Dersim – Geographie der Erinnerungen: Eine Untersuchung von Narrativen über Verfolgung und Gewalt 9783110630213, 9783110627602

The book presents narratives that commemorate crimes of violence in modern Turkey. It focuses on Dersim, a mountain regi

580 101 1MB

German Pages 335 [338] Year 2019

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
Anmerkungen zur Transkription und Übersetzung
1. Einleitung
2. Begriffe und theoretischer Rahmen
3. Methodisches Vorgehen
4. Forschungsstand
5. Rekonstruktionen von Vergangenheiten: orale Tradition, türkisch-nationales Geschichtsnarrativ und Leugnungsdiskurs
6. Der hegemoniale Leugnungsdiskurs zu moderner Gewalt in Dersim
7. Repräsentationen von Vergangenheiten in Dersim
8. Schluss
9. Bibliographie
Anhang: Karte von Dersim, Türkei
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Dersim – Geographie der Erinnerungen: Eine Untersuchung von Narrativen über Verfolgung und Gewalt
 9783110630213, 9783110627602

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Annika Törne Dersim – Geographie der Erinnerungen

Worlds of Islam – Welten des Islams – Mondes de l’Islam

Im Auftrag der Schweizerischen Asiengesellschaft – On behalf of the Swiss Asia Society – Au nom de la Société Suisse-Asie Editorial Board Bettina Dennerlein Bruce Fudge Anke von Kügelgen Silvia Naef Maurus Reinkowski Ulrich Rudolph

Band 12

Annika Törne

Dersim – Geographie der Erinnerungen Eine Untersuchung von Narrativen über Verfolgung und Gewalt

Diese Arbeit wurde publiziert mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW).

ISBN 978-3-11-062760-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063021-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062771-8 ISSN 1661-6278 Library of Congress Control Number: 2019946306 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH Berlin/Boston Coverabbildung: Halvori, Quelle, Pilgerort in Dersim, Türkei © Annika Törne Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Juli 2017 von der Philosophischen Fakultät der Universität Basel als Dissertationsschrift angenommen. Sie entstand im Rahmen eines gleichnamigen Forschungsprojekts, das am Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Universität Bochum begonnen und am Seminar für Nahoststudien an der Universität Basel abgeschlossen wurde. Mein Dank gilt an erster Stelle den Menschen, die mir ihre Erinnerungen anvertraut haben. Für lebhafte Diskussionen und konstruktive Kritik danke ich darüber hinaus allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Universität Bochum. Insbesondere Prof. Dr. Mihran Dabag, Dr. Kristin Platt und Dr. Medardus Brehl haben die Konzeption dieser Studie in den ersten Jahren maßgeblich begleitet und unterstützt. Den Betreuern des Forschungsprojekts an der Universität Basel, Prof. Dr. Maurus Reinkowski und PD Dr. Markus Dreßler danke ich sehr für ihr reges Interesse, hilfreiche Anregungen und stete Förderung. Zudem erhielt ich produktive Anstöße während meines Forschungsaufenthalts am Orient-Institut Istanbul. Die finanzielle und institutionelle Unterstützung der Stiftung für armenische Studien, der Stiftung Villigst, der Calouste Gulbenkian Stiftung und der Max Weber Stiftung haben diese Studie ermöglicht. Der Druck wurde durch die Schweizerische Asiengesellschaft großzügig gefördert. Bei der Überarbeitung des Manuskripts standen mir PD Dr. Nora Lafi, PD Dr. Martin Greve, PD Dr. Robert Langer, Dr. Barbara Henning, Dr. Matthias Weinreich, Jan-Markus Vömel und Jana Schütt mit sorgfältigen Korrekturen und Kommentaren hilfreich zur Seite. Vor allem dankbar bin ich für die beständige Unterstützung und geduldige Begleitung, die ich von meiner Familie, sowie meinen Freundinnen und Freunden erfahren habe. Berlin, im Mai 2019

https://doi.org/10.1515/9783110630213-202

Annika Törne

Inhalt Vorwort

V

Abkürzungsverzeichnis

IX

Anmerkungen zur Transkription und Übersetzung

XI

1

1

Einleitung

2

Begriffe und theoretischer Rahmen

3

Methodisches Vorgehen

4 4.1

37 Forschungsstand Der Leugnungsdiskurs über den Genozid an den Armeniern und 37 über moderne Gewalt in der Republik Türkei Subalterne Stimmen und multiethnische Koexistenz 43 im Osmanischen Reich und im türkischen Nationalstaat 46 Der aktuelle Diskurs über Armenier in der Republik Türkei 48 Die Konstruktion religiöser Differenz in der Region Dersim Die Spuren armenischer Präsenz in Dersim und armenische 52 Erinnerungen an den Genozid 1915 Der Kanonisierungsprozess des Alevitentums und 55 der Prestigeverlust der traditionellen Autoritäten 58 Alevitische Erinnerungen an moderne Gewalt in Dersim 60 Desiderat und Forschungsbeitrag

4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 5

6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.2.1

17

27

Rekonstruktionen von Vergangenheiten: orale Tradition, türkisch-nationales Geschichtsnarrativ und Leugnungsdiskurs Der hegemoniale Leugnungsdiskurs zu moderner Gewalt 84 in Dersim 84 Kemalistische Wissensproduktion über Dersim Hasan Reşit Tankut über die Zaza: „Zwischen Himmel 86 und Hölle“ Naşit Hakkı Uluğ: „Wir sind neu auf die Welt gekommen“ Nazmi Sevgen: „Gewittergeräusche wie Kanonendonner“ 114 Dersim in der links-militanten Wissensproduktion Die Genese der Wissensproduktion über staatliche Gewalt 115 in der türkischen Linken

61

95 108

VIII 6.2.2 6.2.3 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.4

6.4.1 6.4.2

7 7.1

Inhalt

Dersim im Diskurs von İbrahim Kaypakkaya und der TİKKO: „’38 116 ist eine Wunde in unserem Inneren“ Dersim im Diskurs: „Die letzte Burg des Widerstands“ der PKK 126 Der Diskurs des politischen Islam von Fethullah Gülen 137 und der Cemaat-Bewegung über Dersim Die Verortung der Aleviten im Imaginären von Fethullah Gülen 138 143 Fethullah Gülen über Glaubensvorstellungen in Dersim Wissensproduktion der Cemaat-Bewegung im Bildungssektor 145 in Dersim Der institutionalisierte Diskurs über die Nachkommen der armenischen Überlebenden des Genozids 1915 146 aus Dersim Der Diskurs des armenisch-apostolischen Patriarchats 147 von Konstantinopel über die „Armenier in Anatolien“ Die institutionalisierte Wissensproduktion über „Dersim155 Armenier“ in der Zeitschrift Dersiyad

7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5

Repräsentationen von Vergangenheiten in Dersim 161 Aussagereihen in autobiographischen Narrationen 161 der Nachkommen armenischer Überlebender aus Dersim 163 Namen 183 Schweigen 189 Zwangskonversion und Re-Konversion 200 Überleben 206 Rituale 217 Gerechtigkeit Aussagereihen in autobiographischen Narrationen alevitischer 223 Dedes aus Dersim 229 Abstammung und Wunderkraft 243 Schweigen 251 Legitimationskonflikt 266 Zukunft 275 Gerechtigkeit

8

Schluss

9

Bibliographie

7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.1.6 7.2

285 298

Anhang: Karte von Dersim, Türkei

325

Abkürzungsverzeichnis ABCFM

American Board of Commissioners for Foreign Missions (engl.) („Amerikanische Auslandsmissionsgesellschaft“) AKP Adalet ve Kalkınma Partisi (türk.) („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) ASALA Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia (engl.) („Armenische Geheimarmee zur Befreiung Armeniens“) BDP Barış ve Demokrasi Partisi (türk.), Partiya Aştî û Demokrasiyê (kurd.) („Partei des Friedens und der Demokratie“) CHP Cumhuriyet Halk Partisi (türk.) („Republikanische Volkspartei“) Dersiyad Dersimli Ermeniler Sosyal, Kültür, Sanat, Eğitim, Tarih, İnanç, Araştırma ve Dayanışma Derneği (türk.) („Dersim-Armenier Verein für Soziales, Kultur, Kunst, Bildung, Geschichte, Glauben, Forschung und Soldiarität“) MHP Milliyetçi Hareket Partis (türk.) („Partei der nationalistischen Bewegung“) MİT Millî İstihbarat Teşkilâtı (türk.) („Nationaler Nachrichtendienst“) PKK Partiya Karkerên Kurdistanê (kurd.) („Arbeiterpartei Kurdistans“) TDK Türk Dil Kurmu (türk.) („Türkische Sprachgesellschaft) Diyanet Diyanet İşleri Başkanlığı (türk.) („Präsidium für Religionsangelegenheiten“) TDKP Türkiye Devrimci Komünist Partisi (türk.) („Kommunistische Partei der Türkei“) THKO Türkiye Halk Kurtuluş Ordusu (türk.) („Volksbefreiungsarmee der Türkei“) THKP-C Türkiye Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi (türk.) („Volksbefreiungspartei-Front der Türkei“) TİİP Türkiye İhtilâlci İşçi Köylü Partisi (türk.) („Revolutionäre Arbeiter- und Bauernpartei der Türkei“) TİKKO Türkiye İşçi Köylü Kurtuluş Ordusu (türk.) („Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee der Türkei“) TİP Türkiye İşçi Partisi (türk.) („Türkische Arbeiterpartei“) TKP Türkiye Komünist Partisi (türk.) („Kommunistische Partei der Türkei“) TKP/ML Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist (türk.) („Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch“) TTK Türk Tarih Kurumu (türk.) („Türkische Geschichtsgesellschaft“)

https://doi.org/10.1515/9783110630213-204

Anmerkungen zur Transkription und Übersetzung Türkische Orts- und Personennamen sind nach den Normen des neutürkischen Schriftsystems wiedergegeben. Die türkischen Ortsnamen sind in der Regel entsprechend ihrer gegenwärtigen Form angegeben. Die historischen Ortsnamen werden angemerkt, wenn diese in den Interviews thematisiert werden. Türkische Zitate sind im Original mit den Hervorhebungen wiedergegeben. Während die türkischen Originalzitate in die Fußnoten gesetzt sind, finden sich deren deutsche Übersetzungen im Haupttext.

Aussprache der Buchstaben im türkischen Alphabet C, c Ç, ç Ğ, ğ I, ı İ, i Ş, ş S, s V, v Y, y Z, z

[dʒ] [ʧ] [:] [ɨ] [i] [ʃ] [s] [v] [j] [z]

Interjektionen eh eh eh heya vallah vallahi vay

Ja und, (Zustimmung einforderndes Fragewort) äh (Verzögerungslaut) hey (Aufforderung, Kontaktaufnahme) ja (za.) bei Allah bei Allah oh weh, ach

Schlüssel zur Transkription der Interviews Wor, Wooort \ # (…) (–) […]

abbrechendes Wort Vokal lang gedehnt abbrechender Satz unverständliches Wort kurze Pause längere Pause längere Passage unverständlich

https://doi.org/10.1515/9783110630213-205

XII [/] {…} Wort Wort, Satz < > []

Anmerkungen zur Transkription und Übersetzung

Auslassung nicht sicher gehört Interjektion betont Stimme hebt sich Stimme senkt sich Erläuterung der Autorin

Hinweis zur Anonymisierung Alle Eigennamen sind anonymisiert, wobei alevitische und armenische Eigennamen dementsprechend in andere alevitische und armenische Eigennamen umgeändert wurden. Eigennamen aus Ursprungsmythen und Legenden blieben unverändert. Die Namen der Stammesgemeinschaften sowie Namen von Dörfern und Weilern wurden durch Buchstaben des lateinischen Alphabets ersetzt. Unverändert sind die Namen der Landkreise und Provinzen.

1 Einleitung In einem armenischen Märchen heißt es „Der letzte Gedanke eines Menschen steht außerhalb der Zeit“.1 Dem westlich geprägten Geschichtsbild und dem daran geknüpften Zeitverständnis entsprechend, kann nichts aus dem Rahmen der Zeit fallen. Die Bezugnahme auf Vorstellungen einer „anderen Zeit“ und auf „andere Mächte“ begegnet jedoch bei Sterbenden und sich dem Tod gegenüber Sehenden häufig. Wenn Überlebende kollektiver Gewalt und Genozid von dem Verlust, den sie erlitten und von ihrer Rettung vor dem Tod erzählen, lässt sich eine solche Bezugnahme auf das „Jenseitige“, auf ein „außerhalb der Zeit“ beobachten. In der mündlichen Überlieferung in Dersim, einer Bergregion im Osten der Türkei, sind die lokale Geographie und Vorstellungen von mythischen Schutzmächten eng miteinander verbunden. Eine entscheidende Rolle in der kollektiven Erinnerung an die Rettung der Bevölkerung vor einem Angriff der osmanischen Armee spielt der Berg Dujik.2 Den mündlich überlieferten Geschichten zufolge manifestierten sich über ihn metaphysische Kräfte, die ausschlaggebend für den Verlauf der Ereignisse waren: Einmal kam mein berühmter Vorfahr Seyit Cafer [einem verbündeten Stamm] zu Hilfe, der gegen die grausamen [Türken] kämpfte. Als er nachts unterhalb des Klosters Halvori3 vorbeikam, sah er, dass gegenüber dem Kloster etwas hell Brennendes in den Wald stürzte. Der Heilige4 stieg, den Speer in der Hand, auf ein weißes Pferd mit Flügeln aus Feuer und flog über ihn hinweg. Meinem Großvater hatte es die Sprache verschlagen, seine Begleiter waren vor Schreck erstarrt. Da erzitterte Dujik Baba und Geschosskugeln prasselten nieder. Am Morgen verstanden sie, dass der Heilige das türkische Heer geschlagen und dass ihm auch Dujik Baba mit seinen Blitzen und Geschossen beigestanden hatte.5 1 Edgar Hilsenrath greift diese Vorstellung in seinem Roman „Das Märchen vom letzten Gedanken“ auf und orientiert daran dessen Erzählstruktur, die wie im Märchen zeitliche und räumliche Gesetze aufhebt: Hilsenrath (1989, 521–2), siehe auch Kohpeiß (1993, 138–9). 2 Dujik/Tujik/Sultan Baba sind die Bezeichnungen für einen der höchsten Gipfel des Munzurgebirges (2980 m), dem in der regionalen Mythologie eine bedeutende Rolle als Schutzmacht zukommt. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts kämpfte am Fuß dieses Berges das osmanische Heer wiederholt mit Mühen gegen die lokale Bevölkerung. Siehe: Molyneux-Seel (1914, 59). 3 Das armenische Kloster Surp Halvori Vank diente über Jahrhunderte sowohl christlichen Armeniern, als auch Aleviten als Pilgerort, an dem die Menschen Heilung für körperliches und seelisches Leid suchten, siehe Molyneux-Seel (1914, 63); Arakelova (2013, 386). 4 In der sowohl armenischen, als auch alevitischen mündlichen Tradition sind es der Berg Dujik/Tujik und seine Personifikation, die den Ort und seine Anwohner bei drohender Gefahr beschützen. Molyneux-Seel (1914, 59), Antranik (2012, 115). 5 Halladjian (1973, 255). Der Erklärung des Ağuiçen-Dedes Seyit Cafer zufolge, war dieser Heilige Surp Garapet. Für seinen Rat zur Übersetzung ins Deutsche und zur Interpretation gilt mein Dank Hovsep Hayreni. https://doi.org/10.1515/9783110630213-001

2

1 Einleitung

Ethnographische und historiographische Forschungen haben versucht, dieses Erzählmotiv des wehrhaften, widerständigen Bergs und des zur Rettung herbeieilenden Reiters mit rationalen Erklärungsmustern in einen religionshistorischen Kontext einzuordnen.6 Fragen danach, was diese spezifische Erzähltradition im Zusammenhang der Erfahrung von Verfolgung und Gewalt in der Moderne bedeutet, wie sie sich wandelte und welche Funktion ihr in zeitgenössischen Erinnerungserzählungen zukommt, blieben bisher jedoch unberücksichtigt. Ausgehend von dieser Beobachtung behandelt die vorliegende Untersuchung ein umstrittenes und zugleich ungemindert aktuelles Thema: die Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerns und Erzählens von Verfolgung und Gewalt am Beispiel von Narrativen über Vergangenheiten in der modernen Türkei. Diese Mikrostudie legt den Fokus auf narrative Rekonstruktionen von Vergangenheiten aus einer Region mit dem historischen Namen Dersim. Volksetymologisch wird dieses in der lokalen Sprache Dımılki/Zazaki verwendete Toponym als „silbernes Tor“ gedeutet. Die türkische Regierung benannte die Region 1934 in Tunceli um. Mit diesem neuen Namen, der auf Türkisch „eiserne Hand“ bedeutet, kündigte sie gewissermaßen die staatlichen Gewaltverbrechen von 1938 an, mit denen sie ihren Machtanspruch auf das Gebiet radikal umsetzen sollte. Der Rekonstruktion der Geschichte moderner Gewalt in Dersim widmet sich ausführlich das Kapitel zu Repräsentationen von Vergangenheiten. Die Region liegt „umgeben von vier Bergen“ 7 und reißenden Flüssen im Inneren des Taurus-Gebirges im Osten der Türkei.8 Aufgrund ihrer geographischen Abgeschiedenheit kam der Gegend bereits früh die Rolle eines Zufluchtsorts für Flüchtlinge zu. Über Jahrhunderte wechselte ihre politische und religiöse Zugehörigkeit zwischen konkurrierenden Großmächten – zwischen dem Perserreich und Byzanz und später zwischen den Sassaniden und den Osmanen. Bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts wies die Region eine historisch gewachsene ethnisch, religiös und politisch heterogene Bevölkerung von hauptsächlich Aleviten und Armeniern auf, die sich eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der osmanischen Regierung bewahrt hatte.9

6 Aksoy führt Tujik/Dujik auf den Gott Vahagn aus der armenischen vorchristlichen Religion in zoroastrischer Tradition zurück. Aksoy (2016, 111−23); Hayreni (2017, 23). 7 Diese Worte über das unzugängliche Dersim stammen aus einem armenischen Lied über eine von Kekil Aǧa aus Harput entführte armenische Braut und sind zur Redewendung geworden, Aslan (2010c). 8 Siehe Karte im Anhang. 9 Spätosmanische Staatsvertreter konnten sich in Dersim aufgrund mangelnder Akzeptanz nicht dauerhaft etablieren, es gelang ihnen nur unregelmäßig Steuern einzutreiben und selten Rekruten für das Heer aufzustellen, siehe Gündoğdu (2013, 27); Bumke (1979, 531).

1 Einleitung

3

Heute ist Tunceli die einzige türkische Provinz, deren Bevölkerung mehrheitlich einer regional spezifischen Ausprägung des Alevitentums angehört.10 Die alevitische Religion ist eine schiitische Strömung und steht in der Tradition der islamischen Mystik, die im 12. bis 16. Jahrhundert unter dem Einfluss von Wanderderwischen in ruralen Gebieten des osmanischen Reichs entstanden war.11 Im Unterschied zu den Buchreligionen kam dem Alevitentum als mündlich überlieferter Religion in der osmanischen Rechtsordnung keine definierte Stellung zu. Weder wurde es umstandslos dem Islam, noch den geduldeten nicht-muslimischen Religionen des Judentums und Christentums zugeordnet. Der ungeklärte Rechtsstatus und die politische Verfolgung und Gewalt, die sich gegen die Glaubensgemeinschaft der Aleviten in osmanischer Zeit im 16. Jahrhundert und wieder ab dem 19. Jahrhundert richteten, können als ein Teil eines diskursiven Ausschließungssystems verstanden werden, welches diese Untersuchung näher in den Blick nimmt. Die osmanische Regierung warf den Aleviten, die noch bis in die 1920er Jahre pejorativ als „Kızılbaş“ (türk.), als Rotkopf, bezeichnet wurden, religiöse Abweichung von der Norm vor und unterstellte ihnen gleichzeitig eine politische Disposition zum Verrat. Kemalistische Funktionäre, die der jungtürkischen Ideologie verhaftet blieben, führten für die Kızılbaş zwar den neuen Begriff Aleviten ein, um sie über ihren türkischsprachigen Teil in die türkische Nation zu assimilieren. Der staatsnahe sunnitische Islam der jungen Republik Türkei ordnete jedoch besonders den nicht-türkischsprachigen Teil der Aleviten weiterhin als heterodoxe, politisch unzuverlässige Strömung ein.12 Insbesondere die Bevölkerung von Dersim wurde durch die Zuschreibung religiöser Differenz in eine vulnerable Lage versetzt, weil diese Konstruktion ihre ethnische Zugehörigkeit zur türkischen Nation sowohl aufgrund ihrer religiösen als auch ihrer sprachlichen Eigenheiten in Frage stellte. Die Aleviten in der Türkei sind heute schätzungsweise zu zwei Dritteln türkischsprachig, ein weiteres Drittel spricht die iranischen Sprachen Dımılki/ Zazaki und Kurmanci. Der überwiegende Teil der nicht-türkischsprachigen Ale-

10 Ethnographische Forschungen zur alevitischen Religion in Dersim bieten Çakmak (2010), Çem (2010), Deniz (2012). Zu den Spezifika zählt insbesondere das Fest Gaxan/Gağan, hinzu kommen der Glaube an Seelenwanderung, die Verehrung des Feuers, von Bäumen, Quellen, Bergen, Sonne, Mond und Sternen, die auch in anderen Regionen Westarmeniens nachweisbar ist. Siehe auch Asatrian (1988, 503) und Werner (2017, 216). 11 Für eine religionshistorische Einordnung der Genese des modernen Alevitentums aus der Kızılbaş-Tradition, siehe Dreßler (2013b, 25−31), Dreßler (2002, 99−123). 12 Dreßler rekonstruiert die diskursive Festschreibung einer innerislamischen Differenz hinsichtlich der Aleviten in den Texten des türkisch-nationalistischen Historikers Mehmed Fuad Köprülü, siehe Dreßler (2013a, 186–90).

4

1 Einleitung

viten lebt in Dersim und spricht vor allem Dımılki/Zazaki, während ein relativ kleiner Teil in Dersim und um Diyarbakır lebt und das nordkurdische Kurmanci spricht.13 Die Einordnung von Dımılki/Zazaki als eigenständige Sprache ist linguistisch eindeutig, der Grad ihrer Verwandtschaft mit anderen, insbesondere kurdischen Sprachen, ist jedoch politisch umstritten.14 Neben den Aleviten lebten in Dersim bis zum Genozid 1915 zahlenmäßig geringere, jedoch historisch bedeutsame nicht-muslimische Bevölkerungsgruppen: armenisch-apostolische und armenisch-protestantische sowie kleinere syrisch- und griechisch-orthodoxe Gemeinden.15 Die armenischen und syrischchristlichen Familien lebten vor allem von Landwirtschaft sowie von Handel und Handwerk. Infolge der spätosmanischen Reform des Landrechts wurden sie im 19. Jahrhundert entrechtet und verloren ihren Landbesitz, woraufhin sie oft nur mehr als Pächter oder Leibeigene der türkischen Herren auf ihren vormals eigenen Ländereien arbeiteten.16 Als sich im Verlauf der Transformation des spätosmanischen Reichs in die türkische Republik die türkisch-nationalistische Ideologie herausbildete, geriet die nicht-muslimische, nicht-türkische Bevölkerung, von der Dersim fast ausschließlich bewohnt war, zunehmend unter Druck. Der gewaltsame Ausschließungsprozess religiös-ethnischer Bevölkerungsgruppen begann im spätosmanischen Reich mit dem Genozid an den Armeniern 1915, der die Voraussetzung für den türkischen Nationalstaat schuf, den Mustafa Kemal nach den türkischen „Befreiungskriegen“ am 29. Oktober 1923 ausrief. Um diesen abschließend zu konsolidieren, verübte das türkische Militär von 1937 bis 1938 Gewaltverbrechen in Dersim. Seitdem sieht sich die Bevölkerung der Region Dersim mit verschiedenen, teils miteinander konkurrierenden nationalistischen Machtansprüchen konfrontiert, die territorial und kulturell auf sie erhoben werden. Die gleiche Ausschließungslogik setzte sich durch die Geschichte der Republik Türkei hindurch in verschiedenen Verfolgungsmaßnahmen gegen ethnische und religiöse Gruppen fort.17

13 Zur linguistischen Einordnung der Sprache Dımılki, die auch Zazaki, Kırdki oder Kırmancki genannt wird, siehe Asatrian (1995, 405–41); Gippert (2007); Mann (1932, 19−23); Paul (1998a, xix−vii); Selcan (1998). 14 Eine Problematisierung der verschiedenen nationalistischen Ansprüche auf die Sprache bietet, Bruinessen (2015, 118−9) (allerdings ohne denjenigen von kurdischer Seite zu berücksichtigen), ähnlich auch Çağlayan (2016, 11); Haig (2014a, 104); Kaya (2011, 4), siehe Paul (1998b); Törne (2017). 15 Kévorkian (2011, 1992, 385); Yarman (2010b, 467−87). 16 Antranik (2012, 53); Astourian (2011, 464); Gündoğdu (2016a, 274–80); Yarman (2010b, 157−8). 17 Darunter fielen insbesondere die „Vermögenssteuer“ (türk. varlık vergisi) von 1942 und 1944 und das Pogrom in Istanbul 1955, siehe dazu Törne (2015b, 407−10).

1 Einleitung

5

Als einer der Nachfolgestaaten des osmanischen Reichs trägt die Türkei schwer an ihrer Gewaltgeschichte, durch die sich die Transformation vom heterogenen osmanischen Reich zum homogenen türkischen Nationalstaat vollzog. Der Grund für den vermeidenden Umgang mit der schwierigen Vergangenheit in der Türkei liegt in der seit jungtürkischer Zeit bis in die Gegenwart anhaltenden Wahrnehmung, der zufolge die konsequente Ausschließung und Leugnung nichtmuslimischer, nicht-türkischer Bevölkerungsteile notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung der imaginierten Gemeinschaft als muslimisch türkische Nation sowie für die Existenz der Republik Türkei sei. Im hegemonialen Diskurs der Türkei wird der jungtürkische Genozid an den Armeniern 1915 bis heute weitgehend abgestritten.18 Darauf aufbauend werden auch die staatlichen Gewaltverbrechen 1938 in Dersim unter der kemalistischen Führung sowie weitere Akte von Verfolgung und Gewalt in republikanischer Zeit geleugnet.19 Angesichts dieser Problemlage stellt sich die vorliegende Untersuchung die leitende Frage, inwieweit die Nachkommen der Überlebenden des Genozids an den Armeniern 1915 und der Gewaltverbrechen von 1938 in Dersim in ihren Erinnerungserzählungen an den hegemonialen Leugnungsdiskurs in der Türkei anschließen und ob sie über diesen hinaus auf andere Vergangenheiten verweisen können. Die Untersuchung orientiert sich dabei an folgenden untergeordneten Fragen: Welche Bedingungen, Grenzen und Möglichkeiten der Rede von Vergangenheiten, insbesondere von Gewaltereignissen in Dersim, werden durch den hegemonialen Leugnungsdiskurs bestimmt? Welche Differenzkategorien werden in ihm hinsichtlich Dersim entworfen? Inwiefern werden über ihn Bedingungen für eine Inklusion in die modernen Projekte des türkischen Nationalstaats, des kurdischen Modells des demokratischen Konföderalismus oder religiöser Gemeinschaften formuliert? Welche unterschiedlichen Erinnerungsstrategien entwickeln armenische und alevitische Überlebende und deren Nachkommen, um von ihren Erfahrungen erlittener Gewalt zu sprechen? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Aushandlungsprozess mit hegemonialen Diskursen strukturieren die Erzählungen dieser beiden Gruppen mit je verschiedenen sozialen Erinnerungsrahmen aus Dersim und wie verhalten sie sich zueinander? Ziel der Untersuchung ist es, den diskursiven Prozess der Ausschließung von Wissen über andere, subalterne Vergangenheiten zu analysieren, wie er sich

18 Talin Suciyan spricht von einem „Habitus der Leugnung“ in der Gesellschaft der Türkei, Suciyan (2016, 21−2). 19 Nach Janine Altounian bewirkt die Leugnung der Existenz eines Themas oder einer Gruppe von Menschen, dass diese von „innen“ nach „außen“ verlagert und somit politisch „unsichtbar“ gemacht werden. Altounian (2003, 269).

6

1 Einleitung

im hegemonialen Leugnungsdiskurs am Beispiel der Türkei nachvollziehen lässt. Mit dem Begriff der subalternen Vergangenheiten werden im Rahmen dieser Untersuchung in Anlehnung an Dipesh Chakrabarty jene Wahrnehmungen und Deutungen von Zeit und Ereignissen bezeichnet, welche nicht westlich geprägten, akzeptierten Geschichtsvorstellungen entsprechen.20 Die Untersuchung analysiert somit den diskursiven Aushandlungsprozess zwischen hegemonialen Geschichtsnarrativen und Referenzen auf subalterne Vergangenheiten, wie er sich in autobiographischen Erinnerungserzählungen aus der Region Dersim äußert. Auf diese Weise versucht die Untersuchung nachzuvollziehen, wie im Spannungsfeld andauernder gewaltvoller Aushandlungsprozesse um Hegemonie die Generierung und Tradierung historischen Wissens einen Wandel durchläuft und wie sie dabei eine spezifische diskursive Formation und Praxis oraler und schriftlicher Aussagen hervorbringt.21 Anhand einer Analyse sprachlicher Muster und Strategien der Argumentation und Legitimation beleuchtet die Studie den Prozess der Delegitimierung und Disqualifikation des Wissens der Bevölkerung von Dersim und rekonstruiert die machtvolle Einsetzung eines neuen, als wahr codierten, Wissens. Zur Beantwortung der zentralen Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten des Sagbaren, nimmt die Studie insbesondere eine De- und Rekonstruktion von Motiven vor, die in den autobiographischen Erzählungen Erinnerungen an Verfolgung und Gewalt vermitteln, welche auf vormals gültiges Wissen verweisen. Das neue, nunmehr geltende, Wissensregime schließt dieses Wissen von subalternen Vergangenheiten als irrational und inakzeptabel aus.22 Das Hauptaugenmerk legt die Studie somit auf jene Motive, die bei der Aneignung hegemonialer Fremdbilder als Selbstbilder ihren Verweischarakter auf unterworfenes Wissen behaupten können. Mit dem von Michel Foucault entlehnten Begriff des unterworfenen Wissens versucht die Untersuchung jenes Wissen von Vergangenheit analytisch zu greifen, dessen potenzielles „Wieder-Auftauchen“ das neue Wissensregime beständig fürchtet, da es sich dadurch in Frage gestellt sieht. Im andauernden Behaupten und Ringen um die Deutungshoheit kann die Korrektur und Substitution des für ungültig erklärten Wissens nie ganz abgeschlossen werden. Somit bleibt das unterworfene Wissen ein Gegenstand der Ausschließungsmechanismen. Die Erinnerung an den Genozid und die Zeit davor sowie deren Weitervermittlung konfrontiert die armenischen Überlebenden und ihre Nachkommen mit dem unwiederbringlichen Verlust ihrer Gemeinschaft, ihrer Muttersprache

20 Chakrabarty (2010, 73–5). 21 Im Anschluss an den Hegemonie-Begriff von Laclau (2014, 154−5). 22 Foucault (2001, 21–3).

1 Einleitung

7

und somit ihres sozialen Erinnerungsrahmens. Um Verständnis für ihre Erinnerungen an die Vergangenheit im neuen, akzeptieren Wahrheitsregime zu gewinnen, müssen sie notwendigerweise dominanten Diskursen in der Gesellschaft entsprechen. Die vorherrschenden Bedingungen des Sprechens in der modernen Türkei zwingen den Überlebenden und deren Nachkommen fast vollständig den Leugnungsdiskurs auf. Wie Marc Nichanian herausstellte, sind ihre Narrative daher dermaßen verändert, dass ihr Aussagewert entstellt und umgekehrt wird, bis er schlussendlich droht, gänzlich verloren zu gehen.23 Die Studie zielt darauf, explizite Formen der Ausschließung von Wissen zu bestimmen, indem sie narrative Muster der Disqualifikation herausstellt, wie der Leugnungsdiskurs sie formuliert. Außerdem beleuchtet die Studie nicht explizite Formen der Ausschließung des ungewollten Wissens in den verschiedenen Formen von Schweigen. Durch regelmäßige Auslassungen und Brüche strukturieren Ausschließungsmechanismen die Rede von Vergangenheiten in den Erinnerungen der Überlebenden und zeugen somit vom Wirken der Leugnung. Im Prozeß der Ausschließung entstehen Ambivalenzen, Unvereinbarkeiten und Unstimmigkeiten im Diskurs, denen sich diese Untersuchung zentral widmet. Einer Annahme dieser Studie zufolge, begegnen Ambivalenzen besonders verdichtet in Motiven aus den regionalen Erzähltraditionen, die auf Bedeutungsebenen Bezug nehmen, die Vorstellungen von vergangenen, anderen Machtverhältnissen und von Widerstand gegen die jetzigen evozieren. Eine Hypothese dieser Untersuchung ist es, dass sich die orale Tradition durch die Erfahrung von Gewalt und dessen Leugnung auf sepzifische Art wandelt und verstetigt. Ohne die Erfahrungen kollektiver Gewalt wäre die mündliche Überlieferung schon frührer durch Schrifttradition abgelöst worden. Über tradierte Vorstellungen von transzendenter Gerechtigkeit und Schutzmächten aus den oralen Überlieferungen der Region können die autobiographischen Erinnerungen an erlittene Gewalt zu einem gewissen Grad vermittelt werden. Eine Untersuchung dieser Erzählungen bietet einen Einblick in den Kanonisierungsprozess der mündlichen Traditionen in der Region und erlaubt Rückschlüsse auf den damit einhergehenden Ausschluss nicht konformer Vergangenheitsbezüge. Für den hegemonialen Diskurs wirkt Ambivalenz so unerträglich und unannehmbar, dass ihm deren eindeutige Klärung als Herausforderung und Bewährungsprobe erscheint. Die zentrale These dieser Studie besteht darin, dass in der Ambivalenz, mit der sich die angefochtenen Aussagen einer eindeutigen Zuordnung entziehen, sich semantisches Behauptungspotenzial gegenüber der

23 Nichanian (2015, 9–12; 23–9).

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1 Einleitung

Leugnung bietet. Im modernen Diskurs verdichtet sich die Ambivalenz bestimmter Aussagen und Motive insoweit, dass sich deren mögliche Deutungen diametral gegenüberstehen. Die sich verdichtende Ambivalenz kann als kennzeichnend für den Diskurs der Leugnung des Genozids an den Armeniern betrachtet werden. Dessen Ausschließungsmechanismen setzen sich beständig fort und weiten sich folglich auch auf andere Gruppen aus. Abhängig von den sozialen Erinnerungsrahmen der verschiedenen betroffenen Gruppen wirken die Ausschließungsmechanismen jeweils unterschiedlich stark auf deren kollektive Gedächtnisse. Die Verhältnisse dieser Gruppen zum Leugnungsdiskurs bewegen sich stets zwischen dem Druck, ihn zu übernehmen und dem Versuch, sich ihm gegenüber zu behaupten. Angesichts dessen lenkt die Studie ihren Blick auf Motive, die von den Nachfahren armenischer Überlebender und Aleviten aus Dersim überliefert werden, die auf Narrative Bezug nehmen, in denen metaphysischen Kräften direkte Wirkungsmacht auf ein Ereignis zuerkannt wird, das über Leben und Tod entscheidet. Einführend sollen folgende Zitate aus den Interviews diese spezifische Bezugnahme auf Vergangenheit verdeutlichen: Als sie die Gewehre aufstellen, steigt ein Weinen, Schreien und Rufen auf. So vergehen Stunden. Das stundenlange Warten auf den Tod wird zur Qual. Als sie es nicht mehr aushalten, flehen sie die Soldaten an: „Was ihr auch vorhabt, tut es!“ Die Soldaten antworten: „Wir warten auf einen Befehl aus Hozat“. Endlich sehen sie, wie aus der Richtung von Hozat ein Reiter des Weges kommt. Ein Offizier steigt vom Pferd und fragt: „Habt ihr sie aus den Häusern oder aus den Höhlen geholt?“ Als er zur Antwort bekommt, „Wir haben sie aus den Häusern zusammengetrieben“, sagt er: „In Ordnung. Es kam ein Befehl von Fevzi Çakmak. Wir verzeihen euch und schenken euch die Republik!“ Natürlich haben die Leute, als sie das hörten, die Beine des Pferds und des Mannes umarmt. (Umut, armenischer Überlebender der staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938).24 Aus Staub und Rauch kam Hızır auf einem weißen Pferd und rettete uns vor dem Massaker.25 (Alevitische Überlebende der staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938)

In beiden Erinnerungserzählungen begegnet ein Motiv aus der oralen Tradition in Dersim, das in Berichten von Gewalterfahrungen eine bemerkenswerte Rolle einnimmt: Ein Reiter auf einem Pferd kommt in Situationen äußerster Not und Verzweiflung herbeigeeilt, um Hilfesuchende vor Gefahr zu schützen und aus der Not zu retten. In der ersten Erinnerungserzählung eines Armeniers aus Der-

24 Interview am 19. 5. 2012 in Istanbul, Umut, geboren 1938 in Dersim im Landkreis Hozat. 25 „Toz duman arasından Boz Atlı Hızır geldi, bize kırımdan kurtardı.“ Aus den Erzählungen von alevitischen Überlebenden der staatlichen Gewaltverbrechen 1938 aus dem Landkreis Ovacık in der Provinz Tunceli, in: Bilmez (2011, 130).

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sim fallen die dem Tod Geweihten ihrem berittenen Retter aus Dankbarkeit zu Füßen. Diese Darstellung evoziert die Assoziation mit der bekannten Heiligenlegende von Surp Sarkis aus der armenischen Überlieferung, in der er als Reiter auf einem weißen Pferd denen zu Hilfe eilt, die sich in akuter Gefahr befinden und ihn um Beistand anrufen.26 Auch alevitische Frauen aus Dersim nehmen im zweiten Zitat den Reiter, der den Massakern Einhalt gebietet, als Hızır wahr, einen Schutzheiligen in der islamischen Tradition.27 Aus einer Staubwolke auftauchend, greift er rettend in den Verlauf der Geschehnisse ein und gebietet dem drohenden Unheil Einhalt. Diese verschiedenen Rettungsnarrative bilden Folien der zwei oben angeführten Erinnerungserzählungen an den Moment, in dem ein berittener türkischer Militär den Befehl überbrachte, die Massaker zu beenden. Der türkische Marschall Fevzi Çakmak, der den Oberbefehl über die „Vernichtungsoperation“ führte und anschließend offiziell als nationaler Befreier inszeniert wurde, wird demnach in manchen Erinnerungserzählungen von Überlebenden der Gewaltpolitik in Dersim 1938 mit einem Reiter assoziiert, der sie vor dem Tod rettete.28 Ausgehend von dieser Beobachtung de- und rekonstruiert die Studie solche ambivalenten Motive und diskutiert sie als Verweise auf subalterne Vergangenheiten. Um zunächst in einem ersten Schritt den hegemonialen Leugnungsdiskurs als Bedingungen der Rede zu analysieren, betrachtet die Untersuchung eine Reihe von schriftlichen Quellen: Archivmaterial, Zeitungsartikel, Monographien, Erinnerungsliteratur. Als zentrale Quellengrundlage werden autobiographische Erinnerungserzählungen von zwei Gruppen aus Dersim herangezogen, die besonders von politischer Verfolgung betroffen waren: den Nachkommen der Überlebenden des Genozids an den Armeniern von 1915 und den Dedes, den traditionellen geistlichen Autoritäten der Aleviten. Die Studie untersucht mit einer an Michel Foucault angelehnten diskursanalytischen Methode jeweils zehn autobiographische Erinnerungserzählungen der beiden Gruppen, um den

26 Einen Überblick über die Legenden um Surp Sarkis in der armenischen Tradition bietet: Ghanalanyan (1969, 365). 27 Für eine Einführung zur Gestalt, Legende und der religiösen Verehrung von Hızır (türk.), Xızır (zaza.), Hızır/Hıdır (kurd.), siehe: Krasnowolska (2009). Zum Motiv des grauen Pferds oder Schimmels (türk. boz at) und dessen Rolle in der Mehdi-Erwartung der aus Persien nach Kleinasien Geflüchteten, siehe: Dreßler (2002, 52–5); Franke (2000). Für die Assoziation von Hızır mit Surp Sarkis, siehe: Aksoy (2016, 69−80); Asatrian (1988, 503); Hasluck (1913/1914, 101−29); zu den Ritualen und Vorstellungen über Hızır speziell in Dersim, siehe: Aksoy (2015, 519–42); Aksoy (2000, 92); Deniz (2012, 130–54). 28 Die Wahrnehmung und Umdeutung von Fevzi Çakmak als Hızır erwähnt bereits Bilmez (2011, 130).

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Zusammenhang zwischen Macht und der Produktion historischen Wissens in den Vordergrund zu rücken. Die zwei Gruppen mit verschiedenen Erfahrungen von Verfolgung und Gewalt wurden ausgewählt, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten in dem erzwungenen Aneignungsprozess des Leugnungsdiskurses analytisch besser herausstellen zu können. Infolge der Gewaltereignisse geht die Untersuchung von zwei distinkten Gruppen aus. Die modernen Identitätskategorien Armenier und Aleviten konstituierten sich jedoch erst durch die gewaltvolle Transformation vom ethnisch heterogenen osmanischen Reich zum homogenen türkischen Nationalstaat und bestimmen seitdem das narrative Selbst in den Erinnerungserzählungen beider Gruppen. Zudem sind die alevitischen Auffassungen des historischen Verhältnisses zwischen armenischer und alevitischer Bevölkerung in Dersim von Auslassungen geprägt. Neben dem verbreiteten nostalgischen Bild des harmonischen Miteinanders in osmanischer Zeit, betonen einige alevitische Darstellungen die Hilfe der Aleviten für die im Genozid 1915 verfolgten Armenier in Dersim. Diesen Narrativen ist gemeinsam, dass sie es vermeiden, über die Beteiligung der Aleviten an der Vernichtung der Armenier zu sprechen. Die Erinnerungserzählungen der hier untersuchten Gruppen unterscheidet vor allem ihre Anschlussfähigkeit an jeweils verschiedene Wissensfelder und Erinnerungsebenen, die wiederum jeweils für andere Instrumentalisierungen anfällig sind. Im Anschluss an Maurice Halbwachs, der den sozialen Erinnerungsrahmen einer Gemeinschaft als maßgeblich für deren kollektives Gedächtnis herausstellte, zieht die Untersuchung in Betracht, durch welche sozialen Bedingungen die Herausbildung und Tradierung eines kollektiven Gedächtnisses bei den beiden Gruppen bestimmt wird. Abhängig von ihren jeweiligen sozialen Erinnerungsrahmen, die durch den Verlust der Angehörigen, der Sprache und der Herkunft eingeschränkt wurden, sind die beiden hier betrachteten Gruppen gezwungen, den Leugnungsdiskurs jeweils auf ihre Weise und in unterschiedlichem Maß zu übernehmen. In Dersim sind es vor allem zwei Gewaltereignisse, die besondere Brüche für die zwei untersuchten Gruppen bedeuten. Obschon die Erfahrung der staatlichen Gewaltverbrechen von 1938 zu einem drastischen Wandel der alevitischen Tradition führte, gelang es den alevitischen Überlebenden nach ihrer Rückkehr aus der Umsiedlung nach Dersim, durch den Anschluss an das überregionale „alevitische Revival“ erneut ein kollektives Gedächtnis herauszubilden. Träger ihrer Erinnerungen an die erlittene Gewalt von 1938 war die orale Tradition, durch die sie in Form von Trauerliedern einen Ausdruck für ihr Leid fanden.29

29 Yıldırım (2013, 48−52), siehe auch Soytürk (2010).

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Hingegen war es den armenischen Überlebenden des Genozids von 1915 in der post-genozidalen Gesellschaft der Türkei kaum möglich, den extremen Verlust, den sie erlitten hatten, auszudrücken und an ihre Nachkommen weiterzuvermitteln. Seit der Deportation in der Zerstreuung (arm. spiurk) und sozialer Isolation lebend, sehen sie sich auch weiterhin mit struktureller Gewalt, Verfolgung und Diskriminierung konfrontiert, die in Dersim vonseiten der alevitischen Mehrheit, der türkischen Beamten und des Militärs ausgeübt wird.30 Da ihnen zudem der Anschluss an armenische Institutionen und die Erinnerungsgemeinschaft in Istanbul fehlt, können sie nicht an der dortigen identitätsstiftenden kollektiven Erinnerungsbildung teilhaben.31 Seit der Katastrophe lässt der Verlust ihres sozialen Erinnerungsrahmens und der daran geknüpften mündlichen Überlieferung sie fortwährend mit ihren Erinnerungen ringen, denen im neuen Wahrheitsregime der Republik Türkei keine Gültigkeit mehr zukommt. Armenische literaturwissenschaftliche, anthropologische und historiographische Studien der letzten Jahre widmeten sich autobiographischen Zeugnissen der armenischen Überlebenden, beschränkten sich allerdings vor allem auf die armenische Gemeinschaft in Istanbul. Die vorliegende Untersuchung nimmt dagegen die ländliche Region Dersim näher in den Blick. Sie beleuchtet, wie eng die Auslöschung eines Bevölkerungsteils im Genozid mit dessen Abstreitung und Rechtfertigung verknüpft ist und wie das Verbrechen durch dessen andauernde Leugnung und Legitimation fortgesetzt wird. In dieser Hinsicht rekonstruiert sie, wie im Anschluss an die Leugnung des Genozids an den Armeniern 1915 die staatlichen Gewaltverbrechen 1938 und die darauffolgenden Verfolgungsmaßnahmen im kollektiven Gedächtnis der Türkei, in der staatlichen

30 Etymologisch leitet sich der armenische Begriff spiurk für Zerstreuung vom griechischen Begriff für Diaspora ab, Hübschmann (1897, 494). 31 Armenische Künstler diskutierten über Möglichkeiten und Grenzen der Repräsentation des Verbrechens (Beledian 2003; 2001); Mouradian (2015). Zeitlebens rangen sie mit ihren Erinnerungen an die erlittene Gewalt, den Verlust und mit ihrem Überleben, wovon zum Beispiel das Werk des armenischen Komponisten Komitas (1869, Küthaya-1935, Paris) und die Autobiographie des Schriftstellers Hagop Oshagan (1883, Bursa-1948, Aleppo) eindrucksvoll zeugen, zu Komitas: Karakashian (2014; 2017); zu Oshagan: Beledian (1987); Nichanian (2008); Kebranian (2014). In seinen autobiographischen Erzählungen vermittelt der armenische Schriftsteller Hagop Mintzouri (1886, Armidan-1978, Istanbul), der aus einem Dorf im Norden von Dersim am Berg Munzur stammte, seine Erinnerungen an die verlorene Welt seiner Kindheit, Riedler (2009). In armenischen Zeitschriften wurden die Überlebenden und Zeugen dazu aufgerufen, ihre Erinnerungen zu veröffentlichen, um die Verbrechen zu bezeugen und sie in die armenische Geschichtsschreibung einzuordnen, wobei bereits eine bestimmte Form und inhaltliche Orientierung der Erinnerungserzählung vorgegeben wurde, siehe Beledian (2015; 2007).

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Gedenkpolitik, sowie in historiographischen und literarischen Darstellungen zur Vergangenheit von Dersim offiziell verschwiegen und verleugnet werden. Eine besondere Rolle spielt dabei die türkisch-nationale Geschichtsschreibung, die das beredte Schweigen aufrechterhält. In ihrer Perspektive kommt dem Genozid an den Armeniern 1915 und den darauffolgenden Gewaltverbrechen bis heute kein Platz zu. Die jungtürkische und kemalistische Historiographie beschuldigte die Bevölkerung von Dersim des Verrats an der türkischen Nation, da sie sich im Ersten Weltkrieg mit den Armeniern verbündet habe, worin die „schwärzeste Seite in der Geschichte von Dersim“ bestehe. Dieses Narrativ wird im Rahmen dieser Studie als frühe Ausprägung des Leugnungsdiskurses zum Genozid an den Armeniern aufgefasst, der sich in der Darstellung und Bewertung späterer historischer Ereignisse weiter ausprägte und vertiefte.32 In den letzten zwanzig Jahren möchte ein Teil der Forschung eine Veränderung des Diskurses zum Genozid an den Armeniern in der Türkei feststellen: Dieser sei in eine transnationale Phase übergegangen, die eine offene Diskussion jenseits der staatlichen Leugnungspolitik ermögliche, wobei sich auch Kritik an dieser Gegenerinnerung regt, da diese allein den türkischen Staat verantwortlich zeichne und somit ihren Protagonisten zur Schuldabwehr diene.33 Eine Revidierung der Leugnungspolitik wird dementsprechend auch über die Annäherungspolitik zwischen der Türkei und Armenien propagiert, die sich auf die Suche nach einer „geteilten Erinnerung“ begibt. Obwohl sich dieses Projekt mit armenischen Erinnerungserzählungen beschäftigt, welche lange Zeit ignoriert und deren Aussagewert abgestritten wurde, bleibt es von der Abwehr gegen eine Auseinandersetzung mit komplexeren und andauernden Auswirkungen der Verbrechen an der Menschlichkeit geprägt, solange die Anerkennung des Genozids an den Armeniern weiter aussteht. Als eine frühe Ausnahme der Leugnungspolitik zum Genozid an den Armeniern diskutiert die historiographische Forschung die Istanbuler Prozesse, ein Militärtribunal, das die türkische Regierung 1919/20 auf Drängen Frankreichs

32 Ahistorisch wird ein späteres Ereignis, der Widerstand in Dersim 1916, als ausschlaggebende Aggression und Verrat an der türkischen Nation darstellt, um die kollektive Gewalt gegen die Armenier auch retrospektiv zu rechtfertigen. 33 Die Vorstellung der Gegenerinnerung wird auch von Taner Akçam unterstrichen, Akçam (2006, 12). Der zivilgesellschaftliche Diskurs in der Türkei ist bestrebt, an westlich geprägte Vorstellungen von „Vergangenheitsbewältigung“ und „Gedenkkultur“ zum Genozid an den Armeniern anzuschließen. Dabei verschiebt sie die Anerkennung der Verantwortung jedoch direkt und ausschließlich auf die türkische Regierung, ohne die Einsicht in eine notwendigerweise die gesamte Gesellschaft umfassende Auseinandersetzung mit der Verantwortung für das Verbrechen zu entwickeln, Bayraktar (2015b).

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und Englands einberief, um die jungtürkischen Täter für die Verbrechen an den Armeniern zur Verantwortung zu ziehen.34 Nicht nur wurden die verhängten Urteile nicht vollstreckt, auch unterließ die Gerichtsbarkeit in der Türkei seitdem jegliche weiteren Schritte zur Strafverfolgung der Täter.35 Während die jungtürkischen Täter vor Gericht aussagten, schenkte die türkische Öffentlichkeit den Überlebenden des Genozids an den Armeniern kein Gehör.36 In den letzten zwanzig Jahren riefen die Nachfahren der Überlebenden des Genozids an den Armeniern, die allgemein als „islamisierte Armenier“ bezeichnet werden, zunehmendes Interesse in der türkischen Öffentlichkeit, in der armenischen Diaspora, in Europa, den USA und in der internationalen Forschung hervor.37 Mit den Diskussionen um einen EU-Beitritt der Türkei setzte 2005 eine Reihe von Veröffentlichungen mit Erinnerungserzählungen von Nachfahren armenischer Überlebender über ihr Leben in der Republik Türkei ein, die in Öffentlichkeit und Forschung zu kontroversen Diskussionen über versagte Erinnerungen an die Gewaltgeschichte in der modernen Türkei führten. Ein kurzer Überblick über den gedächtnispolitischen Diskurs in der Türkei der letzten zehn Jahre soll an dieser Stelle den Kontext der Erinnerungserzählungen verdeutlichen. Als Regierungspartei verfolgte die AKP („Adalet ve Kalkınma Partisi“ [türk.] „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) im EU-Angliederungsprozess seit 2007 eine „demokratische Öffnungspolitik“ gegenüber den religiösen und ethnischen Minderheiten der Republik Türkei.38 Zu Beginn dieser Periode der angekündigten politischen Liberalisierung wurden verschiedene historische Ereignisse staatlicher Gewalt gegen nicht-muslimische und nicht-türkische Bevölkerungsgruppen, die den Prozess der türkischen Nationalstaatsbildung kennzeichneten, erstmals in einer breiteren türkischen Öffentlichkeit diskutiert. Die AKP bemühte sich, außenpolitisch den Eindruck zu erwecken, den Forderungen nach einer Garantie von Minderheitenrechten und den Erwartungen einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zu entsprechen. Innenpolitisch jedoch strebte sie, wie der gedächtnispolitische Diskurs zeigt, weiterhin danach, das nationale türkische Geschichtsnarrativ zu stärken.39

34 Barth (2006, 74). 35 Akçam (2006, 2–3). 36 Bei dem Prozess gegen Soghomon Tehlirian, den Attentäter von Talat Paşa, wurden 1921 in Berlin auch Überlebende des Genozids an den Armeniern angehört. Der Freispruch Tehlirians diente der Weimarer Republik jedoch vorrangig dazu, von der deutschen Verantwortung für den Genozid an den Armeniern abzulenken. Barth (2006, 75). Siehe auch Garibian (2018). 37 Altınay (2014a). 38 Bardakçi (2017). 39 Avedian (2019).

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Im Jahr 2015, einhundert Jahre nach dem Genozid an den Armeniern, setzte sich der türkische Leugnungsdiskurs weitestgehend unbeirrt fort. Bereits aus Anlass des hundertsten Gedenkjahres des Ersten Weltkriegs, den international viele Staaten begingen, sah sich auch die türkische Regierungspartei AKP gehalten, die Ereignisse im spätosmanischen Reich in die türkische nationale Geschichtserzählung einzuordnen. In Hinblick auf die Gedenkveranstaltungen in der armenischen Diaspora bediente sich die türkische Regierung der Strategie einer aggressiv defensiven Erinnerungspolitik, indem sie die Gedenkveranstaltung zum osmanischen Sieg in Gallipoli 1916 zur nationalen Selbstversicherung instrumentalisierte.40 Die Nachkommen der Überlebenden und die internationale Öffentlichkeit fassten eine Gedenkrede des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayip Erdoğan, in der er der Opfer des Ersten Weltkriegs gedachte, als die lang erwartete Entschuldigung gegenüber den armenischen Opfern auf. Ganz dem Leugnungsdiskurs folgend, relativierte Erdoğan in dieser Rede jedoch das Leid der Opfer und Täter, indem er das Bild einer geteilten Erfahrung des kriegsbedingten Leids im Ersten Weltkrieg auf türkischer und armenischer Seite evozierte. Während die Regierungspartei die Ereignisse weiterhin nicht als Genozid bezeichnet, sprechen kurdische Oppositionspolitiker und Aktivisten offen über den Genozid an den Armeniern. Allerdings instrumentalisieren sie zumeist das mahnende Gedenken an den armenischen Genozid, um internationale Aufmerksamkeit auf die verzweifelte Situation der kurdischen Gemeinschaft in der Türkei zu lenken. Sie vergleichen ihre Erfahrungen von Verlust und Trauer mit dem der Armenier im Genozid 1915, um das Unrecht und die Gewalt anzuklagen, die der türkische Staat gegen die kurdische Bevölkerung verübt. Die Reflektion über die eigene Verantwortung der kurdischen Bevölkerung für den Genozid an den Armeniern stellen sie dabei hinter das eigene Opfernarrativ zurück.41 Innerhalb der Zivilgesellschaft in der Türkei entwickelten sich zudem Ansätze einer Gedächtniskultur zum Genozid an den Armeniern. Seit einigen Jahren organisieren Menschenrechtsaktivisten in Istanbul regelmäßig Gedenkveranstaltungen am 24. April, dem Gedenktag der Ermordung der intellektuellen

40 Yanıkdağ (2015, 99–115). Boris Adjemian stellt heraus, dass der Genozid an den Armeniern als Teil des Ersten Weltkriegs in der Erinnerungsliteratur bis zum Zweiten Weltkrieg thematisiert wurde, er jedoch seit dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah bis Ende des 20. Jahrhunderts kaum erwähnt wurde, siehe Adjemian (2013, § 30). Die Leugnungspolitik werde von der AKPRegierung unterschiedslos weitergetragen, Adjemian (2013, § 28–9). 41 Die Schuldabwehr unter Kurden interpretiert Çelik als Äußerung von Schuldgefühlen und sieht darin einen Ausgangspunkt für eine „symbolische Auseinandersetzung“ mit der Vergangenheit, Çelik (2017, 146); Schäfers fasst die Schuldabwehr von kurdischer Seite nicht als einen Teil der Leugnung auf, Schäfers (2016, 2).

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Elite der armenischen Gemeinschaft, die 1915 den Auftakt zum Genozid bildete. Auch dieser Form des Gedenkens gelingt es nicht, das gesellschaftlich sanktionierte Schweigen zu durchbrechen. Das stille Gedenken an den Genozid auf öffentlichen Plätzen im Zentrum von Istanbul erscheint als ein Sinnbild, welches die Verletzlichkeit und Stimmlosigkeit der Nachkommen vor Augen führt. An der Wortlosigkeit der Gedenkenden lässt sich deutlich das Ausgeliefertsein und die Instrumentalisierbarkeit erkennen, welche den Nachfahren der armenischen Überlebenden durch das Verschweigen ihrer Erinnerungen aufgezwungen werden. Ein politisch dermaßen eingeengter diskursiver Rahmen innerhalb der türkischen Gesellschaft lässt die armenischen Nachkommen sprachlos und den Türken, Kurden und Tscherkessen kaum den Raum für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Verantwortung ihrer Vorfahren für den Genozid von 1915. Ähnlich wie die Armenier weltweit auf die weiterhin ausstehende Anerkennung des Genozids und Entschuldigung für das Verbrechen warten, besteht auch bei der Bevölkerung von Dersim eine vergleichbare Erwartungshaltung. Sie äußerte sich angesichts einer öffentlichen Debatte unter den Nachfahren der Überlebenden der staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938. Im November 2009 provozierte eine Frage des stellvertretenden Vorsitzenden der CHP, Onur Öymen, die das Leid der Mütter in Dersim relativierte, eine heftige Mediendebatte über die türkische Militäroperation in Dersim 1938.42 Im offiziellen türkischen Sprachgebrauch wurden diese bis dahin bedeutungsoffen mit dem Begriff „Ereignisse von Dersim“ (türk. Dersim olayları) bezeichnet. Angesichts des Gebrauchs von staatlicher Gewalt gegen Zivilisten wurde dieser Wortgebrauch erstmals zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte. In diesem Kontext äußerte sich der Ministerpräsident Recep Tayip Erdoğan folgendermaßen: „Wenn es nötig wäre, sich im Namen des Staats zu entschuldigen, wenn es eine solche Quellenlage gäbe, würde ich mich entschuldigen, dann entschuldige ich mich.“ Entgegen der von den Nachkommen erhofften Entschuldigung, aktualisierte er damit erneut den Leugnungsdiskurs, indem er eine Entschuldigung von einem Beweis des Verbrechens in den Quellen abhängig machte.43 Mit Blick auf den gegenwärtigen offziellen Erinnerungsdiskurs in der Türkei wird deutlich, dass sich die Nachkommen der armenischen Überlebenden des Genozids von 1915 selbst nach einem Jahrhundert noch mit der beständigen und machtvollen Ausschließung und Leugnung der Erinnerungen an den Verlust ihrer

42 „Haben die Mütter in Dersim etwa nicht geweint ...?“ (türk. „Dersim’de analar ağlamadı mı ...“), Onur Öymen, in: Radikal, 17. 11. 2009. Vgl. Ayata (2013), Göner (2017, 295-7). 43 „Eğer devlet adına özür dilemek gerekiyorsa, böyle bir literatür varsa, ben özür dilerim, diliyorum.“, Recep Tayyip Erdoğan, in: Radikal, 24. 11. 2011.

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Vorfahren konfrontiert sehen. Die Aleviten in Dersim ihrerseits sehen sich einem daran anschließenden Leugnungsdiskurs der staatlichen Gewaltverbrechen von 1938 gegenüber. Diese Untersuchung widmet sich den Erinnerungserzählungen beider Gruppen in Hinsicht darauf, wie sie Grenzen, die ihnen hegemoniale Diskurse ziehen, immer wieder in Frage stellen. Vor allem aber versucht sie, Stimmen einen Platz einzuräumen, der ihnen sonst versagt wird.

2 Begriffe und theoretischer Rahmen Für diese Untersuchung autobiographischer Erinnerungserzählungen aus Dersim werden verschiedene theoretisch-methodische Ansätze der Diskurstheorie, der Narratologie, der Erinnerungsforschung, der subalternen Studien und Hegemonietheorie miteinander verbunden. Der Gegenstand erfordert eine Kombination verschiedener Ansätze, sodass die Studie interdisziplinär im Schnittfeld von Literaturwissenschaften, Geschichtswissenschaft, Soziologie und Kulturanthropologie angelegt ist. Der im Rahmen dieser Untersuchung zentrale Begriff Diskurs wird in Anlehnung an die Diskurstheorie von Michel Foucault verwendet. Diskurse werden im Folgenden als distinkte Formationen von Aussagen verstanden, welche die Gegenstände, von denen sie regelmäßig und regelhaft handeln, durch Bedeutungszuweisungen als Wissen konstituieren. Die diskursive Praxis organisiert sich dabei sozial über die Konventionalisierung der Rede und deren institutionelle Verankerung. Zugleich kontrolliert und selektiert sie die Konstituierung und Verbreitung des Wissens durch Prozeduren der Ausschließung, „deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.“ 1 Abhängig von sozialem Milieu und Zeit sind unterschiedliche Sets diskursiver Regeln erkennbar, die das Denk- und Sagbare determinieren.2 Unter diskursivem Dispositiv versteht Michel Foucault ein breites Spektrum von Formen verbaler und nonverbaler Aussagen, wozu Handlungen und Gegenstände zählen, deren Ausführung und Herstellung durch Wissen bestimmt werden.3 Diese Untersuchung konzentriert sich auf mündlich und schriftlich überlieferte verbale Aussagen, während sie deren nonverbale Sichtbarkeiten auf der Handlungsebene nur ergänzend berücksichtigen kann. Angesichts der historisch vorwiegend oralen Traditionen in der Region Dersim legt diese Studie den zentralen Fokus auf mündliche Aussagen. Für die diskursanalytische Untersuchung werden außerdem schriftliche Aussagen herangezogen, die Wissen über Dersim diskursiv entwerfen und die in der Analyse als Folien der mündlichen Aussagen behandelt werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass auch mündliche Aussagen, wenn sie regelmäßig und regelhaft auftreten, Aussagensysteme bilden und machtvoll wirken und somit als Diskurse aufgefasst und untersucht werden können. Ebenso wie schriftliche Diskurse über Dersim sind Narrationen der Bevölkerung aus Dersim von Konventionen

1 Foucault (1993, 11). 2 Foucault (1990, 22−5). 3 Jäger (2011, 91–124). https://doi.org/10.1515/9783110630213-002

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der Rede bedingt, die analysiert werden sollen, um die Anschlussfähigkeit und Einbindung dieses Redens in gültige Wissenshorizonte zu erfassen. Zudem werden die Ausschließungsprozeduren der diskursiven Praxis, die den Zugang zum Diskurs beschränken, ins Zentrum der Untersuchung gerückt, um die Grenzen und Möglichkeiten des Redens über Vergangenheiten zu beleuchten. Für die Analyse dieses diskursiven Aushandlungsprozesses von Wissen und Macht nimmt die Studie eine hermeneutische Differenzierung zwischen subalternen Motiven und hegemonialen Diskursen vor, für die hier einleitend einige zentrale Begriffe definiert und theoretische Ansätze diskutiert werden sollen. Zunächst wird der Prozess der Verwerfung von Wissen und dessen Inhalte näher in den Blick genommen. In Anlehnung an Michel Foucault wird davon ausgegangen, dass Diskurse von Ausschließungssystemen begrenzt werden, wie der Unterscheidung zwischen wahr und falsch und der inneren Prozedur der Verknappung des sprechenden Subjekts, wonach nicht unter allen Umständen jeder überall alles sagen darf und kann.4 Dieses solchermaßen diskursiv ausgeschlossene Wissen zu rekonstruieren, könnte nun problematisch erscheinen, da sich eben dieses Wissen nicht mehr in dem Diskurs manifestieren kann. Diese Untersuchung nimmt den Ausschließungsprozess in den Blick, in dessen Verlauf die Grenzen zwischen wahrem und falschem Wissen ständig neu oder erneut gezogen werden müssen. Dieser Prozess der diskursiven Verwerfung von lokalem Wissen soll als narrative Strategie analysiert werden. Um eine bestimmte Art von Wissen, das Ausschließungsmechanismen unterliegt, näher zu charakterisieren, prägte Michel Foucault den Begriff des unterworfenen Wissens, das für ihn „ein Spezialwissen, ein lokales, regionales, differentielles Wissen“ ist, das „sich nicht in Einstimmigkeit überführen lässt und seine Kraft nur der Schärfe verdankt, mit der es zu allen umgebenden in Gegensatz tritt.“ 5 In diesem dezentralen, fragmentierten, disqualifizierten Wissen werde permanent eine Gefahr wahrgenommen, die darin bestehe, dass es das Potential zum unvermittelten „Wiederauftauchen“ berge.6 Das polyvalente unterworfene Wissen werde beständig ausgeschlossen, weil es als unvereinbar mit der akzeptierten Wahrheit erscheine und deren postulierte Eindeutigkeit in Frage stellen würde. Auf den ambivalenten Charakter, aufgrund dessen dieses Wissens ausgeschlossen werden soll, verweist Zygmunt Bauman in „Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit“. Er beobachtete, dass Prozesse der sozialen Schließung in der Moderne bestrebt seien, das Ambivalente zu bekämpfen, bis

4 Foucault (1993, 13; 25–6). 5 Foucault (2001, 22). 6 Foucault (2001, 21).

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hin, es auszulöchen.7 „Unabänderlich ist eine solche Operation der Einschließung/Ausschließung ein Gewaltakt, der an der Welt verübt wird, und bedarf der Unterstützung durch ein bestimmtes Maß an Zwang.“ 8 Im Ergebnis würden jedoch durch den Anspruch der eindeutigen Zuordnung weitere Kategorien geschaffen, die wiederum zu mehr Ambivalenz führten. „Obgleich sie dem Drang zu benennen/klassifizieren entstammt, kann Ambivalenz nur durch Benennen bekämpft werden, das noch genauer ist, und durch Klassen, die noch präziser definiert sind: d. h. durch Eingriffe, die noch härtere (kontrafaktische) Anforderungen an die Diskretheit und Transparenz der Welt stellen und so noch mehr Gelegenheiten für Mehrdeutigkeit schaffen.“ 9 Wenn der Leugnungsdiskurs das lokale Wissen der Bevölkerung in Dersim als unvereinbar mit dem modernen Wissensregime darstellt und es unablässig unterwirft, sobald es auftaucht, und anstelle dessen das akzeptierte Wissen einsetzt, so bringt dieses Vorgehen zugleich nur immer weitere Ambivalenzen hervor. In ihren theoretischen Studien zu Hegemonie und radikaler Demokratie argumentieren Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, dass gesellschaftliche Strukturierungen sich nie etablieren können, sondern sich fortwährend im unruhigen Modus der Hegemonie heraus- und umformen.10 In dem andauernden Aushandlungsprozess um Hegemonie, der sich über diskursive Unterwerfungs- und Ausschließungsmechanismen vollzieht, ist es das unterworfene, aber immer wieder in Erscheinung tretende Wissen, das den unruhigen Modus der Hegemonie ausmacht. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe weisen in diesem Zusammenhang auf die bedeutende Differenzierung zwischen Beziehungen von Unterordnung und von Unterdrückung hin, wobei letztere sich zu einem Ort des Widerstreits entwickelten.11 Einen Ort, an dem sich der unruhige Modus der Hegemonie seit Ende des 19. Jahrhunderts wiederholt in Unterdrückung und Gewalt äußerte, stellt die Region Dersim dar, die durch den Genozid an den Armeniern 1915, danach durch die staatlichen Gewaltverbrechen 1938 und zuletzt durch den nunmehr seit dreißig Jahren geführten Krieg zwischen dem türkischen Militär und den in der Region aktiven oppositionellen bewaffneten Gruppen der TİKKO (Türkiye İşçi Köylü Kurtuluş Ordusu [türk.] „Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee der Türkei“) und der PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê [kurd.] „Arbeiterpartei Kurdistans“) geprägt wurde. Gleichzeitig manifestiert sich der hegemoniale Unruhe-

7 Bauman (2012). 8 Bauman (2012, 13). 9 Bauman (2012, 14). 10 Nonhoff (2007, 7). 11 Laclau (2014, 154–5).

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modus in der diskursiven Produktion von Wissen über Dersim und dessen Bevölkerung, die von einem ständigen Ringen um die Teilnahmebedingungen an hegemonialen Diskursen bestimmt ist. Die verbale und nonverbale Gewalt führt zu einem tiefgreifenden Wandel des tradierten lokalen Wissens und lässt sich als ein Prozess dessen stellenweiser Behauptung, vor allem aber dessen Substitution durch die Aneignung hegemonialen Wissens im System sowohl mündlicher als auch schriftlicher Aussagen nachzeichnen. Um die weitreichende Wirkung des Leugnungsdiskurses herausstellen zu können, ist zwischen verschiedenen Arten und Funktionen von Schweigen zu differenzieren. Obschon sich Schweigen als Aussetzen von Rede manifestiert, bedeutet es mitnichten das Ende der Kommunikation, wie Aleida Assmann verdeutlicht.12 Zweifelsohne besteht eine wesentliche Funktion von Schweigen in dem Schutz, den es vor verschiedenen Gefahren gewähren kann. Das Verschweigen der eigenen religiösen Zugehörigkeit, takiye, war in der alevitischen Religion in Dersim gegenüber Außenstehenden eine akzeptierte Strategie, um sich vor Verfolgung zu schützen.13 Schweigen nach einem Genozid kann auf Seiten der Täter als Verschweigen eine Strategie der Leugnung bezeichnen, die darauf zielt, die Schuld und Verantwortung für das Verbrechen und dessen Folgen abzulehnen.14 Auf Seiten der Opfer von Gewalt hingegen steht Schweigen symptomatisch für die Schwierigkeit, ein Wissen narrativ einzubinden, dem nach dem Gewaltereignis keine Gültigkeit mehr zugesprochen wird.15 Jürgen Straub hob hervor, dass Überlebende der Shoah schweigen, um ihre Nachkommen zu schützen und um für sie familiäre Rollen erfüllen zu können.16 Während die Überlebenden der Shoah den erlittenen Verlust und die Verletzungen verschweigen, vermitteln sie ihre Erfahrungen des Überlebens nonverbal an ihre Nachkommen.17 Diese Untersuchung wird Schweigen nicht als eine Lückenhaftigkeit von Erzählungen annehmen, aufgrund dessen die mündlichen Aussagen an einem vorgestellten wahren Geschehen zu überprüfen wären. Vielmehr sollen in den Erzählungen Konventionen der Rede, die das Gesagte bestimmen, in den Blick genommen und analysiert werden. Diesen liegen Ausschlussregeln zu Gegenstand, Anlass und Sprechern zugrunde, durch die sich Diskurse in ihrem Inne-

12 Assmann (2013, 51). 13 Zur Transformation der takiye bei Aleviten in Deutschland, siehe: Sökefeld (2008b, 9); Aksünger (2013). 14 Aleida Assmann unterscheidet zwischen einem „defensiven Schweigen des Täters“ und einem „symptomatischen Schweigen der Opfer“, siehe Assmann (2013, 57). 15 Platt (2002, 24). 16 Straub (2002, 277–8). 17 Kidron (2009, 6−7, 11).

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ren strukturieren und nach außen abgrenzen. Schweigen ist in mündlichen und schriftlichen Diskursen als narrative Struktur in Form von Auslassungen, Korrekturen oder dem Abbruch von Sätzen erkennbar. Ausgehend davon wird das Auftreten von Schweigen in der jeweiligen Narration und im diskursiven Feld analysiert, um dessen Funktionen näher bestimmen zu können. In den autobiographischen Erinnerungserzählungen aus Dersim dominieren die angeeigneten hegemonialen Diskurse über den sich noch behauptenden Motiven lokaler oraler Wissenstraditionen.18 Durch die Verwerfung des lokalen Wissens werden einzelne Motive aus ihrem bisherigen semantischen Kontext gelöst. In hegemonialen Diskursen treten sie nunmehr isoliert von ihrem Diskursstrang auf, weshalb sie nicht mehr unmittelbar anschlussfähig sind. Es bedarf einer Rekonstruktion der Narrationen, in die diese Motive vormals eingebettet waren, um ihre möglichen Bedeutungen und die damit verbundenen Vorstellungen von Vergangenheiten zu erschließen. Die postkoloniale Theoriebildung beschäftigt sich mit der Frage, welcher Platz den Geschichten von Minderheiten innerhalb der westlichen Geschichtsschreibung in der von Kolonialismus geprägten Welt zukommt. In seinem Aufsatz „Minority histories, subaltern pasts“ von 1998 prägte der indische Historiker und einer der Hauptvertreter der Subaltern Studies, Dipesh Chakrabarty, den Begriff der subalternen Vergangenheiten.19 Mit diesem Begriff bezeichnet er Vergangenheitsbezüge, die das Wirken von metaphysischen Kräften und das direkte Eingreifen von Göttern in das Geschehen für das Auftreten und den konkreten Ablauf von Ereignissen als ursächlich und bestimmend ansehen. Dipesh Chakrabarty greift dafür den von Antonio Gramsci geprägten Begriff subaltern auf, um die untergeordnete Position dieser mythischen Art von Bezugnahme auf Vergangenheiten im Verhältnis zu modernen Geschichtsvorstellungen zu beschreiben. Dabei betont er, dass er sich von der Verwendung des Begriffs bei Antonio Gramsci, dessen Konzeptualisierung einem Klassendenken verhaftet bleibe, abwenden möchte und anstelle dessen mit subaltern pasts die durch hegemoniale Metanarrative abgewerteten und untergeordneten Arten des Inder-Welt-Seins, des Selbstbilds und Zeitverständnisses bezeichnen möchte.20 Dem Konzept von menschlichen Subjekten als Urhebern geschichtlicher Entwicklung und Fortschritts, das der westlichen Geschichtsschreibung zugrunde liegt, läuft besonders zuwider, dass das Subalterne in mythischen Erzählungen weder Handlungssouveränität noch Subjektstatus für sich reklamiert.21 Die

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Rothermund (1999). Chakrabarty (2000). Chakrabarty (2010, 73). Chakrabarty (2010, 75).

