchen abgesehen, haben 17 Kurt A. Raaflaub: Athens „Ideologie der Macht“ und die Freiheit des Tyrannen. In: Studien zum Attischen Seebund, hrsg. von Jack M. Balcer u. a., Konstanz 1984, S. 45–86, hier: S. 74; vgl. Archil. fr. 23, 20–21 (West); Sol. fr. 33 (West). Raaflaub hat inzwischen seine Auffassung revidiert und glaubt nicht mehr an die Ambivalenz des Tyrannis-Konzeptes in Athen, sondern betont das überwältigende Vorherrschen negativer Reaktionen: Stick and Glue. The Function of Tyranny in Fifth-Century Athenian Democracy. In: Popular Tyranny. Sovereignty and Its Discontents in Ancient Greece, hrsg. von Kathryn A. Morgan, Austin 2003, S. 59–93, bes. 70–84. Er tut dies, indem er die entgegenstehenden Zeugnisse jetzt entweder als Privatmeinungen von Durchschnittsbürgern banalisiert (bes. ebd. S. 74) oder auf kleine antidemokratische Kreise (bes. ebd. S. 76 f.) zurückführt. Der Einfluß der „popular morality“ auf das politische Selbstverständnis der Athener bleibt bei diesem Ansatz allerdings ebenso unterbelichtet wie die Bedeutung des TyrannisKonzeptes für den Machtdiskurs. Kritik an Raaflaubs neuerer Ansicht übt im gleichen Band auch Lisa Kallet: Demos Tyrannos: Wealth, Power, and Economic Patronage. In: Morgan (2003) [s. o.], S. 117–53, bes. S. 118–21. 18 Eine Frage, die von der Komödienbühne aus schon den Athenern selbst gestellt worden ist: Aristoph. Vesp. 488–511. Vgl. auch Raaflaub (2003) [Anm. 17], S. 71 – freilich mit zum Teil anderen Antworten als den hier gegebenen. 19 Hdt. 3,31,4 (vgl. 3,80,3 und passim) zitiert ein persisches „Gesetz“, wonach dem Perserkönig erlaubt sei zu tun, was er wolle. Auch Aischyl. Pers. charakterisiert die Könige Dareios und Xerxes als Tyrannen. Über die Polis, den Demos und die Demagogen als Tyrannen: siehe unten. Isokrates 8,91 beklagt zurecht, daß die Verben archein und tyrannein in landläufiger Meinung gleichgesetzt werden. 20 Aischyl. Prom. passim; Soph. fr. 345 (Radt); Eur. Herc. 1314–1319; Aristoph. Plut. 124. Vgl. Helmut Berve: Die Tyrannis bei den Griechen, München 1968, S. 193.

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sich die genannten Akteure häufig auch selbst dem Muster entsprechend verstanden. Die Plausibilität der tyrannischen Haltung offenbart sich in einer urtümlichen Freude, die in ganz verschiedenen Kontexten der griechischen Literatur häufig mit dem Gewalthaben und Gewaltüben verbunden wird – etwa in der unübertroffenen Glückseligkeit, die dem (als Tyrann vorgestellten) Perserkönig zugesprochen wird,21 – oder in dem ungetrübten Stolz, den der athenische Demos, ungeachtet aller Widerstände, über die herrschende Stellung seiner Stadt empfindet.22 Auf besonders rüde Weise kommt das Behagen an der Gewaltherrschaft in einem Lied zum Ausdruck, das während des Symposions der kretischen Oberschicht gesungen wurde – es soll von einem Kreter namens Hybrias und aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts stammen: Mein großer Reichtum sind Speer und Schwert und der schöne Schild, der Schutz des Leibes. Damit nämlich pflüge ich, damit ernte ich, damit keltere ich den süßen Wein von der Rebe, damit heiße ich Herr der Sklavenschaft. Die aber Speer und Schwert nicht zu halten wagen und den schönen Schild, den Schutz des Leibes, die fallen alle zu meinen Füßen nieder und küssen meine Knie, indem sie mich ihren Herrn und Großkönig nennen.23

II. Die Unvermeidlichkeit der Gewaltherrschaft Im Jahre 432, noch vor Kriegsausbruch, veranlassen während einer Versammlung der spartanischen Bundesgenossen in Sparta vielfältige Vorwürfe eine zufällig in anderer Sache anwesende Gesandtschaft der Athener, die Herrschaft ihrer Stadt im Seebund zu rechtfertigen. Nach Thukydides ver21 Beispielsweise bei Aischyl. Pers. 709–712; Eur. Herc. 642–648; Plat. Gorg. 470e. apol. 40d. Euthyd. 274a. 22 Vgl. nur den Chor bei Aristoph. Equ. 1111–1114, der den personifizierten Demos mit folgenden Worten anredet: „Demos, du hast eine feine Herrschaft, weil alle Menschen dich fürchten wie einen tyrannischen Mann.“ 23 Hybrias bei Athen. 15, 695f–696a (Übersetzung von Fritz Gschnitzer: Griechische Sozialgeschichte. Von der mykenischen bis zum Ausgang der klassischen Zeit, Wiesbaden 1981, S. 59); vgl., auch zur Frage der Authentizität und Datierung, Hans-Joachim Gehrke: Gewalt und Gesetz. Die soziale und politische Ordnung Kretas in der Archaischen und Klassischen Zeit. In: Klio (79) 1997, S. 29 mit Anm. 25. Eine individuelle Bewunderung oder Verherrlichung der Tyrannis kommt auch wiederholt bei Euripides zum Ausdruck, und sei es in negativer Spiegelung: Phoen. 503–524. Tro. 1168–1170. Alc. 653–655. Hipp. 1013– 1020. Herc. 63–66. Suppl. 166. Ion 621–632. fr. 8. 15. 250. 332,7. 426. 605. 1048 (Kannicht); vgl. Soph. Ant. 506 f.

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wies der Sprecher der Athener zunächst auf die historischen Verdienste seiner Stadt im Kampf gegen die Perser, um dann folgende Überlegung vorzubringen: Wir haben nichts Verwunderliches getan, nichts wider menschliche Art, wenn wir eine uns angebotene Herrschaft annahmen und nicht aufgeben wollen, von den drei stärksten Beweggründen getrieben: Ehre, Furcht und Nutzen. Wir haben auch nicht als erste damit angefangen, es gilt vielmehr seit jeher, daß der Schwächere vom Mächtigeren niedergehalten wird; und wir glaubten, der Herrschaft wert zu sein, auch in euren Augen – bis ihr jetzt, auf euren Vorteil bedacht, von Gerechtigkeit redet; die hat noch nie jemand, wenn sich die Gelegenheit zu gewaltsamem Erwerb bot, höher gestellt und sich eines Vorteils begeben. Lob verdient, wer entsprechend der menschlichen Natur zwar über andere herrscht, dabei aber gerechter vorgeht, als er aufgrund seiner Machtstellung müßte.24

Wenn die Athener eben dies im weiteren Verlauf der Rede für sich in Anspruch nehmen: daß sie zurückhaltender von ihrer Macht Gebrauch machen und die Verbündeten ‚gleicher‘ behandeln, als sie eigentlich müßten, daß sie ihre Herrschaft auf der Basis von Verträgen und gleichen Gesetzen ausüben, dann sprechen sie von jederzeit widerrufbaren Zugeständnissen, die nichts am gewaltsamen Fundament der Herrschaft ändern. Mit fortschreitendem Kriegsverlauf haben die Athener bekanntlich zunehmend darauf verzichtet, sich auf eine wenn auch nur relative Gerechtigkeit zu berufen. Was sich dagegen nicht geändert hat, ist die anthropologische Letztbegründung der Gewaltherrschaft. Mit dem Rückgang auf die Natur des Menschen vertreten Thukydides und die Athener eine verbreitete Ansicht. Das Argument, das beispielsweise auch bei Herodot und bei Platon fällt, betont die Unausweichlichkeit der Gewaltherrschaft. In der bereits zitierten Verfassungsdebatte stellt Herodots Otanes fest: Auch wenn man den Allerbesten zur Alleinherrschaft erhebt, würde er seiner früheren Gesinnung untreu werden. Selbstüberhebung (hybris) befällt ihn aus der Fülle von Macht und Reichtum, und Mißgunst (phthonos) ist dem Menschen von Anfang an schon angeboren.25

Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt Platons Glaukon bei seinem Gedankenspiel, mit dem er die Gyges-Geschichte einleitet: Wir geben beiden, dem Gerechten wie dem Ungerechten, volle Freiheit zu tun, was sie nur wollen, und dann gehen wir ihnen nach, um zu sehen, wohin die Begierde (epithymia) sie führen wird. Da würden wir dann den Gerechten auf frischer Tat ertappen, 24 Thuk. 1,76,2–3. 25 Hdt. 3,80,3.

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wie er aus Habgier (dia pleonexian) auf das nämliche Ziel losmarschiert wie der Ungerechte, das jedes Wesen von Natur erstrebt als etwas Gutes und von dem es nur gewaltsam durch das Gesetz abgelenkt wird zur Hochhaltung des Gleichen.26

Die Parallelität der Aussagen bei Herodot, Platon und Thukydides liegt auf der Hand: Die gleiche Ausgangslage, nämlich in den Schoß gefallene Herrschaft, führt notwendig zum gleichen Ergebnis, nämlich Gewaltherrschaft, und dies mit der gleichen Begründung, nämlich mit dem Verweis auf die menschliche Natur. Auch werden die Eigenschaften des Menschen, die angeblich im Herrschaftsfalle zwangsläufig Gewalt auslösen, ähnlich aufgefaßt: Während bei Herodot eher der Trieb zur Selbsterhöhung und zur Erniedrigung Anderer (hybris, phthonos) hervorgehoben wird, rückt bei Platon die schlichte Begierde zur Expansion auf Kosten der Anderen (pleonexia) in den Vordergrund – ein Unterschied nur in der Emphase, nicht in der Substanz. Es erscheint im Gegenteil bemerkenswert, daß die Struktur der Argumentation bei den verschiedenen Autoren trotz der unterschiedlichen Textgattungen und Beweisziele kongruent ist. Am differenziertesten und präzisesten kommt die Herrschaftsmotivation in der zitierten Rede von 432 zum Ausdruck, in der sich der Sprecher der athenischen Gesandtschaft vor den Spartanern und ihren Verbündeten auf 1. Nutzen, 2. Ehre und 3. Furcht beruft. Diese drei ‚natürlichen‘ Beweggründe werden in der thukydideischen Darstellung von den Athenern implizit oder explizit immer wieder angeführt, um (nicht nur ihr eigenes) Handeln zu erklären bzw. zu rechtfertigen.27 Auch die Spartaner denken, so der athenische Sprecher, zuerst an ihren eigenen Vorteil, mögen sie auch noch so viel von Gerechtigkeit reden. Es bietet sich an, die drei Motive nacheinander durchzugehen. 1. Herrschaft (arche) wird angestrebt und aufrechterhalten, weil sie für den oder die Herrschenden Nutzen (ophelia) bringt und Vorteile (xympheronta) abwirft. Zu diesem Zweck ist unvermeidlich, daß das jeweilige politische Subjekt über seinen ursprünglichen Verfügungsrahmen hinausgreift (pleonektein). Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein Individuum, eine Gruppe oder eine Polis handelt – die Bereicherung auf Kosten der Untertanen ist ein integraler Bestandteil des griechischen Herrschaftskonzeptes. Die wirtschaftlichen und anderen Vorteile, die den Athenern aus ihrer 26 Plat. rep. 359c (Übersetzung O. Apelt). 27 Die überragende Bedeutung dieser Motive als Kriegsursachen, nicht nur in Athen, betont Hans van Wees: Greek Warfare. Myths and Realities, London 2004, S. 22–43.

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Herrschaft im Seebund erwuchsen, werden von Thukydides, wie Simon Hornblower in seinem Kommentar zur Stelle bemerkt, nicht im einzelnen ausbuchstabiert.28 Wenn Perikles in der Gefallenenrede die Athener auf die dank der Größe ihrer Stadt aus aller Welt nach Athen strömenden Güter hinweist und die daraus resultierenden Genüsse hervorhebt, dann ist der Zusammenhang mit der arche allerdings offenkundig.29 Noch plastischer und detaillierter schildert der ‚Alte Oligarch‘ die Einnahmen und Dienstleistungen, welche dem Volk von Athen aus seiner Herrschaft im Seebund zuflossen.30 2. Ehre (time) erwächst aus dem erfolgreichen pleonektein und steigt proportional mit dem Wert der erbeuteten Güter – ein Zusammenhang, der schon in den homerischen Epen voll ausgebildet ist und im Hinblick auf Herrschaft besonders deutlich von Thrasymachos im ersten Buch von Platons Politeia zum Ausdruck gebracht wird. Wer große Vorteile zu gewinnen (pleonektein) versteht, folgt nach Thrasymachos dem Pfad der Ehre, der seinen Gipfel in der Gestalt des Tyrannen findet. „Wenn aber einer außer dem Vermögen seiner Mitbürger auch noch sie selbst in seine Gewalt bringt und zu Knechten macht, so wird er […] glückselig und preiswürdig genannt, nicht nur von seinen Mitbürgern, sondern auch von den anderen, sobald sie nur hören, daß er die ganze Ungerechtigkeit begangen hat“.31 Diese Bewunderung, die zweifellos den Kern des aus der Ehre hervorgehenden Glücks ausmacht, äußert sich in entsprechenden Handlungen gegenüber dem Tyrannen: daß jedermann seine Anordnungen ohne Zögern ausführt, daß die Augen aller auf ihm ruhen, daß sich alle von ihren Plätzen erheben und ihm aus dem Weg gehen, daß er in seiner Gegenwart mit Wort und Tat verherrlicht wird. „Denn“, wie der Dichter Simonides in Xenophons Dialog Hieron ausführt, „kein menschlicher Genuß scheint näher am Göttlichen zu sein als die Freude über die Ehrungen“.32 Die Freude, von der hier die Rede ist, haben die Athener jedenfalls auch empfunden. Es genügt, wiederum auf Aristophanes und den ,Alten Oligarchen‘ zu verweisen, die aus unterschiedlichem Blickwinkel z. B. vorführen, wie der Demos die Ehrerbietungen der Verbündeten bei den obligaten Gerichtsverhandlungen in 28 Simon Hornblower: A Commentary on Thucydides. Vol. I: Books I–III, Oxford 1991, S. 120. 29 Thuk. 3,38,2; vgl. Kallet (2003) [Anm. 17], S. 131–37. 30 Ps.-Xen. Ath. pol. 1,14–18; vgl. Aristoph. Vesp. 666–679. 698–712. 31 Plat. rep. 344a–c. 32 Xen. Hier. 7,1–4.

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Athen genoß.33 Die Gefallenenrede des Perikles bei Thukydides, die wie kein anderer Text dem stolzen, auf Leistung gegründeten Selbstbewußtsein der Athener Ausdruck verleiht, ergänzt dieses Bild. Unter Hinweis auf ihren Einsatz in den Perserkriegen und den Glanz ihrer Stadt beanspruchten die Athener, der Herrschaft würdig zu sein, und sie wollten von den anderen, gerade von den Rivalen wie den Spartanern oder ihren Untertanen, für wert befunden werden.34 3. Furcht (deos) ist sozusagen die Kehrseite der beiden anderen Motive. ‚Vorteil‘ und ‚Ehre‘ gehören im griechischen Machtdiskurs zu einem Nullsummenspiel. Mit der Bereicherung und Erhöhung der einen korrespondiert die Beraubung und Erniedrigung der anderen. Der Abstand zwischen Herrschenden und Beherrschten, der von den Athenern bei Thukydides mit dem ungleichen Kräfteverhältnis gerechtfertigt wird, kollidiert mit der sich im Gesetz manifestierenden Norm der Gleichheit. Das Ergebnis dieser Kollision sind Haß und Neid der Beherrschten – ein Affekt, mit dem die Athener bei Thukydides ebenso selbstverständlich rechnen wie jeder Tyrann.35 In der Athenaion Politeia stellt der ‚Alte Oligarch‘ kurz, aber nicht weniger eindrücklich und grundsätzlich fest, daß „mit Notwendigkeit der Herrschende von dem Beherrschten gehaßt wird“.36 Haß und 33 Aristoph. Vesp. 548–630; Ps.-Xen. Ath. pol. 1,18: „ […] Überdies würden die Bündner, wenn sie nicht zu den Gerichtsverhandlungen herzukommen hätten, von den Athenern nur die in Ehren halten, die zu Schiff ausfahren, die Strategen, die Schiffskommandanten und die Gesandten; tatsächlich aber ist es das Gesamtvolk von Athen, dem jeder einzelne der Bündner schmeicheln muß, […] und er ist gezwungen, in den Gerichtshöfen sich auf die Knie zu werfen und, sobald einer eintritt, ihn bei der Hand zu fassen. Deshalb also stehen die Bündner eher als Sklaven des Volkes von Athen dar.“ Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich tiefe Aversionen der Betroffenen gegenüber diesem Verfahren vorzustellen, besonders wenn diese über ein aristokratisches Selbstbewußtsein verfügten. 34 Dieses Argument bemühen die Athener bei Thukydides immer wieder, um ihre arche zu begründen: Thuk. 1,73,1–75,1. 2,39,4. 2,41,3. 2,64,3–5. 6,83,1 etc. 35 Vgl. Thuk. 1,75,1. 1,75,4. 1,77,3–5. 2,63,1. 5,95. Daß die meisten Hellenen bei Kriegsausbruch Haß gegen die Athener empfanden, stellt Thuk. 2,8,5 ausdrücklich fest: „die einen mit dem Wunsch, die Herrschaft abzuschütteln, die anderen aus Furcht vor der Herrschaft“. 36 Ps.-Xen. Ath. pol. 1,14. Die gleiche Ansicht vertritt Perikles bei Thukydides 2,64,5 in der athenischen Volksversammlung im Sommer 430: „Haß und Anfeindung pflegen zunächst allen zu widerfahren, die den Anspruch erheben, über andere zu herrschen. Wer sich um höchster Ziele willen Neid zuzieht, ist wohlberaten; denn Haß hält nicht lange an, der Glanz des Augenblicks und der künftige Ruhm bleiben ewig erhalten.“

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Neid der Beherrschten aber rufen zwangsläufig die Furcht der Herrschenden hervor. Daß die Logik dieser Konstellation tatsächlich zu Gewaltexzessen führen kann, demonstriert die sogenannte „Tyrannis der Dreißig“, die in den Jahren 404–403 ihr berüchtigtes Schreckensregiment in Athen ausübte. Auf Kritik an den präventiven Hinrichtungen reagierte der Anführer Kritias laut Xenophon mit folgenden Worten: „[…] es gebe nun einmal keinen anderen Weg für diejenigen, die den größeren Anteil für sich zu erlangen wünschten (to‹j pleonekte‹n boulomšnoij), als alle, welche am ehesten in der Lage seien, ihnen den zu verwehren, aus dem Wege zu schaffen.“37 Mit dieser Strategie, an der er bekanntlich gegen alle Widerstände bis zum bitteren Ende festgehalten hat, zog Kritias die Konsequenz aus der kollektiven Tyrannis, die er mit seinen Genossen errichtet hatte. Nach dieser Logik ist jeder Versuch, Akzeptanz außerhalb der herrschenden Gruppe zu gewinnen, von vornherein zum Scheitern verurteilt und würde unweigerlich die Destabilisierung der Herrschaft bewirken. Schon an dieser Stelle wird die Dynamik der Gewaltherrschaft sichtbar: Die antizipierte Vergeltung der Unterworfenen versetzt die Regierenden in eine Furcht, auf die diese wiederum mit verschärfter Gewalt reagieren, bis der Terror die gesamte Gesellschaft erfaßt hat. Diese Dynamik blieb keineswegs auf die Tyrannis beschränkt, sondern zeigte sich auch in vielen anderen politischen Konflikten. Ein Musterbeispiel führt Thukydides ausführlich mit der Stasis von Kerkyra vor; in seiner Analyse nennt er als Ursache für die Gewaltexzesse „die Herrschsucht, die sich in pleonexia und philotimia äußert“.38 Wer im innerstädischen Machtkampf mit illegalen Mitteln einmal einen Vorteil errungen hat, muß sich schon aus Gründen der eigenen Sicherheit weiter bemühen, der Rache potentieller Feinde zuvorzukommen. Weil die Feinde dies wissen, müssen sie allein um der Selbsterhaltung willen ebenfalls so schnell wie möglich zuschlagen. Die Gewaltspirale, die auf diese Weise in Gang kommt, prägte viele griechische Bürgerkriege des 5. und 4. Jahrhunderts.39 Auch im zwischenstaatlichen Krieg wurde das Muster immer wieder wirksam. So begründen die Athener die Unterwerfung bzw. Vernichtung von Melos im Jahre 416 nicht nur mit dem in ihren Augen selbstverständ37 Xen. hell. 2,3,16. Daß Kritias mit diesem Argument einer illustren Reihe von Vorbildern folgt, zeigt Jordovic (2005) [Anm. 7], S. 197 f. (mit zahlreichen Belegen). 38 Thuk. 3,82,8. 39 Vgl. Gehrke (1985) [Anm. 3], bes. S. 252–54, 266 f.

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lichen Interesse an der Vergrößerung ihrer Herrschaft, sondern auch mit der Sorge um ihre Sicherheit.40 Nicht von Lakedaimoniern gehe für sie die schrecklichste Gefahr aus, behaupten die Athener in dem berüchtigten Melier-Dialog, „wohl aber, wenn die Untertanen selber einmal aufstehen und ihre bisherigen Herren unterwerfen“.41 Hier schimmert kaum verhüllt die Furcht derer durch, die den Haß der Untertanen für das Zeichen ihrer eigenen Stärke halten.42 Immerhin läßt sich im Fall von Melos das strategische Kalkül der Athener noch nachvollziehen. Befremdlicher nimmt sich das Sicherheitsargument im Hinblick auf Sizilien aus. Und doch ließen sich die Athener, wenn wir Thukydides Glauben schenken dürfen, bei ihrem Feldzug gegen Syrakus davon leiten. In einer der vorausgehenden Debatten erklärte Alkibiades vor der athenischen Volksversammlung: Gegen den Mächtigen wehrt man sich nämlich nicht nur, wenn er angreift, sondern damit er nicht angreift, kommt man ihm zuvor. Wir können es uns nicht einteilen, wie weit wir herrschen wollen, sondern sind gezwungen, da wir nun einmal auf diesen Stand angelangt sind, gegen die einen Anschläge zu sinnen, die anderen nicht hochkommen zu lassen, da uns droht, von anderen beherrscht zu werden, wenn wir nicht selbst über andere herrschen.43

Mit diesen Worten verschärfte Alkibiades die Position des Perikles, der die Athener kurz vor seinem Tod erinnert hatte, daß sie die kollektive Tyrannis, die sie über andere Griechen ausübten, nicht aufgeben könnten, ohne lebensgefährlichen Schaden zu nehmen.44 Nach der Logik des Machtdiskurses verlangt die Herrschaft um der Selbsterhaltung willen, wie Alkibiades feststellt, nach immer weiterer Ausdehnung. Die „Mächtigen“, auf die Alkibiades jetzt abzielte, waren die Syrakusier. Seine Argumente überzeugten die Athener und sollten in adressatengerechter Abschwächung auch potentielle sizilische Bundesgenossen überzeugen. Nach Thukydides scheute sich der athenische Gesandte Euphemos im Winter 415/14 nämlich nicht, vor den Kamarinaiern sowohl die Herrschaft in Griechenland als auch den Sizilienfeldzug mit der (nachvollziehbaren und daher im Medium des 40 Thuk. 5,97. 41 Thuk. 5,91,1. 42 Thuk. 5,95: „Eure Feindschaft schadet uns nicht so sehr, wie Freundschaft als Beweis (unserer) Schwäche, Haß dagegen als (Zeichen unserer) Stärke bei unseren Untertanen gilt.“ 43 Thuk. 6,18,2–3. 44 Thuk. 2,63,2–3; ähnlich Kleon bei Thuk. 3,37,2. Daß Athen auch in der Fremdwahrnehmung als polis tyrannos galt, behauptet Thukydides in 1,122,3. 1,124,3 und 2,8,4. Vgl. Wolfgang Schuller: Die Stadt als Tyrann – Athens Herrschaft über seine Bundesgenossen, Konstanz 1978 (Konstanzer Universitätsreden).

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Machtdiskurses sozusagen legitimen) Furcht der Athener zu motivieren.45 Unverkennbar ist gleichzeitig, daß sich die Furcht vor der Beherrschung gegen jeden potentiellen Gegner richten konnte, und sei er auch noch so weit entfernt. Die inhärente Grenzenlosigkeit verbindet das Sicherheitsargument mit dem Autarkie- und Freiheitsbegriff der Athener, wie ihn vor allem Kurt Raaflaub herausgearbeitet hat: Möglichst vollkommene Sicherheit, Autarkie und Freiheit verlangt nach möglichst umfassender und weiträumiger Herrschaft.46 Ist der mit dem Machtdiskurs verknüpfte Herrschaftswille eine athenische Eigenart oder prägt er auch das Vorgehen anderer politischer Akteure? Die Antwort der Athener, die ihr Handeln zuletzt stets aus anthropologischen Notwendigkeiten ableiten, wäre klar; und Thukydides selbst deutet durch seine Kommentare gelegentlich an, daß auch die Spartaner – um von minderen Akteuren wie den Thebanern (vor allem im Verhältnis zu den übrigen Boiotern) zu schweigen – im Zweifelsfall ihren Machtinteressen den Vorrang geben vor religiösen Rücksichten und den Argumenten der Billigkeit und Gerechtigkeit. Schon in der bereits zitierten Rede von 432 prophezeit der athenische Gesandte den Spartanern, daß sie im Fall eines Sieges und der daraus folgenden Herrschaftsübernahme das Wohlwollen, das ihnen jetzt wegen der Furcht vor den Athenern zuteil würde, rasch verlieren und daß sie auch wegen ihres bekannt harschen Auftretens bald in eine ähnliche Lage wie die Athener kommen würden.47 Dann aber, so muß man das Argument verlängern, könnten die Spartaner ebensowenig auf Gewaltakte verzichten, um die Folgsamkeit der Untertanen zu erzwingen. Ob Thukydides diese Bemerkung in kluger Voraussicht aussprechen ließ oder aus gegenwärtiger Erfahrung zurückprojizierte, ist hier nicht wichtig, sondern daß sie sich als zutreffend erwies. Tatsächlich gerieten die Spartaner nach ihrem Sieg 404 auf eine ähnliche Bahn wie die Athener, so daß nur wenige Jahre nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges aus ähnlichen Gründen der nächste große Krieg (der sogenannte „Korinthische“) folgte. Was mit größerem Recht als athenische Spezialität gelten kann, ist die Art und Weise, mit der sie ihre Herrschaft rhetorisch und symbolisch begründeten. Die offene Proklamation der Gewaltherrschaft, die im ständigen Verweis auf die militärische Überlegenheit und das angebliche Recht des Stärkeren zum Ausdruck kam, erweist sich dabei als Teil der Herr45 Thuk. 6,83,2–4. 6,85,3. 46 Raaflaub (1984) [Anm. 17], S. 47–68. 47 Thuk. 1,77,6.

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schaftspraxis. Die rhetorische Vergegenwärtigung der Macht lief auf eine permanente Gewaltandrohung hinaus, diente damit der eigenen Mobilisierung ebenso wie der Einschüchterung der Unterworfenen und ergänzte auf diese Weise die militärischen und administrativen Herrschaftsmittel.48 Ähnliche Schlußfolgerungen ergeben sich auf dem Feld der symbolischen Repräsentation. Dabei ist es überaus bezeichnend, daß die Athener ihre Beziehungen zur Außenwelt nicht nur mittels der Kategorie der Macht erfassen und beschreiben, sondern daß sie auch keinerlei Anstrengungen unternehmen, diese Tatsache in der Öffentlichkeit zu verschleiern oder metaphorisch zu überbrücken. Vielmehr haben sie die Gewaltherrschaft gelegentlich auch durch symbolische Handlungen ungeschminkt zum Ausdruck gebracht. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf zwei Beispiele, die in der Forschung über den attischen Seebund selten thematisiert werden: 1. Zahlreiche auf den Seebund bezogene Inschriften sind als Dokumente der athenischen Herrschaftspraxis vielfach ausgewertet worden.49 Weitaus seltener hat man sie in ihrem monumentalen Aspekt gewürdigt. Als Monumente riefen diese Inschriften durch ihre demonstrative Aufstellung den Charakter der athenischen Herrschaft zu jeder Zeit in Erinnerung, sei es in den ‚verbündeten‘ bzw. untertänigen Städten selbst oder in Athen auf der 48 Die Bündner hießen offiziell, wie verschiedene, spätestens ab etwa 430 zu datierende Inschriften beweisen, „Städte, über die die Athener die Gewalt haben“ bzw. „herrschen“. In dem Vertrag zwischen Athen und Argos vom Sommer 420 ist gar von den Bundesgenossen, über die die Athener herrschen (toÝj xumm£couj ïn ¥rcousin 'Aqhna‹oi) die Rede (Thuk. 5,47,2; s. auch 5,18,7). Inoffiziell findet sich die einfachere Bezeichnung „Untertanen“ (hypekooi): vgl. Wolfgang Schuller: Die Herrschaft der Athener im Ersten Attischen Seebund, Berlin 1974, S. 120–22 (mit Belegen); Karl-Wilhelm Welwei: Das Klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jahrhundert, Darmstadt 1999, S. 126– 28 (trotz der ausgeprägten Tendenz dieses Autors, die athenische Herrschaft mit anachronistischen Überlegungen zu rechtfertigen [s. bes. S. 245 f.]). Wichtige inschriftliche Befunde präsentiert jetzt auch Polly Low: Looking for the Language of Athenian Imperialism. In: Journal of Hellenic Studies 125 (2005), S. 93–111, bes. S. 95 f., 100 f.; die angestrengten Versuche der Autorin, in der athenischen Sprache der Macht auf den epigraphischen Monumenten subtile „diplomatische“ Untertöne wahrzunehmen, haben mich nicht überzeugt. 49 Vgl. Christian Koch: Volksbeschlüsse in Seebundsangelegenheiten. Das Verfahrensrecht im Ersten Attischen Seebund, Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1990; Welwei (1999) [Anm. 48], S. 129–31, S. 143 (allerdings teilweise beschönigend); Loren J. Samons II: Empire of the Owl. Athenian Imperial Finance, Stuttgart 2000.

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Akropolis. Aus all diesen Monumenten ragen die sogenannten ‚Tributlisten‘ hervor. Die riesigen Marmorstelen, auf denen Jahr für Jahr die Untertanen mit ihren Tributen (bzw. dem Anteil von einem Sechzigstel für die Göttin Athena) aufgelistet wurden, führten den Athenern, aber auch jedem fremden Besucher der Akropolis die Tatsache der Herrschaft über viele griechische Städte und die Ausdehnung des Reiches unübersehbar und eindrücklich vor Augen.50 Einen ähnlichen Zweck verfolgten die sogenannten ‚Urkundenreliefs‘, die seit den zwanziger Jahren des 5. Jahrhunderts häufig die epigraphische Repräsentation seebundsbezogener Volksbeschlüsse in Athen bekrönten; sie dienten in erster Linie nicht der bloßen Ausschmückung und Verschönerung, sondern brachten vor allem – und gelegentlich auf drastische Weise – die Botschaft der Inschrift zum Ausdruck.51 2. Jedes Jahr zu den Großen Dionysien im Frühjahr mußten die Bündner ihren phoros in Athen abliefern. Die Tribute wurden gesammelt und, wie Isokrates berichtet, bei der Eröffnung des Festes, nach Talenten sortiert, von Tagelöhnern mit Säcken oder Krügen in die Orchestra des vollbesetzten und auch von zahlreichen auswärtigen Gästen besuchten Theaters gebracht.52 Isokrates zufolge hat insbesondere dieses Ritual, das den Besitz der Verbündeten zur Beute herabwürdigte, den Athenern viel Haß eingetragen. Was haben sich die Athener dabei gedacht? Die unverhüllte Demonstration der Verfügungsgewalt über das Vermögen der ‚Verbündeten‘ sowie die Verherrlichung der eigenen Macht und militärisch-politischen Erfolge erfüllte einerseits integrative Funktionen nach innen. Andererseits war den Athenern aber auch an einer Außenwirkung gelegen, wie die Durchführung des Spektakels an den Großen Dionysien zeigt: Die Abgesandten der Verbündeten bzw. Untertanen sowie möglichst viele andere 50 Russell Meiggs, The Athenian Empire, Oxford 1972, S. 237, stellt fest, daß den Listen eine offensichtliche Ordnung der Namen (etwa wie in der Reihenfolge der Veranlagung oder geographisch oder alphabetisch) fehlt: „An inquisitive Athenian would have wasted much time in trying to find out whether an Ionian town with which he had trading associations had paid its tribute for the current year. The most natural inference is that the order of names is the order in which payment was received.“ Die Ordnung der Namen auf den ‚Tributlisten‘ spielte keine Rolle, weil deren Aufstellung keine dokumentarische Funktionen erfüllte (dafür gab es andere Medien), sondern ausschließlich demonstrativen bzw. ‚propagandistischen‘ Zwecken diente. 51 Vgl. Marion Meyer: Die griechischen Urkundenreliefs, Berlin 1989, bes. S. 246–51. 52 Isokr. 8,82–83.

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Griechen sollten zusehen und mit Bewunderung und Furcht reagieren.53 Bewunderung und Furcht aber, so läßt sich gemäß der griechischen Affektlehre folgern, führen bei Gleichen oder bei Unterlegenen, die sich für gleich halten, fast automatisch zu Neid und Haß und stimulieren daher die Mechanik der Gewalt.

III. Gewaltherrschaft im Rahmen der Polis Meine bisherigen Ausführungen haben, so hoffe ich, gezeigt, daß der griechische Machtdiskurs die Gewaltbereitschaft in Krieg und Bürgerkrieg maßgeblich gefördert hat. Welche Rolle aber spielt er in der Polis, sozusagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung? Spielt er in diesem Raum, der doch durch Freiheit und Gleichheit der Bürger bestimmt war, überhaupt eine Rolle? Für die nachdrückliche Bejahung dieser Frage möchte ich drei Aspekte anführen: 1. Demokratie, 2. Nomokratie, 3. Demagogie. 1. Ein Topos der demokratiefeindlichen Literatur des 5. und 4. Jahrhunderts besagt, daß Demokratie nicht die Herrschaft des Volkes als Bürgerschaft im Interesse der ganzen Polis ist, sondern die selbstherrliche Herrschaft einer sozialen Gruppe, nämlich des einfachen Volks oder Pöbels, über den Rest (ein Argument, das analog natürlich auch die Oligarchie und die Monarchie charakterisiert).54 Es genügt an dieser Stelle, die Athenaion Politeia des ,Alten Oligarchen‘ heranzuziehen. Der Autor begreift die Demokratie als Herrschaft der Schlechten bzw. Armen über die Guten bzw. Reichen. Die Ziele dieser Herrschaft sind vor allem materieller Natur, d. h. es geht dem Demos im wesentlichen um Geld, Unterhalt und Vergnügungen (Feste, Gymnasien, Bäder). Gemessen an dieser unedlen und niedrigen Gesinnung, kommt der Autor nicht umhin, 53 Vgl. Bernhard Smarczyk: Untersuchungen zur Religionspolitik und politischen Propaganda Athens im Delisch-Attischen Seebund, München 1990, S. 155–67. Die Polemik von Simon Goldhill: The Great Dionysia and Civic Ideology. In: Nothing to Do with Dionysos. Athenian Drama in Its Social Context, hrsg. von John J. Winkler und Froma I. Zeitlin, Princeton 1990, S. 97–129, hier: S. 102 gegen Isokrates’ Interpretation ist nicht überzeugend; Goldhill ignoriert die kränkende Wirkung dieser Art von „Machtdemonstration“ auf Nicht-Athener. 54 Vgl. Nicole Loraux: La cité divisée. L’oubli dans la mémoire d’Athènes, Paris 1997, S. 65–68; Josiah Ober: Political Dissent in Democratic Athens. Intellectual Critics of Popular Rule, Princeton 1998, S. 16–20. 43; Kallet (2003) [Anm. 17], bes. S. 121 f. 126–31. 142–44.

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der athenischen Verfassung ein hohes Maß an Folgerichtigkeit zu konzedieren. Als Opfer der politischen Prioritäten, d. h. insbesondere der Flottenpolitik, werden die wohlhabenden Landbesitzer Attikas namhaft gemacht, die jeder feindlichen Invasion schutzlos ausgeliefert sind.55 Die Leute, die der ,Alte Oligarch‘ repräsentiert, betrachteten die Demokratie als eine kakonomia ohne jegliche Legitimität56, und dies galt selbst dann, wenn sie wie Alkibiades und viele andere Aristokraten führende Positionen in der athenischen Politik übernommen hatten. Aber auch der Demos selbst sah sich als Herr. Aristophanes hat dafür die anschaulichsten und trotz aller genrebedingten Übersteigerung zutreffenden Bilder gefunden.57 Und sogar Perikles erklärt in der Gefallenenrede bei Thukydides den Namen ‚Demokratie‘ dementsprechend: „weil die Staatsverwaltung nicht auf wenige, sondern auf die Mehrheit (™j ple…onaj) ausgerichtet ist“.58 Mit anderen Worten: Selbst in der Demokratie herrscht eine Gruppe der Bürgerschaft über eine andere Gruppe, die diese Herrschaft als ungerecht empfindet. Welche Folgen diese Wahrnehmung im Krisenfall hatte, demonstriert die Geschichte Athens im späten 5. Jahrhundert, um von anderen, weniger erfolgreichen Poleis zu schweigen. 2. Zum griechischen Machtdiskurs gehört die implizite oder explizite Abwertung des nomos als einer willkürlichen Übereinkunft. Glaukon verleiht in dem bereits erwähnten Abschnitt von Platons Politeia der Überzeugung Ausdruck, daß die sich in Gesetzen und Verträgen manifestierende Gerechtigkeit ein Kompromiß sei, bei dem der Schutz vor dem Unrechtleiden durch den Verzicht auf das Unrechttun erkauft werden müsse. Die Gerechtigkeit sei daher kein Selbstzweck, sondern nur durch das Unvermögen, Unrecht zu tun, ohne Strafe zu leiden, zu Ehren gekommen. Nur durch das Gesetz werde der Mensch mit Gewalt zur Anerkennung der Gleichheit gezwungen, fährt Glaukon fort, bevor er zur Illustration die schon besprochene Geschichte vom Ring des Gyges erzählt.59 Der Zwangscharakter des Gesetzes wird hier auf höchst aufschlußreiche Weise mit dem Problem der Gleichheit verbunden. Jochen Bleicken hat darauf hingewiesen, daß der 55 Ps.-Xen. Ath. pol. 2,14. 56 Ps.-Xen. Ath. pol. 1,8; vgl. schon Hdt. 3,81. 57 Vgl. Jeffrey Henderson: Demos, Demagogue, Tyrant in Attic Old Comedy. In: Morgan (2003) [Anm. 17], S. 155–79, bes. 156–60; Kallet (2003) [Anm. 17], S. 137– 42. 58 Thuk. 2,37,1.

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griechische Gleichheitsbegriff nicht vom Naturrecht geprägt ist.60 Ich denke, man muß diese Aussage noch verschärfen: Die Griechen haben fast überall nur (zumindest relative) Ungleichheit wahrgenommen, d. h. Bessere und Schlechtere, Stärkere und Schwächere etc.; fast allen naturrechtlichen Aussagen liegt daher bereits die Annahme einer (zumindest relativen) Ungleichheit voraus; eine selbstverständliche Ungleichheit erscheint in den Texten geradezu als Gemeinplatz. Glaukons Analyse ist also zutreffend: Die Gleichheit, die allenfalls eine regulative Idee, nicht jedoch einen Wert an sich darstellt, muß herbeigezwungen werden. Instrument dieses Zwanges ist das Gesetz, dem folgerichtig nicht selten ein gewalttätiger Charakter zugeschrieben wird. So behauptet der Sophist Hippias in Platons Dialog Protagoras, daß der nomos ein Tyrann ist und vieles (vor allem eben Gleichheit) gegen die Natur erzwingt.61 Solche Sprüche, die sich einer hohen Plausibilität erfreuten, enthalten tatsächlich „Explosivstoff“ (um noch einmal mit Nietzsche zu sprechen), denn sie liefern Argumente für den Umsturz der politischen Ordnung. 3. Herrschen in einer demokratisch verfaßten Polis wirklich der Demos oder nicht viel mehr die Demagogen?62 Die Frage ließe sich je nach Kontext unterschiedlich beantworten; klar ist jedenfalls, daß auch die Demagogie als Gewaltherrschaft in der Polis aufgefaßt werden konnte. Wiederum hilft Platon, das Phänomen schärfer zu umreißen. Im Dialog Gorgias erklärt der gleichnamige Sophist, daß die Rhetorik als Fähigkeit mit Worten zu überzeugen das größte Gut verschaffe, „dem die Menschen einerseits persönlich ihre Freiheit verdanken und dem zugleich der Einzelne verdankt, daß er in seiner Polis über die anderen herrscht“. Nach der Widerlegung durch Sokrates greift Gorgias’ Schüler Polos das Argument seines Meisters 59 Plat. rep. 358e–359c. Daß diese Behauptung im zeitgenössischen Kontext eher negativen athenischen Vorstellungen von spartanischem Gesetzesgehorsam entspricht, zeigt Ellen Greenstein Millender: Nomos Despotes: Spartan Obedience and Athenian Lawfulness in Fifth-Century Thought. In: Oikistes. Studies in Constitutions, Colonies, and Military Power in the Ancient World Offered in Honor of A. J. Graham, hrsg. von Vanessa B. Gorman und Eric W. Robinson, Leiden/ Boston/Köln 2002, S. 33–59 im Ausgang von Hdt. 7,104,4–5. 60 Bleicken (1995) [Anm. 8], S. 340. 61 Plat. Prot. 337d. In eine ähnliche Richtung weist das berühmte Pindar-Fragment nomos basileus (169 Snell), das Kallikles bei Plat. Gorg. 484b–c, wie Egon Flaig in seinem Beitrag zu diesem Band zeigt, auf zeitgemäße Weise interpretiert. 62 Auch dies ist eine Frage, die Aristophanes vor allem in den Komödien Ritter und Wespen inszeniert. Vgl. Henderson (2003) [Anm. 57], S. 160–67.

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wieder auf und weist auf das Ansehen und die Macht hin, die die hervorragenden Redner in den Städten genießen. Auf den Zweifel des Sokrates reagiert Polos mit der rhetorischen Frage: „Töten sie nicht wie die Tyrannen, wen sie wollen, und nehmen sie nicht den Besitz weg und vertreiben sie nicht aus den Städten, wen es ihnen beliebt?“63 Diese Meinung über die Macht der Demagogen erscheint im zeitgenössischen Kontext zugespitzt, aber nicht abwegig. Tatsächlich wurden führende Politiker Athens als Tyrannen bezeichnet – nicht so sehr, weil man ihnen konkrete Umsturzpläne unterstellte als vielmehr um ihren systembedrohenden Einfluß zu charakterisieren. Als systembedrohend kann die Macht der Demagogen erscheinen, weil sie mit der systemnotwendigen Gleichheit kollidiert. An dieser Stelle wird die generelle Funktion sichtbar, die der (scheinbar anachronistischen) Allgegenwart der Tyrannis im politischen Diskurs Athens anhaftet: Das Schreckbild der Tyrannis dient als Substitut für eine direkte Propagierung der Gleichheit; es war offenbar einfacher und überzeugender, die Schrecknisse der Gewaltherrschaft zu evozieren und die Ordnung negativ mit den Gefahren der äußersten Ungleichheit zu begründen als positiv den Eigenwert der Gleichheit hervorzuheben. Nicht zufällig haben die Athener im 5. Jahrhundert die Tyrannentöter zu den symbolischen Repräsentanten ihrer politischen Ordnung stilisiert.64 Themistokles, Kimon und Alkibiades sind athenische Politiker, die in ihrer politischen Karriere zumindest zeitweise dem Tyrannis-Vorwurf zum Opfer fielen; sie bezahlten damit nicht zuletzt für die mehr oder weniger provokative Inszenierung ihres Abstands zum Volk. Aber auch Perikles wurde seit den vierziger Jahren des 5. Jahrhunderts von den Komödiendichtern immer wieder als Tyrann karikiert65, und Thukydides bleibt in 63 Plat. Gorg. 452d (Gorgias; vgl. Eur. fr. 335 Nauck). 466bc (Polos). In diesem Sinne (daß Tyrannis und Demagogie sich im individuellen Machtstreben der politischen Subjekte verbinden) behauptet Jacob Burckhardt: Griechische Culturgeschichte, Bd. I. Aus dem Nachlaß hrsg. von Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz und Jürgen von Ungern-Sternberg. In: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von der Jacob Burckhardt-Stiftung, Basel, München/Basel 2002, Bd. 19, S. 140: „[…] in jedem begabten und ehrgeizigen Griechen wohnte ein Tyrann und ein Demagog“. 64 Vgl. Raaflaub (2003) [Anm. 17], S. 63–70. 65 Plut. Perikles 3,4. 16,1 (Kratinos fr. 258; Telekleides fr. 45; adespoton VIII fr. 703 PCG); vgl. Joachim Schwarze: Die Beurteilung des Perikles durch die attische Komödie und ihre historische und historiographische Bedeutung, München 1971, bes. S. 170–72 (mit weiteren Belegen); Henderson (2003) [Anm. 57], S. 162 f. Eine überzeugende Untersuchung der „Fälle“ Perikles und vor allem Alkibiades, auch im Vergleich, hat jetzt Jordovic (2005) [Anm. 7], S. 131–68 vorgelegt.