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als unwissend und minderwertig Erklärten müssen ihre Narrationen epistemologisch dem Wissenssystem moderner Ordnung unterordnen. Daher rührt die umfängliche Einschreibung hegemonialer Narrative, die der westlichen Ratio verpflichtet sind, in subalterne Narrative. Postkoloniale Theoretiker wie Dipesh Chakrabarty und Walter Mignolo machten diesen Prozess der Einschreibung zum Ausgangspunkt ihrer Theoriebildung.22 Nach Dipesh Chakrabarty führe die ausschließliche Wertschätzung einer auf rationalem Zugriff basierten Wahrnehmung und Beschreibung der Wirklichkeit zu Ausgrenzungen von subalternen Vergangenheitsbezügen aus dem akademischen Diskurs der Geschichtswissenschaften.23 In Anlehnung an den Begriff der subalternen Vergangenheiten werden die Erinnerungserzählungen aus Dersim in dieser Studie auf Vergangenheitsbezüge hin untersucht, die sich auf Elemente der regionalen Mythologie und Glaubensvorstellungen beziehen. Die von Gayatri Chakravorty Spivak aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit subalterner Artikulation zu stellen, erscheint für den Kontext in Dersim aufschlussreich.24 In ihrem Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“ kritisiert sie das stellvertretende Sprechen für ein Subjekt, das als subaltern erklärt wird, da diese Rede dem Subjekt die eigene Stimme absprechen würde. Die Untersuchung rekonstruiert im Anschluss an diese Frage im ersten Analyseteil, wer stellvertretend für die Bevölkerung in Dersim spricht. Im zweiten Analyseteil versucht sie kritisch zu beleuchten, ob und inwieweit die beiden untersuchten Bevölkerungsgruppen aus Dersim für sich sprechen können. Für den modernen türkischen Staat kann insofern nicht von einer postkolonialen Situation ausgegangen werden, da keine postkoloniale Emanzipation über eine Aneignung von Begriffen, die in hegemonialer Manier geprägt wurden und deren bewusste Umdeutung und positive Konnotation, erkennbar ist.25 Jedoch kann für Dersim davon gesprochen werden, dass eine subalterne Situation vorliegt, die durch eine andauernde, nicht abgeschlossene Unterdrückung des lokalen Wissens gekennzeichnet ist. Das Weltbild der Bevölkerung in Dersim wird durch die Erfahrung der Subalternität geprägt. Die Bevölkerung von Dersim ist dem Druck ausgesetzt, sich hegemoniale Narrative anzueignen, um ih-

22 Mignolo (2012). 23 Chakrabarty (2010, 69). 24 Spivak (1988, 271; 283). 25 Makdisi prägte den Begriff des Ottoman orientalism für ein Element des spätosmanischen Diskurses, der eine ethnisch und religiös heterogene ‚Peripherie‘ innerhalb des Reichs entwarf, mit dem Ziel, diese zu ‚zivilisieren‘, siehe: Makdisi (2002, 769–70). Der Diskurs setzte sich in kemalistischer Zeit als internal orientalism gegenüber den Kurden fort (Zeydanlıoğlu 2008, 160–4) und weitete sich in republikanischer Zeit auf die populäre Kultur als self-excotisation aus (Eldem 2010, 31).

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ren Aussagen in dem Wahrheitsregime der postgenozidalen Gesellschaft Anschlussfähigkeit zu verleihen. Die umfassende Einschreibung hegemonialer Narrative in ihre Rede resultiert darin, dass sie als Selbstbild übernehmen, was als Fremdbild im türkisch-nationalistischen kemalistischen Diskurs über sie entworfen wird. Somit sedimentiert sich dieses nach dem Gewaltereignis eingesetzte wahre Wissen weiter im populären Wissen. In den sich verstetigenden Ausschließungs- und Verknappungsmechanismen in den mündlichen Diskursen aus Dersim manifestiert sich der andauernde Aushandlungsprozess um die Teilnahme an hegemonialen Diskursen. Darüber hinaus vollzieht sich in dem diskursiven Aushandlungsprozess der Aneignungsprozess des Willens zur Wahrheit des türkischen Modernediskurses, der durch Grenzziehungen zwischen vernünftigen und unvernünftigen, zwischen wahren und falschen Aussagen, zwischen institutionalisiertem schriftlichem Wissen und mündlich überlieferter verkörperter Weisheit legitimiert wird. In dieser Hinsicht erweist sich die Unterscheidung zwischen Wissen und Weisheit für die Untersuchung als bedeutsam. Zudem werden Theorien aus der Forschung zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit und zu oralen Kulturen für diese Untersuchung herangezogen. Walter Ong untersuchte die Transformation der narrativen Struktur von Erzählungen, die in oralen Kulturen durch einen episodischen, in Schriftkulturen hingegen durch einen geschlossenen plot gekennzeichnet ist.26 Jüngere iranistische Studien rekonstruieren die Überlieferung mythischen Wissens von der Vergangenheit in oralen Kulturen.27 Eszter Spät zeigte anhand ihrer Studie spätantiker Motive in der mündlichen Religion der Jesiden, wie sich jesidische Mythen im ständigen Austausch mit Schriftkulturen konstituieren.28 In diesem Prozess wird differenzielles, unvereinbares Wissen für gültig erklärt und versichert sich immer wieder seiner Anschlussfähigkeit, um nicht unterworfen zu werden. Die Untersuchung autobiographischer Erinnerungserzählungen orientiert sich außerdem insbesondere an Konzepten aus der Erzähltheorie und Erinnerungsforschung. In der kognitiven Psychologie wird davon ausgegangen, dass es einen spezifischen kognitiven Modus der Sinnbildung gibt, der narrativ organisiert ist.29 Diesbezüglich weist die kognitive Narratologie bei Erzählungen auf die Bedeutung zugrundeliegender scripts als Sets möglicher Handlungsabläufe, plots hin, auf die sich der Erzähler für die Erzählung beziehen kann, um sie möglichst konsistent und kohärent zu gestalten. Um das komplexe Zusammen-

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Ong (2002, 145). Allison (2013). Spät (2010). Herman (2002); Herman (2009).

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spiel von Erinnerung und autobiographischer Erinnerungserzählung näher zu bestimmen, prägte Donald Polkinghorne den Begriff der narrativen Identität, der Erinnerungserzählungen als Sinnkonstruktionen in einer konkreten Erzählsituation auffasst, die durch Kontingenz, Konsistenz und aktuelle Bezüge und Zwänge des Erzählers bestimmt werden.30 Akzeptiertes Wissen von einem historischen Ereignis wird diskursiv durch eine Bedeutungszuweisung konstituiert, die möglichst breit in der Gesellschaft geteilt werden kann. Maurice Halbwachs verdeutlichte in seinen Forschungen zum kollektiven Gedächtnis, dass soziale Erinnerungsrahmen, wie das Familiengedächtnis beziehungsweise das einer religiösen Gruppe oder sozialen Klasse, maßgeblich für die narrative Rekonstruktionsleistung sind.31 Darüber hinaus zeigte er, dass die Verortung der Erinnerung konstitutiv für die Herausbildung und Tradition des kollektiven Gedächtnisses ist.32 Im Anschluss daran soll im Rahmen dieser Studie mit dem Begriff der Geographie der Erinnerungen in den Blick genommen werden, wie sich die erzählende Person aus der Perspektive des gegenwärtigen Lebensorts mit ihrem sozialen Erinnerungsrahmen deutend auf Orte der Erinnerung bezieht.33 Dieser Aspekt erweist sich insbesondere im Kontext von Zwangsumsiedlung und der historischen Zerstreuung in der Diaspora bedeutsam für die Rekonstruktion des autobiographischen Gedächtnisses und somit für die Konstitution einer Erinnerungsgemeinschaft. Der Verlust der Familienangehörigen im Genozid an den Armeniern stellt einen maßgeblichen Einschnitt in den sozialen Erinnerungsrahmen der Überlebenden und ihrer Nachkommen dar. Über die Möglichkeiten der Überlieferung nach einer Gewalterfahrung stellt Kristin Platt fest, dass „das Aufrechterhalten der Differenz die wichtigste Verantwortung der Überlebenden ist: weil die Gewalt diese Differenz gerade auslöschen wollte; weil die Vernichtung so radikal, so umfassend war, daß nur zufällige Einzelne ohne Familie, ohne Erinnerungsstücke, ohne Sprache und Glauben, ohne Photos und Nachbarschaft überlebten; weil das Wissen um eine nie zu schließende Lücke, eine unaufhebbare Differenz, den wichtigsten und häufig einzigen kontinuierenden Aspekt der Identifizierungen der Überlebenden darstellt.“ 34 In der Untersuchung der Erzählungen von

30 Polkinghorne (1996, 363−5). 31 Halbwachs (1966, 195–201). 32 Halbwachs (1941). 33 Aleida Assmann unterscheidet zwischen Erinnerungsorten, Gedenkorten, Generationenorten und traumatischen Orten nach den jeweiligen Sinnzuschreibungen der Erinnernden an den Ort, wobei sich traumatische Orte jeglicher Sinnzuschreibung versperren: Assmann (2006, 221–6); Assmann (2018 [1999], 328–39); zu armenischen Gedenkorten siehe: Dabag (1995, 49–63). 34 Platt (2002, 54); Straub (2002, 276).

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Nachkommen der Überlebenden des Genozids an den Armeniern wird diesem Einschreiben in die Lücke nachgegangen und beleuchtet, welche Möglichkeiten und Grenzen die Aufrechterhaltung der Differenz bietet. Den alevitischen Überlebenden der Gewaltverbrechen in Dersim 1938 gelang es nach ihrer Rückkehr aus der Verbannung, an einen sozialen Erinnerungsrahmen anzuknüpfen und ein kollektives Gedächtnis neu zu konstruieren. Die traditionellen Autoritäten der alevitischen Glaubensgemeinschaft, die Dedes, verkörperten eine Form der Tradierung, deren Gültigkeit traditionell nicht angezweifelt wurde, die jedoch infolge der Gewaltverbrechen 1938 ihren Status als akzeptierte Wissensträger verloren.35 In dieser Studie werden sie in Anlehnung an Pierre Nora als lebendige Erinnerungsorte verstanden, die trotz des Abreißens des Erinnerungsmilieus als symbolische Überreste fortbestehen.36 Das Zeitverständnis stellt eine der grundlegenden Analysekategorien für historische Erzählungen dar, die zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, zwischen erlebter Vergangenheit und Zukunftsvorstellungen aufgespannt sind. Jürgen Straub konstatierte, dass die Zeitwahrnehmung und -deutung für die Überlebenden der Shoah in eine Zeit davor und danach zerfällt.37 Die idealtypische Unterscheidung zwischen linearem und zirkulärem Zeitkonzept dient in der Analyse der Erzählungen als Kategorie, um Referenzen auf unterschiedliche Zeitkonzepte in ihrer sinnbildenden Funktion für die jeweilige Erzählung zu erörtern. Die Traditionen des Judentums und Christentums weisen vorrangig Elemente des linearen Zeitkonzepts auf. Der heilsgeschichtliche Charakter dieser Glaubenslehren entspricht dabei dem linearen Element, der mit der Erwartung der Ankunft des Messias am Jüngsten Tag die Vorstellung von einem Ende der Zeit verbindet, in dem die göttliche Ordnung in einem Endgericht hergestellt werde. Die muslimische Zeitkonzeption des Koran hingegen bezieht sich auf eine göttliche, ewige Zeit, die in der weltlichen Zeit in unendlich vielen Momenten ihre Entsprechung findet, in denen sich die göttliche immerwährende Präsenz ausweitet.38 Die schiitische Mehdierwartung orientiert sich auf die Wiederkehr des zwölften Imams, der die göttliche Ordnung wiederherstellen wird.39 Als Element des zirkulären Zeitverständnisses gilt die religiöse Erwartung der ewigen Wiederkehr, Wiedergeburt und der Glaube an die Seelenwanderung.

35 Eberhard Werner diskutiert den Wandel von oraler zu Schriftkultur in Dersim, siehe: Werner (2015, 670−1). 36 Nora (1984). 37 Straub (2002, 273). 38 Gardet (1976, 204). 39 Eine umfassende Darstellung der Bedeutung des Mehdi (türk.) für die Aleviten in der Türkei, siehe: Dreßler (2002, 114–22).

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In Dersim begegnen beide Zeitkonzepte, das lineare, sowohl im armenischapostolischen Glauben an Jesus als Messias – als auch in dem durch schiitische Vorstellungen geprägten alevitischen Glauben an das Wieder-Auftauchen des Mehdi aus dem Verborgenen. Ebenso finden sich im armenischen, als auch im alevitischen Glauben Vorstellungen von Seelenwanderung und ewiger Wiederkehr, die dem zirkulären Zeitkonzept zuzuordnen sind.40 Das lineare Zeitverständnis ist in der Erwartung der göttlichen Gerechtigkeit auf ein Endgericht hin orientiert. Das zirkuläre oder zyklische Zeitverständnis äußert sich in Ritualen, durch die der göttlichen Ewigkeit gedacht oder die göttliche Ordnung der ewigen Wiederkehr bewahrt werden soll. Vor dem Hintergrund dieser Folien erzählen die sich Erinnernden die eigene, subjektiv erfahrene Zeit. Das jeweilige Zeitverständnis wirkt sich auf die Deutung der Erfahrung aus und ist handlungsleitend. In den Narrationen entsprechen Zeitverständnisse und daran anschließend Geschichtsbilder scripts, die in der Analyse insbesondere hinsichtlich des Erzählens von Gewalt und Verfolgung rekonstruiert und analysiert werden sollen, um die darüber formulierten Vorstellungen von Gerechtigkeit zu beleuchten. Eine wesentliche Prämisse der Studie besteht in der Unterscheidung zwischen den beiden Untersuchungsgruppen hinsichtlich ihrer verschiedenen Gewalterfahrungen. Die Nachkommen der armenischen Überlebenden sind durch intergenerational überlieferte Erfahrungen von zwei Gewaltereignissen geprägt, dem Genozid 1915 und den staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938. Hingegen zählte die alevitische Bevölkerung von Dersim nicht zu den Opfergruppen des Genozids 1915, sondern trug in der Regel aktiv oder passiv zu der Vernichtung der Armenier bei.41 Angesichts dieses Unterschieds in der Erfahrung der Gewaltereignisse stellt die Analyse der autobiographischen Erzählungen heraus, inwieweit die Aleviten an das Verschweigen der Täter anschließen, und inwieweit sie wie die Nachkommen der Armenier im symptomatischen Schweigen der Opfer gezwungen sind, an den Leugnungsdiskurs anzuschließen.42 40 Jörn Rüsen stellt heraus, dass die Kategorien von Zeitsinn idealtypisch sind, Rüsen (2003, 32). 41 Wirtschaftlich privilegierte Aleviten versteckten und versorgten in Ausnahmefällen Armenier in Dersim. Zuerst gegen Bezahlung, um türkische Beamte zu bestechen, später ohne Gegenleistung, halfen Aleviten verfolgten Armeniern über Fluchtwege durch das Gebirge von Dersim zu den russischen Truppen, die 1916 bis Erzincan vorgerückt waren, siehe den Bericht des protestantischen Missionars Riggs, der für den ABCFM in Harput arbeitete, Riggs (1997, 111–7). 42 „While both reproduce denial, the descendants of perpetrators continue perpetration through denial, whereas the descendants of victims continue to be victimised through that denial even if they must partake in it as a way of life.“, in: Suciyan (2016, 21). Vgl. auch: Assmann (2013, 57).

3 Methodisches Vorgehen Aufbauend auf den vorangegangenen theoretischen Überlegungen werden für die vorliegende Untersuchung verschiedene methodische Ansätze, insbesondere der Diskursanalyse und der oral history, miteinander verbunden. Der Nexus zwischen Macht und Wissen wird in Hinsicht auf Gewaltverbrechen und Geschichtsüberlieferung analysiert. Das theoretisch-methodische Vorgehen orientiert sich dabei an dem Ziel, aus den autobiographischen Erinnerungen zu rekonstruieren, inwiefern es möglich ist, in Abhebung vom hegemonialen Leugnungsdiskurs von subalternen Vergangenheiten zu erzählen. Für die Untersuchung wurde ein Quellenkorpus aus mündlichen und schriftlichen Aussagen gebildet. Im Zentrum steht dabei die Analyse autobiographischer mündlicher Quellen. Ergänzend dazu werden relevante schriftliche Quellen aus hegemonialen Diskursen herangezogen, um aus diesen die Bedingungen der Rede für die oralen Traditionen aus Dersim herausstellen zu können. Zunächst wird eine Analyse des hegemonialen Leugnungsdiskurses zu Dersim vorgenommen. Die schriftlichen Quellen umfassen staatlich institutionalisierte wissenschaftliche Literatur und politische Berichte, die teilweise bereits in jungtürkischer Zeit verfasst und anschließend in Zeitschriften der frühen Republik veröffentlicht wurden. Darüber hinaus wird oppositionelle pro-kurdische Literatur aus Flugblättern, Zeitschriften und Zeitungen aus der Periode von 1960 bis in die Gegenwart untersucht, um die darin entworfenen Bilder über Dersim, Armenier, syrische Christen und Aleviten kritisch zu beleuchten. Als Teil des dominanten Diskurses des politischen Islam in der Türkei werden Predigten von Fethullah Gülen, biographische Schriften über Fethullah Gülen und Zeitungsartikel von der von ihm begründeten Cemaat-Bewegung, insbesondere in Hinsicht auf die darin vermittelten Bilder über Aleviten, Armenier und die Region Dersim, analysiert. Außerdem wird der aktuelle Diskurs des Vereins der Dersim-Armenier in der Zeitschrift Dersiyad und der Vereinswebsite in den Blick genommen, um zu untersuchen, welcher narrativer Strategien sich diese Gruppe zu bedienen versucht und an welche Diskurse sie anschließen kann, um eine kollektive Identität als Dersim-Armenier zu postulieren. Die diskursanalytische Rekonstruktion des hegemonialen Leugnungsdiskurses aus schriftlichen Quellen bildet somit die Grundlage, vor deren Hintergrund die anschließende Analyse der mündlichen Quellen aus Dersim vorgenommen wird. Zu Beginn der Untersuchung führte die Beobachtung der systematischen Ausschließung subalterner Vergangenheiten in der westlich geprägten Geschichtsschreibung zu dem Vorhaben, den Aufbau der Arbeit entgegen der üblichen Art umzustellen. Um eine zu starke Ausrichtung der autobiographischen Erinnerungserzählungen als nicht kanonisierte Sinnzuschreibungen an erinnerte Verhttps://doi.org/10.1515/9783110630213-003

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gangenheiten an einem vorangestellten westlichen Geschichtsbild zu vermeiden, sollte ihre Analyse im Aufbau der Arbeit vor die Analyse hegemonialer Diskurse gerückt werden. Allerdings erwies sich dieses Vorhaben im Verlauf der Forschung als nicht realisierbar und wurde zugunsten der Identifizierung der subalternen Narrativfragmente und des besseren Verständnisses des Ausmaßes der Einschreibung hegemonialer Diskurse in die Erinnerungserzählungen schließlich aufgegeben. Es ist ein Anliegen dieser Studie, die mündlichen Aussagensysteme zu untersuchen, ohne sie als Illustration, sondern als zentralen Analyseteil zu verstehen. Als Grundlage der Untersuchung führte ich eine qualitative empirische Studie durch, in der ich insgesamt fünfundvierzig autobiographische Erinnerungserzählungen in Form von Interviews aufnahm. Zwei Forschungsaufenthalte vom 24. Juni bis 22. September 2011 und vom 25. April bis 3. Juli 2012 führten mich für den überwiegenden Teil der Interviews in die Provinz Tunceli in der Türkei. Darüber hinaus nahm ich Interviews auch in Istanbul sowie in Deutschland auf. Insgesamt dauerten die Forschungsaufenthalte sechs Monate. Als Interviewpartner wählte ich zwei in besonderem Maße von Verfolgung und Gewalt betroffene, distinkte Gruppen aus Dersim aus, um ihre jeweils verschiedenen narrativen Strategien im Reden über Vergangenheiten nachzeichnen zu können. Aus den unterschiedlichen Erfahrungen von Verfolgung und Gewalt, die diese beiden Gruppen jeweils prägen, resultieren verschiedene Probleme in der Narrativierung des Selbst im Kontext der inter- und transgenerationalen Überlieferung. Während des ersten Forschungsaufenthalts gehörten die Interviewpartner hauptsächlich den heiligen Abstammungsfamilien, ocak, an, die in fast allen acht Landkreisen der Provinz Tunceli – in Ovacık, Hozat, Tunceli Zentrum, Nazımiye, Pülümür, Mazgirt und Pertek – leben. Lediglich im Landkreis Çemişgezek konnte ich keinen Interviewpartner gewinnen. Ein Interviewpartner lebt im Landkreis Elazığ Zentrum, der historisch ebenfalls zur Region Dersim gehörte. Von den insgesamt dreißig Interviews mit Dedes werden zehn Interviews für diese Untersuchung herangezogen. Das maßgebliche Auswahlkriterium bestand darin, dass die Dedes verschiedenen heiligen Abstammungslinien angehören und zudem Interviews in allen acht Landkreisen der Provinz Tunceli geführt werden sollten, um ein möglichst breites Spektrum an spezifischen Erzählungen nach distinkten ocak-Traditionen in die Untersuchung aufnehmen zu können. Dedes aus verschiedenen ocaks beziehen sich in ihren Erzählungen auf die Legenden des jeweiligen heiligen Begründers der Abstammungslinie sowie dessen heilige Orte und darüber hinaus auf die Naturheiligtümer der gesamten Region. Während des zweiten Forschungsaufenthalts, im Jahr 2012, führte ich fünfzehn autobiographische Interviews mit Nachkommen armenischer Überlebender aus Dersim, von denen zehn für die Untersuchung ausgewählt wurden. Ein

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Auswahlkriterium bestand darin, dass die Interviewpartner nach Möglichkeit längere Zeit ihres Lebens in der Provinz Tunceli verbracht haben sollten, um die Besonderheiten der Bedingungen des Redens über Vergangenheiten von Nachkommen armenischer Überlebender in der türkischen Provinz nachzeichnen zu können. Als eine wichtige Analysekategorie für die Untersuchungsgruppe der Nachkommen von Armeniern erweist sich ihre konstruktive Bezugnahme auf die sozialen Verflechtungspunkte in Diasporagemeinschaft, Gastland und Herkunftsort und die verschiedenen Erinnerungsstrategien, die sie für sich in den jeweiligen Lebenssituationen mobilisieren können.1 Aufgrund des Kriegs zwischen PKK und türkischem Militär und der daraus resultierenden sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten sind die meisten der Nachkommen der Überlebenden mittlerweile geflüchtet. In der armenischen Diaspora in den städtischen Zentren der Türkei, in Europa und in den USA bietet sich ihnen die Möglichkeit des Anschlusses an eine armenische Vergemeinschaftung in Vereinen und Gemeinden. Über den Anschluss an institutionalisiertes diskursives Wissen über die armenische Gemeinschaft sind sie mit wieder anderen Bedingungen der Rede konfrontiert, die in der Analyse berücksichtigt werden.2 Unter den insgesamt zehn konnten fünf Interviewpartner gefunden werden, die bis heute in der Türkei in der Provinz Tunceli in den Landkreisen Nazımiye und Mazgirt leben. Die anderen fünf Nachkommen der Überlebenden des Genozids an den Armeniern leben gegenwärtig in der Diaspora, vier von ihnen in Istanbul und eine Person in Frankfurt am Main in Deutschland. Von den fünf Nachkommen armenischer Überlebender in Tunceli leben vier seit ihrer Geburt dort und haben die Provinz selten oder nie verlassen, während eine Person aus Deutschland wieder nach Tunceli in das Dorf der Familie zurückgekehrt ist und lediglich die Wintermonate in Istanbul verbringt. Einige der Nachkommen armenischer Überlebender in Istanbul reisen regelmäßig in den Sommermonaten in die Provinz Tunceli, während andere eine Rückkehr vollständig meiden. Für diejenigen Personen aus Dersim, die in der armenischen Diasporagemeinschaft in Deutschland leben, beschränkt sich ihr Kontakt zu ihrer Geographie der Erinnerungen in der Türkei und noch mehr in Tunceli auf seltene Besuche. Der soziale Erinnerungsrahmen ist zudem maßgeblich durch die Lebenssituation der Interviewpartner insbesondere durch ihren Kontakt und den Austausch mit Angehörigen geprägt, die in Tunceli, in Istanbul, in Europa und den USA leben. Interviewpartner unter den Nachkommen armenischer Überlebender des Genozids zu gewinnen, gestaltete sich erwartungsgemäß als schwierig. Auf-

1 Silverstein (2015, 287); Astourian (2007, 191–5); Kasbarian (2018, 2016, 207−11). 2 Talin Suciyan schlägt eine Konzeptualisierung der armenischen Diaspora vor, die Istanbul mit einschließt, siehe Suciyan (2016, 27–33); Erbal, Armenian Weekly, 29. 4. 2011.

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grund der Erfahrung wiederholter politischer Repressionen, Verfolgung und Gewalt insbesondere gegen die armenische Bevölkerung und zudem gegen die Bevölkerung in Dersim in der postgenozidalen Gesellschaft in der Türkei erwies sich die Kontaktaufnahme zu Nachkommen von Überlebenden des Genozids an den Armeniern als eine Herausforderung, die Geduld und Einfühlvermögen verlangte. In einem Dorf in Pertek, das bis zum Genozid 1915 auch armenisch bewohnt gewesen ist, zeigten mir die alevitischen Bewohner die örtliche Kirchenruine. Auf meine Frage nach Überlebenden des Genozids an den Armeniern verwiesen sie mich an einen Mann, der sich als Einziger in dem Dorf als Sunnit bekenne und „von armenischer Abstammung“ sei. In der ruralen Gegend von Dersim, in der Stammeszugehörigkeit und religiöse Zugehörigkeit bestimmende soziale Marker sind, weiß die lokale Bevölkerung, wer die Nachkommen der Überlebenden des Genozids 1915 sind, auch wenn sich diese selbst gegenwärtig mit der alevitischen oder sunnitischen Glaubensgemeinschaft identifizieren. Ironisch schilderten die alevitischen Dorfbewohner das sunnitische Bekenntnis dieses Nachkommens armenischer Überlebender als besonders beharrlich und nachdrücklich. In ihrer Wahrnehmung unterschied er sich durch seine Konversion zum sunnitischen Islam besonders deutlich von den Aleviten im Dorf, obwohl er beabsichtigt hatte, sich damit zum Schutz vor Verfolgung an die Konfession der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Diese prekäre Situation erforderte es, den Kontakt zu den Nachkommen armenischer Überlebender über Vertrauenspersonen aufzunehmen. Während jedoch bei manchen Nachkommen armenischer Überlebender ihre verwandtschaftlichen Beziehungen untereinander eine vertrauensbildende Referenz darstellte, gestaltete sich bei anderen die Kontaktaufnahme über Familienmitglieder, die sich infolge von Flucht, Verfolgung und politischen Prägungen von ihnen distanziert hatten, als nicht zuträglich. Generell erwies es sich als problematisch, das Vertrauen der Interviewpartner zu gewinnen. Auf ablehnende Reaktionen stieß ich in Tunceli, Istanbul sowie auch in Deutschland gleichermaßen. Dabei war es besonders schwierig, einen Zugang zu den in ruralen Gegenden in der Provinz Tunceli isoliert lebenden Personen aufzubauen. Ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zueinander sind ihnen oftmals zwar bekannt, aber da in manchen Fällen keinerlei Austausch zwischen den einzelnen Familienmitgliedern besteht – sei es aus Vorsicht oder aus Furcht – sind sie dementsprechend zurückhaltend mit Äußerungen zu ihrer Familiengeschichte. Vergleichsweise einfach war es, zu Personen, die in städtischen Zentren, nicht nur in Istanbul, sondern auch in der Stadt Tunceli, leben, Kontakt aufzubauen. Da sie leichter Beziehungen zu ihren Verwandten und zur Gemeinschaft aufrechterhalten können, leben sie unter günstigeren Bedingungen für die Konstituierung einer kollektiven Identität. Nicht nur auf dem Land war es offensichtlich, dass

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einige meiner Gesprächspartner selten oder nie zuvor mit einer Nicht-Angehörigen über ihre armenische Familiengeschichte gesprochen hatten. Mithilfe eines kombinierten Vorgehens aus Gatekeepermethode und Schneeballprinzip konnten die meisten Kontakte gefunden und Interviewpartner gewonnen werden.3 Der Zugang, den Gatekeeper aufgrund ihrer persönlichen Beziehungen zur Gruppe ermöglichen, lässt auf die Vernetzung der Interviewpartner untereinander schließen und stellt gleich zu Beginn eine Vertrauensbasis her. Sie bringt allerdings auch den Nachteil mit sich, dass die Vermittler möglicherweise nach eigenen Kriterien potenzielle Kontakte auswählen. Dieser Vorauswahl versuchte ich so weit wie möglich zuvorzukommen, indem ich meine eigenen Kriterien verdeutlichte und somit auch Kontakte zu Personen aufbauen konnte, die man mir vermutlich sonst nicht vorgeschlagen hätte, weil sie von den Gatekeepern für die Interviews als nicht geeignet ausgelassen worden wären. Für die Gruppe der Nachkommen armenischer Überlebender vermittelte der Gründer und Vorsitzende des Vereins der Dersim-Armenier, Miran Pirgiç, mir ihm bekannte Personen in der Provinz Tunceli und in Istanbul. Seine aktive identitätsstiftende Rolle für die Gruppe der Dersim-Armenier wird in der Analyse, neben meiner eigenen Wirkung, auf die Interviewpartner und auf deren identifikative Narrativierung des Selbst miteinbezogen. Dies bedeutet nicht, dass durch seine Vermittlung Stimmen unberücksichtigt blieben, die sich jedoch nicht als Dersim-Armenier identifizieren. Vielmehr vermittelte er mich auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin auch an Personen, die sich nicht als Armenier identifizieren, nicht Mitglieder im Verein sind und auch keinen Zugang zur Vereinszeitschrift haben. Zu ihnen begab ich mich ohne direkte Referenz und versuchte, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ihre Erzählungen sind stark von Auslassungen und Andeutungen gekennzeichnet. Dabei bieten die Erzählungen der durch ihn vermittelten Personen, die Vereinsmitglieder sind, vor allem Einblicke in ihre aktuelle Auseinandersetzung mit dem sich institutionalisierenden Diskurs über die Dersim-Armenier. Darüber hinaus gelang es mir, weitere Kontakte innerhalb dieser Gruppe über das Schneeballprinzip zu finden, indem ich meine Interviewpartner nach weiteren, ihnen bekannten, Personen fragte. Einen Kontakt zu einer armenischen Nachkommin konnte ich auf diese Weise über einen alevitischen Dede herstellen, zu dessen religiösen Anhängern sie zählt. Auch für die Gruppe der alevitischen Dedes konnte ich über das Schneeballprinzip einige Interviewpartner gewinnen, wodurch ich Einblick in das soziale Netzwerk der Interviewpartner erhielt.

3 Przyborski (2008, 72).

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Den Zugang zu den meisten Interviewpartnern aus der Gruppe der alevitischen Dedes stellte als Gatekeeper Hasan Sönmez her, der selbst Sohn eines Dedes ist, jedoch nicht als Dede auftritt. Mütterlicherseits gehört er dem Pilvenk – ocak an, väterlicherseits dem Kureyşan – ocak, wodurch seine Vorauswahl der Dedes beeinflusst war. Auch ihm gegenüber verdeutlichte ich meine Kriterien, wonach ich mich auch für Personen interessiere, die sich selbst nicht als Dede verstehen oder nicht als Dede akzeptiert werden. Dadurch wollte ich sicherstellen, auch an Personen verwiesen zu werden, deren Stimmen sonst nicht berücksichtigt worden wären. Den Kontakt zu einigen Dedes nahm ich somit lediglich über deren Adresse auf, ohne eine Referenz vorweisen zu können oder von einem Bekannten vorgestellt zu werden, wodurch mir in einigen Fällen wiederum Mißtrauen entgegengebracht wurde. Außer den beiden hier genannten Vermittlerpersonen sind Namen, Alter und der Wohn- und Geburtsort aller Interviewpartnerinnen und Interviewpartner zu ihrem persönlichen Schutz anonymisiert. Lediglich die Landkreise in Tunceli, in denen sie leben oder gelebt haben und im Fall der Dedes, die heilige Abstammungslinie, ocak, zu der sie gehören, sind nicht anonymisiert. Auch Personen- und Ortsnamen, die in den Interviews genannt werden, wurden anonymisiert. Die Durchführung der Interviews gliederte sich generell in zwei Teile: in einen Hauptteil, in dem ich die Lebensgeschichte als freie Erzählung aufnahm und in einen Nachfragenteil, den ich in Form eines offenen Leitfadeninterviews führte. Die Interviews fanden im oder vor dem Haus des Interviewpartners und somit in dessen vertrauter Umgebung statt. Wenn möglich, achtete ich darauf, dass keine weiteren Familienmitglieder oder andere Personen anwesend waren. Mittels eines Diktiergeräts nahm ich die Interviews digital auf, die ich anschließend transkribierte und übersetzte. Während der Interviews protokollierte ich äußere Umstände, notierte Unklarheiten für den Nachfragenteil, und verfasste anschließend Erinnerungsprotokolle. In welcher Sprache oder in welchen Sprachen die Interviews durchgeführt werden sollten, war für die Untersuchung von Erinnerungserzählungen in dem gegebenen Kontext von Mehrsprachigkeit und angesichts des Sprachverbots und der damit einhergehenden Sprachverschiebung eine wichtige methodische Entscheidung. Zudem stellt Sprache einen bedeutsamen Faktor in dem assoziativen Erinnerungs- und Narrativierungsprozess dar.4 Mit dem Sprachverlust,

4 Ein Modell zur Interdependenz von Mehrsprachigkeit und episodischem Gedächtnis zeigt, wie Sprache während der Generierung einer Erinnerung wirkt, da über die Sprache mit dem erinnerten Ereignis weitere kulturell-sprachliche Informationen assoziativ verknüpft sind, siehe: Schrauf (2003, 6−9).

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den die Nachkommen der armenischen Überlebenden nicht nur in der Diaspora außerhalb der Türkei, sondern insbesondere in der Türkei erfahren hatten, verbindet sich demzufolge auch ein erheblicher Erinnerungsverlust.5 Von den Erfahrungen erlittener Gewalt zu sprechen, verlangt von den Nachkommen der Opfer, die in der Türkei weiterleben, in der Sprache der Täter zu sprechen, die seit dem Gewaltverbrechen die hegemoniale Stellung beansprucht. In der Region Dersim werden, wie bereits einführend erwähnt, von verschiedenen Bevölkerungsgruppen als Mutter- und Zweitsprachen Zazaki, Kurmanci, Türkisch und auch Armenisch gesprochen. Unter den Nachkommen der armenischen Überlebenden aus Dersim sind die Kenntnisse des Armenischen sehr unterschiedlich ausgeprägt, abhängig von ihrem sozialen Umfeld und dem Ausmaß des Verlusts, den sie erlitten. In den meisten Fällen verwaist und ohne erwachsene Angehörige, ohne die Möglichkeit, Armenisch in der Gemeinschaft oder in der Schule zu lernen und somit ohne sich über die armenische mündliche Überlieferung oder Literatur Wissen über die Kultur aneignen zu können, verloren die armenischen Überlebenden ihre Muttersprache rasch nach dem Genozid. Aus Angst vor Verfolgung sprachen die Überlebenden seit dem Genozid nur im Privaten, heimlich, oft nur flüsternd. Diese Angst beim Sprechen der Sprache übertrug sich zusammen mit der Schwere der vermittelten Inhalte auf die Nachkommen. Die Überlebenden und deren Nachkommen ringen nicht nur innerlich damit, einen Ausdruck für den erlittenen Verlust zu finden, sondern ihre Überlieferung wird zudem durch das staatlich verordnete Sprachverbot und das sich selbst auferlegte Schweigen erschwert. Wenn es ihnen gelang, aus der ländlichen Isolation nach Istanbul oder in die Diaspora zu fliehen, konnten sich einige der armenischen Nachkommen die Muttersprache ihrer Großeltern aneignen. Somit erschlossen sie sich über diese assoziative Bedeutungsebene nicht selten ein Verständnis für die fragmentarische Überlieferung der Erinnerungen ihrer Vorfahren. Durch die Leugnung der armenischen Existenz in der Türkei in die Diaspora getrieben, verloren sie zwar den Kontakt zur Gegographie der Erinnerungen, zu den Erinnerungsorten ihrer Familie, sie gewannen dafür aber über die lebendige Verwendung ihrer Muttersprache die Möglichkeit, an ein soziales Gedächtnis der armenischen Gemeinschaft anzuschließen. Als offizielle Sprache in der Republik Türkei besetzt das Türkische eine dominante Position. Seit der Republiksgründung wurde Türkisch zur exklusiven Nationalsprache erklärt, die, nach Pierre Bourdieu, eine Integration in eine einzige linguistische Gemeinschaft anstrebt, während andere Sprachen Repressio-

5 Die überlieferten Fragmente auf Armenisch prägen die narrative Identität auch unter den Nachkommen in der Diaspora in Frankreich. Hovanessian (2009, 201−8).

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3 Methodisches Vorgehen

nen unterworfen werden.6 Mit Ausnahme weniger älterer Menschen, die keine Schulbildung durchlaufen und keinen Militärdienst absolviert haben, zumeist ältere Frauen, beherrschen in der Region alle Bewohner Türkisch. Infolge der repressiven Sprachpolitik in der Republik Türkei sind die Kenntnisse anderer Sprachen mittlerweile stark zurückgegangen.7 Das ist insbesondere für das West-Armenische der Fall, dessen Sprechergemeinschaft durch den Genozid 1915 auseinanderbrach und dessen institutionalisierte Verankerung in der postgenozidalen Türkei unterbunden wurde.8 Zazaki, das bis in die 1980er Jahre keine Schriftsprache darstellte, steht weiterhin dem Kurmanci hinsichtlich Prestige und institutionalisierter Sprachdokumentation, Korpusbildung und Spracherwerb nach und steht unter dessen Anpassungsdruck.9 Die Interviews führte ich auf Türkisch, der Sprache, die alle Interviewpartner neben einer oder mehrerer der anderen genannten Sprachen spätestens seit ihrer Schulzeit beherrschen und die einige als Muttersprache sprechen.10 Durch die Entscheidung, die Interviews nur in einer Sprache zu führen, zudem der hegemonialen Sprache, konnte ich im Rahmen dieser Untersuchung nicht die sprachspezifischen assoziativen Verknüpfungen in den Erinnerungserzählungen mit in die Betrachtung einbeziehen. Um diesem methodischen Problem zu begegnen, wurde darauf geachtet, in den seltenen Fällen von spontanem Sprachwechsel in die Sprachen Armenisch, Zazaki und Kurmanci diese Sequenzen anschließend im Nachfragenteil zu klären. Zudem konnten durch Nachfragen

6 Aslan (2007, 246). 7 Die negativen Auswirkungen der türkischen Sprachpolitik auf Kurmanci diskutiert: Zeydanlioglu (2012). 8 Al-Bataineh (2015); Donabédian-Demopoulos sieht die Vermittlung des West-Armenischen in der Türkei, neben dem Hemşinli und dem Dialekt am Musa Dağ, auf vereinzelte armenische Familien beschränkt: Donabédian-Demopoulos (2018, 91−2; 2007, 524−6); Die schwierige intergenerationale Vermittlung des West-Armenischen in einer Familie in Aleppo analysiert: Georgelin (2007). 9 Zur Institutionalisierung von Kurmanci siehe Öpengin (2012, 157−62). Angesichts des dominanten Türkisch ist die Sprachwahl bei Kurmanci vom Kontext abhängig, siehe Öpengin (2012, 171−4); Zur türkischen Sprachpolitik gegenüber dem Zazaki und zu dessen Verschriftlichung, siehe: Keskin (2015, 108−11). 10 Aufgrund des nachdrücklichen Zivilisierungsprojekts der staatlichen Institutionen in Tunceli, insbesondere der Bildungseinrichtungen, sind die Türkischkenntnisse der Einwohner, die zur Schule gingen, insgesamt auf einem gehobenen Niveau. Männer erwarben zudem durch den Militärdienst Türkischkenntnisse. Unter älteren Personen, insbesondere Frauen, sind einige nicht alphabetisiert. Die Interviewpartnerinnen in dieser Untersuchung beherrschten fließend Türkisch. Jedoch ist davon auszugehen, dass eine Berücksichtigung der ausschließlich Zazaki-Sprecher, die nur indirekt von der hegemonialen Sprache und dem darüber vermittelten Wissen beeinflusst wurden, zu anderen Ergebnissen geführt hätte, die im Rahmen dieser Studie nicht aufgenommen werden konnten.

3 Methodisches Vorgehen

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Aufschlüsse über den offiziellen und familiären Sprachgebrauch von Armenisch und Zazaki gewonnen werden, der oft von der Erfahrung von Verfolgung abhängig war. Das methodische Vorgehen für die Analyse des Textmaterials, sowohl der schriftlichen Texte als auch der transkribierten Interviews, orientiert sich an der Diskursanalyse in Anlehnung an Michel Foucault. Das Hauptaugenmerk der Untersuchung liegt, wie schon erwähnt, auf diskursiven Aneignungsprozessen und Behauptungselementen, die sich in den Erinnerungsnarrationen der Überlebenden und ihrer Nachkommen re- und dekonstruieren lassen. Dazu werden zunächst hegemoniale Diskurse über Dersim analysiert, um anschließend die narrativen Einbettungen der Erinnerungserzählungen in diese unterschiedlichen Diskurse zu beleuchten und um zu rekonstruieren, wie subalternen Motiven in gegenwärtigen autobiographischen Narrationen Bedeutung und Sinn zugeschrieben wird. In der Analyse des mündlichen Interviewmaterials lassen sich in den autobiographischen Narrationen diskursive Reihen identifizieren, die durch regelmäßige Aussagen systematisch einen Gegenstand als Wissen herausbilden. Im ersten Analyseschritt werden die Interviews auf einer strukturalen Ebene analysiert, um Aussagereihen zu definieren. Im zweiten Analyseschritt werden die Erinnerungsnarrationen dekonstruiert und dabei auf die sie konstituierenden hegemonial-diskursiven Elemente und subalternen Motive untersucht, um anschließend die subalternen Motive in Bezug auf korrespondierende regionale Mythen und Legenden zu rekonstruieren. Subalterne Motive werden dabei als das Unsagbare der hegemonialen Diskurse verstanden, das im Prozess der Rede in deren Ereignishaftigkeit und Kontingenz auftaucht. Außerdem werden rhetorische Mittel herausgestellt, die den von Michel Foucault unterschiedenen Verknappungsmechanismen der sprechenden Subjekte für die Ordnung des Diskurses in seinem Inneren entsprechen. Ein innerer Regulierungsmechanismus lässt sich in dem regelhaften und regelmäßigen Auftreten von Verwerfungen bestimmter Aussagen als falsche Aussagen erkennen. Ein weiterer wesentlicher Mechanismus zeigt sich in dem rhetorischen Stilmittel der correctio, die gerade geäußerte Argumente umgehend wieder entkräftet und aufhebt. In der Artikulation von Sprechverboten, die der Sprecher angesichts seiner angeeigneten Annahme der Unwissenheit an sich selbst erteilt, wird ein weiterer Mechanismus erkennbar. Somit rekonstruiert die Analyse sowohl den sich über Ausschließungsmechanismen vollziehenden Prozess der Verwerfung des Wissens als auch dessen Wiederauftauchen. Die Untersuchung geht in zwei Schritten vor. Zunächst rekonstruiert sie im ersten Teil, welche Fremdbilder hegemoniale Diskurse über Dersim entwerfen. Anschließend nimmt sie im zweiten Teil den diskursiven Aneignungsprozess

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3 Methodisches Vorgehen

dieser hegemonialen Fremdbilder in den Blick, wie er sich in autobiographischen Erinnerungsnarrationen aus Dersim äußert. Neben Diskurselementen, die die Erinnerungserzählungen aus hegemonialen Diskursen übernommen haben, versucht die Analyse, vereinzelte Motive aus der lokalen oralen Tradition in den Erinnerungserzählungen zu re- und dekonstruieren, die semantisch auf subalterne Vergangenheiten verweisen.

4 Forschungsstand Eine Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung des Redens über Vergangenheiten in Dersim, über das sich Wissen in Abhängigkeit von Machtverhältnissen konstituiert, zieht Studien aus der Hegemonie- und Diskursforschung sowie aus der Nationalismusforschung, insbesondere zum spätosmanischen Reich und zur modernen Türkei, heran. Von spezifischer Relevanz für das Verständnis der Zeugnisse von Überlebenden des Genozids an den Armeniern und der Gewaltverbrechen in Dersim 1938 sowie deren Leugnung sind Studien der Erinnerungsforschung, Soziologie, Geschichts- und Religionswissenschaften und der vergleichenden Genozidforschung. In der folgenden Skizze des aktuellen Forschungsstands wird die Untersuchung vor dem Hintergrund der Studien zum Alevitentum und zur Geschichte der Armenier in der modernen Türkei eingeordnet.

4.1 Der Leugnungsdiskurs über den Genozid an den Armeniern und über moderne Gewalt in der Republik Türkei Eine wesentliche diskursive Rahmung des Redens über Dersim besteht im hegemonialen Leugnungsdiskurs über den Genozid an den Armeniern. Der mit diesem vielfältig verbundene Diskurs über die Gewaltverbrechen in Dersim 1938 bildet eine weitere wichtige diskursive Rahmung dieser Rede. Die Bedeutung der Leugnungsmuster zum Genozid an den Armeniern für die Legitimation und Leugnung der Gewaltverbrechen in Dersim ist bisher in der Forschung nur wenig beachtet worden. Zunächst wird ein kurzer Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum Leugnungsdiskurs über den Genozid an den Armeniern gegeben. Anschließend wird dieser mit dem Forschungsstand zur Leugnung staatlicher Gewalt in der Republik Türkei gegen nicht-türkische Bevölkerungsgruppen in Beziehung gesetzt, wobei das besondere Augenmerk der Einordnung der staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 gilt. Ein Teil der Forschungen zum Leugnungsdiskurs an den Armeniern widmet sich dessen Strategien, Mustern und der historischen Entwicklung. In der vergleichenden Genozidforschung analysierten Vahakn Dadrian und Richard Hovannisian die Strategien der Leugnung des Genozids an den Armeniern auf Parallelen und Unterschiede zur Leugnung der Shoah. Neben den strategischen Gemeinsamkeiten in der Schuldabwehr, Schuldumkehr, Relativierung und Ratio-

https://doi.org/10.1515/9783110630213-004

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4 Forschungsstand

nalisierung, betonen sie als dessen Besonderheit die institutionalisierte Leugnung in der türkischen Wissenschaft.1 Stephan Astourian erklärt die breite gesellschaftliche Akzeptanz und Partizipation an der jungtürkischen Vernichtungspolitik gegen die Armenier mit einem bestimmten Wissen über nicht-muslimische Bevölkerungsgruppen, das in Sprichwörtern und Redewendungen vermittelt unter den türkischen und kurdischen Bevölkerungsteilen in der spätosmanischen Gesellschaft verbreitet war. Über dieses vorurteilsbeladene Bild von nicht-muslimischen Gruppen wurde zugleich das Bild von der idealen muslimischen Bevölkerung entworfen, wodurch Stephan Astourian die Vernichtung der Armenier eng mit der diskursiven Konstituierung der türkischen Nation verknüpft sieht.2 Einen Beitrag zur historischen Entwicklung des vom türkischen Staat sanktionierten Leugnungsdiskurses über den Genozid an den Armeniern leistete Seyhan Bayraktar.3 Ihre Untersuchung setzt in den 1970er Jahren ein, als der Guerillakampf der Geheimarmee zur Befreiung Armeniens (ASALA) eine spezifische argumentative Ausprägung des Leugnungsdiskurses der türkischen Regierung nach sich zog, die sich ihrem Feindbild des „armenischen Terrorismus“ erwehren zu müssen meinte. Dieser Leugnungsdiskurs beschwor das Szenario einer Umzingelung herauf, erhob den Vorwurf des „Verrats an der türkischen Nation und der Kollaboration mit dem Feind“ und empörte sich über die Undankbarkeit für die osmanische Toleranz.4 Seyhan Bayraktar diskutiert die institutionalisierte Verbreitung dieser Leugnungsargumente auf diplomatischer und wissenschaftlicher Ebene ab den 1980er Jahren.5 Hingegen argumentiert Talin Suciyan, dass seit dem Genozid dessen Leugnung die nationale türkische Identität definiere und untersucht für die Zeit bis in die 1950er Jahre, wie sich die ab 1923 institutionalisierte Leugnung dem Diskurs der armenischen Gemeinschaft einschrieb.6 Zudem rekonstruiert Fatma Müge Göçek, wie sich die Leugnungsargumente im jungtürkischen Diskurs nachweisen lassen, wobei sie die Überzeugung der Täter zu überraschen scheint, mit der diese die Verbrechen an den Armeniern rechtfertigten.7

1 Dadrian (1992, 282; 1999); Hovannisian (1998, 201−2; 2003). An US-amerikanischen Hochschulen begann die Leugnung in der Forschung zum Armenischen Genozid mit dem Kalten Krieg, siehe Mamigonian (2015, 62). 2 Astourian (1998, 28–35); vgl. auch Mamigonian (2015, 62). 3 Bayraktar (2010). 4 Bayraktar (2010, 48, 277). 5 Bayraktar (2010, 50); Kaiser (2003, 1–24). 6 Suciyan (2016, 20−2). 7 Göçek (2015, 58−9); Mamigonian (2015, 61).

4.1 Der Leugnungsdiskurs

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Ein zentraler Teil der Forschung zum Leugnungsdiskurs untersucht dessen Auswirkungen auf Erinnerungserzählungen und Geschichtsschreibung. Marc Nichanian betont in seiner Studie über die „historiographische Perversion“ hinsichtlich der Faktizität des Genozids, dass ein Genozid keinen Fakt, sondern dessen Zerstörung darstelle.8 Daher unterstreicht Marc Nichanian, dass die Leugnung des Genozids an den Armeniern die Gefahr für die armenische Erinnerungsgemeinschaft berge, dauerhaft in eine reaktive, defensive Position gedrängt zu bleiben. Dadurch werde die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Vermächtnis der Opfer und dem Zeugnis der Überlebenden permanent vernachlässigt und bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.9 Auch Talin Suciyan beschreibt den Leugnungsdiskurs als bestimmend für die Bedingungen des Weiterlebens der armenischen Nachkommen, wobei sie spezifisch die Situation der in der Republik Türkei lebenden Armenier in den Blick nimmt. In Anlehnung an Pierre Bourdieu prägte sie den Begriff des Habitus der Leugnung, um diese damit als sedimentiertes, akzeptiertes Wissen zu beschreiben, das in der postgenozidalen Gesellschaft der Türkei von der breiten Bevölkerung geteilt wird und beständig handlungsleitend ist.10 Aus sozialpsychologischer Sicht widmet sich Janine Altounian den Auswirkungen der Leugnungspolitik des Genozids an den Armeniern auf die intergenerationale Überlieferung armenischer Erinnerungen. Um eine Stimme gegenüber der Leugnung zu finden, müssten sich die traumatischen Erinnerungen doppelt versetzen, zeitlich über mehrere Generationen von Nachkommen und geographisch in die Fremde. Sie betont zwei Aspekte, die diesen Prozess kennzeichnen: das Andauern der Spuren der Katastrophe in den individuellen Erinnerungen der Nachkommen und die entscheidende Bedeutung des politischen Umgangs mit diesen Spuren.11 Dem Wirken des Leugnungsdiskurses auch in Hinsicht auf anschließende Gewalt in der Republik nachzugehen, erscheint angesichts seiner Kontinuitäten angebracht. Die staatlich sanktionierten Gewaltverbrechen, die nach dem Genozid an den Armeniern gegen nicht-muslimische, nicht-türkische Bevölkerungsgruppen verübt wurden, welche im Rechtssystem der Republik Türkei als Minderheiten gelten, sind in historischen Einzelstudien untersucht worden; so wie die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Thrakien 1934, die Verfolgungen während der Neuordnung der Vermögenssteuer 1942 und das Pogrom in

8 Nichanian (2009, 1). 9 Nichanian (2009, 93). 10 Suciyan (2016, 17–27). 11 Altounian (2015, 259; 266).

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4 Forschungsstand

Istanbul am 5. und 6. September 1955.12 Die jüngere Forschung diskutiert diese Ereignisse als Formen moderner Gewalt, die der Homogenisierung des Nationalstaats dienen sollten und somit für die nicht-muslimischen Bevölkerungsteile auf Vernichtung beziehungsweise Vertreibung außer Landes hinausliefen.13 Wie Ülkü Ağır darlegt, wurde die gewaltbereite Stimmung im Vorfeld des Pogroms in Istanbul 1955 in der türkischen staatsnahen Presse auch dadurch wachgerufen, dass sie an den exkludierenden Diskurs über nicht-muslimische Bevölkerungsgruppen aus der Zeit der jungtürkischen Regierung anknüpfen konnte.14 Talin Suciyan ordnet die staatlichen Gewaltmaßnahmen gegen nicht-türkische, nicht-muslimische Bevölkerungsteile in republikanischer Zeit, darunter die „mass murder and genocidal policies in Dersim 1938“, als Ausdruck ihres oben erwähnten Konzepts des Habitus der Leugnung ein.15 Historische Studien zu staatlich sanktionierten Gewaltmaßnahmen, die sich gegen kurdisch muslimische Bevölkerungsgruppen in den 1920er bis Anfang der 1940er Jahren richteten, ordnen diese hingegen überwiegend als die Niederschlagung einer Reihe von reaktionären oder kurdisch-nationalistisch und separatistisch motivierten Aufständen ein und deuten sie als assimilatorische Maßnahmen zur Türkisierung der muslimischen nicht-türkischen Bevölkerungsteile.16 Parallel dazu verbreitete der PKK-Diskurs die Vorstellung kontinuierlicher kurdischer Aufstände, wobei er das Selbstbild von Widerstand und Märtyrertum im kurdischen Befreiungskampf bediente.17 Als Gründer der Nation spielte Mustafa Kemal Atatürk eine diskursprägende Rolle, wie Fatma Ulgen anhand seiner Rede Nutuk argumentiert, in der sie die Grundlage für die Resilienz des türkischen Leugnungsdiskurses bis in die Ge-

12 Derya Bayır rekonstruiert den Prozess zu Beginn der Republik Türkei, in dem nicht-muslimischen Glaubensgemeinschaften der Status nationaler Minderheiten zugeschrieben wurde. Im osmanischen millet-System standen nicht-muslimischen Glaubensgemeinschaften begrenzt autonome Rechte zu, die nach der türkischen Staatsgründung jedoch auf alleinig religiöse Befugnisse eingeschränkt wurden, siehe: Bayır (2013a, 23−7, 41, 68−70; Akgönül (2013, 65−77).). Die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Thrakien 1934 untersuchen: Guttstadt (2014); Bali (2008a; 2008c); Bayraktar (2011). 13 Bayır (2013a, 127−30); Sigalas (2008, § 7−9). 14 Ağır (2014, 290). 15 Suciyan (2016, 11). 16 Meiselas (1997, 118); Olson (1989); White (2000). Zur Dokumentation des staatlichen Diskurses über die kurdischen Aufstände siehe: Bulut (1991). 17 Neyzi (2010, 19–20). Eine umfassende Untersuchung zum Märtyrerdiskurs der PKK steht noch aus, bisher wurden lediglich einzelne Aspekte beleuchtet. Zu seiner frühen Entwicklung, siehe: Jongerden (2012a). Zu seiner Einbettung in schiitische Narrative von Kerbela, siehe: Ramazan (2014, 137).

4.1 Der Leugnungsdiskurs

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genwart sieht.18 Die Nachricht, dass Sabiha Gökçen als ein armenisches Waisenkind von Atatürk adoptiert worden war, löste 2004 eine Debatte in den türkischen Medien aus. Diese Debatte diskutiert Fatma Ulgen als einen besonders kritischen Moment in der türkischen Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Armeniern, weil sie Mustafa Kemal Atatürk dazu wie nie zuvor in direkte Verbindung setzte.19 Da Fatma Ulgen die Militäraktion in Dersim als Niederschlagung eines kurdischen Aufstands einordnet, zieht sie jedoch Mustafa Kemal Atatürks direkte Verantwortung für die staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 nicht in Betracht. Eine solche Deutung der türkischen Militäroperation in Dersim 1938 – als die Niederschlagung eines kurdischen, reaktionären Aufstands – stellten Gülay Kayacan, Bülent Bilmez und Şükrü Aslan ihrerseits als Teil des Legitimationsdiskurses für die Vernichtungspolitik in Dersim heraus.20 Die alevitischen Erinnerungserzählungen beschreiben die armenische Bevölkerung in Dersim, die den Genozid 1915 überlebt hatte, als eine besonders betroffene Opfergruppe der Gewaltverbrechen 1938. Die Aleviten tragen somit die diskursive Ausgrenzung der Armenier als die „Anderen der Anderen“ mit und verschweigen in der Regel bis heute ihre Verantwortung am Genozid.21 Den Ausschlussmechanismus analysiert auch Taha Baran im Legitimationsdiskurs zu den staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim in der öffentlich-staatlichen Presse in den Jahren 1937 bis 1938, die er in Anlehnung an Ashis Nandys Theorien zum internal orientalism interpretiert.22 Dabei unterstreicht Taha Baran als typisches Argumentationsmuster die Dehumanisierung der Bevölkerung in Dersim, allerdings ohne einen Zusammenhang mit Legitimationsmustern des Leugnungsdiskurses zum Genozid an den Armeniern herzustellen.23 Die einführend erwähnte Parlamentsrede des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu den „Massakern in Dersim 1938“ im Dezember 2011 dekonstruiert Bilgin Ayata als Teil des Diskurses der Anerkennung von Rechten von Minderheiten der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Bilgin Ayata analysiert die vermeintliche Entschuldigung von Recep Tayyip Er-

18 Ulgen (2010a, 371–3). 19 Ulgen (2010b, 151−2). 20 Bilmez (2011, 44–5). 21 Bilmez (2011, 106–11). Auch Hélène Piralian-Simonyan argumentiert im Anschluss an Hrant Dınk, dass Armenier in der türkischen Gesellschaft nicht nur als „das Andere“, sondern als „le plus autre“ aufgefasst würden. Durch die Leugnung der Auslöschung der Armenier werde eine armenische Trauer dauerhaft verhindert, siehe Piralian-Simonyan (2016, 213). 22 Baran (2014, 13). 23 Baran (2014, 119–26).

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4 Forschungsstand

doğan als eine aktualisierte Verweigerung der Anerkennung von Rechten von Minderheiten. Die strategische Schuldabwehr und -umkehr, mit der Erdoğan die Verantwortung für die staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 an Kemal Kılıçdaroğlu, den Oppositionsführer der kemalistischen Partei CHP, abschob, um ihn ruhig zu stellen, vergleicht Bilgin Ayata dabei in Anlehnung an Marc Nichanian mit der Perversität des Leugnungsdiskurses des Genozids an den Armeniern.24 Seyhan Bayraktar problematisiert die von der türkischen Zivilgesellschaft vorherrschend praktizierte gänzliche Verschiebung der Verantwortung für den Leugnungsdikurses auf den türkischen Staat als kennzeichnend für den aktuellen Versöhnungsdiskurs.25 Bilgin Ayata plädiert für einen integrativen analytischen Ansatz in der Forschung zu Gewalt und bei der Vergangenheitsbewältigung in der Türkei. Dieser sollte insbesondere die Bemühungen um eine Versöhnung mit den Opfern des Genozids 1915 vonseiten pro-kurdischer Akteure in den Blick nehmen, in denen Bilgin Ayata ein Potenzial für eine Herausforderung des hegemonialen türkischen Leugnungsdiskurses sieht.26 Die Anerkennung der Verantwortung der kurdischen Bevölkerung am Genozid an den Armeniern verbindet sich im pro-kurdischen Diskurs in der Regel mit der Aufforderung an die türkische Regierung, ihre Verantwortung an den Gewaltverbrechen der Vergangenheit, einschließlich der repressiven Politik gegenüber der kurdischen Bevölkerung, anzuerkennen.27 Darauf deuten auch verschiedene oral-history – Forschungsprojekte zu Repräsentationen des Genozids an den Armeniern in der kollektiven Erinnerung in den überwiegend kurdisch bewohnten Gebieten der Türkei.28 Wie Marlene Schäfers in ihrer Untersuchung zu Van, so konstatieren auch Namık Kemal Dinç und Adnan Çelik zu Diyarbakır, sowie auch Leyla Neyzi zu Diyarbakır und Muğla, dass es die Wahrneh-

24 Ayata (2013, 139). 25 Bayraktar (2015b, 801). 26 Ayata (2015, 809). 27 Durch die Einnahme der Opferposition und die implizite Schuldabwehr setzt sich im prokurdischen Diskurs ein Leugnungsmuster fort, siehe dazu: Törne (2015a). 28 Umfangreichere oral history-Projekte sind institutionell eingebunden, so beispielsweise von der pro-kurdischen İsmail Beşikci Stiftung: Çelik (2015); Altın (2015). Im Rahmen eines türkisch-armenischen Dialogprojekts stellte das oral-history-Forschungsprojekt „Speaking to One Another: Personal Memories of the Past in Armenia and Turkey“ eine internationale Zusammenarbeit zwischen der Sabancı Universität in Istanbul und der Staatsuniversität in Jerewan auf Initiative des deutschen Instituts für Internationale Zusammenarbeit des Deutschen Volkshochschul-Verbandes e. V. (DVV) den schwierigen Versuch dar, durch die Gegenüberstellung kurdischer und armenischer Erinnerungen eine Annäherung zu erreichen, Neyzi (2010) siehe auch, Gülçicek (2013).

4.2 Subalterne Stimmen

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mung der eigenen Opferschaft seit der Gründung der Republik und insbesondere im Bürgerkrieg zwischen der PKK und dem türkischen Militär sei, die den kurdischen an den armenischen Opferdiskurs anschließen ließe.29 Darüber hinaus beleuchten Ergin Öpengin und Adnan Çelik literarische Repräsentationen des Genozids an den Armeniern in Gegenwartsromanen auf Kurmanci und Zazaki daraufhin, inwiefern sie Konkurrenznarrative zum Leugnungsdiskurs darstellen.30 Auch Studien über die Rolle materieller Hinterlassenschaften von nicht-muslimischen Minderheiten in den kurdisch bewohnten Gebieten der Türkei schreiben diesen vorwiegend das Potential zu, Raum für alternative Geschichtsnarrative öffnen zu können.31 Zugunsten der Hervorhebung von Konkurrenznarrativen zum Leugnungsdiskurs stellt diese Art Forschung die Analyse der Leugnungsmuster oft zurück. Aktuelle Forschungen zum türkischen Leugnungsdiskurs und der Gewalt gegen Minderheiten haben den Zusammenhang zwischen der Leugnung des Genozids an den Armeniern und den darauffolgenden Ereignissen von staatlich initiierten Gewaltverbrechen gegen nicht-türkische, nicht-muslimische und muslimische Bevölkerungsgruppen in der Türkei bisher nur randständig bemerkt.32 Die Anbindung der Untersuchung der Legitimationsdiskurse moderner Gewalt in der Republik Türkei an die Forschung zu Leugnungsstrategien des Genozids an den Armeniern steht daher noch aus. Bislang wurde der Leugnungsdiskurs des Genozids an den Armeniern kaum als Folie für die anschließenden exkludierenden Diskurse aufgefasst, deren systematische Analyse auf argumentative Kontinuitäten in den Legitimationsmustern neue Einsichten bietet.33

4.2 Subalterne Stimmen und multiethnische Koexistenz im Osmanischen Reich und im türkischen Nationalstaat Ansätze der Subalternen Studien sind in der Forschung zur modernen Türkei lange Zeit unbeachtet geblieben. Dipesh Chakrabartys berühmte Kritik am westlichen Geschichtsmodell dient Fatma Müge Göçek lediglich dazu, die Geschichtsschreibung zum Genozid an den Armeniern zu diskreditieren. Insbesondere das 29 Çelik (2015, 143); Öpengin (2016, § 19−20); Ramazan (2014); Neyzi (2013); Schäfers (2016, 1−2). 30 Galip (2016, 474−5); Öpengin (2016). 31 Girard (2014); Ayata (2012); Kerovpyan (2016). 32 Ayata (2015, 807–12); Bayraktar (2015b, 801–6); Erbal (2015, 783–90); Dixon (2015, 796– 800); Gürsel (2015, 791–5); Bayraktar (2015a, 61–9). 33 Für eine Diskussion der Erklärungsansätze für moderne Gewaltverbrechen in der Republik Türkei siehe: Törne (2015b, 403–17).

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4 Forschungsstand

jüdisch-christlich konnotierte Konzept der Gerechten ist ihrer Ansicht nach von westlichen, gegen den Islam voreingenommenen, Vorstellungen geprägt.34 In Bezug auf den Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“ von Gayatri Chakravorty Spivak, in welchem sie auf die Grenzen der subalternen Artikulation eingeht, stellt Hakkı Taş die Frage, inwiefern Aleviten eine eigene Stimme hätten. Aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive heraus analysiert er in dieser Hinsicht die Schriften des US-amerikanischen protestantischen Missionars Stephen van Rensselaer Trowbridge und des kemalistischen Regierungsmitglieds Baha Said Bey. Hakkı Taş verdeutlicht, dass beide Autoren Aleviten als hilflose Gruppe darstellen, die nicht selbst für sich sprechen könnten und daher auf die Rettung von Seiten der Missionare oder der türkischen Regierung angewiesen seien. Indem sie deren Stimmen vertreten, argumentiert Hakkı Taş im Anschluss an Gayatri Chakravorty Spivak, würden die Autoren den Aleviten eine eigene Handlungsmacht absprechen.35 Darüber hinaus greifen auch Ayda Erbal, Talin Suciyan und Sossie Kasbarian in ihren Studien zu den Armeniern in der modernen Türkei die Fragstellungen von Gayati Chakravorty Spivak auf. Ayda Erbal beobachtet, wie der strukturell rassistische Leugnungsdiskurs subalterne Stimmen delegitimiert.36 Talin Suciyan fragt danach, ob die Opfer des Genozids an den Armeniern eine eigene Stimme haben, und wenn ja, ob und von wem sie gehört werden, oder wer anstelle der Opfer spreche. Weiter fragt Talin Suciyan, ob in der modernen Türkei die erforderlichen Bedingungen gegeben sind, also die Anerkennung der Erfahrung und der Erzählung der Armenier, die es ihnen ermöglichen würden, ihre Stimmen zu erheben.37 Die trotz des Schweigens über Generationen unbewußt überlieferten Erinnerungsspuren armenischer Überlebender, so formuliert Janine Altounian optimistisch, würden selbst in der Türkei über die Zeit eine Stimme finden, nach außen dringen und Gehör einfordern. Somit würden die armenischen Nachkommen langsam zu Subjekten ihrer Geschichte.38 In einer Studie zu den Positionierungen von Armeniern im heutigen Istanbul erklärt Sossie Kasbarian deren vage geäußerte Aussagen mit dem Fehlen

34 Göçek (2011, 227). 35 Taş (2015, 327). 36 Erbal (2015, 785). 37 Suciyan (2015a, 60). 38 Altounian (1990; 1996; 2009); hier: (2015, 264–6). Wenn auch die Erinnerung selbst im Stillen omnipräsent sei, bleibe die Herausbildung der kollektiven Erinnerung vom öffentlichen Diskurs abhängig, siehe Kaynar (2015, 309; 314). Beyleryan untersucht Erinnerungserzählungen aus der armenischen Gemeinschaft in Istanbul über drei Generationen und weist nach, dass diese unterschiedslos von Angst als Reaktion auf die offizielle Leugnung zeugen, Beyleryan, (2016; 2019, § 29). Siehe auch Holslag (2018).

4.2 Subalterne Stimmen

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eines sicheren Artikulationsraums. In der Hoffnung auf eine Koexistenz der Narrative spricht sich Sossie Kasbarian dafür aus, dass sich armenische Stimmen als Konkurrenz-Narrative neben dominanten Narrativen einen Raum schaffen sollen.39 Ohne einen geschützten Artikulationsraum sehen sich deren Stimmen jedoch den Ausschlußmechanismen der Leugnung ausgesetzt.40 Ähnlich will Adnan Çelik die kurdischen Gegen-Erinnerungen als Ort der „symbolischen Konfrontation mit der Vergangenheit“ des Genozids an den Armeniern verstehen.41 Amy Mills zeigt in ihrer kritischen Analyse des kollektiven Gedächtnisses im ehemals multiethnischen Stadtteil Kuzguncuk in Istanbul, dass der nostalgische Diskurs über die osmanische Harmonie und multiethnische Koexistenz tatsächlich keine Anerkennung von Differenzen befördere, sondern im Gegenteil fortfahre, sie aufzuheben und somit Minderheiten weiterhin ihre Existenz abspreche.42 Dadurch setze sich die Ausschließung anderer Stimmen in hegemonialen Diskursen in der Türkei fort. Diese Regel bestätigt sich in den Gegenwartsromanen zu Dersim, die sich, wie Pınar Dinç zeigt, seit 2010 auf das Bild des harmonischen Zusammenlebens von Armeniern und Aleviten berufen, ohne jedoch die ethnische und kulturelle Vielfalt der Region anzuerkennen.43 Nanor Kebranian bemerkte zu den aktuellen Studien über interkommunales und interkonfessionelles Zusammenleben in osmanischer Zeit insbesondere deren problematische Quellengrundlage. Anhand einer sorgfältigen Analyse der autobiographischen Schriften des armenischen Schriftstellers Hagop Oshagan (1883–1948) rekonstruiert sie den Verlust der Umwandelbarkeit in der Republikzeit, die für das spätosmanische apostatische Subjekt kennzeichnend gewesen sei.44 Den erzwungenen Verlust dieser Umwandelbarkeit erfuhr Hagop Oshagan

39 Kasbarian (2016, 222). 40 Kasbarian (2016, 211); siehe auch: Kasbarian (2014a; 2014b). Eine Analyse des AKP-Diskurses, der den vermeintlichen Bruch der Kemalisten mit dem Erbe des Osmanischen Reichs aufhebt und stattdessen die Harmonie verschiedener Kulturen im Osmanischen Reich betont, siehe auch: Ayata (2012). 41 Çelik verbindet das Konzept der Gegen-Erinnerungen, die er im kurdischen kollektiven Gedächtnis untersucht, mit dem Begriff des unterworfenen Wissens von Michel Foucault, den er allerdings seinerseits für die kurdischen Erinnerungen an den Genozid an den Armeniern verwendet. Diese Konzeptualisierung, die den pro-kurdischen Diskurs aus dem hegemonialen Leugnungsdiskurs ausnimmt, vernachlässigt die kurdische Rolle als Täter im Genozid und ist zudem vom typischen Ausschluss der armenischen Erinnerungen in der Konstituierung des kurdischen kollektiven Gedächtnisses gekennzeichnet. Çelik (2015; 2016; 2017). 42 Mills (2010, 211). Seit 1950 gibt es in der Türkei einen Diskurs, der die bis dahin unterdrückte Erinnerung an die osmanische Vergangenheit romantisiert, siehe Eldem (2010, 29). 43 Dinç (2018, 154). 44 Kebranian (2014, 238–62).

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4 Forschungsstand

als Überlebender des Genozids an den Armeniern als unauflösbare Ambivalenz, die er als Seelenmischung beschrieb.45 Die Spuren dieses Verlusts versucht die vorliegende Studie in den Erinnerungserzählungen der Nachkommen nachzuzeichnen. Den Fragen nach den Bedingungen und Grenzen der Artikulation armenischer Überlebender und ihrer Nachkommen in der modernen Türkei, die Talin Suciyan aufwarf, ist noch nicht weiter nachgegangen worden. Eine dafür notwendige diskursanalytische Untersuchung der Bedingungen der Rede für Nachkommen der armenischen Überlebenden steht noch aus. Zudem fehlt eine diskursanalytische Untersuchung, die auf der Quellengrundlage von gegenwärtigen autobiographischen Narrationen der Nachkommen armenischer Überlebender in der Türkei näher auf deren Aneignungen des Leugnungsdiskurses eingeht.

4.3 Der aktuelle Diskurs über Armenier in der Republik Türkei Die aktuelle Forschung in der Türkei richtet ihr Interesse weniger auf die Leugnungsargumentationen, als vielmehr auf das Schweigen über den Genozid an den Armeniern. Dabei widmet sie sich zuerst dem Verschweigen der Täter, wofür sie auch Erklärungsansätze aus den gender studies heranzieht.46 So untersucht Hülya Adak die Autobiographie von Sabiha Gökçen, in der sie ein Schweigen nachzuweisen sucht, dass Gender- und Ethniegrenzen konstruiere.47 Sabiha Gökçen als erste weibliche Pilotin der Türkei gilt im offiziellen Diskurs als Vorzeigemodell der modernen türkischen Frau. Als eine der Adoptivtöchter Mustafa Kemal Atatürks wurde sie vor allem für ihre militärischen Einsätze in der Luftwaffe bekannt. In den staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 war Sabiha Gökçen als prominente Bomberpilotin an der unterschiedslosen Vernichtung der Bevölkerung beteiligt. Für ihre vermeintlichen Verdienste wurde sie anschließend als Nationalheldin gefeiert, wobei ihre eigentliche Tätigkeit sowie die Gründe und Ziele der Militäroperation verschwiegen wurden. Das komplementäre Verschweigen im offiziellen Diskurs und in der Autobiographie von Sabiha Gökçen ist in der Forschung zuerst von Ayşe Gül Altınay herausgestellt worden.48

45 46 47 48

Kebranian (2014, 246). Altınay (2011; 2014a; 2014b; 2014c; 2015a). Adak (2015, 338–9). Altınay (2000, 257).

4.3 Der aktuelle Diskurs über Armenier in der Republik Türkei

47

Das Forschungsinteresse an islamisierten Armeniern begann mit der Veröffentlichungswelle von Erinnerungsliteratur der Nachkommen armenischer Überlebender. Die Publikation der Erinnerungen von Fethiye Çetin an ihre Großmutter, Anneannem, erregten 2005 erstmals ein breites öffentliches Interesse in der Türkei an dem Thema. Darin spricht die Autorin bezeichnenderweise während des Begräbnisses ihrer Großmutter nach islamischem Ritus deren armenischen Namen Heranuş aus – anstelle der Verstorbenen, die ihn Zeit ihres Lebens verschwieg.49 Dieses Sprechen für die armenischen Überlebenden kennzeichnet die Narrative der Enkel von Überlebenden, die nachfolgend von Fethiye Çetin und Ayşe Gül Altınay veröffentlicht wurden, ohne dass dieses stellvertretende Sprechen von den Herausgeberinnen theoretisiert worden wäre.50 Ein weiteres oral-history – Projekt der Hrant Dink Stiftung, in dessen Rahmen Erinnerungserzählungen von Nachkommen der Armenier in den verschiedenen Provinzen der Türkei aufgenommen und veröffentlicht werden, lässt „Armenier sprechen“, ohne jedoch ihre Rede in den Kontext der Leugnung einzuordnen.51 Zudem richtete die Hrant Dink Stiftung 2014 eine Konferenz in Istanbul aus, die sich der Problematik von konsensueller oder kompulsiver Konversion unter dem Titel „Islamisierte Armenier“ („Müslümanlaş(tırıl)mış Ermeniler“) widmete.52 Auf dieser kritisierte Ayşe Gül Altınay die Haltung des armenischapostolischen Patriarchats zu den zum Islam konvertierten Armeniern als ablehnend und intolerant. Ohne diese Haltung als Folge des Leugnungsdiskurses einzuordnen, erklärte sie in Schuldumkehr die „patriarchale, nationalistische Institution“ verantwortlich für den Ausschluss der Konvertiten aus der armenischen Gemeinschaft.53 Hingegen hat die jüngere Forschung die Bemühungen um eine identitätsstiftende Rolle unterstrichen, die das armenisch-apostolische Patriarchat in Istanbul einzunehmen bestrebt war, indem sie die armenischen Überlebenden nach dem Genozid in der Türkei mit Übergangsriten begleitete.54

49 Çetin (2004). Altounian bezeichnet das ängstlich Verschwiegene im Inneren als „boule au ventre“, ein schweres Gefühl im Bauch, das schließlich herausbreche, siehe Altounian (2015, 265). 50 Altınay (2009; 2014c). 51 Balancar (2012; 2013a; 2013b); siehe hierzu: Ihrig (2014). In ihrer Analyse der Narrationen islamisierter Armenier in Diyarbakır diskutieren Adnan Çelik und Namık Kemal Dinç wiederum mit den erwähnten Prämissen zur Gegenerinnerung, zur Institution des kirvelik und deren radikale Aufhebung im Genozid. Çelik (2015, 313–31). 52 Im türkischen Titel der Konferenz erscheint die passive Form, die auf eine Konversion unter Zwang hinweist, in Klammern. Dokumentation der Konferenz: Ermeniler (2015). 53 Altınay (2015b, 63−4). Der veröffentlichte Vortrag erhebt diesen Vorwurf gleichermaßen gegen türkische und armenische nationalistische Institutionen. 54 Cheterian (2015).

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4 Forschungsstand

Für die Forschungen zu subalterner Artikulation und „islamisierten Armeniern“ ist die oft zugrundeliegende Annahme bestimmend, dass sich durch das Dokumentieren der Narrative von überlebenden Armeniern und ihren Nachkommen ein Artikulationsraum in der Türkei öffnen ließe, der es ermögliche, multiple Narrative nebeneinander bestehen zu lassen. Dieser problematische Umgang mit den Zeugnissen rückt die Narrative in ein diskursives Feld der Aushandlung, wobei er die Wirkmacht des hegemonialen Leugnungsdiskurses in der Anfechtung ihrer Aussagen unterschätzt. Da die Nachkommen der armenischen Überlebenden somit einer Infragestellung ausgesetzt sind, geraten sie in eine defensiv reaktive Position, in der sich jener lähmende Wirkkreis verstetigt, vor dem Marc Nichanian warnt. Daher ist eine kritische Untersuchung der Bedingungen der Artikulation von Nachkommen unverzichtbar, um ihre Stimmen als gegenwärtige Repräsentationen der Folgen des Verlusts der Umwandelbarkeit ihrer armenischen Vorfahren analysieren zu können.

4.4 Die Konstruktion religiöser Differenz in der Region Dersim Zentrale Themen in der Forschungsgeschichte zu Religionen in Dersim stellen mündlich tradierte Glaubensinhalte und Rituale dar, die nicht dem orthodoxen Kanon der Schriftreligionen des Judentums, Christentums und des Islams entsprechen und als Häresie oder Heterodoxie aufgefasst wurden, sowie die mit dieser Differenzkonstruktion verknüpften Phänomene der religiösen Konversion und Rekonversion, Apostasie und Kryptoreligiösität. Wie Valentina Calzolari konstatiert, ist in iranistischen und armenologischen Studien im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Suche nach der „paganen armenischen Seele“ erkennbar.55 In dieser Forschungstradition ist wiederholt davon ausgegangen worden, dass religiöse Praktiken und Vorstellungen der vorchristlichen Religionen noch lange nach der Christianisierung Armeniens im 4. Jahrhundert in einigen Regionen weitergeführt worden seien.56 Zur Stützung dieser Annahme wurden armenische Quellen von christlichen Historiographen und geistlichen Gelehrten herangezogen. In der Geschichte des Agathangelos aus dem 5. Jahrhundert findet insbesondere die Region Erez, das heutige Erzincan im Norden von Dersim Erwähnung, die als Ort der sieben wichtigsten Heiligtümer, darunter die der Hauptgottheiten Anahit, Vakhan und Bashmina,

55 Calzolari (2014, 127–8; Avétis Aharonian meinte 1913, das „Herz der armenischen Nation“ in der paganen Seele zu finden: 141). 56 Abeghian (1899, 7); Russel (1987, 515); Schmidt (1994, 53–5).

4.4 Die Konstruktion religiöser Differenz in der Region Dersim

49

eine zentrale Rolle im vorchristlichen armenischen Glauben gespielt habe.57 Zu Beginn der Christianisierung Armeniens im 4. Jahrhundert zog Gregor, der Erleuchter, aus, um diese Heiligtümer zu zerstören. Wie Valentina Calzolari Agathangelos entnimmt, s t i e ß G r e g o r d a b e i auf den Widerstand von Dämonen, den Valentina Calzolari als den der örtlichen Bauern und traditionellen Priester interpretiert.58 Dieser spezifischen, metaphorischen Form der Narrativierung der Verteidigung gegen Konversion und Unterwerfung unter die neue Herrschaft ist bisher in der Forschung nicht näher nachgegangen worden. Die eindringlichen Bemühungen armenisch-christlicher Historiographen, Armenien als vollständig christianisiert zu beschreiben, werden in der Forschung als Überschreibungsversuche der vorhandenen Unstimmigkeiten in Reaktion auf die Konversion gewertet.59 In der Folge r e k o n s t r u i e r t d i e F o r s c h u n g e i n e B e v ö l k e r u n g , die noch nicht vollständig zum Christentum konvertiert gewesen sei und die weiterhin iranischen Glaubensvorstellungen angehangen habe. Die Forschung verortet diese Glaubensgemeinschaft in den Regionen im Umkreis von Dersim, in Diyarbakır, Malatya und Erzincan, indem sie sich auf Schriften armenischer christlicher Gelehrter bezieht, in denen armenisch-christliche häretische Gruppen beschrieben werden. In der Mitte des 11. Jahrhunderts bezeugt der armenische Gelehrte Grigor Magistros Pahlavuni eine Glaubensgemeinschaft, die sich selbst als Arewordik, armenisch für „Kinder der Sonne“, bezeichnet und die unter dem Einfluss von persischen Priestern in der Nachfolge Zarathustras gestanden habe.60 Angesichts derartiger Zeugnisse über die lokale Glaubensgemeinschaft nimmt James Russel eine Kontinuität von iranisch geprägten vorchristlichen Traditionen insbesondere in bergigen Gebieten an, die ihn deren Fortbestehen bis zum Genozid an den Armeniern möglich erscheinen lässt.61 Die „Kinder der Sonne“ werden bei Grigor Magistros Pahlavuni von den bekannteren religiösen Gruppen der Paulikianer und Tondrakiten unterschieden, die im 9. und 10. Jahrhundert in der Region im Südosten von Dersim in der Stadt Diviriği einen wichtigen Ort des Rückzugs vor ihrer Verfolgung als christliche Häretiker durch die byzantinische Herrschaft fanden.62 Die Frage nach der Kontinuität und Transformation der paulikianischen Tradition ist auf-

57 Sinclair (1989, 435). 58 Calzolari (2011, 47). Zur Christianisierung von Kleinarmenien und dem Leben von Bischof Grigor siehe: Stopka (2016, 30–3). 59 Schmidt (1994, 53). 60 Russel (1987, 515–17). 61 Russel (1987, 528). 62 Garsoïan ([1967] 2011, 191−2); Stoyanov (2000).

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4 Forschungsstand

grund der spärlichen Quellenlage indes kompliziert, wie zuletzt Yaşar Tolga Cora in Hinblick auf Tondrakiten in Hınıs, nordöslich von Dersim, verdeutlichte, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts auf das paulikianische Vermächtnis beriefen.63 Erklärungsansätze, die eine Kontinuität der paulikianischen Tradition bis hin zu den Aleviten erkennen wollen und kollektive Konversionen von Paulikianern zum Alevitentum annehmen, hält Yuri Stoyanov angesichts der Quellenlage für nicht haltbar.64 Aus schiitischer Perspektive wurden häretische Gruppen durch den Begriff Übertreiber (pers. ghulat) von der Orthodoxie unterschieden. Matti Moosa meint, eine solche schiitische ghulat-Gruppe in den Kızılbaş-Kurden in Dersim erkennen zu können, da sie pagane, christliche und islamische Elemente in sich vereine.65 Mit Bezug auf die Berichte von Reisenden, Forschern und Missionaren aus dem Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts charakterisiert er sie als Krypto-Christen und knüpft somit an einen wissenschaftlichen Diskurs über Krypto-Christen im Osmanischen Reich und in der Türkei an.66 Im 19. Jahrhundert begannen westliche Forscher und US-amerikanische protestantische Missionare, armenisch-christlich heterodoxe Gruppen als „Krypto-Christen“ oder „Krypto-Armenier“ zu beschreiben, was es ihnen erleichterte, diese zu legitimen Objekten ihrer Missionsaktivitäten zu erklären.67 Dieser westliche wissenschaftliche und missionarische Diskurs fand seine Entsprechung in den Diskursen der jungtürkischen und kemalistischen Regierungen, die insbesondere Aleviten und Nusayrier in den Bergregionen als heterodoxe Bevölkerungen entwarfen.68 Markus Dreßler stellt heraus, dass über das 20. Jahrhundert hinweg die Beschreibung des Kızılbaş-Alevitentums als synkretistischer Glaube dazu diente, die Distanzierung von dieser Gruppe zu rechtfertigen, zu verstetigen und zu habitualisieren.69 Mittels dieser Wissensproduktion werden Aleviten, wie Markus Dreßler argumentiert, zugleich als zum Islam zugehörig vereinnahmt, während ihnen weiterhin eine religiöse Differenz zugeschrieben wird, wodurch sie andauernd in einer unsicheren, angreifbaren Position gehalten werden.70 Die

63 Cora (2016, 118–21). 64 Stoyanov (2010, 261–72). 65 Moosa (1988, 419); vgl. zu ghulat-Elementen in alevitischen Glaubensvorstellungen Dreßler (2013b, 29). 66 Moosa (1988, 420–5). 67 Stoyanov (2010, 265). 68 Dreßler (2013a, 41−2); Kieser (2000, 71–8; 2002); Karakaya-Stump (2004, 329–33). Eine explizit kritische Haltung gegenüber dem Diskurs über Krypto-Christen nimmt Baha Said Bey ein, siehe: Taş (2015, 332); Türkyılmaz (2015; 2009); Alkan (2012, 23–50). 69 Dreßler (2013a, 46). 70 Dreßler (2013a, 277–8).

4.4 Die Konstruktion religiöser Differenz in der Region Dersim

51

staatlichen Gewaltverbrechen an der Bevölkerung in Dersim 1938 erklärt Markus Dreßler folglich aus dem ethnisch-türkischen Charakter des republikanischen Alevitenbegriffs, der die Zazaki- und Kurmanci-sprachige alevitische Bevölkerung in Dersim nicht mit einschloss.71 Da sich das Überleben des Genozids 1915 für die meisten Armenier notgedrungen mit ihrer Konversion zum Islam verband, werden sie in der Forschung oft als „Krypto-Armenier“ aufgefasst. Die Vorstellung „kryptoreligiöser Gruppen“ im öffentlichen Diskurs der Türkei nachzuzeichnen, ist für eine Untersuchung autobiographischer Erzählungen aus Dersim relevant. Die bisherige Forschung über das im 18. und 19. Jahrhundert bezeugte Phänomen kryptoreligiöser Gruppen im Nahen Osten blieb, wie Maurus Reinkowski beobachtet, zumeist auf die Untersuchung einzelner religiöser Gruppen beschränkt. Demgegenüber fragt er aus vergleichender Perspektive nach der Evidenz kryptoreligiöser Praktiken bei verschiedenen konfessionellen Gruppen im Osmanischen Reich. Während Maurus Reinkowski das Konzept der Kryptoreligion ablehnt, hält er den Begriff kryptoreligiös für geeignet, um damit „einzelne Verhaltensweisen, Strategien oder Charakteristika von Gruppen“ bezeichnen zu können, die sich nach opportunistischen Gesichtspunkten religiös identifizierten.72 In Verbindung mit dem Aufkommen und der Verbreitung des Nationalstaatsgedankens und seiner gewaltsamen Realisierung über ethnische Entmischung Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts beobachtet Maurus Reinkowski das Verschwinden des Phänomens kryptoreligiöser Gruppen im Nahen Osten, da die Umwandelbarkeit verloren ging.73 Die Frage nach einer Kontinuität kryptoreligiöser Praktiken über die türkische Nationalstaatsgründung hinaus, die sich auch in Hinsicht auf die zum Islam konvertierten armenischen Überlebenden stellt, behandeln bisherige Forschungen über die Dönme, eine krypto-jüdische Gemeinschaft, die aus einer messianischen Bewegung in der Nachfolge von Sabatai Sevi im 17. Jahrhundert im Osmanischen Reich entstand.74 In den ersten zwei Jahrzehnten der türkischen Republik sahen sich die Dönme, wie Marc Baer zeigt, einem Konversionsdruck zu einer nicht mehr nur religiös gefassten sunnitischen kollektiven Identität, sondern nunmehr säkular-türkisch definierten nationalen Identität gegenüber, dem sie letztlich nicht entsprechen konnten.75 Mit einem konstruktivistischen

71 Dreßler (2013a, 124, 278). Somit verortet er die Ereignisse im Rahmen der staatlichen Beantwortung der „kurdischen Frage“ und zudem im apologetischen staatlichen Diskurs, der den Eingriff als Zivilisierungsmaßnahme rechtfertigte. 72 Reinkowski (2013a, 78). 73 Reinkowski (2003, 13–17; 33–4). 74 Baer (2010); Bali (2008b); Şişman (2015, 262–84). 75 Baer (2004, 682–708).

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4 Forschungsstand

Ansatz betrachtet Türkay Salim Nefes die Dönme als eine soziale Konstruktion, die sich mit ihrer fließenden Gruppenidentität klarer Kategorisierung entzieht und dabei als eine Projektionsfläche für reaktionäre Verschwörungstheorien dient, die Ausdruck von Verlustängsten um politische Teilhabe und Kontrolle sind.76 Für das Verständnis der diskursiven Konstruktion kryptoreligiöser und heterodoxer Gruppen in Dersim steht eine Analyse der exkludierenden Wissensproduktion spezifisch in Hinsicht auf religiöse Vorstellungen und Praktiken in den politischen Schriften der späten jungtürkischen und der frühen republikanischen Türkei noch aus. Der republikanische Diskurs über kryptoreligiöse Gruppen stellt eine diskursive Rahmung dar, die es für Konstruktionen über Dersim zu untersuchen gilt. Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang die Frage nach der Art, Form und Funktion der Tradierung christlicher Praktiken unter den konvertierten Nachkommen der armenischen Überlebenden zu stellen.

4.5 Die Spuren armenischer Präsenz in Dersim und armenische Erinnerungen an den Genozid 1915 Über das religiöse und kulturelle Leben der armenischen Bevölkerung in Dersim vor dem Genozid liegen nur wenige Studien vor. Aus der kunsthistorischen Untersuchung von Michel Thierry über die armenisch-apostolische Kirche in Ergen wird deutlich, dass sie in den 1530er Jahren und um 1600 einen bedeutenden Ort der Handschriftenproduktion darstellte.77 In einer weiteren kunsthistorischen Studie widmen sich Michel Thierry und G. Boudoyan dem armenischen Kloster in Thil, dessen frühere syrisch-orthodoxe Nutzung sie nachweisen.78 Vor allem jedoch geben Reiseberichte Auskunft über das armenische Leben zur Jahrhundertwende. Aus den Aufzeichnungen von Antranik, der 1888 und 1895 die Region bereiste, sind Schilderungen des spezifischen sozialen und religiösen Lebens der Armenier zu entnehmen.79 Antraniks besondere Aufmerksamkeit gilt dem Kloster Surp Garabed in Halvori und der dortigen armenischen Priesterfamilie. Darüber hinaus schildert er Mitglieder der armenischen Familie der Mirakyan, deren tiefen Glauben und Stolz auf ihre Wehrhaftigkeit er hervorhebt.

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Nefes (2012, 426). Thierry (1987, 395). Thierry (1972, 179–192), siehe auch Törne (2015a). Antranik (2012).

4.5 Armenier in Dersim

53

Ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts, im Jahr 1878, verfassten die armenischen Geistlichen Vahan Bardizaktsi, Boğos Natanyan und Karekin Sırvantsdyants Reiseberichte über ihre Besuche der armenischen Gemeinden in Anatolien, die sie für das armenisch-apostolische Patriarchat von Konstantinopel antraten. Diese Berichte, die in einer umfassenden Quellenedition von Arsen Yarman in türkischer Übersetzung mit Kommentar erschienen sind, liefern wertvolle Einblicke in die sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen der armenischen Gemeinden im südlichen Dersim und den umgebenden Nachbarregionen Palu, Harput, Erzincan und Sivas aus der Zeit vor den Massakern an den Armeniern von 1894–96.80 Eine historische Rekonstruktion des ökonomischen und sozialen Lebens der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs bis zum Genozid 1915 liefern Raymond Kevorkian und Paul Paboudjian.81 Neben den Reiseberichten liegen historische Studien vor, die sich auf armenische Erinnerungserzählungen stützen.82 Das armenische Leben auf dem Land und in den Dörfern des Osmanischen Reichs im späten 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts untersuchte Susie Hoogasian Villa a u f G r u n d l a g e v o n I n t e r v i e w s mit Zeitzeugen aus der Region Harput.83 Deren Erzählungen lassen auf die soziale Organisation und zudem auf vorchristliche Elemente in den Riten und Glaubensvorstellungen der armenischen Gemeinschaften in ruralen Gegenden schließen. Die Familiengeschichte des armenischen Geschlechts der Mirakyan, die in Dereova im östlichen Dersim lebten, rekonstruieren Hovsep Hayreni und Cihangir Gündoğdu anhand der Erinnerungen von Gevorg Yerevanyan.84 Eine Annäherung an die moderne Gewaltgeschichte in Dersim, die die Ereignisse von den Massakern von 1894–96 über den Genozid an den Armeniern 1915 bis zu den staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 rekonstruiert, liegt in der ausführlichen kommentierten Übersetzung von Erinnerungsliteratur armenischer Über-

80 Yarman (2008; 2010). 81 Kévorkian (1992, 381–7). Siehe auch: Hovannisian (2009, 2008a). 82 Boris Adjemian diskutiert, wie historische Arbeiten zum Genozid 1915 erst ab 1990 auf die Erfahrungen und Zeugnisse von Überlebenden, die seit dem Genozid veröffentlicht wurden, Bezug nehmen, da sie Zeugnisse von Überlebenden aufgrund deren „mangelnder Neutralität“ ausschloßen, siehe Adjemian (2015a, § 1). Der Begriff Zeugnis bezeichnet einen autobiographischen Text (Literatur, Tagebücher, Mémoiren, Interviews) über die Erfahrung des Autors als Opfer, der mit der Absicht verfasst wird, den erlittenen Verlust zu überliefern, siehe (Adjemian 2015b, § 3). 83 Hoogasian Villa (1982). 84 Hayreni (2015); Gündoğdu (2016a, 268–90); Gündoğdu (2016b, 86–116). Zu osmanischen Archivdokumenten über Dersim siehe: Gündoğdu (2013).

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4 Forschungsstand

lebender aus Dersim, darunter auch Gevorg Yerevanyan, von Hovsep Hayreni vor.85 Talin Suciyan widmet sich als erste dem armenischen Leben in den Provinzen in der Republik, während die meisten Studien zur armenischen Geschichte in der Republik auf die Armenier in Istanbul beschränkt bleiben.86 Das Weiterleben der armenischen Überlebenden in den türkischen Provinzen nach dem Genozid beleuchten bisher nur wenige Studien.87 Darüber hinaus liegen populärwissenschaftliche Publikationen zum Thema vor.88 Laurence Ritter und Max Sivaslian nehmen in ihrer Untersuchung über die kılıç artıkları, „die Überreste des Schwerts”, wie die Überlebenden des Genozids an den Armeniern genannt wurden, auch die Situation der aus Dersim stammenden armenischen Überlebenden und deren Nachkommen in den Blick, die heute in der Diaspora in Frankreich leben.89 Von Kâzım Gündoğan liegt eine erste Dokumentation der Erinnerungserzählungen der Überlebenden der Priesterfamilie vor, die bis 1937 in Halvori am Kloster Surp Garabed lebte. Da das Kloster bei den Bombardierungen 1937 zerstört und die Familie gezielt verfolgt wurde, fasst Kâzım Gündoğan die „Dersim-Armenier“ als besondere Opfergruppe der staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 auf.90 Unter der in der Diaspora veröffentlichten Erinnerungsliteratur von Armeniern aus Dersim befindet sich die bekannte Autobiographie von Hampartzoum Mardiros Chitjian, der aus Peri stammte und in „‚A Hair’s Breadth From Death‘: The Memoirs of a Survivor of the Armenian Genocide“ (2003) detaillierte Erinnerungen an seine Kindheit in Dersim festhielt.91 Die berühmte Erinnerungserzählung „Ravished Armenia“ (1918) stammt von Aurora Mardiganian aus Çemisgezek.92 In der Verfilmung ihrer Erinnerungen an den Genozid stellte sie sich in

85 Hayreni (2015). 86 Eine Studie über armenische Waisenkinder unmittelbar nach dem Genozid bis 1922 auch in den Provinzen bietet: Maksudyan (2014). Ansätze der Gender-Theorie sind auf den feministischen Diskurs in der armenischen Gemeinschaft in Istanbul in der Besatzungszeit angewandt worden von: Ekmekçioğlu (2016); Kasbarian (2016, 207–37). 87 Tachjian (2009, 60–80) stellt die Prostitution als notgedrungenes Mittel für die überlebenden Armenierinnen dar. Siehe auch Üngör (2012, 173–92). 88 Hadjian (2017, 331−355). 89 Zerrin (2010, 68–94); Ritter (2012, 63–74). 90 Gündoğan (2016, 19) bietet eine kurze historische Kontextualisierung der Armenier zur Zeit der Republik und der armenischen Familie in Halvori, Gündoğan (2016, 11–23). Die Dokumentation der oral-history-Projektarbeit zu den 1938 verschleppten Mädchen aus Dersim beinhaltet die Erinnerungen einer Nachkommin der armenischen Familie aus Halvori: Gündoğan (2012). 91 Chitjian (2003). Siehe zu armenischen Erinnerungen aus der Republik Armenien: Svazlyan (2011). 92 Mardiganian (1918).

4.6 Alevitentum im Wandel

55

der Hauptrolle des Blockbusters „Auction of Souls“ (1919) selbst dar. Die Vermarktung ihrer Person vor dem Hintergrund des sich konstituierenden humanitären Diskurses in den USA ist in der Forschung kritisiert worden.93 Auroras Erzählung beginnt und endet in Dersim, von wo sie sich schließlich über die Berge nach Erzurum und ins Russische Reich retten konnte. Ihren Fluchtweg schildert auch Esther Mugerditchian, die in „From Turkish Toils“ (1918) von der Region und von deren Bevölkerung berichtet.94 Die andauernden Folgen des Genozids von 1915 auf die Erinnerungen der armenischen Überlebenden und deren Nachkommen, insbesondere auf die in ländlichen, abgelegenen Gegenden Weiterlebenden, wurden bisher selten in den Blick genommen. Die Diskussion der Bedingungen ihrer Rede im Vergleich zu denen der armenischen Gemeinschaft in Istanbul, auf die sich der Großteil der vorliegenden Forschung konzentriert, steht noch aus. Die bislang editierten Reiseberichte und die darin enthaltenen Darstellungen zur mündlichen Tradition und Kultur der Bevölkerungsgruppen haben bisher wenig Beachtung gefunden. Ebensowenig sind die veröffentlichten Erinnerungserzählungen von armenischen Überlebenden und literarische Darstellungen zum Genozid 1915 für eine Untersuchung der gegenwärtigen Narrative von Nachkommen armenischer Überlebender herangezogen worden.

4.6 Der Kanonisierungsprozess des Alevitentums und der Prestigeverlust der traditionellen Autoritäten Der gegenwärtige Transformationsprozess der alevitischen religiösen Strömungen, die sich seit Anfang der 1980er Jahre in einem Kanonisierungsprozess von bis dahin überwiegend mündlicher Tradition zu einer verschriftlichten Religion befinden, ist Gegenstand zahlreicher Studien aus den Disziplinen der Geschichtswissenschaft, Anthropologie, Turkologie, Islamwissenschaft, Iranistik und Religionswissenschaft. Dieser Prozess wird zumeist im Zusammenhang von Modernisierung und Migration und den damit einhergehenden veränderten sozialen und medialen Rahmenbedingungen gedeutet.95 Dabei kommt dem Grad der religiösen Identifikationen der Aleviten mit dem Islam und ihren nationalen

93 Avagyan (2012, § 13); Garibian (2015, 36–50); Slide (2014); Torchin (2006, 214–20). 94 Mugerditchian (1918), Esther war die Frau des britischen Prokonsuls in Diyarbakır, Thomas Mugerditchian, dessen Bericht bisher wesentlich mehr Beachtung fand: Mugerditchian (2013). 95 Aksünger (2013); Dreßler (2002; 2013c); Jongerden (2003); Kehl-Bodrogi (2006); Kieser (2007, 42–57); Kieser (2003, 35–61); Kehl-Bodrogi (1997); Langer (2005).

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4 Forschungsstand

Identifikationen mit türkischen, kurdischen oder Zaza-Identitätsentwürfen besondere Aufmerksamkeit zu.96 Markus Dreßler diskutiert die Transformation des Alevitentums als spezifische türkische Form einer säkularisierten Religion.97 In seinen Forschungen zur historischen Entwicklung, der Transformation und den gegenwärtigen Ausprägungen des Alevitentums in der modernen Türkei betont er, dass es sich bei der Bezeichnung Alevitentum um einen modernen Sammelbegriff handelt, unter dem distinkte religiöse Strömungen zusammengefasst werden, die voneinander zu differenzieren seien.98 Insbesondere hinsichtlich der Region Dersim weist die Forschung auf eine Differenz in den vorherrschenden Glaubensvorstellungen hin, die sie von historischen, politischen und kulturellen Faktoren bedingt sieht. Hinsichtlich der spezifischen Ausprägungen der alevitischen Religion in Dersim bieten ethnographische Studien, die sich zumeist auf empirische Forschung stützen, wertvolle Einblicke in Glaubenssystem, Mythologie und Weltbild, sowie in die gegenwärtigen religiös-ethnischen Identitätskonstruktionen der örtlichen Bevölkerung.99 Die von regionalen Forschern publizierte ethnographische Literatur ist als besonderer Ort der Aushandlung in der Wissensproduktion zu verstehen, da sie in Reaktion auf die machtvoll wirkenden Fremdbilder ihrerseits dazu tendiert, normative Deutungen im populären Wissen über Dersim und dessen Kultur zu etablieren. Bemerkenswert an dieser Wissensproduktion ist die Rolle der Autoren, die versuchen, den Platz von Wissensautoritäten für die alevitischen Gemeinden einzunehmen.100 Darüber hinaus liegen anthropologische Studien von Wissenschaftlern wie Dilşa Deniz und Erdal Gezik vor, die einen biographischen Bezug zu Dersim aufweisen und an den legitimierten wissenschaftlichen Diskurs anknüpfen.101 Wie Erdal Gezik und Mesut Özcan betonen, wies Dersim eine hohe Konzentration an heiligen Abstammungslinien auf, wodurch die Region wahrscheinlich eine überregionale Rolle für den alevitischen Glauben spielte.102 In Hinblick auf

96 Karolewski (2008, 434–56); Gorzewski (2010); Vorhoff (1995); Vorhoff (1998, 220–52); KehlBodrogi, (1999, 439–54). 97 Dreßler (2008). 98 Dreßler (2013a, 5, 7). „The sense of homogeneity that is suggested when the term Alevi is being projected backward in history to a wide variety of different contexts and groups needs to be countered with historical contextualizations that provide sufficient space for the specificities of these movements/groups in their various environments.“, Dreßler (2013a, 9). 99 Aksoy (2006; 2009; 2016); Çem (2010); Çakmak (2010); Bumke (1979, 530−48). 100 Vgl. hierzu, Spät (2010). 101 Deniz (2012; 2015, 63−82; 2016, 177−97); Gezik (2016). 102 Gezik (2013, 7).

4.6 Alevitentum im Wandel

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die religiösen Autoritäten in Dersim beschreibt Munzur Çem, dass religiöse Würdenträger in drei Gruppen unterteilt wurden: rayver/rayber (der den Weg zeigt), pir/bava (alter Mann) und murşîd (der den Weg zu Gott führt), wobei der murşîd an oberster Stelle der Hierarchie steht.103 Zugleich sorgte das Prinzip „von Hand zu Hand, von Hand zu Gott“ (türk. el ele, el hakka) für eine wechselseitige Kontrolle dieser hierarchischen Strukturierung.104 Das hereditäre Amt des Dede wurde traditionell innerhalb der Familie an einen sich als geeignet erwiesenen Sohn weitergegeben, wobei die Qualitäten musische Begabung, Wissen über Riten, Glauben und die Vergangenheit ausschlaggebend für die Nachfolgeentscheidung waren.105 In der mündlichen Überlieferung kam den alevitischen Dedes bis zu den Gewaltereignissen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine tragende Rolle zu.106 Die Transformation der Rolle der Dedes in der Moderne ist zum Gegenstand der jüngeren Forschung geworden.107 Markus Dreßler stellt eine Reduzierung der Zuständigkeiten der Dedes im Säkularisierungsprozess heraus, denen vormals religiöse wie politische, und insbesondere rechtssprechende Funktionen zukamen. Deren Aufgabenbereiche werden in der säkularisierten türkischen Gesellschaft jedoch auf den religiösen Bereich beschränkt.108 Erdal Gezik nimmt einen Zusammenhang zwischen der vermittelnden, streitschlichtenden Rolle der Dedes und ihrer spezifischen Verfolgung 1938 durch das türkische Militär an.109 Vor dem Hintergrund der traditionellen juristischen Rolle der Dedes ist der Adaptationsprozess der modernen nationalstaatlichen Rechtsprechung in Tunceli besonders hinsichtlich der modernen Gewaltverbrechen, die an ihrem Anfang standen, für diese Untersuchung relevant. In einer politikwissenschaftlichen Untersuchung der Gerichtsverfahren in Tunceli zur Zeit des Ausnahmezustands seit 1999 analysierte Marie Le Ray die Strategien und Praktiken von örtlichen Anwälten, die Gerichtsurteile anfochten, um nach Wiedergutmachung für die erlittenen Schäden zu streben. Sie verdeutlicht, dass es den Klägern und ihren Anwälten trotz der bestehenden Restriktionen gelang, das türkische Rechtssystem an dessen bürokratische Grenzen stoßen zu lassen. Marie Le Ray hebt das solchem Justizaktivismus immanente Potenzial zur Transformation der Beziehungen zwi-

103 104 105 106 107 108 109

Çem (2010, 17–8). Aksünger (2013, 61); Kehl-Bodrogi (1988, 172); Yaman (2006, 62). Çem (2010, 17–20); Dreßler (2013c, 244); Sökefeld (2008a, 146). Törne (2012, 79–109). Langer (2013). Dreßler (2013c, 242). Gezik (2013, 13).

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4 Forschungsstand

schen Staat und Gesellschaft hervor.110 In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die bestimmenden Prozesse der Säkularisierung und Kanonisierung des Alevitentums in der Türkei in ihrer Rückwirkung auf die Selbstbilder der Dedes bisher wenig untersucht wurden. Fragen hinsichtlich der vormaligen Rolle der Dedes in Dersim zu stellen, erscheint vor dem Hintergrund der spezifischen Gewaltgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufschlussreich.

4.7 Alevitische Erinnerungen an moderne Gewalt in Dersim Ansätze aus der Erinnerungsforschung wurden in der Forschung zur Türkei in den letzten Jahren zunehmend herangezogen.111 Béatrice Hendrich analysierte exemplarisch wissenschaftliche Literatur über die Aleviten und problematisierte, dass diese sich nur unzureichend auf Theorien der Gedächtnisforschung stützte, obwohl die Aleviten als Erinnerungsgemeinschaft das ritualisierte Gedenken an die Leiden von Ali und seiner Familie in Kerbela in das Zentrum ihrer Vergemeinschaftung stellen. Hingegen plädiert Béatrice Hendrich für einen integrativen Ansatz, der historische Forschung und Erinnerungsforschung verbindet und dabei die konstruierte Verfasstheit von Vergangenheit in Betracht zieht.112 Das historische Bewußtsein der Aleviten in Dersim bilde sich mit Referenz auf Kerbela und sei durch ihr Selbstbild als Außenstehende geprägt, argumentiert Göner.113 Sozialwissenschaftliche Studien zur alevitischen Kultur in Dersim in den Disziplinen der Musikethnologie und Anthropologie legen ihren Fokus vor allem auf die Bedeutung von Musik sowie Migration und Moderne für den andauernden Prozess der Konstruktion der alevitischen Identität und Tradition. Die Erinnerungsforscherin Leyla Neyzi untersucht die Selbstbilder von in Istanbul und Berlin lebenden alevitischen Musikern aus Tunceli und versteht deren Rekonstruktion der alevitischen Musiktradition als eine Bewältigungsstrategie für den Identifikationsdruck in der modernen Migrationsgesellschaft.114 Martin

110 Zum Widerstand in Dersim am Beispiel der Proteste gegen den geplanten Staudamm, siehe: Le Ray (2005). Speziell zu Grenzen der Justiz zur Zeit des Ausnahmerechts: Le Ray (2009). 111 Zur Erinnerungspolitik in der Türkei siehe: Özyürek (2007). 112 Hendrich (2004a, 196–7). Die alevitischen Musiktradition vermittelt religiöse, mythische, historische und kosmologische Vorstellungen, siehe auch: Hendrich (2004b, 159–76.) 113 Göner (2017, 81−4). 114 Neyzi (1999, 1–26; 2002, 163−75; 2003, 111−25; 2007.)

4.7 Alevitische Erinnerungen an moderne Gewalt in Dersim

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Greve diskutiert Ansätze der Traumaforschung für die intergenerationale Überlieferung unter alevitischen Musikern.115 Jüngere Forschungen zeigen zudem, dass die Erinnerungen an die Erfahrungen der staatlichen Gewaltverbrechen 1938 in alevitischen Klageliedern und Trauerpraktiken bis heute mündlich tradiert werden.116 Yıldız Yıldırım sieht in den Liedern einen geschützten Artikulationsraum, in denen vor dem Hintergrund tradierter alevitischer Überlieferungsmuster selbst traumatische Erinnerungen an Gewalterfahrungen von 1938 einen Ausdruck finden können, da sie derart in einen akzeptierten Sinnzusammenhang gestellt werden. Diese Überlieferungsform ist kennzeichnend für die alevitische Erinnerungsgemeinschaft in Dersim. Aber auch unter den Armeniern aus Dersim haben sich Klagelieder erhalten, worauf in der Analyse ihrer Erinnerungserzählungen noch näher eingegangen werden wird. Özlem Göner analysiert den Wandel des kollektiven Gedächtnisses an die Gewaltverbrechen von 1938 vor dem Hintergrund der aktuellen Gewaltereignisse im Bürgerkrieg zwischen PKK und dem türkischen Militär und den Zwangsräumungen und Zerstörungen der Dörfer 1994. Indem Özlem Göner mehrere Generationen der alevitischen Bevölkerung in Dersim in den Blick nimmt, zeichnet sie die Transformation von einer vormals unterdrückten zu einer explizit eingeforderten kollektiven alevitischen Identität nach.117 Mit diesem identitätsstiftenden Emanzipationsprozess der alevitischen Erinnerungsgemeinschaft sei vor allem die öffentliche politische Diskussion um die Geschichte der Gewalt in Dersim verbunden. Özlem Göner interpretiert zwar den Vorwurf der kemalistischen Militärs, wonach armenische Überlebende des Genozids in Dersim eine Bedrohung für die türkische Nation darstellen würden, als Begründung für die staatlichen Gewaltverbrechen von 1938. Allerdings umgeht auch ihre Untersuchung eine Problematisierung der Leerstelle, die dem Genozid an den Armeniern im kollektiven Gedächtnis der Aleviten in Dersim zukommt.118 Es bleibt der Frage nachzugehen, wie das Reden über Vergangenheiten von alevitischen Dedes, den traditionellen Trägern der Erinnerung ihrer Gemeinschaften, von der Konstituierung einer alevitischen Identität geprägt ist. Die Form der alevitischen Vergemeinschaftung im Gedenken an kollektives Leid wird im Rahmen dieser Studie als narrative Vorlage für die Erzählungen über Gewalterfahrungen untersucht.

115 116 117 118

Greve (2014); Greve (2016, 201–17). Demir (2010b); Yıldırım (2013). Göner (2005, 107–34). Göner (2017, 39, 42−3).

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4 Forschungsstand

4.8 Desiderat und Forschungsbeitrag Aus dem hier skizzierten Forschungsstand wird deutlich, dass die bisher vorliegenden Studien die gegenwärtige Ausprägung eines historisch gewachsenen regional spezifischen Wissens in Dersim noch nicht systematisch untersucht haben. Insbesondere vor dem Hintergrund der Verfolgungs- und Gewalterfahrungen und spezifisch der Erfahrung des Genozids an den Armeniern 1915 ist dieses Wissen bisher nicht in den Blick genommen worden. Angesichts des damit verbundenen abrupten Wandels der sozialen Ordnung erhielt es eine spezifische Ausprägung, die diese Untersuchung näher betrachtet. Eine Analyse von Erinnerungserzählungen über Vergangenheiten ermöglicht es, Versionen aus der regionalen oralen Kultur mit aufzunehmen, die im gegenwärtigen Leugnungsdiskurs in der Regel verworfen werden. Zum einen sind dies Erinnerungen der armenischen Überlebenden an den Genozid 1915, denen im türkischen Geschichtsnarrativ kein Platz zukommt, zum anderen betrifft es Verwerfungen im Kanonisierungsprozeß der alevitischen Religion, die sich auf ein bestimmtes, möglichst breit akzeptiertes Geschichtsbild glaubt berufen zu müssen und somit Erinnerungen an die Gewaltverbrechen von 1938 in Dersim zurückstellt. Die regional spezifischen Bedingungen der Artikulation und die sozialen Erinnerungsrahmen sind ausschlaggebend für die Erinnerungen und Erzählungen der Überlebenden kollektiver Gewalt und Genozid. In dieser Hinsicht legt die Studie den Fokus auf das Weiterleben armenischer Überlebender in der postgenozidalen Gesellschaft im ländlichen Raum, das in bisherigen Studien zu armenischen Erinnerungen in der Republik Türkei kaum Beachtung gefunden hat. Durch die Analyse der verschiedenen narrativen Anschlussmöglichkeiten an hegemoniale Diskurse und deren Grenzen für Armenier und Aleviten aus Dersim trägt die Studie zur Erforschung des Leugnungsdiskurses und dessen internen Ausschließungsmechanismen bei. Darüber hinaus leistet die Untersuchung einen Beitrag zur Geschichte der Wissensproduktion zu der Region Dersim, wie sie sich in der Aushandlung von mündlichen und schriftlichen Aussagesystemen vollzieht. Übergeordnet kann sie zur Erinnerungsforschung hinsichtlich der narrativen Identitätskonstruktionen unter den Bedingungen der Rede in einer postgenozidalen Gesellschaft beitragen. Generell erweitert sie die Erforschung oraler Traditionen in der modernen Türkei und insbesondere mündlich überlieferter Glaubensvorstellungen in der Region Dersim. Auch leistet die Untersuchung durch die Rekonstruktion der hegemonialen als auch der nichtkanonisierten Wissensproduktion einen Beitrag zur geschichtswissenschaftlichen Theoriebildung hinsichtlich des Prozesses der Einschreibung hegemonialer Diskurse in lokales Wissen über Vergangenheiten. Nicht zuletzt ergänzt sie die Forschungen zur Geschichte und den gegenwärtigen Folgen moderner Gewalt in der Türkei.

5 Rekonstruktionen von Vergangenheiten: orale Tradition, türkisch-nationales Geschichtsnarrativ und Leugnungsdiskurs In der abgeschiedenen Bergregion Dersim im Osten der Türkei beruhten Rekonstruktionen von Vergangenheiten bis Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem auf mündlicher Überlieferung. Durch die Erfahrung von Gewalt und Genozid erlittene Verlust führte zu einem Bruch in der familiären Überlieferungskette und verursachte einen tiefgreifenden Wandel der oralen Tradition. Zeitgleich setzten der hegemoniale Leugnungsdiskurs zum Genozid an den Armeniern und das offizielle nationale Geschichtsnarrativ der Republik Türkei ein. Ab 1980 führte zudem der Verschriftlichungsprozess der oralen alevitischen Tradition zu einer „neu erfundenen Tradition“. Erinnerungen an erlittene Gewalt während der Nationalstaatsbildung kommt im türkischen Geschichtsnarrativ kein Platz zu. Die Logik der Vernichtungspolitik, die Opfer zu verfolgen und jegliche ihrer Spuren auszulöschen, dauert weiter an, wie an der hegemonialen Leugnung der jüngeren Gewaltgeschichte in der Türkei deutlich zu erkennen ist. Den historischen Hintergrund dieser Region zu skizzieren erfordert, verfügbare Quellen zu finden und diese in Hinsicht auf Auslassungen und semantische Verdrehungen kritisch zu durchleuchten. Für die Rekonstruktion werden neben wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Quellen insbesondere Zeitzeugenaussagen herangezogen, vor allem von Überlebenden, aber auch von Missionaren und türkischen Staatsangestellten. Im Rahmen dieser Arbeit konnte allerdings nicht im Einzelnen auf die verschiedenen Positionierungen und Intentionen der disparaten Quellen eingegangen werden. Angesichts des Leugnungsdiskurses skizziert der folgende historische Abriss einführend die schriftliche Überlieferung, ohne dass er als Grundlage dazu dienen soll, an ihm den Wahrheitsgehalt der mündlich überlieferten Erinnerungen aus Dersim zu messen. Vielmehr soll der vorliegende Überblick ein Versuch sein, aus den historischen Schriftquellen in einer Perspektive der longue durée nachzuzeichnen, wie sich bestimmte Narrative über die Vergangenheit der Region entwickelten und verstetigten und wie sie das akzeptierte Wissen über die historischen Ereignisse formten, auf die sich die gegenwärtigen Erinnerungserzählungen ihrer Bevölkerung beziehen. Ausgehend von einer Beschreibung der geographischen Lage der Region, wird der dynamische Wandel der religiösen und politischen Zugehörigkeiten und Identifikationen ihrer heterogenen Bevölkerung nachgezeichnet. https://doi.org/10.1515/9783110630213-005

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5 Rekonstruktionen von Vergangenheiten

Die historische Region Dersim liegt auf einem Hochplateau an den Ausläufern des westlichen Taurus-Gebirges im nördlichen Quellgebiet des Zweistromlands von Euphrat und Tigris in der Republik Türkei. Im Norden der Region reihen sich die Munzur- und Mercan-Gebirgsketten aneinander, deren Gipfel Höhen von über 3400 Metern erreichen.1 Den Verlauf der beiden Gebirgszüge verlängernd, flankieren die Region zwei Quellflüsse, im Osten der Muratsu (arm. Aratsani) und im Westen der Karasu (türk.). Sie fließen schließlich im Süden zum Euphrat (arm. Yeprat, türk. Fırat) zusammen. Von hohen Gebirgsketten und reißenden Bergflüssen umschlossen ist das Gebiet nur schwer zugänglich.2 Im Süden Dersims liegen in der Ebene zwischen der modernen Neugründung Elazığ (osm. Mamuret el-Aziz) und der älteren Stadt Harput (arm. Kharpert), bedeutende archäologische Stätten, die auf eine kontinuierliche Besiedlung seit dem Neolithikum hinweisen.3 In hethitischen und assyrischen Keilschrifttexten aus dem 15. bis 9. Jahrhundert v. Chr. trägt die Ebene, um deren Besitz sich die Großreiche der Hethiter und der Mittani stritten, den Namen Işuwa. Während der Zeit der Expansion des Mittanireichs bis zur Konsolidierung des Hethiterreichs unter König Şuppiluliuma, der Işuwa 1350 v. Chr. eroberte, diente das am oberen Euphrat gelegene Gebiet Flüchtlingen als Rückzugsgebiet vor den Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Großmächten.4 Nach dem Zerfall des Hethiterreichs konsolidierte sich im 9. bis 6. Jahrhundert v. Chr. zwischen den Euphrat-Zuflüssen und dem Munzur-Gebirge das urartäische Königtum Tsupani, dessen armenische Einwohner in Burgen bei Mazgirt und Bağin Schutz vor den Angriffen der Meder suchten.5 1 Aus dem Munzur-Berg entspringen die Quelle und der Fluss Munzur. Nebst der Legende vom gleichnamigen Schutzpatron dieses Orts sind sie von zentraler Bedeutung in der oralen Tradition. 2 Siehe Karte im Anhang. 3 Diese Stätten liegen heute unter dem Keban-Stausee. Umfangreiche archäologische Surveys von der Prähistorischen Abteilung der Universität Istanbul in Zusammenarbeit mit der Universität Michigan und Rettungsgrabungen von internationalen Grabungsteams, durchgeführt im Keban-Becken von 1967 bis zu seiner Flutung 1974, dokumentieren eine kontinuierliche Besiedlung des Gebiets seit dem Neolithikum, insbesondere seit dem Chalkolithikum. Darüber hinaus verweist die Forschung auf Parallelen zwischen der chalkolithischen Siedlungskultur im Keban-Becken und dem in der näheren Umgebung vom heutigen Malatya gelegenen antiken Siedlungsort Aslantepe. Keban (1972; 1976; 1979; 1982). 4 Klengel (1968); Klengel (1976–80, 214–6); Wilhelm (2014). Aus dem Vertrag zwischen dem hethitischen König Şuppiluliuma I. und dem König des Mittanireichs, Şattiwaza, geht hervor, dass die vor den Hethitern Fliehenden Zuflucht auf „der anderen Seite des Euphrat“ in Işuwa gesucht hatten. 5 Als einer der zugehörigen Siedlungssorte gilt die Felsenfestung Bağin, die archäologisch erforscht ist. Nachweise für eine urartäische Besiedlung bestehen darüber hinaus auch in der Festung von Pertek und in der unlängst in einem Survey untersuchten Festungsburg Rabat,

5 Rekonstruktionen von Vergangenheiten

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Ab etwa 550 v. Chr. gehörte die Region bis zur Eroberung durch Alexander den Großen 330 v. Chr. als Satrapie Armina zum persischen Achämenidenreich. Nach dem Tod Alexanders und dem Zerfall seines Großreichs bildeten sich drei armenische Gebiete heraus: Großarmenien, Kleinarmenien und Sophene mit Zentrum in Hierapolis (später türk. Çemişgezek).6 Im Jahr 321 v. Chr. übergab der Seleukidenherrscher Antiochos III. seinem General Zariadris aus der armenischen Adelsfamilie der Orontiden die Herrschaft über das hellenistische Königreich Sophene. Zariadris vergrößerte das Gebiet von Sophene um das im Norden angrenzende Gebiet Akilisene (arm. Ekeleac), welches die Gebiete Daranali, Aliwn und Mnzur einschloss, die im engeren Sinn der betrachteten Region entsprechen. Als sich 190 v. Chr. die Römer gegen Antiochos III. durchsetzen konnten, wurde Sophene zu einem unabhängigen Königtum mit der mutmaßlichen Hauptstadt Arsamosata (arm. Arsamasat), deren Ruinen heute unter dem Keban-See liegen. Die Prinzenhäuser des Königreichs Sophene wurden vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. von den armenischen Dynastien der Orontiden, Artaxiden und Arsakiden regiert, welche sich als Klienten oder Vasallen mal der römischen Republik, mal als die der Parther und ab 225 n. Chr. der Sassaniden ihre kulturelle und politische Eigenständigkeit bewahren konnten.7 In der Nachfolge des Seleukidenreiches schloss der armenische König, Tigran der Große, Sophene an das armenische Königreich an, das von 83 bis 69 v. Chr. seine größte Ausdehnung erfuhr. Nur wenig später setzten die römisch-parthischen Kriege ein, deren Epizentrum in Armenien lag. Nach ihrem Ende wurde die Region von den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Byzanz und dem Sassanidenreich heimgesucht. 439 n. Chr. erhielt die armenische Adelsfamilie der Mamikonian, die für ihren umfangreichen Landbesitz und ihre Führung der armenischen Armee berühmt war, die Herrschaft über die Gebiete Daranali und Ekeleac, die vordem unter der unsicheren Oberhoheit von Byzanz gestanden hatten.8 Das Fürstenhaus der Mamikonian spielte im Kampf gegen die Angriffe des Sassanidenreichs während des 4. und 5. Jahrhunderts eine herausragende Rolle.9 Im 6. Jahrhun-

Erdoğan (2014). Die ethnisch heterogene Bevölkerung von Urartu organisierte sich politisch als eine Konföderation von Königreichen, in denen Urartu-Hurritisch gesprochen wurde, eine Sprache, für deren Verschriftlichung die Urartu das assyrische Keilschriftsystem übernahmen. Von den Hethitern beeinflusst erscheinen dagegen ihre Rüstungen und Waffen, Hewsen (2001, 26); Bernbeck (2003/4). 6 Hewsen (2001, 37; 53). 7 Hewsen (2001, 37). Die Sassaniden stürzten die Herrschaft der Arsakiden 428 n. Chr. 8 Hewsen (2001, 94). 9 Garsoïan (2005); Hewsen (2001, 94–5).

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dert n. Chr. hoben die justinianischen Reformen die Autonomie der armenischen Prinzenhäuser auf und stellten die von ihnen kontrollierten Gebiete als Provinz Armenien unter direkte byzantinische Oberherrschaft.10 Römische Quellen beschreiben die nordwestliche armenische Hochebene in der Gegend von Akilisene als Sitz bedeutender Heiligtümer, von Ahura Mazda, Anahita und Mihr, sowie der Nekropole der armenischen Könige in Ani-Kamax (türk. Kemah).11 Neben archäologischen Überresten deuten frühchristliche und vorislamische iranische Schriften darauf, dass sich im Norden des Munzur-Gebirges ein bedeutsames Zentrum der vorchristlichen Religion befand. Vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis zu Beginn der muslimischen Eroberungen im 7. Jahrhundert n. Chr. stand Armenien unter dem Einfluss der zoroastrischen Religion.12 Spuren dieser religiösen Prägung lassen sich noch bis in die Gegenwart nachzeichnen. Mit der geographischen Abgeschiedenheit lässt sich erklären, dass sich archaische religiöse Traditionen unter der Bevölkerung Dersims fortsetzten. Aghtangelos überliefert, dass König Trdat III. um 301 n. Chr. das Christentum zur Staatsreligion Armeniens erklärte, nachdem er von Gregor dem Erleuchter (arm. Krikor Lusavoritsch) bekehrt worden war. Begleitet von Gregor führte König Trdat III. sein Heer nach Westarmenien, um die wichtigsten zoroastrischen Heiligtümer zu zerstören, die Magier abzusetzen und den christlichen Glauben gegen den bewaffneten Widerstand der lokalen Bevölkerung durchzusetzen.13 Mit dieser gewaltsamen Konversion setzte ein langer Prozess der schrittweisen Christianisierung ein, mit dem sich religiöse Institutionen und die Schrift verbreiteten.14 Armenische Legenden um den Heiligen Gregor sind auch aus der Gegend um das Munzur-Gebirge bezeugt.15 Der Islamisierungsprozess begann am oberen Euphrat um 650 n. Chr., als die Region infolge der muslimischen Eroberungen unter die Herrschaft des Kalifats geriet. Wie der ihm vorangegangene Christianisierungsprozess dauerte

10 Hewsen (2001, 85–6). 11 Hewsen (2001, 29). Das Zentrum von Ekeleac bildete die Tempelstadt Erez (türk. Erzincan), die das Heiligtum der Göttin der Fruchtbarkeit Anahita beherbergte. In Ekeleac, zu dem auch die Bergregion Mzur zählte, lagen auch andere Heiligtümer der wichtigsten Götter des armenischen Pantheons: Nana in Thil, die Festung Ani in Kamax mit dem Tempel von Ahrmazd/ Ahura Mazda, der Tempelstaat Daranali mit dem Tempel von Barsamina und der semitischen Gottheit Baal Shamash in Tordan. Zudem befand sich ein Tempel von Mihr in dem benachbarten Tempelstaat Derjan/Terjan, Hewsen (2001, 50). 12 Russel (1987, 3). 13 Calzolari (2011, 47). 14 Hewsen (2001, 81). 15 Ein mit Gregor assoziiertes Kloster befindet sich in der Nähe des Dorfes Çağlayan bei Pülümür. Yarman (2010b, 388–9).

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auch der Übergang zum Islam über Jahrhunderte an und blieb gleichfalls unvollständig. Während der Zeit der muslimischen Vorherrschaft waren die christlichen Armenier zu hohen Steuerabgaben gezwungen, was ein Grund dafür gewesen sein mag, dass sie neben ihrer traditionellen Rolle als Bauern und Handwerker sich auch vermehrt als Händler betätigten. Abweichende, als häretisch angesehene, Strömungen wurden von den sich als orthodox definierenden christlichen Kirchen verfolgt. Syrisch-orthodoxe Gläubige (von ihren Gegnern oft pejorativ als Nestorianer bezeichnet), die aus Antiochia vor den chalzedonischen Gewaltausbrüchen flohen, fanden seit Mitte des 10. Jahrhunderts in Telkoum (arm. Thil), in der Nähe des heutigen Pertek, eine neue Heimat.16 Der armenische Chronist Matthias von Edessa überliefert, dass sich die Bewohner von Telkoum 1070 mehrfach widersetzen konnten, bevor die seldschukischen Türken die Stadt einnahmen.17 Auch die Anhänger des Paulikianismus, eine religiöse Strömung christlich dualistischen Charakters, wurden über Jahrhunderte von der orthodoxen Kirche als Häretiker verfolgt.18 844 bildeten die Paulikianer einen eigenen Staat mit Zentrum in der Stadt Téphriké (türk. Divriği), nordwestlich von Çemişgezek gelegen.19 Nachdem das byzantinische Heer unter Kaiser Basil I. 872 diesen Staat zerschlagen hatte, siedelten sich die fliehenden Paulikianer verstreut in kleinen Gemeinden in Armenien und Syrien an.20 Ab diesem Zeitpunkt verschmolz die paulikianische mit der tondrakianischen Strömung, einer ebenfalls als häretisch verfolgten religiösen Bewegung in Armenien, als deren geistige Erben sich noch im 19. Jahrhundert Anhänger einer religiösen Gemeinschaft aus der Region von Khnus erklärten.21 In christlich-orthodoxen Quellen werden die Paulikianer-Tondrakiten der Kritik an der Kirchenhierarchie und sozialen Ungleichheit des Feudalsystems, ebenso wie des Ikonoklasmus und der radikalen Ablehnung

16 Thierry (1972, 179–192). 17 Anschließend wurde die Stadt bis 1234 vom artukidischen Emirat in Mardin verwaltet, Thierry (1972, 179–192). 18 Der Paulikianismus war eine religiöse Bewegung, die auf den um 650 in Anatolien lebenden Armenier Constantin von Mananilis zurückgeführt wird, deren Anhänger in byzantinischen Texten als Neu-Manichäer und Gnostiker aufgefasst werden, Garsoïan (1967, 13–9). 19 Foss (1991, 2025). 20 Im 9. und 10. Jahrhundert fanden die Paulikianer in Höhlen in Hozat Zuflucht vor den byzantinischen Verfolgungen. Kaiser Johannes I. entstammte einer armenischen Dynastie aus der Stadt Hierapolis, die nach seinem Beinamen Tschimischkes umbenannt wurde. Während seiner Herrschaft (969–976) konnte er größere Gebiete, die während der arabischen Expansion verloren gegangen waren, zurückerobern. 970 siedelte er zur Sicherung der Westgrenze seines Reichs Paulikianer in Thrakien an und gewährte ihnen religiöse Freiheiten. 21 Cora (2016, 109–132, 112).

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von kirchlichen Riten und äußeren Bekenntnissen bezichtigt.22 Darüber hinaus ist in der Region am oberen Euphrat die religiöse Gemeinschaft der Arewordik bezeugt, in welcher Russel Spuren zoroastrischer Traditionen nachzeichnet.23 Zur armenischen und syrisch-orthodoxen Bevölkerung in der Region am oberen Euphrat kamen ab dem 10. Jahrhundert n. Chr. nordwestiranische Stämme hinzu. Über die Herkunft dieser Stämme bestehen verschiedene Theorien. Ein Teil der Forschung nimmt an, dass sie aus der Bergregion Dailam an der südwestlichen Küste des Kaspischen Meeres stammen.24 Diese Theorie, die auf der Herleitung einer bis in die Gegenwart anzutreffenden Eigenbezeichnung der Bewohner Dersims als Dımli von Dailemi fußt, geht auf den deutschen Iranisten Friedrich Carl Andreas von 1906 zurück und wurde davor bereits von dem armenischen Ethnographen Antranik und später von den deutschen Iranisten Oskar Mann und Karl Hadank aufgenommen.25 Unter den diese These vertretenden Wissenschaftlern besteht bis heute Uneinigkeit über den ethnischen Hintergrund der Dailamiten. Ein Teil der Forscher argumentiert für eine von den kurdischen Stämmen distinkte Gruppe, andere für eine armenische Abstammung und wiederum andere gehen von einer gemeinsamen kurdischen Abstammung der medischen und parthischen Stämme aus, denen sie die Dailamiten zuordnen. Der jeweiligen Sichtweise entsprechend wird dann auch die ethnische Identität der gegenwärtigen Bevölkerung in Dersim abgeleitet.26 In Abgrenzung zu dieser Diskussion kritisiert Dreßler den essentialistischen Fokus auf die Herkunft der Zaza und die normative Einordnung des alevitischen Glaubens als heterodox und synkretistisch.27 In der türkischen Wissenschaft sind in dieser Hinsicht die Theorien des türkischen Historikers Mehmed Fuad Köprülü über einen „heterodox türkischen Islam“ von schamanisch-vorislamischer Prägung ausschlaggebend. Von ihm beeinflusst, suchte die Turkologin

22 Cora (2016, 116–7). 23 Anders als die Paulikianer und Tondrakiten lehnten die Arewordik den Glauben an die Auferstehung der Toten ab. Dagegen glaubten sie an Reinkarnation, verehrten ähnlich wie die Zoroastrier die Sonne, das Feuer und legten ihre Toten im Freien aus, Garsoïan (1967, 191–2). Sie übertrugen ihre Lehre mündlich von Vater zu Sohn, Russell (1987, 516–8). 24 Asatrian (2001); Gippert (2007, 103); Keskin (2008); MacKenzie (2002, 541–2); Werner (2017, 85−94); White (2000, 43–5). 25 Andreas [1906] (1916); Antranik (2012, 111–6); Mann/Hadank (1930, 18–9; 1932, 4–6); Minorsky (1932). Der russische Orientalist Peter Lerch untersuchte einen Dialekt aus Bingöl und stellte erstmals die gegenseitige Unverständlichkeit des Zazaki und Kurmanci fest: Lerch (1858, 98–110). 26 Asatrian (2001, 54); Justi ([1880] 2006: xxv); Kreyenbroek (2005, 54–5). Eine ausführliche Diskussion, die verdeutlicht, dass die Grenze zwischen Sprache und Dialekt nicht objektiv gezogen werden kann, bietet Paul (1998b). Vgl. Bruinessen (2017; 1997). 27 Dreßler (2009).

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Irène Mélikoff manichäische, buddhistische, aber vor allem schamanische, vorislamische Elemente in der Tradition der Aleviten, die sie auf zentralasiatische und altai-türkische Einflüsse zurückführte.28 Entgegen dieser Forschungsmeinung gehen andere Wissenschaftler von der zentralen Bedeutung der sogenannten extremen Schia für den alevitischen Glauben aus. Minorsky hob hervor, dass die Glaubensvorstellungen in Dailam durch zoroastrische, christliche und schiitische Einflüsse geprägt gewesen sind. Er unterstrich dabei, dass die Dailamiten, bevor sie sich am oberen Euphrat ansiedelten, unter den Aliden, die sich 791 n. Chr. vor den Abbasiden in die Bergregion am Kaspischen Meer geflüchtet hatten, zum schiitischen Islam bekehrt worden waren.29 Vielen Forschern zufolge übten einen wichtigen religiösen Einfluss in dem geographisch abgeschiedenen Berggebiet am oberen Euphrat Sufi-Wanderderwische aus, die zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert unterschiedliche Ausprägungen des mystischen Islams in ruralen Gegenden Anatoliens verbreiteten.30 Turkmenische und oghusische Stämme hatten das Gebiet des antiken Armenien bereits weitgehend eingenommen, als die Rum-Seldschuken 1071 die Schlacht von Manzikert gegen das byzantinische Heer gewannen. Um ihre neu errungene Macht zu konsolidieren, richteten sie in der von ihnen nunmehr kontrollierten Bergregion Herrschaftszentren (türk. beylik) ein.31 Zwischen dem 12. und dem 13. Jahrhundert befand sich die Gegend um Thil als Teil des RumSeldschukischen Sultanats unter der artukidischen Herrschaft mit Sitz in Mardin.32 Anschließend übernahmen die Saltukoğulları und ab 1226 Alaeddin Keykubad I. die Herrschaft über das Gebiet. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wanderten die Mongolen und im 14. Jahrhundert die turkmenischen Stämme der Karakoyunlu und der Akkoyunlu in Anatolien ein. In ihrem langwierigen internen Streit um die Vorherrschaft am oberen Euphrat regierten sie bis Anfang des 16. Jahrhunderts, als sie von den Safawiden abgelöst wurden.

28 Dreßler (2009, 14–6). 29 Minorsky (1932, 5; 7–8). 30 Dreßler (2013b, 13–35). Zu den verschiedenen Definitionen der alevitischen Religion, siehe Dreßler (2002, 10). 31 Die Stämme der Mengücekler und Çubukoğulları gründeten in Divriği eines der ersten anatolischen Beyliks, das zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert bestand und welchem Çemişgezek, Mazgirt, Pertek und Sağman untergeordnet waren, Ünal (1991, 239–265). 32 Zu Beginn der türkischen Vorherrschaft erstarkte die syrisch-orthodoxe Gemeinde in Thil zunächst, wohingegen die armenische Gemeinde zurückging, wie den Handschriften aus Thil zu entnehmen ist. Vom 11. bis zum 16. Jahrhundert befand sich der syrisch-orthodoxe Bischofsitz Tela Arsinos vermutlich in Thil, siehe Thierry (1972, 179–191).

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Das 16. Jahrhundert war durch den osmanisch-safawidischen Konflikt gekennzeichnet. Sultan Selim I., genannt Yavuz, der Grausame (1470–1520), setzte kurdische Emire als seine Vasallen in Anatolien ein. Gleichzeitig belastete der zentralistische Herrschaftsanspruch der Osmanen mit seiner Steuerpolitik die anatolischen Bauern stark. Aufgrund derartiger ökonomischer und politischer Unterdrückung stellte sich ein großer Teil der Bevölkerung von Dersim im 16. Jahrhundertauf die Seite von Schah Ismail, der den zwölfer-schiitischen Safawiyya-Orden anführte und sich als Mehdi verstand.33 Von der osmanischen Herrschaft pejorativ als „Kızılbaş“ bezeichnet und als Häretiker verfolgt, kämpften sie auf safawidischer Seite gegen die osmanischen Truppen von Selim I. Die kriegerischen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in Anatolien waren von der Institutionalisierung einer religiösen Orthodoxie begleitet, die sich als sunnitischer Islam auf osmanischer und als zwölfer-schiitischer Islam auf safawidischer Seite manifestierte. Wie Dreßler betont, hatten anfangs bei Osmanen und Safawiden, die beide in der Sufi-Tradition standen, noch einander stark ähnelnde religiöse Diskurse in Hinblick auf Eschatologie und Messianismus vorgeherrscht, bevor ab Mitte des 16. Jahrhunderts beide Seiten begannen, das religiöse Andere im politischen Gegner zu bekämpfen.34 Schließlich unterlagen 1514 die Truppen Schach Ismails in der Schlacht von Çaldıran, womit die osmanische Herrschaft über Diyarbakır und die Gegenden um Harput begann.35 Zwischen 1596 und 1604 kam es in Zentralanatolien zunehmend zu Aufständen, in deren Verlauf die nicht-muslimische Landbevölkerung der Region zwischen den Safawiden unter Schah Abbas, auf dessen Seite die Kızılbaş kämpften, und den auf osmanischer Seite aufständischen Celali, aufgerieben wurde.36 Der mündlichen Tradition in Dersim nach seien in dieser Zeit die Bewohner einiger armenischer Dörfer am oberen Euphrat dem Rat eines Mönchs namens Der Simon gefolgt und hätten beschlossen, kollektiv den alevitischen Glauben anzunehmen, um dadurch der drohenden Verfolgung durch die Celali zu entgehen.37 Dieses Narrativ bildet eine Referenz für spätere Konversionserzählungen von Armeniern aus Dersim. Für das 17. Jahrhundert lässt sich, wie Reinkowski aufzeigt, ein Phänomen nachzeichnen, das in einer ambivalenten religiösen Identifikation bestimmter

33 Dreßler (2005, 157–8). In apokalyptischen Vorstellungen erscheint der Mehdi als religiöser Befreier am Ende der Zeit. 34 Dreßler (2005, 151). 35 Krikorian (1977, 70–1). 36 Griswold (1983). 37 Hayreni (2015, 49).

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Individuen bestand, in deren Glaubenspraxis die Grenzen zwischen orthodoxen Religionen zerflossen.38 Aufgrund der Verfolgungen unter Sultan Mehmet V. konvertierten besonders in ländlichen Regionen des Osmanischen Reichs NichtMuslime zum Islam, führten jedoch im familiären Kreis weiterhin auch nichtmuslimische Riten fort. In ähnlicher Absicht griffen die Kızılbaş in Dersim auf das Prinzip der religiösen Verstellung (türk.: takiye) zurück, um in äußersten Notsituationen ihren Glauben zu verbergen. Ab dem 19. Jahrhundert war das Osmanische Reich von wachsenden internen Spannungen geprägt, da es einerseits aufgrund seiner Niederlagen in den Kriegen mit Russland zunehmend Gebietsverluste verzeichnen musste und sich andererseits verstärkt aggressiven imperialen Interessen der westlichen Großmächte ausgesetzt sah. Das expandierende Russische Reich besetzte 1828–29 die osmanischen Ostgebiete bis Erzurum. Als Reaktion auf die wachsende politische Einflussnahme der Imperialmächte kündigte die osmanische Regierung ab 1839 umfangreiche, gewöhnlich unter dem Begriff Tanzimat (Neuordnung) zusammengefasste Reformen an, die insbesondere die sogenannten sechs armenischen Provinzen Van, Bitlis, Kars, Diyarbakır, Mamuret el-Aziz, Erzurum und Sivas betrafen.39 Um die nur schwer kontrollierbare Peripherie stärker an das Machtzentrum zu binden, hob die osmanische Regierung ab 1830 gewaltsam die kurdischen Emirate auf.40 Infolgedessen nahmen in den Ostprovinzen, darunter auch in Dersim, Aufstände und Spannungen zu.41 Ab 1870 verschlechterte sich das

38 Reinkowski (2007, 410). 39 Gündoğdu (2013, 24−5). 40 Kieser (2000, 43). 41 In einem Aufstand 1847 in Dersim setzte sich Hüseyin Bey gegen Ömer Paşa zur Wehr, wie es der Hamburger Orientalist und Diplomat Andreas David Mordtmann beschreibt. Das Vordringen der russischen Armee vom Kaukasus her erklärte er mit der repressiven osmanischen Politik gegenüber Armeniern und Kurden in den anatolischen Provinzen, die diese dazu veranlasste, sich auf die Seite des Russischen Reiches zu stellen. Laut Mordtmann hätten die „schiitischen Kurden“ von Dersim eine feindliche Haltung gegenüber der osmanischen Regierung eingenommen, geführt von Hüseyin Bey, der seinen Stammesgenossen im bis dahin autonomen Berggebiet als safawidischer Scheich vorgestanden habe. Hüseyin Bey hätte großes Geschick in den Verhandlungen mit dem Vali in Erzurum bewiesen und diesem zunächst versprochen, im Falle einer Kriegserklärung 10.000 Reiter gegen das Russische Reich bereitzustellen. Sobald allerdings „die Nachricht von der Einnahme der Festung Ardehan bekannt ward, warf Schah Hüseyin Bey die Maske ab und erklärte sich für unabhängig.“ Mordtmann erklärt diese Haltung mit der verletzlichen Rechtslage der „schiitischen Kurden“ und deren politisch ungesicherten Situation im Osmanischen Reich, Mordtmann (1878, 48–50); vgl. Völker (2016).

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ohnehin sensible Verhältnis zwischen kurdischen Stämmen und armenischer Bevölkerung noch weiter.42 Eine folgenschwere Reform des osmanischen Rechtssystems stellte der Erlass Hatt-i Hümayun von 1856 dar, der allen Untertanen des Sultans Religionsfreiheit versprach. Die bloße Ankündigung einer derartigen sozial-rechtlichen Neuordnung der osmanischen Gesellschaft rief bei den sunnitischen Muslimen eine konservative Reaktion hervor, die sich in der Angst vor Statusverlust durch eine rechtliche Gleichstellung von Muslimen und Nicht-Muslimen äußerte und zu wachsenden anti-armenischen Ressentiments und Übergriffen führte, welche in den Massakern an den Armeniern von 1894–96 gipfelten.43 Hatte Missionsarbeit unter der muslimischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs bis zum Erlass von 1856 unter Strafe gestanden, so intensivierte sich danach die Arbeit US-amerikanisch-protestantischer Missionsstationen in Anatolien. Offensichtlich übten die in Harput angebundenen Missionare einen gewissen Einfluss auf die religiösen Identifikationen der Bevölkerung von Dersim aus, denn sie berichten von örtlichen „Kızılbaş-Kurden“, die der christlichen Religion gegenüber besonders aufgeschlossen seien.44 In den Kızılbaş wollten die Missionare häretische Christen sehen, um damit ihre Tätigkeit besser legitimieren zu können.45 Die Kızılbaş ihrerseits äußerten ihre Nähe zum Protestantismus, weil sie sich dadurch Schutz vonseiten der Missionare und perspektivisch vom expandierenden Russischen Reich vor osmanischer Verfolgung erhofften.46 Infolge der Machtverschiebung und des wachsenden Drucks auf beide Gemeinschaften verschlechterte sich die Situation zwischen Armeniern und Aleviten in Dersim zusehends. Die im Rahmen der Tanzimat 1858 erlassene Bodenreform (osm. arazi kanunâmesi) änderte sich das osmanische Eigentumsrecht. Aufgrund sich daraufhin zuspitzender Ressourcenkonflikte sahen sich die armenischen Bauern in Dersim gezwungen, ihre Ländereien aufzugeben und zu

42 Klein (2002, 160); Deringil (2009, 347–8). Dreißig Jahre später, während des russisch-osmanischen Krieges im Jahre 1877, verweigerte Schah Hüseyin II., der Sohn Hüseyin Beys, der in Kouzitjan großes Ansehen und Autorität besaß, dem osmanischen Staat Steuerabgaben und forderte, seine Soldaten im Krieg gegen Russland selbst und unabhängig befehlen zu dürfen. Als das abgelehnt wurde und das osmanische Heer Dersim angriff, konnten sich die Stämme unter Schah Hüseyin II. dank der Hilfe der für ihre Kriegsführung berühmten Familie Mirakyan in den Kämpfen am Dujik-Berg und in Xutu-Deresi durchsetzen. Von diesen Auseinandersetzungen handelt die Legende in der Einleitung. 43 Adjemian (2018); Astourian (2011, 58–62). 44 Kieser (2000, 71). 45 Dreßler (2013a, 39). 46 Yarman II (2010, 150).

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verlassen. In Kızılkilise führte diese Situation zwischen 1870 und 1880 zur Auseinandersetzung zwischen dem alevitischen Xıranli-Stamm und dem armenischen Mirakyan-Geschlecht um den Landbesitz der Mirakyan.47 Zu dieser Zeit verließ auch der armenische Pilvenk-Stamm sein bisheriges Siedlungsgebiet im Munzur-Tal und zog in die Ebenen von Pertek, wo viele von ihnen nunmehr als Pächter der türkischen Landfürsten und kurdischen Großgrundbesitzer arbeiten mussten.48 Als Reaktion auf diese Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen stellten die Armenier dringliche Forderungen nach Reformen für die armenische Bevölkerung im Osmanischen Reich, die von den Großmächten unterstützt und mit zunehmendem Nachdruck verfolgt wurden. Der Friedensvertrag von San Stefano vom 3. März 1878 sah Reformen in den armenischen Provinzen und den Schutz der armenischen Bevölkerung vor Übergriffen der Kurden und Tscherkessen vor.49 Im Juli 1878 forderte die armenische Gemeinschaft auf dem Berliner Kongress Schutzmaßnahmen und Autonomiebestimmungen für die armenische Bevölkerung in den ruralen Gebieten Anatoliens. Da es ihnen jedoch nicht gelang, Rechtsschutz zu erlangen, und sie stattdessen enteignet und entrechtet wurden, verschlechterten sich ihre Lebensbedingungen insbesondere in den ländlichen Regionen weiterhin dramatisch. Durch seine Niederlage im russisch-osmanischen Krieg von 1877 bis 1878 verlor das Osmanische Reich Teile seiner Balkangebiete an Russland. Diesen Verlust empfand die osmanische Regierung als unerträgliche Kränkung ihres Selbstverständnisses und aus Furcht vor weiteren Gebietsabspaltungen richtete sie ihren Fokus auf die Verteidigung Anatoliens, welches sie nunmehr als das Herzstück ihrer Macht-Hemisphäre betrachtete.50 Im Zusammenhang der Niederschlagung von Aufständen begann Zeki Paşa, ab 1892 militärische Einheiten mit Zentren in Erzurum, Mardin, Karakilise und Ardıç aufzustellen.51 Sie wurden nach dem regierenden Sultan als Hamidiye-Regimenter bezeichnet und bestanden hauptsächlich aus sunnitischen kurdischen und turkmenischen Stämmen.