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seiner berühmten Würdigung ebenfalls nicht weit dahinter zurück, auch wenn er den Gewaltaspekt der „Herrschaft des ersten Mannes“ nicht eigens profiliert.66 Anders im Falle Kleons: Dieser hatte 427 in der Debatte um das Schicksal der besiegten Mytilener die Hinrichtung aller erwachsenen männlichen Bürger durchgesetzt und schickte sich an, diese Entscheidung auch am nächsten Tag, als das Thema ein zweites Mal auf die Tagesordnung der Volksversammlung gesetzt wurde, zu verteidigen. In diesem Zusammenhang kennzeichnet Thukydides Kleon als einen Politiker, „der auch sonst der gewalttätigste (biaiotatos) aller Bürger war und damals dem Volk am weitaus überzeugendsten (pithanotatos) galt“.67 In welcher Hinsicht ist Kleon biaiotatos? Er ist „gewalttätig“, weil er die Hinrichtung der Mytilener durchsetzen wollte und eine entsprechend schonungslose Politik gegenüber den ‚Verbündeten‘ befürwortete, und er ist „gewaltig“ im Volk durch die Überzeugungskraft seiner Rede, wie die syntaktische Verknüpfung von biaiotatos und pithanotatos wahrscheinlich macht.68 Zusammengenommen folgt daraus: Er ist biaiotatos, weil er mit der Gewalt seiner Rede das Volk überwältigte, seinen Willen durchsetzte und seine Macht durch eine Politik der Gewalt erlebbar machte. Damit erfüllte dieser Kleon exakt die Kriterien, mit denen Polos, an Gorgias anknüpfend, in Platons Dialog die Macht des Demagogen verherrlichte – wenn man davon absieht, daß sich dessen Gewalttätigkeit bei Polos eher gegen innerstädtische Feinde als gegen äußere Gegner der Polis richtet. Natürlich gehörten gerichtliche Verfolgungen mißliebiger Konkurrenten und ostrakismos auch zum Instrumentarium demagogischer Politik. Zusammenfassend möchte ich für diesen Abschnitt zwei Punkte hervorheben: 1. Die Rede über die Tyrannis in der Polis ist ambivalent. Sie kann dazu dienen, die Herrschaft einer Gruppe oder von Führungspersönlichkeiten sowohl zu verdammen als auch zu verherrlichen. 2. Als Schreckbild erfüllt die Evokation der Tyrannis in der Polis zwei Funktionen: Sie erinnert zum einen an den Freiheitsverlust als notwen66 Thuk. 2,65,1–10. 67 Thuk. 3,36,6. 68 Hornblower (1991) [Anm. 28], S. 420 übersetzt biaiotatos mit „the most forceful [lit. violent]“ und begründet dies wie folgt: „Th. is thinking of rhetorical effectiveness, as the following word ‚persuasive‘ makes clear.“ Diese Interpretation darf freilich nicht exklusiv verstanden werden; biaiotatos wird von Thukydides hier m. E. mehrdeutig, d. h. sowohl im Sinne von ‚am gewalttätigsten‘ bzw. ‚am gewaltbereitesten‘ als auch von ‚am gewaltigsten‘, gebraucht.

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dige Folge der Alleinherrschaft; ex negativo führt die Tyrannis den Wert der isonomia vor und repräsentiert damit etwas, was sich positiv im 5. Jahrhundert angesichts der ubiquitären Wahrnehmung von Ungleichheit nicht ähnlich überzeugend begründen ließ. Zum anderen kann der Begriff der Gewaltherrschaft als Metapher zur Charakterisierung und Demaskierung der tatsächlichen Machtverhältnisse in der demokratisch verfaßten Polis eingesetzt und als Instrument im politischen Machtkampf gebraucht werden; in diesem Fall dient er zur Delegitimierung des politischen Systems.

IV. Fazit Max Weber verdanken wir die Unterscheidung von Herrschaft und Macht. „Herrschaft“, so stellt er fest, „soll […] die Chance heißen, für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden“. Herrschaft setzt, so verstanden, ein Minimum an Gehorsamsbereitschaft bei den Beherrschten ebenso voraus wie Anstrengungen der Herrschenden, die Rechtmäßigkeit ihrer Stellung zu begründen. „Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen.“69 Legt man diese Maßstäbe an, erscheint der Begriff der Herrschaft im Griechenland des 5. Jahrhunderts fehl am Platze, denn ein Legitimitätsglaube hat sich nicht einmal ansatzweise entwickelt. Statt dessen blieb der Machtdiskurs ohne Alternative. Macht bedeutet nach Max Weber „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.70 Im Griechenland des 5. Jahrhunderts beruht diese Chance innerhalb der verschiedenen sozialen Beziehungen häufig unmittelbar auf Gewalt oder einer glaubhaften Androhung der Gewalt, die durch rhetorische und symbolische Kommunikation beständig vergegenwärtigt und aktualisiert wurde. In den platonischen Dialogen wird die Praxis der Gewalt häufig mit den Formeln „Unrechttun“ bzw. „Unrechtleiden“ umschrieben. Platons Glaukon bringt es auf den Punkt: Allein die Gefahr des Unrechtleidens begründet den Verzicht auf das Unrechttun 69 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51980, S. 122. 70 Weber (1980) [Anm. 69], S. 28.

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und rechtfertigt den nomos, der den Machtkampf und die Gewaltausübung durch die Verpflichtung auf politische Verfahren einhegt bzw. einschränkt. Womit wir wieder bei Nietzsche wären: „[…] ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicher zu stellen.“ Im Erfinden von Schutzmaßregeln und den daraus erwachsenen Institutionen waren die Griechen außerordentlich kreativ.71 Allerdings funktionierten die Schutzmaßregeln, die vor dem 4. Jahrhundert ohnehin bloß für den innerstädtischen Raum entwikkelt wurden, nur auf der Basis konstanter Machtverhältnisse. Änderten sich die Machtverhältnisse, waren, wie die zahlreichen Bürgerkriege der Zeit zeigen, die Schutzmaßregeln häufig nicht mehr viel wert. Platon hat vielleicht als erster der Erkenntnis den Weg gebahnt, daß die Lösung des Problems nicht in der Erfindung neuer, wirksamerer Schutzmaßregeln liegen konnte, sondern in der Entschärfung des Explosivstoffs. Sein Idealstaatsentwurf in der Politeia kommt daher gänzlich ohne politische Institutionen im engeren Sinne aus und vertraut statt dessen auf eine Erziehung, die die moralische und intellektuelle Kompetenz der Elite revolutionieren sollte. Platons gedankliche Konstruktion schuf Herrschende, deren Wissen politische Beratungs- und Entscheidungsorgane ebenso überflüssig machen wie ihre ‚Machtvergessenheit‘ jegliche Kontrolle erübrigen sollte. In den Nomoi ist Platon einen anderen Weg gegangen, doch mit dem gleichen Ziel: die Macht zu neutralisieren und dem Raum des Politischen zu entziehen. Dieses Konzept war, gleich in welcher Ausprägung, zu radikal und unrealistisch, um eine praktikable Alternative zur zeitgenössischen Politik zu bieten.72 Alternativen eröffneten eher historische Prozesse, die sich als Reaktion auf das Legitimationsdefizit von Herrschaft verstehen lassen: die diskursiv zunehmend populärer werdende Unterscheidung von tyrannis und basileia (und anderen Verfassungsformen gemäß dem Kriterium der Freiwilligkeit und Gesetzlichkeit),73 die Anfänge des Herrscher-

71 Es sei hier nur auf die außergewöhnlich komplizierten Losverfahren sowie die aufwendigen Verfahren zur Kontrolle von Beamten (Dokimasie, Euthynie) in Athen hingewiesen: vgl. Bleicken (1995) [Anm. 8], S. 312–29. 617–23. 72 Vgl. Trampedach (1994) [Anm. 7], S. 186–202. 221–54. 73 Vgl. Eur. Hel. 395 f.; Xen. 4,6,12; Victor Parker: Tyrannos. The Semantics of a Political Concept from Archilochus to Aristotle. In: Hermes 126 (1998), S. 145–72; Matthias Haake: Warum und zu welchem Ende schreibt man peri basileias? Überlegungen zum historischen Kontext einer literarischen Gattung im Hellenismus. In: Philosophie und Lebenswelt in der Antike, hrsg. von Karen Piepenbrink, Darmstadt 2003, S. 86–88.

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kultes,74 die zunehmende Bedeutung von zwischenstaatlichen Schiedsgerichten,75 die Suche nach einer allgemeinen Friedensordnung,76 die langsame Entstehung einer Honoratioren- bzw. Euergetenschicht in den Städten.77 Eine ‚Lösung‘ freilich war dies alles nicht, konnte es nicht sein; die Aporien des Machtdiskurses wirkten weiter; die Griechen bekamen auch nach dem 5. Jahrhundert ihre gewaltsamen Folgen zu spüren.

74 Vgl. Christian Habicht: Gottmenschentum und griechische Städte, München 21970, bes. S. 236–42. 75 Vgl. Hans-Joachim Gehrke: Jenseits von Athen und Sparta. Das Dritte Griechenland und seine Staatenwelt, München 1986, S. 69–71. 76 Vgl. Martin Jehne: Koine eirene. Untersuchungen zu den Befriedungs- und Stabilisierungsbemühungen in der griechischen Poliswelt des 4. Jahrhunderts v. Chr., Stuttgart 1994; Gehrke (1986) [Anm. 75], S. 71–75. 77 Vgl. Gschnitzer (1981) [Anm. 23], S. 144–48; Philippe Gauthier: Les cités Grecques et leurs bienfaiteurs (IVe–Ier siècle avant J.-C.). Contributions à l’histoire des institutions, Paris 1985; Friedemann Quaß: Die Honoratiorenschicht in den Städten des griechischen Ostens. Untersuchungen zur politischen und sozialen Entwicklung in hellenistischer und römischer Zeit, Stuttgart 1993, bes. S. 19–29.

Egon Flaig (Greifswald)

Gewalt als präsente und als diskursive Obsession in der griechischen Klassik Die Ordnungen zu strukturieren, die gedachten und die gelebten, die kosmologischen wie die sozialen, ist Anliegen und Erfordernis jeder Kultur; und jede leistet das mittels Differenzierungen, gegebenenfalls mit harten Grenzziehungen. Die kardinalen Differenzen der griechischen Klassik waren: Götter – Menschen, Menschen – Tiere, Freie – Sklaven, Männer – Frauen, Griechen – Barbaren. Je nach Bedarf schlossen sich weitere Oppositionspaare an: Helden – Monster, Bürger – Nichtbürger, Sieger – Besiegte, Alte – Junge usw. Diese Differenzen waren konnotiert mit Überlegenheit und Minderwertigkeit, sei es biologisch, moralisch, intellektuell oder politisch. Sie wurden inszeniert, versinnbildlicht und verinnerlicht. Dabei spielten Gewalt und Blut eine erstrangige Rolle. Die griechische Kultur war eine politisch in hohem Maße befriedete Gesellschaft; und dennoch eine blutige Kultur. Das wird ersichtlich an der herausragenden Rolle des kultischen Blutopfers: Es choreographierte die Kommunikation zwischen den Göttern, welchen man opferte und der menschlichen Gruppe, welche opferte, und schärfte damit die fundamentale Scheidung ein.1 Dem Opfer steht die Jagd kontrastiv gegenüber; in beiden Fällen töten die Menschen Tiere. Aber sie tun es auf semantisch entgegengesetzte Weise.2 Die Jagd inszenierte die Feindschaft zwischen der gehegten mensch1 Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, München 1976, S. 99–115; Jean-Pierre Vernant: A la table des hommes. Mythe de fondation du sacrifice chez Hesiode. In: La cuisine du sacrifice en pays grec, hrsg. von Marcel Detienne und J.-P. Vernant, Paris 1979, S. 38–129; Sacrificio e società nel mondo antico, hrsg. von Cristiano Grottanelli und Nicola Parise, Rom 1985. 2 Jean-Louis Durand: Bêtes grecques. Propositions pour une topologie des corps à manger. In: Detienne/Vernant (1979) [Anm. 1], S. 133–57, sowie Pierre Lévêque: Bêtes, dieux et hommes, Paris 1985.

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lichen Ordnung und der bedrohenden Natur auf gewaltsame und blutige Weise. Aber die differenzierende Potenz der Jagd war weitaus geringer als jene des Opfers. Niemals gewann die Jagd bei den Griechen jene symbolische Bedeutung eines Kampfes der Zivilisation gegen die Wildnis wie im europäischen Mittelalter. Und schon gar nicht wird ihr jener enorme Aufwand an Semiotik zuteil, welchen die Römer in der Arena einsetzten, um den Kampf gegen die tierische Wildnis in einen gigantischen symbolischen Kontext zu bringen. Demgegenüber blieb die Jagd bei den Griechen semiotisch unterbelichtet, schwach symbolisiert, schwach semantisiert. Der kulinarische Opfercode hingegen verstärkte die Differenz zwischen Göttern und Menschen: Während die Götter den Opferduft genossen (ihr Altar wurde mit Blut besprengt, und auf ihm verbrannte man ihnen Fett und Knochen), verzehrten die Menschen das Opferfleisch. Gleichzeitig trat eine andere Unter-Scheidung in Kraft: Die Menschen töteten und aßen Fleisch, das (gezähmte) Tier wurde getötet und gegessen. Ferner schied das Zeremoniell die Rollen von Frauen und Männern: Die Frauen stießen den gellenden Schrei aus, sobald das Beil dem Tier den Nacken brach; dieser Schrei markierte akustisch den Augenblick der extremen Ausübung von Gewalt, nämlich der Tötung.3 Obwohl der griechische Kulturraum in der klassischen Zeit aus Poleis bestand, die relativ befriedet waren, war die Gewalt ein stets präsenter semantischer Faktor und diente dazu, die gedachte Ordnung zu strukturieren, teilweise auch die soziale. Das möchte ich an mehreren Aspekten aufzeigen: Zunächst sind rechtliche Praktiken zu besehen, die einerseits dazu dienten, die Differenz frei/unfrei aufrechtzuerhalten und anderseits die Ausübung von Gewalt im öffentlichen Raum einzugrenzen; danach geht es um politische Diskurse, und zwar zunächst um solche, die der Gewalt Vorschub leisteten, danach um jene, die obsessiv um die Gefahr des Bürgerkrieges kreisten; schließlich befasse ich mich mit den Angriffen auf die semantische Opposition von ‚Überzeugen‘ und ‚Gewalt‘ (Peitho – Bia), d. h. auf diejenige Opposition, welche die Befürworter institutionalisierter Gerechtigkeit – und also von zivischer Gewaltlosigkeit – zur Grundlage ihrer Argumentation machten.

3 Vgl. dazu A. Henrichs, in diesem Band S. 59–87.

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I. Gewalt im öffentlichen Raum a) Ein Medium der Sonderung Die fundamentale Teilung der griechischen Gesellschaft war nicht die geschlechtliche, sondern die Teilung der Menschen in Freie und Sklaven. Die Kultur des klassischen Athen beruhte auf der Sklaverei.4 Die Demokratie mit ihrer hochkulturellen Infrastruktur, ihrer extensiven und intensiven Partizipation benötigte ein gewaltiges ökonomisches Surplus; denn mehrere Tausend ärmere athenische Bürger waren freizustellen, damit sie teilnehmen konnten an Volksversammlungen, an Gerichtssitzungen, an Trainingsfahrten der Flotte und an den Festen der Stadt. Große Überschüsse waren zu erwirtschaften und umzuverteilen; die gesellschaftlich notwendige Arbeit mußte von anderen erledigt werden; die Massensklaverei leistete beides. Ohne sie hätte die athenische Demokratie nicht lange überlebt; ohne sie sind die athenische Politik und Kultur undenkbar. Aber wie wurde dieses Gewaltverhältnis, auf dem die Gesellschaft als Ganzes aufruhte, semantisiert? Nehmen wir Sparta als Kontrastfolie: In Sparta fanden periodisch gezielte Morde an Heloten statt, legitim und straflos. Die Jugendlichen, welche sich jeweils in der ‚Krypteia‘ befanden, töteten eigens dazu selektierte Heloten. Ferner ließen die Ephoren jährlich eine feierliche Kriegserklärung an die gesamte Helotenschaft – also an die Staatssklaven Spartas ergehen.5 Die willkürlichen Morde enthielten Elemente der Jagd auf Großwild;6 sie waren jagdmäßiges Töten und inszenier4 Athen war eine Sklavenhaltergesellschaft. Selbst wenn nur etwa 15 % der Bevölkerung Sklaven sind, ist die Sklaverei bereits allgegenwärtig. Im 5. Jh. dürften es manchmal knappe 30 % gewesen sein. Dazu: Moses I. Finley: Was Greek Civilization based on Slave Labour? In: Historia 8 (1959), S. 145–64, ders.: Die Sklaverei in der Antike. Geschichte und Probleme, München 1980, S. 96–98. 5 Siehe: Plut. Lyk. 28, Aristot. fr. 538; dazu: Aristoteles, Fragmente III, hrsg. von Martin Hose, Berlin 2002, S. 47 u. 195f. u. P. Cartledge, s. v. Krypteia. In: DNP, Bd. 6 (1999), Sp. 872. 6 Aristoteles knüpft also an die bestehende Metaphorik an, wenn er den Krieg, der die Erbeutung von Sklaven zum Ziele hat, als ‚Jagd‘ bezeichnet: „Darum ist auch die Kriegskunst von Natur eine Art Erwerbskunst (die Jagdkunst ist ein Teil von ihr), die man anwenden muß gegen Tiere und gegen Menschen, die von Natur zum Dienen bestimmt sind und dies doch nicht wollen. Denn ein solcher Krieg ist von Natur gerecht“ (Politik 1256b23–26). Seine Überlegungen verlaufen allerdings gegensinnig zur spartanischen Praxis: Die jagdmäßigen Morde der Jungspartiaten dienten dazu, die ehemals erbeuteten Sklaven in Furcht zu halten; nach Aristoteles hingegen dient die Jagd dazu, möglichst viele lebende Sklaven zu erbeuten.

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ten die fundamentale Differenz. Die Kriegserklärung hingegen repristinierte den Ursprung der Versklavung: Immer wieder wurden die Sklaven durch einen jährlich ausgerufenen Krieg symbolisch unterworfen. Die Differenz und ihr Ursprung fanden so ihren symbolischen Ausdruck in politischen Akten. Anders in Athen. Hier wurde lediglich die Differenz auf Dauer gestellt, symbolisch und praktisch; die Unterwerfung selber wurde nicht repristiniert. Die Symbolisierung der Differenz erfolgte über die Peitsche. In Athen bestand ein Gesetz, erlassen unter dem Archon Skamandrios, welches vorsah, daß Bürger von Körperstrafen ausgenommen waren. Laut Demosthenes zahlten Freie für Vergehen mit ihrem Vermögen, Sklaven hingegen mit ihrem Leib.7 Gustave Glotz hat daraus geschlossen, daß Peitschenhiebe und Drachmen als Äquivalente galten, je nachdem, ob es sich um einen Sklaven handelte, der sich ein öffentliches Vergehen zuschulden kommen ließ, oder um einen Freien.8 Die Strafarten in Athen dienten somit nicht nur zur Disziplinierung, sondern obendrein zur ständigen Inszenierung der fundamentalen Differenz zwischen Freien und Unfreien. Es gibt keinen nachweisbaren Fall, daß die athenische Öffentlichkeit gegen einen Freien die Peitsche eingesetzt hätte. Dem entspricht die merkwürdige Praxis der Sklavenfolter bei bestimmten Rechtsverfahren. Sklaven und Frauen konnten niemals vor Gericht selbständig auftreten, und sie konnten keinen Eid ablegen. Indes, Sklaven wußten eine ganze Menge über das häusliche Leben ihres Herrn. Man konnte dieses Wissen, etwa bei politischen Prozessen aus schwerwiegenden Anlässen, aus den Sklaven herausfoltern, sowohl in gerichtlichen Verfahren, als auch bei jenen außergerichtlichen Verfahren, bei denen der Ankläger verlangte, sein Widersacher solle seine Sklaven zur Folter bringen. Diese Folterungen fanden an bestimmten Orten statt, z. B. bei der Heliaia oder am Hephaistostempel, sie waren öffentlich und zogen – wie die attischen Redner belegen – ein großes Publikum an.9 Wir wissen über die Folterung nichts genaues, außer daß man sie mit der Peitsche durchführte, bzw. mit dem Rad unter Aufsicht eines staatlichen Folterers; sie scheint streng geregelt gewesen zu sein. 7 Demosth. XXII, 54 f. u. XXIV, 166 f. Um Freien die Folter anzudrohen, mußte die Boulè beim Hermokopidenfrevel 415 v. Chr. das entsprechende Gesetz aufheben (Andokides 1. 43 f.). Dazu: Virginia J. Hunter: Policing Athens. Social Control in the Attic Lawsuits, 420–320 BC, Princeton 1994, S. 175. 8 Gustave Glotz: Les esclaves et la peine du fouet en droit grec. In: Comptes rendus de l’Académie des Inscriptions et Belles Lettres, Paris 1908. Virginia Hunter hat kürzlich diese These überprüft und bestätigt (dies. 1994 [Anm. 7], S. 154–84). 9 (siehe nächste Seite)

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Neben der athenischen Agora, vor dem Hephaistos-Tempel, stellten Auspeitschungen einen sattsam gewohnten Anblick dar. Die Peitsche stand also für die unerbittliche Grenzziehung zwischen Freien und Unfreien, und ihr Klatschen war inmitten der Polis häufig zu hören. Die Schmerzensschreie der Gepeinigten hallten vom Hephaistostempel über die Agora und strukturierten das Zentrum der Polis Athen als akustischen Raum. Eine alltägliche Erfahrung, welche jedermann einschärfte, wo die politische Grenze verlief und was sie bedeutete. Die Peitsche wurde in der Klassik zum politischen Symbol, weil jeder Freie wußte, daß sie ihm niemals drohen konnte, wohingegen Sklaven ständig mit ihrer Drohung leben mußten. Die grundsätzliche Trennung derjenigen Personen, die möglichst nicht körperlich zu züchtigen und auf keinen Fall zu foltern waren, von jenen, denen körperliche Züchtigung jederzeit drohte, verschaffte der Sklavenfolter eine semantische Prägnanz, die anschlußfähig war für Vorstellungen und Diskurse. Es ist apriori anzunehmen, daß diese Praktiken eine semantische Konnotation herstellten zwischen dem Erleiden von Gewalt und dem Zustand eingetretener oder drohender Unfreiheit. Anders gesagt: Die Diskurse über Gewalt und über die Differenz zwischen Freien und Sklaven waren deswegen so plausibel, weil die soziale Wirklichkeit diesen Diskursen massive Anhaltspunkte bot. b) Eingrenzung der Gewalt unter Freien Wie die Peitsche das Symbol dafür war, daß Sklaven jederzeit legitimerweise die demütigendste Form von Gewalt erleiden konnten, so sollten Gesetze verhindern, daß es unter Freien – insbesondere unter Bürgern – überhaupt zum Einsatz von Gewalt kam. Die Gesinnung, die zur Anwendung von Gewalt führte oder aber eine gewaltsame Auseinandersetzung auslöste, galt als schlimmer als die Gewalttat selber. In der attischen Rechtsprechung wurde sie als ‚Hybris‘ bezeichnet, ein Delikt, das Demosthenes erwähnt 9 Die zeremonielle Herausforderung: Demosth XXIX, 11 f., 19 f. u. 31 f. sowie LIX, 123 f. Öffentliche Folterstätten: Demosth. XLVII, 12, Isokrates XXXVII, 42. Folter verfahren: Antiphon I, 10 u. V, 32–35. Abwegig ist die Behauptung Thürs, diese Form der Sklavenfolter sei im Laufe des 4. Jhs. v. Chr. kaum noch praktiziert worden; wenn die Gerichtsredner nicht auf eine praktizierte Sklavenfolter verweisen, dann nicht darum, weil diese nicht mehr geübt wurde, sondern – wie J. Modrzejewski (Kritik an Thür, in: Symposion 1974, S. 166 f.) betont – weil ein außergerichtliches Basanos-Verfahren die gerichtliche Auseinandersetzung ersparte. Vgl. J. W. Headlam: Slave torture in Athens. In: CR 8 (1904), S. 136 f.; ebenso Finley (1980) [Anm. 4], S. 112–15; P. duBois: Torture and Truth, New York 1991; D. Mirhady: The Oath-challenge in Athens. In: CQ 41 (1991), S. 78–83.

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und definiert.10 Ihre Gefährlichkeit für den politischen Zusammenhalt einer Bürgergemeinde war allbekannt; Heraklit hält sie für schlimmer als einen Brand.11 Laut Aristoteles war sie dann besonders widerwärtig, wenn sie sich gewalttätig äußerte.12 Es ist kein Zufall, daß Hybris-Klagen kaum geführt wurden, zumindest nicht mit belegbarem Erfolg; denn eine solche Gesinnung ließ sich vor Gericht sehr schwer nachweisen. Um so mehr suggerieren die Gerichtsredner die Wahrscheinlichkeit, daß ein Angeklagter mit hybrider Gesinnung gehandelt habe. Gewalttäter mußten darauf bedacht sein, keinesfalls in diesen Ruch zu kommen. Darum ist die Hybris in einem Ausmaß rhetorisch präsent und semantisch wirksam, welches verblüfft.13 Die Redner erblickten in ihr eine Gesinnung, die sich grundsätzlich gegen die Gleichheit der Bürger, gegen den Bürgerstatus14 und gegen die Demokratie richteten.15 Das öffentliche Interesse kam deswegen so vehement ins Spiel, weil der auf hybride Weise Gewalttätige nicht nur den Gegner durch den Gewaltakt erniedrigte, sondern sich selber über das Gesetz stellte. Darum galt das Gesetz auch dann, wenn die Opfer nicht Bürger, sondern Fremde und Sklaven waren.16 10 Demosth. XXI, 47. Zum Thema der Hybris ist unter rechtshistorischen Gesichtspunkten viel geschrieben worden. Das Wesentliche scheint mir erarbeitet worden zu sein von U. E. Paoli: ‚Hybris‘. In: Novissimo Digesto Italiano, Vol. VIII (1968), S. 113 f. Ähnlich: Francesco D’Agostino: Bia, Mailand 1983, S. 25–35, und David Cohen: Law, Violence and Community in Classical Athens, Cambridge 1995, S. 121–26 und S. 143–62. 11 Herakl. fr. B 43 (Snell). 12 Aristot. rhet. II, 2, 1378b10. 13 D’Agostino (1983) [Anm. 10], S. 25 ff. interpretiert diesen Umstand so, daß die Gewalt selber ihr Eigengewicht verlor, sobald sie auf Hybris zurückgeführt werden konnte. 14 So Demosth. XXXVI, 30. Dazu unter anderem Aspekt: Kenneth J. Dover: Greek Homosexuality, London 1978, S. 34–39 und D’Agostino (1983) [Anm. 10], S. 28 f. 15 Demosth. XXI, 42–46 u. 208–212, Isokr. XX, 1 (ein Angriff auf den Leib eines Bürgers ist ein Angriff auf die Demokratie). 16 Auch den Sklaven schützte das Gesetz vor einem hybriden Akt. Diese Merkwürdigkeit versucht N. Fisher: The Law of Hybris in Athens. In: Nomos. Essays in Athenian law, politics and society, hrsg. von P. Cartledge, P. Millet und St. Todd, Cambridge 1990, S. 123–38, hier: S. 127 A. 20 – gegen Paoli (1968), D’Agostino (1983) [beide Anm. 10] u. a. – so zu interpretieren, als wolle das Gesetz weniger das Kollektiv als vielmehr das Individuum davor schützen, seine Ehre, seine timè zu verlieren: „In the classical period it was taken as an indication that slaves had some minimal timè that entitled them to protection against the grossest maltreatment (in effect no doubt from others than their masters)“. Die Begründung ist mangelhaft.

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Wenn die stets drohende Hybris-Klage auf den inneren Zusammenhalt der Bürgerschaft zielte, dann mußte sie vor allem gewalttätige Auseinandersetzungen betreffen. Fisher meint, das Hybris-Gesetz schreckte Athener davon ab, sich handgreiflich zu rächen.17 Doch das Verhältnis des Gesetzes zur Anwendung von Gewalt ist komplizierter. Denn das athenische Gesetz ermutigte dazu, extreme Gewalt anzuwenden, sobald unzweideutig ein schweres Verbrechen abzuwehren oder zu bestrafen war. Das wird an zwei Fällen deutlich, die gemeinhin als Beleg für die Regelung von Notwehr gelten. Das erste stammt aus einer Rede des Antiphon, etwa aus der Mitte des 5. Jahrhunderts.18 Der fiktive Angeklagte verteidigt sich gegen eine Mordklage. Er hatte mit einem Bekannten tüchtig getrunken; sie hatten begonnen, einander zu beleidigen; der andere versetzte dem Angeklagten einen Schlag; dieser schlug mit der Faust so zurück, daß sein Gegner Tage später starb. In seiner Verteidigungsrede behauptet der Totschläger: Er schlug zuerst; sogar wenn ich mich verteidigt hätte mit Eisen, mit Stein oder mit Holz, wäre ich nicht schuldig; denn wer anfängt, verdient nicht das gleiche zu erleiden, sondern mehr und schlimmeres […].

Der Gegenschlag durfte demnach ‚übermäßig‘ ausfallen, wenn man unter ‚angemessen‘ versteht, daß man das Talion als ‚Maß‘ der Vergeltung anlegte. Die Berechtigung zur Überbietung sieht der Angeklagte darin, daß wer mit der Gewalt anfängt nicht gleiches erleiden soll. Das ist seltsam. Hätte ein Sklave – als Person – jene minimale timè besessen, die Fisher postuliert, dann wäre sie ihm in jeglicher Hinsicht zugekommen, also auch gegenüber seinem Herrn. Doch sein Herr konnte ihn auf jede beliebige Weise foltern und töten. Folglich wurde der Sklave just nicht als Person geschützt, sondern in seiner Eigenschaft als Besitz seines Herrn. Denn in dieser Eigenschaft war er den Attacken und Übergriffen anderer privater Personen ausgesetzt, die sich am Sklaven vergriffen, um den Herrn zu demütigen. Ein Beispiel dafür bieten die Söhne Konons, welche sich an den Sklaven des Ariston vergingen, um diesen zu provozieren und zu erniedrigen (Demosth. 54, 4). Dem entspricht, daß die solonischen Gesetze den Ehebrecher als hybrid Handelnden der Tötung preisgaben, falls er in flagranti im Hause des Ehemanns ertappt wurde, wohingegen die Vergewaltigung einer freien Athenerin nur mit einer Geldstrafe belegt wurde. Das Gesetz schützte kaum die Person der Frau, dafür aber mit voller Wucht das Haus des Ehemanns. 17 Fisher (1990) [Anm. 16], S. 132–34 mit Verweis auf Demosth. XXI, 62–65. 18 Antiph. 3. Tetralogie b, 2 (éd. Gernet), Paris 1954, S. 85–100. Ob alle Tetralogien Übungsreden waren, ist unklar. Es ist aber opinio communis der Rechtshistoriker, daß die rechtlichen Begründungen genau der attischen Gesetzeslage entsprechen (siehe Gernets ‚Notice‘, S. 85–87).

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Entweder müßte die Notwehr gelten; in diesem Falle ist dem Angegriffenen eine übermäßige Reaktion erlaubt, denn er muß ja Schaden von seinem Leib oder Leben abwehren. Oder aber es besteht gar keine Notwehr; dann – so wäre zu erwarten – sollte der Angegriffene die Sache vor Gericht bringen. Erlaubt man ihm, ohne Not zurückzuschlagen, dann wäre zu erwarten, daß dieser Gegenschlag sich genau an das Talion hält, d. h. sich an der Heftigkeit des Angriffs bemißt und diesen nicht übersteigt. Eine Überbietung beim Zurückschlagen zuzulassen ist deswegen so brisant, weil die Überbietung notwendigerweise zur Eskalation und daher zur schwersten Gewaltanwendung und womöglich zur Tötung führt.19 Der Angeklagte fährt fort: Der Ankläger wird mir entgegnen: Mag sein. Aber das Gesetz verbietet zu töten – sei es berechtigt oder unberechtigt. Und es bestimmt, daß du der Strafe für die Tötung verfallen bist. Denn der Mann ist gestorben. (13,2 f.)

Das ist die Rechtslage. Der zuerst Mißhandelte durfte sogar mit harten Gegenständen zurückschlagen; somit billigte das Gesetz, daß er den Widersacher schwer verletzte. Freilich, das Gesetz betrachtete denjenigen, der ‚exzessiv‘ zurückschlug, als Mörder, falls der Gegner an den Folgen des Gegenschlages starb, sei es sofort oder erst später. Das Gesetz scheint an dieser Stelle eine absolute Grenze gezogen zu haben. Und damit bewegen wir uns weg von der reinen Rechtsgeschichte hin zum praktizierten Ethos sozialer Gruppen. Nun zum zweiten Beispiel. Der athenische Redner Demosthenes klagte etwa um 348/346 20 v. Chr. Meidias an, der ihm in aller Öffentlichkeit ins Gesicht geschlagen hatte. Demosthenes begründet, wieso er sich nicht augenblicklich wehrte und zurückschlug. Dabei erwähnt er zwei Fälle von Totschlag im Streit, wovon der eine in der Diskussion um das attische Notwehrrecht eine wichtige Rolle spielt. Viele wissen, daß Euaion, der Bruder des Leodamas, bei einem Gastmahl den Boiotos wegen eines einzigen Schlages tötete. Nicht der Schlag machte ihn wütend, sondern die Entehrung. Auch ist es nicht eine so furchtbare Sache für einen freien Mann, geschlagen zu werden – obwohl es an sich furchtbar ist –, aber doch wenn es mit Überheblichkeit geschieht […]. 19 Siehe dazu: E. Flaig: Ehre gegen Gerechtigkeit. Adelsethos und Gemeinschaftsdenken in Hellas. In: Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, hrsg. von J. Assmann, B. Janowski und M. Welker, München 1998, S. 97–140, hier: S. 125–28. 20 Zur Datierung: Iosiah Ober: Mass and Elite in Democratic Athens, Princeton 1989, S. 344.

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Er (Euaion) wurde von einem Bekannten geschlagen; dieser Bekannte war betrunken. Und es geschah in Gegenwart von sechs oder sieben Menschen, die ebenfalls Bekannte waren; und sie hätten wahrscheinlich Boiotos getadelt für das, was er getan hatte und den Euaion hinterher gelobt, wenn er Ruhe bewahrt und sich zurückgehalten hätte […]. Ich denke, ich verhielt mich besonnen, Ihr Athener, oder war vielmehr glücklich beraten, als ich in jenem Augenblick Ruhe bewahrte und mich nicht dazu hinreißen ließ, etwas nicht wieder gut zu machendes zu tun, obschon ich volles Verständnis für Euaion habe und für jeden, der sich wehrt, wenn er entehrt wird. Und so taten viele der damaligen Richter, glaube ich. Denn ich habe gehört, daß er verurteilt wurde mit nur einer einzigen Stimme Mehrheit – und das, obwohl er weder Tränen vergoß, noch irgendeinen der Richter anflehte, noch den Richtern irgendeine – sei es große, sei es kleine – Gefälligkeit erwies. Nehmen wir also an, daß jene, die ihn verurteilten, nicht deswegen gegen ihn stimmten, weil er sich gewehrt hatte, sondern weil er es so tat, daß er tötete, während jene, die für Freispruch stimmten, sogar diese exzessive Vergeltung einem Manne zubilligten, der am Leibe von einem Überheblichen mißhandelt worden war.21

Folgende Punkte sind maßgeblich: 1. Der Totschlag ereignet sich in einer sozialen Standardsituation, bei einem Gastmahl von acht oder neun Anwesenden. Euaion erlitt einen einzigen Schlag, und er war nicht weiter bedroht. Es waren Bekannte, sicher auch Freunde zugegen, die eingegriffen hätten, wenn Boiotos den Euaion noch weiter zu schlagen versucht hätte (auch wenn sie nicht in der Lage waren, den ersten Schlag zu verhindern). 2. Der griechische Ausdruck ¢mÚnein – übersetzt als „abwehren“ – kann die Gegenwehr in einer Notlage bezeichnen, aber auch die Vergeltung, die Rache – also ein Zurückschlagen ohne Notlage. Beides sind allerdings ganz unterschiedliche soziale Sachverhalte. 3. Demosthenes behauptet, nicht der Schlag selber habe den Gegenschlag ausgelöst und ergo auch nicht die Notlage, eine weitere Bedrängnis abzuwehren, sondern die Beleidigung. Er benutzt das Wort ¢tim…a, ein sehr starkes Wort, das zumeist eine politische Bedeutung besitzt und den Verlust der Ehrenrechte bezeichnet. Demosthenes stellt also den tödlichen Gegenschlag in den Kontext der Rache (er spricht eigens von timwr…a, von Rache). Darum unterliegen Rechtshistoriker einem Mißverständnis, wenn sie diese Stelle heranziehen, um die Regelung der Notwehr zu ermitteln. Denn es geht nicht um Notwehr; es geht um Vergeltung und Ehrwahrung. 21 Demosth. XXI, 71 ff.

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4. Als Grund für die Verurteilung gibt Demosthenes an, daß die „Gegenwehr“ zum Tod geführt hat. Wenn Demosthenes die Motivation der Richter richtig interpretiert, dann hielten diese zwar die Vergeltung für erlaubt; sie hätte aber nicht zum Tode des Aggressors führen dürfen.22 Demosthenes nennt die Gegenwehr des Euaion exzessiv (Øperbol¾ tÁj timwr…aj = Exzess bei der Rache), d. h. er setzt implizit ein Maß der Vergeltung voraus. Worin besteht dieses Maß? Eben nicht im Talion. Denn die Vergeltung darf den Angriff weit übersteigen. Es gibt folglich kein Maß, sondern eine absolute Grenze: die Tötung von Bürgern – oder Freien – ist streng untersagt, ausgenommen in genau definierten Fällen. Wie erklärt sich die extrem knappe Mehrheit für die Verurteilung? Wenn die versammelten Richter fast genau in zwei gleiche Hälften gespalten waren, dann muß der Riß tief gewesen sein. Die Interpretation der Sachlage scheint eindeutig und unumstritten gewesen zu sein. Gespalten waren die Richter beim Bewerten, also bei der Frage, ob das Gesetz anzuwenden sei oder ob die Billigkeit gelte; diese gestattete, einen athenischen Bürger mitten in einer sozialen Standardsituation zu töten, falls die Wahrung der Ehre einen tödlichen Gegenschlag erforderte, und das, obwohl das Gesetz diese Möglichkeit nicht zuließ. Gesetz und immer noch gängige Vorstellungen von angemessenem Verhalten widersprachen sich. Wer also die Gewalt in den befriedeten Raum der Polis hineintrug und dort, den ersten Schlag führend, ausbrechen ließ, den lieferte das Gesetz einer übermäßigen Gegengewalt ungeschützt aus; es schützte nicht mehr seine physische Integrität, sondern lediglich sein Leben; denn auch die legalisierte übermäßige Gegengewalt sollte eine absolute Grenze nicht überschreiten. Die athenische Gesetzgebung hat also die Gewalt zwischen Bürgern einzugrenzen versucht, indem sie denjenigen, der mit der Gewalt anfing, einer legalen Gegengewalt aussetzte, die ihn ‚unverhältnismäßig‘ schwer treffen durfte. Die kollektive Sorge scheint nicht in erster Linie der Eskalation gegolten zu haben, sondern der quasi mythischen Qualität des ‚Anfangens‘.

22 Dann kann es kein Notwehrgesetz gegeben haben, obschon die opinio communis der Rechtshistoriker ein solches postuliert. Vgl. Douglas M. MacDowell: Demosthenes. Against Meidias (Oration 21), Oxford 1990, S. 292. Denn in eine akute Notlage geriet ja – unter bestimmten Umständen – derjenige, der mit dem Schlagen anfing. So schon Gernet, Antiphon, S. 85 A. 1.

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II. Die Gewalt im politischen Denken. Apotheose und Bewältigung Nun zu den Diskursen über die Gewalt. Besieht man das politische Denken der Griechen von der Archaik bis zum 4. Jh. näher, dann lassen sich zwei Linien erkennen, die sich über mehrere Jahrhunderte durchhalten: Erstens ein Diskurs, der gemeinschaftsbildende und gemeinschaftsstabilisierende Werte in den Vordergrund stellt; dieser Diskurs läßt sich in kohärenter Form bei unterschiedlichen Autoren fassen; er reicht von Hesiod über Solon und Aischylos bis zu Platon; im folgenden soll er vereinfachend ‚Gerechtigkeitsdiskurs‘ heißen. Zum anderen ein Diskurs, der den Kampf, die Ehre und die Überlegenheit ins Zentrum stellt und dem Stärkeren den Vorrang vor der Gemeinschaft und ihrem Zusammenhalt zuspricht; er reicht von Homer über Heraklit und – mit Einschränkungen – Pindar zu einzelnen Sophisten wie Kallikles und Thrasymachos; einzelne Bruchstükke dieses Diskurses finden sich als rekurrente Versatzstücke in vielen politischen Auseinandersetzungen, vor allem im 5. Jh. Nennen wir ihn den agonistischen Diskurs. In diesem ist die Gewalt schwerlich oder gar nicht eingrenzbar und entzieht sich tendenziell der Wirkkraft rechtlicher oder moralischer Regeln. Die folgenden Texte bieten zwar kein Abbild ‚des‘ griechischen Denkens der vorklassischen und frühklassischen Epochen; sie sind nicht einmal repräsentativ für eine dominante Strömung in der griechischen Kultur. Eher markieren sie äußerste Endpunkte, extreme Fälle. Doch diese extremen Fälle sind nicht erratische Blöcke, die isoliert herausragen; sondern sie haben ihren Platz auf einer Skala von Varianten; sie ergeben sich aus konsequenter Vereinseitigung von Maximen oder Werten, die weit überwiegend geteilt wurden. An den homerischen Epen läßt sich zeigen, wie die Hochschätzung des adligen Ruhms und des heldischen Gebahrens den Dichter dazu nötigt, die Rücksicht auf die Gerechtigkeit und auf den Zusammenhalt einer Gemeinschaft preiszugeben, um die pure Transgression zu feiern. Und manche Stellen implizieren eine geradezu nackte Amoralität. Eine davon findet sich in der Odyssee: Als Odysseus unerkannt bei den Phäaken als Gast weilt, besingt der Sänger Demodokos den Untergang Trojas; Odysseus lauscht und weint; daraufhin tröstet ihn sein Gastgeber mit den Worten: Dieses schufen die Götter; sie spannen den Menschen Verderben; Sollten doch auch noch die Künftigen Stoff für Gesänge bekommen (Od. VIII 579 f.).

Das ist eine theologisch klare Aussage: Die Götter verderben die Menschen und vernichten Städte, damit künftige Generationen das grauen-

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volle Unheil besingen sollen. Zerstörung und Leid werden umgewandelt in eine ästhetische Erfahrung, welche sich mittels einer ästhetischen Praxis – nämlich des Gesangs – vollzieht. Wir erfassen in dieser Stelle eine erstaunliche Autonomisierung des Ästhetischen, aber zugleich auch eine radikale Ausweitung der ästhetischen Wertmaßstäbe bis hinein in den Bereich des göttlichen Handelns. Das ist nicht nur Ästhetisierung des Krieges, sondern auch des Untergangs, mitsamt all seiner greulichen Gewaltsamkeiten. Jacob Burckhardt hat in diesen Versen die Quintessenz der homerischen Theodizee erblickt und scharf kommentiert: „Dem Homer genügt der schöne und furchtbare Gedanke: die Götter haben den Menschen Verderben bestimmt, […] damit dasselbe zum Gesang werde für künftige Geschlechter“.23 Nietzsche hat von Burckhardt gelernt; er radikalisierte diese Konzeption und formulierte sie als regelrechte Kosmodizee. Leid, Vernichtung und Zerstörung – so Nietzsche – müssen demnach sein, damit die Menschen immer neuen Stoff für Gesänge erhalten. Gewiß, Homers politische Theologie und die Nietzschesche Formel – „Denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“24 – sind nicht deckungsgleich. Aber obwohl die kulturellen Rahmenbedingungen ganz verschiedene sind, führen die bedingungslose Befürwortung der Agonalität und die Steigerung des Ruhmesgedankens zur Konsequenz, daß eine göttliche Gerechtigkeit undenkbar und blanke Amoralität vertretbar wird. Wie der Dichter das amoralische göttliche Handeln bewertet, an welchen moralischen Maßstäben er es mißt, ist den Versen nicht zu entnehmen. Aber die Frage nach dieser Bewertung steht im Raume. Ich möchte nun zeigen, daß Heraklit den Homer sogar noch überbietet: a) B 102 B: Vor Gott ist alles schön, gut und gerecht (kal¦ p£nta kaˆ ¢gaq¦ kaˆ d…kaia); aber die Menschen wähnen, das eine sei unrecht (¥dika), das andere recht (d…kaia).