47 Die armenische Großfamilie der Mirakyan konnte in Kızılkilise, dem heutigen Nazımiye, dem wachsenden Druck des Xıranli-Stamms nicht länger standhalten und zog daher aus Derova in die Ebene von Çarsancak, Antranik (2012, 54); Gündoğdu (2016a, 276–8); Hayreni (2015). 48 Der armenische Priester Boğos Natanyan wurde im Mai 1878 Zeuge der desolaten Lebensumstände der armenischen Bevölkerung von Çarsancak. Yarman II (2010, 117, 151–4). 49 Im Anschluss daran sandte das armenische Patriarchat in Konstantinopel die Priester Vahan Minasyan Bardizaktsi, Boğos Natanyan und Karekin Sırvantsdyants in die anatolischen Provinzen, darunter auch nach Palu und Harput, um über die soziale und politische Lage der dortigen armenischen Bevölkerung Bericht zu erstatten, Yarman (2010a, 5). 50 Reinkowski (2013b, 47−67). 51 Dorronsoro (2006, § 7); MacDowall (1996, 59).

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Ausgestattet mit Waffen und Munition sowie begünstigt durch weitreichende Straffreiheit, konzentrierten sie ihre Übergriffe vor allem auf Armenier, in Dersim aber auch auf Aleviten.52 Offiziell sollten die Hamidiye-Regimenter die Sicherheit der Armenier gewährleisten, tatsächlich jedoch war es ihre Aufgabe, innere und äußere Feinde zu bekämpfen. So wurden sie gegen die Armenier eingesetzt, um armenischen separatistischen sowie russischen imperialistischen Bestrebungen entgegenzuwirken.53 In Dersim war die Rekrutierung von Aleviten für die Hamidiye von Anfang an umstritten, und wurde dann aufgrund von Zweifeln an der Loyalität der Aleviten ganz aufgegeben. Das hatte zur Folge, dass neben den Armeniern auch zunehmend Aleviten den Raubüberfällen der Hamidiye ausgesetzt waren.54 Eine Möglichkeit, sich vor der von sunnitischen kurdischen Stämmen und den Hamidiye-Regimentern ausgehenden Gewalt zu schützen, sahen einige Armenier, wie auch schon im 17. Jahrhundert, in ihrer Konversion zum Islam. Dementsprechend wandten sie sich 1895 an die Hohe Pforte mit der Bitte, ihre kollektive Konversion zum Islam offiziell anzuerkennen und zu bestätigen.55 Unter dem Vorwand, dies könne ihr später als Zwangsislamisierung vorgeworfen werden, verweigerte die osmanische Regierung die offizielle Bestätigung. Somit versetzte sie die armenischen Anwärter in einen ambivalenten und gefährdeten Status, da diese ihre Absicht zu konvertieren zwar geäußert hatten,

52 Klein (2002, 131–53). 53 Dorronsoro (2006, § 1); Klein (2011, 21–34). 54 Bei den nicht-sunnitischen Stämmen der Jesiden und Aleviten verlief die Rekrutierung in die Regimenter mitunter problematisch, da sich die leitende Ideologie des sunnitischen Panislamismus für beide Religionsgemeinschaften als nur begrenzt anschlussfähig erwies. Die Regierung Abdülhamids strebte zwar eine gewisse Integration der Aleviten in den sunnitischen Staatsapparat an, was diesen erstmals Zugang zum osmanischem Heer und zur Verwaltung ermöglichte, Kieser (1998, 283). Allerdings bestanden bei vielen osmanischen Militärs Bedenken, ob die Aleviten in Dersim vertrauenswürdig seien und ob sie sich im Fall eines russischen Sieges nicht dem Russischen Reich anschließen würden, weswegen Sultan Abdülhamid II. beschloss, sie nicht aufzunehmen, Klein (2002, 145). Trotzdem setzte sich Mehmed Ali Paşa für das Aufstellen einer Spezialeinheit zur Kontrolle der Bergpässe in Form einer Infanterietruppe aus den Stämmen von Dersim ein, Fenz (2009, 118). Am 26. 11. 1892 schlug Serasker Rıza vor, eines der Hamidiye-Regimenter, ausgestattet mit bergtauglicher Artillerie, für einen Einsatz nach Dersim zu schicken, um damit einerseits die Bevölkerung zu disziplinieren und andererseits dem Hamidiye-Regiment Gelegenheit zu bieten, Kampferfahrung zu sammeln, Gündoğdu (2013, 20–1), Fenz (2009, 117). Unter einigen der alevitischen Stämme in Dersim stieß die Rekrutierung 1892–93 auf Widerstand, nicht zuletzt, weil die Rekrutierungskampagnen oft auch von gewalttätigen Übergriffen der bereits aufgestellten Hamidiye-Regimenter auf die örtliche Zivilbevölkerung begleitet waren, Dorronsoro (2006, § 20); Klein (2002, 132–3); MacDowall (1996, 60); White (2000, 61). 55 Deringil (2009, 354); Gündoğdu (2013, 29–30).

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aber noch nicht als Muslime anerkannt worden waren, was wiederum dazu führte, dass sie sich als „Religionsabtrünnige“ der Lynchjustiz durch die muslimische Bevölkerung ausgesetzt sahen.56 In dieser extrem angespannten Lage genügte ein scheinbar zufälliger Kommentar Sultan Abdülhamids II., der sein Eingehen auf die Reformforderungen der europäischen Staaten andeutete, um massive gewalttätige Ausschreitungen gegen Armenier und syrische Christen auszulösen.57 Im November 1895 erreichten die anti-armenischen Massaker, die sich in den Provinzen des Osmanischen Reichs ausbreiteten, auch die Ebene von Mazgirt, Çemişgezek und Çarsancak im Süden von Dersim, wo die meisten Armenier lebten.58 Türkische Beamte, Angehörige der Oberschicht und die Hamidiye-Regimenter ermordeten und vertrieben die armenische Zivilbevölkerung. Einige Stämme aus Dersim waren dem Aufruf lokaler osmanischer Gendarmen gefolgt, bewaffneten sich, ritten aus den Bergen in die Ebene von Mazgirt am Peri-Fluss, um die armenischen Höfe in Çarsancak zu plündern.59 Die Großgrundbesitzer und Lokalfürsten waren nicht bereit, ihre armenischen Leibeigenen vor den Angriffen der Banden zu schützen. Die wenigen überlebenden Armenier flohen anschließend in die Städte oder außer Landes.60 Als die jungtürkische Bewegung am 23. Juli 1908 die osmanische Regierung stürzte und Sultan Abdülhamid II. zum Rücktritt vom Thron zwang, begrüßte die breite Gesellschaft, einschließlich der nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen der Griechen, Juden und Armenier – sowie der Aleviten in Dersim – diesen Machtwechsel, von dem sie sich eine moderne Zukunft in Freiheit und Fortschritt erhofften.61 Die jungtürkische Parteiorganisation „Komitee für Ein56 Seit 1839 war eine rechtskräftige Konversion zum Islam (osm. ihtida) daran gebunden, dass sie freiwillig unter Beisein von Zeugen zu erfolgen hatte, dem Konvertiten ein muslimischer Name zu geben war und dass der Prozess von einem muslimischen Richter dokumentiert wurde. Sah die osmanische Rechtspraxis bis dahin für Apostasie die Todesstrafe vor, so erließ 1844 Sultan Abdülmecid I. (1839–1861) unter dem Druck der westlichen Mächte ein Verbot der Hinrichtungen von Apostaten. Dennoch blieb diese Praxis weiter im öffentlichen Bewusstsein verankert; Deringil (2000, 547–575; 2009, 347, 352–4), Reinkowski (2007, 414). 57 Hartmann (2013, 183). 58 Hayreni (2015, 209, 215–20). 59 Hayreni (2015, 215). 60 Cora (2016, 42–61). 61 Seitdem die sunnitischen Kurden ihre Machtposition in den Ostprovinzen durch die Reformpolitik gefährdet sahen, gewann der Nakşbendiye-Orden an Einfluss. Scheich Khalid war ein Wegbereiter für diese Entwicklung, der seine Nachfolger zu Beginn des 19. Jahrhunderts anhielt, um die Vernichtung der „Juden, Christen, Feueranbeter (majus) und persischen Schiiten“ zu beten, MacDowall (1996, 52). Zu dieser religiösen Abgrenzung kam die politische Entwicklung des kurdischen Nationalismus. 1880 führte der Nakşbendiye-Scheich Ubaidullah von Nehri einen Aufstand in Hakkari an, der kurdisch-nationalistisch motiviert und separatistisch

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heit und Fortschritt“ (osm. İttihad ve Terraki Cemiyeti) verbreitete und etablierte ihre Strukturen in allen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bereichen im Osmanischen Reich. In dieser Zeit warb die jungtürkische Geheimorganisation (osm. Teşkilat-i Mahsusa) auch in Dersim Mitglieder zum Aufstellen von Militäreinheiten an.62 Henry Riggs, ein protestantischer Missionar des ABCFM („American Board of Christian Foreign Mission“) aus Harput, beobachtete den Beginn der jungtürkischen Regierungszeit in Dersim, die ihm zufolge jedoch nur zu einem kurzfristigen Abflauen der Konfrontation zwischen osmanischem Heer und lokalen Stämmen führte.63 Während des Ersten Weltkriegs richtete sich die jungtürkische Vernichtungspolitik im Inneren des Osmanischen Reichs vor allem gegen die Armenier, aber auch gegen Pontus-Griechen und syrische Christen. Vom 24. April 1915 bis 1916 vertrieben, entführten, folterten und ermordeten auf Veranlassung der jungtürkischen Regierung türkische Gendarmen, Mitglieder der jungtürkischen Geheimorganisation (osm. Teşkilat-i Mahsusa) sowie der „Regimenter der Stämme“ (türk. Aşiret Alayları) über eine Million Armenier, neben Pontus-Griechen und syrischen Christen.64 In Dersim waren die Bezirke Çemişgezek und Pertek am stärksten betroffen, da dort der Großteil der armenischen Bevölkerung lebte. Im Unterschied zu den Massakern von 1895 drangen die jungtürkischen Gendarmen und ihre lokalen Kollaborateure auch in das Innere von Dersim, nach Hozat und Nazımiye, vor. Die fliehenden Armenier und syrischen Christen suchten

orientiert war, Bruinessen (1989, 110–2). In Palu, im südöstlichen Grenzgebiet von Dersim, befand sich ein wichtiges Nakşbendiye-Zentrum. Angesichts des von dort ausgehenden politischreligiösen Drucks und der Gewalt vonseiten der Hamidiye-Regimenter lässt sich erklären, warum einige alevitische Stämme in Dersim zur vermeintlich liberalen jungtürkischen Politik tendierten. 62 Der in Erzincan und Dersim angesiedelte Stamm der Balaban und dessen alevitischer Stammesführer Gül Ağa sowie der Şadıllı-Stamm mit seinem Stammesführer Kırmo Yusuf stellten ebenfalls Kampfeinheiten an die jungtürkische Geheimorganisation. Das religiöse Oberhaupt des Bektaşi-Ordens, Şeyh Cemaleddin Çelebi, der das Kommando über die BektaşiTruppen innehatte, suchte die einzelnen alevitischen ocaks in Dersim auf, um sie für die Unterstützung und Mitgliedschaft in der Teşkilat-i Mahsusa zu gewinnen, Dreßler (2013a, 117); Kieser (2003, 179–181). 63 In spätosmanischer Zeit führte das osmanische Heer eine Reihe von Straffeldzügen in Dersim durch, die jedoch ohne Erfolg blieben, Gündoğdu (2013). Nach den Beobachtungen von Henry Riggs zog die jungtürkische Regierung die osmanischen Truppen aus Dersim ab, um die Bewohner auf ihre Seite zu bringen. Sie versprach der Bevölkerung von Dersim Freiheiten, wenn diese ihre Waffen in Harput aushändigten, ein Aufruf, dem letztere nur augenscheinlich nachkamen, denn viele zogen es vor, mit den ihnen ausgehändigten Waffen zu desertieren, Riggs (1997, 110). 64 Regimenter der Stämme (türk. aşiret alayları) war der neue Name für die umorganisierten Hamidiye-Regimenter.

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Zuflucht auf den Almen der hohen Berge, in Höhlen oder bei alevitischen Nachbarn. Die Rolle der alevitischen Stämme aus Dersim im Genozid an den Armeniern wird in den Quellen unterschiedlich bewertet. Zum einen wird ihre Kollaboration mit den Gendarmen bei den Raubüberfällen an den Vernichtungsorten hervorgehoben, zum anderen wird ihnen aber auch eine Helferrolle für die Verfolgten zugeschrieben.65 Armenische Überlebende betonen die besondere Stellung der Region Dersim, deren Bewohner ihnen bei der Flucht über die Berge zur russischen Frontlinie geholfen hätten.66 Die ersten Armenier aus der direkten Umgebung von Çemişgezek und Harput flüchteten bereits zu Beginn der Deportationen in die Berge von Dersim.67 Die Frontlinie zwischen der russischen Armee und den Truppen der jungtürkischen Regierung verlief im Nordosten der Region Dersim, die sowohl aufgrund ihrer geographischen Lage als auch ihrer neutralen Haltung eine Pufferzone bildete.68 Als im Juli 1916 die russischen Truppen Erzincan erreichten und die Stadt bis Anfang 1917 besetzt hielten, konnten sich armenische Flüchtlinge über die russische Frontlinie retten.69

65 Wichtige Knotenpunkte der Deportationsrouten und Vernichtungsorte lagen in unmittelbarer Nähe von Dersim: die Schlucht von Kemah im Nordosten, Mamachatun in der Gegend von Tercan im Nordosten, der Gölcük-See in der Ebene von Harput im Südosten und die FuruncularEbene in Malatya im Südwesten. Hayreni (2015, Karte im Anhang). In den schriftlichen Quellen werden die Bewohner des Bergmassivs Dersim als unzivilisierte, wilde und unabhängige Stämme von Kızılbaş und Kurden beschrieben, die einen aktiven Anteil an der Vernichtung ihrer armenischen Nachbarn hatten, Bryce (1987, 231; 234); Gust (2005); Kaiser (2019). 66 Mardiganian (1918, 242); Mugerditchian (1918, 34–41). 67 Riggs (1997, 108). 68 Aus Furcht davor, die Bevölkerung von Dersim könne sich zusammen mit der russischen Armee gegen sie wenden, hätten es die jungtürkischen Militärs nicht gewagt, das Gebiet bis zur russischen Frontlinie zu durchqueren. Als die russischen Truppen im Februar 1916 Erzurum und im Juli 1916 Erzincan einnahmen, war somit deren südliche Flanke in Dersim vor türkischen Angriffen abgesichert, Riggs (1997, 116–7). 69 Die Einnahme der östlichsten Garnisonsstadt des spätosmanischen Reichs Erzurum durch die russische Kaukasusarmee unter General Judenitch am 16. Februar 1916 wirkte sich zum einen auf die militärische Positionierung Dersims aus. Zum anderen hatte sie auch Einfluss auf das Schicksal der sich in den Gebirgszügen von Dersim versteckt haltenden Armenier. Die russischen Militärs, die Erzincan in der Zeit zwischen dem 2. und 25. Juli 1916 besetzt hielten, westliche Missionare und armenische Widerstandskämpfer leiteten eine Rettungsaktion für überlebende Armenier, überwiegend Waisenkinder, in der Region ein. Unter ihnen befand sich Arshaluys Mardiganian aus Çemişgezek, die seit Ostern 1915 zu Fuß auf den Deportationswegen durch Anatolien getrieben worden war, bis sie sich schließlich, aller ihrer Verwandten beraubt, in die Berge von Dersim flüchtete. Nachdem sie dort monatelang umhergeirrt war und den Winter über von Wurzeln und Gräsern gelebt hatte, gelang es ihr endlich, sich nach Erzurum zum amerikanischen Konsulat zu retten, Mardiganian (1918, 244–51); siehe auch Calzolari (2017).

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Armenier in Dersim und in Harput richteten in Zusammenarbeit mit ortskundigen alevitischen Helfern und anderen Unterstützern eine Fluchtroute ein. Der Fluchtweg barg jedoch viele Schwierigkeiten, angefangen bei dem riskanten Übersetzen über den Euphrat, der von türkischen Gendarmen streng bewacht wurde, bis zur Überquerung der Munzur-Gebirgskette.70 Der aus Dersim gebürtige Vali Sabit Bey, der für sein grausames Vorgehen gegen Armenier berüchtigt war, hatte offenbar einen finanziellen Vorteil vom Bestehen dieser Route, deren Betrieb mit seinem Amtsende eingestellt wurde.71 1916 brach im Osten von Dersim ein Aufstand aus, in dessen Verlauf Aleviten aus Nazımiye, begleitet von einigen armenischen Fedayis, über Peri nach Harput zogen und die Siedlungen auf ihrem Weg plünderten und niederbrannten.72 Gegen das Vordringen der russischen Armee seit Anfang 1916 und die Revolte in Dersim kämpfte das osmanische Heer an zwei Fronten. Dementsprechend entschlossen wollte die osmanische Regierung den Widerstand niederschlagen.73 Sie sandte Militär mit schweren Geschützen zum Euphrat, um das weitere Vordringen der Aufständischen aus Dersim nach Harput zu verhindern.74 Der Aufstand sollte ihr später noch zur Legitimation von Gewalt gegen die Bevölkerung in Dersim dienen.75 70 Esther Mugerditchian, die Frau des britischen Vize-Konsuls in Diyarbakır, flüchtete mit ihren Kindern verkleidet als Kurden von Harput über den Euphrat nach Ağzunik in Dersim, über Ovacık und den Mercan-Pass zur russischen Front in Erzincan, Mugerditchian (1918, 34–41). 71 Riggs (1997, 113). 72 Özkök (1937, 35–6); Chitjian (2003, 119; 123). Chitjian erwähnt die Rolle der Deutschen, die an der Seite der Türken den Aufstand niederschlugen. 73 Özkök (1937, 37). 74 Die verschiedenen, unkoordiniert agierenden Stämme schlossen sich zusammen und drohten dem Gouverneur, gemeinsam gegen Harput zu ziehen und die Stadt, in der seit 1915 überwiegend türkische und kurdische Umsiedler lebten, gänzlich niederzubrennen, wenn den zweitausend verschleppten Deportierten aus Dersim nicht umgehend die Erlaubnis erteilt würde, wieder zurückkehren zu dürfen. Henry Riggs beobachtete zudem, wie türkische Beamte in Harput drohten, die Kurden aus Dersim auf die gleiche Weise wie die Armenier aus der Region zu deportieren, Riggs (1997, 182–4). 75 Der Aufstand von 1916 spielt im hegemonialen Leugnungsdiskurs zur Legitimation der Militäroperation in Dersim 1937–38 eine wichtige Rolle. In einer 1937 erschienenen türkischnationalistischen Darstellung führt ihn der Stabsmajor Burhan Özkök auf eine Zusammenarbeit zwischen der russischen Armee und den Stämmen in Dersim zurück. Die „Propaganda“ der armenischen Soldaten in der russischen Armee hätte dabei starke Wirkung bei der „unwissenden“ Bevölkerung in Dersim erzielt, die auf die ihnen versprochene Unabhängigkeit hofften. Demnach hätten sich einige staatenlose, armenische Deserteure um den Armenier Mustafa zusammengeschlossen, seien aus der 3. Armee des osmanischen Heers zur russischen Kaukasusarmee übergelaufen und hätten in deren Rängen Erzurum erobert. Sie hätten sich darüber hinaus darum bemüht, die Stämme in Dersim auf ihre Seite zu ziehen und sie zum Aufstand gegen die osmanische Regierung aufzuwiegeln, Özkök (1937, 35).

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Nach dem Ersten Weltkrieg setzte mit dem Waffenstillstand am 31. Oktober 1918 ein Ringen verschiedener Akteure, unter ihnen Armenier, Kurden und Türken um die Vorherrschaft in den Ostprovinzen ein. Ab 1919 führte Mustafa Kemal den mehrheitlich türkisch-sunnitischen Widerstand gegen die alliierte Besatzung an. Sein Werben um Unterstützung erzielte auch unter türkischen Aleviten und kurdischen Sunniten einen gewissen Erfolg.76 Gleichzeitig regte sich von 1918 bis 1920 aber auch erstmals Widerstand gegen Mustafa Kemal in der Bewegung in Koçgiri, einer Region zwischen Sivas und West-Dersim, deren Bevölkerung sich auf den Vertrag von Sèvres berief und Unabhängigkeit vom türkischen Staat forderte.77 Viele der alevitischen Stämme aus West-Dersim stellten sich aufgrund verwandtschaftlicher Verbindungen und religiöser Loyalitäten auf die Seite der alevitischen Stämme Koçgiris.78 Im Unterschied zum Widerstand in Koçgiri beteiligten sich die alevitischen Stämme aus Dersim nicht am Scheich-Said-Aufstand 1925, einer religiös-konservativen Bewegung, die in sich Reaktion auf die Schließung der Tekkes und Sufibruderschaften in der angrenzenden Region Palu unter dem NakşbendiyeScheich Said bildete.79 Bemerkenswert sind die personellen Kontinuitäten unter den jungtürkischkemalistischen Militärs, darunter Abdullah Alpdoğan, aus deren Sicht es galt, in Koçgiri Truppen einzusetzen, die bereits „Erfahrungen und Erfolg in der Bekämpfung innerer Gefahren“ gesammelt hatten. Auch die Gewaltpolitik, die die kemalistische Führung zehn Jahre später in Dersim ausübte, wies personelle und ideelle Kontinuitäten auf und knüpfte an frühere Erfahrungen kollektiver Gewalt, vor allem dem Genozid an den Armeniern, an.80 76 Neben den Verhandlungen mit den kurdischen Stämmen auf den Kongressen in Erzurum und Sivas 1919 zielte sein Besuch in Hacıbektaş Ende Dezember 1919 darauf, Ahmet Cemalettin Çelebi, den „Vorsteher“ (türk. postnişin) des einflussreichen Clans der Çelebi, der sich bereits im Ersten Weltkrieg auf jungtürkische Seite gestellt hatte, an sich zu binden. Die verbreitete apologetische und loyale Haltung unter den alevitischen Autoritäten zu Mustafa Kemal Atatürk, dessen Regierung und der von ihm gegründeten Partei CHP, erklärt die Forschung im Zusammenhang mit den Versprechungen von Autonomie in jungtürkischer Zeit und während der türkischen „Befreiungskriege“, Dreßler (1999, 83−9); Fliche (2006, § 32–5). 77 Der Widerstand begann 1918, zunächst initiiert durch die „Gesellschaft für den Aufstieg Kurdistans“ (türk. Kü rdistan Taâlî Cemiyeti KTC), erreichte drei Monate nach der Unterzeichnung des Vertrags von Sèvres 1920 seinen Höhepunkt und wurde anschließend durch das türkische Militär brutal niedergeschlagen, Massicard (2009, 4). Einige der Anführer fanden anschließend Zuflucht in Dersim, womit die kemalistischen Militärs, insbesondere Abdullah Alpdoğan, später den Angriff auf Dersim rechtfertigten, siehe Massicard (2009). 78 Seyyid Rıza, der 1937 eine tragende Rolle in Dersim spielte, wurde für die Unterstützung der Stämme von Koçgiri gewonnen, Massicard (2009). 79 Fliche (2006, § 33–6). 80 Massicard (2009).

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Als Vorläufer der staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim von 1937 bis 1938 erließ die türkische Regierung am 21. Juni 1934 ein Besiedlungsgesetz (türk: İskân Kanunu), das darauf zielte, die Bevölkerung Anatoliens entsprechend ihrer ethnischen Zugehörigkeit umzusiedeln und nicht-türkische Bevölkerungsgruppen zu türkifizieren.81 Die Bevölkerung von Dersim sollte in türkische Gegenden zwangsumgesiedelt, ihr Landbesitz enteignet und verstaatlicht werden.82 Den eigentlichen Beginn der Gewaltverbrechen stellte das sogenannte Tunceli-Gesetz (türk. Tunceli Kanunu) dar. Auf Bestreben des Innenministers Şükrü Kaya wurde dieses vom türkischen Parlament im Dezember 1935 fast einstimmig in einem Eilverfahren für rechtsgültig erklärt und trat zu Beginn des Jahres 1936 in Kraft.83 Şükrü Kaya und Ismet Inönü plädierten für ein konsequentes Vorgehen gegen Dersim, eine „Krankheit, die es gelte zu kurieren“, und forderten Strafmaßnahmen zur „Züchtigung und Deportation“ (türk. tedip ve tenkil) der Bevölkerung.84 Dersim wurde auf das heutige Gebiet verkleinert und, als türkische Provinz, in Tunceli umbenannt.85 In dem neu eingerichteten vierten Inspektorat übernahm als Generalgouverneur der mit absoluter Rechtsfreiheit ausgestattete Abdullah Alpdoğan das Kommando über die Militärverwaltung, der unverzüglich das Ausnahmerecht über die Region verhängte.86 Er befahl den Bau militärischer Infrastruktur, wie Kontrollstationen, Brücken, befestigte Straßen und Telegrafenmäste.87 In Elazığ entstand einer der ersten Flugplätze der türkischen Luftwaffe, der später als Basis für die Bombenangriffe auf Dersim, darunter von Sabiha Gökçen, der armenischen Adoptivtochter von Atatürk, dienen sollte.88 81 Neben sieben anderen Regionen wurde Dersim der dritten Zone zugeordnet, deren Bevölkerung als „nicht der türkischen Kultur angehörig“ und „nicht die türkische Sprache sprechend“ galt. „Diese Gebiete sind aus Gründen der Lage, den hygienischen Zuständen, der Ordnung, der Kultur, der Politik, des Militärs und der Disziplin zu räumen und Ansiedlung in ihnen ist zu verbieten.“, Besiedlungsgesetz Nr. 2510 vom 14. Juni 1934, Resmi Gazete Nr. 2733 vom 21. Juni 1934. 82 Six-Hohenbalcken (2018); Watts (2000, 14). 83 Beşikçi (1992, 15–6). 84 Watts (2000, 15). 85 Öktem (2008). 86 Vali ve Kumandan Umumî Müfettiş, Art. 1, in: Tunceli Vilayetinin İdaresi Hakkında Kanun Nr. 2884, Resmi Gazete, 1935. 87 Die militärischen Stützpunkte Erzurum und Erzincan im Norden Dersims sowie Elazığ im Süden, wo sich der Sitz der Militärverwaltung des Vilayets befand, sollten an das Eisenbahnnetz angeschlossen werden, um Truppen schneller nach Tunceli verlegen zu können. Kalman (1995, 350). 88 Olson (2000, 67–94). Anfang 2004 vermeldeten türkische Medien, dass die von Atatürk adoptierte Sabiha Gökçen ein armenisches Waisenkind gewesen sei. Diese Nachricht sorgte in der türkischen Öffentlichkeit für beträchtlichen Aufruhr und wurde dem Verfasser, dem

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Das türkische Militär forderte die Bevölkerung Dersims auf, sämtliche Waffen auszuhändigen und Rekruten für den Wehrdienst zu stellen.89 Weiter verschärft wurde die Lage durch sexuelle Übergriffe auf Frauen in Dersim als Provokation vonseiten der in Dersim stationierten Militärs. Als daraufhin im März 1936 eine zentral gelegene Brücke über den Pülümür-Fluss in der Nähe des Dorfs Pah/Pax in Brand gesteckt und einige Telefonleitungen gekappt wurden, lieferte das dem türkischen Militär einen willkommenen Anlass, den lange vorbereiteten Einsatz zu beginnen und den „Aufstand“ niederzuschlagen.90 Daraufhin regte sich Widerstand bei einem Dutzend der Stämme in Dersim, die übereingekommen waren, gegen den türkischen Staat zusammenzuhalten. Andere Stämme zeigten sich hingegen gefügig und bezeugten ihre Absicht, sich dem Staat zu unterwerfen.91 Die Operation der türkischen Armee sperrte das gesamte Gebiet großräumig ab und wandte sich sowohl gegen die Zivilbevölkerung als auch gegen die Widerstandskämpfer.92 Über die Bombenangriffe auf Dersim unter der Leitung Sabiha Gökçens fanden sich in den zeitgenössischen türkischen Medien zahlreiche Berichte, in denen sie zur Nationalheldin erhoben und ihre Tapferkeit in der Bekämpfung der Staatsfeinde gepriesen wurde.93 Das Schweigen in der türkischen Öffentlichkeit Chefredakteur der armenisch-türkischen Wochenzeitung AGOS, Hrant Dink, von der türkischen Justiz als „Verunglimpfung des Türkentums” nach Artikel 301 angelastet. Ein gegen ihn laufendes Gerichtsverfahren wurde erst nach seiner Ermordung durch einen türkischen Nationalisten 2007 eingestellt. Dink (2004), siehe dazu: Ulgen (2010b, 109–11). 89 Ağar (1940, 33); Bulut (1991, 186), Kalman (1995, 229). 90 Einem Muster des Leugnungsdiskurses entsprechend wird in der gegenwärtigen oralen Tradition in Tunceli ein Armenier dieser Tat beschuldigt, siehe Bilmez (2011, 107–9). 91 Vor allem war es der Stamm der Abassan unter Seyyid Rıza, der als Anführer des Widerstands galt, daneben waren die Stämme Haydaran, Kureyşan, Yusufhan und Demenan involviert, sowie einige Stämme, die sich 1925 aus Koçgiri nach Dersim geflüchtet hatten. Ihre Anführer schworen am Munzur-Fluss, gemeinsam gegen den Staat zu kämpfen, Kalman (1995, 226–7); Bruinessen (1994, 145). Nuri Dersimi, ein feuriger Anhänger des kurdischen Nationalismus, verfolgte in der Region das Ziel, die Kräfte der nach seiner Auffassung in einen sunnitischen und einen alevitischen Arm gespaltenen kurdischen Nationalbewegungen zu vereinen, Watts (2000, 17). 92 Am 3. 10. 1938 sandte Hoffmann-Fölkerskamp aus dem deutschen Konsulat in Trabzon einen Bericht an die deutsche Botschaft in Ankara, in welchem er Beobachtungen über „Die türkischen ‚Manöver‘ im kurdischen Dersim-Gebiet“ mitteilte: „Einige Überfälle auf türkische Gendarmeriewachen und Militärposten gaben hinlänglichen Vorwand zu einer Strafexpedition, die schonungslos auf dem ganzen Gebiet durchgeführt worden ist.“ Deutsches Konsulat Trabzon an die Botschaft in Ankara, 3. 10. 1938, Nr. A 974/38. 93 Auch die Münchener Neuesten Nachrichten berichteten 1938 unter dem Titel „Ein junges Mädchen wird Fliegerleutnant. Besuch bei Sabiha Göktschen – Die Tochter Kemal Atatürks als Offizier in der Luftflotte“ über den Bombenangriff durch die Türkische Luftflotte „Im Kampf gegen die Kurden“ in Dersim und die dabei bestandene „Feuertaufe“ Sabiha Gökçens. „Ihre

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über die konkreten Aufgaben, die Sabiha Gökçen, Celâl Bayar, Şükrü Kaya, Fevzi Çakmak und Abdullah Alpdoğan innerhalb der Dersim-Operation erfüllten, stehen im Kontrast zu deren medialer Konnotierung als militärischem Erfolg.94 Die türkische Presse triumphierte über die Festnahme Seyyid Rızas, den sie als Anführer des Widerstands darstellte. Doch auch nachdem er von einem türkischen Militärgericht verurteilt und am 15. November 1937 gehängt worden war, setzte sich die Militäroperation fort.95 Im Frühjahr 1938 wurde sie mit verstärktem Truppeneinsatz als „Flutoperation“ (türk. sel harêkati) auf das gesam-

Abteilung gehörte zu den Truppen, welche gegen die aufrührerischen Kurden im ostanatolischen El Aziz eingesetzt wurden. Sollte Sabiha jetzt zu Hause bleiben? Nicht zu machen, sie mußte mit, und sie ging mit, und zeichnete sich sehr schnell aus. Wie ein Sperber schoß ihr Kampfflugzeug hernieder auf das unwegsame Gelände, das Maschinengewehr ratterte und zerstreute Ansammlungen der Aufständischen, oder sie umkreiste deren Hochburg und ließ, unbekümmert um die sie umpfeifenden Gewehrkugeln, Bombe auf Bombe herniederfallen. Zur Belohnung für die vor dem Feind gezeigte Tapferkeit wird sie nach Niederschlagung des Aufstandes zum D e g e n f ä h n r i c h befördert. Und der gefangene Kurdenhäuptling (später ist er vom Kriegsgericht zum Tode verurteilt und gehenkt worden) machte Augen groß wie Teller, als sie ihm gegenübertritt und er sieht, wer der unerschrockene und hartnäckige Feind gewesen ist.“ Sabiha selbst äußerte sich nur kurz in einem Interview 1987 zu ihrem Einsatz als Bomberpilotin in Dersim. „No [casualities]. It was just a reconnaissance campaign, the army had intelligence as well. They knew where these bad people were hiding. It would be inhuman to destroy places where there would be children. No. There has never been such a thing ... I will not dwell on the reasons and consequences of Dersim operation here.“ Ulgen (2010b, 113–4). 94 Ulgen (2010b, 115). 95 An die letzten Worte, die Seyyid Rıza vor seiner Hinrichtung gesagt haben soll, erinnerte sich einer der Verantwortlichen der Gerichtsverhandlung, Sabri İhsan Çağlayangil, der damalige Polizeipräsident in Malatya, später türkischer Außenminister, in seinen Memoiren: „Wir brachten Seyit Rıza zum Richtplatz. Es war kalt. Niemand war da. Aber Seyit Rıza sprach in die Stille und Leere, als ob der Platz voller Menschen sei. ‚Wir sind Kinder Kerbelas. Wir haben nichts verbrochen. Es ist eine Schande. Es ist grausam. Es ist Mord.‘, sagte er. Es überlief mich eiskalt. Dieser alte Mann ging schnellen Schrittes und schob den Zigeuner beiseite. Er legte sich den Strick um, trat den Stuhl weg und vollstreckte sein eigenes Urteil.“ Çağlayangil (1990, 47). Während Seyyid Rıza’s Gerichtsverfahren lief, befand sich Mustafa Kemal Atatürk auf Besuchsreise durch die Ostprovinzen, auf der er am 15. November 1937 Diyarbakır besucht hatte und anschließend zusammen mit dem neu ernannten Premierminister Celâl Bayar, Innenminister Şükrü Kaya und Feldmarschall Fevzi Çakmak Station in Elazığ machte, um den Generalgouverneur Tuncelis und Hauptkommandanten Abdullah Alpdoğan zu besuchen. Danach fuhren sie weiter nach Pertek, um die Singeç-Brücke einzuweihen. In Begleitung seiner Adoptivtochter Sabiha Gökçen besuchte Kemal Atatürk das lokale „Volkshaus“ in Pertek und begrüßte die Schulkinder. Die Schnelligkeit, mit der die Todesstrafe über Seyyid Rıza verhängt wurde, lässt sich wohl auch dadurch erklären, dass die Angelegenheit vor Atatürks Ankunft abgeschlossen sein sollte.

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te Gebiet ausgeweitet.96 Im Rahmen der Vernichtungsaktion ermordete das türkische Militär in Massakern schätzungsweise 32.000 bis 70.000 Menschen.97 Schätzungen zufolge wurden anschließend über 10.000 Überlebende in die West-Türkei zwangsdeportiert, Frauen und Waisenkinder entführt und zwangsverheiratet oder in türkischen Internatsschulen assimiliert.98 Massaker und Zwangsdeportationen dauerten bis zur Amnestie 1947 an, ein über Dersim verhängter Siedlungsbann und das Ausnahmerecht endeten erst 1948.99 Im Anschluss an die physischen Gewaltmaßnahmen verfolgte die türkische Regierung das Ziel, Tunceli mittels umfassender Reformen in eine moderne türkische Provinz umzuwandeln. Mit der Einführung des Türkischen als offizieller Sprache ging das Verbot der regionalen Muttersprachen einher.100 Weitere Maßnahmen betrafen die Umerziehung der Waisenkinder zum Türkentum in Internaten, wie dem Mädcheninternat in Elazığ.101 Angesichts der organisierten und systematischen Vernichtungsaktionen und der anschließenden Assimilationsmaßnahmen sind die staatlichen Gewaltverbrechen 1938 in Dersim als Genozid zu betrachten.102

96 „Die Armee verwandte Giftgas. Hinter den Eingängen zu den Höhlen haben sie sie wie Mäuse vergiftet. Und sie haben diese Dersim-Kurden im Alter von sieben bis siebzig Jahren umgebracht. Es war eine blutige Operation.“ „Çağlayangil: Ordu Dersim Kürtlerini kesti, fare gibi zehirledi!“, T24, 19. 11. 2011, Transkription der Tonbandaufnahmen des Interviews von Kemal Kılıçdaroğlu mit Sabri İhsan Çağlayangil von 1986 in Yalova, zuerst veröffentlicht in Hürriyet, 22. 8. 2010. Diese Aussagen werden darüber hinaus durch ein Telegramm vom 30. März 1937 gestützt, das Abdullah Alpdoğan, damals Generalleutnant des 4. Inspektionskorps, an das Innenministerium, das Ministerpräsidialamt und an das Generalstabsamt sandte und aus dem hervorgeht, dass er die Lieferung chemischer Waffen forderte, Brennstoff- und Stickstoffbomben für den Einsatz der unter seinem Kommando befindlichen Truppen im Kampf gegen die Bevölkerung von Dersim. „Dersim Katliamı’nda kimyasal silah kullanıldığına ilişkin belge ortaya çıktı“, T24, 4. 12. 2013. 97 Kieser (2011); Watts (2000); Olson (2000). 98 Die Zwangsdeportation zielte auf Zerstreuung (türk.: serpiştirme) der Bevölkerung aus Dersim, Aslan (2010b, 416–8). Zu den Assimilationsmaßnahmen gegenüber den Kindern aus Dersim in der Internatsschule in der benachbarten Stadt Elazığ unter der Leitung von Sıdıka Avar, siehe: Türkyılmaz (2016, 162–186). Frauen und Mädchen aus Dersim wurden in türkische Haushalte entführt, zwangsverheiratet und assimiliert, Gündoğan (2012). 99 Aslan (2010a); Bilmez (2012, 7–40). 100 Mann (1932); Selcan (1998); Vgl. zu Sprachreformen in der Türkei: Haig (2004, 129). 101 Aslan (2010a, 416–8); Ramazan (2014, 63–5). Erinnerungen der Direktorin des MädchenInternats in Elazığ, Sıdıka Avar: Avar (2004); Türkyılmaz (2016). 102 Boztas (2014). Martin van Bruinessen diskutiert die Anwendbarkeit des Begriffs Genozid nach der Völkerrechtskonvention auf die staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 und in Anfal, Irak 1988. Als Kriterium untersucht er, ob sich die vernichtende Gewalt in den zwei Fällen gegen die „kurdische Gruppe an sich“ richtete. Bruinessen (1994, 141–70). Von einer ethnisch homogenen

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Durch die Aufhebung des Siedlungsbanns in der Provinz Tunceli 1948 wurde die Rückkehr der Zwangsumgesiedelten wieder ermöglicht.103 Schätzungsweise siebzig bis neunzig Prozent der Deportierten nutzten die Möglichkeit, an den oberen Euphrat zurückzukehren, obwohl sie dadurch die ihnen in der Westtürkei zugewiesenen Ländereien und Tiere ersatzlos verloren.104 Die Rückkehrer fanden die Gegend verödet vor, rangen mit der wirtschaftlichen Isolation und dem tiefgreifenden sozialen Wandel. Die überlebenden Armenier konnten ihren seit dem Genozid 1915 beschlagnahmten Besitz nicht zurückgewinnen. Ab 1974 formierte sich die kurdische Unabhängigkeitsbewegung PKK, (kurd. Partiya Karkerên Kurdistan), die „Partei der Arbeiter Kurdistans“ um Abdullah Öcalan, die vorbereitende Sitzungen in Tunceli abhielt, bevor sie 1984 offen ihre Kampfhandlungen gegen den türkischen Staat aufnahm.105 Als die PKK ab Ende der 1980er Jahre begann, Kampfeinheiten nach Tunceli zu verlegen, wurde die Region zunehmend zu einem Kriegsschauplatz zwischen dem türkischen Militär und der PKK. Zudem entwickelte sich ein angespanntes Verhältnis zwischen der TİKKO (türk. Türkiye İşci ve Köylü Kurtuluş Ordusu), der „Befreiungsarmee der Arbeiter und Bauern der Türkei“, einer bereits in der Region etablierten bewaffneten Oppositionsgruppe, und der PKK in der Auseinandersetzung um die Unterstützung der lokalen Bevölkerung, wovon auch die Zivilbevölkerung zunehmend betroffen wurde. Seit Beginn des Jahres 1991 wandte das türkische Militär in Tunceli Aufstandsbekämpfungsstrategien an, die in den Herbstmonaten des Jahres 1994 in gewalttätige Räumungsaktionen mündeten, in deren Verlauf vierunddreißig Prozent der Dörfer vom türkischen Militär zwangsgeräumt und die umliegenden Waldstücke niedergebrannt wurden.106 Nach anfänglicher Leugnung und Schuldzuweisung an die PKK gab das türkische Militär schließlich zu, im Herbst 1994 Dörfer in Tunceli zerstört zu haben.107 Als Legitimation wurde angeführt, dadurch die Bewegungen terroristischer Truppen verhindert und die Kollaborationen der Bauern mit den Widerstandskämpfern unterbunden zu haben.108 Nach den Operationen wurde ein dauerhaftes Kontrollwachsystem aufgebaut

Opfergruppe auszugehen, ist jedoch angesichts der heterogenen Bevölkerung Dersims für eine Analyse der Strukturen und Prozesse der kollektiven Gewalt in Dersim 1938 unzulänglich. 103 Bilmez (2011, 36); Fırat (1997, 118); Kieser (2000, 410). 104 Aslan (2010a). 105 Jongerden (2012a, § 22); Jongerden (2012b, § 16). 106 In den Landkreisen Nazımiye, Pülümür, vor allem aber der überwiegende Teil der Dörfer in den Landkreisen Hozat und Ovacık, siehe: Öktem (2008). Zu den Zwangsräumungen und Zerstörungen der Dörfer: Çelik (2008); Jongerden (1995). 107 Jongerden (1995, 63). 108 Etten (2008, 5–11).

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und erneut militärisches Ausnahmerecht über die Provinz verhängt.109 In Tunceli blieb dieses juristisch bis 2002 in Kraft, seine faktische Aufhebung steht bis heute aus.110 Aus diesem kurzen Überblick über die oft nur fragmentarisch dokumentierte Geschichte von Dersim wird deutlich, wie schwierig die Rekonstruktion der jüngeren Vergangenheit auf der Grundlage von Quellen fällt, die durch den Leugnungsdiskurs geprägt sind. Dennoch lassen sich eine Reihe von Narrativen über die Vergangenheit der Region identifizieren, die bis heute dem in der breiten Bevölkerung in der Türkei akzeptierten Wissen über die historischen Ereignisse entsprechen. Das Fremdbild konstruiert Dersim als einen unzugänglichen Ort im Inneren der türkischen Nation, an dem Menschen leben, denen eine Distanz und Reserviertheit gegenüber dem Machtzentrum inhärent sei, die sich von Zeit zu Zeit als politische und religiöse Illoyalität äußere. Diesem Fremdbild gegenüber können sich gegenwärtige Rekonstruktionen von Vergangenheiten der Bevölkerung aus Dersim angesichts der Reichweite des Leugnungsdiskurses kaum mehr auf Eigenbilder berufen, die in der oralen Tradition als bedeutungstragend und handlungsleitend gelten. Vielmehr müssen sie sich auf das gesellschaftlich akzeptierte Wissen des nationalen Geschichtsnarrativs und des Leugnungsdiskurses beziehen, um ihren Stimmen Gültigkeit zu verleihen.

109 Balta (2004). 110 Le Ray (2009, § 1).

6 Der hegemoniale Leugnungsdiskurs zu moderner Gewalt in Dersim Die öffentlichen Diskurse über die Region und Bevölkerung von Dersim konstituieren und tragen maßgeblich den hegemonialen Leugnungsdiskurs. Sie bestimmen die Bedingungen der Rede für die Erinnerungserzählungen der hier betrachteten Bevölkerungsgruppen aus Dersim. Im Folgenden werden die wichtigsten Diskurse chronologisch untersucht. Zuerst rekonstruiert die Studie den kemalistischen Diskurs über Dersim und berücksichtigt dabei besonders, wie dieser regionales Wissen aus Dersim bewertet. Anschließend widmet sich die Untersuchung den Diskursen der links-militanten Bewegungen der TİKKO und der PKK, die sie danach befragt, welche Rolle sie der Gewaltgeschichte in Dersim für die Legitimation ihrer eigenen Gewaltanwendung zuschreiben. Daran anschließend wendet die Studie ihr Augenmerk auf den Diskurs des politischen Islam, wie er von Fethullah Gülen und der Cemaat-Bewegung vertreten wird, den sie in Hinsicht auf Grenzziehungen zu Aleviten und Armeniern in Dersim analysiert. Abschließend wirft die Untersuchung einen Blick auf den Diskurs über Dersim-Armenier, wie er sich in den letzten Jahren institutionalisiert hat. Die Analyse der hegemonialen Diskurse soll anschließend die Folie bilden, vor der die autobiographischen Erinnerungserzählungen aus Dersim daraufhin beleuchtet werden, inwieweit sie an den hegemonialen Leugnungsdiskurs anschließen und inwiefern sie davon abweichend narrative Behauptungselemente erkennen lassen.

6.1 Kemalistische Wissensproduktion über Dersim Wie bereits im Forschungsstand skizziert wurde, untersuchen aktuelle Studien die Genealogie und Transformation der Wissensproduktion über Gruppen, die in spätosmanischer bis kemalistischer Zeit als heterodox betrachtet wurden, insbesondere die Kızılbaş-Aleviten und Nusayrier-Alawiten. Diese Studien verdeutlichen, dass die jungtürkische Wissensproduktion zu den Aleviten auf den US-amerikanischen Missionarsdiskurs antwortete und an westliche Forschungen zu heterodoxen Bevölkerungsgruppen im Osmanischen Reich anschloss. Mit Neologismen versuchte zuerst die jungtürkische und anschließend die kemalistische staatliche Wissensproduktion bisher marginalisierte Bevölkerungsgruppen für das Projekt der nationalen türkischen Gemeinschaft zu rehabilitieren. Wie Markus Dreßler zeigte, schrieben sie den Kızılbaş mit dem neuen, normativen Begriff „Aleviten“ gleichzeitig eine unaufhebbare Differenz zum türhttps://doi.org/10.1515/9783110630213-006

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kischen sunnitischen Islam ein. Dadurch verstetigten sie den vulnerablen Status dieser Bevölkerungsgruppe, insbesondere des Drittels, die Kurmanci- und Zazakisprachig sind.1 Im Anschluss an den jungtürkischen Diskurs stellte der kemalistische Diskurs über die Neologismen „Berg-Türken“ und „Zaza“ in Hinblick auf Dersim deren Inklusion in die türkische Nation in Aussicht. Jedoch äußerte sich in der Ambivalenz dieser Begriffe die Schwierigkeit für die türkischen Staatsfunktionäre, die Frage nach den Bedingungen und Grenzen dieser Inklusion eindeutig zu beantworten. Die Vernichtung der armenischen Bevölkerung im Genozid 1915 auf Beschluss der jungtürkischen Regierung und die daran anschließend von der kemalistischen Regierung geplante Vernichtung der Bevölkerung von Dersim 1937 bis 1938 zeugen von der Entscheidung, diese Teile der Bevölkerung endgültig auszuschließen. Im Folgenden nimmt die Studie daher die Entstehung und Entwicklung des staatlich-institutionalisierten hegemonialen Diskurses über die Bevölkerung von Dersim in der Konsolidierungsphase des türkischen Nationalstaats in den Blick.2 Für diese Untersuchung werden Texte der kemalistischen Staatsfunktionäre Hasan Reşit Tankut, Naşit Hakkı Uluğ und Nazmi Sevgen herangezogen, die sie in der frühen türkischen Republik zwischen 1932 und 1945 über Dersim, das spätere Tunceli, verfassten.3 In der Analyse sind die Fragen leitend, welche Differenzkategorien diese Texte über die Region Dersim und deren Bevölkerung entwerfen und inwieweit sie Bedingungen für ihre Inklusion in das moderne türkische Nationalstaatsprojekt aufstellen. Um den Aushandlungsprozess zwischen Vereinnahmung und Ausgrenzung nachzeichnen zu können, legt die Untersuchung den Fokus auf die Konstruktion linguistischer, ethnischer und religiöser Differenzen in Hinblick auf die Bevölkerung von Dersim. Die Analyse stellt sprachliche Ausgrenzungsstrategien und Legitimierungsmuster für Gewalt heraus und zeichnet nach, inwieweit die einzelnen Diskursstränge in den Texten einen spezifisch exklusiven Diskurs über Dersim bilden. Zunächst seien einige Beobachtungen über den Entstehungskontext und Aufbau dieser Texte vorangestellt. Die hier untersuchten Texte aus kemalistischer Zeit verschreiben sich dem Projekt der türkischen Nationalstaatsbildung und entwerfen eine kollektive nationale Identität durch die Abgrenzung gegenüber der Bevölkerung und Region Dersims. Die rational argumentierenden Abhandlungen lassen sich den modernen Wissenschaftsdisziplinen der Geographie, Geschichte, Religionswissenschaft, Ethnographie, Soziologie und Linguistik zu-

1 Dreßler (2013a, 277–8). 2 Eine Studie des Pressediskurses über Dersim unmittelbar während der staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim von 1937 bis 1938 liegt von Taha Baran vor, Baran (2014). 3 Tankut (2000), Uluğ (2001); Uluğ (2007); Sevgen (2003).

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ordnen. Türkische Staats- oder Pressefunktionäre verfassten die Texte, die staatliche Institutionen herausgaben, wie die „Türkische Sprachgesellschaft“ (türk.: Türk Dil Kurumu) und die „Türkische Geschichtsgesellschaft“ (türk.: Türk Tarih Kurumu). Anschließend verbreiteten sie staatsnahe Organisationen, wie der „Klub der Türkischen Herd-Organisationen“ (türk.: Türk Ocakları) und die „Türkischen Vereine“ (türk.: Türk Dernekleri).4 Die ersten Studien über Bevölkerungsgruppen in Anatolien verfassten Mitglieder der Generaldirektion als interne Berichte. Die hier behandelten Schriften kemalistischer Autoren erheben den Anspruch, geographische, historische, kulturelle und religiöse Informationen über die Region Dersim und ihre Bevölkerung zu vermitteln, deren Ziel es ist, ein neues Wissen unter der breiten Bevölkerung der Türkei zu etablieren. In einer „geistigen Kontinuität“ vom spätosmanischen zum frühen kemalistischen Diskurs lesen sie sich wie Einführungen in eine bisher unbekannte, nunmehr gewaltvoll für die Nation zunächst noch zu erschließende, später bereits erschlossene Region mit ihren Ressourcen und bedienen dabei typische Argumentationsmuster des Kolonialdiskurses und der mission civilisatrice.5

6.1.1 Hasan Reşit Tankut über die Zaza: „Zwischen Himmel und Hölle“ Als Mitbegründer des „Türkischen Sprachinstituts“ und als einer der Hauptvertreter der türkischen „Sonnensprachtheorie“ ist Hasan Reşit Tankut (1893–1980) als überzeugter Anhänger und Verfechter des kemalistischen Türkisierungsprojekts bekannt.6 Neben seinen zahlreichen Veröffentlichungen zur Sonnensprachtheorie und zur türkischen Geschichtsthese erschienen auch zwei Studien, in denen er anatolische Glaubensgemeinschaften untersuchte. Zunächst widmete er sich 1932 den alevitischen Zaza in Dersim und danach auf Veranlassung Atatürks 1938 den Nusayriern in Hatay. Mit diesen beiden Studien trug Tankut zu den zwei bestimmenden machtpolitischen Auseinandersetzungen vor Mustafa Kemal Atatürks Tod 1938 bei, denn in den Regionen Hatay und

4 Üstel (1997). 5 Für eine Darstellung der „geistigen Kontinuität“ gegenüber der „Dersim-Frage“ von hamidischer bis in die frühe kemalistische Zeit, siehe: Akpınar (2010, 311–20). Zur Diskussion um die Anwendbarkeit des Konzepts der internal colonization auf das spätosmanische Reich und die junge kemalistische Republik Türkei, siehe: Makdisi (2002, 768–96); Zeydanlıoğlu (2008, 155–74). 6 Das „Türkische Sprachinstitut“ (türk.: Türk Dil Kurumu) wurde 1932 gegründet, in dem Tankut die „Sonnensprachtheorie“ (türk.: Güneş Dil Teorisi) seit 1936 in folgenden Texten formulierte: Tankut (1936a; 1936b); Tankut (1937a); Tankut (1937b); Günaltay (1938). Zur Sonnensprachtheorie, siehe: Laut (2000); Bayrak (1994, 197–204).

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Dersim trug die kemalistische Regierung die Auseinandersetzung um die Frage der Zugehörigkeit zum türkischen Nationalstaat militärisch aus. Ein kurzer Blick auf die Biographie Tankuts deutet darauf hin, dass er im Lauf seines Lebens beiden Gruppen begegnete. Hasan Reşit Tankut wurde 1893 in der südostanatolischen Provinzstadt Maraş in Elbistan geboren. Bei seiner Geburt waren die Hälfte der Bewohner der Stadt armenisch, während heute die überwiegende Zahl der Bewohner kurdisch ist.7 Als Tankuts Vater früh verstarb, lebte er einige Jahre als Waise bei Seydo Ağa, der als kurdischer Alevite beschrieben wird.8 Zunächst studierte er in Damaskus Rechts- und Politikwissenschaften. Nachdem er als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg und anschließend im „Türkischen Befreiungskrieg“ gekämpft hatte, wurde er auf Veranlassung von Mustafa Kemal Atatürk ab 1925 zum „Ratgeber für die Ordnung in den Ostprovinzen“ (türk.: Şark İlleri Asayiş Müşaviri) und ab 1926 zum „Generalinspektor der Türkischen Herdorganisationen“ (türk.: Türk Ocakları Koordinatörü) ernannt. Zudem war er 1926 an der Gründung des „Türkischen Nationalen Sicherheitsdiensts“ (türk.: Millî Emniyet Hizmeti Riyaseti) beteiligt. Darüber hinaus war er Abgeordneter des türkischen Parlaments in den Provinzen von Muş (ab 1931), Maraş (1935–1950), Hatay (1950–1954) und Mardin (1957–1960). Wiederum von Atatürk vermittelt, folgte Hasan Reşit Tankut einem Ruf an die Universität Ankara, an der er von 1936 bis 1940 am Geschichtsinstitut lehrte. Er beherrschte neben Osmanisch, auch Arabisch, Bulgarisch, Deutsch, Englisch und Französisch.9 Im Anschluss an die jungtürkische Politik der Vernichtung armenischer Bibliotheken verfolgte auch die kemalistische Sprachpolitik das Ziel der Türkisierung durch Verbot, Konfiszierung und Vernichtung nicht-türkischer Texte, wofür sich Hasan Reşit Tankut gleichfalls eifrig engagierte.10 Von 1928 bis 1960 leitete er ethno-politische Forschungsprojekte, deren Ergebnisse allerdings unveröffentlicht blieben.11 Insbesondere als „Ratgeber für die Ordnung in den Ostprovinzen“ und als „Generalinspektor der Türkischen Herdorganisationen“ waren ihm die Provin-

7 Zur armenischen Bevölkerung der Stadt Maraş vor dem Genozid an den Armeniern, siehe: Kévorkian (2012, 312); zu den Massakern an den armenischen Überlebenden in Maraş 1920, siehe: Hovannisian (2008b); Kerr (1973). Vom 19. bis 26. Dezember 1978 verübten türkische Nationalisten ein Pogrom an der alevitischen Bevölkerung in Maraş, siehe: Sökefeld (2008a, 51). 8 Bayrak (2010, 216). 9 Bayrak (2010, 216–8). 10 Üngör (2011, 226). 11 Für diese geheimen Berichte und weitere persönliche Archivbestände von Tankut, siehe: Bayrak (1994).

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zen Diyarbakır, Urfa, Mardin, Hakkâri, Van, Bitlis, Siirt, Elazığ und Malatya frei zugänglich.12 1928 führte ihn eine ethnographische Forschungsreise in die Provinz Dersim in den Bezirk Ovacık zum Stamm der Koçuşağı.13 Sie bildete die empirische Grundlage für seine 1932 verfasste Schrift „Soziologische Studien über die Zaza“.14 Nicht nur in ihrem Titel stellt diese Studie eine Reminiszenz an die „Soziologischen Studien über die Kurden“ von Ziya Gökalp dar, dessen unveröffentlichte Version Hasan Reşit Tankut vorgelegen hat, wie er zu seinen daraus entnommenen Zitaten anmerkt.15 Aus seinem Briefverkehr mit dem Ministerpräsidenten İsmet İnönü und General Abdullah Alpdoğan geht hervor, dass die Ergebnisse seiner Untersuchung über die Zaza in kemalistischen Regierungskreisen auf reges Interesse stießen.16 Er legte seine Studie im Oktober 1935 in einer Zeit vor, in der, wie er es formulierte, „(…) der Staatspräsident sich in den letzten Tagen näher für die Zaza und die Bewohner Dersims interessierte (…)”.17 In dieser ersten veröffentlichten Einzelstudie zu den Zaza beschreibt Hasan Reşit Tankut einleitend die geographische Beschaffenheit des Lebensgebiets dieser Bevölkerungsgruppe. Die Berglandschaft, in der der westliche Zufluss des Euphrats entspringt, vergleicht er im ersten Abschnitt mit dem Paradies, wofür er ein Zitat aus der Thora anführt, wonach der Fluss Euphrat im Paradies entspringt. Anschließend folgt seine Schilderung dem Flusslauf in eine Hochgebirgsgegend, die er als „wild und unfruchtbar“ (türk.: vahşi ve kısır) sowie „unheilbar und hässlich“ (türk.: dermansız ve çirkindir) beschreibt. Die Gegend werde von den beiden Zuflüssen des Euphrats flankiert, die in diesem Abschnitt „schwarz und furchterregend“ (türk.: kara ve korkunç) verlaufen und deren Ströme „wie ein verzogenes Kind spielend, das auf und ab hüpft“ (türk.: şımarık bir çocuk oynatır gibi sektire sektire) fließen würden. In dem südlich gelegenen Ort Keban würden sich die beiden Flüsse schließlich vereinen und in die Ebene strömen, die sie mit ihrem Wasser fruchtbar machen würden.18

12 Bayrak (2010, 217). 13 Im unmittelbaren Vorfeld führte das Militär 1926 eine Operation gegen den Stamm der Koçuşağı im Zusammenhang mit dem Scheich-Said-Aufstand aus, siehe: Baran (2014, 24). 14 Tankut (2000). 15 Tankut (2000, 14). 16 Abdullah Alpdoğan wurde kurz darauf am 25. Dezember 1935 Militärgouverneur der Provinz Tunceli. 17 Tankut (2000, 103), zitiert aus einem Brief vom 10. Oktober 1935 von Hasan Reşit Tankut an İsmet İnönü. 18 Tankut (2000, 10).

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Einen Ort, der mit diesen bizarren Unebenheiten, die dem Entwurf der Natur schräg entgegenstehen, der voller Widersprüche ist und dessen Poesie und Schönheit einer hässlichen Wildnis ausgesetzt ist, vergleichbar wäre, gibt es wirklich nicht. Und genau zwischen Himmel und Hölle, wo diese einander berühren, leben die Menschen, die als Zaza bezeichnet werden.19

Hasan Reşit Tankut vergleicht die Berge und Schluchten von Dersim, durch die der Fluss weiter verläuft, mit der Hölle, um den denkbar stärksten Kontrast zu der zuvor als Paradies beschriebenen Landschaft herzustellen. Insbesondere die Verwendung des Begriffs „unheilbar“ für dieses geographische Gebiet zeugt von der Absicht, die Gegend als zwar naturgegeben, aber dennoch den Gesetzen der Natur zuwiderlaufend darzustellen und sie somit zu pathologisieren. In der Metapher für den Fluss als verzogenes, unartiges Kind suggeriert er eine kausale Beziehung zwischen der wilden Natur und dem Charakter ihrer Bewohner. Nachdem er das Lebensgebiet der Zaza als einen Zwischenort codiert, an dem sie an der Grenze zwischen Himmel und Hölle und somit zwischen Gut und Böse leben, erweitert Tankut diese kausale Beziehung zusätzlich um die Zuschreibung eines unberechenbaren, unzuverlässigen Charakters. Darüber hinaus spielt er durch die Verortung der Zaza zwischen Gut und Böse auf die Rechtsprechung vor dem Jüngsten Gericht an. Hasan Reşit Tankut leitet den Glauben der Zaza aus der sumerischen Religion ab, wofür er sich auf die 1929 erschienene Studie „Das Trankopfer im Kulte der Völker: die Rauschsehnsucht der Menschheit in der Völkerpsychologie“ des nationalsozialistischen Wissenschaftlers Engelbert Huber beruft.20 In Anlehnung an Engelbert Huber stellt er die These auf, dass auch im Glauben der Zaza das zentrale Prinzip Homay/ Homa hieße, das sowohl als Gott verehrt als auch als heiliges Getränk in der gleichnamigen Zeremonie getrunken werde.21 Den Ursprung des heiligen Getränks Homay führt er auf das Opfergetränk Homa zurück, das im Avesta erwähnt wird und Unsterblichkeit verleihe, die Erkenntnis zwischen guten und schlechten Gedanken, Worten und Taten bewirke und die guten befördere. In Analogie assoziiert er den Berg und die Quelle, aus dem der Fluss Munzur entspringt, mit dem Gott und dem heiligen Getränk Homa.

19 „Şiirin, güzelliğin çirkin bir yabanlıkla örselendiği bu garip tabiat karalaması çaprazlama arızaları, üst üste terslikleriyle hakikaten eşi az görülür bir yer parçasıdır. Ve işte yekdiğerine bitişen bu Cennet ve Cehennem içlerinde Zaza olarak adlanan insanlar yaşar.“, in: Tankut (2000, 10–1). 20 Tankut (2000, 31); Huber (1929). 21 Tankut (2000, 31).

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Von den heiligen Stätten der Derwische, die sich im Namen von Homa aus der Welt zurückzogen, ist die höchste die Munzurquelle, aus der für einige Monate im Jahr reine Milch strömt. Und während der Munzur Milch sprudelt, verleiht er, wie es das heilige Buch Zend-Avesta sagt, den Menschen Unsterblichkeit, von dem Tag an, an dem sie aufstehen. Und die Gedanken derer, die von diesem Milch-Wasser des Munzurs trinken, werden geheilt. Das Wort gewinnt Bedeutung und die Arbeit gelingt.22

Zwar erkennt Tankut den Pilgerort der Munzurquelle als heiligen Ort an und würdigt das Trankopfer als Libation, die er aus der sumerischen Tradition herleitet und somit in ein akzeptiertes Deutungsmuster einordnet. Allerdings gilt seine Wertschätzung nicht den Ritualleitern, den „Derwischen, die sich aus der Welt zurückzogen“, wie aus seiner weiteren Beschreibung des Rituals deutlich wird. Der Seyit; (in Anatolien nennen sie ihn Dede und in Albanien Baba) eröffnet die cemZeremonie mit einer Fürbitte und schüttet, um die Seelen der Götter zu täuschen, ein Glas Rakı in das lodernde Herdfeuer.23

In seiner Darstellung der Praxis, wie sie die alevitischen Geistlichen in seiner Vorstellung leiteten, stellt Hasan Reşit Tankut das Trankopfer als Alkoholrausch dar. Zudem kritisiert er die alevitischen Dedes, die ihre Machtposition und den Rausch dazu missbrauchen würden, ihre sexuelle Begierde zu befriedigen. Diese typischen Vorurteile gegen die Kızılbaş lässt Hasan Reşit Tankut hier als offene Fragen hinsichtlich der Zaza stehen und rückt sie somit in den Bereich des Erwägbaren und Annehmbaren.24 Nach dem Modell säkular konzipierter Wissenschaften nimmt Hasan Reşit Tankut eine analytische Trennung zwischen religiösem und weltlichem Recht vor, wodurch er das religiös autorisierte Ordnungssystem in Dersim für obsolet erklärt. Somit wird eine Reduktion des umfassenden gesellschaftlichen Verantwortungsbereichs der religiösen Autoritäten durch deren politische Entmachtung diskursiv vorweggenommen.25 Die Gerichtsversammlungen in Dersim, die traditionell von den Dedes geleitet wurden, problematisiert er wie folgt: 22 „Homa namına dünyadan el çeken dervişlerin dergâhı senenin birkaç ayı sade süt fışkıran Munzur kaynağının başındadır. Ve Munzur süt fışkırırken Zend-Avesta’nın mukaddes kitabında dendiği gibi insanlara ayağa kalktıkları günden başlayarak ölmezlik verir. Ve Munzur’un o sütten suyunu içinlerde düşünce iyileşir. Söz manâ kazanır ve iş yoluna girer.“, in: Tankut (2000, 33). 23 „Seyit; (– Anadolu’da buna Dede ve Arnavutluk’ta Baba derler.) bir niyaz ile cem âyinini açar, tanrıların ervahını kandırmak için ocağın gür ateşine bir kadeh rakı atılır.“, in: Tankut (2000, 98). 24 Tankut (2000, 100). 25 Durch die Säkularisierung des türkischen Rechtssystems verloren religiöse Autoritäten ihre rechtlichen Funktionen, siehe Bayır (2013a, 38−41).

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Die Gemeinde bildet eine Jury, die von Seiten der Geistlichen von Zeit zu Zeit einberufen wird. Allerdings bleibt es nicht darauf beschränkt, dass dieses Gremium abstimmt, sondern es trifft Beschlüsse und Urteile. Manchmal geht es sogar soweit, dass es auch den Urteilsspruch vollstreckt. Den Vorsitz des Gremiums hat immer der Seyit inne. (…) Was auch immer sei, liegt der Urteilsspruch immer bei den Seyits. Denn die Seyits und schlechthin die Geistlichen werden höher angesehen als die Ağas.26

Hasan Reşit Tankuts Kritik an den Seyits richtet sich gegen deren hegemoniale Stellung in der Gesellschaft Dersims, die dazu führe, dass sie auf der Welt Allah keine Rechenschaft schuldig seien, sondern ungestraft nach eigenem Gutdünken handeln könnten. Die Rolle der Gemeindemitglieder kritisiert er aufgrund ihrer rituellen Initiation in das Geheimwissen der Dedes und ihrer Verpflichtung zu dessen Geheimhaltung. Er erachtet also die religiös legitimierte Gerichtsbarkeit und Gerechtigkeitsvorstellung der Aleviten als problematisch angesichts des Machtanspruchs der Regierung. Für die Religion der Aleviten Dersims macht er die Folgen der Zwangskonversion verantwortlich. Infolge der Islamisierung Anatoliens hätten von denen, die sich nicht widersetzten, einige den Islam als „Schild“ verwandt, unter dem sie weiter ihrem vorislamischen Glauben anhängen hätten können.27 Die daraus entstandenen Gruppen, die alevitischen Zaza, die Drusen, die Nusayrier und die Kızılbaş, seien generell untereinander verfeindet und würden sich nur angesichts ihres gemeinsamen Feindes, dem Islam, vereinen. Anschließend kehrt er dieses unterstellte Feindbild um und richtet es gegen die Armenier. Die vereinende Seite, die diese voneinander verschiedenen, einander verfeindeten Gruppen augenblicklich zusammenführt, ist der Islam. Dem Umstand, dass ein Muslim neben ihnen, ebenso wie sie, Türke ist, wird kein Gewicht beigemessen. Denn sei er, was auch immer er sei, ist es doch so, dass der Muslim nicht einer der ihren ist. Und es ist sowohl ein Gebot des Glaubens, als auch ein Erfordernis der Interessenslage, gegen den Islam Front zu beziehen. Wenn sich so eine Situation abzeichnet, können sich die Aleviten aus Dersim mit den Kızılbaş aus Koman, den Nusayriern aus Adana und den Tahtacı an der Ägäis mit den Hopyar in Hafik sofort zusammenschließen. Denn der Feind ist derselbe und es ist der Islam. Die wichtige Rolle und der Einfluss, den die zwangsislamisierten Armenier in dieser Angelegenheit gespielt haben, dürfen nicht vergessen werden. Diesen ist es gelungen, unter den Kızılbaş einen Weg zu öffnen, der auf Hass und Krankheit gründet. Sich dessen bewusst zu werden, ist für diejenigen, die den Unterschied erkennen können, nicht schwer.28 26 „Cemaat Ruhaniler tarafından seçilerek arasıra toplanmağa çağrılan bir jüri heyetidir. Fakat bu heyet yalnız fiil hakkında rey vermekle kalmaz, aynı zamanda hüküm verir ve mahkûm eder. Bazen daha çok ileriye vararak hükmü infaz eder. Cemaata daima seyit riyaset eder. (…) Ne de olsa hüküm ve nüfuz daima Seyitlerindir. Çünkü seyitler ve alelıtlak ruhaniler ağalardan yüksek sayılır.“, in: Tankut (2000, 90–1). 27 Tankut (2000, 38). 28 „İşte bu birbirinden ayrı birbirine düşman zümrelerin birden yaklaştığı ve kaynaştığı cephe Müslümanlık cephesidir. Karşılarındaki Müslümanın kendileri gibi Türk olması ehemmiyete

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Das Fortführen vorislamischer religiöser Traditionen nach der Islamisierung Anatoliens erkennt er bei den alevitischen Zaza als Zeichen ihres Widerstandsgeist an, der grundlegend für die türkische Nation sei. Hingegen verurteilt er die oppositionellen Bewegungen der Armenier, die sich mit den Kızılbaş zusammenschließen würden, wobei er deren Verhalten ebenfalls aus ihrer Zwangskonversion zum Islam erklärt. Damit stellt er die Armenier als „eigentliche Feinde“ der türkischen Einheit dar, wie er in Hinsicht auf die „armenische Propaganda“ ausführt, die er unter den alevitischen Zaza in der Region Dersim beobachtet. Zaza und Armeniertum Um das Türkentum zu zersetzen, besteht eine der feindlichen Maßnahmen darin, die Zaza vom Türkentum zu trennen und die Zaza der Rasse nach als Armenier darzustellen. Die Feinde der Türken betreiben das schon seit langem. Mit hinterhältiger Propaganda setzen sie jedem Zaza ins Ohr ‚Du bist kein Türke‘. Wenn immer diese hartnäckigen Propagandisten ‚Du bist kein Türke, du bist Armenier‘ sagen, verleihen sie ihren Worten noch zusätzliches Gewicht, indem sie ihren religiösen Fanatismus noch hinzufügen.29

Die nationalistisch motivierte Vereinnahmung der Zaza, die er im Fall der türkischen Nationalisten als legitim erachtet, schildert er für die armenischen Nationalisten hingegen als rassistische Propaganda. Zur Illustration der Aussagen, die er als Propaganda bezeichnet, zitiert Hasan Reşit Tankut aus der in Paris 1913 veröffentlichten Studie von Marcel Léart „La question arménienne à la lumière des documents“.30 Das darin vorgestellte Wissen über die alevitischen Zaza in Dersim bezieht sich auf deren kryptoreligiöse Praktiken, in denen sie Elemente ihres vorherigen Glaubens weiterführen würden. Hasan Reşit Tankut

alınmaz. O ne olursa olsun, değil mi ki Müslümandır, kendilerinden değildir. Ve Müslümanlık karşısında cephe tutmaları hem dinlerinin emri hem menfaatlarının icabıdır. Böyle bir hal belirince Dersimli Alevî ile Komanlı Kızılbaş, Adanalı Nuseyri, Ege mıntıkasındaki Tahtacı, Hafik’teki Hopyarlı derhal birleşebilir. Çünkü düşman birdir ve Müslümanlıktır. Zorla Müslüman edilmiş Ermeniler’in bu işte mühim rolü ve tesiri olduğunu unutmamak lazımdır. Onlar bu Kızılbaşlar’ın içinde kin ve fesada dayanır bir yol açmağa muvaffak olmuşlardır. Ayırt edebilenler için bunun farkına varmak güç olmaz.“, in: Tankut (2000, 38–9). 29 „Zazalar ve Ermenilik Türklüğü parçalamak için alınan düşmanca tedbirler arasında bir mühimi de şudur: Zazalar’ı Türklük’ten ayırmak Zaza’nın ırkça Ermeni olduğunu ileri sürmek? Türk düşmanları bunu eskiden beri yaparlar. Sinsi bir propaganda her Zaza’nın kulağına mütemadiyen ‚sen Türk değilsin‘ demektedir. Bu inatçı propagandacılar ‚sen Türk değilsin, Ermenisin‘ dedikleri zaman dince olan taassubunu hesaba kattıkları için sözlerine şunu da ehemmiyetle eklerler.”, in: Tankut (2000, 75–6). 30 Es ist unklar, ob Hasan Reşit Tankut bewusst gewesen ist, dass der Autor der armenische Jurist, Politiker und Schriftsteller Grigor Zohrap (1861–1915) war, der unter dem Pseudonym Marcel Léart veröffentlichte, Léart (1913).