23 Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, Bd. II, S. 88 und S. 359. Welche geschichtstheoretische Tragweite diesem Element im Werk von Burckhardt zukommt, hat J. Rüsen: Jacob Burckhardt. In: Deutsche Historiker, Bd. III, hrsg. von H.-U. Wehler, Göttingen 1972, S. 3–28, entdeckt. 24 Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, München 1977, Bd. 1, S. 40. Dazu: E. Flaig: Der mythogene Vergangenheitsbezug bei den Griechen. In: Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Ägypten und das Frühe Griechenland, hrsg. von J. Assmann und K. E. Müller, Stuttgart 2005, S. 215–48, hier: S. 219–24.

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Wenn Heraklit „alles“ sagt, dann meint er auch „alles“. Und wenn er Kernbegriffe der Moral und des Rechts verwendet, dann nicht aus Versehen. Wenn alles schön und gerecht ist vor Gott (welchen Heraklit im Singular nennt), dann hat dies verheerende theologische, ontologische und moralische Folgen. Heraklit könnte zugeben – und er hat es in einer anderen Sentenz betont25 –, daß Menschen nicht anders zusammen leben können als unter dem Gesetz, unter dem Nomos, welcher streng Recht und Unrecht scheidet. Aber diese fundamentale Scheidung ist für ihn eine willkürlich gesetzte; sie ist weder von den Göttern noch von der Natur gegeben. Und diese Willkürlichkeit macht die Unterscheidung (zwischen gut und böse) politisch prekär, weil die verschiedenen Ethnien den unterschiedlichsten Nomoi folgen und jeweils gut damit leben. Was prekär und relativierbar ist, kann dennoch absolute Geltung innerhalb einer Gemeinschaft beanspruchen; und ein Nomos muß dies auch leisten, andernfalls löste der soziale Zusammenhalt sich rasch auf. Nun kann man diese Unterschiedlichkeit anerkennen, ohne im geringsten zum moralischen Relativismus getrieben zu werden; denn Beobachter wie etwa Herodot hielten es für selbstverständlich, daß der Nomos absolute Geltung hat, aber eben nur innerhalb derjenigen Kultur, in welcher man nach ihm lebt. Notwendigerweise kann daher nicht allein vor den Augen der Menschen manches ungerecht sein, sondern muß dies auch vor den Augen des ‚Gottes‘ sein, falls diesem an der Stabilität und dem Überleben menschlicher Gemeinschaften etwas liegt. Anders verhält es sich, wenn innerhalb ein und derselben Stadt ein neuer Nomos einen älteren ablöst. Hier nämlich drängt sich die Relativierbarkeit unmittelbar auf; denn mit hoher Wahrscheinlichkeit hält ein Teil der Bürger die alte Ordnung für besser als die neue. Verändern die Bürger innerhalb derselben Gemeinschaft den Nomos erheblich, dann erfahren die Akteure die Relativität der Ordnung überhaupt. Darum sind die Probleme, welche sich im Fragment B 102 auftun, nicht dadurch zu lösen, daß man die Antwort im Fragment B 114 sucht – wonach alle einzelnen Nomoi sich am einen Nomos nähren. Denn in B 102 behauptet Heraklit schlicht, daß für Gott die moralische Dimension nicht existiert. Es geht hier nicht nur um die Schönheit von Naturkatastrophen, sondern um Vorgänge, die von menschlichen Gruppen moralisch bewertet werden und auch bewertet werden müssen, weil moralische Indifferenz gar nicht möglich ist, sobald der soziale Zusammenhalt berührt ist. Heraklit überbietet Homer, denn Heraklit ästhetisiert nicht nur das Unrecht, sondern er recht25 Herakl. fr. B 44: Die Bürger sollen um ihren Nomos so kämpfen wie um die Mauer der Stadt.

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fertigt kategorisch Unrecht und Gewalt: Alles (p£nta) ist schön vor Gott; das ist das Fundament, um jegliche Gewalttat gutzuheißen. Daraus ergeben sich drei Schlüsse: Erstens ist jede gewaltsame Handlung, jede Zerstörung von Städten, jeder Mord, jede Massenvernichtung, jede Völkerausrottung letzten Endes gerecht, auch wenn wir Menschen es nicht einsehen. Zweitens negiert Heraklit entschieden, daß Gott Hüter der menschlichen Gerechtigkeit sei. Dann können es aber die Götter im Plural auch nicht sein. Er negiert also die fundamentale Behauptung, die Hesiod und Solon verfochten haben. Diese Leugnung ist radikaler als jene bei Homer, bei welchem die Götter gelegentlich von Gerechtigkeit reden, wenn sie dazu Lust haben.26 Drittens ist Gerechtigkeit eine auf perspektivischer Täuschung beruhende Illusion. Somit ist allen gemeinschaftsbezogenen Diskursen über die menschliche Ordnung das entscheidende Fundament entzogen.27 Dann aber gibt es keine allgemein bindende Kraft, um die Gewalt einzugrenzen. Die Theodizee entleert sich damit vollständig.28 Denn nicht weil etwas Gutes herauskommt, ist alles gerechtfertigt, sondern obwohl nichts besser wird und sich alles einfach bloß verändert. An einen radikalen Ästhetizismus rührt die Sentenz insofern, als tatsächlich alles schön sein kann, wie Schopenhauer aufweist,29 aber keinesfalls alles gut sein kann, solange die moralische Dimension als eigenständige noch wirkt. Die moralische Dimension 26 Flaig (1998) [Anm. 19], S. 106–09. 27 Zwischen Göttern und Menschen verläuft nicht bloß eine seinsmäßige Grenze, weil die Götter unsterblich und mächtig sind, sondern eine bedingt transzendentale: Wir begreifen das Göttliche nicht, falls – und das ist der Grund des Nichtbegreifens – wir befangen bleiben in unserer moralischen Befangenheit. Heraklit ist sich des polemischen Gehalts seines Satzes bewußt, daher die kategorische Formulierung. 28 Zu erinnern ist an Hegels Anspruch: „Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine ‚Logik‘ aufgenommen“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. In: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1971, Bd. 18, S. 320). Freilich rechnet Hegel mit der Wirkkraft der ‚Aufhebung‘, welche die Kollisionen der Gegensätze auf stets höhere Gestaltungen des Geistes hintreibt. Ohne diese Idee des Fortschritts verbleibt der Heraklitische Satz im Horizont einer Apotheose einer ziellosen Veränderung. 29 Ein radikaler Panästhetizismus ist gezwungen, die Differenz schön/unschön zu entobjektivieren und sie vollständig in das betrachtende Subjekt zu verlegen. Daher gibt es nach Schopenhauer nichts unter der Sonne, was nicht schön sein könnte: Denn man kann „jedes vorhandene Ding rein objektiv und außer aller Relation“ betrachten; und da jedes Ding „Ausdruck einer Idee ist; so ist auch jedes Ding schön“. Auch die allerhäßlichsten Dinge werden schön, sobald das betrachtende Subjekt einen genügend hohen Grad von Kontemplation erreicht und zur Anschauung der Idee gelangt (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung III, §41. In: Sämt-

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kollabiert zwangsläufig, wenn die Leitdifferenz gut/schlecht nicht mehr existiert; die ästhetische kollabiert nicht, wenn man ihr die Differenz schön/ unschön entzieht. Der Panästhetizismus ist das genaue Pendant zur Entmächtigung des Moralischen. Wir gelangen unweigerlich in die Nähe von Nietzsches ästhetischer Kosmodizee.30 Eine solche Behauptung göttlicher Amoralität ist für Hochkulturen ein seltenes und seltsames Phänomen. b) B 53: PÒlemoj p£ntwn män pat»r ™sti, p£ntwn dä basileÚj, kaˆ toÝj män qeoÝj œdeixe toÝj dä ¢nqrèpouj, toÝj män doÚlouj ™po…hse toÝj dä ™leuqšrouj. Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, – die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien (Snell).

Es geht um die beiden grundlegenden Differenzen, um die kosmische zwischen Göttern und Menschen und um die politische zwischen Freien und Sklaven. Es ist verblüffend wie Heraklit in diesem Fragment die fundamentalen Trennungen in politischen Kategorien zu denken versucht. Diese Differenzen werden vom Krieg produziert und von ihm aufrechterhalten; sie verdanken sich dem Einsatz von Gewalt. Die Aussage der Sentenz lautet: Der Krieg ist die äußerste Form des Kampfes; er schafft die Differenzen, ohne welche die kosmische und die politische Ordnung nicht existierten. Allerdings sind die Götter wesensmäßig, was sie sind; Krieg und Sieg machen sie lediglich als solche erkenntlich. Freie und Sklaven hingegen werden durch den Sieg nicht erkenntlich, sondern zu solchen erst gemacht. Als Operant leistet der Krieg zweierlei: Er legt die Wesensverschiedenheit offen, falls sie zuvor schon besteht; oder er erzeugt selber eine Wesensverschiedenheit, die zuvor als solche noch nicht existierte.31 Der Krieg, die überlegene Gewalt, schafft Sieger und Besiegte. Denkt man die Ordnung liche Werke, bearb. v. Frh. v. Löhneysen, Darmstadt 1974, Bd. I, S. 298 f.). In dieser Ästhetik ist daher die Schönheit überhaupt nichts, was dem Ding anhaftet, sie gehört allein der Idee; folglich läßt sie sich nicht substantialisieren; daher taugt die Opposition Schönes/Unschönes nicht mehr als Leitdifferenz einer kulturellen Dimension. 30 Nietzsche rechtfertigt, wo Jacob Burckhardt bloß ästhetisiert. Er legt den Griechen der ‚reifsten Fülle ihrer Gesittung‘ diese Maxime in den Mund: „Die Gewalt gibt das erste Recht, und es gibt kein Recht, das nicht in seinem Fundamente Anmaßung, Usurpation, Gewalttat ist.“ (Friedrich Nietzsche: Der griechische Staat. In: Werke in drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, München 81977, Bd. III, S. 280). 31 Mit der überlegenen Gewalt begründet und rechtfertigt Heraklit die radikale Differenz zwischen den Menschen, nämlich die Sklaverei. Demgegenüber kehrt Aristoteles das Begründungsverhältnis um: die präexistente radikale Differenz zwischen Menschen – d. h. ihre natürliche Ungleichheit –, rechtfertigt es, Menschen mit Gewalt in den Zustand zu versetzen, in den sie gehören (s. Aristot. pol. 1256b23–26).

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nicht nur aspektiv, sondern umfassend gemäß diesem Prinzip, dann erscheinen alle sozial oder politisch Untergeordneten als Besiegte. Der Krieg ist ewig. Die Metapher sagt es deutlich: Der Krieg ist nicht nur Vater von allem, sondern auch König. Er ist nicht bloß Ursprung von allem, sondern Herr von allem. Als König bleibt der Krieg an der Herrschaft. Keine eunomia kann den Krieg suspendieren. Heraklit läßt auch keinen Schiedsrichter zu; denn der Krieg ist selber Schiedsrichter. Damit singt Heraklit eine Hymne auf den verewigten Kampf, welcher sich selber seine Regeln gibt. Der gewaltsame Zwist ist damit nicht bloß Ausgangspunkt jedweder Ordnung, wie es Solon explizit ausdrückt: „Und so stand ich, und warf den Schild nach beiden Seiten/Keinen von beiden ließ ich wider das Recht siegen“.32 Auch Solon faßt den Kampf als Ursprung der politischen Ordnung, der eunomia. Doch sieht er einen Schiedsrichter vor, nämlich sich selber, welcher den Sieg nur zuläßt, wo der Sieg gebührt. Und außerdem beendet die Wohlordnung diese Art von Kampf; denn die durch Kampf hergestellte Ordnung suspendiert den Kampf. Anders bei Heraklit. Der gewaltsame Zwist ist ins Zentrum der Ordnung selber gerückt. Damit wird Ordnung völlig momentan – selbstverständlich auch die menschliche und politische Ordnung; denn Heraklit spricht in politischen Begriffen. Immer wieder muß neu festgestellt werden, wer der Stärkere ist – sei es im sportlichen agon, sei es bei der Durchsetzung innerhalb der Institutionen, sei es bei der Probe, ob die herrschenden Gruppen es auch wert sind, zu herrschen. Politisch heißt dies: Heraklit tilgt die Sehnsucht Hesiods und Solons, zumindest im Innern der Polis Frieden zu haben. Zwar rechtfertigt Heraklit in seiner Sentenz nicht die Herrschaft des Stärkeren, denn die Sentenz ist indikativisch, nicht als Postulat formuliert; aber aus ihr läßt sich mühelos die Herrschaft dessen legitimieren, der im Zwist die Oberhand behält. Daran schließt sich eine weitere Folgerung an: Ins Politische gewendet beinhaltet die Sentenz, daß der Bürgerkrieg ständig droht oder tobt. Das ist logisch, da – wie Rousseau gegen Hobbes gezeigt hat – das Recht des Stärkeren eben kein Recht ist, sondern so lange gilt, wie kein noch stärkerer ihm ein Ende bereitet.33 32 Siehe: Solon, F 5, vv. 5 f. (zit. nach: Frühgriechische Lyriker I, bearb. von Bruno Snell und Herwig Maehler, Berlin 1971, S. 38). Dazu: Nicole Loraux: Solon au milieu de la lice. In: Mélanges pour H. Effenterre, Paris 1984, S. 199–214. 33 Jean-Jacques Rousseau: Le Contrat Social 1,3: „Le plus fort n’ est jamais assez fort pour être toujours le maître, s’ il ne transforme sa force en droit, et l’ obéisance en devoir […] On voit donc que ce mot de droit n’ ajoute rien à la force, elle ne signifie ici rien du tout“. Viele griechische Denker hätten Rousseau umstandslos zustimmen können.

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Wider Willen vollendet Pindar die Apotheose der Gewalt. Einerseits ist diesem Dichter der innere Frieden teuer; anderseits verherrlicht er die adlige aretè in einem Ausmaß, welches ihn Verse formulieren läßt, auf deren Konsequenzen sich andere gierig stürzen.34 Ich möchte das an dem vieldiskutierten Fragment 169 (Snell) zeigen,35 wobei ich mich auf den Anfang des Gedichts beschränke. NÒmoj Ð p£ntwn basileÚj qnatîn te kaˆ ¢qan£twn ¥gei dikaiîn tÕ biaiÒtaton Øpert£tv ceir…. tekma…romai œrgoisin `Hraklšoj: ™peˆ GhruÒna bÒaj Kuklèpeion ™pˆ prÒquron EÙrusqšoj ¢nate… te kaˆ ¢pri£taj œlasen. Nomos, der König von allem, der Menschen und Götter, führt mit überlegener Hand und rechtfertigt die größte Gewalttat. Ich bezeuge dies mit den Werken des Herakles: Weder erbat er noch zahlte er die Rinder des Geryon; Er trieb sie zur kyklopischen Schwelle des Eurystheus.36

Bei fast allen jener 12 Taten, welche Eurystheus dem Herakles aufträgt, betätigt sich der Held als Vernichter von Ungeheuern; alle Ungeheuer, die er tötet, sind schädlich, mit Ausnahme des dreileibigen Riesen Geryon; dieser tut niemandem etwas zuleide; er hütet bloß eine riesige Rinderherde. Herakles erschlägt den Geryon, um ihm die Rinder zu rauben. Hier steckt das Problem: Es ist die einzige Tat des Herakles, die als Gewalttat zugleich ein 34 Dazu: M. Kirschkowski: Norm und Identität. Untersuchungen zur Konstruktion von Wirklichkeit in den Dichtungen Pindars, (Diss.) Freiburg 1998, S. 224– 70. 35 Die Diskussion darüber ist umfangreich: M. Gigante: Nomos Basileus, Neapel 1956, S. 72–102; E. R. Dodds: Plato: Gorgias, Oxford 1959, pp. 270–272; F. Alderisio: Il Nomos di Pindaro nel Gorghias e nei Nomoi di Platone. In: Rassegna di scienze filosofiche 13 (1960), pp. 22–46; Kirschkowski (1998) [Anm. 34], S. 260–64. 36 Zum Text: Martin Ostwald: Pindar, NOMOS, and Heracles. In: Pindaros und Bakchylides, hrsg. von W. M. Calder III und J. Stern, Darmstadt 1970, S. 194–231, hier: S. 194–207. Meine Übersetzung folgt Cecil M. Bowra: Pindar, Oxford 1964, S. 75 (ähnlich Ostwald s. o., S. 207); andere Vorschläge: Erik Wolf: Griechisches Rechtsdenken, Frankfurt a. M. 1952, Bd. II, S. 187–94.

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brutales Unrecht darstellt. Und genau diese Tat nimmt Pindar, um jenen Begriff zu charakterisieren, der in den politischen Diskussionen zum Ordnungsbegriff schlechthin geworden war: nomos – Ordnung/Gesetz. Egal wie das Partizip dikaiîn übersetzt wird; der Sinn ist jedenfalls der, daß Gewalttätiges zu Recht gemacht wird. Nun könnte man sagen, das ist kein Problem: der Einsatz von Gewalt kann ja legitim sein; gerade die politische Ordnung bedarf der legitimen Gewaltanwendung, um die illegitime Gewalt zu unterbinden. Das ist – vom Standpunkt eines friedlichen Zusammenlebens in Gemeinschaft – notwendig und gut so. Und sogar Solon rühmt sich, er habe Gewalt und Recht, Bia und Dike, zusammengefügt.37 Er tat es zum Segen Athens, denn seine eunomia mußte durchgesetzt werden, und das ging kaum ohne Zwang. Doch um diese heilbringende Gewalt geht es hier nicht, von berechtigter Gewalt ist nicht die Rede. Denn Herakles begeht einen Raubmord. Pindar macht das schlimmste Unrecht des Herakles zum Paradigma für das Wirken des Nomos. Wie können wir das verstehen?38 In Platons Dialog Gorgias zitiert der Sophist Kallikles diese Verse, aus denen er eine Verteidigung des Rechts des Stärkeren herausliest, wobei er das Recht des Stärkeren für das Recht der Natur nimmt: „Ich kann das Gedicht nicht auswendig“, sagt Kallikles, „aber es erzählt, daß Herakles die Rinder des Geryones forttrieb, ohne sie zu bezahlen und auch ohne sie geschenkt zu bekommen; es sei also das Recht der Natur (nÒmoj fÚsewj), daß Rinder und alle Habe des Schwächeren und Geringeren dem Stärkeren und Besseren gehörten“.39 Kallikles kann diese pindarische Konsequenz in eine griffige philosophische Formel packen, die er genüßlich gegen Sokrates ausspielt: der wahre Nomos ist der Nomos der Natur – und dieser Nomos ist nichts weiter als das Recht des Stärkeren.40 Wie die Pindarischen Verse in der Antike aufgenommen wurden, darüber läßt die Überlieferungslage keinen Zweifel. Die quellenmäßig faßbare Tradition nach Platon hat die Pindar-Verse 37 Sol. 24 (Snell), vv. 15 f. 38 Dodds, Ostwald und Lloyd-Jones sträuben sich gegen die kallikleische Interpretation, überwiegend mit Argumenten, die darauf hinauslaufen: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Ich erörtere die unterschiedlichen Interpretationen in einem eigenen Aufsatz. 39 Zur Plat. Gorg. 484b–c. Ich folge der Übersetzung von Wilamowitz: Platon I, Leipzig 31929, S. 221. 40 Zwar hat Wilamowitz wiederholt betont, Platon zitiere nicht genau; und vor allem schiebe er dem Gedicht einen Sinn unter, den es gar nicht hätte haben können; denn von einer Antithese zwischen Nomos und Physis sei bei Pindar nicht die Rede. Aber das berührt nicht die Hauptaussage des Anfangs.

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so verstanden wie Kallikles.41 Selbst wenn diese Rezeption auf einem Mißverständnis beruhen sollte, kann es kein Zufall sein, daß sie überwogen hat. Die Verse Pindars schienen auf bestürzende und provozierende Weise eine Apotheose der Gewalt zu bieten. Ein solcher Nomos, wie die Rezeption ihn in dem Gedicht vorfindet, macht alle Dike zunichte. Ein solcher Nomos entlegitimiert jegliche politische Ordnung, macht sie widersinnig.

III. Die Gewalt im Innern der Polis – die Obsession des Bürgerkriegs Es ist kaum zu ermitteln, ob die griechische Polis in höherem Maße gewaltanfällig war als andere Stadtkulturen der mittelmeerischen Antike. Aber das Imaginäre dieser Kultur, das Ensemble ihrer Vorstellungen, war in einem hohen Ausmaß von den Drohungen geprägt, welche von der Gewalt ausgehen. Unter den Bedrohungen nahm der Bürgerkrieg die Gestalt einer besonderen politischen Obsession an. Die Furcht der Griechen vor der Stasis, vor der gewaltsamen Entzweiung der Bürgerschaft, durchzieht von Homer an das gesamte politische Denken. Die ‚Wohlordnung‘ preisend, erwartet Solon in seiner Staatselegie von ihr, zu verhindern, daß der ‚stets schlafende Bürgerkrieg‘ aufwache. Diese Metapher ist mit Bedacht gewählt, sie befördert eine verbreitete Furcht: Der Bürgerkrieg ist immer präsent; es bedarf nur eines geringen Anlasses, um ihn aktiv werden zu lassen.42 Auch die allerbeste Ordnung kann ihn nicht eliminieren; sie kann nur dafür sorgen, daß er weiterschläft. Allezeit bleibt die Ordnung von diesem bösen Geist bedroht. Nicole Loraux hat zu Recht in dieser Furcht das Zentrum des griechischen Imaginären gesehen.43 Große Teile der hellenischen Poleis blieben in der klassischen Zeit von diesem Übel verschont; wurden sie aber heimgesucht, dann war es furchtbar.44 Der Bürgerkrieg ist eben kein Krieg, sondern etwas anderes. Wenn organisierte Bürgerschaften gegeneinander Krieg führen, dann üben sie zwar systematische Gewalt gegeneinander aus, doch sie beachten dabei Regeln und Trennlinien. Diese Trennlinien verwi41 Siehe: Die antiken Bezugnahmen auf das Gedicht listet Ostwald (1970) [Anm. 36], S. 218 A. 84 auf. 42 Solon, Eunomia v. 19 (Snell/Maehler 1971 [Anm. 32], S. 36). 43 Nicole Loraux: L’oubli dans la cité. In: Le Temps de la Réflexion 1 (1980), S. 213–42. 44 Hans-Joachim Gehrke: Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., München 1985.

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schen sich bei der Stasis; und damit droht die soziale Ordnung in ihren Eckpfeilern zu kollabieren: a) Im Bürgerkrieg verschwindet die Trennlinie zwischen Innen und Außen; Fremde intervenieren und kämpfen neben Bürgern gegen andere Bürger. Die Dichotomie Freund/Feind ist nicht mehr deckungsgleich mit der Dichotomie Innen/Außen. b) Die Trennlinie Sklave/Freie droht sich aufzulösen, denn beide Seiten setzen gelegentlich bewaffnete Sklaven ein. Die Dichotomie Sklave/ Freier ist nicht mehr identisch mit der Dichotomie ‚waffenfähig/wehruntauglich‘. c) Die Trennlinie männlich/weiblich verschwimmt. Denn immer wieder werden sogar Frauen in die aktiven Kämpfe hineingezogen. Wenn Personengruppen, die kulturell als Nichtkombattanten gelten, plötzlich als Kombattanten auftauchen, dann sind furchtbare Entgleisungen und Grausamkeiten vorprogrammiert. d) Die politische Entzweiung der Bürgerschaft spaltet Nachbarschaften, Freundschaften und Verwandtschaften; sie zerstört die Stabilität und das Vertrauen in genau jene Bande, ohne die Gesellschaft nicht möglich ist. e) Im Bürgerkrieg wirken die Schonungsregeln kaum noch; so zum Beispiel das Tempelasyl, wie Kai Trampedach kürzlich umfassend aufzeigte,45 oder auch das versprochene freie Geleit; weil die momentanen Sieger häufig den Gegenschlag des Feindes antizipieren und ihm zuvorkommen wollen. Was Thukydides über den Bürgerkrieg in Kerkyra schreibt, illustriert die Merkmale und Dynamiken der Stasis. Nicht verwunderlich, daß die politische Dichtung den Bürgerkrieg immer wieder thematisiert. Auch die Tragödie, deren zentrales Thema die Gewalt ist, kreist um diesen obsessiven semantischen Knoten. Aischylos thematisiert das Problem an der wichtigsten Stelle seiner Orestie, nämlich am Ende der Eumeniden, als die Erinyen sich endlich von Athene besänftigen lassen und das Angebot annehmen, in Athen – an einem symbolisch wichtigen Ort – ihre Heimstatt zu beziehen.46 Athene bittet die Erinyen, ihre Stadt nicht zu verfluchen. Der schlimmste Fluch ist in Athenes Augen der Bürgerkrieg: 45 Kai Trampedach: Hierosylia. Gewalt in Heiligtümern. In: Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. u. 4. Jh. v. Chr., hrsg. von G. Fischer und S. Moraw, Stuttgart 2005, S. 143–65. 46 Chr. Meier: Aischylos’ Eumeniden und das Aufkommen des Politischen. In: Ders.: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980, S. 144–246.

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Drum wirf in meines Lands Gebiete nicht hinein Blutigen Streits Wetzsteine, schädigend das Gemüt Der Jugend, daß sie, weinlos trunken, rast in Wut, mach meinen Bürgern nicht das Herz aufreizend wie Hähnen, und mach den Ares nicht heimisch, der Brüder eines Stammes aufeinanderhetzt! […] Doch gleichen Hofs Geflügel verbiete ich den Kampf!47

Interner Streit, der außer Kontrolle gerät, läßt die Freund/Feind-Trennlinie verschwimmen, eine Trennlinie, die konstitutiv ist für das Bestehen der Polis. Wenig später bittet sie, die Erinyen mögen ihre Stadt segnen (903– 915).48 Die Erinyen singen daraufhin in vier Strophen vier Segenswünsche: Erstens wünschen sie gedeihliches Wetter; zweitens beten sie, Mißwuchs von Pflanzen und Tieren möge ausbleiben; drittens bitten sie die Moiren, reichlich Ehebünde zu stiften und vorzeitigen Tod fernzuhalten. Schließlich beten sie in der letzten Strophe darum, daß niemals in Athen ein Bürgerkrieg ausbrechen möge. Sie thematisieren dabei den Konnex von Bürgerkrieg und Wechselrache: Nie soll der Bürgerkrieg, nach Leid unersättlich, diese Stadt durchbrausen; das ist mein Wunsch. Nie nehme, trunken vom dunkelen Blute der Bürger, Im Zorn der Rachgier wechselnden Mords Blutrausch Auf hier der Boden der Stadt! Freuden mög wechselnd man tauschen, einmütig liebenden Herzens, und auch hassen eines Sinns!49

Damit sitzen die Erinyen im Herzen der Stadt und bewachen die Polis an ihrem empfindlichsten Punkt. An ihnen hängt der innere Frieden; folglich auch die Kongruenz der beiden Trennungslinien Feind/Freund und Außen/Innen;50 folglich auch die eindeutige Definition derjenigen Personenmenge, mit der man solidarisch ist; und an dieser zivischen Solidarität hängt das Gedeihen. Einige Interpreten haben dafür plädiert, diese Stelle 47 Vv 858–864 (Übersetzung von Oskar Werner). 48 Athene verspricht, sie selber werde für den Sieg über äußere Feinde sorgen; bezeichnenderweise nennt Athene solchen Sieg ,n…kh m¾ kak»;' – Sieg, der nicht böse ist. Damit nimmt die Formel per negationem Bezug auf einen ‚bösen‘ Sieg: nämlich denjenigen über Mitbürger. 49 Vv 978–987 (Übersetzung von Oskar Werner). 50 Zur Feind/Freund-Dichotomie: Meier (1980) [Anm. 46], S. 208–14. Die Erinyen werden nun „den inneren Frieden sichern“ (S. 200).

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als interpoliert aufzufassen.51 Ihnen ist entgangen, daß Rache und Bürgerkrieg im Imaginären der Griechen zusammenhängen. Sucht die Rache auf institutionellen Wegen ihre Erfüllung, nimmt sie also den Weg über das Gericht, dann ist zwar die Konfliktneigung nicht aus der Welt geschafft, aber die Feindschaft zwischen dem Rächer und dem Übeltäter ist in einen radikal anderen praktischen Rahmen gebracht. Die Rache vor Gericht folgt einer anderen Logik, weil ihre Praktiken andere geworden sind, und erzeugt darum eine andere Semantik. Ganz anders ist es mit der eigenhändigen Rache. Diese ist notwendig auf Gewalt angelegt und führt ab einer bestimmten Stufe der Auseinandersetzung notwendig zum Blutvergießen, und sie tut das innerhalb der zivischen Gemeinschaft. Selbstverständlich ist damit der Feindbegriff ein anderer, ganz gleichgültig welches Vokabular die Texte benutzen. Entscheidend ist, daß die Konstellationen die Semantik verändern. Denn bei eigenhändiger Rache ist die Feindschaft von radikal anderer Natur als bei gerichtlicher Verfolgung; sie beseitigt die Freund/ Feind-Grenze als politische und gemeinschaftlich bestimmte. Die eigenhändige Rache führt zur Gewaltanwendung innerhalb der Bürgerschaft und zur Tötung von Mitbürgern. Sie provoziert Gegenschläge und befördert damit Eskalationen, die den inneren Frieden einer Gemeinschaft außer Kraft setzen und damit die Grundlagen des Zusammenlebens in einer Polis zerstören.52 51 So behauptet Sommerstein, die Verse 858–866 seien nachträglich eingeschoben und begründet seine Ansicht: „It is surprising that Athena should ask the Erinys not to cause civil war, when their threats have been of quite different evils“ (Alan H. Sommerstein: Aeschylus – Eumenides, Cambridge 1989, S. 251). Dindorf tilgte diese Passage und Taplin (O. P. Taplin: The Stagecraft of Aeschylus, Oxford 1977, S. 407 n. 1) folgte ihm. Dodds (in: P. C. P. S. 6, [1960], S. 23 f.) hält dafür, daß Aischylos selber diese Verse eingeschoben habe, als in Athen wenige Jahre später ein Bürgerkrieg drohte. Doch es ist unnötig, nach aktuellen Motiven für einen nachträglichen Einschub zu fragen. Der Zusammenhang von Rache und Bürgerkrieg erklärt alles. Auch Meier rätselt über die Beziehung zwischen Rache und Bürgerkrieg (Meier 1980 [Anm. 46], S. 204 A. 176); auch er sieht keine Verbindung. Aber wenn die Erinyen nicht allein die Muttermorde rächen, sondern überhaupt die Rache in den Händen halten, dann ist der Bezug augenfällig. Vgl. Loraux (1980) [Anm. 43]. 52 Dazu: La Vengeance: Etudes d’ethnologie, d’histoire et de philosophie, par R. Verdier, J.-P. Poly et G. Courtois, Paris 1980/84, livre 1 und 2: Vengeance et pouvoir dans quelques sociétés extraoccidentales, par R. Verdier, Paris 1980; livre 3: Vengeance, pouvoirs et idéologies dans quelques civilisations de l’Antiquité, par R. Verdier/J.-P. Poly, Paris 1984; livre 4: La vengeance dans la pensée occidentale, par G. Courtois, Paris 1984.

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Nichts ist daher einleuchtender als die athenische Konnotation der Rachegottheiten mit der Sorge um den inneren Frieden. Gerade weil die Erinyen Rachegöttinnen sind, vermögen sie den Bürgerkrieg auszulösen. Gewiß, sie werden es hinfort niemals mehr tun – so wünscht es sich Aischylos. Aber sie hätten die Macht, es zu tun. So sieht es Aischylos. Spätestens hier stellt sich die Frage, warum die Griechen in ihren Poleis, welche in klassischer Zeit verhältnismäßig befriedet waren und in denen Bürgerkriege nicht an der Tagesordnung waren, dennoch paranoid um dieses politische Thema kreisen. Warum klaffen Diskurs und politische Realität dermaßen auseinander? Dafür lassen sich drei Gründe nennen: Erstens weil Bürgerkriege hochgradig traumatische Geschehnisse darstellten, die lange erinnert wurden. Dazu trug auch ein Ethos bei, das die Pflicht zur Rache den Nachgeborenen ins Gedächtnis schrieb.53 Zweitens weil die griechische Kultur zur Bildung von kollektiver Meinung und kollektivem Willen diejenigen Verfahren vorzieht, die auf Konflikt angelegt sind, so etwa die Debatte und die Abstimmung nach der Mehrheitsregel. Drittens weil das griechische Denken dazu tendiert, alle Probleme ins Extrem zu treiben. Schon Homer – so Karl Reinhardt – „dichtet in Konflikten“.54 Zwischen diesen beiden Sachverhalten, der konfliktgeneigten Kommunikation und dem Denken ins Extrem, spannt sich ein Imaginäres – ein Ensemble von Vorstellungen –, in welchem die Gewalt eine vorzügliche Rolle spielt. Denn die Gewalt ist der einfachste Konfliktlöser.55 Zum Schluß ein Beispiel, wie das Denken in Zuspitzungen dazu führt, daß die Gewalt ein omnipräsentes Phänomen wird.

IV. Die Opposition Bia – Peitho und ihre Fatalität für das politische Entscheiden Was sollte helfen, die virulente bia zu begrenzen? Welche Kräfte und Mächte stellte das politische Denken der Gewalt entgegen? Das war eine ganze Serie von Begriffen, wie D’Agostino aufgezeigt hat, so z. B. nomos, dann 53 Dazu: Loraux (1980) [Anm. 43] und Cohen (1995) [Anm. 10], S. 87–118. 54 Karl Reinhardt: Die Ilias und ihr Dichter, hrsg. von U. Hölscher, Göttingen 1961, S. 99. 55 Aus einem Imaginären voller Gewalt läßt sich keine hohe Gewaltsamkeit in den sozialen Beziehungen ableiten. Das Imaginäre ist eine eigene Dimension, kein Abbild der Welt. Daher ist es auch kein Vorbild für die Welt und liefert nicht unbedingt normative Vorgaben, die das Verhalten steuern. Wären Imaginäres und Ethos kongruent gewesen, dann hätte die hellenische Kultur nicht lange überlebt.

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auch logos, oder auch physis und vor allem dike, das Recht. So alt diese Opposition ist – schon Hesiod setzt sie ein –, so prekär ist sie. Denn bereits Solon rühmt sich, Gewalt und Recht verbunden zu haben.56 Und bei Pindar führt die Verbindung von nomos und bia zu fatalen Konsequenzen. Ein beliebter und scheinbar verläßlicher Oppositionsbegriff war peitho, das ‚Überzeugen‘. Besonders Aischylos setzt auf diese Opposition und prüft ihre Tragfähigkeit. Ein solches Prüfen findet sich in seiner Tragödie Die Hiketiden. Die fünfzig Töchter des Danaos fliehen vor ihren fünfzig Vettern, den fünfzig Söhnen des Aigyptos, weil diese sie zur Ehe zwingen wollen. Christine Rohweder hat in einer Analyse des Dramas aufgezeigt, daß den fliehenden Jungfrauen zunächst nicht die Ehe selber verhaßt ist, sondern der Modus, in welchem ihre Vettern diese Ehe anbahnen wollen, nämlich ohne peitho, ohne überzeugendes Werben. Ganz folgerichtig sehen sich die Danaiden von bia bedroht, von Gewalt.57 Sie wehren sich gegen eine mit Gewalt herbeigeführte Ehe, weil ein solches auf Gewalt gegründetes Verhältnis eine Unterwerfung in Permanenz bedeutet. Bei der Begründung ihrer Abneigung gegen die Ehe benutzen die Jungfrauen eine scharfe politische Sprache; und mit Hilfe der Opposition Bia/Peitho gelingt es ihnen mühelos, eine gewaltsam zustande gekommene Ehe als Sklaverei zu bestimmen.58 Denn ein Eheverhältnis ohne Zustimmung entspricht einem Gewaltverhältnis; und Gewalt erleidet der Sklave, nicht die freie Frau.59 Insbesondere Nicole Loraux hat darauf bestanden, daß die Demokratie belastet sei mit dem Wort ‚kratein‘ – und mit dem Umstand, daß der Demos, also die gesamte Bürgerschaft deswegen herrscht, weil er überlegen und ‚stärker‘ – als die Minderheit – ist.60 Wer überlegen ist, verfügt über über56 Solon behauptet von sich, er habe vermittels der Herrschaft – kr£tei – ,zugleich Bia und Dike zusammengefügt‘ (Solon 24 [Snell], vv. 15 f.). Vgl. Wolf (1952) [Anm. 36], Bd. I, S. 215 f. sowie Christoph Mülke: Solons politische Elegien und Jamben, München 2002, S. 385–87. Das ist ein Versuch, stabile Herrschaft zu denken, welche nicht auf bloße Macht zu reduzieren ist, sondern – weil die Herrschaft ‚Gerechtigkeit‘ enthält – auf breite Akzeptanz rechnen darf und soll. 57 Vv. 820–832. 58 Vv. 335, 392–395, 790 f., 798 f. 59 Vgl. die präzisen Analysen von Christine Rohweder: Macht und Gedeihen. Eine politische Interpretation der Hiketiden des Aischylos, Frankfurt a. M. 1998, S. 105–13. 60 N. Loraux hat ‚kratein‘ mit ‚zwingen‘ wiedergegeben. Mit dieser Übersetzung gelingt es ihr, die Annahme zu stärken, die Minderheit hätte bei jeder Abstimmung, die gegen sie ausfiel, gegen die Mehrheit einen Groll gehegt, den sie hätte verdrängen müssen, um sich ihrer Identität als Bürger versichern zu können (Loraux 1980

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legene Machtmittel. Eines dieser Machtmittel ist die Gewalt. Sie ist das äußerste Machtmittel, folglich dasjenige, was am wenigsten zum Einsatz kommt. Eigenartig an den politischen Diskursen der griechischen Klassik ist nun, daß unter allen Machtmitteln gerade das äußerste und letzte obsessiv die Aufmerksamkeit attrahiert. Die Relation ‚peitho/kratos‘ wird in den Diskussionen sehr schnell zur Relation ‚peitho/bia‘, weil so viele griechische Intellektuelle, zur Zuspitzung neigend, im Ernstfall das Herrschen auf die Gewalt reduzieren, so als wäre die Gewalt der innerste und eigentlichste Kern des Herrschens. Diese Reduktion wird durch den Umstand gefördert, daß eine starke Strömung des griechischen Denkens Herrschaft als bloßes Machtverhältnis bestimmt, vor allem während des 5. Jhs. v. Chr.61 Und dann kann man – wie der letzte Text zeigen soll – die Opposition peitho-bia bis zum Kollaps der institutionellen Ordnung vorantreiben. Xenophon erzählt in seinen Memorabilien einen fiktiven Dialog zwischen Perikles und seinem Neffen Alkibiades.62 In diesem Dialog gelingt es Alkibiades, seinem Onkel das Eingeständnis aufzunötigen, daß jegliches Gesetz auf Gewalt beruhe. Seine Argumentation folgt einer Taktik, die zu Beginn des 4. Jhs. längst üblich geworden war: Zunächst läßt er Perikles definieren, was ein nomos ist. Die Antwort lautet: (42) alles, was die herrschende Instanz (tÕ kratoàn tÁj pÒlewj) festsetzt, heiße ein nomos. Doch der Neffe begnügt sich nicht damit, was man ein Gesetz nennt; er will wissen, was ein Gesetz wesensmäßig ist, ganz gleich ob eine Demokratie, eine Oligarchie oder eine Tyrannis die Gesetze erläßt. Im übernächsten (44) Schritt läßt er seinen Onkel der folgenden These zustimmen: Wenn der Stärkere den Schwächeren nicht überzeugt (m¾ pe…saj), etwas Bestimmtes zu tun, sondern ihn dazu zwingt (¢ll¦ bias£menoj), dann sei dies Gewalt und anomia (Gesetzlosigkeit). Alkibiades operiert also mit zwei Oppositionspaaren; zum einen damit, daß bia und nomos sich gegenseitig ausschließen, also Gewalt stets anomia bedeute, zum anderen mit der Opposition von bia und peitho. Dieser These stimmt Perikles zu. Und damit sitzt er in der Falle. Denn nun (45) muß er als Gewaltherrschaft bezeichnen, wenn jemand einen anderen dazu nötigt, etwas zu tun, ohne ihn überzeugt zu haben (p£nta, Ósa tij m¾ pe…saj ¢nagk£zei tina poie‹n). Genüßlich weist nun Alkibiades nach, daß Volksbeschlüsse [Anm. 43]). Doch dann wären die Bürger einer griechischen Polis in eine Situation geraten, in der sie fast täglich eine enorme Menge von Sachverhalten hätten verdrängen müssen. 61 Siehe den Beitrag von Kai Trampedach in diesem Band. 62 Xen. mem. I, 2, 40–46 (P. Jaerisch).

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die Minderheit der Bürger vergewaltigen. Denn eine Mehrheitsentscheidung in der Volksversammlung beruht ja auf dem Umstand, daß man die Minderheit nicht hat überzeugen können. Hätte man die Minderheit überzeugt, dann wäre ja die Abstimmung unnötig. Perikles ist verärgert, kann aber nichts dagegen einwenden. Die Brisanz dieses Textes liegt darin, daß jedwede – auch mich betreffende – Entscheidung, der ich nicht zugestimmt habe, ein Akt der Gewalt gegen mich ist, eine Vergewaltigung.63 Damit ist jede Mehrheitsentscheidung disqualifiziert. Folglich ist die institutionalisierte Demokratie eine Gewaltherrschaft. Wenn Alkibiades Recht behält, dann steht jegliche organisierte menschliche Gesellschaft unter der Herrschaft der Gewalt. Damit ist menschliches Zusammenleben nur noch möglich bei permanentem Konsens von selbstermächtigten Individuen. Der Anarchismus von Max Stirner steht vor der Türe.64 Und genau dieser Anarchismus reaktiviert die Gewalt und das Recht des Stärkeren. Die Dialektik dieser Argumentation gelangt zum Abschluß bei Kallikles im Platonischen Gorgias: Für Kallikles ist der nomos zwangsläufig gewaltsam, ob als nomos der Natur oder als gesetzter nomos. Strapaziert man die Opposition bia – peitho, dann läßt sich logisch die Ubiquität der Gewalt behaupten und das Politische vollständig entlegitimieren. Dann ist die Auflösung eines Raums institutionalisierter kollektiver Entscheidung nicht mehr zu verhindern. Und dann ist die Gewalt nicht nur der Vater aller Dinge, sondern auch ihr permanenter König. Ist denn die Gewalt wirklich ubiquitär in den Diskursen? Oder gibt es definierte Zonen, wo die Gewalt nicht ist und nicht sein kann. Aischylos präsentiert uns in den Hiketiden zwei solche gewaltfreie Zonen. Die eine Zone ist die Innenpolitik der Stadt Argos. Ich meine jene berühmte Stelle, die berichtet, wie der König Pelasgos vor der argivischen Volksversammlung den Antrag stellt, den fünfzig verfolgten Töchtern des Danaos Schutzflucht zu gewähren. Denn nach dem Antrag stimmte das Volk ab. An dieser Stelle fallen die berühmten Worte, aus denen Victor Ehrenberg den ältesten Hinweis auf die Demokratie (d»mou kratoàsa) 63 D’Agostino (1983) [Anm. 10], S. 23 meint, die Pointe dieses Disputs liege darin, daß in der Tyrannis der Gesetzesbegriff aporetisch werde. Doch der Text ist nicht so harmlos; er spielt den Einzelwillen rücksichtslos gegen den Willen der Mehrheit aus. Daß Gesetz und Gewalt sich gegen die Natur richteten, behauptet Hippias (Plat. Prot. 337c–d); daß das Gesetz selber die Natur vergewaltige, hingegen Kallikles (Plat. Gorg. 482 ff.). 64 Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1981, S. 204–19, besonders S. 208.

Gewalt als präsente und als diskursive Obsession

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herausgelesen hat.65 Denn – so der berühmte Vers 604 – die ‚beherrschende Hand des Demos‘ – d»mou kratoàsa ce…r – erbrachte ein Ja zum Antrag des Königs. Liest man die Stelle entscheidungslogisch, dann wird die Basis für die Interpretation Ehrenbergs brüchig. Denn Aischylos bestimmt diese Abstimmung auf paradoxe Weise: Einerseits ist sie ein Medium des Beherrschens, der Ausdruck kratoàsa ce…r – beherrschende Hand – läßt daran keinen Zweifel; bezeichnenderweise erwarten die Jungfrauen, daß sich die Volksversammlung in zwei Teile gespalten hat und fragen ihren Vater, wohin sich die Mehrheit geneigt habe: d»mou kratoàsa ceˆr ÓpV plhqÚnetai (v. 604). Anderseits erhoben die Bürger ihre Hände, um dem Antrag des Königs zuzustimmen, bevor der Herold überhaupt eine formale Abstimmung einleiten konnte. Diese Einmütigkeit seinen Töchtern mitteilend, gebraucht Danaos die Worte oÙ dicorrÒpwj – das Ganze des Volkes teilte sich nicht in zwei Teile. Folglich wurde überhaupt niemand ‚beherrscht‘; die d»mou kratoàsa ce…r hat kein reales Gegenüber gefunden. Oder, in den Worten des Xenophontischen Alkibiades gesprochen: Dieser einstimmige Volksbeschluß vermag gar keine bia auszuüben. Das Traumbild des totalen Konsenses leuchtet auf. Denn die Rede des Pelasgos hat alle bis auf den letzten Mann überzeugt. Peitho – das sanfte Überreden und gründliche Überzeugen – ist nach der Interpretation Christine Rohweders das Hauptthema dieser Aischyleischen Tragödie; und in diesem Augenblick herrscht peitho total, daher ist in diesem Augenblick die Gewalt im Innern der Polis vollkommen abwesend. In derselben Tragödie gibt es noch einen anderen Ort der Gewaltlosigkeit, nämlich bei Zeus selber. Im großen Zeus-Gesang stellt der Chor den Gott auf eine Weise vor, die theologisch den Anthropomorphismus der griechischen Religion zu durchschlagen droht: Zeus ist allmächtig, und er bedarf keiner Gewalt. Fränkel hat bemängelt, daß der Chor den obersten Gott als vollkommen gewaltlosen vorstellt; er hielt das für eine unentwikkelte Ansicht, die Aischylos später überwunden habe.66 Christine Rohweder gelangt zu einem ganz anderen Schluß: Zeus ist deswegen ohne Gewalt, weil bei ihm Denken und Ausführen zusammenfallen. Dieser Schluß ist logisch schärfer, theologisch stringenter und soziologisch stimmiger. Er lautet: Weil Zeus allmächtig ist, braucht er keine Gewalt.67 65 Victor Ehrenberg: Origins of Democracy. In: Historia 1 (1950), S. 515–48, hier: S. 521–24. 66 E. Fränkel: Der Zeus-Hymnus im Agamemnon des Aischylos. In: Philologus 86 (1931), S. 13.

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Vollendeter Konsens und Allmacht ähneln einander: Ersterer läßt jegliche Gegensätzlichkeiten in einem gemeinsamen Willen untergehen, den alle haben und äußern. Letztere nimmt jeglicher Gegenmacht die Chance, ihr überhaupt gegenüberzutreten, denn ihr gegenüber bleibt jedwede Gegenmacht dermaßen ohnmächtig, daß sie die Wirkung der Allmacht weder um ein Winziges zu verzögern noch um ein Winziges abzulenken vermag. Beide, vollendeter Konsens wie Allmacht, heben den Gegensatz restlos auf, so daß er materialiter nicht mehr wirken und semantisch nicht mehr bestehen kann. Das politische Denken der griechischen Klassik konstituiert somit diese beiden Orte – den vollkommenen Konsens und die Allmacht – zu Bereichen völliger Gewaltlosigkeit. Überall sonst ist der Gewalt nicht zu entkommen.

67 „Mit der Bestimmung der Gewaltlosigkeit kennzeichnen die Danaiden nicht den Effekt des göttlichen Wirkens auf den Menschen, sondern die Verfaßtheit des göttlichen Willens: die Allmacht von Zeus“ (Rohweder 1998 [Anm. 59], S. 99).

Mythos und Kult

Albert Henrichs (Cambridge, Mass.)

Blutvergießen am Altar: Zur Ritualisierung der Gewalt im griechischen Opferkult Gewalt war den Griechen und ihrer Kultur ins Gesicht geschrieben. Sie manifestiert sich nicht nur in ihren Mythen und deren Brechungen in Literatur und Kunst, sondern auch in zentralen Bereichen des Alltagslebens. Deshalb sei mit einem aus dem Leben gegriffenen Zeitzeugnis aus dem klassischen Athen begonnen, in dem zwar von Gewalt die Rede ist, aber mit keinem Wort von Religion, Ritual oder Opferkult. Aus der speziellen Perspektive der Opferthematik heraus handelt es sich also um einen stark defizitären Text, der all das nicht beinhaltet, um das es bei unserem Thema geht. Eben deshalb ist er als Kontrastfolie besonders aufschlußreich, zumal er uns eine Form von Gewalt unverblümt, d. h. ohne literarische Prätention bzw. ästhetische Brechung, vor Augen führt, die mit Leibeigenschaft zu tun hat und im Athen des 5. u. 4. Jhs. v. Chr. vermutlich nicht ungewöhnlich war. Der erst jüngst publizierte Text steht auf einer Bleitafel, die in der Agora von Athen gefunden worden ist und aus dem 4. Jh. stammt. Von der Form her ist es ein einfacher Brief, den ein gewisser Lesis an seine Mutter und an einen uns unbekannten Xenokles richtet. Sein Inhalt ist jedoch alles andere als konventionell und ohne Parallele. Denn Lesis fürchtet um sein Leben und beklagt sich mit dem Mut der Verzweiflung über die Art der Behandlung, der er bei der Zwangsarbeit in einer Schmiedewerkstatt ausgesetzt ist: Lesis sendet [diesen Brief] an Xenokles und an seine Mutter mit der Bitte, unter keinen Umständen zuzulassen, daß er in der Schmiede elend zugrunde geht, sondern bei seinen Herren vorstellig zu werden und ein besseres Los für ihn zu finden. Denn ich bin in die Hände eines bösen Mannes gefallen. Ich komme um vor lauter Auspeitschen (mastigoÚmenoj ¢pÒllumai), liege in Fesseln (dšdemai), werde schmählich behandelt (prophlak…zomai) – mehr und mehr.1 1 David R. Jordan: A Personal Letter Found in the Athenian Agora. In: Hesperia 69 (2000), S. 91–103; dazu Edward M. Harris: Notes on a Lead Letter from the Athenian Agora. In: Harvard Studies in Classical Philology 102 (2005), S. 157–70.

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Alles deutet darauf hin, daß Lesis ein Sklave war, dessen Schicksal in den Händen seiner „Herren“ (despÒtai) lag, wie er sie nennt. Wir wissen nicht, wer diese Eigentümer waren und in welchem Verhältnis sie zu seiner Mutter standen. Sie hatten offenbar Lesis bei seinem als „Bösewicht“ (¥nqrwpoj ponhrÒj) titulierten Peiniger verdungen, der entweder der Besitzer oder Pächter der Schmiede gewesen sein muß. Lesis befürchtet, daß er die ständigen körperlichen und seelischen Mißhandlungen nicht überleben wird. In seiner Not wendet er sich an die Mutter und den ihr möglicherweise nahestehenden Xenokles und bittet beide um Hilfe, da ihm als Sklaven der Beschwerdeweg über die Gerichte nicht offenstand. Die Angst beflügelt seine Worte und hebt die Stilebene. Seine Petition gipfelt in dem effektvollen asyndetischen Trikolon ¢pÒllumai dšdemai prophlak…zomai, in dem er sich als Opfer dreier eskalierender Formen von Gewalt vorstellt. Der Brief endet überraschend und abrupt mit der kolloquialen Wiederholungsfigur „mehr mehr“ (m©llon m©llon), die steigernde Wirkung hat und als abschließender „cri du cœur“ fungiert. Der Hilferuf des Lesis verdeutlicht auf eindrückliche Weise, wie wehrlos gerade die untersten sozialen Gruppen im Athen eines Platon und Aristoteles der auf sie abzielenden Gewalt ihrer Mitbürger ausgeliefert waren. Unsere Kenntnis der diversen außerkriegerischen Kategorien von Gewalttaten und Mißhandlungen, mit denen sich die Athener der klassischen Zeit in ihrem Alltag auseinandersetzen mußten, beruht jedoch nicht auf gelegentlichen Zufallsfunden wie dem Brief des Lesis, sondern vor allem auf den attischen Gerichtsreden. Da kommen sowohl Täter als auch Opfer zu Wort und nehmen Stellung zu Delikten wie Mord und Totschlag, Vergewaltigung, Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Dabei handelt es sich ausschließlich um Vergehen, die in den profanrechtlichen Bereich fallen und die kultische Sphäre höchstens indirekt berühren.2 Speziell religiös motivierte Formen von Gewalt sind im Zusammenhang mit dem Gerichtswesen nicht bezeugt und wären auch nicht Sache der attischen Gerichte gewesen. Der eigentliche Nexus von Religion und Gewalt ist anderswo zu suchen. Er liegt im Bereich der von Göttern und Gesellschaft sanktionierten, der Justiz entzogenen Tötungsakte, die mit Krieg und Opferwesen verbunden sind. Tier- und Menschenopfer sind nämlich die Hauptformen von Gewalt, die innerhalb der griechischen Religion vorkommen. Damit sind wir bei unserem eigentlichen Thema. 2 David Cohen: Law, Violence, and Community in Classical Athens, Cambridge/ New York 1995.

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Im folgenden möchte ich vier sich überlagernde Themenkreise diskutieren: 1. den spezifischen Ort und die rituelle Funktion von Gewalt in der griechischen Religion im Unterschied zu anderen Religionen, 2. die tragische Opferthematik mit ihrer moralischen und ästhetischen Differenzierung von Tier- und Menschenopfer am Beispiel des Iphigenieopfers, wobei sich mein Ansatz deutlich von den ästhetischen Kategorien, die Karl Heinz Bohrer in diesem Band entwickelt, unterscheidet und sie hoffentlich konstruktiv ergänzt, 3. die rituelle Parallelisierung von Mensch und Tier als Opfer ritueller Tötungsakte, verstanden als ein Konstrukt der griechischen Opfermentalität, 4. die eigentliche Kernfrage, ob die Griechen beim Tieropfer Schuldgefühle empfanden und sich zumindest psychologisch wenn nicht moralisch von dem mit ihrer Kultur unzertrennlich verbundenen rituellen Schlachten von Tieren distanzierten, und damit engstens verknüpft, in welchem Sinne und mit welchem Recht man beim Tieropfer überhaupt von „Gewalt“ sprechen kann.

1. Religion, Krieg und Gewalt Die Existenz von Schuldgefühlen ist eine der Voraussetzungen für die Opfertheorie von Walter Burkert, die den inner- und teils auch den außerfachlichen Opferdiskurs seit mehr als drei Jahrzehnten bestimmt.3 Wie immer man sich zu dieser grundsätzlichen Evozierung von Schuld am „Tiermord“4 stellen mag, Burkert ist und bleibt der einzige für die Griechen zuständige Religionshistoriker, der vor dem Begriff der Gewalt und seinen Implikationen nicht zurückschreckt, sondern sich immer wieder mit 3 Walter Burkert: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen [1972], Berlin/New York 21997 u. Anthropologie des religiösen Opfers. Die Sakralisierung der Gewalt, München 1984. Zur Diskussion vgl. Violent Origins: Walter Burkert, René Girard, and Jonathan Z. Smith on Ritual Killing and Cultural Formation, hrsg. von Robert G. Hamerton-Kelly, Stanford 1987; verschiedene Beiträge zur Auseinandersetzung mit Walter Burkert und Burkerts „Response“ in: Religion 30 (2000), S. 211–85; Hanna Gekle: Aggression in religionswissenschaftlichen Theorien. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hrsg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow und Matthias Laubscher, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1988–2001, Bd. 1, S. 404–6.

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ihm auseinandersetzt, während Vorgänger wie Jane Harrison und E. R. Dodds Manifestationen von Gewalt in der griechischen Religion eher beschönigt und romantisiert haben. „Gerade in der Mitte der Religion droht faszinierend blutige Gewalt.“5 So lautet sein düsteres Fazit auf der ersten Seite seines Homo Necans unter Berufung auf das Isaaksopfer und den „Mord“ am Gottessohn, der im Zentrum des Christentums steht. Religion und Gewalt verbindet seit jeher ein zwiespältiges, ja paradoxes Spannungsverhältnis. Die Mehrheit der heute auf der Erde vertretenen Glaubensgemeinschaften lehnt im Prinzip jede willkürliche Gewaltanwendung ab und befürwortet ein friedliches Zusammenleben aller Menschen. Vor allem die drei großen monotheistischen Buchreligionen bekennen sich zu einem Gott, zu dessen Tugenden Gerechtigkeit, Mitleid und Friedfertigkeit gehören. Die Wirklichkeit sieht aber häufig anders aus, denn der Zweck heiligt seit jeher die Mittel, wie die Welt immer wieder auf erschütternde Weise erfährt. Die einst in vielen Kulturen so verbreiteten Menschenopfer mag es in dieser Form nicht mehr oder nur noch in bizarren Ausnahmefällen geben, aber der militante religiöse Fanatismus nicht nur islamischer Provenienz fordert nahezu jeden Tag seine Opfer, um von den zahlreichen Glaubenskriegen der Vergangenheit ganz zu schweigen. Gewaltlosigkeit im Umgang mit Andersgläubigen und selbst innerhalb derselben Religion bleibt ein Ideal, das nur selten realisiert wird. Aus religionshistorischer Sicht ist der Verzicht auf Gewalt aus religiösen Gründen eher die Ausnahme als die Regel. So erklärt sich die Sonderstellung und exemplarische Ausstrahlungskraft eines Mahatma Gandhi, der ironischerweise selbst ein Opfer von nicht nur politisch, sondern auch religiös motivierter Gewalt wurde. Polytheistische Religionen sind grundsätzlich weniger missionarisch und deswegen toleranter als der Monotheismus. Das gilt auch für die Griechen der klassischen Zeit, die mit allen Formen der Gewalt, welche ihre häufigen Kriege mit sich brachten, sowohl als Sieger wie auch als Verlierer engstens vertraut waren. Der Krieg mit seinen Greueln, zu denen nicht nur Töten und Getötetwerden, sondern auch Versklavung und soziale Ächtung zählten, gehörte zu ihren existentiellen Grunderfahrungen. Aber im Gegensatz zum Christentum und Islam kannten sie keine 4 Zugespitzt formuliert von Jean-Louis Durand und Alain Schnapp: Boucherie sacrificielle et chasses initiatiques. In: La cité des images: religion et société en Grèce antique, Lausanne 1984, S. 49–66, hier: S. 50: „Meurtrier, le sacrifice n’a pas la mort pour but.“ Zur wertenden Charakterisierung der Tiertötung als „Mord“ s. u. Abschnitt 4. 5 Burkert (1997) [Anm. 3], S. 8.

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Religionskriege, zumal sie anderen polytheistischen Religionssystemen gegenüber aufgeschlossen waren – es sei nur an Herodots religionsvergleichende Exkurse erinnert6 – und fremde Götter anstandslos akzeptierten und assimilierten. Dazu kommt, daß sie, von Ausnahmefällen wie den Perserkriegen abgesehen, vornehmlich untereinander Krieg führten. Die zwei häufigsten Formen innergriechischer Feindseligkeiten, nämlich Kriege zwischen Stadtstaaten und Bürgerkriege innerhalb ein und derselben Polis, hatten zwar auf lokaler Ebene nicht selten die Desakralisierung von Heiligtümern samt Tempelplünderungen und anderen Religionsfreveln zur Folge, aber sie führten nicht zu Glaubensspaltungen und berührten nicht die religiöse Substanz. Selbst die sogenannten Heiligen Kriege, die im 5. und 4. Jhdt. v. Chr. ausgetragen wurden, hatten weniger mit Religion als mit der politischen Hoheit über das delphische Orakel zu tun. Das Fehlen von religiös motivierten Kriegen in Griechenland bedeutet jedoch nicht, daß Religion und Krieg für die Griechen getrennte Bereiche waren.7 Denn der Krieg war nicht nur Sache der Menschen, sondern auch der Götter. Gottheiten wie Ares und Athena galten als göttliche Garanten des Krieges, die auch selbst am Kampf teilnahmen.8 Darüber hinaus gab es zumindest eine Form von Gewalt, in der sich Kriegsführung und Religionspraxis aufs engste berührten, und das ist das Blutvergießen beim Opfer. So sind in der mythischen Tradition Menschenopfer eng mit dem Krieg verbunden. Am Anfang und Ende des trojanischen Krieges steht ein Mädchenopfer: Iphigenie wird bei der Ausfahrt der Flotte der Artemis geopfert, und Polyxena verblutet nach der Zerstörung von Troja als Versöhnungsopfer für den Totengeist des Achill über dessen Grab.9 In der antiken Kunst und der attischen Tragödie sind beide Opfer als Inbegriffe ritualisierter Gewalt wiederholt behandelt. Aber nicht nur in den fiktiven Situationen des Mythos, sondern auch in der Wirklichkeit wurde das Blutvergießen in der Schlacht im Opferritual vorweggenommen. Es war nämlich bei den Griechen Usus, sowohl vor 6 Walter Burkert: Herodot als Historiker fremder Religionen. In: Hérodote et les peuples non grecs, hrsg. von Giuseppe Nenci, Entretiens sur l’antiquité classique 35, Vandœuvres/Genf 1990, S. 1–32. 7 Raoul Lonis: Guerre et religion en Grèce à l’époque classique. Recherches sur les rites, les dieux, l’idéologie de la victoire. Annales Littéraires de l’Université de Besançon 238, Paris 1979. 8 Susan Deacy: Athena and Ares: War, Violence and Warlike Deities. In: War and Violence in Ancient Greece, hrsg. von Hans van Wees, London 2000, S. 285–98; Robert Parker: Polytheism and Society at Athens, Oxford 2005, S. 397–403.

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Kriegsbeginn als auch unmittelbar vor der Schlacht die Seher zu konsultieren, denen es oblag, Opfertiere einzeln oder serienweise zu schlachten, ihre Eingeweide zu inspizieren und aus deren Beschaffenheit die Chancen auf einen Sieg vorauszusagen.10 Die spartanischen Armeen zogen mit ganzen Ziegenherden ins Feld, um für den Moment der Feindberührung gerüstet und auch in ritueller Hinsicht stets kampfbereit zu sein.11 Das Innenbild einer frühklassischen rotfigurigen Trinkschale in Cleveland zeigt, wie sich ein Krieger in voller Rüstung über einen Widder beugt und ihm mit seinem Schwert die Kehle durchsticht, aus der Blut fließt.12 Der griechische Fachausdruck für diese Form des rituellen Tötens ist sphazein, „schächten“, d. h. durch Kehlschnitt schlachten. Entsprechend heißen die Opfer, die dem Kampfgeschehen unmittelbar vorausgehen, sphagia, d. h. „Schlachtopfer“. Die Doppelwertigkeit des Morphems „Schlacht“ in Wortbildungen wie 9 Burkert (1997) [Anm. 3], S. 77–80. Zur Darstellung der beiden Opferszenen in der griechischen Kunst, vor allem der Vasenmalerei, s. u. Anm. 25, 27–29 u. 32–35; A. John N. W. Prag: The Oresteia: Iconographic and Narrative Tradition, Warminster/Chicago 1985, S. 61–67 mit Tafeln 38–43; Folkert T. van Straten: HIERA KALA. Images of Animal Sacrifice in Archaic and Classical Greece, Religions in the Graeco-Roman World 127, Leiden 1995, S. 114; Peter Blome: Das Schreckliche im Bild. In: Ansichten griechischer Rituale. Geburtstags-Symposium für Walter Burkert, hrsg. von Fritz Graf, Stuttgart/Leipzig 1998, S. 72–95, hier: S. 82–84; Jean-Louis Durand und François Lissarrague: Mourir à l’autel. Remarques sur l’imagerie du „sacrifice humain“ dans la céramique attique. In: Archiv für Religionswissenschaft 1 (1999), S. 83–106. 10 Lonis (1979) [Anm. 7], S. 95–115; W. Kendrick Pritchett: The Greek World at War, Berkeley/Los Angeles 1979, Bd. 3, S. 47–90; Michael H. Jameson: Sacrifice before Battle. In: Hoplites: The Classical Greek Battle Experience, hrsg. von Victor D. Hanson, London/New York 1991, S. 197–227; Robert Parker: Sacrifice and Battle. In: van Wees (2000) [Anm. 8], S. 299–314; Jörg Gebauer: Pompe und Thysia. Attische Tieropferdarstellungen auf schwarz- und rotfigurigen Vasen. In: Eikon. Beiträge zur antiken Bildersprache 7, Münster 2002, S. 280–85; John Dillery: Chresmologues and Manteis: Independent Diviners and the Problem of Authority. In: Mantikê: Studies in Ancient Divination, hrsg. von Sarah I. Johnston und Peter T. Struck, Religions in the Graeco-Roman World 155, Leiden 2005, S. 167–231, hier: S. 200–09. 11 Jean-Pierre Vernant: Artémis et la guerre (Vorlesung am Collège de France 1980/ 81). In: Figures, idoles, masques, Paris 1990, S. 162–81, leicht abgeändert unter dem Titel Artémis et le sacrifice préliminaire au combat. In: Revue des études grecques 101 (1988), S. 223–29. 12 Cleveland, Ohio, Museum of Art, 26.242, um 480 v. Chr. Vgl. van Straten (1995) [Anm. 9], S. 219, Nr. V 144 mit Abb. 112; Thesaurus cultus et rituum antiquorum (= ThesCRA), Los Angeles 2004, Bd. 1, S. 105 Nr. 359 u. Tafelteil S. 22, Gr. 359; Gebauer (2002) [Anm. 10], S. 266, Nr. S 4 mit Abb. 138.

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„Schlachtfeld“ und „Schlachtruf“ einerseits und „Schlachthaus“, „Schlachtvieh“ bzw. „Schlachtmesser“ andererseits verdeutlicht, daß Krieg und Opfer kommensurable Tötungsriten sind, denen die Gewalt gemeinsam ist, und daß Menschentötung und Tiertötung zwar funktionell verschieden, aber essentiell verwandt sind. Diese rituelle Analogie war den Griechen stark bewußt und hat zuerst im homerischen Epos und dann vor allem in der Tragödie in der ausdrücklichen Parallelisierung von Menschen- und Tieropfer bzw. von Tieropfer und Mord ihren Niederschlag gefunden, wie vor allem der Iphigeniemythos exemplarisch zeigt, der uns noch beschäftigen wird.13 Die durch lange Tradition festgelegte Opfersprache ist neben dem eigentlichen Ablauf des Opferrituals – dem „ritual process“ – ein Hauptmerkmal der Ritualisierung. Ritualsprache und rituelle Handlung, Legomena und Dromena, gehen dabei Hand in Hand. Die beiden Grundbegriffe der griechichen Opfersprache sind thyein und sphazein. Bei thyein liegt die Betonung auf dem Opferritual als solchem, bei sphazein dagegen auf dem gewaltsamen, blutigen Abschlachten. Die beiden Termini sind Komplementärbegriffe, die gelegentlich miteinander verbunden sind, wie z. B. in dem Sakralgesetz aus Selinunt (um 450 v. Chr.): „Wenn man dem Elasteros opfern (qÚein) will, opfere (qÚein) man [nach demselben Ritus] wie den Unsterblichen, aber man soll zur Erde hin schlachten (sf£zeto d' ™j g©n).“14 Dieser neue Text bestätigt, daß die moderne Unterscheidung von olympischen und chthonischen Opferriten revisionsbedürftig ist und daß es zumindest Mischformen gab. Denn der Rachedämon, dem hier geopfert 13 Froma Zeitlin: The Motif of the Corrupted Sacrifice in Aeschylus’ Oresteia. In: Transactions of the American Philological Association 96 (1965), S. 465–508; Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, Berlin 1990, S. 27–29; Richard Seaford: Reciprocity and Ritual: Homer and Tragedy in the Developing City-State, Oxford 1994, S. 340–41, S. 369–72; Albert Henrichs: Drama and Dromena: Bloodshed, Violence, and Sacrificial Metaphor in Euripides. In: Harvard Studies in Classical Philology 100 (2000), S. 173–88; John Gibert: Apollo’s Sacrifice: The Limits of a Metaphor in Greek Tragedy. In: Harvard Studies in Classical Philology 101 (2003), S. 159–206. 14 SEG 43.630; Michael H. Jameson, David R. Jordan and Roy D. Kotansky: A Lex Sacra from Selinous, Greek, Roman and Byzantine Studies Suppl. 11, Durham, North Carolina 1993, S. 16, B 12 f.; Eran Lupu: Greek Sacred Laws: A Collection of New Documents (NGSL), Leiden/Boston 2005, S. 361, B 12 f. Dazu Albert Henrichs: „Sacrifice as to the Immortals“. Modern Classifications of Animal Sacrifice and Ritual Distinctions in the Lex Sacra from Selinous. In: Greek Sacrificial Ritual, Olympian and Chthonian, hrsg. von Robin Hägg und Brita Alroth, Skrifter utgivna av Svenska Institutet i Athen, 80, Bd. 18, Stockholm 2005, S. 47–60, hier: S. 56.

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wird, wird zwar von den „Unsterblichen“, d. h. den olympischen Göttern, unterschieden, aber es wird ausdrücklich zur Auflage gemacht, daß man ihm „wie den Unsterblichen“ opfern soll und das Blut in die Erde (™j g©n) fließen muß. Diese nach unten gewandte, auf die Erde zielende und damit im Wortsinn „chthonische“ Ausrichtung des Opfers an den Elasteros steht in direktem Gegensatz zum Usus des olympischen Normalopfers, den Walter Burkert lange vor Bekanntwerden dieses Textes wie folgt beschrieben hat: „Besondere Sorgfalt gilt dem ausfließenden Blut: es darf nicht zur Erde fließen, es muß den Altar, den Herd, die Opfergrube treffen. Kleine Tiere hebt man über den Altar, bei anderen fängt man das Blut in einer Schale auf und besprengt den Altarstein: Er allein darf, und er muß immer neu von Blut triefen.“15 Mit Blut bespritzte Altäre waren den Griechen ein vertrauter Anblick und sind auf den Vasenbildern der klassischen Zeit häufig dargestellt.16 Das Blutbad, das sich periodisch wiederholte, wenn z. B. auf der Akropolis in Athen eine Hekatombe geopfert und hundert Rinder sozusagen auf einen Schlag niedergemetzelt wurden, kann man nur schwer nachvollziehen.17 Selbst moderne Schlachthäuser mit ihren Massenschlachtungen, die seit Paul Stengels und Karl Meulis Besuchen im Berliner bzw. Baseler Schlachthof gelegentlich zur Illustration des griechischen Tieropfers bemüht werden und die gerade in den Vereinigten Staaten immer wieder ins Kreuzfeuer der Diskussionen um Tierschutz, humanes Schlachten sowie den moralischen und rechtlichen Status der Tiere geraten, sind nicht wirklich vergleichbar.18 15 Burkert (1997) [Anm. 3], S. 12. 16 Van Straten (1995) [Anm. 9], S. 104 f.; Gebauer (2002) [Anm. 10], S. 254 f. u. 520. Bei Empedokles erscheint der „vom Stierblut getränkte Altar“ (fr. 128,8 DielsKranz) als Inbegriff des Tieropfers, das er aus philosophischen Gründen (Metempsychose) verwarf. 17 Zu den attischen Hekatombenopfern vgl. Vincent J. Rosivach: The System of Public Sacrifice in Fourth-Century Athens, American Classical Studies 34, Atlanta, Georgia 1994, S. 69–72. 18 Paul Stengel: Opferbräuche der Griechen, Leipzig/Berlin 1910, S. 115, dazu van Straten (1995) [Anm. 9], S. 109–13; Karl Meuli: Gesammelte Schriften, Basel 1975, Bd. 2, S. 940 f. Zur Kritik an der modernen Schlachthofmentalität vgl. Sue Coe: Dead Meat, New York/London 1995; Gisela Vogt: Der Tod im Schlachthof und die moderne Jägerei. In: Tiertod – Wirklichkeiten und Mythen. Eine Ausstellung des Westfälischen Museumsamtes, Münster, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, und des Naturkunde-Museums der Stadt Bielefeld, Münster 1996, S. 93–100; Nikolaus Himmelmann: Tieropfer in der griechischen Kunst, Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 349, Opladen 1997, S. 7 Anm. 1.

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2. Die Opferung der Iphigenie Da jedes rituelle Töten mit Gewalt verbunden ist, überschneiden sich die Bedeutungsfelder von thyein und sphazein. Jedoch bleibt eine gewisse Differenzierung bestehen und wird gerade von den Tragikern an entscheidenden Stellen ins Spiel gebracht. Denn im Unterschied zum rituell festgelegten, aber wertneutralen thyein ist sphazein ein Opferterminus, der eine starke emotionale Resonanz auslöst. Wenn es von Agamemnon im gleichnamigen Stück des Aischylos heißt, daß er „sein Kind opferte“ (1417 œqusen aØtoà pa‹da), denkt man an den Ritualmord, den der Vater an seiner Tochter vollzieht. Wenn es dagegen bei Euripides heißt, daß er sie „schlachtete“ (Iph. T. 8 œsfaxen), wird stärker an unsere Gefühle appelliert und wir haben uns das fließende Blut vorzustellen, in dem Iphigenies Leben verströmt. Die unterschiedlichen Assoziationen der beiden Termini lassen sich an dem Nebeneinander zweier eng aufeinander bezogener Aussagen des Chors im Eingangslied des Agamemnon ablesen. Dort wird berichtet, wie Agamemnon zögert, „die väterlichen Hände am Altar mit dem Blut zu beflecken, das beim Schlachten eines Mädchens fließt“ (Ag. 209 ff. mia…nwn parqenosf£goisin ˜e…qroij patróouj cšraj pšlaj bwmoà), während es das Heer „nach einem den Winden Einhalt gebietenden Opfer und Jungfrauenblut“ (214 f. pausanšmou […] qus…aj parqen…ou q' a†matoj) gelüstet. An der ersten Stelle genügt der bloße Wortstamm sphag- in parqenosf£goisin, um die Vorstellung vom blutigen Opfer zu suggerieren. Dagegen bedarf es an der zweiten Stelle der ausdrücklichen Erwähnung des Blutes (haima), um das Opfer (thysia) als Blutopfer zu kennzeichnen. Die beiden zitierten Passagen stammen aus einer dem Agamemnon in den Mund gelegten Reflexion über die Ausweglosigkeit seines Dilemmas: soll er Artemis gehorchen und seine Tochter der Göttin opfern oder Iphigenies Leben schonen und damit den Kriegszug gegen Troja gefährden? Vergleichbare Appelle an die Moral der Beteiligten finden sich auch in anderen mythischen Erzählungen von Menschenopfern. Bei Aischylos siegt der Feldherr in Agamemnon schließlich über den Vater: „Er hatte den Mut, zum Opferer (ϑut»r) seiner Tochter zu werden“ (Ag. 224 f.). Darauf folgen Agamemnons Anweisungen zum Vollzug des Opfers. Dieser oft behandelte Text ist für das Opferdenken der Griechen, die Opferthematik der Tragödie und die ästhetische Rezeption dieser spezifischen Form von Gewalt von exemplarischer Bedeutung (Ag. 228 ff.): Die kriegslüsternen Anführer gaben nichts auf ihr [Iphigenies] Flehen, auf die an den Vater gerichteten Hilferufe und auf ihr jungfräuliches Alter. Der Vater erteilte nach einem Gebet (met' eÙc£n) den Opferdienern die Weisung, (das Mädchen) wie eine

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Jungziege (d…kan cima…raj) mit dem Gesicht nach unten hoch über den Altar (Ûperqe bwmoà […] labe‹n ¢šrdhn) zu heben […] und mit des Knebels stummem Zwang gewaltsam (b…aÄ) jeden Schrei aus ihrem schöngeformten Mund zu unterdrücken, der dem Haus zum Fluche hätte werden können.

Opferpersonal, Opfertier und Altar – mit diesen Begriffen sind drei zentrale Aspekte des Tieropfers bezeichnet, die im Rahmen von Opferprozessionen auf zahlreichen Vasenbildern dargestellt sind und auch in den Textquellen immer wieder vorkommen.19 Die hier vom Chor anvisierte Aktionsebene ist die der rituellen Performanz aus der Sicht der Opferer, d. h. des Opferherrn und der Opferdiener. Dagegen evozieren Ausdrücke wie „Gesicht nach unten“, „Knebel“ und „unterdrücken“ die Hilflosigkeit und Passivität des Opfers, das mißhandelt wird und sich nicht wehren kann. Gewalt ist eine unabdingbare Begleiterscheinung von Tier- und Menschenopfer. Es ist kein Zufall, daß das griechische Wort für Gewalt im Aischyleischen Text ausdrücklich genannt wird: die Schergen machen ihr Opfer „mit Gewalt“ (b…aÄ) mundtot. Die erzwungene Sprach- und Wehrlosigkeit der Iphigenie manifestiert sich in ihrer Knebelung und Fesselung. Mit diesem Szenarium wird die den Athenern des 5. Jhs. vertraute Vorstellung vom willigen Opfertier20 auf das menschliche Opfer übertragen und mit der für die Tragödie charakteristischen Hinterfragung von geläufigen Denkkategorien und Konventionen auf den Kopf gestellt. Denn im Gegensatz zu Kassandra, die in demselben Stück vom Chor gefragt wird, warum sie „wie ein gottgetriebenes Rind (qehl£tou boÕj d…khn) mutig zum Altar schreitet“ (Ag. 1297 f.), wird Iphigenie hier zu ihrem Opferglück gezwungen. Das dramatische und rituelle Gegenbild dazu repräsentiert die Aulische Iphigenie des Euripides, die sich freiwillig als Opfer anbietet. Das willige Opfertier ist ein beschönigendes Konstrukt der griechischen Opfermentalität, das bezeichnenderweise gerade in der Komödie seinen Niederschlag gefunden hat. In Wahrheit ging es nämlich weniger harmlos zu. Opfertiere wurden am Strick geführt, angepflockt und gewaltsam festgehalten, um sie am Weglaufen zu hindern.21 Kallimachos und Ovid kommen 19 Van Straten (1995) [Anm. 9]; Himmelmann (1997) [Anm. 18]; Gebauer 2002 [Anm. 10]; Antoine Hermary und Martine Leguilloux: Les sacrifices dans le monde grec. In: ThesCRA 2004 [Anm. 12], Bd. 1, S. 59–134. 20 Dazu zuletzt Himmelmann (1997) [Anm. 18], S. 38–40 u. S. 42–46; Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 181 u. 203; Susanne Moraw: Bilder die lügen. Hochzeit, Tieropfer und Sklaverei in der klassischen Kunst. In: Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., hrsg. von Günter Fischer und Susanne Moraw, Stuttgart 2005, hier: S. 75–77. 21 Jean Louis Durand: Le bœuf à la ficelle. In: Images et Société en Grèce ancienne. L’iconographie comme méthode d’analyse, hrsg. von Claude Bérard, Christiane

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der Wirklichkeit entschieden näher, wenn sie mit alexandrinischem Blick für den entscheidenden Augenblick und das realistische Detail den Moment festhalten, wo das Opfertier in seiner Todesangst vor dem sich im Lustrationswasser spiegelnden Opfermesser zurückschreckt.22 Das Hochheben des Opfers ist von Aischylos nicht frei erfunden, sondern hat seinen rituellen Sitz im Leben. Iphigenies Behandlung entspricht dem für das Athen des 5. u. 4. Jhs. literarisch und inschriftlich bezeugten Ritual des „Hochhebens der Ochsen“ (a‡rein bzw. a‡resqai toÚj boàj), bei dem mehrere attische Epheben einen Stier hochstemmten, um ihn so in der Schwebe haltend abzustechen.23 Die von Aischylos inszenierte Analogie von Tier- und Menschenopfer wird vom Chor nicht nur narratorisch, sondern auch sakralsprachlich vollzogen. Denn der spezielle Terminus airein für dieses zeremonielle „Hochheben“ klingt in dem „hoch […] zu heben“ (Ag. 234 labe‹n ¢šrdhn) des Chors etymologisch an. Dieser rituelle Moment ist auf einer schwarzfigurigen Bauchamphora spätarchaischer Zeit in Viterbo festgehalten, auf der sieben Männer einen Stier in Bauchlage horizontal auf ihren Schultern tragen.24 Zwei weitere am Kopf- und Schwanzende des Stieres postierte Helfer halten seinen Schwanz und ein an einem Maulkorb befestigtes Seil fest, um seine Bewegungsfreiheit weiter einzuschränken. Ein zehnter Mann stößt ihm von unten das Opfermesser in die Kehle, während der elfte in einem Becken das herabströmende Blut auffängt. Auch hier steht Gewalt im Dienste des Opferritus. Bron und Alessandra Pomari, Cahiers d’archéologie romande 36, Lausanne 1987, S. 227–41; Albert Henrichs: Dromena und Legomena: Zum rituellen Selbstverständnis der Griechen. In: Graf (1998) [Anm. 9], S. 33–71, hier: S. 59 f.; Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 179–81; Stella Georgoudi: L’„occultation de la violence“ dans le sacrifice grec: donnés anciennes, discours modernes. In: La cuisine et l’autel. Les sacrifices en questions dans les sociétés de la Méditerranée ancienne, hrsg. von Stella Georgoudi, Renée Koch Piettre and Francis Schmidt, Bibliothèque de l’École des Hautes Études, Sciences Religieuses 124, Turnhout 2005, S. 131–34. 22 Kall. fr. 75,10 f. Pf. („de hostiarum angoribus mortis“) oƒ bÒej Ñxe‹an derkÒmenoi dor…da, aufgenommen von Ov. fast. 1,327 praevisos in aqua timet hostia cultros. 23 Dazu Stengel (1910) [Anm. 18], S. 105–12 u. 115 f.; van Straten (1995) [Anm. 9], S. 109– 13; Himmelmann (1997) [Anm. 18], S. 22–26; Henrichs (1998) [Anm. 21], S. 63, Anm. 108; ThesCRA 2004 [Anm. 12], Bd. 1, S. 116 f.; Parker (2005) [Anm. 8], S. 180 u. 330. 24 Viterbo, Museo Archeologico Nazionale della Rocca di Albonoz, um 540 v. Chr. Vgl. Durand/Schnapp (1984) [Anm. 4], S. 54 mit Abb. 83; Sarah Peirce: Death, Revelry, and Thysia. In: Classical Antiquity 12 (1993), S. 219–66, hier: S. 220, 234 f., 254 u. 257 mit Abb. 1; van Straten (1995) [Anm. 9], S. 109–13, 219 Nr. V 141 mit Abb. 115; Himmelmann (1997) [Anm. 18], S. 22–26 mit Abb. 13; Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 257–59 Nr. S 1 mit Abb. 134 u. S. 286, der „den agonalen Charakter der Darstellung“ betont; ThesCRA 2004 [Anm. 12], Bd. 1, S. 117 Nr. 485a.

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Entsprechend hat man sich das Opfer der Iphigenie vorzustellen. Auf einer tyrrhenischen Amphora des Timiades-Malers in London, die Paul Maas als erster neben den Aischyleischen Text stellte, wird die namentlich identifizierte Polyxena, das rituelle Double Iphigenies, von drei Kriegern in Bauchlage und mit dem Gesicht nach unten wie bei Aischylos über einen von einem Herdaltar bekrönten Tumulus gehoben, der das Grab des Achill darstellt, während ihr Neoptolemos von unten das Schwert in die Kehle stößt und ihr Blut zur Erde fließt.25 Hier ist das „Schlachten zur Erde hin“ (sf£zein ™j g©n) der selinuntischen Sakralinschrift auf das Menschenopfer übertragen zum visuellen Sinnbild einer spezifischen, in der Forschung bislang meist als „chthonisch“ bezeichneten Form des Opfers geworden.26 Um so merkwürdiger ist es, daß auf einem spätarchaischen Reliefsarkophag aus der Troas Polyxena in Rückenlage mit dem Gesicht nach oben hochgehoben wird, während Neoptolemos sie am Haarschopf faßt und ihr vor dem Grab Achills mit einem Kurzschwert die Kehle durchsticht.27 Statt ihres Blutes strömt Polyxenas Haar zur Erde. Die auffällige Rückenlage des Opfers hat in einer vergleichbaren Opferszene auf einem protoattischen 25 British Museum 1897. 7-27.2, um 570–560 v. Chr. Die Vase ist oft abgebildet und behandelt. Vgl. Paul Maas: Aeschylus Agam. 231 ff. Illustrated. In: Kleine Schriften, München 1973, S. 42; Prag (1985) [Anm. 9], S. 62 mit Tafel 41b; LIMC VII 1 (1994), S. 433 s. v. Polyxène, Nr. 26 (Odette Touchefeu-Meynier); van Straten (1995) [Anm. 9], S. 114, 272 Nr. V 422 mit Abb. 118; Himmelmann (1997) [Anm. 18], S. 24–26 mit Abb. 12; Blome (1998) [Anm. 9], S. 82–84; Durand/Lissarrague (1999) [Anm. 9], S. 91 mit Abb. 4; Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 258, 27 Nr. Sv 25 mit Abb. 160, 517; ThesCRA 2004 [Anm. 12], Bd. 1, S. 130, Nr. 595 mit Abb. Gr. 595. Zur Form des heroischen Grabaltars vgl. Prag a. a. O.; dagegen deutet Gebauer (S. 258 u. 517) „das hügelförmige Objekt“ wenig überzeugend als bloßen Altar ohne Grab, 595. 26 Zur Diskussion der beiden komplementären Kategorien „olympisch“/„chthonisch“ und ihrer umstrittenen Anwendung auf griechische Opferriten vgl. Hägg/ Alroth (2005) [Anm. 14]. 27 Gefunden 1994 in Kisöldün bei Gümüsçay auf der kleinasiatischen Seite der Dardanellen, jetzt im Museum von Çanakkale, um 500 v. Chr.; ThesCRA 2004 [Anm. 12], Bd. 1, S. 130, Nr. 596 (ohne Abb.). Dazu Nurten Sevinç: A New Sarcophagus of Polyxena from the Salvage Excavations at Gümüsçay. In: Studia Troica 6 (1996), S. 251–64 (Erstpublikation mit Photos); Durand/Lissarrague (1999) [Anm. 9], S. 95 mit Abb. 7 (Strichzeichnung); Carola Reinsberg: Der Polyxena-Sarkophag in Çanakkale. In: Sepulkral- und Votivdenkmäler östlicher Mittelmeergebiete (7. Jh. v. Chr.–1. Jh. n. Chr.). Kulturbegegnungen im Spannungsfeld von Akzeptanz und Resistenz. Akten des Internationalen Symposiums Mainz, 01.–03.11.2001, hrsg. von Renate Bol und Detlev Kreikenbom, Mainz 2004, S. 199–217 mit Tafel 85 (Strichzeichnungen).

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Vasenfragment ihre Parallele.28 Dort wird ein weibliches Opfer ebenfalls in Rückenlage mit den Füßen nach oben von drei Männern zum Opferplatz getragen. Die Rückenlage war offenbar ikonographisch ebenso fest etabliert wie die Bauchlage, ist aber aus ritueller Sicht ein Unding – „the wrong position for sacrifice“.29 Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß „das Blut auch so seinen Weg in die Erde finden wird.“30 Denn nicht die Gesetze der Schwerkraft sind für unser Verständnis bildlicher Darstellungen von Menschenopfern ausschlaggebend, sondern vergleichbare Darstellungen von Tieropfern, die eine deutliche Sprache sprechen. So werden in den Opferszenen der Vasenbilder Opfertiere zwar gelegentlich rücklings auf dem Opfertisch liegend ausgeweidet, aber niemals in Rückenlage geopfert.31 Offensichtlich haben weniger rituelle als ästhetische Gesichtspunkte die Komposition des Polyxena-Sarkophags bestimmt. Als explizite Wiedergabe eines rituellen Gewaltakts mit einem menschlichen Opfer ist das Sarkophagbild jedoch einzigartig: „Die Drastik dieser Opferdarstellung findet in der griechischen Kunst kaum ihresgleichen.“32 Polyxena wird von drei mit kurzen Chitonen bekleideten Jungmännern hochgehoben, die sie an Hän28 New York, Privatsammlung, um 650–630 v. Chr. Dazu Emily Vermeule und Suzanne Chapman: A Protoattic Human Sacrifice? In: American Journal of Archaeology 75 (1971), S. 285–93 mit Abb. 69–72; Prag 1985 [Anm. 9], S. 63 u. 148, Nr. H1 mit Tafel 38; LIMC V 1 (1990), S. 709 s. v. Iphigeneia Nr. 2 (Lilly Kahil); Blome 1998 [Anm. 9], S. 83 Abb. 4; Durand/Lissarrague (1999) [Anm. 9], S. 95 Anm. 26; Gerda Schwarz: Der Tod und das Mädchen. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Athenische Abteilung, 116 (2001), S. 34–50 mit Tafel 9,2; Reinsberg (2004) [Anm. 27], S. 203 Anm. 32. Vgl. u. Anm. 33. 29 So Vermeule/Chapman (1971) [Anm. 28], S. 291. Auf einer etrusko-kampanischen Halsamphora in London (British Museum B 70, um 450 v. Chr.; Prag 1985 [Anm. 9], S. 65 u. 149, Nr. H3 mit Tafel 40ab) wird eine Frau (Iphigenie?) von einem Krieger zu einem Altar getragen, wo ein zweiter Krieger sie mit gezücktem Schwert und ausgestrecktem Arm erwartet. Die Stellung des Opfers ähnelt der der Polyxena auf der tyrrhenischen Amphora (Anm. 25) und deutet auf ein Abkehlen in Bauchlage und mit dem Gesicht nach unten. Deshalb glaubt Schwarz (2001) [Anm. 28], S. 40, Anm. 21, in dem Opfer Polyxena zu erkennen, wogegen jedoch der Altar spricht; denn man erwartet einen Tumulus. 30 Schwarz (2001) [Anm. 28], S. 41. 31 Van Straten (1995) [Anm. 9], Abb. 119–22; Himmelmann (1997) [Anm. 18], Abb. 15a, 16a u. 20a; Gebauer (2002) [Anm. 10], Abb. 164, 170, 184, 189 u. 191. 32 Reinsberg (2004) [Anm. 27], S. 206, die bereits die Amphoren in Viterbo und London (Anm. 24–25) mit der Opferszene des Polyxenasarkophags verglich, ohne jedoch auf die rituelle Signifikanz der unterschiedlichen Stellungen der jeweiligen Opfer einzugehen.