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erklärt dieses Wissen für ungültig und stellt dessen Authentizität und Verlässlichkeit in Frage, weil es sich auf armenische Zeitzeugen berufe. Marcel Léart hat nicht nur keine Zaza, sondern vielleicht sogar die Türkei nie gesehen. Allerdings haben ihm die Armenier sicherlich eine Reihe spöttischer Märchen wie dieses erzählt.31

Bemerkenswert ist, dass Hasan Reşit Tankut in Marcel Léart einen als westlich vorgestellten Wissenschaftler diskreditiert, während er sonst Referenzen von westlichen Wissenschaftlern zur Legitimierung seiner eigenen Argumentation heranzieht. Als Grund dafür führt er das von Marcel Léart vertretene Wissen an, das er als ein von armenischer, mündlicher Überlieferung informiertes westlichorientalistisches Wissen präsentiert und damit zugleich das Wissen von osmanischen Armeniern exterritorialisiert und entfremdet. Zwar entwickelte sich die türkisch nationalistische Theorie zu den Aleviten in Anatolien in Reaktion auf die westlich-orientalistische Wissensproduktion über kryptoreligiöse Gruppen, jedoch stand sie dieser diametral entgegen. Um das orientalistisch-westliche Wissen über kryptoreligiöse Gruppen demonstrativ zu kritisieren, dementiert Tankut ausführlich dessen einzelne Argumente. Zu diesem Zweck beruft er sich nicht nur auf den schriftlichen Diskurs, sondern führt auch mündliche Aussagen der lokalen Bevölkerung an. Von dieser Einheit der Armenier und Aleviten erzählte mir eifrig fiebernd einer von den Dedes aus Koçkiri, die von ihrem Glauben und Gebräuchen her mit Dersim verbunden sind. Um auch mich zu täuschen und es mir glaubhaft zu machen, fügte er hinzu: – Wir sind mit den Armeniern in Blut und Abstammung eins, zwischen uns ist der Glaubensunterschied so dünn wie eine Zwiebelhaut. Allah Ali hat uns zur wahren Religion bekehrt und deshalb haben wir uns vom Armeniertum getrennt.32

Um eine authentische Beweisführung aus der schriftlosen Kultur Dersims zu schaffen, erteilt Tankut das Wort einem ihrer Träger. Durch diese Strategie vertritt hier ein alevitischer Dede aus Koçkiri die These einer engen Verbindung zwischen Armeniern und Aleviten, die aus dem Missionarsdiskurs bekannt war.

31 „Marcel Léart, Zazaları değil hatta belki Türkiye’yi bile görmüş değildir. Fakat Ermeniler’in ona, buna benzer bir alay masal okuduğu muhakkaktır.“, in: Tankut (2000, 76). 32 „Din ve adetçe Dersim’e bağlı olan Koçkiri dedelerinden biri bu Ermeni ve Alevî birliğine beni de kandırmak ve inandırmak maksadiyle hareretli hararetli anlatmış ve ilave etmişti: – Ermeniler’le kan ve gövde biriz, aramızda din farkı soğan zarı kadar incedir. Aliyullah bizi hak dine çevirmiş de onun için Ermenilik’ten ayrılmışız.“, in: Tankut (2000, 78). Die Metapher der Zwiebelhaut benutzen bereits US-amerikanische Missionare in osmanischer Zeit, siehe Dreßler (2013a, 48).

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6 Der hegemoniale Leugnungsdiskurs zu moderner Gewalt in Dersim

Dadurch stellt Tankut die alevitische Bevölkerung von Dersim-Koçkiri als authentischen Träger dieses Wissens heraus. Die religiöse Verbindung finde ihren politischen Ausdruck im gemeinsamen Widerstand, wie Hasan Reşit Tankut im Folgenden ausführt: In Dersim lieben die Aleviten die Armenier sehr. Die Armenier, die das Vaterland verraten und sich geschlossen gegen die türkischen Gesetze aufgelehnt haben, fanden in Dersim Zuflucht. Diese rebellischen Armenier waren geschützt, bis die russische Armee an die Berge Dersims herangerückt war und danach schlossen sie sich der russischen Armee an und gingen fort. Sogar heute gibt es in Dersim Armenier, die wie Jemand aus Dersim frei und glücklich leben. (…) Unter den Menschen, die am Kopf des Herds Unterhaltungen führen, gelten Christen nicht als Fremde. Vielleicht werden sie deswegen in Ehren gehalten, weil sich die Gregorianer, die eine Art Abspaltung darstellen, eher noch mit dem Alevitentum vereinen können als mit anderen christlichen Sekten.33

Hasan Reşit Tankut verleiht drei Vorstellungen von der Verbindung zwischen Aleviten und Armeniern in Dersim Ausdruck. Erstens erwähnt er die Unterstützung der Aleviten für die flüchtenden und Widerstand leistenden Armenier während des Genozids 1915, weshalb er beide des Verrats bezichtigt. Zweitens betont er das Weiterleben von Armeniern in Dersim auch nach dem Genozid, das er damit erklärt, dass das Gebiet noch nicht komplett beherrscht sei. Und drittens weist er auf eine auch religiös bedingte Nähe zwischen den gregorianischen Armeniern und den Aleviten Dersims hin. Alle drei Diskursstränge, die politische, räumliche und ethnokonfessionelle Differenzkategorien bedienen, führt er zu einer diskursiven Verwerfung zusammen, die sich insbesondere auf die Armenier in Dersim bezieht und dabei gleichzeitig die Aleviten in Dersim diskreditiert. Im Vorwort des Kalan Verlags, der Tankuts Werk im Jahr 2000 veröffentlichte, beteuert der Herausgeber, dass die in diesem Buch veröffentlichten Ansichten, „(…) nicht der Wahrheit entsprechende, schwere Beschuldigungen beinhalten (…)“ und distanziert sich explizit davon.34 Das verdeutlicht, wie wirkmächtig der hier analysierte staatliche Diskurs über Dersim bis in die Gegenwart geblieben ist.

33 „Dersim Aleviler’i Ermeniler’i çok severler. Vatana hiyanet etmiş Türk kanunlarına topluca karşı koymuş asî Ermeniler Dersim’de bir ana kucağı bulmuştu. Bu Ermeniler, Rus ordusu Dersim dağlarına dayandığı zamana kadar esirgediler ve sonra Rus ordusuna katıldılar ve gittiler. Bugün bile Dersim’de bir Dersimli kadar serbest ve mutlu yaşayan Ermeniler vardır. (…) Ocak başlarında muhabbet eden insanların arasındaki Hıristiyan hiç de yabancı sayılmaz. Belki bir çeşit itizal yolu olan Garigoryanlık başka Hıristiyan mezheplerine göre Aleviliği daha ziyade okşayabildiği için üstün tutulmaktadır.“, in: Tankut (2000, 79). 34 Tankut (2000, 8).

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Hasan Reşit Tankut übernahm den Gegenstand seiner soziologischen Studien über die Zaza von Ziya Gökalp, rückte jedoch von dessen positiver Einschätzung der Zaza ab. Ziya Gökalp betonte die Disposition der Zaza zur Assimilation in die türkische Nation. Hingegen schwankt die Bewertung der Zaza bei Hasan Reşit Tankut zwischen der Anerkennung einzelner religiöser Aspekte und der Ablehnung ihrer politischen Haltung. Seine widersprüchliche Einordnung ist Ausdruck seines Bedürfnisses, die alevitischen Zaza über denen vorislamische Tradition positiv zu vereinnahmen, während er ihnen ungebrochen bestehende Vorurteile über die Illoyalität der Kızılbaş vorwirft. Zudem entspricht Tankut dem Leugnungsdiskurs über den Genozid an den Armeniern, indem er die Armenier und ihre Unterstützer in Schuldumkehr als Verräter an der türkischen Nation darstellt.

6.1.2 Naşit Hakkı Uluğ: „Wir sind neu auf die Welt gekommen“ Die Erscheinungsdaten der beiden Monographien von Naşit Hakkı Uluğ, 1932 „Der Feudalherr und Dersim“ und sieben Jahre später, 1939, „Tunceli öffnet sich der Zivilisation“, liegen zeitlich vor und nach den staatlichen Gewaltverbrechen von 1938.35 Der tiefgreifende Wandel verdeutlicht sich nicht nur in dem geänderten Namen der Region in den beiden Titeln. Angesichts dessen werden diese Texte im Folgenden insbesondere auf unterschiedliche Argumentationsmuster vor und nach dem Gewaltereignis hin untersucht. Der Autor, Naşit Hakkı Uluğ (1901/02–1977) zählte zu den linientreuen Journalisten der jungen türkischen Republik.36 Im Jahr 1925 berichtete Naşit Hakkı Uluğ in „Briefen aus dem Osten“ (türk.: Şark Mektupları) für die türkische Tageszeitung Vakit aus den Ostprovinzen über die militärische Niederschlagung des Scheich-Said-Aufstands. In diesem Zusammenhang wurden auch seine Beobachtungen zu Dersim erstmals 1925 veröffentlicht.37 In seinem Vorwort vom 29. Oktober 1931 zur Monographie „Der Feudalherr und Dersim“ stellte Naşit Hakkı Uluğ folgende Bemerkungen über die Umstände der Entstehung des Textes und dessen Intention voran:

35 Uluğ (2001); Uluğ (2007). 36 Nach einem Rechtsstudium erwarb er eine journalistische Ausbildung und arbeitete ab 1919 für die türkische Tageszeitung Vakit. Von 1931 bis 1935 war er zudem Abgeordneter des türkischen Parlaments von Küthahya. Anschließend leitete er von 1939 bis 1950 die türkische Tageszeitung Ulus. 37 Aydemir (1932, 41).

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Wenn diese Notizen, die in der reaktionären Luft, die die Ostprovinzen im Frühling 1925 einhüllte, entstanden, in den türkischen Kindern den Wunsch erwecken sollten, ihr Vaterland genau zu prüfen, wenn sie den kommenden Generationen erklären könnten, auf welche Weise die Republik die hiesigen Gegenden in die Hand genommen hat und sie über den Vergleich zwischen dem Alten und dem Neuen aufklären könnten, dann würden sie die Gefahren unter denen sie gesammelt wurden, dann würde sie die ganzen Mühen vergessen lassen.38

Naşit Hakkı Uluğ ordnet seine Studie als eine Bürgerkriegsreportage in einen Entstehungskontext ein, der von widrigen und gefährlichen Umständen geprägt war, derer er sich aus Verpflichtung gegenüber den zukünftigen Generationen der türkischen Nation jedoch aufopferungsvoll ausgesetzt habe. Mit dieser Widmung legitimiert er eine Gewalt, die keine Anstrengungen und Mühen scheut, um die Vorstellungen einer modernen, zivilisierten Welt gegen das Überkommene durchzusetzen.39 Der Aufbau des Buchs entspricht der Vorstellung von einem ursprünglich authentischen, gegenüber einem gegenwärtig degenerierten und einem zukünftig hoffnungstragenden Zustand. Im letzten Kapitel entwirft Naşit Hakkı Uluğ unter der Überschrift „Was wird aus Dersim?“ (türk.: Dersim ne olacak?), die Region als ein Problem, das unbedingt einer zeitnahen Lösung bedürfe. Bereits in den ersten Sätzen hebt er hervor, dass „das tatsächliche Dersim“ bis heute verschlossen geblieben sei. Sogar ‚Tibet‘, das in den Geographie-Lehrbüchern als ‚Verschlossenes Land‘ bezeichnet wird, haben viele Entdeckungskommissionen und Feldzüge von oben bis unten durchdrungen. Aber bezüglich Dersim ist es außer für Staatsangestellte und Soldatentrupps kein Thema, auch nur eine Untersuchung aus der Vogelperspektive unternehmen zu können.40

Über den internationalen Vergleich mit der Gebirgsregion Tibet suggeriert der Autor eine Invasion in dem noch unerschlossenen Berggebiet Dersim als dringliche Maßnahme. Wobei er vorgibt, dass das Vordringen in Dersim der wissen-

38 „1925 ilkbaharında Şark vilayetlerini saran irtica havası içinde tutulan bu notlar; Türk çocuklarında vatanlarını tetkik etmek hevesini uyandırırsa, Cumhuriyetin buralarını ne halde elinde aldığını gelecek nesillere anlatabilir ve eski ile yeniyi mukayesede onları aydınlatabilirse, tehlikeler ve ateşler içinde bunları toplayana, bütün zahmetini unutturacaktır.“, in: Uluğ (2001, 7). 39 Ähnlich stellen die deutschen Täter im Kolonialdiskurs über den Völkermord an den Herero ihre eigenen Entbehrungen und Einbußen als Bewährungsprobe dar, siehe: Brehl (2000, 8–28). 40 „Coğrafya kitaplarının ‚Kapalı Memleket‘ dedikleri ‚Tibet‘i bile birçok keşif ve sefer heyetleri baştan başa katetmişlerdir. Fakat Dersim, devlet memurlariyle asker kıtalarından başkasının kuşbakışı bir tetkikine bile mevzu olmamıştır.“, in: Uluğ (2001, 20).

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schaftlichen Erforschung des Gebiets den Weg ebnen solle. Durch die endgültige militärische Unterwerfung dieses Gebiets solle die bisher nur vorläufige, ungesicherte staatliche Herrschaftsbasis in der Region einen unangefochtenen Status erlangen. Auch in dem darauffolgenden Abschnitt über das „heutige Dersim“ betont der Autor die eigentümliche Geographie der Region. Er mahnt, dass es für das Verständnis Dersims nötig sei, die Augen nicht auf die Ebenen, sondern vor allem auf die im Inneren gelegenen, gebirgigen Gebiete zu richten, womit er wiederum die Vorstellung des Vordringens bis in den Kern des Problems verbindet. Aber, wenn der Sommer kommt, umgibt ein tiefer Zweifel ganz Dersim, wenn der Sommer kommt. Die Pflanzen wuchern, der Schnee schmilzt, die Bäche treten über und in die Stämme kommt Bewegung. Dersim, das sich acht Monate unter dem Schnee verkriecht, beginnt den Sommer mit der Mobilmachung.41 Und wenn Dersim übertritt? … Dann wird Dersim zu einer großen Plage, einem Sturzbach, der sich in der Umgebung wie ein Rudel Wölfe, ein Rudel Hyänen ausbreitet. Weder Besitz, noch Leben, es macht vor nichts Halt, es erschießt, ersticht, erschlägt, zerstückelt, raubt und kehrt zurück.42

In diesen beiden Allegorien assoziiert Naşit Hakkı Uluğ die Bevölkerung von Dersim mit dessen Natur und Naturphänomenen, die er als unkontrollierbar, ausufernd und wild beschreibt. In der Anapher „wenn der Sommer kommt“ erzeugt er eine Spannung, deren Eskalation er zudem durch die Akkumulation von Metaphern „eine große Plage, ein Sturzbach, eine Schar von Wölfen“ verstärkt. Mit dieser dramatisierenden Darstellung fordert er ein entschiedenes, frühes Handeln ein und legitimiert die Anwendung von Gewalt, indem er die Bevölkerung dehumanisiert. Daraufhin führt Naşit Hakkı Uluğ „Dersims schwarze Liste“ an, in der die Stämme aus Dersim einzeln genannt und als „traditionelle Feinde“ bezeichnet werden, die sich in der Vergangenheit „aus Gewohnheit“ gegen die Regierung aufgelehnt hätten.43 Auf diese Weise nimmt er die Perspektive der

41 „Fakat, Yaz gelince, Bütün Dersim’i derin bir şüphe sarar, Yaz gelince. Tabiat azar; karlar erir, dereler taşar, aşiretler yerinden oynar. Sekiz ay karın altında sinmiş olan Dersim, yaza seferberlikle girer.“, in: Uluğ (2001, 24). 42 „Ya Dersim taşarsa? … O zaman Dersim, büyük bir bela selidir, etrafa bir kurt sürüsü, bir sırtlan sürüsü yayılır. Ne mal, ne hayat, o hiç bir şey tanımaz, vurur, keser, kırar, parçalar, yüklenir ve döner.“, in: Uluğ (2001, 26). 43 Uluğ (2001, 26).

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Staatsmacht ein, aus der er den Widerstand als einen Verhaltensfehler deutet, der sich infolge mangelnder Disziplinierung durch die Autorität entwickelt habe. Somit weist er die Frage nach den Ursachen und Motivationen für den Widerstand und die Verantwortung der Regierung ab und rechtfertigt stattdessen Maßnahmen, die den Widerstand gewaltvoll ausräumen. In dem Kapitel zu „Dersims Religion“ beschuldigt er spezifisch die Geistlichen, ihre religiöse Autorität auszunutzen, um eine Distanzierung zwischen Bevölkerung und Staat zu betreiben. In Dersim ist Religion keine Sache des Gewissens. Die Religion liegt in den Händen der Seyits, für die sie ein Weg zum Auskommen und ein Mittel zur Gewaltanwendung darstellt. Religion, Himmel und Hölle werden hier verkauft und verteilt. Steuerfreier Gottesdienst wird hier nicht akzeptiert. Ein Gebet ohne Spende nimmt weder Gott noch ein Seyit an.44

Die religiösen Autoritäten in Dersim stellt er als Nutznießer der Gutgläubigkeit der Bevölkerung und als Vertreter einer konkurrierenden Gesellschaftsordnung dar. In ihrer unrechtmäßigen Machtposition würden diese Geistlichen bereits seit Jahrhunderten die vorislamische, urtürkische Religion korrumpieren und ihre Gläubigen ausnutzen, unterdrücken und täuschen. Dieser verallgemeinernd negativen Charakterisierung der religiösen Autoritäten gegenüber wird das Bild der Bevölkerung als „ungebildet“ (türk.: cahil) und „beschränkt“ (türk.: küçük kafalı) gezeichnet. Indem er die mächtigen, gewalttätigen religiösen Autoritäten mit den Gläubigen konfrontiert, die ihnen hilflos ausgeliefert sind, unterstellt er einen gesellschaftlichen Missstand, der durch die gewaltsame Amtsenthebung der geistlichen Autoritäten und deren Ersetzung durch staatliche Institutionen behoben werden müsse. Die Entschlossenheit, die er für den Umsturz der bisher gültigen Gesellschaftsordnung für nötig hält, legt der Autor einem jungen türkischen Militär in den Mund. Wir haben zu viel über den ‚Seyit‘ gesprochen … Wie wir die Wahrheit und die Unwahrheit über die Seyits erklären, überlasse ich einer jungen Stimme, die sich in einer revolutionären Nacht auf der Stadtmauer von Diyarıbekir erhob. (…) Seyit Mehmet schrie: – Jemanden vom Stamm des Propheten darf man nicht hängen, für Leute, die jemanden aus dem Stamm des Propheten hängen, wird es keine Erlösung geben! … Gegen dieses überhebliche und reaktionäre Knurren erhob sich aus dem Mund eines noch nicht dreißigjährigen Offiziers die Stimme der jungen Türkei:

44 „Dersim’de din bir vicdan işi değildir. Din Seyitlerin elinde bir geçim yoludur, zorbalık vasıtasıdır. Din, cennet ve cehennem burada satılır ve dağıtılır. Burada vergisiz ibadet makbul değildir. Adaksız duayı ne Tanrı, ne Seyit kabul eder.“, in: Uluğ (2001, 27).

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– Jemanden, der an meinem Vaterland Verrat übt, würde ich, auch wenn er vom Stamm des Propheten ist, hängen … Diese Stimme verlieh der Aussicht einen außerordentlichen Nachdruck, die Vaterlandsliebe hatte den Verrat erwürgt.45

Nachdem der Autor zunächst moniert, dass das Thema der Seyits bereits zur Genüge besprochen worden sei, leiht er das Wort exemplarisch einem jungen türkischen Bürger, der vorbildlich die Anwendung von Gewalt gegen die religiösen Autoritäten befürwortet. Er lässt ihn seine Bereitschaft beteuern, seiner Verpflichtung gegenüber der türkischen Nation auch mit Gewaltanwendung nachzukommen. Der Vorwurf des Verrats am Vaterland, der gegen die Seyits erhoben wird, dient hier der Argumentation für den radikalen, gewaltsamen Bruch der jungen Generation mit der Tradition der sich über ihre heilige Abstammung legitimierenden religiösen Autoritäten. Die traditionell göttlich legitimierte Gerechtigkeit wird somit durch die moderne nationalstaatliche Rechtsprechung ersetzt. Ähnlich wie bei Hasan Reşit Tankut ist die Darstellung einiger der Pilgerorte in Dersim auch bei Naşit Hakkı Uluğ von dem Widerspruch zwischen der Anerkennung der schamanistischen Tradition des Totemismus und der Ablehnung der alevitischen Geistlichen geprägt. Anders als Hasan Reşit Tankut, der den Naturheiligtümern besondere Aufmerksamkeit widmete, stellt Naşit Hakkı Uluğ jedoch nur mehr diejenigen Pilgerorte vor, die den Begründern der alevitischen heiligen Abstammungslinien gewidmet sind. Dies dient ihm dazu, die Seyits als Betrüger darzustellen, die unrechtmäßig diese Pilgerorte vereinnahmen und ihren Vorteil daraus schlagen würden, indem sie ihre angeblich naiven Anhänger an die frei erfundene Abstammungslinie glauben ließen.46 In der Person des Geistlichen Seyit Rıza (1863–1937) stellt Uluğ die Zukunft Dersims emblematisch in Frage: „Wer ist Seyit Rıza, was wird geschehen?“ (Seyit Rıza kimdir, nedir, ne olacak?). Seyit Rıza, der „im Herzen von Dersim“ lebe, stellt er durch die wiederholten Fragen als die dringlichste Sorge heraus.

45 „‚Seyit’ üzerine fazla konuştuk … Seyidin doğrusunu da yalanını da nasıl anlatığımızı bir ihtilal gecesinde Diyarıbekir surlarında yükselen genç bir ses bırakayım. (…) Seyit Mehmet bağırıyordu: – Evladı Resul asılmaz, Evladı Resulü asan millet iflah olmaz! … Bu tegallüp ve irtica hırıltısına genç Türkiye’nin sesi, henüz otuzunu doldurmamış bir zabitin ağzından yükseldi: – Vatanıma hiyanet eden Resul de olsa asarım … Bu ses manzaraya müstesna bir ülviyet verdi, vatan sevgisi hiyaneti boğmuştu.“, in: Uluğ (2001, 28). 46 Uluğ (2001, 27–32).

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Was ist die politische Idee von Seyit Rıza, mit was geht die Gegend von Ağdat schwanger, die frei des staatlichen Einflusses ist? Diese mit Sicherheit auszumachen, war nicht möglich. Seyit Rıza war ein Wesen, das zu seinem eigenen Vorteil alles zu tun bereit wäre. Vor der Verfassung arbeitete er auch mit armenischen Komitees zusammen. Es wird gesagt, dass er sich mit dem Komitee der Taschnaken geschrieben und auf ihre Ziele einen Schwur abgelegt habe.47

Seyit Rıza erscheint hier als unberechenbarer Opportunist, der mit der „Armenischen Revolutionären Föderation“ (arm.: Hay Heghapokhagan Tashnagtsutiun) kollaboriert habe und von dem eine unmittelbare Bedrohung ausgehe. Zur Autorisierung seiner Aussage erteilt der Autor das Wort an einen fiktiven Augenzeugen: Ich habe Seyit Rıza nicht gesehen, aber von einem Städter aus Dersim und genauso von einem aus Sivas und einem aus Eğin habe ich Folgendes über Seyit Rıza gehört: – Geschichte und Wissenschaft zeigen deutlich, dass die Bewohner Dersims keine Kurden sind. Aber, was soll ich sagen, solange diese Plagen, die Seyits und an deren Spitze insbesondere Seyit Rıza, diese Unwissenden anführen, bleiben ihnen weder Türkentum, noch Menschlichkeit.48

Als Beweis gegen Seyit Rıza präsentiert er zunächst mündliches Wissen, um Authentizität zu suggerieren und Glaubwürdigkeit zu steigern. Dabei ratifiziert er es zusätzlich als wissenschaftlich bewiesen. Die fiktiven Zeugen, die er an dieser Stelle aussagen lässt, lehnen die kurdische Identifizierung der Bevölkerung Dersims ab. Aus der Argumentation wird deutlich, wie sich in der Figur Seyit Rızas mehrere Befürchtungen der Regierung verdichten ließen. Demnach übte in einem nicht-kontrollierten Gebiet ein politisch illoyaler, mit den Armeniern kollaborierender, Geistlicher Macht aus, der durch sein Handeln seine Anhänger von ihrer türkischen Identität und somit von ihrer Menschlichkeit abbringe. Indem Uluğ Illoyalität und Intrigen gegen die Staatsmacht unterstellt, dehumanisiert er die Bevölkerung Dersims. Schließlich erhebt Uluğ in dem letzten Kapitel „Was wird aus Dersim?“ (türk.: Dersim ne olacak?) den Vorwurf, dass die Region unfähig sei, für sich

47 „Seyit Rıza’nın siyasi fikri nedir, devlet nüfuz ve tesirinden azade olan Ağdat muhiti neye gebedir? Bunları katiyetle kestirmek kabil değildi. Seyit Rıza menfaatı için her şeyi yapabilecek bir tıynette idi. Meşrutiyetten evvel Ermeni komiteleriyle de birlikte çalışmış. Taşnaksiyon komitesine yazılarark, onların gayelerine and içmiş derlerdi.“, in: Uluğ (2001, 43). 48 „Ben, Seyit Rıza’yı görmedim, fakat Dersim’in kasabalısından, bir Sivaslıdan, bir Eğinliden farkı olmayan kasabalısından Seyit Rıza’yı şöyle dinledim: – Dersimlinin Kürt olmadığını tarih ve fen açık gösterir. Fakat ne diyeyim, efendim bu zavallıların başında bu belalar, bu seyitler ve hele Seyit Rıza varken bunların ne Türklüğü, ne insanlığı kalıyor.“, in: Uluğ (2001, 44).

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selbst eine Lösung zu finden.49 Mit dieser Objektifizierung schlägt er vor, wie dieser ungewollten Bevölkerung in Zukunft beizukommen sei.50 Vor der Zeit der Republik sind die Versuche, Dersim zur Vernunft zu bringen, immer auf halber Strecke stecken geblieben. Das war es, was sie verzogen hat. Die Seyits haben es nicht versäumt, daraus Nutzen zu schlagen, mit einer Lüge haben sie erneut versucht, das Volk vom Staat zu entfremden. Als ob die Züchtigung aufgrund von ‚Alis‘ Einwilligung vom Staat nur halb durchgesetzt worden wäre. ‚Ali‘ schützt Dersim, Regierungen können hier nichts tun.51

Die unvollständig gebliebene Züchtigung, die die türkische Republik aus der Zeit vor ihrer Gründung übernahm, stellt Uluğ wie ein Vermächtnis dar, das es zu erfüllen gelte, um der Zeitlichkeit dieser noch ausstehenden Aufgabe zu entsprechen.52 Dabei impliziert die Unabgeschlossenheit der Aufgabe einen dringend notwendigen Schließungsmoment, der erfordere, sie mit Entschlossenheit zu Ende zu bringen. Unmittelbar nach der Militäroperation Tunceli zwischen 1937 und 1938, die auf die „Züchtigung und Niederwerfung, Ausrottung“ (türk.: tedip ve tenki) zielte, wurde 1939 die zweite Monographie von Naşit Hakkı Uluğ mit dem programmatischen Titel „Tunceli öffnet sich der Zivilisation“ veröffentlicht. Das Buch gliedert sich in einen ersten Teil, in dem der Autor die Probleme von Dersim beanstandet und in einen zweiten Teil, in dem er im Kontrast dazu die Errungenschaften des neu geschaffenen Tunceli hervorhebt. Der apologetische Charakter des Textes zeigt sich bereits daran, dass Naşit Hakkı Uluğ eine rhetorische Frage an den Anfang seiner Darstellung stellt: „Warum bleibt in der Mitte unseres Heimatlandes weiter ein ‚Dersim‘, das uns immer noch beschäftigt?”53 Nach Abschluss der verheerenden Militäroperation Tunceli liefert er im Folgenden die Argumente für die Anwendung von Gewalt gegen die Bevölkerung Dersims, indem er sie als Störenfried im Inneren der imaginierten Nation identifiziert. Das erste Kapitel unter der Überschrift „Das rebellische Dersim mit seiner schroffen Natur hat jahrhundertelang Räuber beherbergt“ (türk.: Asi ve yalçın 49 „Dersim elbette kendiliğinden adam olmaz. Ne yapacaksa gene devlet yapacak, onu adam edecektir.“, in: Uluğ (2001, 62). 50 Uluğ (2001, 62–3). 51 „Cumhuriyetten evvel Dersim’i tedip teşebbüsleri hep yarım kalmıştır. Bu, onları şımartmıştır. Seyyitler, bundan istifadeyi ihmal etmemişler, bir yalanla halkı gene devletten uzaklaştırmaya çalışmışlardır. Güya tedibatın yarım kalışı, ‚Ali‘nin rızasının devletçe tahsil edilmeyişindendir. Dersim’i ‚Ali‘ korur, hükûmetler buraya bir şey yapamazlar.“, in: Uluğ (2001, 62). 52 Eine Rede, die Gewalt androht, schafft nach Judith Butler eine eigene Zeitlichkeit, in der die Gewalt bereits mit ihrer Androhung beginnt, gegen die Opfer zu wirken, Butler (1997, 9–10). 53 „Niçin yurdumuzun orta yerinde bir ‚Dersim‘ kaldı ve bizi hâlâ uğraştırıyor?“, in: Uluğ (2007, 17).

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tabiatıyla Dersim, asırlarca haydutluğa yataklık etti) zeichnet das Bild von Dersim als einer Burg, dessen Natur selbst rebellisch sei, da sie in ihren Höhlen den Räubern und Banditen, die vor ihrer gerechten Strafe durch den Staat flohen, Unterschlupf und Schutz gewähren würde.54 Angesichts dieser Bewertung wirkt die daran anschließende Darstellung widersprüchlich, in der er dieselbe Situation für „Das vorgeschichtliche Dersim“ positiv schildert. In diesem Fall seien es die Vorfahren gewesen, die „vor der Geschichte“ die türkische Zivilisation aus Zentralasien mitbrachten, die in den besagten Höhlen Schutz vor der Witterung fanden und sich aus Verbundenheit mit der Natur dort niederließen.55 Wie in seinem ersten Buch stellt er als das Hauptproblem in Dersim den Glauben heraus, der von den geistlichen Autoritäten, den Seyits, geleitet wurde. Diese seien seit dem 13. Jahrhundert als extreme schiitische Gruppen namens Babai, Bektaşi, Kızılbaş, Tahtacı und Cepni aus dem Iran nach Anatolien eingewandert und hätten den vorherigen Glauben zunehmend verändert. Zu den vorislamischen religiösen Praktiken der Bevölkerung in Dersim bemerkt er Folgendes: Von dem, woran die ersten Menschen glaubten, von allen bis heute auftauchenden und wieder verschwindenden Glauben, hat sich jeweils eine Spur in der Religion von Dersim versammelt. Angefangen bei der Sonne sind alle natürlichen Gewalten und Phänomene für die Menschen in Dersim heilig. Sie beten hohe Berge und Felsen an, aus deren Innerem Wasser quillt, jahrhundertealte Bäume, die vollen Schatten spenden, Sterne, die des nachts den Weg weisen, den Mond und Flüsse. Angeblich stellen alle diese Dinge veränderte Formen dar, die die Seelen der Dedes angenommen haben und die Werke ihrer Wunder sind. Neben diesen eigentlichen Putten gibt es eine Menge Totems. Von einer eingefallenen Mauer bis hinab zu einem alten Schuh sind diese Totems ungezählt und stellen für die Seyits ein Mittel für den Handel dar. Die Bergtürken halten den von ihrem Dorf aus am höchsten wirkenden Gipfel für den Mihrab. Wenn die Sonne im Osten aufgeht, fällt ihr Licht natürlich als Erstes auf die Spitze des höchsten Bergs. Dieser vom Dorf aus zu sehende Lichtpunkt ist für den Menschen in Dersim heilig; wenn jeden Morgen die Sonne darauf fällt, verbeugt er sich mit einer Hand auf der Brust und der anderen Hand am Kinn. Diese Anbetung soll vor Fremden immer geheim gehalten werden, wenn sie sie fragen sollten, würden sie es abstreiten.56

54 Uluğ (2007, 17). 55 Uluğ (2007, 25). 56 „İlk insanların inanlarından tutunuz da, bugüne kadar gelip geçen bütün inançlardan birer nebze, Dersim dininin içinde toplanmıştır. Güneşten itibaren bütün tabiat kuvvet ve hadiseleri Dersimli için mukaddestir. Yüksek dağlara, bağrından su fışkıran kayalara, bol gölge veren asırlık ağaçlara, geceleri yol gösteren yıldızlara, aya ve akarsulara taparlar. Güya bütün bu varlıklar, dedelerinin ruhlarının değişime uğramış şekilleri ve onların mucizelerinin eseridir. Bu esas putların yavrucukları birçok totemler de vardır. Bir yıkık duvardan, bir eski pabuca kadar inen bu totemler sayısızdır, seyitler için ticaret vasıtasıdır.

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Die Glaubenspraktiken der Menschen in Dersim stellt der Autor im Gegensatz zur sunnitischen Orthodoxie als Ausdruck einer synkretistischen Religion dar, die vorislamische religiöse Traditionen bewahrt habe. In diesem Sinne deutet er die religiöse Verehrung von Naturheiligtümern, den Glauben an Metempsychose und den Totemismus als Relikte des alten Glaubens, die nun von den Geistlichen ausgenutzt würden. Ein zugrundeliegendes Argumentationsmuster, dessen er sich hier bedient, besteht in der Gegenüberstellung von offensichtlicher und eigentlicher Wahrheit. Mit der Annahme, die Aleviten hielten ihren eigentlichen Glauben versteckt, wird ihnen eine Geheimhaltung unterstellt, die, obschon sie in der alevitischen Geheimhaltungspraxis der takiye eine Entsprechung hat, den beschriebenen Subjekten ihre eigene Stimme aberkennt, indem sie an ihrer Stelle eine Wahrheit über das vermeintlich versteckte Wesen festlegt. Die Wahrheit, die in dieser Darstellung als eigentliche gesetzt wird, würde verschwiegen, da die Feudalherren ein Redeverbot an die unterdrückte Bevölkerung erteilt hätten. „… ohne die Erlaubnis des Ağas, des Beys, war es verboten, mit einem Fremden – und sei es ein Staatsbeamter – allein zu sprechen.“ 57 Daher müsse die Wahrheit durch die in Dersim arbeitenden Patrioten, die sich im Dienst des Staates bewährten, auch gegen auftretende Widrigkeiten ans Licht gebracht werden: Die Vaterlandsliebhaber, die in Dersim ihren Dienst leisten, sollten sich darum sorgen, zu verhindern, dass das geistliche Dersim je wieder seinen Kopf erheben kann und besonders wachsam sollten sie sein gegenüber dem in Bettlerkleidung, seinem Ansehen nach leicht Mitleid erregenden Seyit.58

Im Gegensatz zu den Entstehungsbedingungen seiner Notizen aus der Zeit des Scheich-Said-Aufstands, in denen er die Feuer und Gefahren des ausgefochtenen Kriegs als Hürden bezeichnete, die es zu überwinden galt, warnt er nunmehr nach den staatlichen Gewaltverbrechen davor, Mitleid mit den Überlebenden der Gewalt zu empfinden. Dieses belastende Gefühl sei eine gefährliche Täuschung, die wiederum überwunden werden müsse. Naşit Hakkı Uluğ sieht

Dağ Türkleri, bulunduğu köyden görünen en yüksek tepeyi kendisine mihrap saymıştır. Doğudan güneş doğdukça ilkönce ışığı elbette yüksek bir dağın doruğuna vurur. O köyden görünen o ışıklı nokta, Dersimli için mukaddestir; her sabah güneş oraya vurunca bir eli göğsünde ve diğer eli çenesinde olarak eğilir. Bu tapış yabancılar için daima gizli kalmalıdır, sorarsanız inkâr ederler.“, in: Uluğ (2007, 91). 57 „(…) ağasının, beyinin izni olmadan, bir yabancı ile – hatta bir devlet memuru bile olsa – yalnız başına konuşması yasaktı.“, in: Uluğ (2007, 55). 58 „Dersim’de vazife gören vatanseverler, manevi Dersim’in bir daha başını kaldırmasına meydan vermemeye özen göstermeli ve bilhassa dilenci kılıklı, haline kolaylıkla acındıran seyide karşı gayet uyanık bulunmalıdır.“, in: Uluğ (2007, 99).

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in den Seyits, neben den Ağas als Vertretern des feudalen Unterdrückungssystems, das fundamentale Problem, dem sich die Bevölkerung von Dersim ausgesetzt sehe. Dersims Quälgeist: ist der Seyit. Der Seyit nutzt alles von den Menschen in Dersim aus. Der Glaube Dersims ist eine Legierung eigenartiger Menschen; jede Naturerscheinung und jede Erinnerung wirkt sich auf den kleinen Kopf und das schwache Gewissen der Menschen in Dersim aus.59

Die Bedeutung der Naturphänomene für die Glaubensvorstellungen führt Uluğ zur Herabwürdigung der Menschen in Dersim aus. Wie die Sonnenanbetung sieht er auch die Pilgerorte zwar als Elemente der vorislamischen Religion an, interessiert sich jedoch, mehr noch als für die religiöse Funktion des heiligen Orts der Munzurquelle, für dessen politische Bedeutung: Das Dorf Ziyaret liegt am Fuß des Munzurgebirges. Einige hundert Meter westlich dieses Dorfes sprudelt eiskaltes, süßes Wasser aus Quellen (gözeler) am Fuß eines Felsens empor – die Leute nennen sie Gözeler. Hier entspringt Dersims heiliger Fluss Munzur. Von dem Wasser in Ziyaret haben wir getrunken. Ein mächtiger Baum und vier Walnussbäume spenden am Fuß dieser schroffen Felsen einen breiten Schatten. Dieser Ort heißt Ziyaret, der heiligste Mihrab der Menschen in Dersim ist hier. Hier werden Opfertiere geschlachtet und Weihgaben dargebracht. Hier wird auf Schwüre getrunken. Vor Aufständen gegen den Staat wurde hier dafür gebetet, dass das Vorhaben von Erfolg gekrönt werde. Die Dorfbevölkerung nutzt diesen Ort, daher hat sie einen beträchtlichen Vorteil.60 Schwüre, die vor diesem Mihrab geleistet werden, den Ali als Munzur zu erkennen gegeben hat und auf die von diesem Wasser getrunken wurde, sollen nie wieder gebrochen werden können … Dieses heilige Wasser mischt sich in ihr Blut und das Vorhaben wird sicher mit Erfolg zu Ende geführt. Bevor im letzten Jahr Seyit Rıza, der Anführer der Räuber aus Ost-Dersim gefasst wurde, sind die Dorfbewohner hierhergekommen, haben ein Opfertier geschlachtet und haben mit seinen Komplizen einen Schwur geschworen, wie sie uns sagten, als wir sie ein bisschen drängten. Die größten Schwüre sind hier geschlossen worden.

59 „Dersim’in baş belası: Seyit’tir. Seyit Dersimli’nin her şeyine sömürür. Dersim dini, türü kendine özgü bir insanlar alaşımıdır; her tabiat hadisesi, her hatıra Dersimli’nin dar kafası ve zayıf vicdani üzerinde etkisini yapar.“, in: Uluğ (2007, 91). 60 „Ziyaret köyü Munzur sıradağlarının dibindedir. Bu köyün birkaç yüz metre batısında bir kayalığın dibindeki kaynaklardan – halk göze diyor – buz gibi, tatlı bir su fışkırır. Dersim’in kutsal suyu Munzur burada doğar. Ziyaret’in suyunda kana kana içtik. Ulu bir meşe ve dört ceviz ağacı bu kızgın kayaların dibinde geniş bir gölgelik yapıyor. Buranın adı Ziyaret’tir, Dersimlinin en yüce mihrabı burasıdır. Kurbanlar burada kesilir, adaklar burada adanır. Antlar burada içilir. Devlete karşı ayaklanmalardan önce işin sonu muvaffakiyetle taçlansın diye burada dualar edilirdi. Bu köy halkı bu Ziyaret yerini kullanırlar, o yüzden hayli fayda görürlerdi.“, in: Uluğ (2007, 100).

6.1 Kemalistische Wissensproduktion über Dersim

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Mit den Schwüren, die die Stämme oben am Ziyaret untereinander leisteten, wurde auf die zwölf Imame Eid geleistet … Und repräsentativ für die zwölf Imame geben sich die Ağas gegenseitig zwölf Kurusch … Oder sie werfen gegenseitig zwölf Steine über das kalte Becken auf die gegenüberliegende Seite … Endlich endet diese Zeremonie damit, dass die Ağas der untereinander verfeindeten Stämme das Essen des anderen essen und damit das gegenseitige Vertrauen bestätigen, drei Steine geworfen werden und der Schwur mit folgenden Worten bekräftigt wird: – Wenn ich meinen Schwur nicht einhalte, werde ich mich von meiner Frau scheiden lassen.61

Die Munzurquelle charakterisiert Naşit Hakkı Uluğ dadurch, dass sich an dieser Stelle religiöse Praxis und politischer Widerstand treffen würden. Zwar übernimmt er auch die Vorstellungen von Hasan Reşit Tankut, wonach das Trinken des Quellwassers Vorhaben zu einem guten Ende verhelfen soll, allerdings zweifelt er die Absichten der Bevölkerung Dersims an. In seiner Darstellung verschworen sich an diesem Ort oppositionelle Stammesanführer aus Dersim gegen den Staat, den sie als gemeinsamen Feind ansehen und im Kampf gegen ihn die Machtkämpfe untereinander niedergelegt hätten. Indem er dem heiligen Pilgerort diese politische Bedeutung zuschreibt, konnotiert er ihn und die dazugehörige rituelle Praxis negativ. Die Verwerfung des religiösen Wissens der Gläubigen in Dersim sei notwendig, da der Glaube sie der staatlichen Herrschaft gegenüber illoyal sein ließe, argumentiert Naşit Hakkı Uluğ weiter. Die spirituelle Macht Alis und der zwölf Imame, die sich in dem Pilgerort manifestiere, wertet Naşit Hakkı Uluğ als unhaltbare Konkurrenz gegenüber dem Herrschaftsanspruch der Republik Türkei. Um diesem Missstand Abhilfe zu verschaffen, bietet der Autor einen Ausblick in die Zukunft dieses Orts, wie sie dem Militärgeneral Abdullah Alpdoğan vor Augen stand: Die Zukunft von Ziyaret Auf dem Rückweg nach Elazığ sagte General Alpdoğan während unseres Gesprächs: – Lasst uns Erzincan an Ovacık anbinden und auch bis nach Ziyaret einen Weg bahnen. An dem Ort, an dem sich die Quelle befindet, werde ich Tuncelis schönstes Nest grün-

61 „Ali’nin Munzur olarak belirdiği bu mihrabın önünde, bu suyu içerek edilen antlardan bir daha dönülmezmiş … Bu kutsal su onların kanını karıştırır ve tutulan iş muhakkak muvaffakiyetle sona erermiş. Köylüler; geçen yıl asılan doğu Dersim’in haydut başısı Seyit Riza’nın da evvelki yıl yakalanmadan önce buraya gelip kurban kestiğini ve avenesiyle antlaştığını biraz zorlayınca söylediler. En büyük antlar burada içilirdi Ziyaret’in başında aşiretler arasında içilen antlarla Oniki İmam’ın başına yemin edilirmiş … Ve Oniki İmam’ı temsil için ağalar birbirine on ikişer kuruş verirlermiş … Yahut da bu soğuk havuzun karşısında karşılıklı on iki taş atarlarmış … Nihayet bu merasim birbirine hasım olan aşiret ağalarının birbirinin yemeğini yemek suretiyle karşılıklı itimatlarını doğrulamaları ile biter ve üç taş atarak antlarını şu sözlerle katmerleştirirlermiş: – Andımı bozarsam karım boş olsun.“, in: Uluğ, (2007, 102–3).

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den. Hier werde ich ein schönes Hotel errichten lassen. Familien, die sich erholen möchten, werden an dieser schönen Quelle fünf oder zehn Tage verbringen und dann zu ihrer Arbeit zurückkehren … Tuncelis Ziyaret wird ein zivilisierter Ort sein, der von gesitteten Menschen besucht werden wird …62

Der Ort, der den als aufsässig und wild diffamierten Bewohnern Dersims als heilig gilt, soll in dieser Vision den sittsamen türkischen Bürgern erschlossen werden. An die Stelle der illoyalen Bevölkerung Dersims werde demnach mithilfe des modernen Tourismus die ordentliche, dem Staat dienliche Bevölkerung rücken, die sich durch ihre Zivilisation als berechtigte Nutzer dieses Orts erweise. Über diese Substitution der ungewollten, unwerten durch die gewollte, dazu berechtigte Bevölkerung legitimiert der Autor, hier in den Abdullah Alpdoğan zugeschriebenen Worten, die staatlichen Gewaltverbrechen. In seiner Vision einer touristischen „Erschließung“ der Region verwandelt sich die Munzurquelle, die in dem „alten“ Dersim den Ort der vereinten Widerstandskraft und des Widerstandwillens der Bevölkerung gegen die osmanische und republikanische Staatsmacht darstellte, zu dem „schönsten Nest“ in der kemalistischen bürgerlichen Vorstellungswelt, das sich fügsam und diszipliniert unterwerfen und der nationalstaatlichen Wirtschaft in die Hände spielen sollte. Im Gegensatz zu dem eingangs erwähnten Redeverbot der Großgrundbesitzer an die unterdrückte Bevölkerung erteilt Naşit Hakkı Uluğ strategisch das Rederecht einzelnen Stimmen aus Dersim, die sich vorbildhaft dem Legitimationsdiskurs der gewaltsamen Modernisierung der Region verschreiben. In diesem Sinn lässt er eine betagte Frau aus dem Landkreis Hozat die staatliche Gewalt folgendermaßen begründen: Eine aus diesem Dorf gebürtige hundertjährige Großmutter Fatma kam, ohne die Hilfe von jemandem für nötig zu erachten, zu mir und sagte in süßer Mundart, – Wir sind neu auf die Welt gekommen, was Ruhe bedeutet, wussten wir nicht. Die kamen und gingen, bemühten sich, die Ağas zu verbessern. Solange diese nicht verschwanden, war alles umsonst. Wenn die Seele nicht verschwindet, wie sollte das Wesen verschwinden, oh Sohn! So schüttete sie ihr Leid aus. Wie schön fasste Großmutter Fatma, die auf dem Amboss des Lebens ein Jahrhundert lang geschlagen worden war, das Leid Dersims in drei Sätzen zusammen …! 63

62 „Ziyaret’in Geleceği Elazığ’a dönüşümde konuşmalarımız esnasında General Alpdoğan diyordu ki: − Erzincan’ı Ovacık’a bağlayalım, Ziyaret’e doğru da yol düzeltelim. Bu kaynakların bulunduğu yerde Tunceli’nin en güzel kür yuvasını kuracağım. Burada güzel bir otel yaptıracağım. Dinlenmek isteyen aileler bu güzel kaynağın başında beş on sakin gün geçirerek tekrar işlerin başına dönecekler … Tunceli’nin Ziyaret’i mesut insanların ziyaret ettiği medeni bir köşe olacak …“, in: Uluğ (2007, 102). 63 „Bu köyden asırlık Fatma Nine, kimsenin yardımına ihtiyaç duymaksızın yanıma geldi, tatlı bir lehçe ile:

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Die Wiedergeburt in eine neue Welt, in die türkische Republik und damit eine ungekannte Ruhe, wie es in diesen Worten der hundertjährigen Alten ausgedrückt ist, beschreibt eine komplexe Bekehrungssituation. Das Los derer, die sich dieser politischen Konversion zu widersetzen versuchten, ist in der rhetorischen Frage der Frau formuliert. Die Vernichtung von Seelen sei demnach gerechtfertigt und sogar notwendig, um das Leben in Dersim grundlegend neu gestalten zu können. Der Autor lässt in diesem fiktiven Zitat exemplarisch eine Betroffene der ausgeübten Gewalt eine Absolution aussprechen, indem er ihre Klage über die Gewalt der Ağas in Dersim zur Rechtfertigung für die staatlichen Gewaltverbrechen an der gesamten Bevölkerung der Region ausweitet. In der Zusammenschau dieser beiden Texte von Naşit Hakkı Uluğ wird deutlich, dass darin bestimmte Argumentationsmuster und Legitimationsstrategien begegnen, die in der früheren Darstellung die Gewaltverbrechen prospektiv und in der späteren retrospektiv legitimieren. Die frühere, wesentlich kürzere Veröffentlichung bemüht sich um eine Darlegung der dringlichen Gründe für eine militärische Intervention, identifiziert die Opfer in einer „schwarzen Liste“ der als „traditionelle Feinde“ angesehenen Stämme und konzentriert sich auf Seyit Rıza, den sie als Anführer der Oppositionellen und verräterischen Kollaborateur mit den Armeniern diskreditiert. Zentral argumentiert Naşit Hakkı Uluğ für die Gewaltanwendung als Aufgabe der gegenwärtigen Generation im Dienst eines Emanzipationsprozesses gegen die traditionellen Autoritäten für die kommenden Generationen. Die spätere Darstellung ist von ambivalenten Zuschreibungen geprägt, da sie stärker Deutungen aufgreift, die eine türkische Identität auf Dersim projizieren, welche mit den jüngsten Gewaltereignissen in Widerspruch stehen. So stellt Uluğ die Höhlen als Unterschlupf nicht nur der idealisierten Ahnen, sondern auch der bekämpften Oppositionellen dar. Die Hürde, die es nun zu nehmen gilt, stellt nicht mehr die Bekämpfung derer dar, die angeblich an einem Aufstand beteiligt waren, sondern das aufkommende Mitleid mit den Überlebenden der Gewalt. Das „lokale Wissen“ der Bevölkerung Dersims korrigiert er sowohl durch die Umdeutung regionaler Legenden als auch durch fiktive Stimmen der Bewohner. Demnach erteilt der Staat ein Rederecht an die Bevölkerung Dersims anstelle des als illegitim erachteten alevitischen Redeverbots. Gleichsam zeigt diese vorbildliche Rede, welchen Stimmen fortan Gehör verschafft wird: Es sind diejenigen, die in Schuldumkehr ihren Dank gegenüber denjenigen ausdrücken, die sie eigentlich verfolgen und Ge-

– Biz dünyaya yeni geldik, rahat nedir bilmiyorduk. Gelen geçenler, ağaları ıslah edek diye uğraştılar, onlar kalkmayınca hepsi boştu, can çıkmayınca huy çıkar mı hey oğul! diye derdini döktü. Hayatın örsünde bir asır dövülen Fatma Nine, Dersim’in derdini üç cümlenin içinde ne güzel toplamıştı …“, in: Uluğ (2007, 242).

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walt gegen sie anwenden. Die Transformation Dersims zum modernen Tunceli erscheint als eine Konversion gleich einer Wiedergeburt in eine neue, zivilisierte Welt. Die Wiedergeburt Dersims als Tunceli in die türkische Republik trägt die Konnotation von Tod und Beginn eines neuen Lebens, womit der Autor die physische Vernichtung der Bevölkerung legitimiert.

6.1.3 Nazmi Sevgen: „Gewittergeräusche wie Kanonendonner“ Die Studie über die „Zaza und Kızılbaş“ verfasste Nazmi Sevgen (1890–1980) 1945/46 in Istanbul.64 Dieses Manuskript wurde jedoch nicht vor 2003 zusammenhängend veröffentlicht.65 Einzelne Ausschnitte daraus gab Ahmen Niyazi Banoğlu in einer Artikelserie in seiner populären Geschichtszeitschrift „Die Welt der Geschichte“ (Tarih Dünyası) heraus. Ahmen Niyazi Banoğlu war vermutlich ein ehemaliger Kamerad von Nazmi Sevgen, jedenfalls nahmen beide an der Militäroperation in Dersim 1937–38 teil.66 Nazmi Sevgen saß später der „Türkischen Sprach- und Geschichtsgesellschaft” (türk.: Türk Dil ve Tarih Kurumu) vor. Illustriert von Schwarz-Weiß-Photographien des Autors erschien 1950 die Artikelserie von Nazmi Sevgen in der Zeitschrift „Tarih Dünyası“ über die „Die Kızılbaş von Dersim“, die „Grabsteine in Dersim“ und über die „Zaza“.67 Im Vergleich zu den oben erwähnten Studien weist die Untersuchung über die „Zaza und Kızılbaş“ von Nazmi Sevgen hinsichtlich ihres Aufbaus und dementsprechend der Wissensanordnung einige Abweichungen auf. Erstmals stellt Nazmi Sevgen eine kurze Auflistung der bisherigen wissenschaftlichen Studien zu den Zaza und zur „Zaza-Sprache“ voran. Dann folgt er zunächst der bisher etablierten Ordnung: im ersten Kapitel behandelt er die Geographie der Region, dann folgen drei Kapitel zur Geschichte Dersims, die dessen politische Rolle in der Vorzeit, während des Osmanischen Reichs und während der Zeit des ersten Weltkriegs thematisieren. Eigene Kapitel behandeln erstmals ausführlich Folklore und die Zaza-Sprache. Die übrigen Kapitel beschäftigen sich wieder, in Übereinstimmung mit den früheren Studien, mit den Themen Glaubensvorstellungen, Islamisierung, Spaltung in verschiedene Konfessionen, heilige Abstammungslinien und Versammlungsriten. Aus dem Vergleich der verschiedenen historischen Herleitungen des Gegenstands in den hier behandelten Schriften wird deutlich, dass die beiden späte-

64 Das Manuskript wurde aus dem Osmanischen ins Türkische übersetzt und erschien mit der Angabe „Nazmi Sevgen (Oberstleutnant der Gendarmerie), Istanbul 1945“, Sevgen (2003). 65 Persönliche Korrespondenz mit dem Kalan-Verlag, 20. Mai 2016. 66 Dersimi (1992, 257). 67 Sevgen (1950).

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ren Texte (Uluğ 1939 und Sevgen 1946) stärker den Ersten Weltkrieg als Moment des Verrats von Dersim am Osmanischen Reich herausstellen und darüber das gewaltsame Vorgehen in Dersim 1938 legitimieren. Nazmi Sevgen beginnt seine Darstellung der Ereignisse mit den Worten: Mit der Kriegserklärung zum Großen Krieg begann das Barometer in Dersim Sturmwetter anzuzeigen, als die Russen sich Dersim näherten, ging diese Aktivität in eine noch gefährlichere Phase über.68

Dass er Dersims Rolle im Ersten Weltkrieg in Abhängigkeit zur Nähe der Frontlinie zu den russischen Truppen als gefährlich einschätzt, ist Ausdruck der Befürchtung, die Region könne sich der türkischen Macht gegenüber als nicht loyal erweisen und sich mit den russischen Truppen verbünden. Um seine Befürchtung historisch zu untermauern, hatte er zuvor die historischen Beziehungen zwischen der Bevölkerung in Dersim und dem russischen Konsul von Erzurum vor dem Krimkrieg und vor dem Russisch-Türkischen Krieg 1877–78 erwähnt.69 Über das Jahr 1916 in Dersim berichtet er Folgendes: (…) Sie nutzten es aus, dass die staatlichen Streitkräfte an der Front zu tun hatten und besetzten Nazımiye, weiteten den Angriff in Richtung Mazgirt – Pertek – Çarsancak aus und begannen, Elazığ zu bedrohen. Einige der Stämme in Süd-Dersim, die diese Bewegung sahen, bedrängten Hozat. Währenddessen streckten die Russen mithilfe der Armenier und einiger anderer vaterlandsloser Gesellen ihre Hände wirklich bis Dersim aus und begannen, Waffen, Munition und Geld dorthin zu schicken. In einer Zeit, in der die staatlichen Streitmächte mit dem Feind zu tun hatten, konnten diese sehr hässlichen Aktivitäten der Menschen in Dersim auf keinen Fall ungestraft bleiben.70

Seit diesem Aufstand in Dersim 1916 blieb der Eindruck der Illoyalität prägend für die Einschätzung der Rolle Dersims in der türkischen Geschichtsschreibung. Die Bergtürken verübten Schlechtigkeiten gegen ihre eigenen Brüder, da sie von der Hetze der Feinde ergriffen wurden. Diese Fehler nehmen in der Geschichte von Dersim die schwärzesten Seiten ein.71 68 „Büyük Harbin ilânile beraber barümetre Dersim’de fırtanalı havalar göstermeye başlamış, Ruslar Dersim’e yaklaştıkça bu faaliyet daha tehlikeli safhalara girmiştir.“, in: Sevgen (2003, 74). 69 Sevgen (2003, 66). 70 „(…) Devlet kuvvetlerinin cephede meşgul olmasından istifade ederek Nazimiye’yi işgal etmiş, tasallütunu Mazgirt – Pertek – Çarsancak istikametinde tevsi ederek Elazığ’ı tehdit etmeye başlamıştır. Bu hareketi gören garbi Dersim aşiretlerinden bazıları da Hozat’a tecavüz etmişlerdir. Bu sırada Ruslar, Ermeniler’in ve diğer bazı vatansızların yardımile ellerini hakikaten Dersim’e kadar sokmuş, oraya silah, cephane, para sokmaya başlamışlardır. Devletin cephelerde düşmanlarla meşgul olduğu bir sırada Dersimliler’in bu çok çirkin hareketleri her halde cezasız bırakılamazdı.“, in: Sevgen (2003, 75). 71 „Düşmanların tahrikine kapılarak öz kardeşlerine karşı dağlı Türkler’in irtikâp ettikleri bu hatalar, Dersim tarihinde en kara sahifeleri teşkil etmektedir.“, in: Sevgen (2003, 76).

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Indem Sevgen die Bevölkerung von Dersim vereinnahmend als Bergtürken bezeichnet, konstruiert er ein Verwandtschaftsverhältnis, um dem politischen Verrat die Konnotation eines religiös-familiären Verrats hinzuzufügen und ihn dadurch drastischer wirken zu lassen.72 Auch Nazmi Sevgen zieht für seine Darstellung Stimmen aus Dersim heran, die ihm als wichtige Erkenntnisgrundlage gelten: Die schöne Natur verlängert die Lebensdauer. Deswegen leben in jedem Dorf Dersims viele Geschichten und mehrere Zeitalter. Man muss die Vergangenheit aus den Mündern dieser Alten hören. So fahren wir mit unserem Zuhören und unseren Nachforschungen fort.73

In diesem Sinn lässt Nazmi Sevgen einen Seyit aus Dersim zu Wort kommen, den er folgende Erklärung für die gewaltvollen Auseinandersetzungen und Unruhen abgeben lässt: Das [die traditionelle Rechtsordnung in Dersim, A.d.A.] sind schöne Dinge. Aber das ist nicht die Realität. In dem von überzeugten Zazas besiedelten Dersim fließt seit Jahrhunderten Blut und werden Fehden ausgetragen. Was ist der Grund dafür? Der alte Seyit, der sich über seinen Bart streicht und nachdenkt, gibt Antwort: – Die eigentlichen Lehren und tatsächlichen Vorschriften der Bruderschaft gehen verloren und sind in Auflösung begriffen. Sie hören nicht auf uns, was sollen wir machen? …74

Der alevitische Geistliche wird als ein Greis dargestellt, der das alte, überkommene System repräsentiert und eine Bankrotterklärung hinsichtlich seiner Autorität und des von ihm vertretenen Glaubenssystems abgibt. Er bestätigt den Autoritätsverlust der alevitischen Geistlichen Dersims, die der türkische staatliche Diskurs auf die korrumpierten Glaubensvorstellungen zurückführt. Der Geistliche zeigt sich angesichts des Zustands resigniert, den der staatliche Diskurs durch die systematische Diskreditierung der Seyits schuf. Zudem wird der Eindruck erweckt, als richte er die Frage zurück an die Fragenden, als würde er ratlos und überfordert um Hilfe bitten.

72 Margalit (2012, 13–5). 73 „Dersim, yüzlükler diyarıdır. Güzel tabiat, serazat bir hayat ömrü uzatıyor. Bunun için Dersim’in her köyünde birkaç tarih, birkaç devir yaşar. Geçmişleri bu ihtiyarların dilinden dinlemek lazımdır. İşte biz de yine bu dinlemelerimize, araştırmalarımıza devam ediyoruz.“, in: Sevgen (2003, 23). 74 „Bunlar güzel şeyler. Fakat realite bu değildir. Koyu ZAZALAR’la meskûn olan DERSİM’de asırlardan beri kan akıtılmakta, kan davaları güdülmektedir. Buna sebep nedir? İhtiyar seyyit, sakalını sıvazlayarak, düşünerek size cevap verir: – Tarikatın asıl akideleri ve hakiki hükümleri bozulmuştur, inhilâl vardır. Bizi dinlemiyorlar, ne yapalım? …“, in: Sevgen (2003, 180).

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Von einem der wichtigsten Naturheiligtümer und Pilgerorte in Dersim, dem Berg Sultan Baba, heißt es in der regionalen mündlichen Überlieferung, er könne, wenn Feinde angreifen würden, Geschoße abfeuern, die sich wie Kanonenkugeln anhören würden. Eben dieses Motiv greift auch Nazmi Sevgen auf und versucht es sinnvoll in seine Konstruktion der Herkunft der Zazas einzubauen: Wenn sie den Leuten in Dersim zuhören, werden sie ihnen erzählen, während sie auf die gegenüberliegende schneebedeckte Spitze des Tacik Baba zeigen, dass dort Celaleddin Harzem begraben liege, dass von dort, zu der Zeit, als der Staat den Krieg begann, Geräusche wie von Kanonenkugeln zu hören gewesen seien, dass dies damals das Zeichen für den Kriegsausbruch und im Laufe des Kriegs das Zeichen für den Sieg gewesen sei und dass diese Geräusche auch 1877, als der Türkisch-Russische Krieg und auch als der Große Krieg ausgerufen wurde, zu hören gewesen seien und dass sie Dojik Baba als einen heiligen Ort ansehen. Dabei fügen sie hinzu, sie seien die Nachfahren von Celaleddin Harzemşah und aus Chorasan hierhergekommen. Auf jeden Fall ist es am besten, die historische Recherche auf dieser Basis zu führen, indem man der Sprache dieser Leute zuhört, die eine Übersetzung der Sprache der Wahrhaftigkeit ist.75

Explizit stellt Nazmi Sevgen hier die Bedeutung mündlicher Aussagen heraus, die als authentisches Wissen wertgeschätzt werden sollten. Nazmi Sevgen zieht für seine Argumentation die Erzählungen aus der Gegend um den Tujik-Berg heran, indem er aus der oralen Religion den Glauben an die Widerstandskräfte des Bergs und seiner Kriegernatur mit seinen Vorstellungen von der Abstammung der Bevölkerung Dersims von den Turkmenen verbindet. Anhand einer etymologischen Herleitung versucht Sevgen das fortan gültige Wissen über den Berg wissenschaftlich zu legitimieren. In Ableitung des Begriffs Dojik/Dujik aus der mündlichen Überlieferung „der auf den ersten Blick wie ein fremder Name wirken könnte“, vergibt er als die eigentliche Bezeichnung des Bergs den Begriff Tacik, womit nach ihm Muslime und gleichsam der Prozess der Islamisierung Anatoliens bezeichnet worden seien. Der Einfluss Taciks hätte sich bis nach Dersim erstreckt und daher bezieht Sevgen die Bezeichnung Tacik Baba auf Celaleddin Harzemşah, der aus der türkischstämmigen, muslimischen Dynastie der Anuschteginiden stammte und von dem über-

75 „Dersim’de halkı dinlerseniz; size karşıdaki beyazlara bürünmüş tepesiyle Tacik Baba’yı göstererek, orada Celâleddini Harzemi’nin yatmakta olduğunu, devletin harbe başlayacağı zaman buradan. top sesine benzeyen bir uğultunun geldiğini, bunu o zaman ilanı harbe, harp esnasında da zafere nişane olduğunu, 1877 Türk-Rus harbile büyük harbin ilanı zamanında bunu aynen duyduklarını söyler ve Dojik Baba’yı mukaddes bir yer diye tanırlar. Bununla beraber kendilerinin Celâleddini Harzemşah’ın ahfadı olduklarını, buralara Horasan’dan göç ederek geldiklerini de ilâve ederler. Şu halde hakkın lisanına tercüman olan bu halk dilini dinlemek, tarihi tetkikatı bu esas üzerinde yürütmek her halde en müsbet bir yoldur.“, in: Sevgen (2003, 24).

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liefert ist, dass sein Sterbeort im Silvan-Gebirge gelegen habe.76 Durch diese autoritäre Geste spricht er den mündlich überlieferten Bezeichnungen Dojik Baba und Sultan Baba ihre Gültigkeit ab und setzt stattdessen als ursprüngliche Bezeichnung Tacik Baba ein, um somit überkommenes Wissen durch neues zu korrigieren. Als weitere Strategie, um dieses neue Wissen einzusetzen, präsentiert er es als lokales, mündlich überliefertes Wissen. Es sei authentisches, von den Bewohnern aus Dersim überliefertes Wissen, denen er somit den Beweis für ihren türkischen Ursprung in den Mund legt.77 Auch die Fremd- und Eigenbezeichnungen der lokalen Bevölkerung für die Zuwanderer zieht er unterstützend für seine Nachweisführung heran und stellt heraus, dass die lokale christliche Bevölkerung den aus Chorasan einwandernden Gruppen den Namen Tacik gegeben habe.78 In seinen Ausführungen bezieht sich Sevgen auf seinen „geschätzten Lehrmeister und Freund Professor Hasan Reşit Tankut“, den er wiederholt ausführlich zitiert. Indem er an das Wissen von Hasan Reşit Tankut anknüpft, bestätigt, verstetigt und konventionalisiert er dieses. Zudem legitimiert Nazmi Sevgen dadurch sein eigenes Wissen.79 Hasan Reşit Tankut hatte sich in seinen Studien über Toponymik auch für den Berg bei dem Dorf Ağdad interessiert, dessen Namen und Bedeutung er allerdings anders erklärt als sein Schüler Nazmi Sevgen: Der Gipfel Ağdad in der großen und massiven Bergkette ist ein Sturm- und Gewitterzentrum, an dem sich die Wolken sammeln. Oft schlagen dort Blitze ein. Die tiefen Täler der Umgebung sind alle Salzlagerstätten. In den sich über Ağdad bildenden Wolkenfetzen, rosarot wie ein Rosenblatt, sogar in den feinen, verbirgt sich ein großer und furchterregender Gewitterteufel. Auch die Sumerer haben der Gewittergöttin denselben Namen gegeben.80

Wie für seine Interpretation der Munzurquelle ist auch hinsichtlich des AğdatBergs die Annahme für Hasan Reşit Tankut ausschlaggebend, dass sich die gegenwärtigen rudimentären Glaubensvorstellungen und -praktiken in Dersim auf die sumerische Religion zurückführen lassen. Zentral ist in seiner Erklärung wiederum ein vergöttlichtes Naturphänomen, in diesem Fall die sich in Wolken

76 Bosworth (2008, 404–5). 77 Sevgen (2003, 24, 188–90). 78 Sevgen (2003, 188). 79 Sevgen (2003, 160). 80 „Ağdad tepesi büyük ve esaslı bir dağ kümesinin içinde bulut toplayan bir bora ve fırtına merkezidir. Başında sık sık yıldırım sağılır ve şimşek çakar. Çevresindeki derin dereler hep sel yatağıdırlar. Ağdad’ın üzerine beliren, gül yaprağı gibi pembe, narin her bulut parçasının içinde bile, büyük ve korkunç bir fırtınanın şeytanı gizlidir. Sümerliler de fırtına tanrısına aynı adı vermişlerdir.“, in: Tankut (1936b, 11).

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hüllenden, heftigen Gewitterstürme an dem Berg. Die den Berg betreffende Tradition stellt er in Zusammenhang mit der Verehrung des Sturmgotts Adad, von welchem er wiederum den Namen des Dorfs Ağdat herleitet. Zwar übernimmt Nazmi Sevgen diese etymologische Herleitung von Hasan Reşit Tankut in Ergänzung zu seinen Erläuterungen über die orale Überlieferung zu Tacik Baba, allerdings deutet er den kriegerischen Charakterzug der Gewittergottheit, die ihren Sitz auf der Bergspitze hat, fundamental um: Bei den Sumerern stand Adad stellvertretend gleichsam für Orkane, Gewitter und furchtbare Angriffe. Die schrecklichen Gewitter von Dersim brachen auch an dem im Osten des Dorfs Ağdat gelegenen Gipfel des Tacikbaba los. Wann immer von dem Tacikbaba in Dersim Gewittergeräusche zu hören waren, die Kanonendonner glichen, glaubte man, das sei ein Zeichen dafür, dass der Staat in den Krieg ziehen würde und falls der Staat sich im Krieg befand, dass es ein Zeichen für den Sieg sei.81

Entsprechend dem Glauben an die Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht des Bergs als dem Ort der Manifestation des Sturm- und Gewittergottes spricht der Autor in dieser Wendung dem Berg die Macht, die ihn in den Verlauf des Geschehens eingreifen lässt, zu. Jedoch übergeht er den Glauben der lokalen Bevölkerung an diese metaphysische, verborgene Macht und ihre Manifestationen in Donnergeräuschen als Siegeszeichen nicht völlig, sondern nimmt diese Vorstellung auf. Indem er sie auf die legitime, offenbare, weltliche Macht des Staats überträgt, lässt der Berg den Kanonendonner nicht als das Siegeszeichen seiner Schützlinge, sondern als Siegeszeichen des Staats hören. Somit stützt Nazmi Sevgen die Thesen der zentralasiatischen Herkunft und der türkischen Abstammung der Bevölkerung in Dersim mit ihrer Loyalität zur türkischen Staatsmacht. Als Vorsitzender der „Türkischen Sprach- und Geschichtsgesellschaft“ berief sich Nazmi Sevgen auf seinen Lehrer und Begründer der Sonnensprachtheorie Hasan Reşit Tankut. In Anknüpfung an den Leugnungsdiskurs stellte er in der Geschichte von Dersim die Kollaboration der alevitischen mit der armenischen Bevölkerung im Ersten Weltkrieg heraus, die ihm als Rechtfertigung für die darauffolgenden Gewaltverbrechen dient. Die Geschichten zu den Pilgerorten aus der mündlichen Tradition in Dersim nimmt Nazmi Sevgen zwar auf, aber nur, um sie machtkonform umzudeuten und zu korrigieren. Durch die gezielte Einflechtung des staatlichen Narrativs in die mündliche Tradition erscheint

81 „Sumerde, Adad, tıpkı orkan gibi fırtınaya ve korkunç hamlelerle müekkeldi. Dersim’in korkunç fırtınaları da Ağdat köyünün şarkındaki Tacikbaba tepesinden patlar. Dersimli Tacikbaba’dan top uğultularına benzeyen fırtınalı sesler geldiği zaman, bunun devletin harbe gireceğine, şayet devlet harp halinde ise zafere işaret ettiğini inanır.“, in: Sevgen (2003, 189).

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es, als wendete sich der Widerstand der lokalen Bevölkerung Dersims, den sie der oralen Überlieferung zufolge mithilfe der lokalen Schutzheiligen und Naturgewalten Angreifern von außen entgegensetzte, nicht gegen den Staat, sondern als werde dieser im Interesse der türkischen Nation ausgefochten. Aus der Rekonstruktion des kemalistischen Diskurses über Dersim wird ersichtlich, dass er sich an der wissenschaftlichen Wissensproduktion von westlichen Orientalisten, insbesondere Linguisten und Anthropologen, orientierte, die er inhaltlich grundlegend zu dementieren und mit einem neuen Wissen zur Konstituierung der türkischen nationalen Gemeinschaft zu ersetzen versuchte. Im Anschluß an Ziya Gökalp, Baha Said Bey und Habil Adem weist er Kontinuitäten zum jungtürkischen und frührepublikanischen Diskurs auf. Der spezifisch auf Dersim fokussierte Diskurs konstituiert sich aus den Diskurssträngen über „Krypto-Armenier“, „Aleviten“ und „Bergtürken“, in denen er das Andere, das wilde Außen in Dersim verortet. Um die eigene kollektive Identität zu konstruieren, bleiben die kemalistischen Darstellungen über Dersim weitestgehend selbstbezogen und sind als Ausdruck des eigenen Imaginären zu verstehen. Im Unterschied zum Selbstbild verdichtet der Diskurs das Ambivalente in Orten, Gegenständen und Figuren der regionalen oralen Traditionen aus Dersim, die sich nicht widerspruchsfrei in die Wissensproduktion um das historische Werden der türkischen Nation integrieren lassen sollen. Die Zuschreibungen von Ambivalenz folgen einem Legitimationsmuster für die staatliche Gewalt. Demnach gilt die Vernichtung von Leben, das als unzuverlässig und unzulässig codiert wird, als unabdingbare Voraussetzung, um die Vision eines neuen Lebens in der Republik realisieren zu können. Besonders richtet sich die vernichtende Kritik gegen die traditionellen Autoritäten der Aleviten und gegen die Armenier, die der Diskurs als Konkurrenz zum staatlichen Machtanspruch exponiert. Um das neue Herrschaftswissen zu authentifizieren, nimmt der Diskurs regionale orale Traditionen formal auf, die er semantisch jedoch verwirft. Das korrigierte Wissen über Dersim wirkt bis heute machtvoll fort, selbst unter der Bevölkerung von Dersim.

6.2 Dersim in der links-militanten Wissensproduktion Dieser Abschnitt untersucht, welches Wissen über Dersim in den links-militanten Organisationen der „Arbeiter- und Bauern-Befreiungsarmee der Türkei“ (türk.: Türkiye İşçi Köylü Kurtuluş Ordusu, TİKKO) und der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (kurd.: Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) diskursiv entworfen wurde, welche Differenzkonstruktionen sich herausbildeten und an welche Diskurse diese Wissensproduktion anschloss. Insbesondere widmet sich die Untersu-

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chung im Folgenden der Frage, welche Bedeutung die Anführer der TİKKO, İbrahim Kaypakkaya und der PKK, Abdullah Öcalan, der modernen Gewaltgeschichte in der Türkei, insbesondere dem Genozid an den Armeniern 1915 und den staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 beimaßen. Somit soll beleuchtet werden, inwieweit die jeweiligen Geschichtsbilder für die beiden Organisationen handlungsleitend sind und wie diese damit ihre eigene Gewaltanwendung legitimieren und Unterstützung mobilisieren.

6.2.1 Die Genese der Wissensproduktion über staatliche Gewalt in der türkischen Linken Einleitend soll die Auseinandersetzung der revolutionären linken Bewegungen in der Türkei mit der Gewaltgeschichte der jungtürkischen und kemalistischen Zeit kritisch beleuchtet werden. Wie alle politischen Diskurse in der modernen Türkei knüpfte auch der linke an den jungtürkischen, sowie an den kemalistischen Diskurs an, wodurch sie den türkischen Nationalismus verstetigten.82 Als ihr historischer Ursprung gilt den türkischen linken Organisationen die 1920 in Baku von Mustafa Suphi (1882–1921) gegründete „Kommunistische Partei der Türkei“ (türk.: Türkiye Komünist Partisi, TKP). Den bedeutenden Beitrag der nicht-türkischen, nicht-muslimischen Oppositionellen zur Genese der linken Bewegung in der Türkei lassen sie in ihrer Geschichtsschreibung unberücksichtigt, insbesondere den der armenischen Revolutionäre, die 1887 die erste marxistische Partei in der Türkei, die „Sozialdemokratische Huntschak-Partei“ gründeten.83 Innerhalb der türkischen revolutionären linken Bewegungen überwog lange Zeit ungebrochen der Leugnungsdiskurs zum Genozid an den Armeniern.84 Die Kommunistische Partei verschwieg nicht nur den Genozid an den Armeniern, sondern auch die andauernde Verfolgung der armenischen Überlebenden und ihrer Nachkommen in der Türkei.85 Ab 1965 war die neugegründete „Türkische Arbeiterpartei“ (türk.: Türkiye İşçi Partisi, TİP) im türkischen Parlament

82 Türkmen (2015, 7). 83 Ter Minassian (1973, 536–607); Türkmen (2015, 7–9). 84 Im Anschluss an das hegemoniale Argument zur Leugnung und Legitimation stellen linke Diskurse in Schuldumkehr die Armenier als aufständische Rebellen und somit als Ursache ihrer eigenen Verfolgung dar. Armenier, Griechen und syrische Christen galten dementsprechend als Verbündete der Kolonialmächte im Machtkampf um das Osmanische Reich, Cheterian (2015, 17). 85 Das galt insbesondere auch für armenische Parteimitglieder, deren tatsächliche Namen hinter ihren türkischen Decknamen nicht zu erkennen waren. Das Verschweigen des Genozids und die „Selbst-Verleugnung“ armenischer Mitglieder der Kommunistischen Partei blieb dabei nicht nur auf die Türkei beschränkt, sondern bestimmte auch den Diskurs auf internationalen Treffen in Moskau, siehe: Cheterian (2015, 16–7).

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vertreten.86 In der Folge bildeten sich eine Vielzahl sozialistischer, marxistischer, legaler und illegaler Organisationen und Parteien heraus, darunter auch Studentenbewegungen, die sich an den Universitäten in den urbanen Zentren der Türkei organisierten.87 Diese türkischen linken Organisationen blieben der kemalistischen Tradition verhaftet und befürworteten die Militärpolitik der 1960er Jahre als eine oppositionelle, anti-kapitalistische und revolutionäre Kraft.88 Die türkische linke Bewegung erfuhr von den späten 1960er Jahren an eine breite Unterstützung vonseiten alevitischer Türken und Kurden, im Unterschied zu der erst allmählich zunehmenden Unterstützung vonseiten sunnitischer Kurden.89 Der Anschluss großer Teile der Bevölkerung Dersims an Ideologien der türkischen Linken in kemalistischer Tradition ist angesichts des Genozid an den Armeniern und den staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 erklärungsbedürftig, weshalb dieser Prozess im Folgenden näher in den Blick genommen wird.90

6.2.2 Dersim im Diskurs von İbrahim Kaypakkaya und der TİKKO: „’38 ist eine Wunde in unserem Inneren“ Den Slogan „’38 ist eine Wunde in unserem Inneren“ (zaza: Hirisu heşt zere ma de kergane) verbreitete die TİKKO auf Flugbättern, die 1992 im Landkreis Ovacık

86 In der Nachkriegszeit bildeten sich innerhalb des türkischen Militärs verschiedene ideologische Lager heraus. Neben der pan-turanistischen entstand auch eine kommunistische Clique. Mit dem Putsch von 1960 begann das türkische Militär über seine Rolle als staatliche Streitkraft hinaus auch als politischer Akteur entscheidenden Einfluss auszuüben. Das bewirkte, dass in der neuen Verfassung von 1961 die Institutionalisierung einer linken Opposition ermöglicht wurde, siehe: Göner (2017, 99–101). 87 Jongerden (2012a, § 11). 88 Jongerden (2012a, § 13–4). 89 Die Unterstützung Atatürks von der linksrevolutionären Bewegung wird in der Forschung zumeist mit den alevitischen Hoffnungen auf ein laizistisches Ordnungssystem in der Republik begründet, die auch zur Erklärung der anfänglichen alevitischen Unterstützung des kemalistischen „Befreiungskampfs“ dienen. Markus Dreßler leitet die religiöse Interpretation Atatürks bei einer Gruppe staatsloyaler Aleviten von ihrer Erwartung des Mehdi und ihrer „charismaloyalen Grunddisposition“ in der Kızılbaş-Tradition her. Dreßler (2002, 17, 114−22). 90 Hinsichtlich der Verehrung, die manche Aleviten Kemal Atatürk als Mehdi und „Befreier“ von der osmanischen Unterdrückung entgegenbrachten, weist Markus Dreßler darauf hin, dass die Bevölkerung Dersims infolge der Vernichtung in Dersim 1938 eine Ausnahme darstelle, siehe: Dreßler (2002, 186, 227–8). Siehe auch den Überblick über die gegensätzlichen Darstellungen darüber, wie sich die Bevölkerung Dersims gegenüber dem Staat positionierte, nach alevitischer Geschichtsschreibung, aus türkisch-nationalistischer als auch aus kurdisch-nationalistischer Perspektive, in: Dreßler (2002, 219).

6.2 Dersim in der links-militanten Wissensproduktion

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in Tunceli verteilt wurden. Vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte von İbrahim Kaypakkaya, dem Begründer der TİKKO, werden im Folgenden seine Texte in Hinsicht darauf analysiert, welches Geschichtsbild er darin entwirft, welche Bedeutung er staatlicher Gewalt beimisst, wie er oppositionelle Gewaltanwendung legitimiert und welches Bild von Dersim er darüber vermittelt. İbrahim Kaypakkaya wurde 1949 in der Provinz Çorum an der Schwarzmeerküste, im Kreis Alaca im Dorf Karakaya geboren. Sein Vater, Ali Kaypakkaya, stammte aus einer der alevitischen Familien, die als Teil der staatlichen Gewaltmaßnahmen 1938 von Tunceli nach Çorum zwangsdeportiert worden waren.91 In seiner Jugend in Çorum begann İbrahim Kaypakkaya politische Zeitungen und Magazine in den Dörfern der umliegenden Umgebung zu verteilen.92 Während seines Philosophiestudiums an der Istanbul Universität und seines Studiums an der Pädagogischen Hochschule in Çapa, Istanbul (türk.: Çapa Yüksek Öğretmen Okulu) war er 1967 Mitbegründer einer Zweigstelle des „Studenten-Debattierclubs“ (türk.: Fikir Kulüpleri Federasyonu, FKF). Im selben Jahr wurde er Mitglied der „Revolutionären Arbeiter- und Bauernpartei der Türkei“ (türk. Türkiye İhtilâlci İşçi Köylü Partisi, TİİKP), eine der maoistisch- kommunistischen Parteien, wie auch die „Proletarische Revolutionäre Intellektuelle“ (türk. Proleter Devrimci Aydınlık, PDA), die sich infolge der maoistischen Kulturrevolution gebildet hatten und sich als anti-imperialistisch verstanden, wobei sie in der türkisch-nationalistischen Tradition standen.93 Die meisten Parteimitglieder waren Studenten aus dem städtischen Bildungsbürgertum, die mehrere Sprachen beherrschten. Nur wenige stammten wie İbrahim Kaypakkaya aus bildungsfernen Verhältnissen aus den Provinzen im Osten der Türkei. İbrahim Kaypakkaya las intensiv die übersetzten Werke von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao und schrieb für die Zeitschriften Aydınlık, Türk Solu und İşçi Köylü.94 Für die TİİKP war İbrahim Kaypakkaya zwischen Mai und Juli 1971 als Beauftragter des „Komitees der Gebiete in Ost- und Südostanatolien“ (türk. Doğu ve Güneydoğu Anadolu Bölge Komitesi, DABK) in Çorum, danach in Malatya, Tunceli und Gaziantep unterwegs, wovon seine Berichte über Çorum und Kürecik in Malatya zeugen.95 Es kam zu einem Zerwürfnis zwischen der TİİKP und

91 Türkmen (2015, 11); Demir (2010a). 92 Çağdaş Ses, 8. 5. 2016. 93 Bozarslan (2015, 541). 94 Oruçoğlu (2006, 137–40). 95 Türkmen (2015, 12). Der Bericht „Analyse der Klassen in der Provinz Çorum“ (türk. Çorum İlinde Sınıfların Tahlili) erschien in Proleter Devrimci Aydınlık im April 1971, (Nachdruck in: Direhşan [1997, 151–82]) und der „Bericht über das Gebiet Kürecik“ (türk. Kürecik Bölge Raporu) erschien im Oktober 1971 (Nachdruck in: Direhşan [1997, 188–208]).

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6 Der hegemoniale Leugnungsdiskurs zu moderner Gewalt in Dersim

İbrahim Kaypakkaya, der dem Parteivorstand Opportunismus und Revisionismus vorwarf, sodass sich İbrahim Kaypakkaya 1971 von der Partei trennte. Am 24. April 1972 gründete İbrahim Kaypakkaya die „Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch“ (türk. Türkiye Komünist Partisi/ Marksist-Leninist, TKP/ML) als eine marxistisch-leninistisch-maoistische Partei und als dessen militanten Arm die „Arbeiter und Bauern-Befreiungsarmee“ (türk. Türkiye İşçi ve Köylü Kurtuluş Ordusu, TİKKO) in Kürecik, in der Provinz Malatya. Die Organisation setzte sich aus fünfzehn Kadern, zwanzig Sympathisanten und sieben Koordinatoren zusammen, die in Istanbul, Siverek, und vor allem in Tunceli aktiv waren.96 Am 26. Januar 1973 hielten sich der aus Tunceli stammende TİKKO-Kommandant Ali Haydar Yıldız, der aus Kars stammende Muzaffer Oruçoğlu und İbrahim Kaypakkaya in Tunceli im Kreis Çemişgezek im Dorf Vartenik versteckt, wo sie vom türkischen Militär angegriffen wurden. Muzaffer Oruçoğlu konnte entfliehen, Ali Haydar Yıldız wurde erschossen und İbrahim Kaypakkaya gelang schwer verwundet die Flucht. Nach fünf Tagen wurde er gefasst und von Tunceli aus in das Militärgefängnis von Diyarbakır gebracht, wo ihn nach monatelanger Folter schließlich am 18. Mai 1973 einer seiner Peiniger erschoss. Das Militär händigte dem Vater, Ali Kaypakkaya, den geschundenen Leichnam seines Sohnes aus. Ali Kaypakkaya überführte die Überreste seines Sohns nach Çorum, wo der Zugang zu seinem Grab in Karakaya bis heute von der türkischen Polizei überwacht wird. Ein Bericht des türkischen „Nationalen Sicherheitsdienstes“ (türk.: Milli İstihbarat Teşkilatı, MİT) bezeichnete das von İbrahim Kaypakkaya verbreitete Wissen als die ernsthafteste Gefährdung für das herrschende politische System: Im kommunistischen Kampf in der Türkei sind die Gedanken von Kaypakkaya jetzt die gefährlichsten für das Volk. Über die in seinen Schriften vertretenen Ansichten und vorgesehenen Kampfmethoden können wir ohne zu zögern sagen, dass sie die Umsetzung des revolutionären Kommunismus in der Türkei bedeuten.97

Es stellt sich die Frage, inwieweit İbrahim Kaypakkaya seine Gesellschaftsanalyse und Machtkritik in Zusammenhang mit der modernen Gewaltgeschichte der Türkei setzte. In dieser Hinsicht soll auch beleuchtet werden, warum die TİKKO Dersim als den Ausgangspunkt der von ihr angestrebten Revolution auswählte. Die Ideologie İbrahim Kaypakkayas unterschied sich von der türkischen

96 Direhşan (1997, 29). 97 „Türkiye’de komünist mücadele şimdi halka en tehlikeli olan Kaypakkaya’nın fikirleridir. Onun yazılarında sunduğu görüşler ve öngördüğü mücadele metodları için hiç çekinmeden ihtilalci komünizmin Türkiye’ye uygulanması diyebiliriz.“, in: Direhşan (1997, 8).

6.2 Dersim in der links-militanten Wissensproduktion

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linken Bewegung insbesondere dadurch, dass er erstmals eine fundamentale Kritik am Kemalismus äußerte: „Die kemalistische Diktatur ist angeblich demokratisch, tatsächlich ist sie eine militärische, faschistische Diktatur.“ 98 Seine Ablehnung des Kemalismus stellte schließlich den Grund für seine Trennung von der TİİKP dar, der er eine unreflektiert nationalistische Haltung vorwarf, aufgrund derer sie in kemalistischer Tradition die Revolution als nationalen Kampf gegen die Bourgeoisie auffasse. Die Kritik, die Kaypakkaya am Kemalismus übte, basierte auf seiner Analyse der Geschichte der modernen Türkei.99 Hinsichtlich der kurdischen Frage forderte İbrahim Kaypakkaya, die „nationale Geschichte“ seit dem Ende des Osmanischen Reichs von der Gewalt gegen die nationalen Minderheiten der Armenier und Kurden her zu lesen.100 Für die Gewalt der türkischen Gesellschaft, die sie gegen die nationalen Minderheiten ausübte, verwandte İbrahim Kaypakkaya den Begriff „nationaler Druck“ (türk.: milli baskı): Auf wen wird der nationale Druck ausgeübt? (…) Der nationale Druck in der Türkei ist ein Druck, der von den dominanten Klassen der herrschenden türkischen Nation nicht nur auf das kurdische Volk, sondern auf die ganze kurdische Nation, und auch nicht nur auf die kurdische Nation, sondern auf alle Angehörigen nationaler Minderheiten ausgeübt wird.101

Vor einem marxistischen Deutungsmuster erklärt İbrahim Kaypakkaya Gewalt und Unterdrückung als Klassenkampf und betont die Bedeutung der nationalistischen Ideologie, die sich mit dem aufkommenden Kapitalismus verbreitet habe und sich in der Türkei in der Dominanz der „türkischen Nation“ äußere. Die türkisch-nationalistische Herrschaft lehnte er als rassistischen Faschismus ab, der mithilfe von Historiographie und Sprachpolitik danach strebe, andere historische und kulturelle Identitäten auszulöschen: Die kemalistische Diktatur hat begonnen, den türkischen Chauvinismus zu entfachen. Indem sie die Geschichte von Neuem schreibt, hat sie rassistische und faschistische Theorien der Art eingeführt, dass alle nationalen Gruppen von den Türken abstammen würden. Die Geschichte der anderen nationalen Minderheiten ist vollständig aus den Büchern

98 „Kemalist diktatörlük, sözde demokratik, gerçekte askeri faşist bir diktatörlüktür.“, in: Kaypakkaya (2004, 138). 99 Bozarslan (2012, § 26). 100 Bozarslan (2015, 542). 101 „Milli Baskı Kime Uygulanıyor? (…) Türkiye’de milli baskı, hakim Türk milletinin hakim sınıflarının, sadece Kürt halkına değil, bütün Kürt milletine, sadece Kürt milletine de değil, bütün azınlık uyruk milliyetlere uyguladığı baskıdır.“, in: Kaypakkaya (2004, 258).

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gelöscht worden. Indem sie behauptete, dass alle Sprachen aus dem Türkischen geboren seien, hat sie den Unsinn der Sonnensprachtheorie verbreitet. Chauvinistische Slogans der Art „Ein Türke ist die Welt wert“, „Glücklich, wer sich Türke nennt“ hat sie in allen Ecken des Landes, in allen Schulen, allen Kreisen, überall, verbreitet.102

Um den lokalen Widerstand gegen die staatliche Gewalt 1938 in Dersim hervorzuheben, ordnet er das Ereignis in den Deutungsrahmen einer Reihe kurdischer Aufstände ein. Auch innerhalb der Grenzen der Türkei, die in den Lausanner Verträgen festgelegt worden waren, hat sich die kurdische nationale Bewegung fortgesetzt. Von Zeit zu Zeit gab es Aufstände. Die wichtigsten waren der Scheich-Said-Aufstand 1925, der Ararat-Aufstand 1928, der Zilan-Aufstand 1930 und der Dersim-Aufstand 1938. Neben ihrem „nationalen“ Charakter tragen diese Aufstände auch einen feudalen Charakter. Als die bis dahin souveränen Feudalherren ihre Souveränität durch die zentralistische Autorität gefährdet sahen, haben sie diese Autorität bekämpft.103

Wie er weiter argumentiert, habe sich die Mehrheit der Bewohner der kurdischen Dörfer nicht an dem Aufstand der kurdischen Feudalherren und der Bourgeoisie beteiligt, weil sie dem erbarmungslosen nationalen Druck (türk.: amansız milli baskı) ausgesetzt gewesen seien. Kaypakkaya zufolge wende sich der nationale Druck gegen alle Klassen einer nationalen Gruppe, um diese mit Gewalt zu terrorisieren und führe über deren komplette Entrechtung schließlich zum Genozid: Der von der Bourgeoisie und den Landeigentümern der souveränen Nation für den „Markt“, von der souveränen Bürokratie zu „Kastenzwecken“ ausgeübte nationale Druck erstreckt sich bis auf den Entzug demokratischer Rechte bis hin zum Massenmord (also Genozid = Völkermord). In der Türkei gibt es mehrere Fälle von Genozid.104

102 „Kemalist diktatörlük, Türk şovenismini körüklemeye girişti. Tarihi yeni baştan kaleme alarak, bütün milletlerin Türklerden türediği şeklinde ırkçı ve faşist teoriyi piyasaya sürdü. Diğer azınlık milliyetlerin tarihini, kitaplardan tamamen sildi. Bütün dillerin Türkçeden doğduğu şeklindeki Güneş Dil Teorisi safsatasını yaydı. ‚Bir Türk dünyaya bedeldir‘, ‚Ne mutlu Türküm diyene‘ cinsinden şovenist sloganları ülkenin her köşesine, okullara, dairelere, her yere soktu.“, in: Kaypakkaya (2004, 206). 103 „Türkiye’nin Lozan Antlaşmasıyla tespit edilen sınırları içinde de Kürt milli hareketi devam 1928 Ağrı İsyanı, 1930 Zilan İsyanı ve 1938 Dersim İsyanıdır. Bu hareketlerinin ‚milli‘ karakterlerinin yanında, bir de feodal karakterleri vardır. O zamana kadar kendi başlarına hükümran olan feodal beyler, merkezi otoritenin bu hükümranlığı tehdit etmeye başlaması üzerine, bu otoriteyle çatışmışlardır.“, in: Kaypakkaya (2004, 281). 104 „Hakim ulusun burjuvasinin ve toprak ağalarının ‚pazar‘ için, hakim bürokrasinin ‚kast amaçları‘ için uyguladığı milli baskılar, demokratik hakların gaspına ve kitle katliamlarına (yani jenoside = soykırıma) kadar uzanır. Türkiye’de jenosidin de birçok örnekleri var.“, in: Kaypakkaya (2004, 266–7), (zuerst erschienen in Türkiye Milli Mesele, 1971).

6.2 Dersim in der links-militanten Wissensproduktion

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Weiter führt Kaypakkaya aus, dass die meisten der Bewegungen für nationale Selbstbestimmung mit dem Ende des Osmanischen Reichs in eigenständige Nationalstaaten oder multinationale Staaten übergingen. Unter den nationalen Bewegungen in der Türkei habe nur die kurdische noch nicht zu einer Staatsgründung geführt: Die kurdische nationale Bewegung: Die nationalen Bewegungen in der Türkei sind noch neu und bestehen auch nicht nur aus der kurdischen Bewegung. Noch bevor die osmanische Gesellschaft zerfiel, haben sie begonnen und sind bis heute fortgeführt worden. Bulgaren, Griechen, Ungarn, Albaner, Kurden, Armenier, Araber, Jugoslawen, Rumänen … Gegen das im osmanischen Staat herrschende türkische Volk haben sie sich wiederholt aufgelehnt, die Geschichte hat den nationalen Bewegungen, abgesehen von der kurdischen, eine deutliche Lösung gebracht. Dass es heute in den Grenzen der Türkei noch eine ungelöst gebliebene nationale Bewegung gibt, liegt an der natürlichen Tendenz, wonach immer Staaten zugunsten der nationalen Gemeinschaft gegründet wurden. Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts organisierten sie sich, durch die Abtrennung Osteuropas von der Türkei, in verschiedenen nationalen Staaten (oder innerhalb multinationaler Staaten), die 1915 und 1919–20 massenhaft ermordete und von ihren Ländereien vertriebene armenische Bewegung ausgenommen.105

Außerdem sei, so erläutert Kaypakkaya hier, die armenische Bewegung von der nationalstaatlichen Lösung ausgeschlossen worden. Wenn er auch verdeutlicht, dass sich der Genozid gegen alle Mitglieder der armenischen Bevölkerungsgruppe richtete, so verschweigt er doch gleichzeitig die Täterschaft der kurdischen Bauern, da er sie ebenfalls zu den Opfergruppen des nationalen Drucks zählt. Unter der staatlichen Gewalt, die später zur Zeit der kemalistischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung verübt wurde, hebt er besonders den Massenmord in Dersim hervor: Die kemalistische Diktatur hat die nationalen Minderheiten, hat besonders das kurdische Volk, hat alle Völker verdrängt. Sie hat sie einer erzwungenen Türkisierung unterzogen.

105 „Kürt Milli Hareketi: Türkiye’deki milli hareketler henüz yeni ve sadece Kürt hareketinden ibaret de değildir. Daha Osmanlı toplumu çökmeden önce başlamış ve bugüne kadar devam edegelmiştir. Bulgarlar, Yunanlılar, Macarlar, Arnavutlar, Kürtler, Ermeniler, Araplar, Yugoslavlar, Romenler … Osmanlı devletinde hakim ulus olan Türk ulusuna karşı defalarca ayaklanmışlar, tarih, Kürt hareketin dışındaki milli hareketleri belli bir çözüme bağlamıştır. Bugün Türkiye sınırları içinde hâlâ bir çözüme bağlanmamış olan milli hareketin tabii eğilimi de, daima milli bütünlüğü olan devletlerin kurulması yönünde olmuştur. 19. yüzyılın sonunda ve 20. yüzyılın başında Doğu Avrupa’nın Türkiye’den koparak ayrı milli devletler içinde (veya çok milletli devletler içinde) örgütlenmişlerdir. 1915’de ve 1919–20’de kitle halinde katledilen ve topraklarından sürülen Ermenilerin hareketi müstesna.“, in: Kaypakkaya (2004, 279).

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Sie hat ihre Sprachen verboten. Die kurdisch nationale Bewegung, die sich von Zeit zu Zeit wehrt, hat sie in Zusammenarbeit mit manchen kurdischen Feudalen gewissenlos unterdrückt, hat danach massenhaft Morde verübt, hat Frauen und Männer, Kinder, Junge und Alte, Tausende Menschen umgebracht, hat mit der Einrichtung eines „militärischen Sperrgebiets“ und mit den Grausamkeiten des „Kriegsrechts“ das Leben für das kurdische Volk unerträglich gemacht. Allein die Zahl der nach dem Dersim-Aufstand ermordeten kurdischen Bauern liegt bei über 60.000.106

İbrahim Kaypakkaya ordnet somit die Vernichtung in Dersim 1938 in den Rahmen der gewaltsamen kemalistischen Politik gegen kurdische Aufstände ein. Die kemalistische Regierung habe den Aufstand der kurdischen Bewegung in Dersim mit einem Massenmord niedergeschlagen. Angesichts dieses Geschichtsbilds von Kaypakkaya stellt sich die Frage, inwiefern die Gründung der TİKKO als eine Reaktion auf die staatlichen Gewaltverbrechen von 1938 verstanden werden kann. Hinweise für eine solche Interpretation lassen sich darin finden, dass die meisten TİKKO-Gründungsmitglieder wie İbrahim Kaypakkaya aus Familien stammten, die 1938 aus Dersim zwangsdeportiert worden waren.107 Auch das Gründungsdatum der TİKKO, der 24. April 1972, kann als eine Referenz zum Genozid an den Armeniern verstanden werden, der am 24. April 1915 mit der Inhaftierung und Ermordung einflussreicher armenischer Intellektueller in Istanbul durch die jungtürkische Regierung begann. Vicken Cheterian bemerkt hierzu, dass sich der Diskurs der türkischen Linken erst zu Beginn der 1970er Jahre mit der Gründung der TİKKO gewandelt habe, insbesondere mit dessen Begründer „(…) İbrahim Kaypakkaya, who was among the first to put up the Armenian question on the agenda.“ 108 Muzaffer Oruçoğlu, einer der engsten Vertrauten İbrahim Kaypakkayas und einziger Überlebender der Militäroperation, verleiht dem Ort Vartenik in seiner Erinnerungserzählung, die er seinem gleichnamigen Aquarell beifügt, symbolische Bedeutung: Vartenik ist ein alter armenischer Siedlungsort. Zu unserer Zeit, also vor 44 Jahren, gab es in dem Tal bis auf die Grundmauern eingefallene armenische Ruinen. Auch der Schafstall, in dem wir unterkamen, war danach [nach dem Genozid 1915, A.d.A.] repariert wor-

106 „Kemalist diktatörlük, azınlık milliyetlerin, özellikle Kürt milletinin bütün haklarını gaspetti. Onları zorla Türkleştirmeye girişti. Dillerini yasakladı. Zaman zaman başgösteren Kürt milli hareketini, bazı Kürt feodalleriyle de el ele vererek insafsızca ezdi, peşinden kitle katliamlarına girişti, kadın erkek, çoluk çocuk, genç ihtiyar, binlerce insan katletti, ‚askeri yasak bölge‘ ilanlarıyla, ‚örfi idare‘ zorbalıklarıyla Kürt halkı için hayatı çekilmez hale getirdi. Sadece Dersim ayaklanmasından sonra katledilen Kürt köylülerinin sayısı 60.000’in üstündedir.“, in: Kaypakkaya (2004, 205). 107 Demir (2010a). 108 Cheterian (2015, 17–8).

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den, es war ein armenisches Haus, das mehr oder weniger in einen bewohnbaren Zustand gebracht worden war. Es ist bedeutsam, dass sich sowohl İbo, der über den Armenischen Genozid sprach, als auch Ali Haydar, der erste Guerilla aus Dersim, in diesem Haus aufhielten und dass sie unweit von diesem Haus in Richtung der armenischen Ruinen [von den Schüssen des Militärs, A.d.A.] getroffen wurden.109

Retrospektiv verbindet Muzaffer Oruçoğlu in seinem Erinnerungsbild den politischen Oppositionskampf der TİKKO mit der Gewaltgeschichte des Genozids 1915 und der Vernichtung in Dersim 1938. In der Betonung dieser zwei Gewaltereignisse unterscheidet sich das Geschichtsbild der TİKKO von dem der PKK. Aus den Erinnerungen ehemaliger TİKKO-Mitglieder wie Muzaffer Oruçoğlu geht hervor, dass in ihrer Wahrnehmung die Bevölkerung in Dersim durch die Gewalt, die sie erlitten hatte, in besonderer Weise geprägt war. In ihren Gesprächen mit den Bewohnern Dersims stellten die Gründungsmitglieder der TİKKO daher den Genozid an den Armeniern und die Gewaltverbrechen von 1938 in den Mittelpunkt. Später, 1992, als die PKK um Anhänger in Dersim warb, verteilte die TİKKO Flugblätter in Tunceli, auf denen in Zazaki Slogans unter der Bevölkerung verteilt wurden: „1938 ist eine Wunde in unserem Inneren. Der Tag wird kommen, an dem wir diese Wunde heilen werden.“ (zaza.: Hirisu heşt zere ma de kergane, roce yena na kergane berdane.) Auf diesen Flugblättern schrieb die TİKKO den staatlichen Gewaltverbrechen in der Region 1938 eine gemeinschaftsstiftende Funktion zu. Die Metapher einer „Wunde“ in „unserem“ Inneren oder Herzen evoziert die Vorstellung der Gemeinschaft als Körper, dem eine Verletzung zugefügt worden ist. Der Tempus Präsenz drückt die andauernde Zeitlichkeit der erlittenen Gewalt aus. Die weiterhin offen gebliebene Wunde soll, wie in der ersten Person Plural angekündigt, gemeinschaftlich in der Zukunft geheilt werden. Die Wiederherstellung der körperlichen Integrität in Reaktion auf die kollektive Gewalterfahrung gilt somit als handlungsweisend für die Zukunft. Diese Darstellung der TİKKO legitimiert die Gewaltanwendung gegen den Staat als Reaktion auf die erlittene Gewalt, weniger als eine Rachenahme, denn als Schutz der Opfer und als Verteidigung gegen weitere Gewalt. Die Aufzeichnungen İbrahim Kaypakkayas über Tunceli sind, nachdem sie dort zum Schutz vergraben wurden, verloren gegangen.110 İbrahim Kaypakkaya

109 „Vartenik, eski bir Ermeni yerleşim yeridir. Bizim zamanımızda, yani 44 yıl önce derede, temellerine kadar yıkılmış Ermeni harabeleri vardı. Kaldığımız köm de sonradan tamir edilmiş, iyi kötü oturulacak hale getirilmiş eski bir Ermeni eviydi. Gerek Ermeni Jenosidinden söz eden İbo’nun, gerekse Dersim’in ilk gerillası Ali Haydar’ın o evde kalışları ve o evin az ötesinde, Ermeni harabelerine doğru olan yönünde vuruluşları manidardır.“, in: Oruçoğlu (2016). 110 Die beiden von İbrahim Kaypakkaya veröffentlichten Berichte über Çorum und Kürecik zählen zu den vonseiten der linken Bewegung in der Türkei durchgeführten seltenen Feldfor-

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verbrachte als Leiter der TİKKO eine wichtige Phase seines politischen Wirkens in Dersim, wo er seine Politik theoretisch und praktisch radikalisierte. Muzaffer Oruçoğlu erinnert sich an die Beweggründe, weshalb er als TİKKO-Mitglied nach Dersim kam: (…) Auf den Vorschlag Kaypakkayas hin war ich heimlich nach Dersim gekommen, um Zuflucht zu suchen. Um in die Berge zu gehen, wartete ich auf die Schneeschmelze. In meinem Kopf gab es ein armes Volk, an dem ein Massaker verübt worden war, eine hochaufragende mächtige Gebirgskette und eine Gruppe, die die Hochschule verlassen hatte und in diese Berge gehen wollte.111

Als Gründe für ihre Entscheidung, nach Tunceli zu gehen, nennt Oruçoğlu die strategisch günstige Lage im Hochgebirge und die spezifischen Gewalterfahrungen der Bevölkerung. Er erinnert sich diesbezüglich an die Reaktionen der Bevölkerung, denen sie in der Anfangsphase der TİKKO-Aktivität in Dersim begegneten: Meinen Gedanken, dass es nötig sei, den alten Staat einzureißen und an dessen Stelle einen ganz neuen, einen revolutionären Staat zu gründen, begegneten sie mit Zweifeln. „Wenn doch ein Staat gegründet werden soll, was hat es dann für einen Sinn, den alten einzureißen?“ wandten sie ein.112

Diese ironische Frage basiert auf der Erfahrung der gewaltsamen Errichtung einer Staatsmacht in Dersim, die eine religiös legitimierte Gesellschaftsordnung ablöste. Nach dem Tod von İbrahim Kaypakkaya wandten sich Nachfolgegruppen der TİKKO und andere links-militante Organisationen auch gegen die Machtposition der religiösen Autoritäten in Dersim.113 Indem sie besonders gegen die Dede-Familien Gewalt ausübten und diese gezielt demütigten, trugen sie weiter zu deren Delegitimierung bei, die, wie oben gezeigt wurde, schon im

schungen und zeugen von der Bedeutung, die İbrahim Kaypakkaya empirischen Arbeiten beimaß. Bozarslan (2015, 545–6). 111 „(…) Kaypakkaya’nın önerisi üzerine gizlice gelip Dersim’e sığınmıştım. Dağa çıkmak için karların erinmesini bekliyordum. Kafamda, kırıma uğramış yoksul bir halk, diş diş yükselen hükümran dağlar ve liseden ayrılıp bu dağlara çıkmak isteyen bir grup deli fişek vardı.“, in: Oruçoğlu (2010, 99). 112 „Eski devleti yıkıp, yerinde yepyeni, devrimci bir devlet kurmamız gerektiğine ilişkin düşüncelerimi kuşkuyla karşıladılar. ‚Madem bir devlet kurulacak, eskiyi yıkmaya ne gerek var‘, diye karşı çıkanlar da oldu.“, in: Oruçoğlu (2010, 100). 113 Özlem Göner stellt heraus, dass ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre linke Gruppierungen in Tunceli alevitische Geistliche angriffen und Pilgerstätten zerstörten, die sie in Übereinstimmung mit dem staatlichen Diskurs als „falsche Pirs“ bekämpften, siehe: Göner (2017, 125).

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kemalistischen Diskurs zentrales Anliegen gewesen war.114 In Kongruenz zum kemalistischen Diskurs zielten diese linken Gewaltaktionen gegen die Dedes darauf, die traditionellen lokalen Autoritäten gewaltsam aus ihren Machtpositionen zu entfernen, um eine neue Gesellschaftsordnung verwirklichen zu können. Die Schriften von İbrahim Kaypakkaya, durch die der frühe Diskurs der TİKKO wesentlich geprägt wurde, sind von einer radikalen Ablehnung des Kemalismus als faschistischer Diktatur und den Unionisten als dessen Vorläufer gekennzeichnet. Im Unterschied zum Diskurs der türkischen Linken, richtet sich Kaypakkayas Kritik auf die jungtürkische und kemalistische Gewaltpolitik, die sich gegen die nicht-türkischen nationalen Gruppen, zuerst gegen die Armenier und anschließend gegen die Kurden, wandte. Mit seinem Verständnis der Rolle des „nationalen Drucks“ nimmt Kaypakkaya den gesamtgesellschaftlichen Charakter von Genozid in den Blick. Zugunsten seines Ideals der Revolution, die von den Bauern ausgehen sollte, blendet er dennoch die Täterschaft der kurdischen Bauern im Genozid an den Armeniern aus. Die Motivation für den bewaffneten Widerstand von İbrahim Kaypakkaya und den anderen TİKKO-Gründungsmitgliedern verweist auf deren Lebensläufe und auf die Bedeutung, die sie der intergenerationalen Transmission von Erinnerungen an die Gewalterfahrungen der armenischen und kurdischen Bevölkerungsgruppen beimaßen. Die militante Politik der TİKKO kann daher sowohl als eine Reaktion auf den Genozid an den Armeniern 1915, als auch auf die Vernichtung in Dersim 1938 verstanden werden. Der Leugnungsdiskurs zum Genozid an den Armeniern wird in der bisherigen Forschung lediglich in Verbindung zu den armenischen Anschlägen auf türkische Politiker in den 1980er Jahren gesetzt und dadurch dessen Ursprung in der armenischen Disapora exterritorialisiert. Diese Sicht impliziert vor allem, dass sie die Armenier in Schuldumkehr für den sich verhärtenden türkischen Leugnungsdiskurs verantwortlich erklärt. Sie basiert auf der Überzeugung, dass sich eine kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen an der Menschlichkeit gegen die Armenier nicht innerhalb der Türkei äußern würde. Auch wenn der Diskurs und der bewaffnete Widerstand von Kaypakkaya und der frühen TİKKO in Dersim nicht die Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Armeniern einforderten, so wandten sie sich doch gegen dessen Legitimation und Leugnung, sowie die anschließenden staatlichen Gewaltverbrechen in der Republik.

114 Die Seyits wurden beschuldigt, ihre religiöse Autorität auszunutzen, um die Laien zu betrügen und zu unterdrücken, vgl. Baran (2014, 179).

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6.2.3 Dersim im Diskurs: „Die letzte Burg des Widerstands“ der PKK Als „die letzte Burg des Widerstands“ (türk.: Son direniş kalesidir), bezeichnete Abdullah Öcalan die Region Dersim im Jahr 1997.115 Im Folgenden wird untersucht, inwiefern der frühe PKK-Diskurs hinsichtlich der staatlichen Gewaltverbrechen an den TİKKO-Diskurs anknüpfte, welche Bedeutung im PKK-Diskurs den religiösen Gruppen der syrischen Christen, Armenier und Aleviten zugeschrieben wird und welche Rolle Dersim im Geschichtsbild der PKK und in dem Projekt der radikalen Demokratie Abdullah Öcalans zukommt. In der Anfangsphase der Etablierung der PKK gestalteten sich die Beziehungen zwischen der PKK und anderen, bereits bestehenden links-militanten Gruppen generell schlecht. Das trifft besonders auf die Begegnung der TİKKO mit der PKK in Dersim zu.116 Dieses spannungsvolle Verhältnis führte jedoch nicht dazu, dass sich die PKK nicht in der Tradition der revolutionären türkischen Linken sehen würde, wie Joost Jongerden und Ahmet Hamdi Akkaya überzeugend argumentieren. „In spite of the critique of the Kurdistan Revolutionaries, and later the PKK, on the revolutionary left, they felt as being a part of them, sharing a common history and building upon common experiences (these of THKP-C (türk.: Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi, „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front“) and THKO (türk.: Türkiye Halk Kurtuluş Ordusu, „Volksbefreiungsarmee der Türkei“), and in a lesser extend TKP-ML/TİKKO) (personal communication with İbrahim Aydin, 30–12–2010).“ 117 Obwohl Joost Jongerden und Ahmet Hamdi Akkaya somit darauf hinweisen, dass sich die PKK in ihrem Selbstentwurf mehr mit der THKP-C (türk. Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi, „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front“) und THKO (türk.: Türkiye Halk Kurtuluş Ordusu, „Volksbefreiungsarmee der Türkei“), als mit der TİKKO verbunden fühlte, gehen sie auf diesen Umstand nicht näher ein.118 Abdullah Öcalan selbst fühlte sich dem Kreis der THKP-C als Sympathisant verbunden und, wie er sich erinnerte, knüpfte die PKK in der Zeit ihrer ideologischen und organisatorischen Genese an das Wissen der türkischen linken Organisationen, besonders der THKP-C und THKO, aber auch der TİKKO, an.119 Als die zwei hauptsächlichen Fehler der türkischen linken militanten Organisatio-

115 Med TV, 18. 11. 1997. 116 Bozarslan (2012, § 65). 117 Jongerden (2012a, § 17). 118 In einem früheren Aufsatz zu der Entwicklung der PKK aus der türkischen Linken lassen die Autoren die TİKKO unerwähnt, siehe: Jongerden (2011, 123–42). 119 Jongerden (2012a, § 23).

6.2 Dersim in der links-militanten Wissensproduktion

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nen identifizierte die PKK auf organisatorischer Ebene die übereilte bewaffnete Konfrontation mit dem Staat bei noch unzureichender organisatorischer Ausgereiftheit und auf ideologischer Ebene das Festhalten am kemalistischen Nationalismus.120 Der erste Kritikpunkt führte zu der strategischen Phase der „Intensivierung“ (türk.: yoğunlaşma), in der die Bewegung nicht in die Öffentlichkeit trat, bis sie nach elf Jahren schließlich, 1984, den bewaffnete Kampf aufnahm.121 Der zweite Kritikpunkt allerdings kann, wie bereits dargestellt, nicht auf die antikemalistische Ideologie der TİKKO angewandt werden. Es stellt sich also insbesondere in Hinsicht auf die Kritik am Kemalismus durch die TİKKO die Frage, wie in dem Diskurs von PKK und Abdullah Öcalan die Wissenstradition der TİKKO integriert wird. Diese Frage stellt sich umso mehr, da viele der Gründungsmitglieder und frühen Mitglieder der PKK aus Tunceli stammten beziehungsweise ihre Familien 1938 aus Dersim zwangsumgesiedelt worden waren (Ali Haydar Kaytan, Rıza Altun, Duran Kalkan, Masum Doğan, Sakine Cansız). Zudem fanden einige der Treffen und Trainings während der Intensivierungsphase in Tunceli statt. Trotzdem etablierte die PKK ihren bewaffneten Kampf in Tunceli erst ab 1991, nachdem sie in allen anderen südöstlichen Provinzen der Türkei ihre militanten Aktivitäten bereits zu einem früheren Zeitpunkt aufgenommen hatte.122 Bis 1991 war die TİKKO die am stärksten verankerte Organisation in Tunceli, insbesondere in den Bezirken Hozat, Ovacık und Pülümür, in welchen sie eine breite Unterstützung unter der Bevölkerung fand. Neben ihr konnte lediglich die aus der von Deniz Gezmiş begründeten THKO hervorgegangene TDKP (türk.: Türkiye Devrimci Komünist Partisi, „Revolutionäre Kommunistische Partei der Türkei“) einige lokal begrenzte Stützpunkte aufweisen. In der Anfangsphase, als die PKK 1991 begann, mit ihrer Organisation in Tunceli Fuß zu fassen, profitierte sie wesentlich von dem geographischen und soziokulturellen Wissen der TİKKO. Obschon es die TİKKO war, die die PKK zu Beginn in die Region einführte, nahm erstere eine ambivalente Haltung zur PKK ein. In der damaligen Vorstellung der alevitischen Bevölkerung in Dersim bestanden Vorbehalte gegenüber der kurdischen nationalen Identität und religiösen Zugehörigkeit zum schafiitischen Islam. Die TİKKO wiederum versicherte der Bevölkerung in Dersim, ihre Unterstützung der PKK sei zeitlich begrenzt und vorbehaltlich jeglicher nationalistischer Tendenzen. Im Unterschied zu den anderen Gegenden ihrer militanten Aktivität richtete sich die von der PKK in Tunceli angewandte Gewalt nicht allein gegen Repräsentanten der türkischen Staatsmacht, sondern

120 Jongerden (2012a, § 23–4). 121 Jongerden (2012a, § 23). 122 Jongerden (2011, 127–9).

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6 Der hegemoniale Leugnungsdiskurs zu moderner Gewalt in Dersim

auch gegen die Zivilbevölkerung. Als die PKK zunehmend an Einfluss gewann, wandte sich die TİKKO gegen sie. Ende 1993 führten interne Spaltungen der TİKKO dazu, dass die Organisation zunehmend geschwächt wurde. Diese Entwicklung gipfelte darin, dass 1996 die Fraktion „Ostanatolisches Gebietskomitee“ (türk.: Doğu Anadolu Bölge Komitesi, DABK) damit begann, angebliche Agenten in ihren eigenen Reihen zu töten. 1999 wurde das zentrale Archiv der TİKKO vom türkischen Militär zerstört. Mit dem Zerfall der TİKKO gewann die PKK an Einfluss und stellte ab 1996 die dominante militante Organisation in Tunceli dar. Ab 1995 ließ die PKK von ihrer sezessionistischen Politik ab und wandelte ihre Forderungen nach dem Recht auf externe Selbstbestimmung in das Recht auf interne Selbstbestimmung um.123 Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit sich diese ideologische Transformation in ihrem Geschichtsbild und Umgang mit Differenzen widerspiegelt. Entsprechend dem frühen Geschichtsbild der PKK ist die kurdische Gemeinschaft arischen Ursprungs. Ihre jahrhundertlange Kontinuität und ihr zivilisatorischer Beitrag sind demnach für die Menschheitsgeschichte zentral. Der Fokus der PKK verlagerte sich in den 1990er Jahren von Klassen zunehmend auf ethnische Identität. In PKK-nahen Zeitungen in Europa wurde Mitte der 1990er Jahre eine Diskussion über kurdische Historiographie geführt, in der nach Konrad Hirschler zwischen Monopolisten und Interaktivisten unterschieden werden kann.124 Demnach sehen die Monopolisten wie die der PKK-Leitung am nächsten stehende Zeitung Serxwebûn die kurdische Ethnie als ältesten Zivilisationsträger an. Hingegen erkennen die Interaktivisten neben der kurdischen ältesten Zivilisation, auch die Existenz anderer ethnischer Gruppen an und gehen von einem kulturellen Austausch im Lebensgebiet der Kurden aus, für welches sie alternativ zu „Kurdistan“ den Begriff „Mesopotamien“ verwenden.125 Um den PKK-Diskurs über Dersim nachzuzeichnen, werden hier Texte aus PKK-nahen Medien in der Türkei von Mitte der 1990er Jahre für die Untersuchung herangezogen. In der Zeitung Özgür Halk, die auch in Tunceli der Verbreitung des PKK-Wissens diente, veröffentlichte Abdullah Öcalan unter seinem Pseudonym Ali Fırat in der Juli-Ausgabe von 1993 einen Artikel unter der Überschrift „1925 verbindet sich mit 1938“.126 In diesem Artikel definiert er zunächst eine Phase von 1925 bis 1938, die von Aufständen mit pro-kurdischer politischer Agenda geprägt gewesen sei. Somit suggeriert er eine historische Kontinuität

123 124 125 126

Bayır (2013b, 9). Hirschler (2002, 75). Casier (2011, 417–32). Fırat (1993, 9–13).

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vom Scheich-Said-Aufstand von 1925 bis zum „Dersim-Aufstand 1938“, ohne den heterogenen, regionalen Charakter der Widerstände in der Republikszeit zu berücksichtigen. Er interpretiert sie stattdessen als Zeichen für die Intention der Vernichtung der gesamten kurdischen Bevölkerung, für einen Genozid an den Kurden: „Wie schon viele Völker aus der Geschichte ausgelöscht wurden, wollen sie als letztes auch das kurdische Volk aus der Geschichte löschen.“ 127 Indem Öcalan das Bild einer existenziellen Bedrohung der Kurden evoziert, legitimiert er die Gewaltanwendung der PKK. Durch die Einordnung der staatlichen Gewaltverbrechen 1938 in Dersim in eine Reihe von kurdischen Aufständen sollte der „Dersim-Aufstand“ als Teil des kurdisch-nationalen Befreiungskampfs und als kollektive Ermächtigung dargestellt werden, dem eine identitätsstiftende Bedeutung verliehen wird. Im Gegensatz zur Delegitimierung der religiösen Autoritäten in Dersim im kemalistischen Diskurs und durch die Gewalt der TİKKO in den 1980er Jahren verfolgt die PKK seit 1990 eine Strategie der „symbolischen Lokalisierung“, durch welche sie kollektive Unterstützung durch die Aneignung lokaler Ressourcen zu gewinnen anstrebt.128 Dementsprechend wertet Abdullah Öcalan symbolisch die regionalen Autoritäten von Dersim auf, insbesondere durch die Konstituierung eines kollektiven Gedenkens an den „Helden“ Seyit Rıza. Die Niederlagen der kurdischen Aufstände seien auf die Uneinigkeit der Bewegung aufgrund konfessioneller Differenzen oder auf Stammesrivalitäten zurückzuführen, hingegen würde sich die kurdische Freiheitsbewegung durch eine Vereinigung aller Gruppen auszeichnen. Diesen gegenwärtigen Prozess der Einigung stellt er als die Lösung eines in der Vergangenheit offen gebliebenen Problems dar: Also vereint sich 1925 mit 1938. Alle Konfessionen, alle Stämme unseres Volkes vereinen sich. Die Kinder von allen den gegeneinander arbeitenden Stämmen und Glaubensgemeinschaften sind vertreten. Es gibt Kinder von den Hormek, von den Zaza, von den Aleviten, von den Sunniten, von den Nakşibandi, alle haben einander die Hand gereicht und vereinen sich im Befreiungskampf und vereinen 1925 mit 1938, den Ararat-Aufstand mit dem Zilan-Aufstand.129

127 „Birçok halkı tarihten sildikleri gibi, en son Kürt halkını da tarihten silmek istiyorlar.“, in: Fırat (1993, 9). 128 Für eine Diskussion des ideologischen Transformationsprozesses des PKK-Diskurses, der zunehmend in Konkurrenz zu Diskursen des politischen Islams der Fethullah-Gülen-Bewegung und der AKP-Regierung bemüht ist, das lokale islamische Repertoire mit einzubinden und dafür drei wesentliche Mittel einsetzt: Konstruktion moralischer Autorität, öffentlicher Symbolismus und Gedächtnisarbeit, siehe: Gurbuz (2015, 7). 129 „Yani 1925, 1938’le birleşiyor. Her mezhepten halkımız, bütün aşiretler birleşiyor. Birbirlerinin aleyhine çalışan aşiretlerden ve mezheplerden hepsinin çocukları var. Hormekler’den var, Zazalar’dan var, Aleviler’den var, Sunniler’den var, Nakşibendiler’den var; hepsi de el ele

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In dieser Deutung gerät der bewaffnete Kampf der PKK zum einigenden Moment für die unterschiedlichen konfessionellen und Stammesgruppen in Kurdistan. Dadurch werden jedoch zugleich religiös-ethnische Differenzen negativ konnotiert. Öcalan nennt explizit den alevitischen Zazaki-sprechenden Stamm der Hormek in Varto, der sich 1925 nicht an dem von dem Nakşibandi-Scheich Said angeführten Aufstand beteiligt hatte, und suggeriert somit die Differenz zwischen den Zazaki-sprechenden Aleviten und Nakşibandi als Erklärung für die historische Uneinigkeit des kurdischen nationalen Kampfs. Nunmehr sei diese Uneinigkeit überwunden, wie sich an der gewonnenen Beteiligung der Bevölkerung in Dersim an dem „kurdischen Befreiungskampf“ zeige, über den sich eine kollektive Identität konstituieren werde. In seinem Appell an die Bevölkerung aus Dersim, die er für die Beteiligung am „kurdischen Befreiungskampf“ gewinnen will, nimmt er direkt Bezug auf die staatlichen Gewaltverbrechen von 1938: Die Bevölkerung von Dersim hat begonnen, indem sie sich mit ganz Kurdistan vereint hat, Rache für 1938 zu nehmen, sie hat begonnen, diese Gelegenheit zu ergreifen. Das war nicht leicht. 1938 sind Zehntausende ermordet worden, ganz Dersim ist zwangsgeräumt und einer schrecklichen Assimilation unterzogen worden. In dem immer noch entleerten Dersim zu leben, ist nicht leicht. Das ist Schmerz, das ist Traurigkeit! Aber nun gibt es Hoffnung! Die Saat der Freiheit, die Dersim beansprucht, blüht gut. Und sie hat sich so kräftig entwickelt, dass sie nicht noch einmal abbrennen, nicht noch einmal verbrannt werden wird. Dersim hat, so wie es seine eigene Geschichte auf der richtigen Grundlage erkennt, indem es sich mit ganz Kurdistan verbündet hat, auch seine Chance des Widerstands ergriffen. Wenn unsere widerstandsfähigen Menschen, die in diesen mächtigen Bergen leben, wenn sie ihre Waffe des Widerstands gut erkennen und verinnerlichen, dann wird es nicht nur bei einer historischen Rache bleiben, zugleich werden sie die vordersten Kader, die führenden Kräfte des nationalen Befreiungskrieges werden.130

Als Folge der Erfahrungen der staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 nimmt diese Sichtweise unter den Überlebenden eine Oppositionsbereitschaft

vermiş, Özgürlük Hareketin içinde birleşiyor ve 1925 ile 1938’i, Ağrı İsyanı’nı, Zilan İsyanı’nı birleştiriyorlar.“, in: Fırat (1993, 11). 130 „Dersim halkı, bütün Kürdistan’la birleşerek 1938’in intikamını almaya, bu imkanı elde etmeye başlamıştır. Kolay değildi. 1938’de onbinlerin katedilmesi ve bütün Dersim’in boşaltılması, korkunç asimilasyon yaşandı. Halen de boşaltılmış bir Dersim’i yaşamak kolay değildir. Acıdır, hüzündür! Ama şimdi umut var. Dersim’e sahip çıkılmış özgürlük tohumları oldukça serpilmiştir. Ve bir daha yanmayacak kadar, yakılmayacak gürbüzleştirilmiştir. Dersim, kendi tarihini doğru temelde yakaladığı gibi, bütün Kürdistan’la birleşerek direnme şansını de elde etmiştir. O müthiş dağlarda yaşayan direngen insanlarımız, eğer direnme silahını iyi beller ve özümserlerse sadece tarihi intikamını almakla kalmayacak, aynı zamanda ulusal kurtuluşun da en öncü kadroları, önder güçleri de olacaklardır.“, in: Fırat (1993, 12).

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gegen den türkischen Staat an, von der ausgehend die angestrebte Beteiligung an dem kurdischen Befreiungskampf als Gelegenheit zur Rachenahme für die erfahrene Gewalt dargestellt wird.131 Als Motivation für ihre Eingliederung in den PKK-Kampf stellt er „unseren widerstandsfähigen Leuten“ vereinnahmend eine führende Rolle im „nationalen Befreiungskampf“ in Aussicht. An diesen Artikel aus der Zeitung Özgür Halk im Juli 1993 schließt sich direkt ein Gespräch zwischen dem PKK-Leiter Abdullah Öcalan und dem Metropoliten der syrisch-orthodoxen Kirche, Mar Gregorius Yoanna İbrahim aus Aleppo, am 10. März 1993 an.132 Abdullah Öcalan wandte sich in diesem Gespräch in einem ähnlichen Aufruf, wie zuvor an die Bevölkerung von Dersim, auch an die syrischen Christen und Armenier, um deren Anschluss an den Kampf der PKK zu erreichen. Ich rufe das assyrische (syrisch-christliche) Volk dazu auf, sich anzuschließen, es soll nicht ganz ohne Hoffnung sein. Sicher sollten sie unser Auftreten wie ihr eigenes Auftreten bewerten. Es liegt nicht in meiner Verantwortung, dass sie [die Herrschenden, A.d.A.] die Kurden in der Vergangenheit zu Schlechtem benutzt haben. Auch ich bin gegen sie, sogar wenigstens so sehr wie ihr. Mit dem Kampf bemühe ich mich, sie [die Herrschenden, A.d.A.] aus dem Weg zu räumen. Das [dieser Appell, A.d.A.] gilt auch für die Armenier. Eigentlich sind die Kurden nicht für die Massaker an den Armeniern verantwortlich. Die Verantwortlichen sind klar und vor allem sind wir es, die heute gegen sie kämpfen.133

Abdullah Öcalan bezieht sich in seinem Kampfaufruf auf die Massaker an den Armeniern und syrischen Christen 1915, die er als Motivation für deren Beteiligung am Kampf der PKK ansieht. Die historische Verantwortung der Kurden an dem Genozid an den Armeniern und syrischen Christen weist er hingegen von sich, indem er anstelle dessen die Machthaber, als eigentliche Urheber der Gewaltverbrechen verantwortlich macht, die die Kurden für ihre Zwecke instrumentalisiert hätten. Auch unter den syrischen Christen und Armeniern wirbt er für den PKK-Kampf als Rachefeldzug für erlittene Gewalt, über welche sich eine neue kollektive Identität bilden werde.

131 Özlem Göner argumentiert in diesem Zusammenhang, dass der Begriff des Leids und des Widerstands, wie ihn die PKK in den 1990er Jahren definierte, die frühere Vorstellung der alevitischen Leidensgemeinschaft ersetzen sollte, siehe: Göner (2012, 275). 132 Fırat (1993, 14–22). 133 „Asuri (Süryani) halkına çağrımı yapıyorum, katılmalı ve çok umutsuz olmamaları gerekir. Kesinlikle çıkışımızı, kendi öz çıkışınız gibi değerlendirmelisiniz. O, geçmişte Kürtlerin kötü kullanılması, benim sorumluluğumda değildir. Ben de onlara karşıyım, hem de en az sizin kadar. Onu mücadeleyle ortadan kaldırmaya çalışıyorum. Ermeniler için de öyledir. Aslında Ermeni katliamından Kürtler sorumlu değildir. Sorumlu olanlar bellidir ve en çok biz, şimdi onlara karşı savaşıyoruz.“, in: Fırat (1993, 19).

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6 Der hegemoniale Leugnungsdiskurs zu moderner Gewalt in Dersim

Vier Jahre später, nach den Zwangsräumungen der Dörfer in den kurdischen Provinzen durch das türkische Militär 1994 und nachdem die PKK von ihrer sezessionistischen Agenda abgelassen und in Tunceli die dominante Position übernommen hatte, wurde in einer Ausstrahlung des pro-kurdischen TVSenders Med TV vom 18. 11. 1997 dem sechzigsten Todestags Seyit Rızas gedacht. Zu diesem Anlass wurde ein Telefoninterview mit Abdullah Öcalan übertragen, in dem er sich zu der Bedeutung von Seyit Rıza und Dersim für den kurdischen Befreiungskampf äußerte.134 Öcalan bezog sich zunächst wieder auf die gewaltsame Unterdrückung der Kurden durch den türkischen Staat, die 1925 begonnen habe und 1938 mit „der letzten Burg des Widerstands“ in Dersim und dem „Märtyrertod“ (türk.: şahadet) Seyit Rızas beendet worden sei. Er erinnert sich dabei an seine ersten Eindrücke aus Dersim: Bei diesem Anlass möchte ich auch dieses verdeutlichen: Als ich einmal nach Dersim ging und zu dem Entschluss kam, diesen Kampf aufzunehmen, als ich diese Berge und diese Menschen sah, da sagte ich mir, ganz sicher, die Bedeutung dieser Gegend ist anders, für hier, für die hiesige Seele, diese Luft, für die die Seele des Menschen beständig erhebende und befreiende Luft sollte ganz sicher ein passender Schritt getan werden.135

In dieser Verknüpfung von Natur und menschlichem Charakter, mit welcher er einen besonderen Umgang mit der Region rechtfertigt, schließt seine Rede an den Berg-Diskurs westlicher und kemalistischer Wissenschaftler, Reisender und Ethnographen über Dersim an.136 Seit einem Vierteljahrhundert dauere der Kampf der PKK unter der Devise „Der Süden kann nicht ohne den Norden, der Norden kann nicht ohne den Süden sein“, wobei er sich auf diejenigen Teile von Kurdistan bezieht, die in seinem Imaginären eine organische Einheit bilden: So wie es in der Vergangenheit unseres Kampfes war, so ist es auch heute. Wenn wir sagen ‚Der Süden kann nicht ohne den Norden, der Norden kann nicht ohne den Süden sein‘, so haben wir heute diese Aussage verwirklicht. Das hätte auch schon 1925 etabliert werden können, dessen Ausbleiben stellt einen wichtigen Grund für den Misserfolg unserer wichtigen Widerstandskämpfe dar. Zugleich ist der Verrat, den die, die uns am nächsten stehen, an uns verübten, ein wichtiger Grund für die Niederlagen.137

134 Öcalan (1997). 135 „Ve ben, bu vesile ile şunu da belirtiyim, bir defa Dersim’e gittiğimde ve bu mücadeleyi başlatma kararlığına ulaşırken, o dağlara o insanlara baktığımda kesin buranın anlamı başkadır, buraya kesin, buranın ruhuna, o yaydığı havaya, insan ruhunu sürekli yücelten özgürleştiren havaya uygun bir adım gerekli dedim.“, Öcalan (1997). 136 In seinem Reise- und geographischen Forschungsbericht bezeichnete Butyka die Gebirgsregion Dersim im 19. Jahrhundert als kurdische Schweiz, Butyka (1892). 137 „Mücadelemizin tarihinde olduğu gibi günümüzde de Kuzeyi, Güneysiz; Güneyi Kuzeysiz olamaz derken bugün bunun gerçekleştirilmiş bir ifadesiyle hareket ediyoruz. Bu 25’lerde ku-

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Dersim liegt im Norden des Gebiets, das im PKK-Diskurs als Kurdistan gilt. In diesem Imaginären fasst Öcalan die Einheit von Norden und Süden als vitale Quelle auf und stellt sie zugleich als wesentliche Voraussetzung, Mittel und Ziel des PKK-Kampfes dar. Die Beteiligung Dersims an dem politischen Projekt der PKK vermittelt er somit als unabdingbar für dessen Aussichten auf Erfolg. Allerdings warnt Abdullah Öcalan daraufhin wiederum vor religiösen Differenzen, die er als gefährdende Faktoren für die angestrebte Einheit betrachtet. Während er in dem Gespräch mit dem syrisch-orthodoxen Metropoliten für einen Regionalpatriotismus und Einigung im Kampf gegen die Unterdrückung geworben hatte, propagiert er hier einen nationalistischen Patriotismus, um religiöse, regionale oder tribale Loyalitäten zu überwinden.138 In diesem Diskurs, der dem hegemonialen Leugnungsdiskurs entspricht, werden religiöse und ethnische Differenzen als Gründe für den Verrat am nationalen Einigungsprojekt gedeutet: Die Bemühungen mit dem Ausspruch‚ Ihr seid Zaza, ihr seid Aleviten‘ und mit der Bezeichnung Zaza alles auseinanderzureißen, sieht man immer noch. Dabei ist Dersim das letzte Gebiet, das im Namen des Kurdentums, sogar in einem heldenhaften Widerstand zu Boden geworfen wurde. Ich sage nicht, dass es unterlag, ich sage nicht, dass es kapitulierte, es ist ein Gebiet, auf dem ein Massaker verübt wurde. Da dies der Fall ist, besteht der größte Fehler, den man machen kann und das größte Unrecht darin, Dersim von Kurdistan und die Bevölkerung Dersims von Kurdistan und dem Kurdentum getrennt zu denken. Erst der Feind hat mit seinem erbarmungslosen Terror die Assimilation eingeführt.139

Vehement lehnt Abdullah Öcalan abweichende Identitätsartikulationen ab, die er insbesondere hinsichtlich des Begriffs Zaza als türkisch-nationalistisches Fremdbild abtut. Die Aleviten stellt er, wie im kemalistischen Diskurs, als resis-

rulabilirdi, kuramayışı, bu önemli direnişlerimizin başarısızlığın önemli bir nedenidir. Aynı zamanda da en yakınlarda ihaneti yaşamaları yenilgilerinin önemli bir nedenidir.“, in: Öcalan (1997). 138 „Biz yola çıkışta iki şeye dikkat ettik. Halkımızın ulaşabildiğimiz bütün yörelerinde, illerinde parçalarında dini bölge inançları içerisinde birlikte görmeye özen gösterdik. Aşiret temellerde değil, bölgesel temelde bir, herkes için gerekli olan ulusal birlik, yurtseverlik temelinde olmaya büyük özen gösterdik. İkincisi çok yaygın olan, her an bir başka türlü karşımıza çıkaran çıkacak ihanete karşı uyanık olmaya ihanete bizi can alıcı yerden vurmaması için son derece tedbirli olmaya özen gösterdik.“, in: Öcalan (1997). 139 „‚Siz Zazasınız, siz Alevisiniz‘ ve Zaza adı altında halen bölüme parçalama çabası içinde olduğu görülmektedir. Hâlbuki Dersim, Kürtlük adına en son, hem de kahramanca direnme temelinde boğdurulan bir alandır. Yenildi demiyorum, teslim alındı demiyorum, katliama uğratılan bir alandır. Hal böyleyken Dersimi, Kürdistan’dan ayrı düşünmek; Dersim halkını Kürdistan ve Kürtlükten ayrı düşünmek yapılabilecek en büyük yanlış ve hakarettir. Bunu olsa olsa, düşmanın o acımasız terörle asimilasyonu ortaya çıkarmıştır.“, in: Öcalan (1997).

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tent gegenüber der Islamisierung dar, eine Eigenschaft, die er zugleich vereinnahmend als ein typisches Merkmal kurdischer nationaler Identität deutet. Für Öcalan verbinden sich religiöser und politischer Widerstand.140 Über die Bedeutung der Geschichte der Gewalt in Dersim 1938 für das Selbstbild der PKK äußert er sich wie folgt: Diese Geschichte hat uns – vielleicht nicht mehr als die der anderen Völker – ein Erbe hinterlassen. Vielleicht ist sie uns auch zu einem Problem geworden. Aber es ist unsere Geschichte. Sie zu richten, sie wahrhaftig einzuschätzen und von dem Punkt, wo sie stehen geblieben ist, aus weiterzuführen, sie zu Höherem zu führen, ist unsere grundlegendste menschliche, nationale Aufgabe.141

Indem Öcalan der „Berichtigung“ der staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim die Bedeutung einer „nationalen Aufgabe“ beimisst, beschreibt er sie als einen negativen Gründungsmythos für das kurdische nationale Selbstverständnis. Auch er vermittelt somit die Aneignung dieses „Problems“, das er in Dersims Gewaltgeschichte für die kurdische Nation sieht, als eine Aufgabe, die für die kurdische Vergemeinschaftung unerlässlich sei. Insbesondere ruft er die Jugend Dersims auf, sich ihrer Vergangenheit anzunehmen und sich der kurdischen Nation durch den bewaffneten Kampf der PKK-Bewegung anzuschließen. Seit der Festnahme und Inhaftierung Abdullah Öcalans 1999 durchläuft die PKK und die pro-kurdische Bewegung eine ideologische Transformation, die nunmehr in Abwendung von der kemalistischen Kulturnation ein funktionalistisches Nationalismuskonzept zum Ausgangspunkt nimmt.142 In Anlehnung an die Theorien von Antonio Negri und Michael Hardt entwickelte Abdullah Öcalan ein Projekt der radikalen Demokratie, durch das untergeordnete Identitäten sichtbar gemacht und wiederangeeignet werden sollen, um deren Unterordnung schließlich zu überwinden. Marlies Casier kritisiert das unveränderte Fest-

140 Die angenommene Verbindung von politischer und religiöser Loyalität sowie von Opposition und Apostasie stellt eine Konstante im politischen Denken dar, siehe Margalit (2012). Auch wenn die Identifikationen der Aleviten in der Republik nicht als kryptoreligiös verstanden werden können, sei angesichts ihrer Einordnung in die kurdische Geschichte des Widerstands durch Öcalan auf Maurus Reinkowski verwiesen, der auf die Darstellung von Kryptoreligiösität als Form politischen Widerstands und als kryptonational(istisch)e Strategie in der albanischen Historiographie hinweist, Reinkowski (2013a, 77). 141 „Bu tarih, diğer halkların tarihi gibi belki bize fazla bir miras bırakmamıştır. Belki başımıza bela da olmuştur. Ama bizim tarihimizdir. Onu düzeltmek, onu gerçekçi değerlendirmek ve kaldığı yerden devam ettirmek daha yükseklere çıkarmak en temel insani ulusal görevimizdir.“, in: Öcalan (1997). 142 Dabei wird ein Demokratiemodell angestrebt, das ohne einen Staatsapparat auskommen, allein auf Bürgerrechten beruhen und ein Selbstbestimmungssystem in ganz Kurdistan errichten würde, Jongerden (2012b); Casier (2011, 426–30).

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halten an dem kurdisch-nationalistischen Geschichtsbild, das bei der Umsetzung des Projekts der radikalen Demokratie zu Widersprüchen führe.143 In dieser Hinsicht soll eine Rede von Selahattin Demirtaş, dem Generalpräsidenten der pro-kurdischen „Partei des Friedens und der Demokratie“ (türk.: Barış ve Demokrasi Partisi, BDP) angeführt werden, die er am 21. Mai 2010 auf dem historischen Kasernenplatz im Stadtzentrum von Tunceli hielt und in der er zum Boykott der türkischen Verfassungsänderung aufrief: (…) Die Wege, die sich von nun an in Richtung unabhängiges Dersim öffnen, seien auch euch, seien unserem ganzen Volk gesegnet. Denn wir glauben daran, dass in diesem Land die autonome Regierung kommen wird und daran, dass Dersim, wie es in der Geschichte war, wie es einmal gewesen ist, wieder sich selbst verwalten wird. Es wird wieder aus eigenem Willen sagen, das ist die Republik Dersim. Daran hegen wir keinen Zweifel. (…) Der Boykott wird die Stimme derer sein, die sagen, wir wollen, dass in unserer eigenen Region in den Regionalräten Zazaki als zweite offizielle Sprache auflebt. (…).144

In dieser Rede propagiert Selahattin Demirtaş das politische Modell der radikalen Demokratie, vertreten von Abdullah Öcalan und der pro-kurdischen Bewegung, in dem ein regionales Selbstverwaltungsmodell angestrebt wird. Seinen Wählern stellt er die Restitution eines verlorenen historischen Zustands in Aussicht, in dem Dersim als unabhängige, autonome politische Einheit bestanden habe. Diese Vorstellung ignoriert sowohl die historische, als auch gegenwärtige Vielfalt in Dersim und die damit verbundenen Auseinandersetzungen um Teilhabe am politischen Diskurs. Für das Modell der radikalen Demokratie mobilisiert er das auch von Öcalan vertretene historische Narrativ über die Region Dersim, wonach ihr nicht nur eine Sonderrolle in der Vergangenheit, sondern davon ausgehend ihr auch eine Vorreiterfunktion in der Zukunft zukomme. An diesem nostalgisch aufgewerteten Vergangenheitsbild orientiert er seine politische Vision für die Zukunft, in der er die administrative Autonomie der Republik Dersim sowie die Sprache Zazaki revitalisieren will. Die offizielle Anerkennung von minorisierten Sprachen neben dem Türkischen als nationalen Zweitsprachen dient der BDP als Aushängeschild für eine sich darin vollziehende propagierte Anerkennung der Identität der Sprechergruppen. In seiner Rede über subalterne Identitäten in Dersim übergeht er jedoch die Heterogenität ihrer Stimmen, indem

143 Casier (2011, 431–2). 144 „(…) Şimdiden özerk Dersime doğru açılan yollar sizleri de, bütün halkımızı da hayırlı uğurlu olsun, çünkü biz inanıyoruz ki, bu ülkeye özerk yönetimler gelecek ve Dersim tarihte olduğu gibi, bir dönemler olduğu gibi, yine kendi kendini yönetecek. Yine kendi iradesiyle Dersim Cumhuriyeti budur, diyecek. Bundan şüphemiz yoktur. (…) Kendi coğrafyamızda bölge meclislerinde Zazacanın ikinci resmi dil olarak bu topraklara hayat bulmasın istiyoruz diyenlerin sesi olacak boykot. (…)“, HaberTurk (2010).

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er durch die Konstituierung einer „wir“-Stimme versucht, bestehende Differenzen in eine homogene regionale Identität zu überführen. Aus der Analyse der links-militanten Wissensproduktion der TİKKO und PKK zu Dersim zeigt sich, dass sie es in der Tradition der türkischen Linken nur begrenzt vermögen, sich angesichts des Genozids an den Armeniern und der darauffolgenden staatlichen Gewaltverbrechen kritisch von der nationalen türkischen Geschichtsdeutung zu distanzieren. Historisch legitimieren sie sich in der Tradition der kurdischen Aufstände in frührepublikanischer Zeit vom Scheich-Said-Aufstand bis zum „Dersim-Aufstand“. In ihrem Selbstverständnis als Widerstandsgruppen bleiben sie der Konzeptualisierung dieser historischen Ereignisse als Aufstände verbunden, wie sie auch der dominante staatliche Diskurs vertritt. Die Diskurse der TİKKO und der PKK unterscheiden sich in ihrer Bewertung der historischen Gewalterfahrungen im Genozid an den Armeniern 1915 und in der Wahl des Orts, von dem aus sie ihren Widerstand formierten. Die TİKKO wählte bewußt Dersim als Ausgangspunkt ihres bewaffneten Kampfes, wohl auch, weil die Vorfahren der frühen TİKKO-Mitglieder aus Dersim stammten. Sie suchten gezielt das Gespräch mit Überlebenden des Genozids und der Gewaltverbrechen, erschlossen sich dadurch eine emische Perspektive und stützten darauf den lokalen Rückhalt ihres Widerstands. In seiner klassenkritischen Analyse der jungtürkischen und kemalistischen Gewaltpolitik distanziert sich der TİKKO-Diskurs insofern von der hegemonialen Leugnungspolitik, dass er dessen gesamtgesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung aufdeckt, wobei er die Beteiligung der kurdischen Bauern am Genozid an den Armeniern nicht eingesteht. Der PKK-Diskurs legitimiert ihren bewaffneten Kampf als Verpflichtung gegenüber dem Vermächtnis der frühen kurdischen Unabhängigkeitskämpfe, zu denen sie auch die Gewaltverbrechen 1938 in Dersim zählt. Im Anschluss an den hegemonialen Leugnungsdiskurs ließ der PKK-Diskurs den Genozid an den Armeniern und die kurdische Verantwortung lange Zeit ausgeblendet. Unterschiedslos für alle Bevölkerungsgruppen in Kurdistan, die syrischen Christen und Armenier einbegriffen, setze sich der PKK-Kampf ein. Über die kollektive Kampferfahrung und die damit verbundene Selbstermächtigung bilde sich eine Erfahrungsgemeinschaft heraus, durch welche diese Gruppen in das politische Projekt der PKK integriert würden. Indem sie verschiedene historische Erfahrungshorizonte ihrer Mitglieder mit erlittener oder verübter kollektiver Gewalt ausblendet, versucht die PKK, eine homogene Kampfidentität zu schaffen. Trotz der Einführung des Konzepts der radikalen Demokratie durch Abdullah Öcalan erhält sich das kurdisch-nationalistische Geschichtsbild der PKK, dass sich strukturell an das türkisch-nationalistische Geschichtsbild anlehnt. Auch der

6.3 Diskurs der Cemaat-Bewegung über Dersim

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PKK-Diskurs beschreibt die Bevölkerung Dersims als anders und besonders widerständig. Um die Zugehörigkeit Dersims zu Kurdistan herzuleiten, suggeriert der PKK-Diskurs in Analogie zum türkisch-nationalistischen Diskurs, die geographische unteilbare Einheit Kurdistans, als dessen integralen Teil er Dersim als Hochburg des Widerstands konzipiert.