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den, Füßen und Taille festhalten und bewegungsunfähig machen. Die Männer sind als „Krieger“ gedeutet worden, obwohl sie unbewaffnet sind.33 Ihr militärischer Status ist jedoch weniger signifikant als ihre rituelle Funktion. Sie entsprechen den „Opferdienern“ (¥ozoi), die Iphigenie im Eingangslied des Agamemnon knebeln, über den Altar heben und opfern.34 Ob sich das auf dem Sarkophag dargestellte Urbild eines Jungfrauenopfers verbunden mit männlicher Aggression als mythisches Exemplum einer gewaltsamen mors immatura nahtlos und für den antiken Betrachter problemlos in das restliche Bildprogramm fügt, das vermutlich den vorzeitigen Tod eines heiratsfähigen Mädchens mit Rückgriff auf Totenklage, Hochzeitsmotivik und rituelle Tänze thematisiert, ist eine über die eigentliche Opferproblematik hinausführende Frage, auf die noch keine befriedigende Antwort gefunden worden ist.35 Es ist sehr wohl denkbar, daß Aischylos bei der Stilisierung des Iphigenieopfers derartige Opferszenen in der Vasenmalerei vor Augen hatte.36 In diese Richtung mag auch die Wendung weisen, mit der der Chor den Mitleid erweckenden Blick beschreibt, den die stumme Iphigenie auf jeden 33 Reinsberg (2004) [Anm. 27], S. 204 f. Die drei Männer, die auf dem protoattischen Vasenfragment (Anm. 28) eine auf dem Rücken liegende Frau zur Opferung tragen, sind im Gegensatz zu den Kriegern auf der tyrrhenischen Amphora mit dem Polyxenaopfer (Anm. 25) ebenfalls unbewaffnet. Jedenfalls symbolisiert das als Kriegsbeute für den toten Achill bestimmte Jungfrauenopfer den Nexus von Sexualität und Gewalt, der im griechischen Mythos vornehmlich für das Verhalten von Kriegern bezeichnend ist (Burkert 1997 [Anm. 3], S. 70–85, bes. S. 77–79). 34 Bereits Vermeule/Chapman (1971) [Anm. 28], S. 292 hatten die drei bewaffneten Männer, die Polyxena auf der Londoner Amphora (Anm. 25) bei der Opferung über den Grabaltar heben, mit den Aischyleischen aozoi verglichen. Zu diesem seltenen Wort, das vermutlich der Sakralsprache angehört, vgl. Eduard Fraenkel zu Aischyl. Ag. 231; Stefan Radt zu Aischyl. fr. 54; Rudolf Pfeiffer zu Kall. fr. 563; Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Kleine Schriften, Berlin 1962, Bd. 4, S. 442. 35 Die hier vorausgesetzte Deutung der vier Sarkophagreliefs von Reinsberg (2004) [Anm. 27] versteht Polyxenas Opferung „als Metapher für die Grausamkeit“ des vorzeitigen Todes des jungen Mädchens, für deren Bestattung der Sarkophag vermutlich bestimmt war: „Todesschrecken und Trauer sind ungeschönt ins Bild gesetzt“ (S. 215). Man fragt sich jedoch, was den bzw. die Schöpfer des Sarkophags dazu veranlaßt haben könnte, ausgerechnet das Opfer eines Ritualmords als Paradigma zu wählen. Ob es die Rolle der Polyxena als Braut des toten Achill und damit als einer Art von „Hadesbraut“ gewesen sein mag? Vgl. Rush Rehm: Marriage to Death: The Conflation of Wedding and Funeral Rituals in Greek Tragedy, Princeton 1994. 36 Prag (1985) [Anm. 9], S. 66 f.

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ihrer Opferer (Ag. 240 ›kaston qut»rwn) wirft: Sie steht beim Altar „scharf konturiert wie auf einem gemalten Bild (Ag. 242 pršpousa tëj ™n grafa‹j), gewillt sie namentlich anzusprechen.“ Der spezifische Vergleichspunkt ist hier die Unfähigkeit der geknebelten Iphigenie, sich sprachlich vernehmbar zu machen. Statt dessen muß sie die Augensprache benutzen, die sie mit den stummen Figuren auf den Vasenbildern gemeinsam hat. Das erzwungene Schweigen der Iphigenie überträgt sich in der folgenden Strophe desselben Chorlieds auf den Chor und seine Rolle als Augenzeuge und Gewährsperson für das Menschenopfer in Aulis. Denn statt abschließend die eigentliche Tötung der Iphigenie zu beschreiben, verfällt der Chor in euphemistisches Schweigen: „Was danach kommt, habe ich nicht gesehen, noch spreche ich darüber“ (Ag. 248 t¦ d' œnqen oÜt' endon oÜt' ™nnšpw). Aischylos geht damit entschieden über das Verbot des Blutvergießens auf der Bühne hinaus, indem er den Augenblick der eigentlichen Tötung beim Menschenopfer selbst als Sprechakt ausblendet. Falls man auch bei den Tragikern von der „Gewalt der Darstellung“37 sprechen darf, wird diese Form von Gewalt hier den zeitgenössischen Zuschauern und uns als Lesern vorenthalten. Die poetische Intention dieser Aposiopese ist keineswegs eindeutig. Läßt Aischylos den Chor schweigen, um das Dekorum zu wahren und damit einem ästhetischen Prinzip Genüge zu tun, oder will er mit dieser Aussparung das endgültige Schicksal der Iphigenie letztendlich in der Schwebe lassen, wie neuerdings wieder vermutet worden ist?38 Bekanntlich ist die Version, der zufolge sie wirklich getötet wird, nicht nur sekundär, sondern sie dramatisiert den Extremfall. Der Ritualmord an Iphigenie wird außer im Agamemnon und in den beiden Elektren nur noch bei Pindar, Lukrez und Seneca als wirklich vollzogen dargestellt.39 So ist Klytaimestra bei den drei attischen Tragikern und bei Seneca felsenfest davon überzeugt, daß Agamemnon die gemeinsame Tochter umgebracht hat. Dagegen wird Iphigenie nicht nur in den Ehoien und Kyprien und damit den mit Abstand 37 So der Titel von Patrick Primavesis Beitrag zu diesem Band. 38 Mark Griffith: Slaves of Dionysos: Satyrs, Audience, and the Ends of the Oresteia. In: Classical Antiquity 21 (2002), S. 195–258, hier: S. 241–43; Christiane Sourvinou-Inwood: Tragedy and Athenian Religion, Lanham/Boulder/New York/Oxford 2003, S. 57 Anm. 64 u. Iphigenia. In: The Oxford Classical Dictionary, hrsg. von Simon Hornblower und Antony Spawforth, Oxford 31996, S. 765–66, hier: S. 765: „In Aesch. Ag. 218–49 it is suggested that she died at the altar – or at least that the spectators thought she did.“ 39 Aischyl. Ag. 1415 ff.; Soph. El. 530 ff.; Eur. El. 1020 ff.; Pind. P. 11,22 f.; Lucr. 1,84 ff.; Sen. Ag. 162 ff.

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ältesten Versionen des Mythos, sondern auch in den beiden Iphigenien des Euripides sowie in der Mehrzahl der auf sie bezüglichen Texte durch Einschreiten der Artemis gerettet, während ohne Wissen der Beteiligten ein Phantom (eidolon) bzw. Opfertier als Ersatzopfer an ihrer Stelle verblutet.40 Diesem dynamischen Wechselspiel von Menschen- und Tieropfer und der damit ursächlich zusammenhängenden Problematik des Menschenopfers wollen wir uns jetzt zuwenden.

3. Zur rituellen Parallelisierung von Menschenopfer und Tieropfer Der Ritualmord an Iphigenie wurde von einer Gottheit (Artemis) gefordert und von einem Seher (Kalchas) gutgeheißen. Diese Konstellation findet sich auch in historischen Berichten von Menschenopfern, die, wie die neueste Forschung wiederholt bestätigt hat, ausnahmslos dem Bereich der Imagination angehören und damit fiktiv sind.41 Das gilt auch für das angebliche Opfer von drei hochrangigen persischen Kriegsgefangenen vor der Schlacht von Salamis, das in den Rahmen der Themistokleslegende gehört. Einer Tradition zufolge, die auf den peripatetischen Kulturhistoriker Phainias von Eresos im 4. Jh. v. Chr. zurückgeht, soll im Verlauf der vor der Schlacht bei dem Flaggschiff vollzogenen Tieropfer der nicht weiter bekannte Seher Euphrantides nach Wahrnehmung zweier Omen angeordnet haben, das Opfertier durch die drei gefangenen Perser zu ersetzen.42 Als Admiral und Opferherr sträubte sich Themistokles zuerst gegen diese Anordnung, gab aber schließlich dem Druck der Menge (oƒ pollo…) nach und ließ die Gefangenen dem Dionysos Omestes opfern, 40 [Hes.] Frauenkat. fr. 23a Merkelbach-West; Kypria, Argum. S. 41 Bernabé. Vgl. Albert Henrichs: Human Sacrifice in Greek Religion: Three Case Studies. In: Le sacrifice dans l’antiquité, hrsg. von Jean Rudhardt und Olivier Reverdin, Entretiens sur l’antiquité classique 27, Vandœuvres/Genf 1981, S. 195–235, hier: S. 198–200. 41 Dennis Hughes: Human Sacrifice in Ancient Greece, London/New York 1991; Pierre Bonnechere: Le sacrifice humain en Grèce ancienne, Athen/Lüttich 1994; Stella Georgoudi: À propos du sacrifice humain en Grèce ancienne: remarques critiques. In: Archiv für Religionswissenschaft 1 (1999), S. 61–82. Zur rituellen Mehrdeutigkeit des Begriffs „sacrifice humain“ bzw. „human sacrifice“ s. Hughes, a. a. O., S. 1–4 und Georgoudi, a. a. O., S. 64 f. 42 Plut. Them. 13, 2–5 = Phainias Frg. 25 Wehrli2 = FGrHist 1012 F 19. Dazu Henrichs (1981) [Anm. 40], S. 208–24; Hughes (1991) [Anm. 41], S. 111–15.

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dessen Epithet soviel wie „Rohfresser“ bedeutet. Die für Opfer vor Kampfhandlungen charakteristische Form des Vernichtungsopfers von Tieren (sphagia43) schlug also laut Phainias in ein Menschenopfer um, das durch die extreme Krisensituation gerechtfertigt schien. Die Parallelisierung von Tier- und Menschenopfer ist hier mit Händen zu greifen und wird durch die Übertragung der konventionellen Opferterminologie vom Tieropfer auf den Ritualmord weiter verstärkt.44 Der Bericht ist ein Musterbeispiel von sakralsprachlicher Exaktheit, was zu seinem modernen Erfolg beigetragen hat. Was ihn u. a. diskrediert ist das Faktum, daß der Kult des Dionysos Omestes auf Lesbos, der Heimatinsel unseres Gewährsmannes, zuhause ist und in Athen nichts zu suchen hat.45 Historiker haben die Glaubwürdigkeit dieses Berichts immer wieder bestritten, der allerdings von Generationen von Religionshistorikern für bare Münze genommen worden ist. Insgesamt gilt, daß sich tatsächliche Menschenopfer zumindest im Griechenland der archaischen und klassischen Zeit nicht nachweisen lassen. Es bleibt allerdings zu fragen, warum das Menschenopfer die Phantasie der Griechen so stark und so lange beschäftigt hat. Die üblichen Erklärungsversuche, etwa der Art, daß es sich um Reflexe historischer Menschenopfer in uralter Zeit handelt oder daß die Griechen eine lebhafte, gerade dem Grauenvollen gegenüber aufgeschlossene Phantasie besaßen, reichen nicht aus. Vielleicht gelingt es uns später, auf dem Umweg über das Tieropfer und die Anthropologie der Gewalt, eine befriedigendere Antwort zu finden. Zuvor möchte ich jedoch kurz auf zwei seltsame Rituale zu sprechen kommen, die für Sparta bzw. Athen bezeugt sind und immer wieder als Relikte alter Menschenopfer verstanden worden sind. In beiden Fällen fließt zwar ausnahmsweise Menschenblut statt Tierblut, aber niemand kommt ernsthaft zu Schaden. Es handelt sich um die rituelle Geißelung der Epheben im Kult der Artemis Orthia in Sparta und das blutige Halsritzen im Tempel der Artemis Tauropolos in Halai an der Ostküste Attikas.46 Artemis gehört ja neben Dionysos zu den Gottheiten, in deren Mythen Gewalt und Blutvergießen besonders augenfällig sind. Für Artemis sei nur an das 43 44 45 46

Oben Anm. 10–12. Henrichs (1981) [Anm. 40], S. 213 f. u. 218 f. mit Anm. 4. Henrichs (1981) [Anm. 40], S. 218–23. Beide Rituale sind von Fritz Graf: Das Götterbild aus dem Taurerland. In: Antike Welt 4 (1979), S. 33–41 als Integrationsriten bzw. „rites de passage“ gedeutet worden, die einer „fremden“ Göttin und einer angeblich aus der Fremde importierten Kultstatue zugeordnet sind. Vgl. Vernant (1990) [Anm. 11], S. 186–97.

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Iphigenieopfer und die Zerfleischung Aktaions durch seine Hunde erinnert, für Dionysos an die Zerstückelung des Pentheus und die Zerfleischung von Kindern in verwandten mänadischen Mythen.47 Allerdings ist die Quellenlage im Falle von Halai ungünstig und erschwert die Beurteilung. In einer der notorischen Euripideischen Deusex-machina-Epiphanien in der Schlußszene der Iphigenie im Taurerland, einem Stück, in dem es um Menschenopfer geht, verkündet Athene dem Orest, daß in Zukunft im Kult der Artemis von Halai unter den Augen ihres unheimlichen, von exotischen Legenden umrankten Kultbilds „als Buße für dein Schlachtopfer“ (1459 tÁj sÁj sfagÁj ¥poina) der Hals eines Mannes mit einem Schwert angeritzt und so zum Bluten gebracht werden soll. Bei dem zweideutigen Ausdruck „für dein Schlachtopfer“ bleibt unausgesprochen, ob damit neben der von Iphigenie verhinderten Opferung des Orest an die Taurische Artemis nicht auch der Muttermord gemeint ist, den er selbst an Klytaimestra begangen hat.48 Es gibt keinen Grund, den sonst nicht bezeugten Ritus als Erfindung des Euripides abzutun.49 Aber es bleibt bestehen, daß uns jeder unmittelbare kultische Kontext für das Halsritzen von Halai fehlt, was dazu geführt hat, daß dieser Einzelfall heute zumeist als „symbolische Tötung“ bzw. als ein zu einem „seltsamen Festbrauch“ abgeschwächter Initiationsritus eingestuft wird.50 Für unser Thema ist festzuhalten, daß es sich dabei um die einzigen menschlichen Blutstropfen im attischen Kult handelt, in dem Tierblut in Strömen floß. Besser bezeugt, aber nicht weniger rätselhaft ist die erstmals von Xenophon bezeugte Geißelung der spartanischen Epheben, bei der die Grenzen zwischen Kultaitiologie und tatsächlichem kultischen Geschehen fließend 47 Vgl. z. B. Georgoudi (1999) [Anm. 41], S. 65–68 u. 74–79 zu den mit Artemis verbundenen Menschenopfern als Alteritätskonstrukte; Walter F. Otto: Dionysos, Mythos und Kultus [1933], Frankfurt a. M. 41980, S. 96–105 zu den dionysischen Zerreißungsriten; oben bei Anm. 41–42 zu dem angeblichen Menschenopfer an Dionysos Omestes vor der Schlacht bei Salamis. 48 C. Wolff: Euripides’ Iphigenia among the Taurians. Aetiology, Ritual, and Myth. In: Classical Antiquity 11 (1992), S. 308–34. 49 Scott Scullion: Tradition and Invention in Euripidean Aetiology. In: Illinois Classical Studies 24–25 (1999–2000), S. 217–33. 50 Graf (1979) [Anm. 46], S. 34, 37 u. 41; ders.: What is new about Greek Sacrifice? In: KYKEON. Studies in Honour of H. S. Versnel. Religions in the Graeco-Roman World 142, hrsg. von Herman F. J. Horstmanshoff, Henk W. Singor, Folkert T. van Straten und Jan H. M. Strubbe, Leiden/Boston/Köln 2002, S. 113–25, hier: S. 115.

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sind.51 Noch bis in die Kaiserzeit wurden die spartanischen Jungmänner am Altar der Artemis Orthia mit Zweigen und Ruten einen ganzen Tag lang geschlagen bzw. „gegeißelt“. Eine lokale Kultaitiologie erklärt die Geißelung als Ersatz für ein altes Menschenopfer und betont, daß beiden Riten die „Tränkung des Altars mit Blut“ (Paus. 3.16.10 tÕn bwmÕn aƒm£ssein bzw. ™mp…platai […] a†mati Ð bwmÒj) gemeinsam sei. Bei der jährlichen Geißelung waren Todesfälle angeblich die Regel, wie Plutarch als Augenzeuge zu berichten weiß.52 Der in den Quellen regelmäßig auftauchende Ausdruck ist mastigoun, also dasselbe Wort, mit dem auch Lesis in dem eingangs zitierten Text die von ihm erlittenen Mißhandlungen beschreibt. Laut Pausanias war die Priesterin der Artemis mit dem hölzernen Kultbild der Göttin in ihren Armen bei der Geißelung zugegen, wobei das Bild an Gewicht zugenommen haben soll, wenn die Schläge zu milde ausfielen, und leichter wurde, wenn kräftig zugeschlagen wurde. Laut Xenophon soll die Geißelung mit einem agonistischen Scheinkampf verbunden gewesen sein, bei dem es darum ging, wer von den Epheben die meisten Käse vom Altar der Artemis stahl. In welchem kultischen Zusammenhang der Käsediebstahl mit der Geißelung steht, bleibt undurchsichtig, zumal sich Xenophon darüber ausschweigt. Martin Nilsson schrieb vor hundert Jahren, daß zum Sieger erklärt wurde, „wer die meisten Käse und die meisten Hiebe erhielt.“53 Unklar bleibt dabei, was es mit dem Käse auf sich hat. Auch das berühmte Alkmanfragment über das Fest der Artemis, an dem die „Göttin des Draußen“ einen Käse aus Löwenmilch zubereitet, bringt uns nicht weiter.54 Aus ritueller Sicht ist der Käse jedoch weniger signifikant als der Akt des Stehlens, der initiatorische Funktion hat.55 Zur Erklärung der eigentlichen Geißelung hat man von den Initiationsriten der sogenannten Naturvölker über den „Schlag mit der Lebensrute“ bis zur agonistisch ver51 Die Hauptquellen bei Sam Wide: Lakonische Kulte, Leipzig 1893, S. 112–16 u. Martin P. Nilsson: Griechische Feste von religiöser Bedeutung mit Ausschluß der attischen, Leipzig 1906, S. 190–96. Deutung als „Periode der Auflösung vor dem Neuanfang“ unter Einbeziehung der „Initiationsthematik“ bei Fritz Graf: Nordionische Kulte. Religionsgeschichtliche und epigraphische Untersuchungen zu den Kulten von Chios, Erythrai, Klazomenai und Phokaia, Bibliotheca Helvetica Romana 21, Rom 1985, S. 86–90. 52 Plut. Lyk. 18,2, Epited. Lak. 40, 239CD, vgl. Arist. 17. 53 Nilsson (1906) [Anm. 51], S. 194. 54 Vgl. zuletzt Renate Schlesier: Das Löwenjunge in der Milch. Zu Alkman, Fragment 56 P. [= 125 Calame]. In: Orchestra: Drama – Mythos – Bühne, hrsg. von Anton Bierl und Peter von Möllendorff, Stuttgart/Leipzig 1994, S. 19–29, hier: S. 24 f. 55 Jean-Pierre Vernant: L’individu, la mort, l’amour. Soi-même et l’autre en Grèce ancienne, Paris 1989, S. 198–201.

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brämten Mutprobe als Ausdruck spartanischer Disziplin so ziemlich alles herangezogen, was im entferntesten vergleichbar ist.56 Trotz aller gelehrten Bemühungen wissen wir über den Ablauf, Sinn sowie die zeitliche und kultische Kontinuität dieses rituellen Schlagens weniger als uns lieb ist. An der blutigen Geißelung als solcher ist jedoch ebensowenig zu zweifeln wie daran, daß rituelles Geißeln und Peitschen am ehesten in den Bereich antiker Vorstellungen über initiatorische Strafen und Bußen gehören. Man hat „die dunkel-faszinierende Flagellationsszene“57 auf einem der Fresken in der „Villa dei Misteri“ in Pompeji verglichen, wo dargestellt ist, wie ein geflügelter weiblicher Dämon mit einer Rute eine Initiandin schlägt, die mit entblößtem Rücken vor ihm kniet.58 Außerhalb der Antike sind rituelle Geißelungen für das Christentum und den schiitischen Islam bezeugt und werden teils bis auf den heutigen Tag praktiziert, wenn auch mit Sinngebungen, die nicht auf die antike Welt übertragbar sind. Das Tieropfer dient in der Aischyleischen Version des Iphigeniemythos als Folie für das Menschenopfer, eine den Zeitgenossen des Aischylos vertraute aber für das moderne Verständnis paradoxe Analogie. In der Korrelation von Tier- und Menschenopfer wird darüber hinaus auch das gerade im Bereich der Opferthematik besonders enge Wechselverhältnis von Mythos und Kult thematisiert, das seit dem Ende des 19. Jhs. im Zentrum der Diskussionen zur griechischen Religion steht.59 Denn Menschenopfer sind eine Perversion des Tieropfers und gehören ausschließlich in die imaginäre Welt des Mythos, während Tieropfer den kultischen Normalfall darstellen.60 Aber auch im Mythos ist das Menschenopfer so gut wie nie Selbstzweck, sondern macht fast immer dem Tieropfer Platz, das als Substitution 56 Lit. bei Graf (1985) [Anm. 51], S. 86 Anm. 79 u. Claude Calame: Choruses of Young Women in Ancient Greece: Their Morphology, Religious Role, and Social Functions, Lanham/Boulder/New York/London 1997, S. 158 f. 57 Walter Burkert: Antike Mysterien: Funktionen und Gehalt, München 41994, S. 81, vgl. 88. 58 Graf (1985) [Anm. 51], S. 140 Anm. 21; Schlesier (1994) [Anm. 54], S. 25 Anm. 29. 59 Walter Burkert: Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne. In: Les études classiques aux XIXe et XXe siècles: Leur place dans l’histoire des idées, hrsg. von Willem den Boer, Entretiens sur l’antiquité classique 26, Vandœuvres/Genf 1980, S. 159–99; Fritz Graf: Griechische Mythologie. Eine Einführung, München/Zürich 1985, S. 98–116; Albert Henrichs: Die Götter Griechenlands. Ihr Bild im Wandel der Religionswissenschaft, Thyssen-Vorträge „Auseinandersetzungen mit der Antike“ 5, Bamberg 1987 (auch in: Auseinandersetzungen mit der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Bamberg 1990, S. 115–62). 60 Vgl. oben bei Anm. 41.

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für das Menschopfer verstanden wird. In den einschlägigen griechischen Mythen und Erzählungen wiederholt sich also das rituelle Schema des Isaakopfers, in dem ein Opfertier an die Stelle des zu opfernden Menschen tritt.61 In allen diesen Fällen handelt es sich um aitiologische Distanzierungsstrategien, deren Ziel es ist, mit Rekurs auf den Ausnahmefall das Normalopfer als den allein gültigen Opferritus zu bestätigen. In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf das vermeintliche Opfer der drei persischen Prinzen vor der Schlacht bei Salamis zurückkommen, wo das für den Mythos geltende Verhältnis von Menschen- und Tieropfer umgekehrt wird und ein bereits im Gange befindliches Tieropfer ausnahmsweise in ein Menschenopfer umschlägt. Dieser Rekurs auf ein pervertiertes Opfer findet allerdings unter extremen Umständen statt, d. h. vor einer entscheidenden Schlacht, von deren Ausgang das Schicksal ganz Griechenlands abhängt. Vergleichbare Szenarien finden sich nur bei den Tragikern. Bekanntlich inszeniert die Tragödie mit Vorliebe derartige Ausnahmesituationen, bei denen unter dem Druck der Umstände ein Menschenopfer als allerletzter Ausweg in Erwägung gezogen und in die Tat umgesetzt wird. Das Opfer der Iphigenie ist neben dem Opfertod des Menoikeus in den Phoinissen des Euripides das bekannteste Beispiel.62 Dabei tritt das Tieropfer gegenüber dem Menschenopfer in den Hintergrund und wird bestenfalls am Rande thematisiert. In Abweichung von dieser Konvention geht Euripides in dem Botenbericht der Elektra einen entscheidenden Schritt weiter, indem er den Aigisth von Orest im Laufe eines Tieropfers über dem bereits geopferten Tier abschlachten läßt, so daß das Tieropfer ins Menschenopfer übergeht und schließlich in dem Übereinander und Ineinander des geopferten Tieres und des ermordeten Menschen beide Opfer in einer grotesken Personalunion zusammenfallen.63 Darüber hinaus ist keine Steigerung möglich. In diesem Moment hebt sich nämlich die Opfermetaphorik der Tragödie selbst auf. Wenn Nietzsche im Anschluß an Aristophanes und August Wilhelm Schlegel Euripides beschul61 The Sacrifice of Isaac: The Aqedah (Genesis 22) and its Interpretations, hrsg. von Ed Noort und Eibert Tigchelaar, Leiden/Boston/Köln 2002. 62 Iphigenie: Henrichs (1981) [Anm. 40], S. 198–208 u. Henrichs (2000) [Anm. 13], S. 183 f.; Pierre Brulé: La fille d’Athènes. La religion des filles à Athènes à l’époque classique. Mythes, cultes et société, Paris 1987, S. 179–222; Jan Bremmer: Sacrificing a Child in Ancient Greece. In: Noort/Tigchelaar (2002) [Anm. 61], S. 21–43. Menoikeus: Walter Burkert: Glaube und Verhalten. Zeichengehalt und Wirkungsmacht von Opferritualen. In: Rudhardt/Reverdin (1981) [Anm. 40], S. 91–125, hier: S. 119 f.; Georgoudi (1999) [Anm. 41], S. 67. 63 Henrichs (2000) [Anm. 13], S. 187 zu Eur. El. 810–43.

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digt, für den Tod der Tragödie verantwortlich zu sein, hatte er vom ästhetischen Standpunkt her Recht, zumindest was die tragische Repräsentation von Gewalt angeht. Wie wir gesehen haben, finden sich im Falle des Opfers der Iphigenie in der Tragödie zwei entgegengesetzte Szenarien. In der Normalversion, der Euripides in den beiden Iphigeniestücken folgt, stirbt anstelle des Mädchens ein Tier. Bei Aischylos dagegen bleibt es beim Menschenopfer, hinter dem das Tieropfer lediglich als ritualisierende Metapher steht. Aber auch die scheinbar harmlose Version, der zufolge anstelle Iphigenies ein Tier stirbt, ist nicht unproblematisch. Denn sie wirft die Frage auf, wie das imaginäre Ersatzopfer letztlich zu bewerten ist. Walter Burkert spricht in diesem Zusammenhang gerne von der rituellen „Gleichwertigkeit“ bzw. „Äquivalenz“, „Ersetzbarkeit“ und „Austauschbarkeit“ von Mensch und Tier beim Opfer.64 Dabei bringt er das Verhältnis von Tieropfer und Mord auf einen schockierenden Nenner: „Hinter jedem Opfer steht als Möglichkeit, als eine schauerliche Drohung das Menschenopfer.“65 In der Tat steht die Ablösung eines Menschenopfers durch ein Tieropfer am Ende von zahlreichen kultaitiologischen Mythen, in denen sich die bestehende Opferordnung als göttliche Fügung und als das kleinere Übel erweist. Daß umgekehrt ein Mensch anstelle des Opfertiers stirbt, hat dagegen als Ausnahmefall zu gelten, der allerdings in zahlreichen Tragödien zur Regel wird. Doch wußten die Griechen sehr wohl, daß in der kultischen Wirklichkeit Mensch und Tier weder gleichwertig noch austauschbar waren. Noch stärker als im Epos signalisieren Tiervergleiche, Tierhaftigkeit und besondere Nähe zum Tier in der Tragödie einen Ausnahmezustand, der mit einem Plus oder Minus an Menschsein verbunden ist. Wenn die Tragiker den gewaltsamen Tod von Mensch und Tier parallelisieren, betonen sie gerne die gewaltige Kluft, die das Tieropfer vom Menschenopfer und damit den Normalfall von der Ausnahmesituation trennt. Aber die Ausnahmen wurden nur auf der imaginären Ebene des Mythos realisiert, der mit Vorliebe den Extremfall simuliert. Durch die Heraufbeschwörung des Undenkbaren wurden die bestehenden Normen um so eindringlicher ins Bewußtsein gebracht. Menschenopfer waren „bons à penser“ – sie hatten symbolische Bedeutung und wurden toleriert, solange sie lediglich in der Imagination stattfanden. 64 Burkert (1990) [Anm. 13], S. 25 u. (1997) [Anm. 3], S. 29 mit Anm. 34. Dazu Henrichs (2000) [Anm. 13], S. 184 f. 65 Burkert (1990) [Anm. 13], S. 24.

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4. „Tiermord“, Buphonien und Schuldgefühl Die Einbettung der Opferriten in mythische Erzählungen ist seit dem homerischen Epos ein fester Bestandteil der griechischen Repräsentation des Opfers. Basieren doch alle modernen Beschreibungen und Analysen des Tieropfers auf den homerischen Opferszenen, die im Gegensatz zur Vasenmalerei auch die eigentliche Tötung des Tiers nicht aussparen, aber auch dem anschließenden Opferschmaus nicht weniger Raum geben. Im Gegensatz zu Homer ist Hesiod weniger an dem Ablauf des Tieropfers als an seiner Genese und seiner Problematik interessiert, die er im Prometheusmythos aitiologisch erklärt (theog. 535–60). Das Paradoxe am olympischen Opfer liegt bekanntlich darin, daß die Götter von dem als Gabe an sie verstandenen Opfertier außer Knochen und Fett so gut wie nichts erhalten. Hesiod geht es um diese ungleiche Fleischverteilung und nicht um den eigentlichen Opferprozeß, dem er so gut wie keine Beachtung schenkt. So wird das Töten des Opfers mit keinem Wort erwähnt, sondern stillschweigend vorausgesetzt. An diesem hesiodischen Text scheiden sich die Geister. Es besteht zwar weithin Einigkeit darüber, daß es sich in der Formulierung Walter Burkerts beim Tieropfer um ein „rituelles Töten“ bzw. „ritualisiertes Schlachten mit nachfolgender Fleischmahlzeit“ handelt.66 Dieses Fazit kann sich auf ein eindrucksvolles Dossier von antiken Texten und Bildern stützen. So kulminieren die ausführlicheren Opferszenen im homerischen Epos und in der attischen Vasenmalerei nahezu ausnahmslos in einem Opfermahl.67 In den dutzendweise erhaltenen griechischen Sakralinschriften ist mehr von der Anatomie des Opfertiers, den besten Fleischstücken und der Fleischverteilung die Rede als von den eigentlichen Opferriten und der Tötung des Opfertiers.68 Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der Befund der Vasenbilder. Neben den überaus zahlreichen Vasen mit Darstellungen von Opferprozessionen, Opfervorbereitungen, Altarszenen oder sonstigen Ausschnitten aus dem Opferritual gibt es meines Wissens nur drei Vasenbilder, auf denen der präzise Moment der Tötung des Opfertiers festgehalten ist. Das Interesse der Vasenmaler galt also in der Terminologie von Volkert van Straten fast ausschließlich den als „pre-kill“ und „post-kill“ 66 Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1977, S. 103; Burkert (1984) [Anm. 3], S. 22–24 u. 36–38; Burkert (1990) [Anm. 13], S. 21. 67 Peirce (1993) [Anm. 24], S. 234–40; Gebauer (2002) [Anm. 10], S. 448–70; Sarah Hitch: The King of Sacrifice. The Structural and Narratological Role of Sacrifice in the Iliad, Ph. D. Diss. Harvard University, 2006. 68 Lupu (2005) [Anm. 14], S. 54–72.

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bezeichneten Phasen des Opferrituals. In den seltenen Fällen, in denen das Abstechen des Opfertiers dargestellt ist, handelt es sich nicht um das Normalopfer, sondern um rituelle Ausnahmesituationen. Zwei der drei Vasen zeigen Krieger beim Tieropfer vor der Schlacht (sphagia).69 Auf der dritten Vase ist das bereits besprochene „Hochheben des Stiers“ dargestellt, eine agonistische Sonderform des Tieropfers, die in Athen und anderswo bis weit in die hellenistische Zeit praktiziert wurde.70 Der Schluß drängt sich auf, daß zumindest die Vasenmaler dem Moment der Tötung des Opfertiers nur geringe Beachtung schenkten, solange es sich um das Normalopfer handelte.71 Darin unterscheidet sich die Vasenmalerei deutlich von dem Opferdiskurs der Tragödie, wo das Tieropfer zwar in den hinterszenischen Raum verlagert ist, aber als Sprechakt häufig nachvollzogen wird.72 Aus der Tendenz der Vasenmaler, die eigentliche Tötung auszusparen, schließt van Straten auf ein „common lack of interest in the killing itself.“73 Dagegen versteht Vernant diese Aussparung als bewußte „Camouflage“ mit dem Ziel, durch die Verschleierung des in der rituellen Tiertötung liegenden Gewaltakts die Fleischgewinnung und den Opferschmaus zu legitimieren.74 Er glaubt allerdings nicht, daß diese Tabuisierung auf Schuldgefühlen im Burkertschen Sinne beruht haben könnte.75 Damit stellt sich nicht nur die Frage der Allgemeingültigkeit der in den Vasenbildern mög69 Neben die bereits genannte Kylix in Cleveland (Anm. 12) tritt ein Kelchkrater in Malibu, J. P. Getty Museum 86.AE.213, um 430 v. Chr. (ThesCRA 2004 [Anm. 12], Bd. 1, S. 105 Nr. 361; van Straten 1995 [Anm. 9], S. 106 u. 220 Nr. V 146; Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 268 f. Nr. S 6 mit Abb. 140). Zu den sphagia vgl. oben bei Anm. 10–12. Hier nicht berücksichtigt sind die ebenfalls seltenen Vasenbilder, auf denen zwar das Opfermesser bzw. Opferbeil erscheint, aber das Opfertier noch nicht geschächtet ist (Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 254–89). 70 Oben bei Anm. 23–24. 71 Peirce (1993) [Anm. 24], S. 220 u. 234; van Straten (1995) [Anm. 9], S. 103–09 u. 186–88; Himmelmann (1997) [Anm. 18], S. 16–17. 72 Vgl. Anm. 13 und Abschnitt 2 zum Opfer der Iphigenie. 73 Van Straten (1995) [Anm. 9], S. 188, dem sich Georgoudi (2005) [Anm. 21], S. 124 anschließt. 74 Jean-Pierre Vernant: Théorie générale du sacrifice et mise à mort dans la QUSIA grecque. In: Rudhardt/Reverdin (1981) [Anm. 40], S. 1–21. Vernant war der schon damals unrichtigen Ansicht, daß der Augenblick der „mise à mort“ auf keinem erhaltenen Vasenbild dargestellt sei. Kritik an Vernants These bei Georgoudi (2005) [Anm. 21], S. 117 f. u. 123 f. 75 Vernant (1981) [Anm. 74], S. 25–27, der sich von Burkert folgendermaßen abgrenzt: „Sacrifier, c’est fondamentalement tuer pour manger. Mais, dans cette formule, vous mettez l’accent plutôt sur tuer; moi, sur manger“ (S. 26). Zu den divergierenden Opfertheorien von Burkert und Vernant vgl. auch Peirce (1993) [Anm. 24], S. 222–25.

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licherweise zum Ausdruck kommenden kulturellen und ästhetischen Wertsetzungen, sondern auch die Frage der Schuld an der Tiertötung. Bekanntlich basiert Burkerts Opfertheorie auf dem Postulat eines ursprünglichen, tief in die Vorgeschichte der Menschheit und in die paläolithische Jägermentalität zurückreichenden Nexus zwischen Tieropfer und Schuldbewußtsein, das auch das Opferverhalten der Griechen bis in die rituellen Details hinein geprägt haben soll: „Die griechischen Opferituale zeigen in eindrücklichen Einzelheiten die menschliche Tötungshemmung und die Gefühle von Schuld und Reue beim Blutvergießen.“76 Allerdings ist in der über mehr als ein Jahrtausend reichenden Dokumentation zur griechischen Opferpraxis nur in einem Fall von Schuld beim Tieropfer ausdrücklich die Rede. Die Texte, um die es sich hier handelt, beziehen sich auf das attische Fest des Zeus Polieus (Dipolieia) und das damit verbundene Ritual der Buphonien („Ochsentötung“), dessen Name seit der totemistischen Deutung durch William Robertson Smith mit irreführender Akzentverschiebung zugunsten der Schuldfrage häufig mit „Ochsenmord“ übersetzt worden ist.77 Dabei geht es bezeichnenderweise nicht um die Schuld der am Opfer beteiligten Personen, sondern um die vermeintliche Schuld des Opfermessers. Die Schuldfrage ist also vom opfernden und damit tötenden Menschen auf das Tötungsinstrument verlagert und damit verdrängt worden. Diese Art von Verdrängungsstrategie ist eine Variante der Meulischen „Unschuldskomödie“ und als solche von Burkert als Bestätigung für die den Griechen zugeschriebene „Ambivalenz 76 Burkert (1990) [Anm. 13], S. 21; vgl. Burkert (1984) [Anm. 3], S. 31–33 u. ders. (1997) [Anm. 3], S. 29 f., 48 f. Differenzierter zur „Bedenklichkeit des Tiere-Tötens“ aus kulturvergleichender Sicht Burkert: Opfer als Tötungsritual: Eine Konstante der menschlichen Kulturgeschichte? In: Klassische Antike und neue Wege der Kulturwissenschaften. Symposium Karl Meuli (Basel, 11.–13. September 1991), hrsg. von Fritz Graf, Basel 1992, S. 169–89, hier: S. 183–86. 77 Die Haupttexte sind Theophrast bei Porph. De abst. 2,29-30, Paus. 1,24,4 u. 1,28,10 sowie Ail. var. 8,3. Dazu William Robertson Smith: Lectures on the Religion of the Semites [1889], London 21894, S. 304–06; Ludwig Deubner: Attische Feste, Berlin 1932, S. 158–74; Meuli (1975) [Anm. 18], S. 1004–06 („Stiermord“, „Stiermörder“ u. „Mordwaffe“); Vernant (1981) [Anm. 74], S. 14–21 („meurtre du bœuf“); Burkert (1984) [Anm. 3], S. 24 u. ders. (1997) [Anm. 3], S. 154–61 („Ochsenmord“); Jean-Louis Durand, Sacrifice et labour en Grèce anciene. Essai d’anthropologie religieuse, Images à l’appui 1, Paris/Rom 1986, S. 1–7, 43–87; Parker (2005) [Anm. 8], S.187–91; Georgoudi (2005) [Anm. 21], S.134–38. Zum problematischen Konzept des „Ochsenmords“ vgl. Albert Henrichs: Gott, Mensch, Tier: Antike Daseinsstruktur und religiöses Verhalten im Denken Karl Meulis. In: Graf (1992) [Anm. 76], S. 129–67, hier: S. 152–58. Bereits in der Ilias (7,466) wird mit boufonšw ohne jede problematisierende Konnotation das Opfern von Stieren bezeichnet.

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der Gefühle“ beim Opfer herangezogen worden.78 Daß die Schuldfrage im Zusammenhang mit dem Tieropfer in der Antike überhaupt gestellt werden konnte, ist in der Tat bemerkenswert und könnte für Burkerts These sprechen, wenn auch der konkrete rituelle Kontext eher eine weniger weitreichende Deutung nahelegt. An diesem Fest wurde eine Herde von Pflugochsen um den mit Getreideopfern beladenen Zeusaltar auf der Akropolis getrieben. Der erste Ochse, der von den für den Gott bestimmten Opfergaben fraß, wurde als Strafe für das begangene Sakrileg geopfert. Der als „Ochsenschläger“ (boutypos) bezeichnete Opferer „floh“ außer Landes und dem Opfermesser wurde der Prozeß gemacht, bevor es ins Meer versenkt wurde. Das Fleisch des Ochsen wurde gegessen, sein Fell mit Heu ausgestopft und der rituell wiedererstandene Ochse vor einen Pflug gespannt. Damit war der Normalzustand wiederhergestellt und das Leben samt der Opferpraxis konnte weitergehen. Das scheinbare Paradox der Buphonien entbehrt nicht der inneren Logik. Es erklärt nämlich, warum etwas, was eigentlich Anstoß erregen sollte, nämlich die Opferung eines Pflugochsen im Gegensatz zu einem den Opfernden weniger nahestehenden Opfertier, ob Zuchtochse, Kuh oder Widder, letztlich doch statthaft ist.79 Daß man diesen speziellen Fall verallgemeinern und daraus auf tief sitzende und weit verbreitete Schuldgefühle beim Tieropfer schließen darf, möchte ich bezweifeln.80 Die Problematisierung der rituellen Tötung von Tieren hat letztlich mehr mit unseren eigenen kulturimmanenten Verhaltenserwartungen als mit der Opfermentalität der Griechen zu tun.81 Im selben Jahr wie Burkerts Homo Necans (1972) 78 Burkert (1977) [Anm. 66], S. 350 f., ders. (1990) [Anm. 13], S. 22 f., ders. (1997) [Anm. 3], S. 159 f. im Anschluß an Meuli (1975) [Anm. 18], S. 1005. 79 Vernant (1981) [Anm. 74], S. 14–18; Gebauer (2002) [Anm. 10], S. 20; Parker 2005 [Anm. 8], S. 189 f. Ein alter Pflugochse wird aus Dankbarkeit für seine Leistung nicht dem „tödlichen Opfermesser“ (fon…hn … kop…da) ausgeliefert (Adaios v. Makedonien, AP 6,228 mit dem Kommentar von Andrew S. F. Gow und Denys L. Page, The Greek Anthology: The Garland of Philip, Bd. 2, Cambridge 1968, 3 f.). 80 Vgl. Dirk Obbink: The Origin of Greek Sacrifice: Theophrastus on Religion and Cultural History. In: Theophrastean Studies on Natural Science, Physics and Metaphysics, Ethics, Religion, and Rhetoric, hrsg. von William W. Fortenbaugh und Robert W. Sharples, New Brunswick/Oxford 1988, S. 272–95, hier: S. 284. 81 Vgl. Henrichs 1998 [Anm. 21], S. 63–65; Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 6: „Es ist zu fragen, ob sich darin nicht vor allem das Verhältnis des modernen Menschen zum Schlachten eines Tieres widerspiegelt.“ Zur jüngsten tierethischen Debatte über die Rechte der Tiere und die gerechte Behandlung der „nonhuman animals“ s. Martha Nussbaum: Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership, Cambridge, Mass./London 2006, S. 325–407, bes. S. 384–88.