6.3 Der Diskurs des politischen Islam von Fethullah Gülen und der Cemaat-Bewegung über Dersim Die Wissensproduktion der Bewegung des politischen Islam, die heute in der Türkei vor allem durch die AKP-Regierung getragen wird, wird im Folgenden am Beispiel des Diskurses von Fethullah Gülen und der ihm nahestehenden Cemaat-Bewegung über Dersim re- und dekonstruiert. Für den Putschversuch am 15. Juli 2016 erklärt die AKP-Regierung Fethullah Gülen und die CemaatBewegung verantwortlich und bezichtigt sie der politischen Konspiration und des Verrats. In ähnlicher Weise hatte zuvor der Diskurs von Fethullah Gülen und der Cemaat-Bewegung Armenier, Aleviten und Kurden als politische Verräter diffamiert, um konspirative Erklärungen anzuregen und öffentliches Misstrauen gegen sie zu schüren. Wie Nefes in Hinsicht auf die Dönme darlegt, bilden ontologische Unsicherheiten der türkischen Politik den Nährboden für derartige Bezichtigungen der Konspiration und des Verrats.145 Da die Cemaat-Bewegung im Bildungssektor in Tunceli seit 1980 bis 2016 zunehmend dominierte und ihre Präsenz in der alevitisch geprägten Provinz sogar diejenige staatlicher Institutionen der AKP-Regierung überwog, erscheint die Analyse ihres Diskurses über Armenier, Aleviten und Kurden im Allgemeinen und über die Region Dersim im Speziellen aufschlussreich für die Untersuchung. Durch ihre institutionelle Verankerung in Bildungseinrichtungen, vor allem in der Universität Tunceli und Privatschulen (türk.: dershane), die auf den höheren Bildungsweg und öffentliche Ämter vorbereiteten, übte die CemaatBewegung einen wichtigen Einfluss auf die Bevölkerung von Dersim aus.146 So, wie sie Perspektiven für die Integration der Bevölkerung aus Dersim in das öffentliche Leben der Türkei über den Weg der Bildung und des religiösen Dialogs formulierte, definierte sie gleichsam deutlich die Grenzen dieser Aufnahme. Die Bewegung selbst erhob den Anspruch auf eine moderne Interpretation des Islam, die den Osten und Westen der Türkei einigen würde. In dieser Hin-

145 Nefes (2012). 146 Balci (2003).

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6 Der hegemoniale Leugnungsdiskurs zu moderner Gewalt in Dersim

sicht soll zunächst untersucht werden, wie im Diskurs des politischen Islam von Fethullah Gülen und der Cemaat-Bewegung die Türkei als imaginärer Raum diskursiv entworfen wird und welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten diese Wissensproduktion zu islamischen Wissenstraditionen aus osmanischer und republikanischer Zeit aufweist. Daran anschließend soll der Diskurs von Fethullah Gülen und der Cemaat-Bewegung zu Aleviten, Armeniern und Kurden nachgezeichnet werden, so wie er komplementär zur AKP-Politik der kurdischen und alevitischen „Öffnungen“ und dem staatlichen Amt für Religiöse Angelegenheiten (türk.: Diyanet İşleri Başkanlığı) formuliert wurde. Vor diesem Hintergrund sollen dann die spezifischen diskursiven Grenzziehungen in dem Diskurs in Hinsicht auf den politischen Raum, Repräsentationen von Vergangenheiten und die alevitischen Glaubensvorstellungen der Bevölkerung in Dersim kritisch analysiert werden.

6.3.1 Die Verortung der Aleviten im Imaginären von Fethullah Gülen Fethullah Gülen wird von Philipp Bruckmayr als ein muslimischer Gelehrter beschrieben, der eine scheinbar reibungslose Allianz von Moderne und traditionellen Sufi-Werten vertrete, ohne einer Sufi-Bruderschaft (türk.: tarikat) anzugehören. Sein Engagement konzentriere sich auf interreligiösen Dialog, Weltfrieden und besonders auf Bildung, welche er als Mittel zum gesellschaftlichem Aufstieg und zur ökonomischen Prosperität der muslimischen Gemeinschaft fördere.147 Die informelle Nähe zur Tradition der Nakşibandi-Bruderschaft, der aufklärerische Impetus und der Fokus auf die türkisch-muslimische Gemeinschaft (türk.: ümmet) verbänden Fethullah Gülen mit dem kurdischen Sufi-Gelehrten Said-i Nursi (1876–1960), der den Beinamen „das Wunder der Zeit“ (türk.: Bediüzzaman) trug.148 Said-i Nursi war der Begründer der Nurculuk-Bewegung (türk.: nurcu: „Anhänger des Lichts“), von dessen Reformdenken insbesondere zur Vereinbarkeit von Naturwissenschaften und Islam Fethullah Gülen wesentlich beeinflusst wurde, obschon er es ablehnt, als Said-i Nursis Nachfolger verstanden zu werden.149

147 Bruckmayr (2011, § 2). 148 Said-i Nursi knüpfte an den Diskurs über die türkisch-muslimische Gemeinschaft an, was sich in seiner Distanzierung vom Scheich-Said-Aufstand 1925 und seiner Rechtfertigung der staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 zeigt, siehe hierzu: Aşan (1991, 110); Bulut (2005, 332); Malmisanij (1991, 43). Die Vorstellung Fethullah Gülens von einer türkisch-muslimischen Gemeinschaft diskutiert Çobanoğlu (2012, 276–301). 149 Tee (2013, 209–32); Seufert (2014, 13); Agai (2004, 157, Fußnote 9).

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Die Lehre von Fethullah Gülen wirke, wie Béatrice Hendrich feststellt, auffällig losgelöst von der geographischen Herkunft ihres geistigen Urhebers, was in merkwürdigen Widerspruch zu ihrer globalen Ausrichtung stehe.150 Dieser Beobachtung nachzugehen, erscheint an dieser Stelle aufschlussreich. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, wo und wie Fethullah Gülen seine Sozialisierung erfuhr und inwiefern seine Rede Aufschluss über sein Imaginäres, im Sinne von Repräsentationen seiner Ordnungsvorstellungen der inneren und äußeren Welt, geben kann. Zunächst seien hier einige Überlegungen zum biographischen Hintergrund sowie zu den autobiographischen Erinnerungen von Fethullah Gülen vorangestellt. Fethullah Gülen wurde am 27. April 1938 oder 1941 in der türkischen Provinz Erzurum im Kreis Pasinler (Hasankale) im Dorf Korucuk geboren. Historisch trug Erzurum seit osmanischer Zeit den Charakter einer Garnisonsstadt, auch da sie sich während der Türkisch-Russischen Kriege im 19. Jahrhundert im Grenzgebiet zum russischen Zarenreich befand. An der Schnittstelle zwischen dem Osmanischen Reich, dem Russischen Reich und dem Perserreich gelegen, stellte Erzurum eine wichtige Handelsstadt dar. Ethnisch-religiös wies die Region neben der überwiegend türkischen muslimischen Bevölkerung eine heterogene Bevölkerung von sunnitischen Kurden, alevitischen Zaza-Sprechern und, bis zum Genozid 1915, auch von christlichen Armeniern, Hemschin und Jesiden, auf. In dem religiös konservativen, von Sufi-Bruderschaften geprägten, dörflichen Milieu von Erzurum wuchs Fethullah Gülen in einer muslimischen Familie als Sohn des Imam Ramiz auf, der ihn Arabisch und Persisch lehrte. Zur Zeit der strengen staatlichen Repressionen der Sufi-Bruderschaften erhielt Fethullah Gülen eine informelle muslimische Ausbildung in Medresen und Tekken. Im Rückblick beschrieb er das religiöse Umfeld seiner Kindheit als auch von alevitischen Glaubensvorstellungen geprägt: Ich halte mich für einen guten Sunniten. Aber ich sehe dieses Sunnitentum als eines, das auch dem Alevitentum und anderen seine zärtlichen Flügel öffnet. Ich kann sie ganz einfach unsere Brüder nennen. Wenn Sie mich fragen, ich bin auf eine Weise auch Alevite. Denn die Lehrjahre meiner Kindheit verbrachte ich zum Teil in Sufi-Kreisen. Ich wuchs mit den Gesängen von Kerbela auf. In diesem Sinne meine ich bin ich wohl einer derjenigen, die dem Heiligen Ali und Ehl-i Beyt am nächsten stehen.151

150 Hendrich (2011, § 24). 151 „Ben iyi bir Sünni olduğunu zannediyorum. Ama bu Sünniliği de Alevîsine ve başkasına kanatlarını şefkatle açan bir Sünnilik şeklinde görüyorum. Rahatlıkla kardeşimiz diyebiliyorum. Onların bana tevcih ettiği sualler karşısında bir manada ben de Aleviyim. Çünkü çocukluğum talebelik dönemim bir ölçüde tasavvufi çevrelerde geçti. Kerbela türküleri söyleye söyleye ben yetiştim. O açıdan zannediyorum Hz. Ali’ye, Ehl-i Beyte en yakın olanlardan birisiyim.“, Gülen, TRT1, 3. 7. 1995.

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Über Aspekte seiner informellen Ausbildung, die vom Sufismus und alevitischen Glauben beeinflusst war, konstruiert er seine Nähe zu Ali und den Ehl-i Beyt, um sich als legitime Autorität für seine, wie er es nennt, „alevitischen Brüder“ darzustellen. Schon im Alter von fünfzehn Jahren hielt er erste Predigten 1957 in Amasya, Tokat und Sivas. Dabei lernte er die exegetische KoranSchrift „Risale-i Nur” von Said-i Nursi kennen und kam in Kontakt mit der Nurculuk-Bewegung. 1958 sandte ihn das Diyanet als Imam aus dem Osten in den Westen der Türkei, von Erzurum nach Edirne an der Grenze zu Bulgarien. Wie er in seinen Erinnerungen schildert, entwickelte er eine tiefe Verbundenheit zu diesem Ort. „I developed my habits here. I liked this region so much that sometimes I would get upset with the Bosphorus (Istanbul Strait) for separating Thrace, especially Edirne, from Anatolia.“ 152 In seiner Wahrnehmung der Türkei stellt die geographische Spaltung von Anatolien und Thrakien ein Problem dar.153 Sein Wunsch nach einer territorialen Einigung der West- und Osttürkei scheint ebenso auf eine religiöse Vereinigung zu verweisen. Für Fethullah Gülen stellte sich immer schon die Frage, an welchem Ort seine Rede als legitim anerkannt werden würde, im westlich geprägten Edirne ebenso wie in seiner konservativen Heimatstadt Erzurum und später im US-amerikanischen Exil. „While in Edirne he was known as the Hodja from Erzurum; when he went to Erzurum he was called the Hodja from Edirne. In Izmir he was known as Fethullah Hodja or Hodjaefendi.“ 154 Erst mit einem erneuten Ortswechsel 1968 nach Izmir gelang es ihm, diese Beinamen abzulegen.155 Nach seinem Militärdienst kehrte er zeitweilig nach Erzurum zurück, wo er an der Gründung einer nationalistischen antikommunistischen Vereinigung beteiligt war. Seine Absicht, sich räumlich übergreifend zu identifizieren, um sich überall legitim zu verorten, zeigt sich auch daran, dass Fethullah Gülen in seinen Erinnerungen seine Herkunft nicht mit seinem Geburtsort assoziiert, sondern sie in einem imaginären Ursprung des türkischen Islam mit symbolischen Erinnerungsorten wie Malazgirt und Said-i Nursi in Anatolien verortet.156

152 Ünal (2000, 10). 153 Diese Vorstellung knüpft an den jungtürkischen Diskurs an, in dem die territorialen Verluste in den Balkankriegen als Verletzung der territorialen und spirituellen Integrität empfunden wurde. Kompensativ wurde der Fokus von den auf dem europäischen Kontinent gelegenen Regionen der Balkanländer und Thrakien auf Anatolien verlegt, das zum „türkischen Herzland“ erklärt wurde. 154 Ünal (2000, 10). 155 Seufert (2014, 7). 156 Agai (2004, 123–6).

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In Izmir begann Fethullah Gülen seinen typischen Stil auszuprägen und seine Lehre zu institutionalisieren, indem er seit 1969 als Wanderprediger durch die Ägäisregion reiste, 1971 sein erstes Studentenwohnheim, 1978 die Stiftung Ak Yazımlı und 1979 die Zeitschrift Sızıntı gründete.157 Als sein Ansehen in der Türkei zu wachsen begann, gelang es ihm schließlich auch, in seiner Herkunftsregion Erzurum eine Anhängerschaft zu gewinnen. Wie Said-i Nursi gelang es Fethullah Gülen, seinen ersten Stützpunkt zunächst in der westlichen Ägäisregion der Türkei aufzubauen. Während für Saidi Nursi das Fortbestehen der Religion im Vordergrund stand, ist bei Fethullah Gülen eine stärkere Betonung der exklusiven Konzepte von Nation (türk.: millet) und dem von den Vorfahren geerbten Land (türk.: vatan) bezeichnend.158 Das Streben Fethullah Gülens nach politischem Frieden durch die islamische Einigung findet ihre Entsprechung in seinem imaginären Raum Türkei. Den von ihm erfahrenen Legitimationskonflikt wünscht er sich, durch eine territoriale Einigung von Thrakien und Anatolien zu überwinden. Dennoch liegt seinem Bildungsprojekt die Überzeugung zugrunde, dass die westliche moderne Wissenschaft für die Aufgabe des eigenen islamischen Wissens und damit für den inneren Verfall des von ihm idealisierten Osmanischen Reichs verantwortlich sei.159 Sein Geschichtsbild, das die osmanische Vergangenheit idealisiert, ist von Grenzziehungen gegenüber Andersgläubigen und „anderen Vergangenheiten“ geprägt. Der Ausschluss alevitischer Erinnerungen an erlittene Gewalt im Diskurs Fethullah Gülens Bei der Grundsteinlegung für den Bau der dritten Brücke über den Bosporus am 29. Mai 2013 wurde der Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen unter Fatih Sultan Mehmet öffentlich gedacht und der damalige Präsident der Republik Türkei und AKP-Politiker Abdullah Gül gab den Namen bekannt, den die Brücke fortan tragen sollte: Yavuz Sultan Selim.160 In unmittelbarer Nähe des Schwarzen Meers bildet die 1275 Meter lange Brücke die neue Autobahnverbindung zwischen Thrakien und Anatolien, die einen zentralen Punkt des Transportkorridorprogramms Europa-Kaukasus-Asien TRACECA darstellt.161 In Reaktion auf die Namensgebung erhob sich Protest vonseiten alevitischer Aktivisten, die sich durch die Wahl des Namens Yavuz Sultan Selim angegriffen

157 158 159 160 161

Seufert (2014, 7). Çobanoğlu (2012, 285–91). Agai (2004, 212). 3. köprünün ismi, NTV, 29. 5. 2013. Morvan (2013, 197).

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fühlten, da Sultan Selim I., genannt der Grausame, im kollektiven Gedächtnis der Aleviten mit den Verfolgungen und Massakern an den Kızılbaş im 16. Jahrhundert verbunden wird. Gegen diese Einwände verteidigte Fethullah Gülen die Namensgebung, die in seinen Augen nicht nur die Verbindung zwischen Thrakien und Anatolien darstellt, sondern auch sinnbildlich für den Brückenschlag zwischen Sunniten und Aleviten steht. In einem Interview äußerte er sich zur Brüderlichkeit zwischen Sunniten und Aleviten und betonte deren gemeinsamen Werte in Allah, dem Propheten, dem Koran und darüber hinaus in Ahmed Yesevi, Mevlana und Yunus Emre, die viele Brücken darstellen würden:162 Wenn eine Brücke erbaut wird, um die Verbindung zwischen der einen Seite des Bosporus mit der anderen herzustellen, dann führt das Gerede darüber, als ob dies eine grundlegende Angelegenheit sei, dass ihr der Name Sultan Selim, der Grausame, gegeben wird oder über ähnliche Details dazu, alle diese Brücken zu übersehen.163

Er ermahnte die alevitischen Aktivisten, „nicht der Vergangenheit angehörende Probleme von Neuem auszugraben und nicht die Gründe für eine neue Feindschaft zu bilden“.164 Somit bekräftigte er das Verbot, über Gewalt gegen Aleviten in der Vergangenheit zu sprechen. In seinem relativierenden Aufruf dazu, „nicht mit einer einzigen Brücke eine ganze Reihe von Brücken einzureißen“, evoziert er das Bild der Bedrohung der idealisierten islamischen Einheit durch das kollektive Gedächtnis der Aleviten. Erinnerungen an erlittene Gewalt, denen im alevitischen kollektiven Gedächtnis identitätsstiftende Funktion zukommt, schließt er aus der Erinnerungskultur in der Republik Türkei aus. Dieses Geschichtsbild leugnet Gewalt gegen Aleviten zugunsten der Vorstellung eines harmonischen Miteinanders in osmanischer Zeit. Im Anschluss an den kemalistischen Diskurs bewertet Fethullah Gülen in der bisher einzigen schriftlichen Veröffentlichung, in der er sich zu den Aleviten äußert, deren historisch gewachsene politische Rolle in der Türkei.165 Lediglich durch die Einflussnahme äußerer politischer Mächte, insbesondere Russlands und des Irans, die im Inneren der Türkei die Aleviten, Armenier und Kurden als Spielfiguren benutzen würden, ließen sich diese gegen die Sunniten aufbrin-

162 Yavuz Sultan Selim, Herkul, 18. 6. 2013. 163 „Boğazın bir tarafından diğer tarafına geçişi sağlamaya matuf bir köprü yapılıp ona Yavuz Sultan Selim adı konulunca ya da böyle detaya ait bir mesele usulmüş/temel meseleymiş gibi dile dolanınca bütün o köprülerin görmezlikten gelinmiş olabileceğini“, in: Gülen, Radikal, 19. 6. 2013. 164 „(…) geçmişe ait problemleri yeniden hortlatarak yeni düşmanlık sebepleri oluşturmayalım“, in: Gülen, Radikal, 19. 6. 2013. 165 Çobanoğlu (2015, 287–308).

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gen.166 Demzufolge müssten nur die „getäuschten“, „inneren Feinde“ beseitigt werden, um das Problem zu lösen.167 In dem Bild der islamischen Einheit, die einer „Bedrohung von außen“ und „inneren Feinden“ ausgesetzt sei, knüpft der Diskurs des politischen Islam, hier vertreten von Fethullah Gülen, an den kemalistischen türkisch-nationalistischen Diskurs an. Die Gewaltanwendung gegen „innere und äußere Feinde“ als existenzielle Selbstverteidigung zu legitimieren, entspricht einem breit anschlussfähigen Wissen in der Türkei. Fethullah Gülen bezeichnet in seiner Rede Aleviten als einfache, naive Menschen (türk.: saf insanlar), die den Intrigen „von außen“ erlegen wären. Die Cemaat bescheinigt zudem den alevitischen Dedes Unschuld (türk.: masumiyet).168 Diese Diskurse knüpfen, wie Yavuz Çobanoğlu argumentiert, an den osmanischen staatlichen Diskurs an, der die ländliche Bevölkerung meistens als unwissend (türk.: cahil) herabsetzte, sie jedoch zuweilen auch als naiv und unverdorben bezeichnete, um als deren Retter aufzutreten, der ihr mit seinen Politikern, Bürokraten und Soldaten aus dieser schwierigen Lage helfen wolle. Diese Zuschreibungen der Unwissenheit ziehen sich wie ein roter Faden durch den osmanischen, jungtürkischen und kemalistischen Diskurs und gehen heute in den Diskurs des politischen Islam in der Türkei über. Sie ignorieren das Wissen der anderen und sprechen ihnen ihre Handlungsmacht ab. Somit werden die Menschen zu Subjekten, die dem Wissensregime unterworfen, von der Gunst und dem Verzeihen des Staats abhängig sind.

6.3.2 Fethullah Gülen über Glaubensvorstellungen in Dersim Die oben vorgenommene schlaglichtartige Darstellung des Diskurses von Fethullah Gülen und der Cemaat über Aleviten, Armenier und Kurden soll nun um eine Rede erweitert werden, die Fethullah Gülen zugeschrieben wird. Diese Rede, die weiteren Aufschluss über die Grenzziehungen im Diskurs von Fethullah Gülen geben kann, nimmt spezifisch Bezug auf die politische und religiöse Rolle der Aleviten, Armenier und syrischen Christen in Tunceli. Allah ist Mensch, der Mensch ist Allah.169

166 Çobanoğlu (2015, 291). 167 Çobanoğlu (2015, 290). 168 Çobanoğlu (2015, 292). 169 Gülen zugeschriebene Rede in einem Video, das in den Sozialen Medien unter dem Titel „Tunceli Alevilerin Dini yoktur“ kursiert. Gülen Video, OdaTV, (o. J.).

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Zahlreiche Video- und Audiokassetten der Predigten Fethullah Gülens dienten der massenhaften Verbreitung seiner religiösen Lehre, der Bestätigung seiner religiösen Autorität und der Herausbildung seiner Gemeinschaft.170 Eine dieser Videoaufnahmen, die eine Rede enthält, die Fethullah Gülen zugeschrieben wird und deren Entstehungszeit und -ort ungeklärt sind, soll hier gerade aufgrund ihres konspirativen Charakters als soziale Konstruktion von Ängsten näher betrachtet werden, wie sie Nefes ähnlich für den Diskurs über die kryptojüdische Gruppe der dönme untersucht hat.171 In dem angespannten politischen Klima infolge der öffentlichen Dersim-Debatte im Herbst 2009 hatte die CemaatPresse den CHP-Präsidenten Onur Öymen aufgrund seiner Äußerungen über Tunceli des Rassismus beschuldigt und seinen Rücktritt gefordert. In diesem Zusammenhang fragten Aleviten nach der Haltung der Cemaat-Bewegung und Fethullah Gülens zu den Aleviten in Tunceli, woraufhin das Video in den sozialen Medien kursierte und besonders von Aleviten aus Dersim kritisiert wurde. Zu Beginn des hier betrachteten Videoansschnitts seiner Rede bezieht sich Fethullah Gülen auf den Nationalpakt (türk.: misak-ı millî), der auf den Kongressen von Erzurum und Sivas den Entwurf des Grenzverlaufs der Türkei vorlegte. In einer revisionistischen Geste erklärt Fethullah Gülen die territorialen Abtretungen an Griechenland und den Irak nachträglich für unrechtmäßig. Gegenüber dieser Verletzung der territorialen Einheit beschwört er die historische Harmonie und die gemeinsame Abstammung und Religion des Westens und Südostens der Türkei als türkisch-muslimische Einheit. Demgegenüber zeichnet er das Bedrohungsszenario der türkischen Einheit durch „von außen“ agierende Mächte, die territoriale Ansprüche stellen würden. Diese „äußeren“ Mächte würden die Armenier und syrischen Christen benutzen, um die Bevölkerung von Tunceli gegen die Sunniten aufzubringen.172 Besondere Aufmerksamkeit

170 Sunier analysiert die spirituelle Autorität von Fethullah Gülen, Sunier (2015, 228–41). 171 Nefes (2012); Çobanoğlu (2015, 297). 172 Yavuz Çobanoğlu bemerkt zu dem Diskurs von Fethullah Gülen und der Cemaat, dass auf jegliche Einforderungen von Rechten, die von der türkischen Gesellschaft erhoben würden, mit einer nationalistischen und konservativen Haltung reagiert würde. Diese würde generell die Schuld für soziale Missstände auf aus dem Ausland wirkende „Intriganten“ verschieben, die über ihre „Agenten“ in der Türkei die Spaltung zwischen Sunniten und Aleviten und damit den Zerfall der türkischen Nation betreiben würden, Çobanoğlu (2015, 287–308). Élise Massicard betont in diesem Zusammenhang, dass die hegemonialen Diskurse über nationale Einheit und deren Bedrohung von außen in den Debatten um die alevitischen Belange maßgeblich seien. Ihr zufolge bestehe die Gemeinsamkeit zwischen dem kemalistischen Diskurs, den die Aleviten traditionell vertreten würden und dem der Cemaat darin, dass sie sich gegenseitig der Bedrohung und Spaltung der nationalen, religiösen und territorialen Einheit bezichtigen würden, siehe: Massicard (2002, 117–37).

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rief hervor, dass er der Bevölkerung von Tunceli ihren alevitischen Glauben absprach. Der Widerstand der Kızılbaş könne durch eine Einflussnahme auf deren Geistliche „gebrochen“ und darüber ihre Inklusion in die Gemeinschaft der Gläubigen erreicht werden. Hingegen sei dieses Vorgehen in Tunceli nicht möglich, da die religiösen Autoritäten keine Legitimität und die Bevölkerung keinen Glauben besäßen. Als Atheisten seien sie von einer Inklusion in die islamische Einheit ganz ausgeschlossen. Diese Rede versucht den Glauben der Aleviten in Tunceli aufgrund der Vorstellung, nach der Allah Mensch und der Mensch Allah sei, an die Nusayrier anzunähern. Dieser Vergleich zwischen Nusayriern und Aleviten knüpft an die schon bei Hasan Reşit Tankut konstruierte Nähe dieser beiden Glaubensgemeinschaften an.173 Während Hasan Reşit Tankut noch eine Assimilation der alevitischen Zazaki-Sprecher an die türkische Kultur für möglich hielt, werden weder die Bevölkerung in Tunceli noch die Nusayrier als Aleviten anerkannt und daher aus der türkisch-muslimischen Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen.

6.3.3 Wissensproduktion der Cemaat-Bewegung im Bildungssektor in Dersim Mit dem Ziel einer Annäherung zwischen Sunniten und „akzeptablen“ Aleviten verfolgte die Cemaat-Bewegung in der Türkei bis zum Putschversuch 2016 CamiCemevi-Projekte. Der Perspektive der symbolischen Vereinigung in gemeinschaftlichen Bauprojekten verpflichtete sich auch ein Cami-Cemevi-Projekt, das an Universität Tunceli angesiedelt wurde. Dessen Rektor, Prof. Dr. Durmuş Boztuğ, wurde für seine Nähe zur Cemaat-Bewegung und deren Auswirkungen auf die Bildungsausrichtung kritisiert. Im September 2014 kündigte er das Projekt mit folgenden Worten an:174 „Denn in dieser Gegend kann es nichts Natürlicheres geben, als in unserer Universität ein Cemevi zu errichten.“ 175 Diese ostentative Feststellung will kritischen Stimmen in Tunceli gegen cemevis zuvorkommen.176

173 Çobanoğlu (2015, 298). 174 Özcan (2012, 22–2). 175 „Çünkü bizim yöremizde üniversitemize cemevi yapmak kadar doğal bir şey olamaz.“, in: Tunceli Üniversitesi, CNN Türk, 17. 9. 2014. 176 In der Provinz Tunceli blieben die Moscheen, die der Staat nach dem 12. September 1980 errichtete, in den überwiegend alevitischen Dörfern leer oder wurden als Lagerräume oder Werkstätten umgenutzt. Lediglich in den Kreisstädten nutzten sunnitische Bewohner die Moscheen. Traditionell hielten die Aleviten in Dersim ihre cem-Versammlungen in privaten Wohnhäusern ab, sodass auch das Konzept des cemevi zunächst auf Ablehnung stieß, bis die aus den städtischen Zentren in Europa zurückkehrenden alevitischen Migranten begannen, in einem Prozess der religiösen Rekonstitution cemevis in Tunceli zu finanzieren. Siehe hierzu: Langer (2005, 87).

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6 Der hegemoniale Leugnungsdiskurs zu moderner Gewalt in Dersim

Melek Zorlu weist darauf hin, dass der Widerstand gegen das Cami-Cemevi-Projekt unter den Aleviten aus Tunceli besonders stark sei, da das kollektive Gedächtnis an die Massaker 1938 eine entscheidende Rolle spiele und bewirke, dass dieses Projekt als Assimilationsmaßnahme wahrgenommen werde.177 Die öffentlich-rechtliche Anerkennung eines cemevi als Gebetshaus, die von alevitischen Aktivisten mit der Anerkennung ihrer religiösen Identität verknüpft wird, ist trotz langjähriger Forderungen bisher ausgeblieben.178 Der Diskurs des politischen Islam von Fethullah Gülen und der Cemaat deklariert öffentlich, in Übereinstimmung mit der AKP-Politik, auch die ethnisch nicht-türkischen Aleviten unter bestimmten Bedingungen als Teil des Islams zu akzeptieren. Im Anschluß an den kemalistischen Diskurs, verknüpft er die angestrebte, idealisierte Einigung des türkischen Islam mit der räumlichen Integrität der Türkei. Seine Haltung gegenüber „Agenten der Verschwörung im Inneren“, insbesondere Armeniern und syrische Christen, die Fetullah Gülen in Tunceli verortet, ist ambivalent. Zum einen schließt er sie als Ungläubige aus seinem türkisch-islamischen Einigungsprojekt aus. Zum anderen zielt der politische Islam in Form des Bildungsprojektes der Cemaat-Bewegung in Dersim auf den Ausschluss des tradierten Wissens über die Vergangenheit in der Region. Insbesondere betrifft das Erinnerungen im alevitischen kollektiven Gedächtnis an Gewalterfahrungen in der osmanischen Vergangenheit. Ähnlich wie der kemalistische Diskurs für die Aufnahme in die türkische Nation knüpft der Diskurs von Fethullah Gülen die Aufnahme in die muslimische Erinnerungsgemeinschaft an die Übernahme der Leugnung als zentrale Bedingung. Den Nachkommen der alevitischen Überlebenden der Gewaltverbrechen von 1938 erlegt das Bildungsprojekt das Verschweigen der Täter und die Aneignung hegemonialen Wissens der türkisch-sunnitischen Mehrheitsgesellschaft auf.

6.4 Der institutionalisierte Diskurs über die Nachkommen der armenischen Überlebenden des Genozids 1915 aus Dersim Der Diskurs über die Überlebenden des Genozids an den Armeniern 1915 und deren Nachkommen aus der Region Dersim begann sich in den vergangenen

177 Zorlu (2015, 148–57). 178 Der türkische Ministerpräsident Bınalı Yıldırım strich am 24. 5. 2016 das Vorhaben, cemevis offiziell anzuerkennen, von der Liste des Regierungsprogramms der AKP.

6.4 Der institutionalisierte Diskurs über die Nachkommen des Genozids

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Jahren durch die Gründung des Vereins der Dersim-Armenier 2010 zu institutionalisieren. In der türkisch-armenischen Wochenzeitung AGOS beobachtete Vartan Estukyan eine Dynamik, die in den Jahren seit 2002 zu der Gründung mehrerer armenischer Vereine in den türkischen Provinzen geführt hat, wobei er den Verein der Dersim-Armenier von den Vereinen in Vakıflıköy, Sivas, Malatya und Arapkir unterscheidet. „Neben diesen Vereinen, die aus der armenischen Gemeinschaft hervorgingen, kann auch der Verein der Dersim-Armenier angeführt werden, der von den Dersim-Armeniern gegründet wurde, die nach der Islamisierung wieder zu ihrer armenischen Identität zurückkehren.“ 179 Um den Diskurs der Dersim-Armenier in dessen Umfeld einzubetten, wirft die Untersuchung zunächst einen Blick auf die Entwicklung des Diskurses des armenischapostolischen Patriarchats von Konstantinopel über die überlebenden Armenier in den Provinzen und insbesondere in Dersim. Vor diesem Hintergrund wird anschließend die Wissensproduktion über Dersim-Armenier in der Zeitschrift Dersiyad des Vereins der Dersim-Armenier analysiert, die als eine diskursive Rahmung der Rede über die Nachkommen der armenischen Überlebenden zu betrachten ist.

6.4.1 Der Diskurs des armenisch-apostolischen Patriarchats von Konstantinopel über die „Armenier in Anatolien“ Der armenisch-apostolischen Kirche kam als der bedeutendsten Institution der armenischen Gemeinschaft bis zum Genozid an den Armeniern 1915 eine tragende Rolle in der Konstruktion und Bewahrung der armenischen kollektiven Identität zu.180 Nach dem Genozid an den Armeniern schränkte die türkische Regierung den Wirkungsbereich des armenisch-apostolischen Patriarchats in Konstantino-

179 „Ermeni toplumunun içinden çıkan bu derneklerin yanında, Müslümanlaştıktan sonra yeniden Ermeni kimliğine dönen Dersimli Ermenilerin kurduğu Dersimli Ermeniler Derneği de eklenebilir.“, Estukyan, AGOS, 18. 3. 2012. 180 Während des Genozids an den Armeniern löste die jungtürkische Regierung das armenisch-apostolische Patriarchat von Konstantinopel auf und enthob den Patriarchen Zaven Der Yeghiayan von Konstantinopel (1868–1947) seines Amtes. Daraufhin floh dieser nach Bagdad ins Exil, von wo aus er 1919 nur für kurze Zeit nach Istanbul zurückkehrte, bevor er 1922 wieder gezwungen war, zu fliehen. Payaslian (2006, 149–72). Die Memoiren Der Zaven Yeghiayans erschienen 1947 in Kairo: Yeghiayan (2002). Zu Beginn des Kalten Krieges in den Jahren zwischen 1944 und 1950 durchlief das armenisch-apostolische Patriarchat von Konstantinopel eine Autoritäts- und Legitimitätskrise angesichts der Ansprüche von Seiten des Katholikats aller Armenier in Etschmiadsin (Armenische Sozialistische Sowjetrepublik) und des armenischen Katholikats von Kilikien in Antelias bei Beirut (Libanon), die sich zum Nachteil der armenischen Gemeinden in der Türkei abspielte, siehe: Suciyan (2016, 169–97).

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pel auf die armenische Gemeinschaft drastisch ein. Sein Einfluss wurde funktional auf allein religiöse Belange der Gemeinden und geographisch auf das Stadtgebiet von Istanbul reduziert.181 Nach dem Genozid 1915 bestand ein zentrales Anliegen des armenisch-apostolischen Patriarchats von Konstantinopel darin, nicht nur den armenischen Überlebenden, die von den Deportationen nach Konstantinopel geflüchtet waren, sondern auch denen, die in die Provinzen zurückkehrten oder dort verblieben waren, Unterstützung anzubieten.182 Die Etablierung und Institutionalisierung von Strategien des armenisch-apostolischen Patriarchats, um den Kontakt zu den armenischen Überlebenden aufzubauen und ihnen zu helfen, sollen hinsichtlich des darin geäußerten Bilds von überlebenden Armeniern in den Provinzen untersucht werden. In der Zeit nach der Krise des armenisch-apostolischen Patriarchats von Konstantinopel haben sich seit den 1950er Jahren zwei Patriarchen in Istanbul in besonderer Weise für die Armenier engagiert, die in die ländlichen Provinzen der Türkei zurückkehrten oder dort geblieben waren. Ihr Engagement lässt sich auch biographisch erklären. Karekin I. Khachadourian und Schnork Kalustian stammten beide aus den Ostprovinzen des Osmanischen Reiches und waren Überlebende des Genozids von 1915. In ihrer Rolle als Autoritäten des armenisch-apostolischen Patriarchats war ihr Umgang mit den Überlebenden des Genozids 1915 und mit deren Nachkommen diskursprägend und wird daher im Folgenden kurz vorgestellt.

6.4.1.1 Reintegration durch Bildung für Kinder aus den Provinzen in Istanbul – Karekin Khachadourian Karekin I. Khachadourian (1880–1961), in Trapezunt geboren, wurde nach seiner Rückkehr aus dem argentinischen Exil 1951 zum armenisch-apostolischen Patriarch und Erzbischof von Konstantinopel gewählt.183 1953 initiierte er die Gründung der armenischen Schule des Heiligen-Kreuzes Tbrevank (arm.: Surp Khach Tbrevank) im Stadtteil Üsküdar in Istanbul, die bis 1967 armenische Priester am armenischen theologischen Seminar (türk.: Surp Haç Tıbrevank Er-

181 Suciyan (2015b, 136–7). 182 Nach dem Genozid 1915 leistete die armenische Gemeinde in Istanbul den Überlebenden in speziellen Unterkünften (arm.: kaght’agan) Hilfe, siehe: Suciyan (2016, 48–53); Ekmekçioğlu (2013, 522–53). Armenische Kinder fanden in Waisenhäusern Zuflucht, siehe: Maksudyan (2014); Tachjian (2009, 60–80). Die moderne humanitäre Hilfe konstiuierte sich im Zusammenhang mit dem Genozid an den Armenier, siehe: Watenpaugh (2014, 159–81). 183 Karekin Khachadourian hinterließ seine autobiographischen Erinnerungen, die auf Armenisch veröffentlicht wurden: Sirowni (2003).

6.4 Der institutionalisierte Diskurs über die Nachkommen des Genozids

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meni Ruhban Okulu) ausbildete.184 Die Tbrevank-Schule war eine von fünf armenischen Sekundarschulen in Istanbul, die als Internatsschule vor allem armenische Jungen aus den türkischen Provinzen aufnahm.185 Aufgrund der Schließung und des Verbots der Neueröffnung armenischer Schulen in den Provinzen der Türkei bot die armenische Internatsschule Tbrevank in Istanbul für die auf dem Land lebenden Armenier die einzige Möglichkeit, ihren Kindern eine armenische Ausbildung zu bieten.186 Auch angesichts der sozialen Diskriminierung, der Armenier in den Provinzen ausgesetzt waren, stellte sie eine wesentliche Motivation für die Migration armenischer Überlebender nach Istanbul dar.187 Im Rahmen dieses Schulprojekts gab Karekin Khachadourian den Anstoß für eine Initiative, durch die armenische Jungen in den Provinzen der Türkei gesucht und nach Istanbul an die Internatsschule Tbrevank gesandt wurden.188 So ritt der armenische Priester Der Giragos in Diyarbakır von Dorf zu Dorf, um Kinder armenischer Überlebender für die Schule zu finden und nach Istanbul zu schicken, um ihnen eine Schulbildung auf Armenisch zu ermöglichen. 6.4.1.2 Reintegration zwangsislamisierter Nachkommer armenischer Überlebender – Schnork Kalustian Als Nachfolger von Karekin I. Khachadourian engagierte sich ab 1963 auch Schnork I. Kalustian (1913–1990) als armenisch-apostolischer Patriarch und Erzbischof von Konstantinopel für die armenischen Überlebenden des Genozids und deren Nachkommen.189 Schnork Kalustian wurde am 27. 11. 1913 in İğdeli bei Çandır, im Bezirk Yozgat geboren und überlebte als Kind den Genozid dadurch, dass seine Mutter unter Zwang eine zweite Ehe mit einem Türken einging und zum Islam konvertierte.190 Aufgrund dieser Überlebensgeschichte seiner Mutter und eines Teils seiner Familienmitglieder war er Zeit seines Lebens in persönlichem Kontakt mit zum Islam zwangskonvertierten Armeniern. Daraus

184 Suciyan (2015b, 137). 185 Tbrevank akzeptierte als Schüler aus Istanbul nur armenische Waisenjungen. Im Istanbuler Stadtteil Gedikpaşa gab es eine weitere Internatsschule für armenische Kinder aus den Provinzen, die von dem armenisch-protestantischen Pastor Hrant Güzelian gegründet wurde, Cheterian (2015, 5–7). 186 Die Schließung betraf alle armenischen Bildungseinrichtungen in den Provinzen der Türkei, sodass seit dem Genozid eine armenische Ausbildung nur noch in den zwei armenischen Internatsschulen in Istanbul möglich ist. Siehe Bayır (2013a). 187 Suciyan (2016, 44). 188 Suciyan (2015b, 137). 189 Schnork Kalustian starb am 7. 3. 1990 in Etschmiadsin in der armenischen Sowjetrepublik. Pamukçiyan (1994, 400). 190 Hadjian (2015, 45).

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lässt sich sein besonderes Engagement für diese Gruppe erklären. Bei einem Treffen mit der armenischen Gemeinde in Jerusalem im Jahr 1980 stellte Patriarch Schnork Kalustian eine Systematisierung der armenischen Bevölkerung in Anatolien vor, die er in vier Kategorien unterteilte: 1. Armenier, die bewusst und aus eigenem Willen zum Muslim wurden, die von der armenischen Gemeinde getrennt unter Türken leben; eine Gruppe von etwa einer Million. 2. Armenier, die vor drei Generationen muslimisch wurden, die sich in Strukturen gruppieren, die denen der Kurden ähneln und die unter Kurden leben, es allerdings vermeiden, sich mit ihnen zu vermischen. In Hınıs gibt es davon hundert Familien, die, wenn die Umstände es zulassen würden, zur armenischen Kirche zurückkehren würden. 3. Armenier, die gewollt oder ungewollt zum Muslim wurden, die sich noch als Armenier fühlen und die bei ihrem Zuzug nach Istanbul vor Gericht die Änderung der in ihrem Ausweis angegebenen Religionszugehörigkeit von „muslimisch“ in „armenisch“ beantragen. 4. Armenier, die auf dem Land weiterlebten, die trotz offensichtlicher und nicht offensichtlicher Zwänge unverändert (unvermischt) geblieben sind und die heute den größten Teil der armenischen Gemeinde in Istanbul ausmachen, armenisch kavarahay.191

In dieser Systematisierung klassifiziert Schnork Kalustian die armenischen Überlebenden des Genozids aus den Provinzen nach den Umständen und Bedingungen ihres Über- und Weiterlebens. Von diesen sei ihr aktuelles Verhältnis zur armenisch-apostolischen Kirche wesentlich geprägt. Die hierarchisierende Ordnung dieser Klassifizierung entwirft die Zugehörigkeit zur armenisch-apostolischen Gemeinde in Istanbul als ideale, da „unveränderte“ und „unvermischte“ Art des Weiterlebens der Armenier in der Türkei. An diesem Ideal orientiert, stuft er das Verhältnis der zwangsislamisierten armenischen Überlebenden und ihrer Nachkommen zur armenischen Gemeinde graduell nach ihrer willentlichen Konversion zum Islam ein. Für ihre als erstrebenswert codierte Re-Konversion zum armenisch-apostolischen Glauben zieht er psychologische, räumliche und zeitliche Faktoren in Betracht. Als ausschlaggebend für die Zugehörigkeit zur armenisch-apostolischen Gemeinde gilt ihm der psychologische Faktor, der bestimme, inwieweit die Konvertiten sich ihrer religiösen Zugehörigkeit bewusst und inwieweit sie zur Rekonversion gewillt waren. Ein räumlicher Faktor bestehe in dem jeweiligen Lebensgebiet, der den Grad der „Vermischung“ der Konvertiten mit der türkischen oder kurdischen Mehrheitsbevölkerung bedinge. Zeitliche Faktoren für die Rekonversion stellen für ihn der Zeitpunkt ihrer Konversion oder der ihrer Vorfahren und der ihres Zuzugs nach Istanbul dar.

191 Ermenilik, 11. 11. 2013, AGOS; Hadjian (2015, 45–6).

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In dieser Kategorisierung wird in der Türkei eine klare räumliche Präferenz auf Istanbul als Lebensort für armenisch-apostolische Armenier gelegt, da der Wirkungsbereich des Patriarchats seit dem Genozid auf Istanbul eingeschränkt worden war. Nur diejenigen nicht-konvertierten Armenier, die vom Land nach Istanbul gekommen waren, die er als kavarahay bezeichnet, erkennt er mit dieser Kategorisierung vorbehaltlos als zur armenischen Gemeinde zugehörig an, während hingegen die in den Provinzen weiterlebenden Armenier, die er als Konvertiten zum Islam ansieht, die sich mit Türken und Kurden „vermischt“ hätten, davon unterscheidet. Ihre Reintegration in die armenisch-apostolische Gemeinde wird dabei an die Bedingungen geknüpft, nach Istanbul zu ziehen, sich ihrer religiösen Zugehörigkeit bewusst zu werden und eine Rekonversion anzustreben. Infolge der Zerstörung und des Verlusts zahlreicher armenischer Kirchenarchive in den ruralen Gebieten des Osmanischen Reichs während des Genozids ergab sich für das Patriarchat das Problem, eine Zugehörigkeit zur Kirche über Taufurkunden aus der Zeit vor dem Genozid nicht überprüfen zu können.192 Der mangelnde urkundliche Nachweis über die Zugehörigkeit zur armenisch-apostolischen Kirche erklärt die Betonung der willentlichen Entscheidung und des Bewusstseins der Konvertiten. Die hier vorgestellte Kategorisierung der armenischen Überlebenden in den Provinzen der Türkei war in der geschlossenen Diskursgemeinschaft der armenisch-apostolischen Kirche bekannt. Sie ist als Ausdruck der Unentrinnbarkeit des Leugnungsdiskurses zu verstehen, da ihre Kriterien für eine Wieder-Aufnahme die durch den Genozid geschaffenen diskursiven Zwänge spiegeln, welche das Schweigen über die verlorene armenische Konfession vorschrieben. Das diesbezügliche Wissen konstituierte sich in der Zeit des Militärputsches 1980, in der in der Türkei der öffentliche Leugnungsdiskurs eine Reformulierung erfuhr, wonach die armenischen Überlebenden exterritorialisiert und als „äußere Feinde“ aufgefasst wurden.193 Die Nachkommen der Überlebenden des armenischen Genozids, die in den Provinzen unter schwierigen Bedingungen weiterlebten, riefen erst Anfang der 2000er Jahre ein breites Interesse in der Öffentlichkeit der Türkei hervor. 6.4.1.3 Aram Ateşyan über islamisierte Nachkommen von Armeniern: „Aus Wein werden sie zu Essig“ Der armenische Erzbischof Aram Ateşyan trat am 4. Juli 2010 sein Amt als genereller Stellvertreter des erkrankten Patriarchen der armenisch-apostolischen 192 Bis zum Genozid konstituierte sich die Zugehörigkeit zur armenisch-apostolischen Kirche traditionell über die Taufe, dem Aufnahmeritual in die armenische Gemeinde. 193 Mit dem Militärputsch von 1980 setzte der Diskurs über den „Terror“ in der Türkei ein, siehe Bayraktar (2010).

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Kirche von Konstantinopel, Mesrop Mutafyan, an. Im türkischen Fernsehen befragte ihn Erkam Tufan Aytav in der Sendung Analiz am 27. April 2013 zu den zwangskonvertierten armenischen Überlebenden in den Provinzen der Türkei, insbesondere in Diyarbakır und Tunceli. Die Einschätzung Aram Ateşyans knüpft an den öffentlichen Diskurs über islamisierte Armenier in der Türkei an, wie er sich seit 2004 mit der Veröffentlichung autobiographischer Memoiren der Nachkommen entwickelt hatte. In dem Interview schildert er, wie sich zwei aus Tunceli gebürtige armenische Nachkommen bei ihm um die Aufnahme in die armenisch-apostolische Kirche in Istanbul bemühten: Erkam Tufan Aytav: Es wird gesagt, in der Gegend von Tunceli gäbe es eine sehr hohe Zahl an Krypto-Armeniern, stimmt das? Aram Ateşyan: Das ist richtig, in Tunceli sind vielleicht 90 Prozent konvertierte Armenier. Warum, werden Sie fragen. Ein Junge in seinen Dreißigern kam auf mich zu und sagte, ich habe armenische Wurzeln und ich möchte konvertieren. Ich habe gesagt, weise es nach. Er konnte es nicht nachweisen. Ich habe nicht zugestimmt. Aber er blieb hartnäckig, kam immer wieder, er ließ nicht ab, kam immer wieder und bedrängte mich. Später rief sein Vater an. Mein Herr, ich arbeite in der Bürgeramtsverwaltung, ich werde in Rente gehen, auch nach Istanbul kommen und konvertieren. Von der hiesigen Bevölkerung sind 90 Prozent Armenier, bitte geben Sie Ihre Zustimmung, sagte er. Ich habe dem zugestimmt. Er hat einen Kurs besucht, sich taufen lassen und ist Mitglied unserer Kirche geworden.194

Entsprechend der von Schnork Kalustian formulierten Faktoren für die Reintegration akzeptiert Aram Ateşyan nach längerem Zögern und trotz fehlenden Dokuments das Gesuch der beiden Nachkommen von Armeniern aus Dersim auf der Grundlage des Bewusstseins ihrer Zugehörigkeit zur armenisch-apostolischen Kirche und ihres Willens zu Rekonversion. Dem Argument des jungen Mannes aus Dersim zufolge, der zur armenisch-apostolischen Gemeinde „zurückkehren“ wollte, bestehe die Bevölkerung von Tunceli fast ausschließlich aus armenischen Konvertiten. Diese Aussage begegnet auch im türkisch-nationalistischen Leugnungsdiskurs Yusuf Halaçoğlus und dem Diskurs von Fethullah Gülen, allerdings um die Bevölkerung auszugrenzen. Letztere entwerfen in

194 „Erkam Tufan Aytav: Tunceli civarında çok fazla sayıda Kripto Ermeni olduğu söyleniyor. Bu doğru mudur? Aram Ateşyan: Doğrudur Tunceli’nin %90’ı belki dönme Ermeni’dir. Neden derseniz otuz yaşlarında bir çocuk geldi bana ve benim köküm Ermeni dedi, ben dönmek istiyorum dedi. Ben de ispatla dedim, ispatlayamadı, kabul etmedim. Ama inatla gitti geldi, vazgeçmedi, gitti geldi, rahatsız etti beni, daha sonra babası araı. Beyefendi dedi, ben belediye çalışıyorum, emekli olayım, bende İstanbul’a gelip döneceğim. Buradaki halkın %90’ı Ermeni’dir, lütfen kabul et dedi. Ben de kabul ettim, ders aldı, vaftiz oldu, kilisemizin üyesi oldu.“, in: Aram, Analiz, 28. 4. 2013.

6.4 Der institutionalisierte Diskurs über die Nachkommen des Genozids

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Tunceli kurdische Aleviten und armenische Konvertiten als „unzuverlässige, potenzielle Verräter an der türkischen Nation“ und als „Kollaborateure mit den äußeren Feinden“.195 Während Aram Ateşyan die Aussage über die Bevölkerung von Tunceli, wonach diese zu neunzig Prozent aus armenischen Konvertiten bestehe, im positiven Sinn aufnimmt, setzt er sie zugleich unumgänglich den Ausschließungsmechanismen des Leugnungsdiskurses aus, indem er sie öffentlich im Fernsehen wiederholt. Die empörte Kritik, die anschließend die holländische Dersim Stiftung (türk.: Hollanda Dersim Vakfı) an seiner Rede übte, ist Ausdruck der Leugnung, in dem die „Behauptung“, Teile der Bevölkerung in Tunceli seien armenisch, als Beleidigung empfunden und abgewehrt wird.196 Den sozialen Druck, dem armenische Überlebende und deren Familien in der postgenozidalen Gesellschaft in Dersim von staatlicher, nicht-staatlicher und ziviler Seite ausgesetzt sind, beschreibt Aram Ateşyan folgendermaßen: Erkam Tufan Aytav: Für sie ist es auch schwer, der gesellschaftliche Druck, gegenüber allen in ihrer Umgebung haben sie sich bisher als Muslim ausgewiesen und nun auf einmal herauszutreten und zu sagen, ich bin Christ, das ist eine sehr schwere Entscheidung, nicht wahr? Aram Ateşyan: Ihre Umgebung besteht zu 80 Prozent aus konvertierten Armeniern, aber wenn Wein kippt, wird er zu Essig. Sie werden zu noch strenggläubigeren Muslimen.197

Die Metapher von dem sauer gewordenen, zu Essig vergorenen Wein, die er für die armenischen Konvertiten zum Islam verwendet, konnotiert den unwiederbringlichen Verlust der früheren Reinheit. Deshalb würden die Opfer der Zwangskonversion und ihre Nachkommen heute diejenigen unter ihnen hemmen, die

195 „Die als Kurden-Aleviten bekannten Menschen sind leider armenische Konvertiten. Und die in der TİKKO und in der PKK arbeitenden Menschen zählen zum größten Teil zu diesen.“, („Kürt-Alevi olarak bilinen birçok insan da maalesef Ermeni dönmeleri. Ve TİKKO’nun içerisinde yer alan, PKK’nın içerisinde yer alan insanlardan birçoğu bunlardan.“) in: Türk Tarihinde, turktoresi, 18. 8. 2007. Yusuf Halaçoğlu, damaliger Vorsitzender der „Türkischen Geschichtsgesellschaft“ (türk.: Türk Tarih Kurumu) und Abgeordneter der „Partei der nationalistischen Bewegung“ (türk.: Milliyetci Hareket Partisi, MHP) auf dem Afscharen-Symposium in Kayseri. 196 Am 3. 5. 2013 wandte sich die ‚Dersim Stiftung Holland‘ in einem offenen Beschwerdebrief an Aram Ateşyan. In ihrem Schreiben bestritt sie die Existenz von Krypto-Armeniern in Dersim. In diesem Zusammenhang leugnete sie den sozialen Druck der alevitischen Gemeinschaft in Dersim gegenüber Nicht-Aleviten. Anstelle dessen rekurrierte sie auf den von Schuldabwehr geprägten Diskurs über die Aleviten in Dersim, die den flüchtenden Armeniern 1915 geholfen hätten, Hollanda Dersim, Dersim Haber, 7. 5. 2013. 197 „Erkam Tufan Aytav: Onların işleri de zor toplum baskısı herkese çevresine Müslüman demişler bu zamana kadar, sonra birden çıkıp diyeceklerdi ben Hristiyandım. Çok zor bir karar değil mi? Aram Ateşyan: Onların çevresindekilerin yüzde sekseni dönme Ermenidir ama şaraptan dönme sirke oluyorlar. Daha koyu Müslüman oluyorlar.“, in: Aram, Analiz, 28. 4. 2013.

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sich zum armenisch-apostolischen Glauben bekennen wollen. Unerbittlich diktiert der Leugnungsdiskurs die Schuldverschiebung, sodass Aram Ateşyan die Verantwortung für die Situation des sozialen Drucks in der postgenozidalen Gesellschaft auf die Opfer und ihre Nachkommen verschiebt. Dementsprechend präzisiert er die Bedingungen für die Aufnahme konvertierter Armenier und ihrer Nachkommen in die armenisch-apostolische Kirche: Erkam Tufan Aytav: Stehen Sie ihnen, um ihre religiöse Motivation zu unterstützen, als Kirche zu Diensten? Aram Ateşyan: Wir können ihnen nicht zu Diensten stehen, welche Art von Unterstützung könnten wir ihnen denn leisten, sie sind keine Christen, wenn sie es auch dem Blut und der Seele nach sind, sind sie doch keine Christen, nur von ihrem Aussehen her kann ich ihnen keine Hilfe leisten. Außer einzelnen Verwandten kann ich ihnen als Kirche keine Unterstützung bieten. Außer sie lassen sich taufen, lassen ihren Personalausweis ändern, und werden Christen, nur so.198

Die Frage des Moderators nach den Bemühungen des Patriarchats um die Konvertiten weist Aram Ateşyan in einer Abwehrreaktion zurück, um einem antizipierten Vorwurf vorzubeugen, wonach die armenisch-apostolische Kirche Verrat an der türkischen Nation üben würde, würde sie beabsichtigen, zum Islam konvertierte türkische Bürger zur Konversion zum christlichen Glauben zu animieren. Entsprechend des nationalstaatlichen Diskurses der eindeutigen Identifikation der Bürger betont auch Aram Ateşyan, dass die religiöse Zugehörigkeit nicht ohne staatlichen Eintrag im Personalausweis gelten könne.199 Der Kircheneintritt fungiert für die Nachkommen zumeist als identifikative Rückbezugnahme auf ihre armenischen Vorfahren und auf deren Zugehörigkeit zur armenischen Kirche. Jedoch kann in diesem Diskurs über die Nachkommen der zwangskonvertierten Armenier vonseiten des armenisch-apostolischen Patriarchats nicht zwischen einer Identifikation mit der armenischen Gemeinschaft und der Zugehörigkeit zur armenischen Kirchengemeinde durch Taufe und dementsprechenden Eintrag in den Personalien unterschieden werden. Es zeigt sich, dass die Wissensproduktion des armenisch-apostolischen Patriarchats über die armenischen Überlebenden in den Provinzen von Beginn an

198 „Erkam Tufan Aytav: Onların dini motivasyonlarını sağlamak adına hizmet veriyor musunuz kilise olarak? Aram Ateşyan: Onlara hizmet veremeyiz, ne tür hizmet verebileceğiz ki, Hristiyan değil kanında olsa canında olsa Hristiyan değil, görüntüde ben ona hizmet veremem. Bireysel akrabalıklar hariç kilise olarak hizmet veremem. Ancak vaftiz olacak, kimliğini değiştirecek Hristiyan olacak öyle.“, ebd. 199 Özgül (2014, 622–49).

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deren Reintegration in die armenisch-apostolische Kirche über die armenische Schulbildung in Istanbul anstrebte. Entsprechend der rechtlichen Einschränkungen, die das Patriarchat in der Republik erfuhr, knüpfte es die Reintegration der armenischen Überlebenden an die Bedingungen, dass diese nach Istanbul ziehen und sich formal taufen lassen sollten. Die öffentlichen Äußerungen Aram Ateşyans legen den zwangskonvertierten Armeniern die Situation des sozialen Drucks in der Türkei zur Last, die ihre Rekonversion verhindere. Dies geschieht nolens volens aufgrund der Ausschließungsmechanismen des hegemonialen Leugnungsdiskurses, der es in Schuldumkehr nur zulässt, die Opfer selbst für ihren erlittenen Verlust und ihr Leid verantwortlich zu erklären. Insbesondere die Aussagen der Nachkommen der christlichen Armenier sind im öffentlichen Raum in der Türkei den semantischen Verdrehungen des Leugnungsdiskurses ungeschützt ausgesetzt. Durch die diskursive Verflechtung von national-staatlicher und religiöser Identifikationspolitik wird die Möglichkeit des identifikativen Rückbezugs der Nachkommen der armenischen Überlebenden auf die armenische Gemeinschaft in diesem Diskurs nicht berücksichtigt. Im Folgenden wird untersucht, wie die Zeitschrift der Dersim-Armenier Dersiyad mündlich überlieferte Erinnerungen der Überlebenden und ihrer Nachkommen an Vergangenheiten rekonstruiert und wie sie das Schweigen und den daraus resultierenden Bruch angesichts der allgegenwärtigen Leugnung thematisiert.

6.4.2 Die institutionalisierte Wissensproduktion über „Dersim-Armenier“ in der Zeitschrift Dersiyad Der Diskurs über Armenier aus den Provinzen des Osmanischen Reichs fand seinen Anfang in den „Heimatstadtorganisationen“ in der armenischen Diaspora. In der Türkei konnten sich jedoch erst zwischen 2002 und 2010 armenische „Heimatstadtvereine“ herausbilden.200 Ihre Begründer und Mitglieder leben überwiegend in Istanbul, wo auch die meisten Vereinsveranstaltungen stattfinden. Darüber hinaus werden Veranstaltungen in der armenischen Diaspora und Besuche der jeweiligen Orte, die als Heimatstädte zu identifikativen Bezugspunkten werden, organisiert.201

200 Ein Verein gründete sich in dem einzigen armenischen Dorf in der Türkei, das nach dem Genozid bestehen blieb, in Vakıflıköy (türk.: Vakıflı köy Derneği) 2002, daraufhin in Sason (türk.: Mutki ve Sason Ermenileri Dayanışma Derneği), dann in Dersim am 20. 10. 2010 und am 23. 10. 2010 Malatya (türk.: MalatHAYDer), und Sivas (türk.: Sivas Ermenileri ve Dostları Derneği), siehe: Malatyalı, AGOS, 2. 11. 2010. 201 Für einen konzeptuellen und historischen Überblick zu „Heimatstadtorganisationen“ in der Türkei, siehe Hersant (2005, § 2–3; 41–2).

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Die türkisch-armenische Wochenzeitung AGOS, die Hrant Dink 1996 in Istanbul gründete, sollte, wie er in einem Interview Ende Oktober 2005 erklärte, der armenischen Gemeinschaft in der Türkei dazu dienen, sich gegen Vorwürfe, die Armenier in der Türkei seien Terroristen mit Verbindungen zu ASALA und Teil des kurdischen Guerillakampfs der PKK, zu verteidigen.202 In dieser Perspektive erscheint es eine Reaktion auf den türkischen Leugnungsdiskurs und den generalisierten Vorwurf des armenischen und kurdischen „Terrors“ in der Türkei gewesen zu sein, der Hrant Dink veranlasste, AGOS zu gründen. Über die Jahre entwickelte sich die AGOS-Redaktion zur Anlaufstelle für Armenier, die nach Kontakt zu vermissten Familienangehörigen suchten und berichtete zudem in einer eigenen Rubrik regelmäßig über die Aktivitäten der armenischen „Heimatstadtvereine“ in der Türkei. Am 25. 10. 2010 gründete sich der „Dersim-Armenier Verein für Soziales, Glauben und Solidarität“ (türk.: Dersim Ermenileri Sosyal İnanç ve Yardımlaşma Derneği, DERSİYAD) in Istanbul, der ein spezifisches diskursives Wissen über die Dersim-Armenier konstituiert und verbreitet. Der Verein veröffentlichte die gleichnamige Zeitschrift Dersiyad, die von Miran Pirgiç Gültekin herausgegeben wurde, die zwischen April 2011 und August 2013 mit insgesamt sieben Ausgaben erschienen ist. Generell gliederte sich die Zeitschrift, die überwiegend in türkischer, aber auch in armenischer Sprache erschien, in einen ersten Teil, mit aktuellen Nachrichten aus dem Verein, der Gemeinde, Dersim, der Republik Armenien und der armenischen Diaspora. Danach folgen in freier Reihenfolge Reportagen, Meinungsartikel, Buchvorstellungen und Forschungsartikel. Für diese Untersuchung ist besonders bemerkenswert, dass auch autobiographische Erinnerungen von Armeniern aus Dersim, darunter historische Zeugnisse, veröffentlicht wurden.203 Der thematische Schwerpunkt der Zeitschrift liegt auf der Rekonstruktion der Geschichte der armenischen Bevölkerung in Dersim, wofür oft autobiographische Erinnerungen herangezogen werden. So wird der Genozid an den Armeniern 1915 in Dersim auf der Grundlage von Zeugnissen von armenischer Überlebender in türkischer Übersetzung wiedergegeben.204 Zudem nehmen autobiographische Erzählungen von Nachkommen armenischer Überlebender aus Dersim und den benachbarten Regionen Malatya und Sivas, die ihre Erfahrungen der „Rückkehr“ schildern, einen bedeutenden Platz ein.205

202 Matossian (2007, 33). 203 [o.A.], Dersiyad 2 (2012, 32–55). 204 [o.A.], Dersiyad 1 (2012, 18); Maraşlı, Dersiyad 2 (2012, 2–6), Hayreni, Dersiyad 2 (2012, 10–31). 205 Devletli, Dersiyad 1 (2012, 19); Güneş, Dersiyad 3 (2012, 30); Onaran, Dersiyad 4 (2012, 16–7); [o.A.], Dersiyad 4 (2012, 21); Kılıç, Dersiyad 4 (2012, 22–3); Opçin, Dersiyad 7 (2013, 2–9); Kılıç, Dersiyad 7 (2013,10–2).

6.4 Der institutionalisierte Diskurs über die Nachkommen des Genozids

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In den Titeln dieser Erfahrungsberichte „Erinnern, dass wir Armenier sind“, „Gibt es Platz für mich unter euch?“, „Eine Handvoll Sehnsucht“ und „Grabsteine, an denen sich vermisste Armenier wiederfinden“ wird eine kollektive Identität entworfen, die sich durch die geteilte Erfahrung der fragmentierten Erinnerungen und deren mühsamer Rekontextualisierung in semantischen Rahmen konstituiert. Eine Nachkommin von Armeniern aus Dersim erinnert sich an ihre vergeblichen Bemühungen, von ihren Eltern Auskunft über ihre Familiengeschichte zu erhalten: Was sind wir also? „Meine Tochter, ist das so wichtig, was wir sind? Wir sind alle Menschen auf dieser Welt, was wichtig ist, ist die Menschlichkeit und dein Charakter“ sagte mir mein Vater. Na gut, Vater, weißt du denn nicht: Wenn du das Fundament eines Gebäudes nicht stabil baust, wird es nicht lange stehenbleiben, davon haben wir alle gehört, nicht wahr? […] Meine Kinder werden auch Menschenkinder sein, weißt du, Vater. Aber sie werden von einer soliden Basis auf diesen Weg der Menschlichkeit treten, in dem Wissen, wer sie sind. Ohne betrogen zu werden, ohne Beeinflussung, ohne unter jemandes ethnischem Dach Zuflucht zu suchen, werden sie ihre menschlichen Gedanken entwickeln. Ohne sich wie wir mit dem Unrat der Unwissenheit, Befangenheit und Unterdrückung herumzuschlagen.206

In diesem imaginierten Dialog wirft sie ihrem Vater zentral vor, ihr das Wissen über ihre armenische Identität vorenthalten zu haben. Zugleich hält sie dieses Wissen für das Weiterleben ihrer Kinder für unverzichtbar. Indem sie das Verschweigen ihrer Eltern ablehnt, identifiziert sie sich mit einer armenischen Identität, wobei sie unbeantwortet lässt, auf welcher alternativen Grundlage zu der unterlassenen mündlichen Überlieferung ihrer Vorfahren, sie sich dieses Wissen erschließen könnte. Über diese „Wieder-Entdeckung“ der armenischen Identität hinaus rekonstruiert die Zeitschrift ein kulturelles Wissen aus der armenischen Erinnerungs- und Forschungsliteratur, das sich auf das kulturelle Vermächtnis der armenischen sakralen Architektur und der alten armenischen Ortsnamen in Dersim bezieht.207 Wie in diesem Zusammenhang aus einem Leit-

206 „Biz peki neyiz? ‚Kızım, çok mu önemli ne olduğumuz, hepimiz bu dünyanın insanıyız, önemli olan insanlık ve kişiliğin’ derdi babam bana. Peki Baba, sen bilmez misin bunu: Bir binanın temelini sağlam yapmazsan, çok uzun ayakta durmayacağından hepimiz haberdarız, değil mi?“ (…) „Benim çocuklarımda dünya insanı olacak, biliyor musun baba. Ama sağlam bir temelden, ne olduklarını bilerek çıkacaklar o insanlık yoluna. Kandırılmadan, etki altında kalmayarak, kimsenin etnik çatısına sığınmayarak uygulacaklar insanlık düşüncelerini. Bizim gibi bilgisizliğin, çekingenliğin ve ezikliğin döküntüleri ile uğraşmadan.“, in: Devletli, Dersiyad 1 (2012, 19). 207 [o.A.], Dersiyad 2 (2012, 56–60); Kartasyan, Dersiyad 4 (2012, 27); [o.A.], Dersiyad 5 (2012, 28–9); Yalgın, Dersiyad 7 (2013, 19–20).

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6 Der hegemoniale Leugnungsdiskurs zu moderner Gewalt in Dersim

artikel von Miran Pirgiç hervorgeht, verfolgt die Zeitschrift das Ziel des „Kennenlernens der eigenen Identität“ der Dersim-Armenier:208 Unsere Sprache, unsere Kultur und auch unser Glaube sind mit unseren Toten begraben. In der Umgebung, in der wir leben, sind wir zu dem geworden, was wir sind. Unsere Großeltern haben heimlich einige Dinge besprochen. Wenn wir unsere Ohren spitzen wollten, antworteten sie „Hör nicht hin, mein Kind“, danach führten sie ihre Unterhaltung mit leiser Stimme fort. Wir haben uns sehr dagegen gewehrt, uns zu verstecken, diese Gegend wird Geheimnisse nicht mehr länger bewahren. (…) Die Dersim-Armenier haben in der Vergangenheit sowohl 1915 als auch 1938 erlebt und einen schweren Zoll gezahlt. Es gibt immer noch welche, die gezwungen sind, als Geiseln ihrer Ängste und im Krieg zu leben. Der Verein der Dersim-Armenier strebt danach, den Dersim-Armeniern als Alternative zur Assimilation, der sie in ihrem Leben ausgesetzt waren, einen Lebensbereich zu öffnen. Er [der Verein, A.d.A.] möchte einen Weg bahnen, um die gezwungenermaßen versteckten Gefühle und die Kultur, ohne sich zu verstecken, auszuleben. Auch für uns ist das eine Entdeckung. Er [der Verein, A.d.A.] bemüht sich, unsere Wahrheit neu zu entdecken und den Dörfern, die noch zu sehen sind, ein Schlüssel zu sein. Wir laden Euch mit Ortsnamen aus der armenischen Erinnerungs- und Forschungsliteratur zu dieser Entdeckung ein.209

Um das Schweigen der älteren Dersim-Armenier zu überwinden, sieht Miran Pirgiç einen Weg darin, sich die armenische Identität wiederanzueignen. Das Wissen über die armenische Kultur, dass ihnen ihre Vorfahren nicht mündlich überliefern konnten, soll durch die gemeinschaftlich „neu entdeckte Wahrheit“ ersetzt werden. Miran Pirgiç schlägt vor, die fehlende intergenerationale Überlieferung der familiären Erinnerung zur Generierung dieses Wissens durch andere Quellen zu ersetzen.

208 „Dersim Ermenileri İnanç ve Sosyal Yardımlaşma Derneği, Dersimli Ermenileri’nin yaşadıkları acılara rağmen kendi kimliklerini öğrenmeleri ve zenginleştirerek sürdürmeleri amacıyla çalışmalarına başladı.“, in: Dersim Ermenileri Blog, 25. 11. 2010: 209 „Dilimiz, kültürümüz, inancımız da ölülerimizle birlikte gömülmüş. Yaşadığımız coğrafya da bizler değişen bizler olmuşuz. Büyüklerimiz hep bizden saklı bir şeyler konuşur oldu. Kulak kabartmak istendiğimizde ‚Sen duyma evladım‘ cevabı yapıştırılır, sonra anlaşılmaya devam ettikleri sessiz bir dilin muhabbeti başlardı. Çok direndik kendimizi saklamak için ama bu topraklar daha fazla sırları kaldırmadı. (…) Dersim Ermenileride tarihte hem 1915’i hem de 1938’i yaşayarak ağır bedeller ödedi. Hala korkularının esareti ile savaş içinde yaşamak zorunda olanlar var. Dersim Ermenileri Derneği, Dersim Ermenilerin yaşamlarında mahkum kılındıkları asimilasyona karşı bir yaşam alanı açmayı hedefliyor. Gizlenmek zorunda kalan duyguların, kültürün gizlenmeden yaşanması için bir yol olmaya çalışıyor. Bir keşif aslında bizimkisi. Kendi gerçeğimizi yeniden keşfetmeye görünen köye kılavuz olmaya çalışıyor ve sizleri de bu keşife davet ediyoruz.“, in: Pirgiç, Dersiyad 1 (2011, 3).

6.4 Der institutionalisierte Diskurs über die Nachkommen des Genozids

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Diese Texte erzählen von unseren Vorfahren, die eingefallene Klöster und verlassene Gräber zurückließen, die uns eine Verbindung zum Gestern und daher sehr wertvoll sind; es macht diese Texte für uns sehr kostbar, dass sie die lebendigen Erinnerungen an einen Teil unserer Dörfer und Klöster überliefern, die heute verfallen oder gänzlich von der Karte gelöscht sind. Uns Dersim-Armenier gibt es weder in der offiziellen Geschichte, noch in der inoffiziellen Geschichte, es gibt uns auch nicht in der Religions-und Kulturgeschichte von Dersim und auch nicht in der sozialen und politischen Geschichte …210

Um einen Zugang zur armenischen Vergangenheit herstellen zu können, der ohne die Erinnerungserzählungen der Vorfahren auskommt, verweist Miran Pirgiç auf die regionale armenische Erinnerungsliteratur und auf die materiellen Überreste der armenischen Kultur Dersims, aus denen sich Einblicke in die Zeit bis zum Genozid an den Armeniern rekonstruieren ließen. Aus dieser Betrachtung wird deutlich, dass sich die Rede der Dersim-Armenier in der heutigen Türkei zentral dem Problem gegenübersieht, auf welcher Grundlage eine kollektive Identität zu entwerfen sei, angesichts des Bruchs in der mündlichen Überlieferungstradition ihrer Vorfahren, der durch den Genozid verursacht wurde. Angesichts des Bedürfnisses, das Verlorene zu rekonstruieren, empfinden die Nachkommen das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern als ein Hindernis, das sie versuchen zu überwinden und an dem sie sich gleichzeitig orientieren müssen. Zwischen dem Verschweigen im öffentlich akzeptierten Diskurs und dem Schweigen ihrer älteren Familienmitglieder stehend, ringen sie mit dem Schweigen ihrer Angehörigen, da es ihnen und ihren Kindern das Wissen über ihre armenische Familiengeschichte verwehre. Aufgrund des Schweigens versuchen sie sich über die verschriftlichten Zeugnisse der armenischen Überlebenden ein Wissen über die armenische Vergangenheit zu erschließen. In der Analyse der Erinnerungserzählungen der Nachkommen der Armenier aus Dersim geht die Untersuchung dem Schweigen und seinen unterschiedlichen Funktionen weiter nach. Aus der Rekonstruktion des hegemonialen Leugnungsdiskurses in verschiedenen institutionalisierten Diskursen in der Türkei zeigt sich, wie diese ein spezifisches Wissen über Dersim konstituieren. Sie stellen dabei Bedingungen der Rede für die Nachkommen der Armenier aus Dersim und die alevitischen Dedes auf. Darin, wie die untersuchten Diskurse jeweils Wissen über Dersim entwer-

210 „Ardında yıkık manastırlar, kimsesiz mezarlar bırakan atalarımızdan bazı anıların anlatıldığı bu metinler, dünümüzden bize bir bağ olmaları babından çok değerlidir; bugün yıkılmış yada tümüyle haritadan silinmiş bir kısım köylerimizden, manastırlarımızdan canlı anıları aktarması, bu metinleri bizim için değerli yapmaktadır. Biz Dersimli Ermeniler resmi tarihte yokuz, gayri resmi tarihte yokuz, Dersimin inanç ve kültür tarihinde yokuz, sosyal ve siyasal tarihinde yokuz …“, in: Pirgiç, Dersiyad 6 (2013, 3).

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6 Der hegemoniale Leugnungsdiskurs zu moderner Gewalt in Dersim

fen, referrieren sie auf vielfältige Weise aufeinander und verstärken darüber die diskursiven Ausschließungsmechanismen. Als maßgeblich erweist sich dabei der jungtürkisch geprägte kemalistische Diskurs über Dersim, an dem sich die darauffolgenden Diskurse orientieren. Als zentrale Bedingung für die Teilnahme an den institutionalisierten Diskursen formulieren sie die Übernahme ihres jeweiligen Geschichtsbilds und die Aufgabe anderer Bezüge zu Vergangenheiten. Die Diskurse des armenisch-apostolischen Patriarchats und der DersimArmenier ringen um einen Artikulationsraum, da der Leugnungsdiskurs jegliche nicht konforme Aussage in Zweifel zieht und sie zur Übernahme der semantischen Verdrehung ihrer Aussagen zwingt. Die hier vorgenommene Analyse des hegemonialen Leugnungsdiskurses in seinen verschiedenen Ausprägungen und Auswirkungen dient im Folgenden als Folie für die Analyse der autobiographischen Erinnerungserzählungen aus Dersim, um zu untersuchen, inwieweit die Erzählenden dem hegemonialen Leugnungsdiskurs verhaftet bleiben und inwieweit sich Motive nachweisen lassen, die sich dessen machtvollen Zuschreibungen entziehen können.

7 Repräsentationen von Vergangenheiten in Dersim Diese Untersuchung analysiert autobiographische Erinnerungserzählungen von zwei Bevölkerungsgruppen in Dersim, zunächst der Nachkommen armenischer Überlebender und anschließend der alevitischen Geistlichen, den Dedes. Ziel ist es, die Möglichkeiten und Grenzen ihres Redens von Vergangenheit, insbesondere über ihre jeweiligen Erfahrungen von Gewalt zu beleuchten. Dabei wird herausgestellt, inwieweit ihre Erzählungen an die oben dargestellten Diskurse anschließen und inwieweit sich spezifische Motive nachzeichnen lassen, die auf Vorstellungen von Vergangenheit verweisen, die in institutionalisierten Diskursen verworfen werden. Die Erinnerungserzählungen beider Gruppen werden jeweils als eigene Diskurse aufgefasst und auf sie regelmäßig strukturierende Aussagereihen hin untersucht. Die thematische Auswahl der Reihen richtet sich nach Aussagen, die in den meisten der Erinnerungserzählungen auftreten. Die einzelnen Aussagereihen nehmen dabei vielfältig aufeinander Bezug.