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erschien nicht nur René Girards La violence et le sacré, sondern bezeichnenderweise auch eine Marburger theologische Dissertation zum Thema „Schulderlebnis und Tiertötung“.82 Angesichts der den Buphonien eigentümlichen, das rituelle Verhalten hinterfragenden Akzentsetzung bleibt jedoch zu überlegen, inwieweit Tieropfer als Gewaltakte zu gelten haben. Extreme Tierschützer wie Empedokles waren um eine Antwort nicht verlegen und lehnten jedes gewaltsame Töten von Tieren ab.83 Angesichts der Myriaden von Rindern, Schafen, Ziegen und Schweinen, die in der griechischen Antike geopfert wurden, ist es allerdings nur schwer vorstellbar, daß von Randgruppen wie den Pythagoräern abgesehen die meisten Griechen beim Tieropfer von Skrupeln gequält wurden, zumal sie zumindest in den häufigen Kriegszeiten Menschen bedenkenlos versklavten und töteten.84 Doch zeigt die Tragödie wiederum am Beispiel des Aias, wie im tragischen Extremfall eine von Folterung und Verstümmelungen begleitete Abschlachtung von für Menschen gehaltenen Tieren den Täter in den Selbstmord treiben kann.85 Gewalt am Tier als Problem bleibt jedoch auch in der Tragödie die Ausnahme. Andererseits stellen die Tragiker Gewalt am Menschen mit Vorliebe vor dem rituellen Hintergrund des Tieropfers dar. Nahezu jedes Mal, wenn Menschen Opfer von Gewalt werden, wird die Mordtat durch den metaphorischen Vergleich mit dem Tieropfer gleichsam sakralisiert und sublimiert.86 Umgekehrt wird zumindest für den modernen Betrachter durch die ständige Beziehung auf gegen Menschen gerichtete Formen von Gewalt auch das Tieropfer belastet und gerät so ins tragische Zwielicht. Handelt es sich bei der Opferthematik der Tragödie lediglich um

82 Ebermut Rudolph: Schulderlebnis und Entschuldung im Bereich säkularer Tiertötung. Religionsgeschichtliche Untersuchung, Bern/Frankfurt a. M. 1972. Rudolph kannte zwar Karl Meulis „Griechische Opferbräuche“ (1946) und entnahm der Arbeit „Material über kultische Entschuldungsriten“ (S. 34, 52, 86, 91–93), aber auf Walter Burkerts Aufsatz „Greek Tragedy and Sacrificial Ritual“ von 1966 (dt. als „Griechische Tragödie und Opferritual“. In: Burkert 1990 [Anm. 13], S. 13–39), wo „die Gefühle von Schuld und Reue“ beim griechischen Tieropfer im Anschluß an Meuli erstmals von Burkert vorausgesetzt werden, wird nicht verwiesen. 83 Vgl. oben Anm. 16. 84 Vgl. Stephen T. Newmyer: Plutarch on Justice Toward Animals: Ancient Insights on a Modern Debate. In: Scholia 1 (1992), S. 38–55; Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962, S. 167–69. 85 Henrichs (2000) [Anm. 13], S. 181. 86 Oben Anm. 13 und Abschnitt 2.

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eine gattungsspezifische „Rhetorik des Opfers“87, wie man gemeint hat, oder verbergen sich dahinter uralte religiöse Vorstellungen, die ihrerseits in universaltypischen Verhaltensweisen wurzeln? Um diese Frage adäquat zu beantworten, müßte man den diversen Ursprungstheorien auf den Grund gehen, welche die Anfänge der Tragödie und ihren Sinngehalt im Opferritual suchen: „Die tragische Dichtung ruht auf der Opferidee.“88 Dazu müßte man sich vor allem mit dem exemplarischen Stellenwert auseinandersetzen, den der griechische Mythos in Walter Burkerts Konstrukt des „Homo Necans“ und in René Girards These von der Sakralisierung der Gewalt als anthropologischer Konstante einnimmt.89 Beide Entwürfe sind ohne den ständigen Rekurs auf die im Mythos vorgeprägten Ausnahmesituationen und die Tötungsszenarien der Tragödie undenkbar. Damit stellt sich weiter die Frage, warum in der Tragödie das Tieropfer so stark problematisiert ist und dort, wo es im Mittelpunkt des tragischen Geschehens steht, ausnahmslos als pervertiertes Opfer erscheint. Die Antwort, die in jüngster Zeit wiederholt gegeben worden ist, lautet, daß im Athen des 5. Jhs. v. Chr. bei den alljährlichen Tragödienaufführungen im Rahmen der Städtischen Dionysien die normale Opferordnung und damit die rituellen Strukturen der Polis durch die Thematik des pervertierten Opfers immer wieder aufs neue bestätigt und legitimiert wurden.90 Daran ist sicher viel Wahres. Aber hinter der periodischen Infragestellung der Polisordnung stand auch die Einsicht, daß die Gefährdung der politischen Institutionen, auf denen die attische Demokratie und das Zusammenleben der Bürger basierte, zwar als drohende Möglichkeit in der menschlichen Natur angelegt war, aber durch die Dramatisierung in der Tragödie prinzipiell ins allgemeine Bewußtsein gehoben und damit apotropäisch bewältigt werden konnte. Dabei dürfte die Sakralisierung der Gewalt einen beschwichtigenden, ja kathartischen Effekt gehabt haben. Durch die Paralle87 So Pietro Pucci: Human Sacrifices in the Oresteia. In: Innovations of Antiquity, hrsg. von Ralph Hexter und Daniel Selden, New York/London 1992, S. 513–36. Die Gegenposition bei Burkert (1992) [Anm. 76], S. 183–87. 88 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928). In: Gesammelte Schriften I/1, Frankfurt a. M. 1972, S. 203–430, hier: S. 285. Dazu Hubert Cancik: Nietzsches Antike: Vorlesung, Stuttgart/Weimar 1995, S. 58 ff., dessen berechtigte Kritik an Benjamins These jedoch mit keinem Wort auf die bereits von Zeitlin (1965) [Anm. 13] und Burkert (1990) [Anm. 13] konstatierte Bedeutung der Opferthematik als zentrales Thema der erhaltenen Tragödien eingeht. 89 Burkert (1997) [Anm. 3]; René Girard: Das Heilige und die Gewalt [1972], Frankfurt a. M. 1992. 90 So z. B. Carlos Miralles: Tragedia e sacrificio. In: Lexis 12 (1994), S. 27–36.

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lisierung von Mord und Tieropfer wurde der Unterschied zwischen Ausnahmesituation und Normalverhalten zwar um so deutlicher; gleichzeitig wurde das unheilige Blutvergießen aber auch in einen durch das Opferwesen sanktionierten rituellen Zusammenhang gestellt und auf diese Weise transparenter, wenn nicht sogar erträglicher gemacht: „Dichter wie Künstler, aber vor allem eben auch die zuhörenden bzw. betrachtenden Konsumenten können offenbar gar nicht anders, als sich das Schreckliche sakralisiert und ritualisiert zu denken. Sie lenken es damit in eine vertraute, weil fast stereotyp genormte Bahn und schieben so zwischen sich und das Geschehen wie einen Filter das Opferritual.“91 Aber letztlich waren sich die Tragiker nicht sicher, ob Gewalt durch Rituale und Ritualisierung in Grenzen gehalten werden kann. Das ist einer der Gründe, warum Aischylos den Chor im Agamemnon kurz vor der Opferung Iphigenies dreimal dieselbe apotropäische Bitte aussprechen läßt, in der sich Sorge und Hoffnung ambivalent verbinden: „Sprich ,Weh, weh!‘, doch möge das Gute siegen“ (121=139=159 a‡linon a‡linon e„pš, tÕ d' eâ nik£tw).92 Der Verlauf der Trilogie zeigt, wie berechtigt die Besorgnis des Chores war, auch wenn sich im letzten Stück nach vier weiteren Opfern und immensem rituellen Aufwand in der Tat ein Ende der Gewalt und damit ein „guter“ Ausgang abzeichnet.93

91 Blome (1998) [Anm. 9], S. 94 f. 92 Vgl. Walter Burkert: Die Absurdität der Gewalt und das Ende der Tragödie: Euripides’ Orestes. In: Antike und Abendland 20 (1974), S. 97–109; Patricia E. Easterling: Tragedy and Ritual. Cry ,Woe, Woe‘, But May the Good Prevail. In: Mètis 3 (1988), S. 87–109, verkürzte Fassung in: Theater and Society in the Classical World, hrsg. von Ruth Scodel, Ann Arbor, Mich. 1993, S. 7–23; Albert Henrichs: ,Let the Good Prevail‘: Perversions of the Ritual Process in Greek Tragedy. In: Greek Ritual Poetics, hrsg. von Dimitrios Yatromanolakis und Panagiotis Roilos, Hellenic Studies 3, Cambridge, Mass. 2005, S. 189–98. 93 Dank für manche Anregungen und Hinweise schulde ich Susanne Ebbinghaus, Bernd Seidensticker und den Teilnehmern am Symposium.

Literatur

Bernd Seidensticker (Berlin)

Distanz und Nähe: Zur Darstellung von Gewalt in der griechischen Tragödie1 I Wie kommt es, daß uns die Darstellung von Ereignissen und Situationen, Handlungen und Schicksalen, die uns abstoßen und entsetzen müßten, vielmehr anziehen und zutiefst befriedigen? Oder für unseren Kontext enger und aristotelischer formuliert: Wie können die Präsentation zerstörerischer Gewalt und ihrer Folgen – und die damit verbundene Erregung von Furcht und Mitleid – Lust erzeugen? Die Schillersche Frage2, die in der Moderne mit der ungeheuren quantitativen und qualitativen Erweiterung und Steigerung von Gewalt und der Aufhebung aller technischen Beschränkungen ihrer medialen Mimesis noch brennender geworden ist, hat bereits in der Antike eine ganze Reihe von Antworten gefunden, die seither bis auf den heutigen Tag mit immer neuen Akzentuierungen durchdekliniert worden sind.3 1 Übersetzungen der Tragikerzitate: Aischylos: B. Seidensticker; Sophokles: Tragödien, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Schadewaldt, Zürich/Stuttgart 1968; Euripides: Tragödien. Griechisch und deutsch von Dietrich Ebener, Berlin 1972–1980. (= Schriften und Quellen der Alten Welt, hrsg. vom Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 30, 1–6). 2 Friedrich Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen [1792]. In: Schillers Werke, Weimar 1962, Bd. 20, S. 133–47. 3 Bernd Seidensticker: Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen. In: Fragmenta Dramatica, Festschrift für Stefan Radt, hrsg. von H. Hofmann, Göttingen 1991, S. 219–41 (repr. in B. S.: Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen. Studien zum antiken Drama, hrsg. von Jens Holzhausen, Leipzig 2005, S. 217–45).

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Über eine Bedingung der tragischen Lust besteht in den verschiedensten antiken und modernen Erklärungen des paradoxen Phänomens Einigkeit. Alle insistieren – explizit oder implizit – als Bedingung für das ‚Vergnügen an tragischen Gegenständen‘ auf einer mehr oder minder großen Distanz des Zuschauers oder Lesers zu den realen oder fiktiven tragischen Ereignissen. Die geforderte Distanz kann in verschiedener Weise bestehen bzw. empfunden werden: als qualitative (oder ästhetische) Distanz, die in der ontologischen Differenz von Realität und Abbildung liegt, als zeitliche Distanz der in den großen Tragödien der Weltliteratur zumeist dramatisierten mythischen und historischen Stoffe zur Gegenwart der Rezipienten4 und schließlich als räumliche Trennung, die schon rein äußerlich durch die Trennung von Bühne und Zuschauerraum konstituiert wird, vor allem aber in der Tatsache besteht, daß das tragische Spiel die Leiden anderer in einer Situation und Welt präsentiert, die nicht direkt die eigene ist5 (allotrios ist seit Gorgias6 und Platons Staat 7 der Terminus dafür). 4 Bekanntlich haben die griechischen Tragiker nur in der Frühzeit der Tragödie gelegentlich aktuelle zeitgeschichtliche Stoffe dramatisiert. Bezeugt sind Stücke zur Zerstörung von Milet durch die Perser im Jahre 494 (Phrynichos, Miletou Halosis) und zum Sieg über die Perser bei Salamis (Phrynichos, Phoinissen und Aischylos, Perser); auch diese Stücke sind durch Schauplatz bzw. Perspektive in eine deutliche Distanz zu ihrem Publikum gerückt. Aus späterer Zeit kennen wir bis weit ins 4. Jahrhundert hinein nur Stücke mit mythischen Stoffen. Andererseits war die zeitliche Distanz für den athenischen Zuschauer zweifellos deutlich geringer als es dem modernen Betrachter erscheinen mag. Denn erstens waren die mythischen Geschichten für die Athener des 5. Jahrhunderts selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens, dem sie auf Schritt und Tritt in Wort und Bild – in politischen Debatten und bei großen Festen, als Bildschmuck auf Vasen und an Tempeln und bei musischen Agonen – begegneten; zweitens waren es die Griechen gewohnt, daß ihnen Dichter und bildende Künstler Mythen als poetische und ikonographische Bilder für aktuelle Ereignisse und Probleme präsentierten; und drittens rückten die Tragiker die mythischen Stoffe immer wieder durch offensichtliche Anachronismen an die Gegenwart und Erfahrungswelt ihrer Zuschauer heran; vgl. P. Easterling: Anachronism in Greek Tragedy. In: JHS 105 (1985), S. 1–10. 5 F. Zeitlin: Thebes. Theater of Self and Society in Athenian Drama. In: Nothing to Do with Dionysos? Athenian Drama and Its Social Context, hrsg. von J. J. Winkler and F. Zeitlin, Princeton 1990, S. 130–67, und S. Said: Tragic Argos. In: Tragedy, Comedy and the Polis, hrsg. von A. Sommerstein u. a., Bari 1993, S. 167–89, haben zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Mehrzahl der tragischen Geschichten, die die Tragiker erzählen, nicht in Athen, sondern in Theben, in Argos oder in Troja spielen. Athen erscheint in der Tat, wenn es in der Tragödie überhaupt

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Fehlt die Distanz oder reicht sie nicht aus, so ist das Vergnügen gefährdet. Eine Anekdote aus der Frühzeit der Tragödie kann das veranschaulichen: Herodot erzählt,8 daß die Athener den Tragiker Phrynichos (wahrscheinlich im Jahre 492), als er sie mit einer Tragödie über die nur zwei Jahre zurückliegende vollständige Vernichtung der ionischen Schwesterstadt Milet konfrontierte, mit einer hohen Geldstrafe belegten, weil er sie an ein allzu nahes, sie allzu persönlich angehendes Unglück erinnert hatte. Die Formulierung, die Herodot für die von Phrynichos gestalteten Ereignisse gewählt hat – o„k»ia9 kak£ – betont, daß den Athenern die Katastrophe so nahe ging, als gehörten die Milesier zur Familie. Die Nähe, die wir ertragen können, ist gewiß durchaus verschieden, ganz fehlen oder verloren gehen darf die Distanz aber offenbar nicht. Es gibt neben der von Herodot erzählten Anekdote eine ganze Reihe von antiken Äußerungen zur Bedeutung der Distanz für das Vergnügen an tragischen Gegenständen, deren berühmteste Formulierung Lucrez’ „Schiffbruch mit Zuschauer“10 ist. Aristoteles spricht zwar in der Poetik nicht explizit über Distanz und Nähe der tragischen Handlung zum Be-

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zum Schauplatz wird (nur in 4 der überlieferten 32 Tragödien), als der Ort, an dem sich die tragischen Konflikte überwinden lassen (wie in der Orestie) oder tragisch Gescheiterte (wie Oidipus oder Herakles) Frieden finden können. Auf der anderen Seite kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, daß der athenische Zuschauer die Ereignisse auch dann auf sich und seine Welt bezog, wenn die Stücke nicht in Athen spielten. Man muß dazu nicht (um nur ein Beispiel zu nennen) so weit gehen wie Bernard Knox, der den Oidipus des Sophokleischen Oidipus Tyrannus als poetisches Bild für Athen gedeutet hat; es genügt, mit Vernant oder Christian Meier die Tragödie als Diskussionsforum der die Bürgerschaft bedrängenden Fragen der Zeit zu verstehen, um die Nähe zu spüren, die räumlich weit entfernte Geschichten gewinnen konnten. Gorg. Hel. 9. Plat. rep. 606b; vgl. auch Timokles F 6 Kassel-Austin; vgl. M. Pohlenz: Die Anfänge der griechischen Poetik. In: Ders.: Kleine Schriften, Hildesheim 1965, Bd. II, S. 436–72, bes. S. 462 f. Hdt. 6.21.2; zum zweiten Teil der Strafe (Verbot jeder zukünftigen ‚Verwendung‘ des Stücks vgl. M. Mülke: Phrynichos und Athen. Der Beschluß über die Miletu Halosis (Hdt. 6,21,2). In: Skenika. Beiträge zum antiken Theater und seiner Rezeption. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst-Dieter Blume, hrsg. von Susanne Gödde und Theodor Heinze, Darmstadt 2000, S. 233–46. o„ke‹oj: zum Haus gehörig, verwandt, nahestehend, bedeutet, daß die Katastrophe den Athenern so nahe war, als seien die Milesier ihre Verwandten oder nahe Freunde.

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trachter; das Problem ist aber in einer ganzen Reihe von zentralen Elementen seiner Tragödientheorie implizit thematisiert: So ist dem Bild-Abbild-Verhältnis der nachahmenden Darstellung eine ästhetische Distanz eingeschrieben, die auch in der Überlegung zum Ausdruck kommt, daß die Freude des Rezipienten an der Mimesis darauf beruht, daß er das Abgebildete (bzw. Dargestellte) als Abbildung (bzw. Darstellung) von etwas, das er kennt, versteht.11 Gleichzeitig rückt dieser Gedanke das Abgebildete dem Erkennenden im Augenblick des Erkennens aber auch nahe. Im Theater ist diese Balance von Distanz und Nähe schon dadurch gegeben, daß die Mimesis nicht durch eine Erzählung wie in der epischen Erzählung (apangelia), sondern durch Handelnde (drontes) erfolgt und die physische Präsenz der Schauspieler – ihrer Körper und Stimmen – die Distanz des Zuschauers zu den Ereignissen zwar nicht aufhebt, aber doch erheblich verringert.12 Für zwei der drei qualitativen Elemente der Mimesis einer tragischen Handlung – für Pathos und Anagnorisis insistiert Aristoteles explizit bzw. durch die gewählten Beispiele 10 Lucr. 2.1–4: Süß ist es, wenn der Sturm auf hohem Meer die Wasser aufwühlt, vom Lande zu betrachten, wie ein andrer sich furchtbar müht. Nicht weil es angenehm ist, daß jemand leidet, sondern weil es süß ist, Leiden zu sehen, von denen man frei ist. Vgl. auch Soph. F 636 Radt; Archippos F 45 Kassel-Austin; Epiktet F 121 Schweighäuser; Cic. ad Att. 2.7.4; Tibull, 1.45 ff., Hor. epist. 1.11.10; zur Rezeptionsgeschichte des Topos vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 1979; C. Zelle: Schiffbruch vor Zuschauer. Über einige popularphilosophische Parallelschriften zu Schillers Abhandlungen über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 34 (1990), S. 289–316. Über den Grund des Vergnügens an schrecklichen Gegenständen in der Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts (mit einem bibliographischen Anhang). In: Schönheit und Schrecken. Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien, hrsg. von Peter Gendolla und Carsten Zelle, Heidelberg 1990 (= Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft, Bd. 72), S. 55–91. 11 Aristot. poet. Kap. 4, 1448b 4–17. 12 Sicher wäre es auch aufschlußreich, das Verhältnis von Distanz und Nähe zu untersuchen, das mit der Form der griechischen Tragödie und ihrer Inszenierung gegeben ist. Die vielen in diesem Zusammenhang zu betrachtenden anti-illusionistischen Elemente – von der Größe und Architektur des Theaters sowie Maske und Kostüm über die artifizielle Kunstsprache und den Chorgesang und -tanz bis zu der topischen Verwendung fester Bauformen und Handlungsmuster – sind so zahlreich und vielfältig, daß eine differenzierte Analyse unter unserer Fragestellung den Rahmen dieses Beitrags überschreitet.

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darauf, daß sie ihre höchste Wirkung dann erreichen, wenn sie sich unter Verwandten ereignen.13 Intrafamiliäre Gewalt verstört uns deswegen so machtvoll, weil sie uns am Nerv unseres eigenen Lebens trifft. Die Nähe der tragischen Handlung zum Zuschauer ist auch in Aristoteles’ vielzitierter Feststellung impliziert, daß die Dichtung nicht darstellt, was geschehen ist, sondern das, was so ist, daß es geschehen könnte.14 Könnte der Betrachter sich im ersten Fall (d. h. bei der Darstellung dessen, was geschehen ist) von dem Dargestellten als von etwas Speziellem, das einem Anderen zugestoßen ist, distanzieren, so gewinnt die Darstellung der Tragödie durch ihre Allgemeingültigkeit eine bedrängende Nähe. Die Nähe ist auch in der aristotelischen Forderung enthalten, daß die Handlungsstruktur der Tragödie sich nach den Gesetzen von Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit entwickeln müsse, die der Betrachter ja an seiner eigenen Lebenserfahrung messen muß und wird; und schließlich betont Aristoteles gleich mehrfach, daß die Personen der Tragödie uns ähnlich sein müssen, wenn, wie es im zentralen 13. Kapitel der Poetik heißt, das Gefühl der Furcht entstehen soll.15 Was hier in einer knappen parenthetischen Bemerkung nur angedeutet ist, entfaltet Aristoteles im zweiten Buch der Rhetorik bei der Analyse der beiden für die Tragödie konstitutiven Emotionen phobos (2.5) und eleos (2.8) in größerer Breite. Im Falle der Furcht insistiert Aristoteles vor allem auf der Nähe: Schon die Definition16 bestimmt das zerstörerische oder schmerzhafte Übel, das Furcht auslöst, als ein herannahendes, unmittelbar bevorstehendes, und die Begründung betont die Nähe gleich in einer doppelten Antithese: „Und diese (sc. Ereignisse) fürchtet man, wenn sie nicht weit entfernt zu sein scheinen, sondern nahe, so daß sie unmittelbar bevorstehen. Denn das weit Entfernte fürchtet man nicht.“17 Die Distanz erscheint hier nur in dem Verb mšllw (unmittelbar bevorstehen) und in der Formulierung, daß man das 13 Pathos: Aristot. poet. Kap 14, 1453b 15–22; Anagnorisis: Kap. 11, 1452a 29–32; 1452b 3–8; Kap. 16, 1454b 19 – 55a 21. 14 Aristot. poet. Kap. 9, 1451a 35 – b 10. 15 Aristot. poet. Kap. 13, 1453a 5 f.; Kap. 15, 1454a 24 f.; 1454b 8–14; rhet. 1386a 25 f. 16 Aristot. rhet. 2.5, 1382a 21f.: œstw d¾ Ð fÒboj lÚph tij À tarac¾ ™k fantas…aj mšllontoj kakoà fqartikoà À luphroà. „Es sei also Furcht eine Art von Schmerz oder Beunruhigung, herrührend aus der Vorstellung eines bevorstehenden verderblichen oder schmerzlichen Übels.“ (Übersetzung wie im folgenden nach Aristoteles: Rhetorik, übersetzt und erläutert von Christof Rapp, Berlin 2002. [= Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4]).

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sehr Entfernte nicht fürchte, immerhin aber – mag das heißen – das ein wenig Entfernte. In der Definition des Mitleids18 wird die Nähe des zerstörerischen oder schmerzlichen Übels gleich in zweierlei Hinsicht bestimmt, einmal als räumliche Nähe19 und zum andern durch den selbstreflexiven Charakter des Mitleids, das nur dann entstehen kann, wenn wir befürchten müssen, daß es uns oder einem der Unsern so ergehen könnte wie dem, der unser Mitleid auslöst. Und am Ende des Kapitels erweitert Aristoteles die Gruppe derer, auf die sich das Mitleid richtet, auf alle, die dem Betrachter ähnlich sind „in Hinsicht auf Alter, Charakter, Einstellungen, Position und Abstammung. In allen diesen Fällen scheint es nämlich in höherem Maße auch einem selbst zukommen zu können.“20 Auf der anderen Seite darf die Nähe aber auch nicht zu groß sein. „Man bemitleidet diejenigen, die einem bekannt sind, wenn sie nicht der eigenen Verwandtschaft zu nahe stehen; bei diesen nämlich befindet man sich im selben Zustand wie bei einem selbst, wenn man etwas erleiden soll. Deswegen hat Amasis“ – fährt Aristoteles mit einem anekdotischen Beispiel fort – „auch nicht geweint, als man seinen Sohn zum Sterben wegführte; jedoch weinte er

17 Aristot. rhet. 2.5, 1382a 22–25: oÙ g¦r p£nta t¦ kak¦ foboàntai, oŒon e„ œstai ¥dikoj À bradÚj, ¢ll' Ósa lÚpaj meg£laj À fqor¦j dÚnatai, kaˆ taàta ™¦n m¾ pÒrrw ¢ll¦ sÚnegguj fa…nhtai éste mšllein. t¦ g¦r pÒrrw sfÒdra oÙ foboàntai.

„Man fürchtet nämlich nicht alle Übel, wie zum Beispiel, dass man ungerecht sein wird oder schwerfällig, sondern alle die, welche große Schmerzen und Verderben bewirken können. Und diese (fürchtet man nur), wenn sie nicht weit entfernt, sondern nahe zu sein scheinen, so dass sie unmittelbar bevorstehen; denn das sehr Entfernte fürchtet man nicht.“ 18 Aristot. rhet. 2.8, 1385b 13–16: œstw d¾ œleoj lÚph tij ™pˆ fainomšnJ kakù fqartikù À luphrù toà ¢nax…ou tugc£nein, Ö k¨n aÙtÕj prosdok»seien ¨n paqe‹n À tîn aØtoà tina, kaˆ toàto Ótan plhs…on fa…nhtai. „Es sei also Mitleid eine Art von

Schmerz aufgrund eines vermeintlichen Übels [vgl. dazu Anm. 19], das verderblich oder schmerzlich ist, bei jemandem, der es nicht verdient hat, dass ihm derartiges widerfährt, und von dem man erwarten kann, dass man es selbst oder einer der Seinigen erleidet, und dies ist der Fall, wenn es nahe scheint.“ 19 ™pˆ fainomšnJ kakù (1385b 13) heißt nicht: „eines vermeintlichen Übels“ (Rapp 2002 [Anm. 16], S. 90), sondern: „angesichts eines erscheinenden, sich zeigenden Übels“ (vgl. 1385b 15 f.: plhs…on fa…nhtai). Dazu kommt natürlich die wichtige Bedingung, daß der Leidende, wie auch in der Poetik (1453a 4) betont wird, das Unglück, das ihn trifft, nicht verdient (¢n£xioj). 20 Aristot. rhet. 2.8, 1386a 25–27: kaˆ toÝj Ðmo…ouj ™leoàsin kat¦ ¹lik…an, kat¦ ½qh, kat¦ ›xeij, kat¦ ¢xièmata, kat¦ gšnh: ™n p©si g¦r toÚtoij m©llon fa…netai kaˆ aÙtù ¨n Øp£rxai.

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über den Freund, als der ihn anbettelte; dies nämlich ist mitleiderregend, jenes schrecklich. […] Man empfindet nämlich nicht Mitleid, wenn einem das Schreckliche zu nahe ist.“21 Bereits der Verbindung der beiden Wirkungsqualitäten Eleos und Phobos ist im übrigen die palintonos harmonia von Distanz und Nähe eingeschrieben: Phobos rät dem Betrachter, Abstand zu halten von dem Schrecklichen, das sich ihm darbietet; Eleos fordert ihn auf, heranzutreten und Anteil zu nehmen. Die Rhetorik bestätigt also, was sich bereits der Poetik entnehmen ließ: Aristoteles bestimmt die Voraussetzung für die Entstehung der beiden tragischen Emotionen Furcht und Mitleid als komplexes Zusammenspiel von Nähe und Distanz des Betrachters zu den tragischen Ereignissen und den von ihnen Betroffenen. Die in der Definition der tragischen Lust als ¹ ¢pÕ ™lšou kaˆ fÒbou di¦ mim»sewj ¹don» („die aus Furcht und Mitleid durch Mimesis erzeugte Lust“) verbundenen Kernelemente der aristotelischen Tragödientheorie implizieren in der Tat aristotelische Überlegungen zu Distanz und Nähe der Tragödie. Während Platon die Gefahr tragischer Mimesis darin sieht, daß der Zuschauer sich allzu stark mit den präsentierten Emotionen der dramatis personae identifiziert und so die niederen Kräfte der Seele nährt und begießt,22 betont Aristoteles zwar auch die Nähe als Voraussetzung für die Erregung der tragischen Emotionen stark, zugleich ist aber für ihn eine gewisse Distanz zu den Helden der Tragödie und ihrem Schicksal nicht nur durch die mimetische Qualität des Spiels, sondern auch dadurch gegeben, daß die Entstehung von Furcht und Mitleid von rationalen Überlegungen und Urteilen des Betrachters abhängig ist.23

21 Aristot. rhet. 1386a 17–22; die Geschichte stammt aus Hdt. 3.14, der sie allerdings von Psammenitos, dem Sohn des Amasis erzählt; der Text muß deswegen nicht (unbedingt) geändert werden: Aristoteles hat sich wahrscheinlich geirrt. 22 Plat. rep. 605c 10 ff. 23 Gegen Schadewaldts lange Zeit dominante These, daß Eleos und Phobos „naturhaft ungebrochene Elementaraffekte“ seien, ist in den letzten Jahren von verschiedener Seite darauf hingewiesen worden, daß sich in Aristoteles’ Bestimmung der beiden (wie aller) Emotionen rationale und emotionale Elemente miteinander verbinden; vgl. A. Kerkhecker: Furcht und Mitleid. In: RhM 134 (1991), S. 288–310; R. Dilcher: Furcht und Mitleid! Zu Lessings Ehrenrettung. In: Antike und Abendland 42 (1996), S. 85–102; Chr. Rapp: Aristoteles Rhetorik, Berlin 2002, Bd. II S. 650 f.

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II Nach diesem Versuch, die Bedeutung aufzuzeigen, die Distanz und Nähe für die aristotelische Tragödientheorie besitzen, auch wenn sie in der Poetik nicht explizit thematisiert werden, komme ich nun zu den Formen der Darstellung von Gewalt in den Stücken der drei großen Tragiker. Das Material für eine solche Untersuchung ist reich. Von Aischylos Persern bis zu Euripides Bakchen bieten die 32 erhaltenen Tragödien zahlreiche Beispiele für jede Form von Gewalt, wie sie von der modernen Gewaltdiskussion differenziert werden: physische Gewalt (wie Mord und Selbstmord, Blendung und Selbstblendung, Zerreißung und Kannibalismus), aber auch psychische Gewalt, d. h. die psychische Schädigung einer Person z. B. durch inneren und äußeren Druck, wie er auf Gestalten wie der Sophokleischen Elektra24 oder der Hekabe des Euripides25 lastet, und strukturelle Gewalt, 24 Bei Sophokles entsteht die Tragik des Stücks nicht, wie bei Aischylos, aus der objektiven oder, wie bei Euripides, aus der subjektiven Problematik des Muttermordes, sondern erwächst aus der totalen Einsamkeit und aus den physischen, psychischen und moralischen Qualen, die die Heldin zu zerstören drohen. Elektra leidet an dem erbärmlichen und entwürdigenden Leben, zu dem sie, die Tochter des Königs, im Palast des Vaters verurteilt ist, und sie leidet daran, daß mit jedem Jahr die Hoffnung auf einen Mann und auf Kinder schwindet. Sie leidet an der sie Tag und Nacht verfolgenden Erinnerung an die Ermordung und Verstümmelung des Vaters, und dieser Schmerz wird noch bitterer durch den täglichen Anblick der Mörder und der Schamlosigkeit, mit der sie die Früchte ihres Verbrechens genießen. Sie leidet daran, daß die gerechte Bestrafung der Mörder auf sich warten läßt, und daran, daß die unerträglichen Bedingungen, unter denen sie leben muß, sie zu Gefühlen und Reaktionen zwingen, die einem jungen Mädchen auch in ihren eigenen Augen nicht anstehen und derer sie sich schämt. Verschärft werden alle diese Qualen durch ihre Einsamkeit: Mit der Mutter verbindet sie nur noch der wechselseitige Haß und das leere Ritual der sich ständig wiederholenden Wortgefechte; für die Schwester, die zwar so denkt und fühlt wie sie, aber zu feige ist, sich zusammen mit ihr offen gegen die Mörder zu stellen, empfindet sie nur Verachtung; und der ferne Bruder enttäuscht ihre Hoffnungen immer wieder mit Versprechungen, die er nicht hält. 25 Die Euripideische Hekabe ist – wie die Troerinnen – ein eindrucksvolles Beispiel für jede Form von Gewalt, die der Krieg mit sich bringt. Im Zentrum steht jedoch die Darstellung des psychischen Drucks, unter dem die von immer neuen Schicksalsschlägen getroffene Königin am Ende zu einer barbarischen Rächerin degeneriert. (Zur allgemeinen Brutalisierung und Barbarisierung in der Hekabe vgl. Ch. Segal: Violence and Dramatic Structure in Euripides’ Hecuba. In: Themes in Drama 13 [1991], S. 35–46.) In dieser Hinsicht ist das Stück mit der Sophokleischen Elektra verwandt, die auch zeigt, wie die Heldin unter dem ungeheuren psychischen Druck, dem sie ausgesetzt ist, zur barbarischen Muttermörderin wird:

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d. h. die Gewalt, die potentiell jeder Form von Machtstrukturen inhärent ist (wie in Aischylos Hiketiden26 oder in Sophokles Antigone27) oder ihre für die griechische Tragödie besonders wichtige Sonderform der göttlichen Gewalt (belehrend wie die charis biaios der Orestie oder zerstörerisch wie in den Eupideischen Bakchen).28 Innerhalb des Gesamtcorpus der erhaltenen griechischen Tragödien gibt es natürlich erhebliche Differenzen zwischen den drei Tragikern und innerhalb ihres erhaltenen Werks: So zeigt z. B. Sophokles – anders als seine beiden Konkurrenten – eine besondere Vorliebe für suizidale Gewalt.29 Und betrachtet man das Sophokleische Œuvre für sich, so fällt auf, daß im Spätwerk physische Gewalt gegenüber Formen psychischer, verbaler und struktureller Gewalt deutlich zurücktritt. Untersucht werden sollen im folgenden allerdings nicht solche Differenzen zwischen Autoren oder einzelnen Stücken und auch nicht die Einbindung der dramatischen Darstellung von Gewalt in die Gewaltdiskurse des 5. Jahrhunderts,30 sondern – gemäß dem Thema des Symposions – die Ästhetisierung der Gewalt, die speziellen Formen der dramatischen Mimesis von Gewalt. Und noch eine weitere Einschränkung soll gemacht werden. Ausgeblendet bleiben psychische, strukturelle und verbale Gewalt und auch die nahverwandte Darstellung extremer Schmerzen (als Gewalt aus der Perspektive des Opfers)31. Die verschiedenen Formen der Gewalt führen zu ganz verschiedenen For-

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Ihr furchtbarer Schrei: „Schlag zu, wenn du die Kraft hast, ein zweites Mal!“ macht die Tat zu ihrer Tat und läßt zugleich – kurz vor dem Ende des Stücks schlaglichtartig aufleuchten, was die Jahre der Einsamkeit und des Hasses aus der jungen Frau gemacht haben. Aischyl. Hiketiden: (Ehe)Mann – (Ehe)Frau; Vater – Tochter; vgl. zur Gewaltdiskussion in den Hiketiden S. Goldhill: Violence in Greek Tragedy. In: Themes in Drama 13 (1991), S. 15–33, hier: S. 18–24. Soph. Ant.: Vater – Sohn; Mann – Frau. Aischyl. Ag. 182; vgl. auch F 10 c Radt und besonders F 441a Radt; Soph. Ai. 123–33; Ant. 583 ff.; Euripides Hippolytos, Troerinnen und Bakchen; vgl. dazu: R. Parker: Gods Cruel and Kind. Tragic and Civic Theology. In: Chr. Pelling: Greek Tragedy and the Historian, Oxford 1997, S. 143–60. Gleich sechs Sophokleische Gestalten töten sich selbst: Aias, Deianeira, Antigone, Haimon, Eurydike und Iokaste; Nimmt man Elektras Todeswunsch (378 ff., 1165 ff.), Philoktets Selbstmordwünsche und -drohungen (747 ff., 797 ff., 999 ff., 1203 ff., 1348 f.) und die Todessehnsucht des greisen Oidipus dazu, so ist keine der erhaltenen Sophokleischen Tragödien ohne Beziehung zum Selbstmord; vgl. B. Seidensticker: Die Wahl des Todes bei Sophokles. In: Sophocle. Entretiens sur l’antiquité classique 29 (1983), S. 105–53 (wiederabgedruckt in: Seidensticker 2005 [Anm. 3], S. 29–66). S. o. Einleitung. Vgl. den Beitrag von Budelmann in diesem Band.

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men der Darstellung, die jede eine eigene detaillierte Untersuchung verlangen würde. Ich werde mich deswegen auf die Darstellung zerstörerischer physischer Gewalt beschränken und dabei einen Aspekt besonders thematisieren, die fragile Balance von Distanz und Nähe. Der systematischen Analyse des reichen Materials sei ein instruktives Einzelbeispiel aus dem Aischyleischen Agamemnon vorangestellt: Den dramatischen Höhepunkt der monumentalen Parodos des Aischyleischen Agamemnon bildet die Erinnerung des Chors an die Opferung der Iphigenie in Aulis.32 Schon bei der Formulierung des tragischen Dilemmas, mit dem sich Agamemnon durch die Forderung der Artemis konfrontiert sieht, liegt der Akzent auf der Brutalität des Opfers (206–211): bare‹a män k¾r tÕ m¾ piqšsqai, bare‹a d' e„ tšknon daâxw, dÒmwn ¥galma, mia…nwn parqenosf£goisin ˜e…qroij patróouj cšraj pšlaj bwmoà. t… tînd' ¥neu kakîn; Schwer ist das Los, nicht zu gehorchen Schwer aber auch, wenn ich mein Kind zerfleische, das glänzende Kleinod des Hauses, befleckend mit Strömen von Blut des geschlachteten Mädchens die väterlichen Hände nah am Altar. Was ist hier ohne Übel? 32 Die Position des Chors zwischen der Bühne (bzw. dem Raum vor dem Bühnenhaus, an dem die Schauspieler agierten) und dem Publikum signalisiert seine besondere Stellung zwischen dramatis persona und Zuschauer und ist räumlicher Ausdruck für das Verhältnis von Distanz und Nähe, das die Rolle des Chors und ihre Funktion bei der Rezeption der Stücke bestimmt: Auf der einen Seite ist der Chor aristotelisch gesprochen synagonizomenos (Mitspieler), d. h. aktiver Teil des dramatischen Spiels mit einer mehr oder minder umfangreichen Rolle und einem mehr oder minder ausgeprägten Charakter; auf der anderen Seite fungiert er als in das Stück integrierter Betrachter, der die Ereignisse verfolgt und auf sie reagiert, aber nicht in das Geschehen eingreifen kann, da er seinen Platz in der Orchestra nicht verlassen darf. Seine Lieder schaffen einerseits emotionale und geistige Distanz, indem sie die dramatische Handlung mit Kommentaren, Wertungen und Deutungen unterbrechen und dem Publikum so einen Moment psychischer Entspannung und rationaler Reflexion ermöglichen; andererseits bringen sie dem Zuschauer die mythische Geschichte aber auch nahe, indem sie den dargestellten Einzelfall mit Gnomen und Parallelen verallgemeinern und durch ihre Reaktionen das Publikum zu Urteil und Parteinahme zwingen. Wie im Falle des mythischen Stoffs (s. o. Anm. 4) läßt sich also auch für die Rolle des Chors (und ließe sich für viele Elemente und Bauformen der griechischen Tragödie) eine feine Balance von Distanz und Nähe konstatieren.

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Die wenigen Worte, mit denen Agamemnon sich die von ihm geforderte Tat ausmalt, evozieren den reinen Glanz der unschuldigen Tochter und die blutüberströmten Hände des Vaters und pointieren die Undenkbarkeit der Tat durch die oxymorische Spannung zwischen teknon (Kind), das die enge Beziehung des Vaters zu der von ihm gezeugten Tochter betont, und daixo (zerfleische), das die brutale Zerstörung dieses Bands benennt, sowie zwischen der Befleckung der väterlichen Hände und dem kultische Reinheit fordernden Altar. Verschärft wird die visuelle und emotionale Wucht der Verse noch dadurch, daß in dem von Agamemnon für das Opfer verwendeten Verb (tšknon daâxw)33 die cena Thyestea evoziert wird, das grausige Kindermahl, für das Agamemnon ebenso wie für die Opferung der Iphigenie wird zahlen müssen. Im folgenden erinnert der Chor sich an den Vollzug des Opfers:34 an die Bitten und Schreie des Mädchens, das vergeblich den Vater anruft (228), an den Befehl Agamemnons, der Tochter einen Knebel in den Mund zu schieben und sie fest eingerollt in ihre Gewänder, Kopf nach unten wie eine Ziege beim Schlachtopfer hoch über den Altar zu heben (231–38), an den Moment, an dem das krokosfarbene Gewand des Mädchens nach unten fiel (239), und an die verzweifelten Versuche der Geknebelten, alle um den Altar Stehenden, wenn nicht mehr mit Worten, so mit Blicken zu Mitleid zu bewegen (240–42): Die dramatische Bewegung der Szene gefriert in dem Moment, in dem das Opfer vollzogen werden muß, zu einem stummen und starren Bild, das dem Chor klar vor Augen steht (242: pršpous£ ϑ' æj ™n grafa‹j) und dessen brutale Gewalt durch den Kontrast zu dem reinen Gesang noch gesteigert wird, mit dem das Mädchen früher den Vater und die Freunde, die sie jetzt ihrem Krieg opfern, beim Trankopfer des Symposions erfreut hat (243–47).35 33 daâzw (da…w) hat die Grundbedeutung „teilen, zerlegen“. 34 Aischyl. Ag. 228–46: „Ihre flehentlichen Bitten und ihre Rufe ,Vater, Vater‘ erachteten für nichts – und auch nicht das Leben des jungen Mädchens – die kampfbegierigen Fürsten, und es befahl den Dienern der Vater nach einem Gebet, sie entschlossen – wie eine Ziege – hoch in die Luft über den Altar zu heben, eingerollt in ihr Gewand, den Kopf nach unten gedreht, und den schönen Mund knebelnd einen Schrei zu verhindern, einen Fluch gegen das Haus, mit Gewalt und dem erstickenden Druck eines Zaumzeugs. Und als ihr safranfarbenes Gewand zur Erde floß, traf sie jeden der Opferer aus dem Auge mit einem Geschoß, das um Mitleid bat – klar wie auf einem Bild – und versuchte, sie anzurufen, da sie oft in des Vaters gastfreundlichen Hallen gesungen hatte und jungfräulich, mit reiner Stimme beim dritten Weihguß des Vaters den ein glückliches Schicksal bringenden Päan lieblich geehrt hatte“.

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Die dramatische Dynamik und akustisch-visuelle Kraft des Bildes, das dem Chor vor Augen steht, rückt die zeitlich und räumlich ferne tragische Urszene der Trilogie ganz nahe an den Zuschauer heran. Auf der anderen Seite wird das Opfer aber nicht gezeigt, sondern erzählt, und die dadurch entstehende Distanz wird noch dadurch gesteigert, daß diese Erzählung nicht wie im Falle eines Botenberichts durch einen einzelnen Sprecher vorgetragen wird, sondern von einem singenden und tanzenden Chor. Es muß zwar offen bleiben, ob in der Orchestra des 5. Jahrhunderts ein Altar stand und ob der Chor den Inhalt seiner Lieder mimetisch illustriert hat; beides würde die Distanz der Szene reduzieren; aber selbst wenn ein Altar in der Orchestra als Zeichen für den Altar in Aulis fungieren konnte und selbst wenn der Chor das in Aulis Geschehene nicht nur mit Worten, sondern auch choreographisch präsentiert hat (ich bin in beiden Fragen eher skeptisch), ändert das nichts daran, daß vor das imaginäre Bild vom Opfer der Iphigenie, so plastisch es auch sein mag, das konkrete Bild des tanzenden Chors alter Männer trat. Am Ende wird das raffinierte Verhältnis von Distanz und Nähe, mit dem Aischylos das Furcht und Mitleid erzeugende Ereignis präsentiert, ganz deutlich, wenn der Chor die unerhört lebendige Schilderung des Opfers auf dem Höhepunkt der Vorbereitungen mit den Worten abbricht (248): t¦ d' œnqen oÜt' edon oÜt' ™nnšpw. Was dann geschah, das sah ich nicht und kann es nicht sagen.

Der Moment, in dem das Opfermesser in den Hals des von den Männern über den Altar gehaltenen Mädchens fährt und die von Agamemnon gefürchteten Ströme von Blut herausschießen, ist ausgeblendet. Auch der Zuschauer ‚sieht und hört‘ so den Akt des Schlachtens nicht. Der letzte Schrecken bleibt seiner Phantasie überlassen und ist dadurch fern gerückt und zugleich – gerade weil die Herstellung des Bildes ganz der eigenen Phantasie überlassen und nicht durch Worte eines Anderen vermittelt wird – auch ganz nah.36 Die folgende Analyse der Bauformen, die die griechischen Tragiker entwickelt haben, um ihren Zuschauern das Furchtbare ‚vorzuenthalten‘ und 35 Die Brutalität der Szene wird – wie in vielen vergleichbaren Fällen (z. B. Andromache und Astyanax in den Euripideischen Troerinnen) – noch durch die unschuldige Reinheit des Opfers verstärkt. 36 Wie bei der Aposiopese entfaltet das Unausgesprochene gerade dadurch eine besondere Wirkung, daß es der Vorstellungskraft des Adressaten überlassen bleibt, sich den entscheidenden Moment zu vergegenwärtigen.

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doch ungemein wirkungsvoll zu präsentieren, wird das komplexe Verhältnis von Distanz und Nähe in immer neuen Variationen zeigen. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die wohlbekannte Tatsache, daß physische Gewalt in der griechischen Tragödie nicht auf der Bühne gezeigt wird, sondern in die Distanz des hinterszenischen Raums verbannt ist. Die wenigen Ausnahmen, die für die erhaltenen Tragödien konstatiert worden sind (wie der Selbstmord des Aias37 und Euadnes Sprung in den Tod38), bestätigen eher die Regel, als daß sie sie in Frage stellten.39 37 Die Frage der Inszenierung des Selbstmords ist seit langem umstritten. M. E. ist es eher unwahrscheinlich, daß der Selbstmord des Aias so inszeniert war, daß das Publikum den ‚Sprung‘ ins Schwert sehen konnte; eine ausführliche Diskussion aller Vorschläge seit dem Beginn des 19. Jhs. findet sich bei S. Scullion: Three Studies in Athenian Dramaturgy, Stuttgart 1994, S. 89–128. 38 Auch die Inszenierung des Sprungs der Euadne vom Felsen in den Scheiterhaufen ihres Mannes ist umstritten: Sprung vom Dach der Skene auf den hinter dem Bühnenhaus gedachten Scheiterhaufen (so z. B. Chr. Hourmouziades: Production and Imagination in Euripides. Form and Function of the Scenic Space, Athen 1965, S. 32 f. und Chr. Collard: Euripides’ Supplices, Groningen 1975, S. 16); Sprung vom oberen Rand der östlichen Stützmauer der Cavea (R. Rehm: Marriage by Death. The Conflation of Wedding and Funeral Rituals in Greek Tragedy, Princeton 1994, S. 203 f.) oder Sprung, mit Hilfe des Bühnenkrans, auf den vor dem Bühnenhaus errichteten Scheiterhaufen (so D. Wiles: Tragedy in Athens, Performance Space and Theatrical Meaning, Cambridge 1997, S. 184–86). 39 In beiden Fällen handelt es sich zudem um Selbstmorde; die Tatsache, daß Alkestis und Hippolytos auf der Bühne sterben, zeigt, daß nicht der Tod, sondern physische Gewalt von der Bühne verbannt war. Gelegentlich scheinen die Tragiker mit der Möglichkeit zu spielen, den Mord auf die Bühne zu bringen: vgl. Aischylos, Choephoren, wenn Orest mit gezogenem Schwert vor Klytaimestra steht (892 ff.), oder Euripides, Orestes, wenn Orest das Schwert auf den phrygischen Sklaven richtet (1506 ff., 1519) und später, auf dem Dach des Palasts, damit droht, seine Geisel Hermione zu töten (1566 ff., 1608); in der Sophokleischen Niobe (F 441a Radt) schießen Apollon und Artemis, als sie Niobes Kinder töten, offenbar vom Dach ins Innere des Bühnenhauses (vgl. W. S. Barrett in R. Carden: The Papyrus Fragments of Sophocles, Berlin 1974, S. 184 f.); Sophokles scheint die Konvention am Ende der Elektra geradezu zu thematisieren, wenn er Aigisth fragen läßt, warum ihn Orest nicht auf der Stelle – vor aller Augen – tötet (1493 f.); vgl. zu dieser Szene den Beitrag von Goldhill in diesem Band. Auch Szenen nicht-zerstörerischer physischer Gewalt, wie sie sich in der Komödie häufig finden (vgl. M. Kaimio u. a.: Comic Violence in Aristophanes. In: Arctos 24 [1990], S. 47–72), sind in der Tragödie eher rar. Der spektakulärste Fall ist die Eingangsszene des Prometheus Desmotes, in der Prometheus von Kratos und Bia an einen Felsen im Kaukasus gekettet wird; vgl. weiter: Aischyl. Hiketiden 825 (ob es zur Gewaltanwendung kommt oder bei Drohungen bleibt, ist unsicher); Soph. Phil. 1003 ff. und Oid. K. 817 ff.; die zahlreichen Drohungen mit physischer Gewalt

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Anders als bei Seneca40 oder bei Shakespeare41 ist es nicht das Auge, sondern das Ohr (und über das Ohr die Imagination des Betrachters), an die sich die Darstellung zerstörerischer Gewalt richtet. Der Zuschauer nimmt das tragische Pathos, das den dramatischen und emotionalen Kern der Tragödie bildet, gleichsam in doppelter Distanz – in fremden Augen gespiegelt – wahr. Der direkte Blick ins Antlitz der Medusa ist vermieden. Die Frage nach dem Grund für diese dramatische Konvention hat ganz verschiedene Antworten gefunden.42 So hat man die Konvention mit dem Hinweis auf ein angebliches religiöses Tabu zu erklären versucht, das es den Dichtern verboten habe, den Festgott mit mörderischer oder selbstmörderischer Gewalt zu beflecken43 oder – neben anderen technischen Schwierigkeiten der Darstellung – darauf hingewiesen, daß die griechischen Tragiker es sich nicht leisten konnten, einen der maximal drei Schauspieler, die ihnen für die Aufführung ihrer Stücke zur Verfügung standen, zu opfern, da ein Toter in einem Theater ohne Pausen und Vorhang nicht abtreten und eine neue Rolle übernehmen konnte.44

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werden in der Regel nicht realisiert; vgl. M. Kaimio: Physical Contact in Greek Tragedy. A Study in Stage Conventions, Helsinki 1988, S. 5–11 (mit der älteren Sekundärliteratur; M. K.: Violence in Greek Tragedy. In: Crudelitas. The Politics of Cruelty in the Ancient and Medieval World, hrsg. von T. Viljamaa u. a., Medium Aevum Quotidianum, Krems 1992, Sonderband II, S. 28–43). Bei Seneca tötet Medea ihre Kinder (893 ff.: 969 f. und 978 ff.: 1018 f.) und Herakles seine Frau und die beiden Söhne (987 ff.) ‚auf der Bühne‘. Allerdings ist umstritten, ob die Stücke für eine Aufführung geschrieben worden sind oder es sich um Rezitations- bzw. Lesedramen handelt. Keine Frage ist, daß die Senecanische Form der Präsentation physischer Gewalt auf das Renaissancedrama und auf Shakespeare gewirkt hat. Vgl. z. B. J. Barish: Shakespearean Violence. A Preliminary Survey. In: Violence in Drama, Themes in Drama 13 (1991), S. 101–20. Vgl. J. M. Bremer: ‚Why Messenger Speeches?‘ In: Miscellanea Tragica in honorem J. C. Kamerbeek, hrsg. von J. M. Bremer u. a., Amsterdam 1976, S. 29–48; Scullion (1994) [Anm. 37]. So z. B. R. C. Flickinger: The Greek Theatre and Its Drama, Chicago 41936, S. 127–32; K. Matthiesen: Elektra, Taurische Iphigenie und Helena. Untersuchungen zur dramatischen Form im Spätwerk des Euripides, Hypomnemata 4, Göttingen 1964, S. 144; H. D. Blume: Einführung in das antike Theaterwesen, Darmstadt 31991, S. 68. So z. B. P. Arnott: Greek Scenic Conventions in the Fifth Century, Oxford 1962, S. 136 (und Appendix III); Sri Pathmanathan: Death in Greek Tragedy, G&R 12 (1965), S. 2–14, vertritt die Auffassung, daß in erster Linie „internal dramatic considerations“ verantwortlich dafür seien, daß physische Gewalt in den hinterszenischen Raum verbannt ist. Horaz scheint der Auffassung zu sein, daß zwar das, was man sieht, stärker wirkt als das, was man nur hört, daß aber viele der grausamen

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Fruchtbarer scheint mir allerdings die Frage, ob nicht vielmehr rezeptions- und produktionsästhetische Überlegungen Ursache des Phänomens sind:45 die Erfahrung, daß eine gewisse Distanz vorhanden sein muß, wenn sich das Vergnügen an tragischen Gegenständen einstellen soll – ich erinnere an die Phrynichos-Anekdote bei Herodot46 –, und die Erkenntnis, daß die Verbannung physischer Gewalt von der Bühne eine Fülle ästhetisch und psychagogisch interessanter Möglichkeiten eröffnete, dem Zuschauer das Distanzierte gleichwohl wirkungsvoll, ja wirkungsvoller nahe zu rücken. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß die Tragödie nach Aristoteles ihre Wirkung nicht durch die direkte Präsentation spektakulärer Gewalt (to teratodes) erreichen soll. Das sei atechnoteron, d. h. habe wenig mit der Kunst des Tragikers zu tun,47 der ich mich im dritten Abschnitt zuwende. Ereignisse des Mythos, wie Medeas Ermordung ihrer Kinder oder die Zubereitung der cena Thyestea, schon deswegen nicht auf die Bühne gebracht werden könnten, weil der Zuschauer einfach nicht glauben würde, was ihm der Dichter zeigt (Hor. ars 179–88). 45 Man sollte auch nicht vergessen, daß die Entstehung und Entwicklung der Tragödie aus dem Chorlied zunächst, d. h. solange dem Chor nur ein Schauspieler als ‚Antworter‘ (Grundbedeutung von hypokrités, des griechischen Worts für Schauspieler) gegenüberstand, gar keine Darstellung physischer Gewalt erlaubte und daß, was vielleicht noch wichtiger ist, das griechische Publikum durch die ungeheure Popularität des rhapsodischen Vortrags der homerischen Epen an die narrative Präsentation grausiger Taten gewohnt war. 46 S. o. Anm. 8. 47 Aristot. poet. Kap. 14, 1453b 1–11: ”Estin män oân tÕ foberÕn kaˆ ™leeinÕn ™k tÁj Ôyewj g…gnesqai, œstin dä kaˆ ™x aÙtÁj tÁj sust£sewj tîn pragm£twn, Óper ™stˆ prÒteron kaˆ poihtoà ¢me…nonoj. de‹ g¦r kaˆ ¥neu toà Ðr©n oÛtw sunest£nai tÕn màqon éste tÕn ¢koÚonta t¦ pr£gmata ginÒmena kaˆ fr…ttein kaˆ ™lee‹n ™k tîn sumbainÒntwn: ¤per ¨n p£qoi tij ¢koÚwn tÕn toà O„d…pou màqon. tÕ dä di¦ tÁj Ôyewj toàto paraskeu£zein ¢tecnÒteron kaˆ corhg…aj deÒmenÒn ™stin. oƒ dä m¾ tÕ foberÕn di¦ tÁj Ôyewj ¢ll¦ tÕ teratîdej mÒnon paraskeu£zontej oÙdän tragJd…v koinwnoàsin: oÙ g¦r p©san de‹ zhte‹n ¹don¾n ¢pÕ tragJd…aj ¢ll¦ t¾n o„ke…an. „Nun kann

das Schauderhafte (phoberón) und Jammervolle (eleeinón) durch die Inszenierung, es kann aber auch durch die Zusammenfügung der Geschehnisse (sýstasis ton pragmáton) selbst bedingt sein, was das Bessere ist und den besseren Dichter zeigt. Denn die Handlung (mýthos) muß so zusammengefügt sein, daß jemand, der nur hört und nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den Vorfällen Schaudern (phríttein) und Jammer empfindet. So ergeht es jemandem, der die Geschichte (mýthos) von Ödipus hört. Diese Wirkungen durch die Inszenierung herbeizuführen, liegt eher außerhalb der Kunst (atechnóteron) und ist eine Frage des Aufwandes. Und wer gar mit Hilfe der Inszenierung nicht das Schauderhafte (phoberón), sondern nur noch das Grauenvolle (teratódes) herbeizuführen sucht, der entfernt sich gänzlich von der Tragödie. Denn man darf mit Hilfe der Tragödie nicht jede Art von Vergnügen (hedoné) hervorzurufen suchen, sondern nur die ihr gemäße.“ (Übers. Fuhrmann)

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III Aischylos, Sophokles und Euripides haben auf die Konvention, zerstörerische physische Gewalt nicht zu zeigen, mit einer Reihe von Techniken reagiert, mit denen sie die durch die Verbannung der Gewalt in einen nahen oder fernen hinterszenischen Raum entstehende Distanz, wenn auch nicht völlig aufheben, so doch erheblich verringern können. 1. Im Augenblick der tragischen Tat dient dazu (jedenfalls wenn diese nahe genug stattfindet) die von allen drei Tragikern verwendete Mord-Stichomythie, ein Pseudo-Gespräch zwischen dem Opfer und Personen (meist dem Chor), die auf der Bühne das hinterszenische Geschehen verfolgen und kommentieren. Das Grundmuster der später vielfach variierten Bauform findet sich im Aischyleischen Agamemnon. Zweimal ertönt der Schrei Agamemnons aus dem Palast, zweimal kommentiert der Chor die Schreie (1343–47): Ag. Co. Ag. Co.

êmoi, pšplhgmai kair…an plhg¾n œsw. s‹ga: t…j plhg¾n ¢ute‹ kair…wj oÙtasmšnoj; êmoi m£l' aâqij, deutšran peplhgmšnoj. toÜrgon e„rg£sqai doke‹ moi basilšwj o„mègmasin. ¢ll¦ koinwsèmeq' ½n pwj ¢sfalÁ bouleÚmata.

Ag.: Chf.: Ag.: Chf.:

Weh mir! Ich bin getroffen, tödlich tief. Still! Wer schreit da, tödlich getroffen. Weh mir! Erneut! Ein zweiter Schlag, der nun mich traf! Die Tat vollendet scheint sie mir, hör ich des Königs Stöhnen Doch auf, wir wollen uns beraten, ob es vielleicht einen sicheren Plan gibt.

Es folgt die ebenso aufgeregte wie umständliche Beratung der Greise, was in dieser undurchsichtigen und gefährlichen Situation zu tun sei (1347–71), bis schließlich das Ekkyklema, die aus dem Palast gerollte hölzerne Plattform, die Mörderin und ihre Opfer präsentiert (1372 ff.).48 Bleiben hier die beiden Räume noch klar voneinander getrennt, so finden sich in der reichen Geschichte dieses dramaturgischen Topos49 auch Szenen, in denen die Distanz zwischen dem Mordgeschehen im Haus und 48 Bei der ersten Wiederholung des szenischen Topos für die Ermordung Aigisths (Choeph. 869–74) beschränkt sich Aischylos auf eine Kurzform (ein Schrei aus dem Haus, eine Reaktion des Chors). 49 Zu den hier behandelten Szenen (Aischyl. Ag., Soph. El., Eur. Med. und El.) kommen noch: Aischyl. Choeph. 869–74; Eur. Hec. 775–89; HF 87–908; Or. 1296–1310, (1347 f .); Kykl. 663 ff.; vgl. W. G. Arnott: Off-Stage Cries and Choral Presence. Some Challenges to Theatrical Conventions in Euripides. In: Antichthon 16 (1982), S. 35–43; R. Hamilton: Cries within and the Tragic Skene. In: AJPh 108 (1987), S. 585–97.

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den vor dem Haus das Geschehen Verfolgenden dadurch verringert ist, daß es zu einer kurzen dialogischen Kommunikation zwischen Drinnen und Draußen kommt. In der Medea des Euripides (1270a–82) hört der Chor, als Medea die tragische Tat in Angriff nimmt, die Wehschreie der beiden Knaben aus dem Hause dringen und reagiert darauf in der für den Chor typischen Weise erst mit einer Selbstvergewisserung – „Hörst du, hörst du das Schreien der Kinder?“(1273) – und auf den zweiten Schrei – „oimoi!“ – wie im Agamemnon mit der Überlegung, ob er versuchen soll, die Tat noch zu vereiteln (1275f.). Wenn daraufhin der eine der beiden Knaben den Chor in seiner Entscheidung bestärkt und zur höchsten Eile auffordert (1277), so scheint für einen Moment die Distanz zwischen dem Mordgeschehen und den Zeugen aufgehoben; aber natürlich nur für einen Moment; der Chor kann nicht eingreifen und überbrückt die grausige Tat nach einem Anruf Medeas (1279–82) mit einer lyrischen Aposiopese (1283–93). Noch wirksamer hat Sophokles von der Möglichkeit der Dialogisierung der topischen Mord-Stichomythie Gebrauch gemacht: In seiner Elektra ist die Mord-Stichomythie einerseits deutlich als Aischylos-Zitat gekennzeichnet, andererseits aber erheblich modifiziert. Sophokles läßt seine Heldin in dem Moment, in dem der Zuschauer, in Erinnerung an die dramatische Sequenz der beiden Aischyleischen ,Vorlagen‘, nach dem Abgang der Geschwister in den Palast auf die Todesschreie wartet, wieder aus dem Hause treten und zusammen mit dem Chor auf den Mord warten. Die Mord-Stichomythie wird dadurch umfangreicher, formal komplizierter, dramatisch und emotional wirkungsvoller und inhaltlich komplexer (Soph. El. 1398–1421): Der größere Umfang und die reichere Instrumentierung der Szene ergeben sich schon aus der Verdoppelung der vor dem Palast wartenden Personen. Bedeutungsvoller ist jedoch zweifellos der Wunsch des Sophokles, dem Zuschauer den Höhepunkt des Stücks, obwohl er sich im Hinterszenischen vollziehen muß, so lebendig und detailliert wie möglich vor Augen zu stellen. Das kurze Vorgespräch zwischen Elektra und dem Chor steigert nicht nur durch das Warten auf die Schreie und die Ankündigung der unmittelbar bevorstehenden Tat (1398 f.) sowie durch den Hinweis auf die Gefährlichkeit der Situation (1402 f.) die Spannung, sondern rückt dem Zuschauer durch die Beschreibung der dramatischen Konstellation im Haus den Ort der Tat unmittelbar vor Augen (1400 f.): `H män ™j t£fon lšbhta kosme‹, të d' ™fšstaton pšlaj. Sie richtet zur Bestattung Die Urne, und die beiden stehen dicht dabei.

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Nach Klytaimestras erstem Schrei (1404) evoziert Sophokles mit bewundernswerter Ökonomie der Mittel Schritt für Schritt das sich im Haus vollziehende Drama zwischen Mutter und Sohn. Mit Klytaimestras Augen ‚sieht‘ der Zuschauer, wie sie begreift, wer da neben ihr steht und was geschehen wird (1404 f.): a„a‹. „ë stšgai f…lwn œrhmoi, tîn d' ¢pollÚntwn plšai. Ai, Ai! Ioh! Haus, Von Freunden leer, doch angefüllt mit Mördern!

Er ‚sieht‘, wie sie sich suchend nach Hilfe umsieht (1409) o‡moi t£lain': A‡gisqe, poà pot' ín kure‹j; Weh mir! ich Arme! – Aigisthos, wo nur bist du? –

und sich schließlich mit der flehentlichen Bitte an Orest wendet, sich der Mutter zu erbarmen (1410 f.): ð tšknon, tšknon, o‡ktire t¾n tekoàsan. O Kind, Kind! Habe mit der Erbarmen, welche dich gebar!

Der athenische Zuschauer hat bei diesen Worten wahrscheinlich die Aischyleische Szene vor sich gesehen, in der Klytaimestra dem Sohn die entblößte Brust entgegenstreckt. In diesem Moment steht den Zeugen auf der Bühne (wie dem Zuschauer) das hinterszenische Geschehen so deutlich vor Augen, daß Elektra vergißt, wo sie sich befindet, und selbst in das hinterszenische Geschehen eingreift, indem sie, als stünde sie neben dem Bruder, Klytaimestras Bitte an Orest beantwortet (1411 f.) und schließlich Orest nach dem ersten Schlag auffordert, noch einmal zuzuschlagen (1415).50 pa‹son, e„ sqšneij, diplÁn. Schlag zu, wenn du die Kraft hast, ein zweites Mal

Die Distanz zwischen hinterszenischem Raum und Bühne ist praktisch aufgelöst; die Front des Palasts gleichsam durchsichtig geworden. Auch der dritte der drei großen Tragiker macht in seiner Version des Elektrastoffs von dieser Bauform Gebrauch und zwar gleich zweimal, für beide Morde des Stücks. Ist die Verwendung bei der Ermordung Klytaime50 Zur Funktion der Szene für die Gestaltung der Elektra vgl. o. Anm. 24 und 25.

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stras knapp und konventionell (1165–71), so hat Euripides im zweiten Fall in der für ihn typischen Freude am Experiment51 ausprobiert, bis zu welcher Entfernung des Tatorts von der Bühne sich der dramaturgische Topos der Mord-Stichomythie gerade noch verwenden läßt (747–60): CO.

HL. CO. HL. CO. HL. CO. HL. CO. HL. Co.

f…lai, boÁj ºkoÚsat', À dokë ken¾ ØpÁlqš m' … … dšspoin', ¥meiyon dèmat', 'Hlšktra, t£de. f…lai, t… crÁma; pîj ¢gînoj ¼komen; oÙk oda pl¾n ›n: fÒnion o„mwg¾n klÚw. ½kousa k¢gè, thlÒqen män ¢ll' Ómwj. makr¦n g¦r ›rpei gÁruj, ™mfan»j ge m»n. 'Arge‹oj Ð stenagmÕj À f…lwn ™mîn; oÙk oda: p©n g¦r me…gnutai mšloj boÁj. sfag¾n ¢ute‹j tÁidš moi: t… mšllomen; œpisce, tranîj æj m£qhij tÚcaj sšqen. oÙk œsti: nikèmesqa: poà g¦r ¥ggeloi; ¼xousin: oÜtoi basilša faàlon ktane‹n.

CHOR: Ihr Freundinnen – habt ihr das Geschrei gehört? Oder täuschte ich mich? … … Herrin, komm aus dem Hause, Elektra! EL.: Was gibt es, meine Lieben? Wie steht unser Kampf ? CH.: Ich weiß nur eins: Es ist ein Todesschrei! EL.: Auch ich hab’ ihn gehört, wenn auch aus weiter Ferne. CH.: Von weither kommt die Stimme, und nicht klar verständlich. EL.: Jammert da ein Argiver – einer meiner Freunde? CH.: Ich weiß es nicht; ganz verworren klingt das Wehgeschrei! EL.: Zum Selbstmord forderst du mich auf. Was zögere ich? CH.: Halt! Erst erforsche deine Lage ganz genau! EL.: Nein, nicht möglich. Wir sind besiegt. Wo bleiben sonst die Boten? CH.: Sie werden kommen. Königsmord ist keine leichte Sache.

Die Ermordung Aigisths findet bei Euripides nicht im Palast, sondern im Kontext eines Opfers statt, das Aigisth in einem Heiligtum der Nymphen darbringt, das vom Schauplatz des Stücks weit entfernt ist. Auch hier warten Elektra und der Chor gespannt auf den Erfolg von Orests Plan; auch hier dringen schließlich Rufe an das Ohr der Wartenden; doch bei der großen Distanz können der Chor und die herbeigerufene Elektra nicht 51 Vgl. R. P. Winnington-Ingram: Euripides, Poietes Sophos. In: Arethusa 2 (1969), S. 127–42.

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ausmachen, von wem die Todesschreie stammen, bis schließlich der Bote erscheint und die Spannung löst. Der Reiz dieser Szene liegt nicht zuletzt in der radikalen Variation des Grundmusters, das dennoch erkennbar bleibt: Die Todesschreie sind beinahe eliminiert, und aus den ängstlichen Überlegungen des Chors, was angesichts des Geschehens zu tun sei, ist die angstvolle Frage geworden, was denn überhaupt geschehen ist. Die Szene ist ein eindrucksvolles Beispiel für die agonale Virtuosität, mit der die Tragiker in ständiger, kritisch-kreativer Auseinandersetzung mit den Konventionen ihres Mediums und mit ihren Konkurrenten die Bauformen der Gattung zugleich bewahren und weiterentwickeln,52 und zeigt zugleich, daß die Form der Präsentation von Gewalt nicht allein von der jeweiligen Art der Gewalt oder dem Geschmack des Autors und seiner Zeit abhängt, sondern auch von kunstimmanenten Faktoren wie der kreativen und agonalen Modifikation einer traditionellen Form. 2. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen erscheint kurz nach dem tragischen Akt ein anonymer Bote und schildert in großer Ausführlichkeit, was sich ereignet hat, bzw. wie es sich ereignet hat. In Euripides’ Elektra gibt der Bote z. B. einen unerhört plastischen Bericht davon, wie Orest den Aigisth, der ihn nichtsahnend zum Opfer eingeladen hat, ‚schlachtet‘ (839–43): toà dä neÚontoj k£tw Ônucaj œp‹ ¥krouj st¦j kas…gnhtoj sšqen ™j sfondÚlouj œpaise, nwtia‹a dä œrrhxen ¥rqra: p©n dä sîm' ¥nw k£tw ½spairen ºlšlize dusqn»iskwn fÒnwi. Doch während er sich bückte Erhob dein Bruder sich auf seine Zehenspitzen Und hieb ihm ins Genick, zerschmetterte die Wirbel Des Rückgrats ihm; und hin und wieder zuckte er Am ganzen Leib und stöhnte schwer in blutigem Tod. 52 B. Seidensticker: Die griechische Tragödie als literarischer Wettbewerb. In: Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2, 1996, S. 9–35 (wiederabgedruckt in Seidensticker 2005 [Anm. 3], S. 246–78); zu Euripides vgl. vor allem die Arbeiten von G. Arnott: Euripides and the Unexpected. In: G&R 20 (1973), S. 49–64; Red Herrings and Other Bait. A Study of Euripidean Techniques. In: MPhL 3 (1978), S. 1–14; Off-Stage Cries and the Choral Presence. In: Antichthon 16 (1982), S. 35–43; Tensions, Frustrations and Theatrical Technique in Some Scenes of Euripides’ Orestes. In: Antichthon 17 (1983), S. 13–28; vgl. auch: Dodone 6 (1977), S. 41–53, Wiss. Zeitschrift Rostock 34.1 (1985), S. 9–11.

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Wie hier sind es auch sonst die Botenberichte, in denen sich die detailliertesten und dramatischsten Beschreibungen von physischer Gewalt finden: von der Schlacht bei Salamis in den Persern bis zur Zerreißung des Pentheus in den Bakchen. Keine Bauform der griechischen Tragödie ist so nach allen Regeln der Kunst auf Struktur, Stil und Funktion untersucht worden wie der Botenbericht, so daß ich mich hier kurz fassen kann. Für unsere Fragestellung ist vor allem wichtig, daß der Bote das im Hinterszenischen Geschehene auf der Bühne verbal inszeniert. Der Zuschauer sieht mit den Augen dessen, der das Furchtbare gesehen hat. Die Boten, die denn auch immer wieder betonen, daß sie Augenzeugen waren, malen die Ereignisse zu detaillierten und farbigen Bildern aus, und die Form erlaubt es dem Dichter, durch die geschickte Regie der verbalen Bilderzeugung die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf eben die Elemente zu lenken, die ihm wichtig sind. Das auf diese Weise in der Phantasie des Zuschauers entstehende Bild ist so strukturierter, bedeutsamer und eindrücklicher, als es der bloße direkte Blick auf das Furchtbare liefern könnte. Es sei neben den bereits zitierten Stellen nur an den Bericht von Iokastes Selbstmord und Oidipus Blendung im Oid. T. (1243–96: 1264–79) erinnert oder an die Schilderungen, wie Hippolytos von seinen eigenen Pferden zu Tode geschleift (1153–1266: 1213–48), wie Pentheus von seiner Mutter und den Bakchantinnen zerrissen wird (1024– 1152: 1114–36). Vereinzelt sind Authentizität, Lebendigkeit, Anschaulichkeit und emotionale Wucht noch dadurch gesteigert, daß ein naher Angehöriger (wie Hyllos in den Trachinierinnen) oder der Täter selber (wie Klytaimestra im Agamemnon53) den Bericht gibt (1380–92): oÛtw d' œpraxa – kaˆ t£d' oÙk ¢rn»somai – æj m»te feÚgein m»t' ¢mÚnesqai mÒron. ¥peiron ¢mf…blhstron, ésper „cqÚwn, peristic…zw, ploàton e†matoj kakÒn: pa…w dš nin d…j, k¢n duo‹n o„mwgm£toin meqÁken aÙtoà kîla: kaˆ peptwkÒti 53 Die besondere emotionale Wucht dieses Botenberichts beruht nicht nur auf der triumphierenden Schamlosigkeit, mit der Klytaimestra ihre Tat präsentiert und verteidigt, und der Gewalt ihrer Metaphorik und Rhetorik, sondern auch auf der offensichtlichen Pervertierung gesellschaftlich legitimierter Gewalt; vgl. dazu S. Goldhill, der von einer „magnificently corrupt celebration of violence“ spricht (ders.: Violence in Greek Tragedy. In: Violence in Drama, Themes in Drama 13 [1991], S. 24: „In particular, her speech perverts three key areas of what could be called culturally controlled violence: hunting, sacrifice, warfare.“)

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tr…thn ™pend…dwmi, toà kat¦ cqonÒj, DiÒj, nekrîn swtÁroj, eÙkta…an c£rin. oÛtw tÕn aØtoà qumÕn Ðrma…nei pesèn, k¢kfusiîn Ñxe‹an a†matoj sfag¾n b£llei m' ™remnÍ yak£di foin…aj drÒsou, ca…rousan oÙdän Âsson À diosdÒtJ g£nei sporhtÕj k£lukoj ™n loceÚmasin. So habe ich gehandelt – und ich will es gar nicht leugnen – daß er nicht fliehen konnte noch abwehren das Geschick. Einen unentwirrbaren Umwurf – wie ein Netz zum Fischen – werf ich um ihn herum, den bösen Reichtum eines Gewands. Ich treff ihn zweimal; er schreit zweimal jammernd auf, und seine Glieder werden schlaff; und als er fällt, da geb ich ihm den dritten Schlag, als gelobte Gabe, für den Zeus der Unterwelt, den Retter der Toten. So fällt er und gibt den Geist auf und ausspeiend einen scharfen Blutstrahl trifft er mich mit einem dunklen Schauer roten Taus, und ich frohlocke nicht weniger, als die Saat sich freut, wenn ihre Keime durch Zeus-geschenktes Naß aufplatzen.

Gewiß wird dem Zuschauer die physische Gewalt in den Botenberichten immer noch in der Distanz der Erzählung eines in der Regel nicht direkt Betroffenen präsentiert. Die Botenberichte heben aber im Augenblick der Erzählung nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Distanz weitgehend auf, da sie die Phantasie des Zuschauers an den Ort und zum Augenblick des Geschehens zurückführen.54 3. Die nächste Stufe im Prozeß der Visualisierung zerstörerischer oder schmerzhafter Gewalt ist die Präsentation der Opfer55 (in den sogenannten Ecce-Szenen56): 54 Die starke emotionale Wirkung der Botenberichte wird von den griechischen Tragikern nicht nur immer wieder durch verbale Reaktionen der Zuhörer thematisiert, sondern gelegentlich auch indirekt szenisch präsentiert. Besonders eindrücklich sind die ominösen schweigenden Abgänge, mit denen Deianeira (Soph. Trach. 813–20) und Eurydike (Soph. Ant. 1244–56) auf die Berichte von der verheerenden Wirkung des vermeintlichen Liebeszaubers (Trach. 749 ff.) bzw. von den Selbstmorden Antigones und Haimons (Ant. 1192 ff.) reagieren. 55 Gelegentlich wird nur ein Teil der Opfer gezeigt, wie am Ende der Antigone, wenn Kreon seinen toten Sohn Haimon auf die Bühne trägt, die Leichen seiner Frau Eurydike, die sich im Schmerz über den Tod Haimons getötet hat, und Antigones dagegen unseren Blicken entzogen bleiben. 56 G. Kremer: Die Struktur des Tragödienschlusses. In: Die Bauformen der griechischen Tragödie, hrsg. von W. Jens, München 1971, S. 117–40.

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Besonders wirkungsvoll sind die Ekkyklema-Szenen, d. h. die Szenen, in denen der hinterszenische Ort samt Opfer und Täter auf einer hölzernen Plattform präsentiert wird, die auf Rädern aus der Zentraltür des Bühnengebäudes herausgerollt werden konnte und dazu diente, Innenszenen sichtbar zu machen. Auf der einen Seite schafft die Künstlichkeit der Bühnenmaschine (wie andere artifizielle Elemente der griechischen Tragödie) eine gewisse Distanz, indem sie die Illusion des Betrachters durchbricht; auf der anderen Seite rückt sie die Ergebnisse der Gewalttat (und damit auch diese selbst) in bedrängende Nähe. Nach den Ohren und der Phantasie sind es nun die Augen des Zuschauers, die sich direkt auf das Geschehene richten, und die jetzt sichtbaren Folgen der Gewalt rufen beim Rezipienten deshalb eine gesteigerte Gewalterfahrung hervor, weil die Bedeutung des tatsächlich Sichtbaren mit den durch den Botenbericht erzeugten Bildern aufgeladen wird. Das ist sicher immer dann in besonderem Maße der Fall, wenn Bericht und Ecce-Präsentation zusammenfallen, wie im Agamemnon, wo Klytaimestra ihren triumphalen Bericht über die Ermordung des Gatten und seiner Geliebten über den blutenden Leichen Agamemnons und Kassandras gibt (1372–98), oder wenn das Opfer sich selbst präsentiert, wie der geblendete Oidipus (1287 ff.). Aber auch sonst rückt mit den Folgen auch die Tat dem Zuschauer ganz nahe. Wenn im Euripideischen Herakles das Ekkyklema den Helden inmitten seiner von ihm im Wahnsinn ermordeten Familie und mit Keule und Bogen, mit denen er Frau und Kinder getötet hat, zeigt (1088–1162) oder wenn in den Bakchen Kadmos berichtet, wie er die einzelnen Körperteile des zerrissenen Enkels, die von den Dienern herbeigetragen werden, im Kithairon zusammengesucht hat, und so die eben berichtete Zerreißung noch einmal evoziert wird (1216–21): Immer spürt der Zuschauer beim Anblick der starren Leichen und Gegenstände noch die Dynamik der Mordberichte.57 Die Ecce-Szenen am Ende der Tragödien dienen aber nicht nur der Präsentation der Opfer, sondern auch und vor allem der Analyse, Reflexion und Bewertung der tragischen Handlung, die sie beschließen. Dadurch werden die gewaltsamen Ereignisse in eine gewisse Distanz gerückt; auf der anderen Seite bleiben sie aber durch die physische Präsenz der Opfer und durch den Zeigegestus der Szenen, der auch sprachlich immer wieder 57 Diese Wirkung wird von den Tragikern immer wieder dadurch unterstützt und intensiviert, daß sie in die Klage- und Deutungsszenen ‚Rückverweise‘ auf die in den Botenberichten dargestellten Ereignisse integrieren; so betonen z. B. im Schlußkommos der Sieben gegen Theben sowohl der Chor als auch Antigone und Ismene in immer neuen Wendungen, daß und wie sich die beiden Brüder gegenseitig getötet haben (Aischyl. Sept. 880–90, 961 ff. 971, 982).

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realisiert wird, dem Zuschauer so nahe, wie Aristoteles es für die Erregung von Furcht und Mitleid verlangt: So erklärt z. B. der Chor in den Sieben gegen Theben, als er die Soldaten mit den Leichen der beiden Brüder kommen sieht (848): t£d' aÙtÒdhla: proàptoj ¢ggšlou lÒgoj: Da zeigt es sich. Vor Augen steht des Boten Wort

und der Bote, der Iokastes Selbstmord und die Blendung des Oidipus berichtet hat, kündigt die große Ecce-Szene am Ende des Oidipus Tyrannos mit den folgenden Worten an (1287–96): bo´ dio…gein klÍqra kaˆ dhloàn tina to‹j p©si Kadme…oisi tÕn patroktÒnon, tÕn mhtrÕj, aÙdîn ¢nÒsi' oÙdä ˜ht£ moi … de…xei dä kaˆ so…: klÍqra g¦r pulîn t£de dio…getai: qšama d' e„sÒyV t£ca toioàton oŒon kaˆ stugoànt' ™poikt…sai. Er schreit, auftun soll man die Riegel und offenbaren vor allen den Kadmeern den Vatermörder, der Mutter … – nennt unheilige Dinge und nicht auszusprechen mir! – … Doch zeigt er dir sie (sc. seine Krankheit) auch. Der Türe Riegel da! – gehen auf und einen Anblick wirst du sehn sogleich, derart, daß sich sogar, wer ihn verabscheut, darüber erbarmt!

Innerhalb der Ecce-Szenen wird das Spiel mit Distanz und Nähe immer wieder auch explizit thematisiert: Im Oidipus Tyrannos ist die abwehrende, sich distanzierende Reaktion des Chors auf das Furchtbare als etwas, das weder Ohren noch Augen ertragen können (1312), eng verbunden mit dem Wunsch, alles genau zu hören und zu sehen – und so unmittelbar ‚dabei zu sein‘ (1303–06): feà feà, dÚsthn': ¢ll' oÙd' ™side‹n dÚnama… s' ™ϑšlwn pÒll' ¢neršsqai, poll¦ puqšsqai, poll¦ d' ¢qrÁsai: to…an fr…khn paršceij moi. Weh! Weh! Unglücklicher! Doch nicht einmal ansehen kann ich dich, und will viel fragen, viel erfahren doch und vieles sehn! Solch einen Schauder erregst du mir.

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Im Aias bedeckt zunächst Tekmessa den Toten, weil der Anblick unerträglich ist, und schafft so eine gewisse Distanz (915–19): OÜtoi qeatÒj: ¢ll£ nin periptuce‹ f£rei kalÚyw tùde pamp»dhn, ™peˆ oÙdeˆj ¨n Óstij kaˆ f…loj tla…h blšpein fusînt' ¥nw prÕj ˜‹naj œk te foin…aj plhgÁj melanqän aŒm' ¢p' o„ke…aj sfagÁj. Man blicke nicht auf ihn. Mit diesem Mantel, dem rings umfaltenden, will ich ihn ganz verhüllen. Denn keiner, und sei er ich noch so Freund, wird es ertragen können, zu erblicken, wie er empor bis zu den Nüstern und aus dem mörderischen Schnitt ausschnaubt geschwärztes Blut aus selbstverübter Schlachtung –

doch kurz darauf befiehlt Teukros, obwohl er zunächst vom schmerzlichsten Anblick seines Lebens gesprochen hat (992 f.), den Leichnam des Halbbruders aufzudecken (1003): ”Iq', ™kk£luyon, æj ‡dw tÕ p©n kakÒn. Auf, deck ihn auf, damit ich das ganze Übel sehe –

und rückt das grausige Geschehen damit allen Beteiligten – und den Zuschauern – wieder ganz nah.58 4. Es liegt in der Natur der Sache, daß der zerstörerische Akt in der Regel während er sich ereignet und danach präsentiert bzw. berichtet und gezeigt wird. Es gibt jedoch, wie zum Abschluß noch gezeigt werden soll, auch interessante direkte und indirekte Formen der Evokation tragischer Gewalt vor der Tat. Eher selten sind direkte vorwegnehmende Beschreibungen dessen, was geschehen wird. Auch hier bietet der Aischyleische Agamemnon das wirkungsvollste Beispiel: Kassandra läßt den Zuschauer in immer konkreter werdenden Bildern die Ermordung Agamemnons im Bad in allen ihren Phasen der Vorbereitung und Durchführung der Tat voraus erleben (1100– 1129): 58 Zu der Iuxtaposition von Abwehr des Schrecklichen als „unaussprechbar und extensiver und detaillierter Beschreibung“ vgl. D. Clay: Unspeakable Words in Greek Tragedy. In: AJPh 103 (1982), S. 288–92; Ch. Segal: Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text, Ithaca 1986, S. 97–99.

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Zunächst spricht die Seherin dunkel davon, daß eine ungenannte Person neues Leid ersinnt (1102): mšg' ™n dÒmoisi to‹sde m»detai kakÒn. Großes Übel ersinnt sie im Palast.

Dann wendet sie sich direkt, wenn auch weiter ohne Klytaimestra beim Namen zu nennen, an die Mörderin (1107–11): „ë t£laina, tÒde g¦r tele‹j; tÕn Ðmodšmnion pÒsin loutro‹si faidrÚnasa – pîj fr£sw tšloj; t£coj g¦r tÒd' œstai: prote…nei dä ceˆr' ™k cerÕj Ñregomšna. Du Unselige! Das also hast du vor? Den Gefährten deines Bettes, deinen Mann Im Bade waschend – wie tue ich das Ende kund? Gleich ist es so weit! Sie streckt schon die Hand aus nach vorn und noch eine Hand, drängend …

Dann sieht sie das Gewand, das Klytaimestra über den Gatten wirft, vor sich (1114 f.): Ÿ œ, papa‹ papa‹, t… tÒde fa…netai; à d…ktuÒn t… g' “Aidou. Da, da – was zeigt sich da? Ein Fangnetz des Hades!

Und schließlich nimmt sie nach einem letzten warnenden Schrei (1125 f.): « «, „doÝ „doÚ: ¥pece tÁj boÕj tÕn taàron: Halt, halt! Sieh doch! Sieh! Halte fern von der Kuh den Stier! –

die tragische Tat voraus (1126–28): ™n pšploisin melagkšrJ laboàsa mhcan»mati tÚptei: p…tnei d' ™nÚdrJ teÚcei. In Gewändern gefangen trifft sie ihn mit dem schwarzen Horn, ihrem tückischen Werkzeug. Er fällt in das Wasser des Beckens.

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Die visuelle Kraft dieser Prophezeiung und ihre emotionale Wucht könnten von einer direkten Darstellung des Mords schwerlich übertroffen werden.59 Vergleichbare direkte Vorwegnahmen sind rar.60 Aber natürlich arbeiten alle drei Tragiker mit mehr oder weniger detaillierten und raffinierten Formen indirekter Vorbereitung auf das ,zerstörerische oder schmerzliche Übel‘.61 Aristoteles weist in den Analysen von Eleos und Phobos in der Rhetorik darauf hin, daß auch die Anzeichen der Dinge, die die tragischen Emotionen auslösen, furchterregend sind. In einem weiteren Sinn könnte man dazu alle Formen tragisch-ironischer Vorverweise auf die Katastrophe rechnen, mit denen die Tragiker die „Erwartungsangst“ des Zuschauers (wie Bohrer das genannt hat)62 produzieren. So läßt Euripides z. B. in der Medea den Zuschauer mit angehaltenem Atem verfolgen, wie Medea allmählich begreift, daß sie Jason nur dann völlig vernichten kann, wenn sie die gemeinsamen Kinder tötet. Szene für Szene rückt die Möglichkeit, daß 59 Die Farbigkeit und Intensität der Vision werden dadurch gesteigert, daß Kassandra unmittelbar vor der Prophezeiung des Mords weitere Schreckensbilder evoziert hat, indem sie den Palast der Atriden als ein „blutiges Schlachthaus“ (1092) bezeichnet, vor dem die beiden Knaben, die Atreus geschlachtet und seinem Bruder vorgesetzt hat, sitzen (1095–97). Der Schrecken, den die Prophezeiung beim Zuschauer auslöst, ist, wie Bohrer (s. u. Anm. 62, S. 373, 382 f.) mit dem instruktiven Hinweis auf Caravaggios Medusa betont, durch das Entsetzen Kassandras und die Angst des Chors intensiviert. Im zweiten Teil ihrer Prophezeiung (1178 ff.) reichert Kassandra das Schreckensszenario mit weiteren Bildern an: mit dem Chor der Erinyen, der bluttrunken im Palast tanzt und von der cena Thyestea singt (1186–93) und mit den kleinen Söhnen des Thyestes, die vor dem Palast sitzen und ihr eigenes Fleisch und Gedärm in Händen halten (1217–22), und mit immer neuen Tiermetaphern und -vergleichen (1224: Aigisthos als feiger Löwe; 1232–33: Klytaimestra als Schlange oder Skylla). 60 Vergleichbar, wenn auch weniger explizit, ist die Vorbereitung des Muttermords in den Choephoren. Der Traum Klytaimestras (523–33) und seine Deutung durch Orest (540–50) weisen auf die Szene voraus, in der Klytaimestra ihrem Sohn gegenübersteht und dem Tod dadurch zu entgehen sucht, daß sie den Sohn mit entblößter Brust daran erinnert, daß sie ihn gesäugt hat (896–99). 61 Natürlich gibt es auch Fälle, in denen die Tragiker ihre Zuschauer nicht auf die bevorstehende physische Gewalttat vorbereiten. So wird z. B. die wohl von Euripides erfundene Blendung des Polymestor am Ende der Euripideischen Hekabe weder direkt noch indirekt angekündigt. 62 K. H. Bohrer: Erwartungsangst und Erscheinungsschrecken. Die griechische Tragödie als Antizipation der modernen Epiphanie. In: Merkur 506 (1991), S. 371–86; es ist allerdings wichtig festzuhalten, daß, wenn Bohrer von Erscheinungsschrecken spricht, die Erscheinung des Schrecklichen im Wort gemeint ist. Der Zuschauer ‚blickt‘ mit dem geistigen Auge auf das durch das plastische Wort evozierte Bild – so wie Perseus die Medusa nur im metallenen Spiegel seines Schilds ansehen kann.

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Medea das Undenkbare tun wird, immer näher, so daß der Zuschauer, der die Kinder im Verlaufe des Stücks mehrere Male sieht, sich den grausigen Kindermord in seiner Phantasie schon lange ausmalt, bevor die Schreie der beiden Knaben aus dem Hause dringen.63 Die direkten und indirekten Formen der evokativen Vorbereitung auf die tragische Tat sind vielfältig: Sie reichen von dunklen Ängsten, Andeutungen und Drohungen bis zu Träumen und ominösen Bildern und Zeichen. Der Aischyleische Agamemnon kann als das Musterbeispiel für diese Technik (und alle ihre Mittel) gelten, die Phantasie des Zuschauers schon lange vor dem Ereignis mit reichem Material für Bilder des drohenden Unheils zu versorgen. Das im Einzelfall gewählte Verfahren ist nur in detaillierten Gesamtinterpretationen der jeweiligen Tragödie darzustellen. Ich beschränke mich im folgenden auf einen interessanten Sonderfall dieser Technik, auf eine indirekte Form der Vorwegnahme der bevorstehenden physischen Gewalt, mit deren Hilfe das, was sich im Hinterszenischen ereignen wird, bereits vorher auf der Bühne symbolisch visualisiert wird: Ein erstes Beispiel findet sich in den Trachinierinnen des Sophokles. Deianeiras Beschreibung, wie sich das Stückchen Wolle, mit dem sie den vermeintlichen Liebeszauber in das Geschenk eingerieben hat, in der Sonne aufgelöst hat, nimmt in bedrängenden Bildern die gräßliche Zerstörung vorweg, die Herakles Körper vernichten wird, sobald er das Gewand anlegt (697–704): æj d' ™q£lpeto, ˜e‹ p©n ¥dhlon kaˆ katšyhktai cqon…, morfÍ m£list' e„kastÕn éste pr…onoj ™kbrèmat' §n blšyeiaj ™n tomÍ xÚlou. toiÒnde ke‹tai propetšj: ™k dä gÁj Óqen proÜkeit' ¢nazšousi qrombèdeij ¢fro…, glaukÁj Ñpèraj éste p…onoj potoà cuqšntoj ™j gÁn Bakc…aj ¢p' ¢mpšlou. Und wie sich’s nun erwärmte, da zerfließt das Ganze formlos und zerbröckelt auf dem Boden, dem Aussehen nach am ehesten vergleichbar, wie du die Späne wohl von einer Säge bemerken kannst, wo Holz geschnitten wird. So lag es da, in sich zusammengefallen, und aus der Erde, wo es gelegen, brodeln klumpige Schäume auf, wie wenn der blauen Herbstfrucht fetter Trank geschüttet wird zur Erde von des Bakchos’ Weinstock. 63 Vgl. z. B. Kaimio (1992) [Anm. 39], S. 35 f.

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Zwei weitere Beispiele aus Tragödien der beiden anderen großen Tragiker seien abschließend etwas ausführlicher vorgestellt: Am Beginn des 4. Epeisodions der Bakchen ruft Dionysos den als Mänade verkleideten Pentheus aus dem Palast und präsentiert dem Chor seiner Anhänger (und dem Publikum) seinen vollständigen Sieg über den jungen König. Der Mann, der sich bei der ersten Begegnung von Mensch und Gott lustig gemacht hat über die weibische Aufmachung des Fremden und damit gedroht hat, ihm die langen Locken abzuschneiden und den Thyrsos wegzunehmen, wünscht sich nun nichts sehnlicher als genauso auszusehen und sich genauso zu bewegen wie eine Mänade. Er läßt sich von Dionysos Frisur und Gewand ordnen und wird schließlich instruiert, wie er den Thyrsos halten muß. Die Komik der sogenannten Verkleidungsszene, in der die Möglichkeiten des klassischen Komödienmotivs ‚Mann in Frauenkleidern‘ voll ausgespielt werden, ist offensichtlich.64 Zugleich aber gehört die Szene zu den tragischsten Momenten der griechischen Tragödie. Das ironische Katz- und Mausspiel, das der Gott von Anfang an mit seinem allzu menschlichen Gegner gespielt hat, erreicht hier seinen Höhepunkt. Nach immer deutlicher werdenden Andeutungen und Hinweisen auf die drohende Bestrafung des Theomachos hat Dionysos am Ende des 3. Epeisodions das Schicksal des Pentheus expressis verbis angekündigt (857–59): ¢ll' emi kÒsmon Ónper e„j “Aidou labën ¥peisi mhtrÕj ™k cero‹n katasfageˆj Penqe‹ pros£ywn: Doch auf, ich will dem Pentheus jetzt den Schmuck anlegen, mit dem er in den Hades ziehen soll, zerrissen von seiner Mutter Hand. …

Der Zuschauer weiß also, was Pentheus im Kithairon erwartet. Die komische Verkleidung ist somit nicht nur der sichtbare Ausdruck für die völlige Vernichtung des Pentheus, der seinen Angriff gegen den Gott und seinen Kult verloren hat und selber wie dieser oder wie eine der Mänaden aussieht. Die Szene ist zugleich das rituelle Vorspiel für den Sparagmos: „Before the victim is torn, it must be consecrated by a rite of investiture.“65 Im Gewand des Gottes und mit Thyrsos und Mitra wird Pentheus gleichsam zum Stellvertreter des Gottes. Nichtsahnend spricht er seine Weihung 64 Vgl. B. Seidensticker: Palintonos Harmonia. Studien zu komischen Elementen in der giechischen Tragödie, Göttingen 1982, S. 123–29. 65 E. R. Dodds: Euripides’ Bacchae, Oxford 21962, S. XXV–XXVIII, hier: S. XXVIII.

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als Opfer66 selber aus: soˆ g¦r ¢nake…mesqa d» (V. 934)67. Schon vor dem grausigen Botenbericht von Pentheus’ Tod erscheint so – in der Imagination des Zuschauers – hinter dem komischen Bild des als Frau verkleideten Königs das drohende Bild seiner Zerreißung. Die räumlich und zeitlich noch ferne Gewalt ist so bereits ganz nahe.68 Ich schließe – so wie ich begonnen habe – mit einer berühmten Szene aus dem Aischyleischen Agamemnon: Nach der ersten förmlichen Begrüßung fordert Klytaimestra den heimgekehrten Gatten dazu auf, vom Wagen zu steigen und über eine breite Bahn von purpurroten Gewändern (bzw. Stoffen), die die Dienerinnen auf ihren Befehl vor dem Haus ausgebreitet haben, in den Palast zu gehen (905–13). Agamemnon weiß ganz genau, daß er mit dieser Geste die dem Menschen gesetzten Grenzen überschreitet (914–30), läßt sich schließlich aber doch überreden. In der kurzen Szene werden – in Wort und Bild – die Wurzeln des Unheils, das gleich über ihn hereinbrechen wird, noch einmal in Erinnerung gerufen. Die ersten Verse der Überredungs-Stichomythie – mit dem Hinweis auf Agamemnons Bereitschaft, dem Rat eines Sehers zu folgen (933 f.) und mit der von Klytaimestra gezogenen Parallele zu Priamos (935) – und die blutroten Gewänder, über die der König schließlich doch in den Palast schreitet, evozieren das Opfer in Aulis und den Sieg über Troja (und verweisen zugleich auf die mörderische Geschichte des Hauses, vor dem sie liegen). Wie beim blutigen Sieg über Troja überschreitet Agamemnon die dem Menschen gesetzten Grenzen; wie in Aulis tritt er – wie er selber beim Abgang sagt: „den Reichtum des Hauses mit Füßen.“ (948 f.) Zugleich sind die Gewänder aber auch Zeichen für das Blut, das gleich zur Sühne fließen wird, und der verbale Sieg Klytaimestras in dem am Ende der Stichomythie als „Kampf“ apostro66 Die Konzeptualisierung und Verbalisierung von Mord als Opfer, die sich bei allen drei Tragikern findet, ist Gegenstand einer ganzen Reihe von wichtigen Arbeiten zur griechischen Tragödie geworden: F. Zeitlin: The Motif of Corrupted Sacrifice in Aeschylus’ Oresteia. In: TAPhA 96 (1965), S. 463–508; W. Burkert: Greek Tragedy and Sacrificial Ritual. In: GRBS 7 (1966), S. 87–121; H. Foley: Ritual Irony. Poetry and Sacrifice in Euripides, Ithaca/London 1985; P. Pucci: Human Sacrifice in the Oresteia. In: Innovations of Antiquity, hrsg. von R. Hexter and D. Selden, London 1992, S. 513–36; A. Henrichs: Drama and Dromena. Bloodshed, Violence, and Sacrificial Metaphor in Euripides. In: Harvard Studies in Classical Philology 100 (2000), S. 173–88; ders. in diesem Band. 67 Pentheus verwendet anakeimai im Sinne von: „dir habe ich mich anvertraut“. Die Zuschauer hören auch die rituelle Grundbedeutung des Worts: „dir bin ich geweiht“. 68 Das eindrückliche Bild, wie die Bakchantinnen eine Rinderherde zerreißen (Bacch. 737–47), hat der Phantasie des Zuschauers bereits ein beklemmendes Bild des bevorstehenden Sparagmos geliefert.

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phierten Wortstreit (940) nimmt ihren physischen Sieg im Bad voraus. Wie die Verkleidungsszene der Bakchen ist so auch die Teppichszene die symbolische Präsentation des tragischen Mords noch vor seiner physischen Realisierung. Welche Gründe auch immer dazu geführt haben mögen, daß zerstörerische physische Gewalt in der griechischen Tragödie von der Bühne in den hinterszenischen Raum verbannt war: Die griechischen Tragiker haben die sich aus dieser Konvention ergebende Herausforderung genutzt und eine Reihe ästhetisch fruchtbarer und emotional hoch wirkungsvoller Techniken entwickelt, dem Zuschauer die tragische Tat doch so nahe wie möglich zu bringen. Die in immer neuen Variationen durchgespielten Bauformen der Mord-Stichomythie (während der Tat) sowie des Botenberichts und der Ecce-Szenen (nach der Tat) präsentieren das hinterszenische Geschehen dramatisch (Mord-Stichomythie), episch (Botenbericht) und gestisch (Ecce). In allen drei Fällen arbeiten die Tragiker mit einer raffinierten Balance von Distanz und Nähe: – Die Mordstichomythie löst vor allem dann, wenn es zu Ansätzen eines wirklichen Dialogs zwischen Opfern und Zeugen kommt, die Distanz zwischen hinterszenischem Raum und Bühne fast völlig auf und betont zugleich dadurch, daß weder Chor noch andere Zeugen je wirklich eingreifen, die Distanz. – Der Botenbericht reduziert die zeitliche und die oft beträchtliche räumliche Distanz zur tragischen Tat durch die Intensität der sprachlichen Gestaltung, durch die Genauigkeit des Details, durch die Farbigkeit und Anschaulichkeit der Schilderung und durch die dramatische Lebendigkeit, mit der er das Geschehen vor das geistige Auge des Zuschauers rückt. – Die Ecce-Szenen rufen durch die Präsentation der Opfer die physische Gewalt auf, die die Mord-Stichomythie evoziert und der Botenbericht beschrieben haben, und distanzieren zugleich die durch den Zeigegestus geschaffene Nähe durch Reflektion und Wertung des Geschehenen. – Zu diesen topischen Szenen, die dem Zuschauer die tragische Tat, während sie sich ereignet und danach, nahe bringen, kommen verschiedene Techniken, die sich drohend nähernde physische Gewalt schon vor ihrer Realisierung zu evozieren. Das geschieht selten in der besonders eindrücklichen Form der vorwegnehmenden Vorhersage – wie in Kassandras Visionen – oder in symbolischen Ankündigungen – wie der Teppichszene des Agamemnon; die Regel ist ein sich langsam steigernder Aufbau von Erwartungsangst durch immer deutlicher werdende Andeutungen und Zeichen.

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Der raffinierte Aufbau von sich langsam steigernder Erwartungsangst und die indirekten Formen der Präsentation der tragischen Tat, während und nachdem sie geschehen ist, rücken das Furchtbare ganz nahe an den Zuschauer heran. Die Distanz, die ihm die dramatische Mimesis im allgemeinen und die besprochenen Bauformen im besonderen lassen, erlaubt ihm, sich das Näherkommende, das Geschehende und das Geschehene in immer neuen und immer bedrängenderen Bildern auszumalen, wie sie der direkte Blick auf die zerstörerische Gewalt nicht produzieren könnte. So erlebt er das Schreckliche aus großer Nähe mit großer Wucht – wie am eigenen Leibe; bleibt aber gleichwohl gerade noch in der Distanz, die es ihm noch möglich macht, das Schillersche Vergnügen an tragischen Gegenständen zu erfahren.

Felix Budelmann (Milton Keynes)

Körper und Geist in tragischen Schmerz-Szenen1 (Übersetzung aus dem Englischen: Ranja Knöbl) Die in der griechischen Tragödie gezeigten Szenen körperlichen Schmerzes sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Physischer Schmerz ist eng verwandt mit körperlicher Gewalt und beide sind Aspekte des Schrecklichen.2 Doch anders als die Gewalt, die gewöhnlich Szenen vorbehalten ist, die sich außerhalb des Bühnengeschehens abspielen, wird der Schmerz wiederholt vor den Augen der Zuschauer inszeniert. Schmerz-Szenen stellen die augenfälligste Art physischer Beeinträchtigung von Figuren in der Tragödie dar. Zusätzliche Brisanz gewinnen sie noch auf dem Hintergrund des Strafgerichtssystems im Athen des 5. Jh., das die körperliche Unversehrtheit der Bürger schützte und Körperstrafen im großen und ganzen auf Nicht-Bürger beschränkte.3 Homer ist in diesem Fall ausnahmsweise einmal nicht der ‚Vater der Tragödie‘. Die Darstellung von Schmerz in der Tragödie scheint vielmehr geradezu eine Lücke zu schließen, und vielleicht schließt sie diese sogar ganz bewußt. Detaillierte Beschreibungen grausamer Verletzungen gibt es bei Homer in großer Zahl. Manchmal werden dabei explizit die Qualen des Opfers betont, wie zum Beispiel im Falle Agamemnons, dessen Schmerzen mit den Geburtsschmerzen einer Frau verglichen werden (Il. 11.264–72)4, 1 Mein Dank gilt Bernd Seidensticker, Pat Easterling, Pantelis Michelakis und den Teilnehmern des Open University Online-Seminars für hilfreiche Hinweise, Helen Eastman und Anthony Shuster für ein anregendes Gespräch sowie Simon Harrison, Ashley Clements und Ineke Sluiter für Bibliographiehinweise. 2 Zur Präsentation des Schrecklichen vgl. die Beiträge von S. Goldhill und B. Seidensticker in diesem Band. 3 Zu diesem Aspekt des athenischen Rechts s. Danielle S. Allen: The world of Prometheus. The politics of punishing in democratic Athens, Princeton 2000, Kap. 9. 4 Diskussion der Stelle bei Nicole Loraux: Les expériences de Tirésias. Le féminin et l’homme grec, Paris 1989, S. 40–47.

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oder bei den Schmerzensschreien von Ares und Aphrodite, als sie von Diomedes verwundet werden (Il. 5.343 und 859–60). Doch handelt es sich hierbei um Ausnahmen. In vielen Szenen, die von Verletzungen handeln, wird der Schmerz nicht einmal erwähnt und falls doch, so erscheint er fast nebensächlich. So werden die Schmerzen des Diomedes, als er von Paris getroffen wird, in einem einzigen Vers beschrieben (Il. 11.398), und Glaukos gesteht seinen Schmerzen, als er über seine Verwundung klagt, kaum mehr Raum zu (Il. 16. 517–18). Schmerz wird zwar als menschliche Grunderfahrung anerkannt, und algos ist ein Leitmotiv der homerischen Epen (Il. 1.2; Od.1.4 sowie in zahlreichen Formeln), doch während psychische Schmerzen – wie etwa Achills oder Priamos’ Kummer – ausführlich behandelt werden, wird den physischen Schmerzen in beiden Epen wenig Beachtung geschenkt. Angesichts der Überlieferungslage und dem Verlust großer Teile des epischen Kyklos und der frühen Lyrik (man denke nur etwa an Stesichoros’ Geryon, einem offensichtlichen Schmerz-Kandidaten), können wir darüber, wie innovativ das griechische Drama auf diesem Feld war, kaum eine Aussage treffen. Es steht jedoch fest, daß die Tragödie sich in der Darstellung des Schmerzes deutlich von Homer unterscheidet.

1. Überblick Die beiden am ausführlichsten ausgearbeiteten Schmerz-Szenen, die uns erhalten sind, finden sich bei Sophokles: Herakles’ Qualen in den Trachinierinnen, verursacht durch Nessos’ giftgetränktes Gewand (971–1111) und die krampfartigen Anfälle, die der kranke Fuß des Philoktet in der Mitte des gleichnamigen Stücks auslöst (730–826). Aber auch Euripides inszeniert den Schmerz: Der tödlich verwundete Hippolytos mischt Ausdrücke des Schmerzes in seine Klage (1347–88), und im Rhesos, sei er nun euripideisch oder nicht, verleiht der Wagenlenker in einer Erzählung seinen Schmerzen Ausdruck (728–55; 798–99). Die Wirkung aller dieser Szenen wird durch Berichte von Verletzungen und Schmerzen verstärkt, die sich außerhalb des Bühnengeschehens oder vor dem Beginn des Stücks ereignen (Trach. 765–806; Phil. 180–190 und 260–84; Hipp. 1236–48; Rhes. 793– 99), und man könnte ganz allgemein feststellen, daß Schmerz-Szenen nicht zuletzt der Erweiterung und Sichtbarmachung derjenigen Schmerzen dienen, die nur berichtet werden oder aus den hinterszenischen Schreien eines Gewaltopfers zu erschließen sind.5 5 Vgl. den Beitrag von B. Seidensticker in diesem Band.

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Eine Reihe weiterer Schmerz-Szenen ist sicher verloren. So hat z. B. in Aischylos’ Philoktet Philoktet seinen verwundeten Fuß beklagt (siehe fr. 253–6 Radt);6 Cicero zeigt sich von Sophokles’ Darstellung der Schmerzen des Odysseus, wahrscheinlich im Odysseus Akanthoplex, beeindruckt (Tusc. 2.49) und übersetzt auch eine Rede aus dem Befreiten Prometheus, in der Prometheus ausgiebig seine Qualen beschreibt (Tusc. 2.23–6). In anderen Fällen können wir nur spekulieren. Eine Plutarch-Stelle erlaubt die Annahme, daß in Euripides’ Ixion Ixion auf dem Wagenrad zu sehen war (de aud.poet.19e); allerdings ist unklar, ob seine Schmerzen im Vordergrund standen; Auge gebar ihr Kind in einem Tempel (Eur. fr.266 Kannicht), und Aristophanes’ Aischylos beklagt sich darüber, daß Euripides gebärende Frauen auf der Bühne gezeigt habe (katšdeixe, Ran. 1079–80) – was wir uns sowohl mit als auch ohne Präsentation von Geburtsschmerzen auf der Bühne vorstellen können. Zahlreiche weitere verlorene Stücke behandelten Mythen von Figuren, die extreme Schmerzen erleiden mußten (wie z. B. Niobe), ohne daß wir wissen, ob die Dramatiker den Schmerz ins Zentrum einer Szene gerückt haben. Daraus folgt, daß wir kaum gesicherte Aussagen darüber treffen können, wie häufig Schmerz auf der Bühne dargestellt worden ist. Was wir aber festhalten könnnen ist, daß dies offenbar häufig genug geschah, um die Alte Komödie immer wieder zu Parodien anzuregen. Aristophanes bringt den Schmerz gleich in mehreren Stücken in mehr oder weniger klar als paratragodisch erkennbarem Tonfall auf die Bühne (Ach. 1190–1217; Nub. 707–16; Thesm. 221–4; Ran. 642–69).7 Schließlich gibt es noch zahlreiche Grenzfälle. Schmerz fällt unter die Rubrik nosos im weitesten Sinne, und es ist oft eine Frage der Interpretation durch Regisseur, Schauspieler und Zuschauer, wie stark der Schmerz betont wird. So besteht z. B. Einvernehmen darüber, daß Schmerz ein wichtiges Element beim Auftritt des geblendeten Polymestor in der Hekabe ist, der schreiend auf die Bühne kriecht, und doch ist in dem Text nicht von 6 Zum Aischyleischen Philoktet siehe Carl Werner Müller: Euripides, Philoktet: Testimonien und Fragmente, Berlin 2000, S. 44–47 mit weiteren Verweisen. Laut Müller ist die Schmerzdarstellung auf den Prolog beschränkt; es gibt keine akute Schmerz-Szene wie bei Sophokles. Die Darstellung des Schmerzes im Euripideischen Philoktet (wahrscheinlich eher im hinterszenischen Raum) diskutiert Müller auf S. 415–18. 7 In der schwierigen Stelle Poetik 1452b11–13 bezieht sich Aristoteles vielleicht auf Schmerz-Szenen. Aristoteles spricht von Todesfällen ™n tù fanerù, Schmerz (periwdun…ai) und Verwundungen als Fällen von pathos. Zur Bedeutung von ™n tù fanerù siehe die Kommentare von Lucas und Whalley ad. loc.

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Schmerz die Rede (1049–1108). Das Ende des Oedipus Rex ist in mancher Hinsicht ähnlich, geht aber nicht ganz so weit. In der Eingangsszene des Gefesselten Prometheus beschreiben Kratos und Hephaistos ausführlich, wie Prometheus gefesselt und durchbohrt wird, und obgleich der Text sich auf die gewaltsame Aktion und die Empörung des Opfers konzentriert, bezweifle ich, daß es viele Inszenierungen des Stücks geben wird, die Prometheus’ Schmerz nicht auch auf die eine oder andere Weise zum Ausdruck bringen (55–77). Später im Stück beklagt Io, was die Bremse ihr antut, die sie in den Wahnsinn treibt. Kern ihres Leidens ist der Wahnsinn, doch der Stich der Bremse fügt ihr auch körperliche Schmerzen zu (561–886). Aus diesem Überblick ergeben sich drei allgemeine Punkte: a) Die Ursachen für Schmerzen in der Tragödie sind sehr variabel. Schmerz kann z. B. durch Wagenunfälle, menschliche Gewalt, Auto-Aggression, ein Insekt, einen Adler, eine Schlange oder ein Kleidungsstück verursacht werden. Was wir zu sehen bekommen, ist manchmal der Ausbruch einer chronischen Krankheit, manchmal eine akute Verletzung. Das Opfer kann sterben oder geheilt werden; er oder sie kann Protagonist oder Nebenfigur sein, und mehr oder weniger sympathisch. Schmerz kann das Zentrum einer ausführlichen Szene bilden, aber auch nur indirekt oder en passant erzählt werden; und die Szene kann am Anfang, in der Mitte oder gegen Ende des Stücks erscheinen. Diese Variabilität macht Schmerz-Szenen zweifellos attraktiv für die Tragiker, bedeutet aber zugleich, daß man mit Verallgemeinerungen sehr vorsichtig sein muß. b) Schmerz-Szenen könnten, wie Karl Kiefer in der bis dato ausführlichsten Studie zum Thema dargelegt hat, eine eher späte Entwicklung sein.8 Kiefer geht nicht auf den Prometheus ein und betont vielleicht nicht genug, daß ein Großteil der Tragödien verloren ist; es ist jedoch bemerkenswert, daß Sophokles und Euripides den Großteil des relevanten Materials bieten. Es ist durchaus naheliegend, daß die zunehmende Ausbreitung des medizinischen Diskurses und der Heilkulte in der zweiten Hälfte des 5. Jh. die Tragiker in ihrer Suche nach immer neuen Formen des Ausdrucks dazu animiert hat, auf der Bühne zunehmend auch Darstellungen von Schmerz zu zeigen.

8 Karl Kiefer: Körperlicher Schmerz und Tod auf der attischen Bühne, Heidelberg 1909.

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c) Der Überblick suggeriert die Unterscheidung von körperlichem und psychischem Schmerz. Einerseits ist diese Unterscheidung naheliegend und wichtig. So leidet Philoktet die physischen Schmerzen einer körperlichen Wunde, während Aias mit geistig-psychischen Schmerzen zu kämpfen hat, als er realisiert, was er getan hat. Auf der anderen Seite kann die Grenze aber auch verschwimmen. Auf Philoktet werde ich noch ausführlich zurückkommen, aber schon jetzt deuten Polymestor, Ödipus, Prometheus und Io daraufhin, daß physischer und geistig-psychischer Schmerz sich überlagern können und schwer zu trennen sind. Eben diese Überlagerung beider Arten von Schmerz wird ein zentrales Thema meiner Überlegungen sein.

2. Ansatz: Schmerz als psycho-physisches Phänomen Schmerz-Szenen haben eine lange Forschungsgeschichte. Bereits im 18. Jh. stand Sophokles’ Philoktet zusammen mit der Laokoon-Statue im Zentrum der Debatte zwischen Winckelmann, Lessing, Herder und Goethe darüber, wie Schmerz darzustellen sei – eine Debatte, die von Fragen der Angemessenheit und Theorien über die Differenz zwischen Literatur und bildender Kunst geprägt war.9 Ästhetische Fragen, insbesondere die Frage, in welchem Maße eine naturalistische Darstellung von Schmerz möglich und wünschenswert sei, standen auch im Mittelpunkt der Arbeit von Kiefer zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In der Mitte des Jahrhunderts verlagerte sich dann die Aufmerksamkeit von Fragen der Darstellung zur thematischen Relevanz von Schmerz-Szenen. Speziell vom New Criticism beeinflußte Wissenschaftler betonten, daß Schmerz-Szenen auf mehreren Ebenen in die thematische Gesamtstruktur der Stücke eingebunden sind und daß die Versehrtheit und der Schmerz der Figuren symbolische Funktionen erfüllen können.10 In jüngerer Zeit haben sich die Fragestellungen weiter geändert. Froma Zeitlin, Nicole Loraux und Richard Hawley haben Fragen von 9 Die Literatur hierzu ist für den Nicht-Experten schwer zu überschauen; H. B. Nisbet: Laocoon in Germany. The reception of the group since Winckelmann. In: Oxford German Studies 10 (1979), S. 22–63, und Richard Brilliant: My Laocoon. Alternative claims in the interpretation of artworks, Berkeley 2000, Kap. 3 haben sich für meine Überlegungen als besonders hilfreich erwiesen. 10 Penelope Biggs: The disease theme in Sophocles’ Ajax, Philoctetes and Trachiniae. In: Classical Philology 61 (1966), S. 223–35 ist hierfür ein besonders gutes Beispiel, doch ist dieser Ansatz für die meisten Interpreten der 60er, 70er und 80er Jahre zumindest im englischsprachigen Raum charakteristisch.

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Körperlichkeit und Gender besprochen, wobei sie auf je unterschiedliche Weise argumentiert haben, daß die griechische Tragödie den Blick auf den männlichen Körper lenkt, um Normen des Maskulinen herauszuarbeiten und in Frage zu stellen. Mit einer etwas anderen Stoßrichtung hat Kostas Valakas das Potential des Körpers betont, physische und psychische Zustände auszudrücken.11 Und schließlich wurde die Darstellung von Schmerz in der griechischen Tragödie, zusammen mit anderen Aspekten von Krankheit, auf die Verwendung medizinischer Fachsprache, Inhalte und Praktiken hin untersucht.12 Mein Ansatz ist den meisten dieser Diskussionen verpflichtet, speziell den Ansätzen von Valakas und Hawley, doch möchte ich der Debatte einen neuen Blickwinkel auf die spezifischen Charakteristika des Phänomens Schmerz und seiner Darstellung hinzufügen. Trotz aller komplexer Zusammenhänge von Schmerz-Szenen mit anderen, weiterreichenden Aspekten der griechischen Tragödie und der Kultur des 5. Jh. im weiteren Sinne, denke ich, ist es aufschlußreich, diese Szenen aus Perspektive des Schmerzes als einer spezifischen Gefühlsempfindung mit spezifischen Eigenschaften zu betrachten. Ich möchte daher zwei Aspekte des Schmerzes hervorheben, die in jüngeren Arbeiten aus verschiedenen Disziplinen wiederholt auftauchen und die m. E. von Bedeutung für ein angemessenes Verständnis dafür sind, wie die antiken Tragiker mit dem Schmerz auf der Bühne arbeiten. Der erste Aspekt lautet: Schmerz ist ein zutiefst körperliches Phänomen. Das mag offensichtlich sein und angesichts des verstärkten Interesses am Körper, das sich in jüngerer Zeit in den meisten geisteswissenschaftlichen 11 Froma I. Zeitlin: Playing the other. Theater, theatricality, and the feminine in Greek drama. In: Nothing to do with Dionysos? Athenian drama in its social context, hrsg. von John J. Winkler und Froma I. Zeitlin, Princeton 1990, S. 63–96; Loraux (1989) [Anm. 4], bes. S. 47–53; Richard Hawley: The male body as spectacle in Attic drama. In: Thinking men: masculinity and its self-representation in the classical tradition, hrsg. von Lin Foxhall und John Salmon, London 1998, S. 83–99; Kostas Valakas: The use of the body by actors in tragedy and satyr-play. In Greek and Roman actors: aspects of an ancient profession, hrsg. von Pat Easterling und Edith Hall, Cambridge 2002, S. 69–92. Auf die unveröffentlichte Ph. D. thesis von Marla Carlson: Performative pain: building culture on the bodies of actors and artists, City University of New York 2002 wurde ich zu spät aufmerksam. 12 Jennifer Clarke Kosak: Therapeutic touch and Sophokles’ Philoktetes. In: Harvard Studies in Classical Philology 99 (1999), S. 93–134; Alessia Guardasole: Tragedia e medicina nell’Atene del V secolo a. C., Neapel 2000, insbesondere S. 181–92.

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Disziplinen beobachten läßt, nicht eben originell. Doch gilt das Hauptaugenmerk dieses Interesses – zumal dort, wo es der Tragödie gilt – dem Körper als sozialem Konstrukt. Schmerz ist zunächst einmal kein Konstrukt. Er gehört zur körperlichen Grundausstattung des Menschen und ist in vieler Hinsicht ein universelles Phänomen. Lediglich Personen mit einer angeborenen Schmerzunempfindlichkeit empfinden keinen Schmerz (und werden in Folge davon normalerweise nicht sehr alt); für alle anderen ist der Schmerz intensiv präsent. Diese Universalität des Schmerzes verbindet uns mit den Griechen und verbindet die Zuschauer aller Epochen mit den Charakteren auf der Bühne. Terry Eagleton hat das sehr einprägsam ausgedrückt: It is surely true that to ask, say, why we feel sympathy for Philoctetes is a pseudoproblem bred by bogus historicism. We feel sympathy for Philoctetes because he is in agonizing pain from his pus-swollen foot. […] There is nothing hermeneutically opaque about Philoctetes’ hobbling and bellowing. […] As far as his agony goes, we understand Philoctetes in much the same way as we understand the afflictions of those around us.13

Man muß hier allerdings gleich betonen, daß das Theater dieses intuitive Verständnis des Schmerzes anderer verkompliziert, indem es nicht mit realem, sondern mit dargestelltem Schmerz operiert. Was sich aus dieser Komplexität für Konsequenzen ergeben, werden wir später untersuchen, doch der Kern von Eagletons These behält seine Gültigkeit: Da Schmerz eine menschliche Grunderfahrung ist, erreicht Philoktet potentiell Zuschauer unterschiedlichster individueller und kultureller Prägung. Jedoch – und das ist das zweite Charakteristikum des Schmerzes, das ich hervorheben möchte – sollte die Körperlichkeit des Schmerzes nicht so verstanden werden, daß sie eine psychisch-geistige Dimension ausschließt oder in Opposition zum Psychisch-Geistigen steht. Schmerz entsteht im Zusammenspiel von Körper und Geist. Man muß deshalb mit Aussagen über die Universalität des Schmerzes vorsichtig sein. So differieren z. B. die Ansichten darüber, was unvermeidbarer, angemessener, aushaltbarer oder gar erstrebenswerter Schmerz ist von Kulturkreis zu Kulturkreis und von Individuum zu Individuum beträchtlich. Schmerz ist ein kulturspezifisches Phänomen. Doch das ist nur ein Aspekt seiner psychisch-geistigen Dimension. Medizin, Biologie, Philosophie und Sozialwissenschaften haben alle dazu beigetragen, daß die einst so kategorische Scheidung von Körper und Geist nicht mehr zu halten ist. Nur noch wenige bestreiten inzwischen, daß auch der Geist eine materielle Grundlage hat, und das macht sich auch 13 Terry Eagleton: Sweet violence. The idea of the tragic, Oxford 2003, S. XIV.

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beim Schmerz bemerkbar.14 Die Schmerzforschung hat sich durch die Erkenntnis, daß Gewebeschädigungen und Schmerzempfindung nicht vollständig miteinander korrelieren, grundlegend gewandelt. Phantomschmerzen (wie sie von über der Hälfte aller Patienten empfunden werden, die sich einer Amputation unterziehen müssen), Schmerzfreiheit in den ersten Minuten nach der Verletzung (wie sie z. B. von der großen Mehrheit der 73 israelischen Soldaten berichtet worden ist, die nach schweren Verwundungen im Jom Kippur-Krieg für eine Studie befragt wurden) und Placebo-Effekte (die derart beträchtlich sind, daß vor der Zulassung eines neuen Medikaments der Nachweis verlangt wird, daß seine Wirkung größer ist als das Placebo) illustrieren, was die medizinische Forschung zweifelsfrei gezeigt hat: Gehirn und zentrales Nervensystem spielen bei Entstehung, Entwicklung und Abklingen von Schmerz eine erhebliche Rolle. Die International Association for the Study of Pain definiert daher Schmerz als „an unpleasant sensory and emotional experience associated with actual or potential tissue damage, or described in terms of such damage.“15 Das Zusammenspiel von Körper und Geist im Schmerz hat viele Facetten, die nicht nur für Humanbiologen oder Medizinwissenschaftler, sondern auch für Ärzte, Patienten und Pflegepersonal, für die Sozial- und Geisteswissenschaften – und schließlich auch für die Interpretation der griechischen Tragödie von Bedeutung sind. Zum einen ist da das psychische Leiden, das mit chronischen Schmerzen einhergeht. Eines der häufigsten Themen in der Schmerzliteratur ist der Versuch, „den Mythos der beiden Schmerzarten“ (David Morris’ vielzitierter Ausdruck) zu demontieren.16 Schmerz quält Patienten nicht nur in Folge von Gewebeschädigungen, sondern auch mit Fragen wie „Warum gerade ich?“, „Was ist die 14 Ich stütze mich in diesem Abschnitt hauptsächlich auf populärwissenschaftliche Werke: Ronald Melzack und Patrick D. Wall: The challenge of pain, Harmondsworth 21991 sowie Patrick D. Wall: Pain. The science of suffering, London 1999. Melzack und Wall sind die prominentesten Vertreter der Schmerzforschung. Darüber hinaus habe ich drei von Nicht-Medizinern verfaßte Bücher, die zahlreiche soziale und literarische Aspekte von Schmerz behandeln, als anregend und hilfreich empfunden: Elaine Scarry: The body in pain. The making and unmaking of the world, New York/Oxford 1985 ; David B. Morris: The culture of pain, Berkeley 1991 und Marni Jackson: Pain. The science and culture of why we hurt, London 2003. Roselyne Rey: Histoire de la douleur, Paris 1993, liefert eine synoptische Geschichte des Schmerzes. 15 http://www.iasp-pain.org/terms-p.html#Pain, Zugriff zuletzt am 26. August 2005. 16 ,Myth of two pains‘; Morris (1991) [Anm. 14], S. 9. Valerie Gray Hardcastle: The myth of pain, Cambridge/MA 1999 und Wall (1999) [Anm. 14], Kap. 2 führen den Angriff auf diesen Mythos aus philosophischer bzw. medizinischer Perspektive.

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Ursache?“, „Wird das jemals aufhören?“ Derlei Fragen bieten die Grundlage für das, was oft als „Schmerzerzählungen“ (pain narratives) bezeichnet wird. Langzeitpatienten berichten von ihren Bemühungen, ihrem Leiden einen Sinn abzugewinnen. Schmerz vergeht zwar nicht, wenn man seine Ursache und seinen Verlauf kennt, doch fügt die Ohnmacht angesichts des Unvermögens, sich ein kohärentes Bild zu machen, dem eigentlichen Schmerz eine weitere Dimension des Leidens hinzu.17 Die Bedeutung von „Schmerzerzählungen“ ist eng mit der Schwierigkeit verknüpft, Schmerz zu messen. Schmerz ist ein innerliches Phänomen und als solches nahezu unmöglich von außen zu beobachten. Dies gilt für unsere Alltagserfahrung, es gilt aber – mehr oder minder – auch in Krankenhäusern mit High-Tech-Apparaturen. Es gibt kein Schmerz-Thermometer. Wir verlassen uns, wenn wir die Schmerzen anderer Menschen einschätzen wollen, auf Verhalten und sprachliche Äußerungen. Eine blutende Wunde signalisiert unmittelbar Schmerz, doch Untersuchungen haben gezeigt, daß unser intuitives Verständnis vom Grad der Schmerzempfindung anderer letztlich darauf beruht, was wir angesichts bestimmter Verletzungen oder Krankheiten für ein angemessenes Ausmaß an Schmerz halten, und daß das meistens nicht mit dem Schmerzempfinden der betroffenen Personen übereinstimmt. Die Reaktionen auf den Schmerz anderer werden in der Antike anders ausgesehen haben als unsere heutigen, doch alle Gesellschaften stehen vor dem gleichen Problem: So universell der Schmerz auch ist; er ist und bleibt doch eine verborgene und private Angelegenheit. Sogar die Sprache kann beim Schmerz schnell an ihre Grenze kommen. Die Schwierigkeit, Schmerz in Worten auszudrücken, ist ein Topos der einschlägigen Literatur.18 In diesem Zusammenhang wird gern Virginia Woolf zitiert: 17 Das Standardwerk über Krankheitsgeschichten ist Arthur Kleinman: The illness narratives. Suffering, healing, and the human condition, New York 1988, mit drei Fällen zum Thema Schmerz (Kap. 3–5); zum Schmerz speziell siehe Linda C. Garro: Chronic illness and the construction of narratives. In: Pain as human experience. An anthropological perspective, hrsg. von Mary-Jo Delvecchio Good et al., Berkeley 1992, S.100–37 und Robert Kugelmann: Complaining about chronic pain. In: Social Science and Medicine 49 (1999), S. 1663–76. 18 Die meistzitierte Formulierung des Problems findet sich bei Scarry (1985) [Anm. 14], S. 3–11. Zwei jüngere Beiträge zum Thema mit ausführlichen transkribierten Interviews sind Byron J. Good: A body in pain – the making of a world of chronic pain. In: Pain as human experience. An anthropological perspective, hrsg. von Mary-Jo Delvecchio Good et al., Berkeley 1992, S. 29–48, und Jean Jackson: Chronic pain and the tension between the body as subject and object. In: Embodiment and experience. The existential ground of culture and self, hrsg. von Thomas J. Csordas, Cambridge 1994, S. 201–28, bes. S. 212–22.

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English, which can express the thoughts of Hamlet and the tragedy of Lear, has no words for the shiver and the headache. It has all grown one way. The merest schoolgirl, when she falls in love, has Shakespeare or Keats to speak her mind; but let a sufferer try to describe a pain in his head to a doctor language at once runs dry. There is nothing ready made for him.19

Extremere Formen dieses Arguments, die bei Virginia Woolf selbst nicht zu finden sind, stießen in letzter Zeit zurecht auf Kritik.20 Es bleibt jedoch richtig, daß Schmerz oftmals schwer zu beschreiben ist. Nicht nur die Poesie, auch die Alltagssprache bedient sich der Metapher. Der McGillFragebogen, das medizinische Standard-Instrument zur Schmerzanamnese, ist voll von Wörtern wie „stechend“, „nagend“, „quälend“. So direkt physisch Schmerz auch empfunden wird, die Ausdrücke, derer wir uns bedienen, um ihn zu beschreiben, sind oft Metaphern. Einerseits erlaubt uns die Körperlichkeit von Schmerzen, auf der Grundlage unserer eigenen Körpererfahrung (siehe Terry Eagletons Worte zum Philoktet) die Schmerzen anderer intuitiv zu begreifen; andererseits macht die geistig-seelische Dimension des Schmerzes diesen für andere unsichtbar und nahezu unkommunizierbar. Dieses Paradox liegt, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen möchte, nicht nur unserer Alltagserfahrung im Umgang mit Schmerz zugrunde, sondern auch der Art und Weise, wie Schmerz in der griechischen Tragödie repräsentiert wird. Die Vorstellung einer klaren Trennung von Körper und Geist wird oft auf Descartes zurückgeführt. So irreführend solche definitive Zuschreibung auch sein kann, sicher ist, daß im antiken Griechenland fließendere Begriffe und Vorstellungen von Körper und Geist herrschten als im Europa des 17.–20. Jahrhunderts. Seit Homer können Wörter wie algos, ponos, odyne sowohl körperliche als auch psychisch-geistige Bedeutung annehmen.21 Was wir gern Geisteskrankheit oder Wahnsinn nennen, wurde nicht als kategorisch anders von dem gesehen, was wir als körperliche Krankheit bezeichnen. Ruth Padel hat die Sprache, der sich die Tragödie 19 Virginia Woolf: „On being ill“. In: Collected essays, London 1967, Bd. 4, S. 194. 20 Lucy Bending: The representation of bodily pain in late nineteenth-century English culture, Oxford 2000, Kap. 3. 21 Die Konnotationen unterschiedlicher Worte aus dem Wortfeld „Schmerz“ sind komplex. Überlegungen zum Sprachgebrauch des 5. Jh. finden sich bei Guardasole (2000) [Anm. 12], S. 189–90 und in Hordens und Kings Aufsätzen in Anm. 24; speziell zu Sophokles siehe Marcos Martínez Hernández: El campo léxico de los sustantivos de dolor en Sófocles. Ensayo de semántica estructural-functional. 2 Teile. In: Cuadernos de filología clásica 13 (1977), S. 33–112 und Cuadernos de filología clásica 14 (1978), S. 121–69.

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für die Beschreibung von geistigen Zuständen bedient, eingehend untersucht und sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen, die zahlreichen physischen und biologischen Ausdrücke, die zur Beschreibung mentaler Zustände, inklusive des Wahnsinns, in der griechischen Tragödie gebräuchlich sind, als „bloße Metaphern“ abzutun.22 Für die Hippokratischen Schriften zieht Beate Gundert den Schluß, daß Körper und Geist, „while distiguished emperically by being related to different types of phenomena, are ultimately accounted for by the same explanatory model: human nature (physis), which embraces the totality of bodily structures, physiological processes, and psychic events.“23 Der Schmerz spielt im Denken der Hippokratischen Schriften keine große Rolle und wird für gewöhnlich als Symptom oder Begleiterscheinung einer Krankheit behandelt. Allein deshalb kann man die heutige medizinische Forschung nicht ohne weiteres auf die Antike anwenden. Vieles in den antiken Anschauungen zum Thema Schmerz ist der modernen Medizin fremd. Wichtiger aber als solche Unterschiede ist für die Thematik dieses Aufsatzes, daß wegen der weniger ausgeprägt dualistischen Sichtweise von Körper und Geist ein „Mythos der beiden Schmerzarten“, wie er heute kritisiert wird, in der Antike nicht entstehen konnte.24 Ich verstehe diesen Anknüpfungspunkt zwischen zeitgenössischen und antiken Ansichten über den Schmerz als eine Bestätigung meines Vorhabens. Ich möchte die beiden weitgefaßten Charakteristika von Schmerz, die ich beschrieben habe – seine Körperlichkeit und die intrinsische Verbindung dieser Körperlichkeit mit geistig-psychischen Prozessen (inklusive der diversen Konsequenzen, die solch eine Verbindung mit sich bringt) – verwenden, um Schmerz-Szenen in der griechischen Tragödie zu diskutieren.

22 Ruth Padel: In and out of the mind. Greek images of the tragic self, Princeton 1992, insbesondere Kap. 2. 23 Beate Gundert: Soma and psyche in Hippocratic medicine. In: Psyche and soma. Physicians and metaphysicians on the mind-body problem from antiquity to enlightenment, hrsg. von John P. Wright and Paul Potter, Oxford 2000, S. 13–35, hier: S. 35. 24 Zum Schmerz in den Hippokratischen Schriften siehe Peregrine Horden: Pain in Hippocratic medicine. In: Religion, health and suffering, hrsg. von John R. Hinnells and Roy Porter, London/New York 1999, S. 295–315, und Helen King: Chronic pain and the creation of narrative. In: Constructions of the classical body, hrsg. von James I. Porter, Ann Arbor 2002, S. 269–86.

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3. Die Darstellung von Schmerz Ich werde im folgenden mehrere Stücke heranziehen, aber eine Passage aus der Mitte der Schmerz-Szene des Philoktet – als Musterbeispiel – detailliert behandeln: Der erste Schmerzanfall ist abgeklungen und Philoktet hat Neoptolemos seinen Bogen zur Aufbewahrung gegeben, als der zweite Anfall ausbricht (782–97; Übers. Wolfgang Schadewaldt): «««« dšdoika