7.1 Aussagereihen in autobiographischen Narrationen der Nachkommen armenischer Überlebender aus Dersim In diesem Abschnitt werden autobiographische Erinnerungserzählungen von Nachkommen der armenischen Überlebenden aus Dersim als ein distinkter Diskurs untersucht, der sich aus spezifischen Aussagereihen konstituiert. Diese autobiographischen Erinnerungserzählungen schließen, wie eingangs bereits ausgeführt, überwiegend an den hegemonialen Leugnungsdiskurs an. Im Folgenden wird in den Blick genommen, inwieweit die armenischen Überlebenden und ihre Nachkommen aus Dersim ihnen aus dem Familiengedächtnis überlieferte und eigene Erinnerungen an erlittene Gewalterfahrungen zu erzählen vermögen. Maßgeblich für ihre Erinnerungen sind einige biographische Aspekte der Erzählenden, da sie ihren jeweiligen sozialen Erinnerungsrahmen bestimmen. Die wichtigsten dieser Aspekte sollen hier einleitend umrissen werden. Die Erzählenden identifizieren sich über ihre Herkunft aus Dersim, dem späteren Tunceli, wobei dafür die Herkunft ihrer Familie entscheidend ist. Aufgrund der Gewaltereignisse, der Zerstreuung infolge der Flucht 1915 und der Deportation 1938 sind nicht alle Erzählenden in Dersim, dem späteren Tunceli, geboren, vielmehr ist dies abhängig von ihrem Geburtsjahr. Der Geburtsort der vor 1938 Geborenen liegt generell in Dersim. Die in den Jahren der Zwangsumhttps://doi.org/10.1515/9783110630213-007

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7 Repräsentationen von Vergangenheiten in Dersim

siedlung Geborenen verbrachten die ersten Jahre ihrer Kindheit normalerweise in einem der Verbannungsorte in der Westtürkei. Der Geburtsort der Wenigen, die 1938 nicht deportiert wurden und derer, die nach der Aufhebung des Siedlungsbanns und der Rückkehr ihrer Eltern aus der Verbannung 1947 geboren wurden, liegt wiederum in Tunceli. Die Familien von Nachkommen armenischer Überlebender, die nach dem Siedlungsbann nach Tunceli zurückkehrten, konnten nicht wieder in die Dörfer ziehen, in denen sie bis 1938 gelebt hatten. Entweder waren diese zum Sperrgebiet erklärt worden und daher nicht mehr zugänglich. Oder die alevitische Bevölkerung von Dersim hatte ihre Häuser beschlagnahmt und sie konnten ihr Eigentum nicht zurückfordern, da sie keine Eigentumsurkunden besaßen. Der türkische Staat wies den zurückkehrenden Familien der Nachkommen der armenischen Überlebenden in der Hauptstadt Tunceli in den peripheren Stadtteilen Gazi und Cumhuriyet Siedlungs-und Wohnraum zum Kauf an. In den 1970er Jahren verließen die meisten armenischen Nachkommen Tunceli, sodass sich ihr Lebensmittelpunkt heute entweder in Istanbul oder in der armenischen Diaspora befindet. Nur die Wenigsten leben weiterhin in Tunceli, davon wiederum ein noch kleinerer Teil auf den Dörfern. Selbst nur saisonale Besuche in den Dörfern sind zudem dadurch eingeschränkt, dass das Militär über viele Orte dauerhaft Zugangssperren verhängt hat.1 Abhängig von ihrem Lebensmittelpunkt boten sich den Armeniern in der Türkei nach dem Genozid 1915 eingeschränkte Möglichkeiten der Ausbildung und des Anschlusses an ein armenisches Gemeinschaftsleben. Aufgrund der Schließung aller armenischen Schulen, die vor dem Genozid 1915 in der Türkei außerhalb von Istanbul bestanden hatten, war in den Provinzen eine Ausbildung in armenischer Sprache nicht möglich.2 Selbst ein Zuzug nach Istanbul garantierte nicht die Aufnahme in einer der armenischen Schulen, da deren Kapazitäten begrenzt waren. In Dersim selbst war infolge der Zerstörung der armenischen Kirchen und der Zwangskonversion der Armenier zum Islam im Genozid 1915 ein armenisch-

1 Die militärischen Sperrgebiete (türk.: yasak bölgeleri) sind im Zentrum von Dersim, seitdem sie erstmals 1915 verhängt worden waren, bis heute nicht aufgehoben worden. Darüber hinaus erklärte das Militär weitere Gebiete während der Gewaltverbrechen 1938, mit dem Militärputsch 1980 und den Dorfräumungen 1994 zu Sperrgebieten. Die Einrichtung von Sperrzonen wurden von den jeweiligen Regierungen der Türkei durch die Verhängung des Militärrechts und des Ausnahmezustands legitimiert. Diese Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung von Tunceli wirkte sich drastisch auf ihre Erinnerungsrahmen aus, vgl. Göner (2012, 304). 2 Suciyan (2016).

7.1 Aussagereihen von Nachkommen der Armenier

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apostolisches Gemeindeleben unmöglich geworden. In der Zeit zwischen 1915 und 1937 gab es nur eine Ausnahme, die Klosterkirche Surp Garabed in Halvori, die sich in der Nähe des Dujik-Berges befand. Sie wurde jedoch 1937 durch die Bombenangriffe der türkischen Luftwaffe zerstört.3 Nach den staatlichen Gewaltverbrechen 1938 gab es in Dersim nur noch zerstörte Kirchen. Jedoch bestand in der benachbarten Stadt Elazığ neben einer Gemeinde syrischer Christen auch eine armenisch-apostolische Gemeinde, die beide über noch intakte Kirchengebäude verfügten. Daher ließ sich ein Teil der armenischen Überlebenden, die 1947 nach der Aufhebung des Siedlungsbanns in die Region zurückkehrten, nicht in Tunceli, sondern in dem nah gelegenen Elazığ nieder. Die einzelnen überlebenden Familienmitglieder konnten nur selten den Kontakt zueinander aufrechterhalten, oft verloren sie die Verbindung vollständig. Die hier umrissenen defektiven Aspekte des Erinnerungsrahmens, der gewöhnlich insbesondere durch den Lebensort und dem damit verbundenen sozialen Gefüge bestimmt ist, wirken sich besonders gravierend auf die Konstituierung des biographischen Gedächtnisses und die Erzählungen der Individuen sowie auf die intergenerationale Überlieferung von Erinnerungen in den betroffenen Familien aus. Durch die Analyse konnten sechs Aussagereihen identifiziert werden, die miteinander verwoben sind und zusammen einen distinkten Diskurs konstituieren. In den untersuchten Erinnerungserzählungen beziehen sich Aussagen regelmäßig auf Namen, Schweigen, Konversion, Überleben, Rituale und Gerechtigkeit. Diese Aussagen aus den verschiedenen Erinnerungserzählungen werden hier als Reihen zusammengeführt und analysiert.

7.1.1 Namen Als erste Reihe von Aussagen lässt sich das Reden über Namen in den hier betrachteten Erinnerungserzählungen erkennen. Sie bildet sich aus Aussagen über Namen, Eigen- und Familiennamen, Ortsnamen und Umbenennungen, die

3 Zur Geschichte des Klosters Surp Garabed Vank, siehe: Arakelova (2013, 383–90). Die Entstehung des Klosters ist einer Inschrift zufolge auf 974 v. Chr. datierbar, der Überlieferung nach ließen es König Trdat III. und St. Gregor, der Erleuchter, erbauen, ebd., 386. Einer Legende nach ist an einer Stelle des Klosters der Arm Johannes des Täufers begraben, siehe hierzu: Kharatyan (2015, 355). Zu weiteren Legenden über das Kloster aus der mündlichen Überlieferung siehe auch: Gündoğan (2016, 294–300). Die Klosterkirche wurde wahrscheinlich in dem Luftangriff 1937 bombardiert, an dem Sabiha Gökçen beteiligt war, genauso wie das in derselben Gegend in Ağdat gelegene Haus von Seyit Rıza. Erinnerungserzählungen der Nachkommen der armenischen Priesterfamilie aus Halvori sammelte Gündoğan (2015, 336–49).

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7 Repräsentationen von Vergangenheiten in Dersim

Wiedervergabe von Eigennamen innerhalb der Familie, Doppelnamen und Rückbenennungen. Eigennamen schreiben sich, wie Jacques Derrida aufzeigte, in ein komplexes System von Differenzen ein. Während sie eine Eigenheit und Einzigartigkeit der bezeichneten Person suggerieren und darüber deren Differenz markieren sollen, verweisen sie zugleich auch auf eine Gemeinsamkeit, da alle Personen Eigennamen tragen, die zudem übertragbar sind. In „Sauf le nom“ bringt Jacques Derrida den Verlust oder die Aufgabe des Namens mit der Rettung des Namensträgers, oder dessen, womit sich der Namensträger identifiziert, in Verbindung.4 Seiner Beobachtung folgend, nimmt die Untersuchung in dieser Aussagenreihe die Beziehung zwischen Namen und Namensträgern näher in den Blick und fragt, was der Verlust eines Namens für die Identifikation des Namensträgers bedeuten kann.5 In der Nationalismusforschung stellte Benedict Anderson den Zusammenhang zwischen nationalstaatlicher Herrschaft und Namensgebung heraus.6 Narrative und Praktiken der Namensgebung erweisen sich demnach als ein umstrittenes politisches Feld, in dem sich das Ringen um identifikatorische Deutungshoheit über Menschen und Orte vollzieht. Kerem Öktem deutet die Neuordnung der Toponyme als ein komplementäres Mittel zur physischen Vernichtung viktimisierter Bevölkerungsteile, da sie die auf sie verweisenden alten Namen durch neue Namen im Sinne der Nation ersetzt.7 Die Namensgebungsgesetze in der modernen Türkei gehen auf eine Empfehlung von Ziya Gökalp zurück, der sich 1924 für die Einführung einer gesetzlichen Familiennamenspflicht aussprach, um „die Familie zu stärken“ und „die Nation zu vereinen“.8 Dementsprechend wurde das obligatorische Führen von Familiennamen mit dem Nachnamengesetz (türk.: soyadı kanunu) am 21. 6. 1934 im türkischen Rechtssystem verankert. In osmanischer Zeit gebräuchliche Beinamen und Ehrentitel wie Efendi, Bey und Paşa ebenso wie militärische, religiöse und Stammestitel verbot ein noch im selben Jahr erlassenes Gesetz, das auf die Aufhebung der sozialen und religiösen Differenzen zielte.9 Darüber hinaus wurden Namen verboten, die auf eine ethnisch nicht-türkische Zugehörigkeit deuteten. Im Fall armenischer Nachnamen betraf dies das typische Familiennamen-Suffix „-yan“. Diese Nach-

4 „Comme s’il fallait à la fois sauver le nom et tout sauver fors le nom, sauf le nom, comme s’il fallait perdre le nom pour sauver ce qui porte le nom, ou ce vers quoi l’on se porte au travers du nom.“, Derrida (1993, 61). 5 Den Zusammenhang zwischem dem Tragen eines armenischen Namens und der identifikativen Spurensuche der Nachkommen der Überlebenden diskutiert Altounian (2005). 6 Anderson (1991). 7 Öktem (2008). 8 Toksöz (2007, 895–6). 9 Toksöz (2007, 894).

7.1 Aussagereihen von Nachkommen der Armenier

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namensregelungen traten mit Beginn des Jahres 1935 in Kraft und alle türkischen Bürger sollten ihnen innerhalb einer Frist von zwei Jahren nachkommen. Mit Ablauf der Frist begannen die staatlichen Gewaltverbrechen in Tunceli 1937. Somit fiel für die Armenier in Dersim, die bereits im Genozid 1915 zu ihrem Schutz alevitische Namen angenommen hatten, die offizielle Umbenennung und amtliche Eintragung ihrer Personennamen mit der Zwangsumsiedlung 1938 und dadurch mit der Zerstreuung der Familienmitglieder zusammen. Bis zur Einführung des Nachnamensgesetzes 1935 war die Verwendung von Familiennamen in den von Kurden bewohnten Gebieten der Türkei nicht üblich. Die Stammesordnung, die in den Ostprovinzen des spätosmanischen Reichs und bis in die Zeit der frühen türkischen Republik bestand, war durch patrilineale Abstammung hierarchisch strukturiert. Traditionell wies ein Stammesangehöriger seine soziale Zugehörigkeit durch die Angabe des Stammesnamens und seine Verwandtschaft durch den Vornamen des Vaters aus. Die Landbevölkerung teilte sich in bewaffnete Stammesangehörige und unbewaffnete NichtStammesangehörige auf, wobei letztere von ersteren politisch und wirtschaftlich dominiert wurden.10 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass in der armenischen Literatur über Dersim die regional einflussreiche armenische Familie Mirakyan als bewaffnet beschrieben wird.11 Dies könnte erklären, weshalb die Bezeichnung Mirakyan auch als Stammesname verwendet wurde. Die Erinnerungserzählungen von Armeniern aus Dersim, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurden, erwähnen häufig den Namen Mirakyan, um Verwandtschaftsbeziehungen und Abstammungslinien der armenischen Bevölkerung zu erläutern. Er begegnet sowohl als Überbegriff für alle Armenier in Dersim, als auch als Bezeichnung für eine lokale armenische Großfamilie, ein armenisches Fürstentum oder auch einen armenischen Stamm.12 In Dersim waren die Namens-Suffixe „-yan, -kan, -an“ sowohl für die Bezeichnung von Stämmen und heiligen Abstammungslinien auf Kurmanci und Zazaki verbreitet als auch für armenische Adels-oder Familiennamen.13 Bis in die 1850er Jahre waren Nachnamen nur bei armenischen Adelsfamilien üblich, danach

10 Für eine Diskussion der Terminologie im Kurmanci zur Bezeichnung von Stammeszugehörigkeit und Verwandtschaftsverhältnissen in der modernen Türkei, siehe Bruinessen (1989, 71–7, 139). Nicht-Stammesangehörige waren zumeist Christen, wobei auch der soziale Status einzelner alevitischer Stämme dem von Nicht-Stammesangehörigen ähneln konnte. 11 Antranik leitet den Namen Mirakyan von Mamigonian ab, der armenischen Dynastie, die in der armenischen Historiographie für ihre Wehrhaftigkeit berühmt ist. Antranik (2012, 52–4). 12 Hayreni (2015, 54–66). 13 Hayreni (2015, 54). Als Bezeichnung für eine armenische Großfamilie in Dersim, siehe Antranik (2012, 131).

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7 Repräsentationen von Vergangenheiten in Dersim

entwickelten sich armenische Familiennamen, die von dem Namen des Stammes abgeleitet wurden, dem die Familie angehörte.14 Für die armenischen Überlebenden und ihre Nachkommen, die nach dem Völkermord nicht in der Türkei weiterlebten, kam in der Diaspora und in der Republik Armenien sowohl dem Tragen, als auch der Weiter- und Wiedervergabe von traditionellen armenischen Namen eine wesentliche Funktion in der Konstitution des kollektiven Gedächtnisses zu.15 Im Unterschied dazu konnten die armenischen Überlebenden, die in den Ostprovinzen der Türkei blieben oder von den Deportationen wieder dorthin zurückkehrten, ihre armenischen Namen nicht weiter tragen beziehungsweise sie nicht wieder annehmen. In den Erinnerungserzählungen von Nachkommen der Überlebenden des Genozids nehmen daher das Wissen und die Weitervermittlung von armenischen Namen einen zentralen Platz ein. Wenn in gegenwärtigen autobiographischen Erinnerungserzählungen von Nachkommen armenischer Überlebender in Dersim die Rede auf Namen kommt, wird regelmäßig der Name Mirakyan erwähnt. Nuri wurde 1940 in einem Dorf im Landkreis Mazgirt in Tunceli geboren und lebt bis heute in seinem Geburtsort.16 Zu Beginn seiner Erzählung beruft sich Nuri auf den Namen Mirakyan, um seine familiäre Abstammung herzuleiten: I:

Kannst du von deinem Leben erzählen, soweit du dich daran erinnerst? Kannst du von deiner Familie erzählen? Nuri: Unsere Vorfahren sind damals aus Nazımiye aus dem Dorf Y hierhergekommen. Dort gab es Mord und Totschlag. Was auch geschah, alle sind hierher umgezogen. Sie kamen hierher zu A Ağa. Und dann ist A Ağa zu diesem B Ağa und seiner Familie gekommen, von dort hat er sie mitgenommen und hierhergebracht. Meine Großmutter hatte lange Haare, die haben sie verkauft. Gold und so haben sie auch verkauft. Mit diesem Gold haben sie dieses Grundstück gekauft. Sie wurden zu Teilhabern mit A Ağa und seiner Familie. Eigentlich ist dieses Grundstück nicht unseres. Es gehört den Karaderes. Mein Großvater und der Großvater der Karaderes sind Brüder. Kevork und Karnig sind Brüder. Kevork ist unser Großvater. Und Karnig ist ihr Großvater. Der das Geld zahlte, war mein Großvater. Sie haben dieses Grundstück gekauft, aber es hat uns nichts

14 Hoogasian Villa (1982, 24). 15 Neyzi (2010, 99). 16 Interview mit Nuri am 30. 6. 2012, in Dersim, Kreis Mazgirt, Türkei.

7.1 Aussagereihen von Nachkommen der Armenier

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Gutes gebracht. Daraufhin ist mein Großvater gegangen und hat seinen Familiennamen geändert. Sie sagen, er habe ihn aus Angst geändert. Was heißt hier Angst, er hat doch verstanden, dass sie ihn betrügen, diese Verräter! Deswegen hat er seinen Nachnamen geändert. Komm, frag mich nur nach diesen Karaderes, so sind sie, diese Karaderes! I: Ist Kevork der Vater oder der Großvater deines Vaters? Nuri: Der Vater meines Vaters, mein Großvater. Schau, sie sagen, der Sohn Hagops, Karnig und der Sohn Hagops, Kevork. Sie sind die Söhne Hagops. Eigentlich nennen sie uns Mirakan. Die Mirakans waren zwei Brüder. Einer war Mirak und der andere war Diragos. Es waren zwei Brüder. Nun, dieser Diragos, hier gibt es zwei Bücher, die sind in Armenisch geschrieben. Von dieser ganzen Gegend biiis hin zu den Feldern sind alle Dorfnamen darin aufgeschrieben. Mit den Vornamen seiner Vorfahren verknüpft Nuri in seiner Erzählung die Abstammung seiner Familie von den Mirakans, einer Form von Mirakyan. Sein Großvater Kevork und dessen Bruder Karnig identifizieren sich als Söhne Hagops über ihre patrilineale Abstammung.17 Von diesen beiden Brüdern konstruiert Nuri eine verwandtschaftliche Verbindung zu dem Brüderpaar Mirak und Diragos, das der Überlieferung nach die Abstammungslinie der Mirakyans begründet. Im Gegensatz zu dem mythischen Brüderpaar, dessen Verbundenheit im gemeinsamen Ursprung und Herkunftsort symbolisiert ist, steht für Nuri das Zerwürfnis zwischen seinem Großvater und dessen Bruder. Nachdem beide von ihrem Land verdrängt und enteignet worden waren, gerieten sie über den erneuten Landerwerb miteinander in Konflikt. Die Ursache dieses Zerwürfnisses liege bei seinem Großonkel, den Nuri als Verräter des eigenen Bruders darstellt. Dieser Vorwurf wirkt umso schwerwiegender, da er sich gegen einen nahen Verwandten richtet. Sein Großvater habe versucht, sich der Drucksituation, der er sich seitens seines Bruders in der Auseinandersetzung um Landbesitz ausgesetzt sah, zu entziehen, indem er seinen unter Zwang angenommenen türkischen Familiennamen änderte und somit zu dem verlorenen Besitz auch die verwandtschaftliche Beziehung symbolisch auflöste. Mit dem Argument, er habe damit mutig auf den Verrat seines Bruders reagiert, rechtfertigt Nuri die Entscheidung seines Großvaters, einen anderen türkischen Namen anzunehmen.

17 Kevork Yerevanyan, ein armenischer Überlebender aus Dersim, erläutert in seinen Erinnerungen, dass es sich bei der Bezeichnung Mirakyan um eine kurdische Fremdbezeichnung in abgewandelter Form des Begriffs „Miro“ für eine mutige, tapfere Person handeln könnte, denn die benachbarten Kurden hätten die Armenier in Dersim für ihren Kampfmut geschätzt, siehe dazu Hayreni (2015, 56).

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Diese Argumentation von Nuri und seinem Großvater zeigt, wie negativ sich die systematische Enteignungs- und Entrechtungspolitik gegen Armenier seit spätosmanischer Zeit auf die innerfamiliären Beziehungen der Armenier auswirkt. Die Schuld für den Landverlust projiziert Nuri auf die eigenen Verwandten, die er zudem des Verrats bezichtigt. Zugleich vermeidet er es, die staatliche Enteignungspolitik armenischen Grundbesitzes als Ursache für den Konflikt über den familiären Landbesitz zu benennen, womit er den Ausschließungsmechanismen des türkischen Leugnungsdiskurses entspricht. Der hier angesprochene Themenkomplex von Verwandtschaftsbeziehung, Verpflichtung gegenüber der gemeinsamen Abstammung und das innerfamiliäre Vertrauensverhältnis setzt sich im Folgenden in der Erzählung von Nuri fort. Mit dem Eigennamen Mirakan assoziiert Nuri außerdem armenische Bücher, in denen Toponyme der Umgebung verzeichnet sind. Indem er sich auf eine schriftliche Quelle beruft, versucht er, seine Aussagen über die Familie Mirakan an eine akzeptierte Wissensquelle anzuschließen, um sie darüber zu autorisieren und glaubwürdiger zu präsentieren. Vor allem ermöglicht die armenische Literatur über Dersim es ihm, das ihm überlieferte, fragmentierte Wissen in ein zusammenhängendes Narrativ einzuordnen und es sich über diesen sinnvollen Zusammenhang zu erschließen. In der darauffolgenden Sequenz erinnert er sich an Begegnungen mit Armeniern, die nach Dersim zu Besuch kamen: Nuri: Viele kommen und gehen. Wir kommen aus Armenien, und so. Sie holen die Karte der Türkei hervor. Wenn das so ist, sage ich, es gibt überall Schätze, zeigt mir den Ort. Aber sie zeigen ihn mir nicht. Ich, habe ich ihnen gesagt, ich werde mich nicht verleugnen. Meine Wurzeln kennen der Staat und auch die Leute, meine Wurzeln sind dies. Die Karte der Türkei und das damit verbundene Wissen der armenischen Besucher erfüllen die Funktion eines Schlüssels zu einem Wissen, das Nuri verborgen bleibt. Von ihnen erhofft er sich, dass sie ihm den Weg zu einem vorhandenen Reichtum weisen können, der sich ihm allein nicht erschließt. In seinem Interesse an der Karte äußert sich sein Wunsch, einen Bezug zu den ihn umgebenden Orten und deren Geschichte rekonstruieren zu können, um sich somit zumindest der materiellen Hinterlassenschaften seiner Vorfahren annehmen zu können. Obschon ortsansässig, ist er aufgrund des Überlieferungsbruchs auf die Besucher als Wegweiser angewiesen, um diesen Zugang zu dem Vermächtnis seiner Vorfahren finden zu können. Angesichts dieses Widerspruchs fühlt er sich veranlasst, nachdrücklich auf seine Herkunft und lokale Verwurzelung zu verweisen. Indem er verspricht, seine Abstammung nicht zu verleugnen, sondern sich dazu laut zu bekennen, versucht er, seinen legitimen Anspruch auf

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den Besitz dieser Ländereien geltend zu machen, die ohne seinen Einspruch von den in der Region aktiven Goldgräbern als ohne Eigentümer angesehen und angeeignet werden.18 Daraus wird deutlich, dass Nuri sich auf seinen armenischen Namen beruft, um seine Identifikation mit der armenischen Abstammung zu bekräftigen und um Anspruch auf den damit verbundenen Familienbesitz zu erheben. Dementsprechend hält er auch das Ablegen des Familiennamens durch seinen Großvater für eine identitätsbewahrende Handlung, die dieser in Reaktion auf den Landverlust vollzog. Dass sein Großvater den angenommenen türkischen Familiennamen im Streit um Landbesitz in einen anderen türkischen Familiennamen wechselte, verbindet Nuri mit Souveränität und Mut. Auch den verlorenen armenischen Namen Mirakan assoziiert er mit der Souveränität. Obwohl er sich mit dem im Familiengedächtnis bewahrten Namen Mirakan mit seiner armenischen Abstammung identifiziert, fühlt er sich nicht in der Lage, den ehemaligen Landbesitz im geltenden türkischen Rechtssystems beanspruchen zu können. Sowohl der taktische offizielle Wechsel des türkischen Familiennamens durch seinen Großvater, als auch seine eigene inoffiziell fortgesetzte Identifikation als Mirakan erfüllen in Nuris Erzählung die Funktion einer Bewahrung dessen, womit er sich als Namensträger identifiziert, mit Souveränität und Mut. Hüseyin wurde 1949 in einem Dorf in Nazımiye geboren, das er als junger Mann verließ, um im Ausland Arbeit zu finden. Nach Möglichkeit kehrt er in den Sommermonaten dorthin zurück.19 Auch Hüseyin bezieht sich in seiner Erinnerungserzählung, die ich im Dorf beim Haus seiner Eltern aufzeichnete, im Zusammenhang mit seinem Großvater auf die Änderung der Namen: I: Hüseyin: I: Hüseyin: I:

Wie hieß dein Großvater? Der Name meines Großvaters ist Yusuf. Yusuf. Natürlich, dieser [Name] ist nicht von später. Ist er nicht geändert worden?

18 Während des Genozids waren viele Armenier gezwungen, ihre Besitztümer zurückzulassen, bevor sie deportiert wurden. Einige unter ihnen versteckten oder vergruben ihre Wertgegenstände, in der Hoffnung, sie später wieder zu finden. Infolge des Genozids, der Entrechtung und Enteignung der Armenier, entwickelte sich der Diskurs über das „armenische Gold“, das die Vorstellung und Phantasie von Goldgräbern in den vormals armenisch bewohnten Gegenden der Türkei bis heute beschäftigt und die Zerstörung der meisten materiellen Hinterlassenschaften der Armenier durch Raubgrabungen verursacht. In der Regel wird diese Praxis nicht strafrechtlichs verfolgt, siehe Törne (2015a). Die Goldgräber, in den meisten Fällen Kurden, eignen sich anstelle der ermordeten armenischen Besitzer die Fundstücke an, siehe Bieberstein (2017, 171). 19 Interview mit Hüseyin vom 21. 6. 2012, in Dersim, Kreis Nazımiye, Türkei.

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Hüseyin: Nein, ich sage dir, letztes Jahr kam das Katasteramt hierher. […] I: […] Also hieß dein Großvater Yusuf. Und wie hieß deine Großmutter? Hüseyin: Zaruhi. Sie hieß Zaruhi. Jetzt lese ich das in Büchern, es ist ein armenischer Name. Allerdings war der eigentliche Name meines Großvaters nicht Yusuf. Efendim, natürlich später, als sie dieses Dings machen, ändern sie es in Yusuf um, unter dem Druck. Der Name meines Urgroßvaters war Toros, also der Name seines Vaters. Der Name seines Vaters, des Vaters von Toros, war Sebuh. Efendim. Letztens haben wir in diesem Dings, aus den alten osmanischen Zeiten, eben 1800, 1600, 1500 nachgeschaut. Auf den Namen meines Urgroßvaters gab es viele Ländereien, er hatte hier viele Ländereien. Sie haben sie alle weggenommen. Also, wer es war, der die Ländereien abgegeben hat, wer den Grundbucheintrag gemacht hat, […] ich weiß es nicht, wer den Grundbucheintrag gemacht hat. Beim Nennen des muslimischen Vornamens seines Großvaters Yusuf beeilt sich Hüseyin besonders zu betonen, dass dieser Name nicht „von danach“ stammt. Mit dieser Bemerkung vermittelt er, dass in seiner Wahrnehmung ein historisches Ereignis einen zeitlichen Horizont markiert, der dem Tragen dieses Namens Bedeutung verleiht. Ohne dieses Ereignis selbst zu benennen, drückt er aus, dass er sein Wissen an diesem Horizont orientiert und in ein „davor“ und ein „danach“ trennt. Anschließend räumt er ein, dass der Name seines Großvaters unter Zwang geändert wurde. Angesichts dieses Bruchs in der Tradition wurde der Name von davor zu einem Fragment des seitdem verworfenen Wissens, das über das Gewaltereignis hinweg in der Zeit und dem Wissen von „danach“ weiterbesteht. In diesem Zusammenhang erläutert Hüseyin, auf welche Weise er in der gegenwärtigen, als gültig anerkannten Wissensordnung über die Erinnerung an die armenischen Vornamen zu dem Wissen von „davor“ eine Verbindung herstellen kann. Ein Zugang zum verworfenen Wissen erschließt sich ihm in der armenischen Literatur, in der er heute den armenischen Vornamen seiner Großmutter Zaruhi wiederfindet. Aus seiner besonderen Hervorhebung dieser Entdeckung lässt sich deuten, dass ihm in der gegenwärtigen mündlichen Tradition in Dersim der entsprechende Referenzrahmen fehlt, um sich den Verweischarakter des Namens erschließen zu können. In dieser Erinnerungsstrategie erhält verworfenes Wissen, das über armenische Literatur rekonstruiert werden kann, einen Platz und eine Bedeutung, die ihm durch die Auslassung armenischer Präsenz im hegemonialen Leugnungsdiskurs versagt werden.20 20 Der Zugang zu dieser schriftlichen Wissenstradition ist ihm und anderen armenischen Nachkommen, die kein Armenisch sprechen, durch die aus dem Armenischen in das Türkische

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Über die Vornamen seiner Großeltern, die ihm aus dem mündlich tradierten Familiengedächtnis bekannt sind, erschließt Hüseyin sich damit verbundene Wissensfelder zur armenischen Abstammung seiner Familie und zur armenischen Kultur generell aus der armenischen Literatur. Der Rekurs auf Schriftquellen dient ihm dazu, die ihm mündlich tradierten Erinnerungsfragmente in eine konventionalisierte Erzählung sinnvoll einzuordnen. Somit knüpft er an ein Wissen an, das vor dem Völkermord an den Armeniern eine Gültigkeit besaß, jetzt jedoch durch den Habitus der Leugnung verworfen wird. Nachdem Hüseyin sie anfangs ganz abstreitet, räumt er danach doch ein, dass die Änderung des Namens seines Großvaters erzwungen war. Die Zwangssituation, unter der sie vollzogen wurde, deutet er hier nur an und vermeidet es, deren Urheber zu benennen. Wenn er anstelle dessen von einem nicht weiter spezifizierten Druck spricht, besteht darin eine Reaktion auf den Leugnungsdiskurs, der systematisch mit Strategien der Schuldumkehr arbeitet, um die Opfer der Gewalt als deren Urheber darzustellen. Einen weiteren Zugang zu Wissen, das bis zu seiner gewaltsamen Aufhebung Gültigkeit besaß, findet Hüseyin in den Namenseinträgen im staatlichen Archiv in Tunceli, aus dem er die armenischen Vornamen seiner männlichen Vorfahren rekonstruieren konnte. Mit dem Namen seines Urgroßvaters verbindet er umfangreiche Ländereien, die unter diesem Namen im Grundbuch verzeichnet sind. Den vollständigen Verlust des Familienbesitzes formuliert er wiederum ohne den Urheber der Zwangsenteignung direkt zu benennen. „Sie haben sie [die Ländereien, A.d.A.] alle weggenommen.“ In seiner Erinnerungserzählung assoziiert Hüseyin mit der erzwungenen Namensänderung seines Großvaters den Verlust des familiären Grundbesitzes. Über das Wiederfinden des Namens seiner Großmutter in der armenischen Literatur und über das Wiederfinden des Namens seines Großvaters im Register versucht er eine Verbindung zu den mit dem Namen verknüpften verworfenen Wissen über das Leben und das Land seiner Vorfahren herzustellen. Nuri und Hüseyin vermitteln in ihren Erzählungen, dass sie die Namen ihrer Vorfahren aus dem Familiengedächtnis in der Erinnerung bewahren. Anhand dieser Namen versuchen sie, mündlich überliefertes Wissen, dem keine gesellschaftliche Akzeptanz in der postgenozidalen Gesellschaft zukommt, aus schriftlichen Quellen zu rekonstruieren. Dafür können sie auf armenische Literatur und auch auf spätosmanische und republikanische Archivquellen zurückgreifen. Letztere, bestehend aus Registereinträgen und Karten, dokumentieren die Enteignung ihrer Vorfahren, um so das hegemoniale Wissen festzuschreiben. übersetzte Literatur ermöglicht worden. In der Türkei sind Übersetzungen armenischer Literatur in die türkische Sprache seit der Gründung des Verlags Aras 1993 zunehmend verbreitet worden.

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Eine wesentliche Funktion, die Namen für den Nationalstaat erfüllen sollten, besteht in der eindeutigen Les- und Identifizierbarkeit ihrer jeweiligen Träger. Hasmig wurde 1937 in einem Dorf im Zentrum von Dersim geboren. Sie wurde mit ihrer Familie 1938 deportiert und kehrte nach der Aufhebung des Siedlungsbanns nach Elazığ zurück. Heute lebt sie in Istanbul, wo ich ihre Erzählung aufzeichnete.21 In Hasmigs Erinnerung kam es infolge der Namensgebungspolitik, aufgrund derer die armenische Bevölkerung von Dersim 1938 umbenannt wurde, auf dem Polizeiposten in dem Ort ihrer Verbannung in der Provinz Kütahya zu einer merkwürdigen Begegnung: Hasmig: Wir sind gegangen, wir wohnten in Kütahya, ja? Im Landkreis Y von Kütahya. Wir sind gegangen, ich war ein Kind, aber wir sind von hier in die Verbannung gegangen. Jeden Monat kontrollierten sie uns. Also, ob sie wohl fortgegangen sind, oder ob sie noch da sind, ob sie geflohen sind, was haben sie gemacht? Wir drei, meine Mutter, wenn ich meine Mutter sage, meine ich die Mutter von Hüseyin. Ihr Name ist Fatma. Auch der Name der Frau von Hüseyin ist Fatma. Und auch der Name meiner Mutter ist Fatma. Nun riefen sie ihn, meinen Vater, natürlich, auch mein Vater ist dort. Und auch Hüseyin ist dort. Sie haben sie gerufen. Fatma, fragte er, ist wessen Name? Mein Vater hat gesagt, der Name der Frau meines älteren Bruders, sagte er. Er sagte, sie soll kommen, mal sehen. Sie nehmen ihre Unterschrift, ja. Meine Mutter ist hingegangen. Er sagte, die andere, wie ist der Name ihrer Frau? Der ist auch Fatma. Na, so was, sagte er. Auch sie ist gekommen. Auch sie hat unterschrieben. Er sagte, also gut, wie ist der Name der Frau von diesem Herrn? Der ist auch Fatma. Ja, hat er gesagt, mein Bruder. Kann es so etwas geben? In einem Haus drei Fatmas, sagte er. I: Warum sind sie alle drei Fatma geworden? Hasmig: Also, eine jede kam von wo anders her. Hasmig erinnert sich an eine Situation auf der Polizeiwache in der Verbannung, in der die identischen Vornamen von drei weiblichen Familienangehörigen bei dem Beamten Verwunderung hervorriefen.22 Sie spekuliert über die Fragen des

21 Interview mit Hasmig am 17. 5. 2012, in Istanbul, Türkei. 22 Die Familien, die 1938 aus Dersim deportiert worden waren, wurden verpflichtet, in regelmäßigen Abständen, hier monatlich, ihre Unterschrift auf der örtlichen Polizeiwache zu leisten, um ihre ordnungsgemäße Anwesenheit zu protokollieren. Den Verbannten war es untersagt, den ihnen zugewiesenen Aufenthaltsort zu verlassen. Personennamen stellten für den

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Beamten, die er sich in ihrer Vorstellung über den Verbleib und die Fluchtabsichten ihrer Familie gestellt haben könnte. Darüber vermittelt Hasmig ihre Erinnerung an die dauernde Angst, in der sie aufgrund der ständigen staatlichen Überwachungssituation in der Verbannung lebten. Die strikte Reglementierung und Kontrolle ihres Lebens konnte ihre Familie in dieser Situation ad absurdum führen. Erst in der Verbannung zeigte sich, dass alle drei weiblichen Familienangehörigen den gleichen Vornamen erhalten hatten. Diesen Umstand erklärt Hasmig mit der Situation der Zerstreuung der Familienmitglieder seit dem Genozids 1915. Sie lebten vereinzelt und isoliert voneinander und nahmen alle denselben Namen Fatma an. Die namentliche Übereinstimmung führte erst auf der Polizeiwache in der Verbannung zu Verwunderung. Ihre Erinnerung an diese Szene schließt sie mit der Schilderung der verdutzten Frage des Polizeibeamten, der angesichts dieser Unmöglichkeit der regelgemäßen Identifizierung der türkischen Staatsbürger ratlos war. In dieser Erinnerungssequenz kann Hasmig vermitteln, wie ihre Familie das ihnen aufoktroyierte Ordnungssystem der Eindeutigkeit in der nationalstaatlichen Identität erlebte. Ihre Verwandten, die diese Begegnung erlebten, erweckten in ihr den Eindruck, dass sie in diesem Moment der staatlichen Kontrolle die ihnen auferzwungene Ordnung durch die Übertragbarkeit von Namen ad absurdum führen konnten. Um der Verfolgung im Genozid 1915 und danach entgehen zu können, legten auch die Vorfahren von Yusuf ihre armenischen Namen ab und nahmen alevitische Namen an. Yusuf wurde 1934 in einem Dorf im Landkreis Mazgirt geboren, in dem er seitdem lebt und wo ich seine Erinnerungserzählung aufnahm.23 I: Wie hieß dein Großvater? Yusuf: Kasim. Der Name des Vaters von Kasim war auch kurdisch Abdullah, aber eigentlich Garo. Mein Vater hieß Hüseyin. I: Hatte Kasim einen armenischen Namen? Yusuf: Nein. Kasim. Es ist der Name des heiligen Muhammed. Also unsere Familie ist ja konvertiert, da hat er den Namen von Muhammed angenommen. I: Und hatte Hüseyin einen? Yusuf: Der ist auch von den Aleviten. (…) Er [der Urgroßvater] hatte zwei Söhne. Einer war mein Großvater, der andere, Ali, war der Vater von Abidin. Also, das sind die Namen der Propheten. Sie sind ja Aleviten geworden. Also weder Ömer noch Osman, sie lebten inmitten der Aleviten. türkischen Staat ein Mittel dar, um den Aufenthaltsort der aus Dersim deportierten Familien zu kontrollieren. 23 Interview mit Yusuf am 29. 6. 2012, in Dersim, Kreis Mazgirt, Türkei.

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Durch die Art und Weise, wie Yusuf die Namen seiner männlichen Vorfahren kommentiert, verknüpft er sie mit der Zugehörigkeit der Namensträger. Mit dem eigentlich verdeutlicht er, dass er den armenischen Vornamen des Urgroßvaters als den tatsächlichen oder authentischen betrachtet, verglichen mit den später angenommenen alevitischen Namen. Über die Formulierung „Der ist auch von den Aleviten“ unterscheidet Yusuf die alevitischen Namen von den als eigenen verstandenen armenischen Namen.24 Für Yusuf, der als Angehöriger der dritten Generation von Nachkommen der Opfer des Genozids an den Armeniern keinen armenischen Namen mehr trägt, ist diese Bezugnahme auf den eigentlichen Namen des Großvaters eine Erinnerungsstrategie, die auf das mit dem Namen verworfene Wissen rekurriert. Da es ihm nicht möglich ist, selbst einen armenischen Namen zu tragen, bewahrt er stattdessen die Erinnerung an die armenischen Namen der Opfer. Im Unterschied zu Yusuf, dessen Familie im Genozid nicht deportiert wurde und mit dem Namenwechsel zum Alevitentum konvertierte, betont Armen, dass seine Familie alevitische Namen trug, diese aber nicht ihre religiöse Konversion zum Alevitentum bedeuteten. Armen wurde um 1920 in einem Dorf im Zentrum von Dersim geboren, von wo seine Familie 1938 in die Westtürkei zwangsumgesiedelt wurde. Nach der Aufhebung des Siedlungsbanns 1947 kam er nach Istanbul. Die Erinnerungen Armens nahm ich in Frankfurt am Main auf.25 Armen: In der Verbannung haben wir unsere Namen geändert. Aber wir sind nicht alevitisch geworden, wir haben immer unseren eigenen Glauben weitergeführt. Wenn uns in X einer nach unserem Namen fragte, sagten wir nicht unseren armenischen Namen, wir sagten unseren türkischen. [ / ] Als wir nach Istanbul kamen, haben wir wieder unsere armenischen Namen angenommen. Neben den Namen, die Armens Familie gezwungenermaßen annahm, um sich in der Verbannung nach außen hin regelkonform ausweisen zu können, be-

24 Für die Armenier in Dersim, die sich während des Genozids an den Armeniern 1915 vor der Verfolgung versteckten, war die alevitische Religion für die Wahl ihres neuen Vornamens maßgeblich. Im Unterschied zu den später 1938–39 zwangsweise vorgenommenen Umbenennungen, die den staatlichen Namensgesetzen entsprachen und türkische sunnitische Vornamen wie Ömer und Osman bevorzugten, nahmen die in der Zeit des Genozids 1915 bei Aleviten lebenden Armenier unter diesen übliche, insbesondere religiös nach dem alevitischen Glauben geprägte Namen an. Bei den Aleviten in Dersim wurden traditionell die Namen der zwölf Imame als männliche Vornamen verwandt, wie Ali, Hüseyin, Hassan und deren Ehefrauen für weibliche Vornamen, wie Fatma und Sultan. 25 Interview mit Armen am 18. 3. 2012, in Frankfurt am Main, Deutschland.

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wahrten sie im Familienkreis ihre armenischen Namen. Wie er versichert, habe seine Familie immer ihren eigenen armenisch-apostolischen Glauben bewahrt. In seiner Erinnerung versucht er, einen unveränderlichen Eindruck ihrer religiösen Identifikation zu vermitteln und eventuellen Zweifeln daran vorzubeugen. Nach der Aufhebung des Siedlungsbanns kehrte Armen mit seiner Familie nicht nach Tunceli zurück, sondern ging nach Istanbul. Dort konnten sie ihre armenischen Namen auch nach außen hin wieder annehmen und sich einer der armenischen Gemeinden anschließen. Diese Möglichkeit der Rekonversion bot sich der Familie von Yusuf in Tunceli zwar nicht, aber dennoch erinnert er sich bis heute an die armenischen Namen seiner Großeltern, die diese bis zum erzwungenen Namenswechsel getragen hatten. Es war insbesondere für diejenigen von Bedeutung, sich an den armenischen Namen eines Familienangehörigen erinnern zu können, die versuchten, ihre Verwandten wiederzufinden, zu denen sie infolge des Genozids 1915 beziehungsweise später durch die Zwangsumsiedlung 1938 den Kontakt verloren hatten.26 Mesut wurde 1940 in der Verbannung in der Provinz Kütahya geboren, aus der seine Familie 1947 nach Tunceli zurückkehrte.27 In seiner Erzählung, die ich in Istanbul aufzeichnete, erinnert er sich an die Bemühungen seines Vaters, ihre Verwandten wiederzufinden. Mesut: Wir tragen jetzt den Nachnamen Korkak, eigentlich ist unser Nachname auf Türkisch Kahraman und auf Armenisch sind wir vom Mirakyanstamm. Mirakyan ist unser Nachname. Zum Beispiel mein Großvater, mein Onkel, mein Onkel in Amerika, David Mirakyan, natürlich, sie sind (…). I: Wo leben sie in Amerika? Mesut: In Amerika in C. In der Stadt C, eine Hafenstadt. Dort sind sie; wir sind mit meinem Vater zu ihnen gegangen. Sechzehn, siebzehn Jahre lang hat er sich bemüht, seine Verwandten zu finden, endlich hat er sie dort ausgemacht.

26 Die politischen Maßnahmen der Umbenennung und Zwangskonversion, die sich mit der gewaltsamen Umsiedlung von 1938 verbanden, verfolgten das Ziel, den traditionellen sozialen Strukturen der Bevölkerung jegliche Grundlage zu entziehen. Durch die systematisch zerstreute Ansiedlung der Familienmitglieder und die strikte Regulierung der Bewegungsfreiheit der Umgesiedelten sollte der Kontakt der Familienmitglieder untereinander verhindert werden. Diese systematische Zerstörung der sozialen und familiären Netzwerke hatte zur Folge, dass Verwandte den Kontakt zueinander verloren und erschwert es für sie und ihre Nachkommen bis heute, ihre vermissten Familienangehörigen wieder zu finden und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu rekonstruieren. 27 Interview mit Mesut am 17. 5. 2012, in Istanbul, Türkei.

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Mesut stellt den früheren und den gegenwärtigen Familiennamen gegenüber und weist auf die entgegengesetzte Bedeutung der beiden Nachnamen hin.28 Somit vermittelt er das Ausmaß des erlittenen Verlusts an sozialem Ansehen. Mit dieser Beobachtung zur erzwungenen Namensänderung verbindet er die Erinnerung an die Bemühungen seines Vaters, den Kontakt zu den Familienmitgliedern wiederaufzubauen. Da ihre Verwandten vor dem Völkermord geflohen waren und in den USA ihren Nachnamen behalten konnten, war es seinem Vater möglich, sie nach unermüdlicher, jahrelanger Suche unter dem Familiennamen Mirakyan zu finden. Indem er den Kontakt zu den Angehörigen unter seinem eigenen früheren Namen aufnahm, erhoffte er sich, auch eine Verbindung zu dem verlorenen Familiennamen und der damit verbundenen Bedeutung herstellen zu können. Der Namenswechsel betraf nicht nur die Familiennamen, sondern auch die Toponyme. Als Mesut schildert, wo sich seine Familie bei ihrer Rückkehr nach Tunceli 1947 niederließ, führt er die früheren Ortsnamen der Gegend auf armenische Namen zurück. Mesut: Von dort sind wir wieder nach Tunceli, nach Dersim, gekommen und haben uns in der Mamikiye mahalle niedergelassen. Der alte Name dieses Ortes dort, von Tunceli, ist Mamikiye. Danach wurde es zu Kalan und schließlich zu Tunceli. Jetzt heißt sie Cumhuriyet mahalle. Eigentlich Mamikiye. Mamik ist auch ein armenischer Name. I: War dein Vater vor 1938 dort? Mesut: Er war nicht dort, er war in Mazgirt, in der nahiye, im Landkreis.29 […] Sie waren in Z, wir haben erst danach (…). Ich habe es natürlich erfahren, ich bin eines Tages nach Z gegangen. I: Z ist ein türkischer Name, nicht? Mesut: Klar, Z ist türkisch. I: Weißt du den alten Namen? Mesut: Den alten Namen kenne ich nicht. Aber ich kann sagen, der alte Name von Dersim war Dersimon, sagten sie, Dersimon. I: Dersimon. Mesut: Ein armenischer Name. Mamik ist ein alter armenischer Name. Er ist armenisch. Sowieso sind wir dort ungefähr zu neunzig Prozent von armenischer Abstammung, die anderen sind alevitischer Abstammung.

28 Der türkische Familienname Korkak, den seine Familie seit der Umbenennung trägt, bedeutet „Feigling“, ihr früherer armenischer Familienname Mirakyan hingegen kann als „Held“ gedeutet werden. 29 Die türkische Verwaltungseinheit nahiye bezeichnet den Unterbezirk eines Landkreises.

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Und natürlich, weil die Armenier gegenüber den Aleviten wohlwollend eingestellt sind, wurden sie meistens assimiliert, sie sind Aleviten geworden, die Armenier. Die Zeit verging und mit der Zeit natürlich, wie sehr sie auch assimiliert wurden, sind sie sofort abgestempelt worden. Trotz der Umbenennungspolitik der Ortsnamen behalten die Bewohner von Dersim die alten Toponyme auf Armenisch und Zazaki in Erinnerung und gebrauchen sie vielerorts noch bis heute. Die armenischen Ortsnamen Mamik und Dersim liest Mesut als Spuren einer früheren armenischen Präsenz. Er deutet sie als Beweis für die armenische Abstammung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung in der Region, die allmählich vom Alevitentum assimiliert worden sei. Mit diesen Aussagen über den Zusammenhang zwischen armenischen Ortsnamen und der ursprünglichen armenischen Abstammung der alevitischen Bevölkerung schließt er an den hegemonialen Diskurs über Dersim-Armenier an, wie er oben beschrieben wurde. Serop, geboren 1953 in einem Dorf im Zentrum von Tunceli, dessen Erinnerungserzählung ich in Frankfurt am Main aufnahm, verbindet mit der erzwungenen Namensänderung in der Verbannung die Wahrnehmung einer spezifischen Art der Unterdrückung, die diese von früheren Mechanismen unterscheidet.30 Serop: Zehn Jahre bleiben sie dort. Die Unterdrückung, die sie dort erfuhren, ähnelt nicht der in Dersim. Ja, sie erhalten Hab und Gut, dieses und jenes wird ihnen gegeben. Aber die Namen, die Grundbucheinträge, alles wird dort geändert. Sie sind dazu gezwungen, sie leben unter ihnen, unter ihnen. Was heißt das, die Namen ändern? Zum Beispiel bin ich dieses Mal auf das Meldeamt gegangen, um meinen Personalausweis ändern zu lassen. Er sagte mir, ich werde deine Personalien aufnehmen. Sag den Namen deiner Großmutter. Wie hieß dein Großvater, hat er gefragt. Ich weiß es, nun, ich werde es auch gleich sagen, siehst du, immer noch gibt es diese Reaktion bei dir, ich lüge nicht. Ha, du hast nicht gleich geantwortet? Der Name meiner Großmutter, also der Mutter meines Vaters ist Maral. Ich habe gesagt, ich habe meinen Vater nicht erlebt. Woher sollte ich seine Eltern kennen, habe ich gesagt. Das kann sein, hat er gesagt. Hat es dir dein Vater nicht gesagt, hat er gesagt. Sieh mal, Serop nicht wahr? Serep hat er geschrieben. Nicht Maral, Merel hat er geschrieben. Sie haben uns gefragt, nicht in Tunceli, als sie uns nach Elazığ brachten, haben sie die Namen aufgeschrieben, wie sie wollten. Sie haben sie absichtlich falsch geschrieben, denn im

30 Interview mit Serop am 12. 1. 2012, in Frankfurt am Main, Deutschland.

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Register ##, geh zum Hauptregister, daraus gehen Serop und auch Maral hervor. Wie sehr sie es auch geändert haben und Hassan und Hüseyin daraus wurde, aus dem Register geht es hervor, aus dem Register in Tunceli. Serop vergleicht den Namensverlust seiner Familie mit der vorangehenden Enteignung ihres Landbesitzes in Dersim. Dabei empfindet er den Namensverlust als die gravierendere Unterdrückungsmaßnahme, wie er anhand einer Erinnerung an ein Erlebnis aus der jüngeren Vergangenheit erläutert. Serop schildert eine Begegnung auf dem Meldeamt, bei der er durch sein zögerndes Antworten auf die Frage des türkischen Beamten nach den Namen seiner Großeltern Zweifel an seiner Aussage weckt. Sein Zögern ist Ausdruck des internalisierten Konflikts, der zu seiner Angst davor führt, die Wahrheit auszusprechen. Der Widerspruch zwischen dem Habitus der Leugnung in der postgenozidalen Türkei und dem innerfamiliär bewahrten Wissen bringt Serop in einen Konflikt. Er versucht sich der Verleugnung seines familiären Wissens zu entziehen, indem er sich dem Beamten gegenüber als unwissend ausgibt. Daraufhin wirft ihm der Beamte wiederum sein Unwissen vor. Somit knüpfen beide, der Beamte und Serop, an den republikanischen Legitimationsdiskurs über Dersim an, der die Bevölkerung von Dersim als unwissend und unzivilisiert bezeichnete, um die Gewaltverbrechen zu legitimieren. Allerdings benutzt Serop diesen Vorwurf, um sein Wissen nicht preiszugeben. Auch in dieser Schilderung der Namensänderung empfindet Serop die Willkür der Beamten, die seinen armenischen Namen falsch notieren, als Ausdruck ihrer Absicht, jeglichen Nachweis zu manipulieren. Daran anschließend führt Serop aus, welche Bedeutung er der Beibehaltung ihrer armenischen Vornamen für das Fortführen der armenischen Religion beimisst. Serop: Wie sehr sie auch zu Hassan und Hüseyin wurden, es war in ihnen. Sie haben ihre Religion nicht verleugnet. Aber ihre Namen. Der Name ist eine Perle. Zum Beispiel hatte ich einen Bekannten mit Namen Muzaffer. Seine Frau war gekommen, Sibel. Sie war ein wenig stolz, sie war #. So verachtete sie uns. Ihr seid kurdisiert, dies und das. Der Postbote kam. Sie sieht ihren Mann Muzaffer an und er sagt, der Name ist eine Perle. Er ist zu Hasan geworden, er ist zu Krikor geworden, was für einen Unterschied macht das, sagt er. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. Wir sind auch dorthin gegangen. Einer ist Hasan, einer ist Krikor geworden, sagt er. Ein Name ist ein Name, was soll sein. Ha, ich hätte es so gewollt! Schau, ich hätte es gewollt. Wie {gut} es gewesen wäre, in der Sprache eins, in diesem Dings eins [zu sein]!

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Mit der Metapher einer Perle drückt Serop aus, dass er Namen als kostbar und besonders empfindet, die wie in einer Muschelschale verborgen bewahrt bleiben können. Bei der Erinnerung an die Verachtung, die er und seine engste Familie aufgrund ihrer angenommenen kurdischen Namen und an die ihrer kurdischen Nachbarn angepasste Lebensweise von Seiten einer Bekannten erfuhren, bedauert er den Verlust ihrer armenischen Namen. Angesichts des Namensverlusts verleiht er seinem Wunsch danach Ausdruck, eine Einheit, eine Übereinstimmung von Sprache und Religion erleben zu können. Zwar nicht die Religion, aber ihre armenischen Namen mussten seine Vorfahren zum Schutz und zur Bewahrung der Familie ablegen. Serop kann diese Schutzmaßnahme schwer akzeptieren, wie er anschließend verdeutlicht. I: Serop: I: Serop:

Wussten eure Nachbarn in Tunceli, dass ihr Armenier seid? Natürlich, frag die Leute, sie wissen es. Was für Reaktionen habt ihr erlebt? Sieh mal, was sage ich? Ich sage eben, wie in einem Haus zwei Geschwister streiten können, aber so etwas wie, weil du Armenier bist #, das haben sie nicht gemacht. Aber das hat es gegeben, mein Vater, wenn es darum ging, sich zu verstecken, hat er sich natürlich versteckt. Er wurde zur zweiten, dritten Klasse, du wurdest zu einem gewöhnlichen Menschen. Wenn zum Beispiel dein Name armenisch gewesen wäre, vielleicht hättest du noch mehr Verachtung erfahren. Aber das weiß man nicht. Denn man hat nicht selbst mit armenischem Namen gelebt. Bei meinem älteren Bruder ist es so passiert. Als er achtundvierzig nach Tunceli zurückkommt, kauft er Land. Mein Vater nennt meinen älteren Bruder İsmail. Ha, warum hat er ihn nicht Toros oder Melkon genannt? Das gab es auch, wie gesagt. Ich bin diesen Leuten nicht böse, ich bin meinem Vater böse. Ha, mein Vater, oho, ich bin Ağa! Wie er inmitten von Ağas aufgewachsen ist, ja. Wenn er zum Beispiel gesagt hätte, wenn er Kevork gewesen wäre, dann wäre man anders mit ihm umgegangen.

Die Schuld an dem Namenswechsel projiziert Serop auf seinen Vater. In dieser Bezichtigung knüpft er an das hegemoniale Leugnungsmuster der Schuldumkehr an und wirft seinem Vater Opportunismus vor, da er sich als Ağa ausgab. Obschon eine noch heftigere Ablehnung und Unterdrückung vonseiten der alevitischen Bevölkerung in Dersim anzunehmen gewesen wäre, hätte er es von seinem Vater erwartet, sich stärker zur armenischen Herkunft der Familie zu bekennen. In dem Fortführen seines armenischen Namens hätte es der Vater auch seinen Kindern ermöglicht, die Tradition weitertragen zu können. Damit

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wirft Serop seinem Vater vor, ihm das Fortführen der Familientradition durch die Namensänderung verwehrt zu haben. Im Unterschied zu der kritischen Haltung, die Serop seinem Vater gegenüber einnimmt, identifiziert sich Umut vorbehaltlos mit seinen Eltern. Umut wurde 1938 in einem Dorf im Landkreis Hozat in Dersim geboren. Seine Familie wurde zwangsdeportiert, kehrte aber nach Elazığ zurück, bevor sie schließlich in den 1960er Jahren nach Istanbul zog. Umuts Erinnerungserzählung zeichnete ich in Istanbul auf.31 Der Moment, in dem Umut seinen Namen erhielt, markierte den Zeitpunkt der Rettung seiner Familie vor dem drohenden Tod, dem sie sich 1938 ausgesetzt sahen. Umut: Als sie uns auf dem Friedhof versammelten, nahm ein Offizier mich vom Arm meiner Mutter auf seinen Arm und fragte meine Mutter, wie heißt dieses Kind? Meine Mutter sagte, wir haben uns selbst vergessen, wie sollten wir jetzt den Namen des Kindes wissen? Der Offizier setzte auch meine ältere Schwester auf seine Knie und sagte, ich habe einen Sohn, der Umut heißt, gebt auch ihm den Namen Umut. In dieser Zeit zogen die Gruppen, die aus den anderen Dörfern von Hozat zusammengetrieben wurden, an unserem Dorf vorbei. [ / ] Der Offizier der Soldaten, die die Kolonne abführten, in der sich A Ağa befindet, will auch uns miteinschließen. Als wir zehn, fünfzehn Meter gegangen waren, fragt der Offizier, der nach meinem Namen gefragt hatte, warum führst du sie ab? Sie bleiben hier. Er lässt es nicht zu, dass sie uns abführen, er holt uns zurück. Er rettet uns also das Leben. Deswegen geben mir meine Eltern den Namen Umut. Auf den Vorschlag eines türkischen Offiziers hin, der seine Familie vor ihrer Ermordung rettet, erhält er seinen türkischen Vornamen Umut, der die Bedeutung Hoffnung trägt. Seine Mutter hatte zunächst dem Offizier geantwortet, dass sie den Namen ihres Babys nicht wisse. Da sie als Mädchen den Genozid 1915 überlebt hatte, fürchtete sie vermutlich die Konsequenzen für das Nennen eines armenischen Namens und wollte mit ihrem Verschweigen ihren Sohn und ihre

31 Umuts Erinnerungserzählung nahm ich auf seinen Wunsch hin nicht mit dem Tonaufnahmegerät auf. Er bestand vielmehr darauf, dass ich seine Erzählung handschriftlich notierte. Teilweise wiederholte er sogar einzelne Sätze, von denen es ihm besonders wichtig war, dass ich sie wortwörtlich übernahm. Da ich seine Erzählung an mehr als den hier erwähnten ersten beiden Terminen aufnahm, liegen mir einige Sequenzen, die er wiederholt erzählte, in unterschiedlichen Versionen vor, die auch in ihrer Anordnung variieren. Die Erzählung, die hier zugrunde gelegt wurde, entspricht jedoch weitestgehend den an den ersten beiden Terminen am 19. und 22. 5. 2012 in Istanbul in der Türkei aufgezeichneten Notizen.

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Familie schützen. Als der türkische Offizier daraufhin einen türkischen Namen für das Neugeborene vorschlug, bedeutete sein Name die Rettung des Namensträgers und dessen gesamter Familie. Seitdem erinnert Umuts Name im Familiengedächtnis an diesen Moment der Rettung in äußerster Not. Durch diese positive Konnotation des Namens kann sich der Träger dem machtvollen Unterwerfungsgestus des Moments entziehen, in dem ihm der Name verliehen wurde. In einer anschließenden Sequenz überliefert Umut ein weiteres Ereignis, bei dem das Tragen und Zu-Erkennen-Geben eines armenischen Namens über Leben und Tod der armenischen Bevölkerung eines Dorfs in Dersim entschied: Umut: Die Soldaten gingen und errichteten oberhalb des Dorfes ein Lager. Ein junger Armenier war gerade von der Armee zurückgekehrt mit Namen Manuk. Als er sieht, dass die Soldaten auf dem Berg D sind, holt er aus dem Haus einen Eimer Butter und einen Eimer Joghurt und geht zu ihnen und will ihnen schenken, was er in seinen Händen herbeibrachte. Der Offizier fragt nach dem Namen. Als er den Namen hört und versteht, dass er Armenier ist, sagt er, erschießt diesen gâvur!32 Diesen jungen Mann bringen sie dort um. Danach kommen sie ins Dorf und töten in Y mindestens dreißig Armenier. In seiner Erzählung rekonstruiert Umut aus dem Familiengedächtnis, wie Soldaten in den Gewaltverbrechen 1938 in ein weiteres Dorf in Hozat kamen. Im Gegensatz zu seiner Mutter, die sich vorsichtig und zurückhaltend gegenüber den Soldaten verhielt, schildert Umut, wie in diesem Dorf ein junger Armenier den Offizier und die Soldaten gastfreundlich empfing. Als Rekrut setzte dieser junge Mann seine Hoffnungen darauf, durch seinen Dienst im Militär gesellschaftlich integriert worden zu sein. Als er dem Offizier seinen armenischen Namen nannte, ermordeten die Soldaten zuerst ihn und dann die armenischen Bewohner seines Dorfes. In dem Erinnerungsbild, in dem der junge Mann zwei Eimer in den Händen trägt, lässt sich eine Ähnlichkeit zu der Legende von Munzur erkennen, einer zentralen Figur aus der regionalen Mythologie, der mit zwei Eimern Milch in den Bergen Zuflucht suchte, um zu vermeiden, dass die Dorfbewohner sein verborgenes Inneres erkennen. In der Erzählung von Umut stehen sich diese zwei kritischen Ereignisse gegenüber, das der Rettung seiner Familie vom Tod durch die Annahme eines türkischen Vornamens und das der Ermordung der Bewohner eines Dorfs, weil einer von ihnen seinen armenischen Namen preisgab. In diesen Erinnerungen misst Umut dem Tragen von Namen die maßgebliche Rolle in der Entscheidung

32 gâvur (arab.): Ungläubiger

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über Leben und Tod bei. Den extremen Verlust, den seine Familie durch die Gewaltverbrechen in Dersim erlitt, sieht er in dem zwangsweise abgelegten armenischen Familiennamen symbolisiert. Umut: 1938 war es nicht erlaubt, in die Häuser zu gehen, es gibt keine alten Bücher, alte Gegenstände, Fotos, nichts von dem mehr. Deshalb haben wir aus der Vergangenheit nichts anderes als unsere Erinnerung. 1969 starb mein Vater, 1989 starb auch meine Mutter. Sie liegen auf dem BFriedhof. Kapigyan war der Nachname meines Vaters. Als sie ihn im Mufti-Amt änderten, haben sie ihn Dülger genannt, weil der Beruf meines Vaters Schreiner war. Sie haben meinen Vater gegen seinen Einwand zum Muslim gemacht. Nach 1960 haben wir ihn wieder in einen Christen umgewandelt. Als sie 1938 in die Verbannung geschickt wurden, verlor die Familie von Umut alle Erinnerungsobjekte aus dem Familienbesitz. Seit der Deportation tragen allein die Überlebenden die Erinnerung an das Verlorene bis zu ihrem Tod fort. Danach ginge auch diese Erinnerung endgültig verloren, wie Umut daran verdeutlicht, dass nur der wieder angenommene armenische Familienname auf dem Grabstein seiner Eltern in Istanbul geblieben ist. Aus den hier betrachteten Aussagen über Namen lässt sich schließen, dass dem Tragen oder Ablegen von armenischen oder alevitischen Namen in den Erinnerungen an Gewalt und Verfolgung eine entscheidende Rolle für das Sterben oder Überleben der Namensträger beigemessen wird. Das Tragen der auferlegten alevitischen oder türkischen Namen im öffentlichen Raum, so erinnern sich die Nachkommen der Armenier aus Dersim, ermöglichte ihr Überleben und schützte sie vor fortgesetzter Verfolgung. Gleichzeitig verbindet sich mit dem Ablegen der armenischen Namen für die Nachkommen das Problem ihrer Legitimierung und Souveränität, zumal die auferlegten türkischen Familiennamen oft pejorative Bedeutung tragen. Die Erzählenden erinnern sich an das Annehmen alevitischer Namen aber auch als Strategie, um durch das offizielle Ablegen ihrer armenischen Namen das Wissen, mit dem sie sich identifizieren, dem hegemonialen Machtzugriff ein Stück weit zu entziehen. Der Bewahrung ihrer armenischen Namen innerhalb der Familie messen sie zentrale Bedeutung bei. Die Erinnerung an diese ermöglicht ihnen Zugänge zu dem in der postgenozidalen Gesellschaft verworfenen Wissen, insofern letztere der Einordnung ihrer fragmentierten Erinnerungen in einen Deutungsrahmen dienen können. Die Erzählenden stellen darüber hinaus die erzwungene Änderung von armenischen in alevitische und türkische Eigennamen in ihrer Familie regelmäßig mit der Konversion ihrer Vorfahren zum Alevitentum und ihrer religiösen Identi-

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fikation in Zusammenhang. Diejenigen Nachkommen der Armenier aus Dersim, die nach Istanbul oder in die armenische Diaspora gingen, betonen trotz des Namenswechsels eine konstante und unverminderte Identifikation ihrer Familie als Armenier. Diejenigen, die in Dersim blieben, assoziieren mit dem Namenswechsel ihrer Vorfahren deren Konversion zum Alevitentum und den Verlust von familiärem Landbesitz.

7.1.2 Schweigen Der unwiederbringliche Verlust, den es bedeutet, endgültig aus dem familiären und sozialen Umfeld gerissen zu sein, stellt die Überlebenden von Genozid vor die Schwierigkeit, Formen zu finden, um ihre Erinnerungen an die erlittene Gewalt vermitteln zu können. Eine Form der Vermittlung besteht in der Erzählung, die voraussetzt, dass die armenischen Überlebenden und deren Nachkommen ihre Erinnerungen für sich selbst und ihr Umfeld in einen sinnvollen Rahmen einordnen können. Darüber hinaus erfüllen nonverbale Formen der Tradierung von Erinnerungen an Gewalt eine wichtige Rolle. In der intergenerationalen Überlieferung in Familien kommt Schweigen über erlittene Gewalt eine Schutzfunktion zu, da es den Überlebenden ermöglichen kann, familiäre Rollen zu erfüllen. In den autobiographischen Erinnerungserzählungen, die hier betrachtet werden, begegnen verschiedene Formen von Schweigen regelmäßig, weshalb sie an dieser Stelle als eine Reihe untersucht werden sollen. Verschweigen begegnet als ein verweigertes Reden von einem Wissen, das keine Gültigkeit mehr besitzt. In den Erinnerungserzählungen der Nachkommen der armenischen Überlebenden aus Dersim wird regelmäßig über das Verschweigen nicht nur der abgelegten armenischen Namen, wie in der vorigen Aussagenreihe ausgeführt, sondern auch über die Sprache der Erinnerung, das Armenische, gesprochen. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, kommt der Sprache eine wichtige Rolle in der Konstituierung von Erinnerungen und eines sozialen Gedächtnisses zu. Wissen, das vor einem Gewaltereignis Gültigkeit besaß, seitdem aber verworfen wird, ist für die Überlebenden in dem für sie neuen Wissensregime nur schwer einzuordnen und zu vermitteln. Dies gilt umso mehr, wenn die Sprache, die die Opfer bis zu dem Zeitpunkt der Gewalterfahrung sprachen, anschließend nicht mehr gesprochen werden darf.33

33 Der Völkermord an den Armeniern 1915 bezeichnet für die armenische Sprache einen schwerwiegenden Bruch, da der größte Teil der Sprechergemeinschaft im Osmanischen Reich ermordet wurde und die meisten der armenischen Institutionen der Zerstörung anheimfielen. Für die Überlebenden des Genozids in den türkischen Provinzen war es kaum mehr möglich, im öffentlichen Raum Armenisch zu sprechen, ohne sich dadurch in Lebensgefahr zu bringen.

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Aufgrund der existenziellen Bedrohung vermieden die Armenier in Dersim seit dem Genozid 1915, Armenisch außerhalb des engsten familiären Kreises zu sprechen. Serop schildert seine Erinnerungen daran, wie seine Familienangehörigen ihre Muttersprache außerhalb des privaten Raums verschwiegen. I: Welche Sprache habt ihr bei euch zu Hause gesprochen? Serop: Wenn man gewollt hätte, ha! Zum Beispiel stirbt meine Großmutter in Z [Verbannungsort]. Warum stirbt sie? Wenn sie beispielsweise nicht gestorben wäre, hätte sie es [Armenisch] gesprochen. Ha, also, wenn du zu Hause sprichst, werden sie kommen und an deiner Tür lauschen. Gibt es einen Befehl? Es wird schon etwas drinnen behalten. Aber die andere Seite unserer Familie hat immer noch zu Hause [Armenisch] gesprochen. Aber ihre Kinder interessieren sich nicht dafür. Ich möchte diese Sprache lernen. Wenn sie das nicht gemacht haben, was ist es dann die Schuld von diesen Leuten? Bei uns zu Hause haben wir psst psst Armenisch gesprochen. Aber es gab keinen Druck. I: Du kannst Armenisch, von wem hast du es gelernt? Serop: Ich, Armenisch. Ich bin gekommen und dort in Istanbul habe ich erfahren, was ich bin. In Tunceli wussten wir, wir sind Armenier, aber ich wusste nicht, was a und b ist. Die religiöse Seite kannte ich gar nicht. Für das Sprechen von Armenisch nach der Zwangsdeportation von 1938 schildert Serop drastische Unterschiede hinsichtlich der einzelnen Personen in seiner Familie. Während seine Großmutter weiterhin zu Hause Armenisch sprach, gaben seine Eltern den Gebrauch selbst im Privaten fast komplett auf. Indem er den politischen und sozialen Druck leugnet, der auf Armenier in Dersim ausgeübt wurde, vermittelt Serop seine Einschätzung, seine Eltern hätten aus einer unbegründeten Angst heraus die Sprache verschwiegen. Somit richtet er in einer Schuldumkehr den Vorwurf, dass es ihm nicht möglich war, Armenisch zu lernen, an seine Eltern. Weniger das fehlende Interesse der Nachkommen, wie in einer verwandten Familie, sondern die Angst seiner Eltern davor, Armenisch zu sprechen, habe demnach zum Sprachverlust geführt. Erst durch den Sprachund Religionsunterricht in Istanbul habe er sich die Bedeutung seiner Erinnerungsfragmente aus dem Familiengedächtnis erschließen können. In der Wahr-

Die Türkisierungspolitik seit der Gründung der Republik Türkei 1923 mit der Sonnensprachtheorie und durch Kampagnen wie „Bürger, sprich Türkisch“ führte zu einem Wechsel zur offiziellen nationalen Sprache, dem Türkischen. Für eine Einordnung der aktuellen Sprachsituation des Armenischen in der Türkei, siehe Haig (2014b, 13–36); für die Sprachsituation von Kurmanci und Zazaki, siehe Öpengin (2012, 151–80), vgl. Yüksel (2011).

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nehmung von Serop ist das Verschweigen der armenischen Sprache mit Vergessen, das Sprechen hingegen mit Erinnern verknüpft. Abhängig davon, mit wem sie sich sprachlich verständigen konnten, verbinden die armenischen Nachkommen aus Dersim in ihrer Erinnerung ihr Zugehörigkeitsgefühl. Als Hasmig mit ihrer Familie aus der Verbannung nach Tunceli zurückkehrte, konnte sie sich nicht verständigen. Hasmig: Wir sind nach Gazi gekommen. Ich bin nach Gazi gekommen, ich kann kein Kurdisch. Ich bin dorthin gekommen, alle sprechen immerzu Kurdisch. Keiner konnte Türkisch. Und ich bin gekommen, so wie ein Affe gekommen wäre, er geht unter die Leute, schaut nach rechts und links, ja? Bei Allah, wer bist du denn? Alle sehen mich an und lachen. Sie sehen mich an. I: Ja, weil du in Z [Verbannungsort] geboren wurdest, hast du Türkisch gesprochen. Die in Dersim können kein Türkisch. Können eure Verwandten auch kein Türkisch? Hasmig: Die Verwandten können es, meine Liebe. Meine Mutter spricht es, diese Nachbarn in Tunceli, es gibt Freunde, Mädchen, die zu mir kommen. Also bei Allah, denn niemand konnte Türkisch. Ich gehe raus, ich weine und weine. Ich sage zu meinem Vater, warum hast du uns, frage ich, warum hast du uns hierhergebracht? Aber er ist sehr böse geworden, weißt du? Auf die Gegend dort, sie war ganz vernachlässigt worden, niemand hatte sich gekümmert. Hasmig erinnert sich an ihre erste Begegnung mit den Kindern in Tunceli, mit denen sie sich sprachlich nicht verständigen konnte. Ihr Gefühl der Fremdheit in dieser Situation drückt sie über den Vergleich mit einem Affen aus, der von der Gruppe als sonderbares Wesen betrachtet wird. Anders als die Kinder in Tunceli, die überwiegend mit Zazaki und Kurmanci als Muttersprachen aufwuchsen, hatte sie in der Verbannung in der West-Türkei Türkisch gesprochen. Aus Verzweiflung darüber, dass sie sich außerhalb der Familie nicht verständigen konnte, warf sie ihrem Vater vor, sie an diesen Ort gebracht zu haben. Hasmig erinnert sich an die Reaktion ihres Vaters. Als er hörte, dass die Kinder in der Schule sie als Fremde behandelten, wurde er wütend auf die Situation in dieser Gegend, die während seiner Zeit in der Verbannung vernachlässigt worden war. In dieser Erinnerung verbindet Hasmig ihr sprachliches Verständigungsproblem mit der Infragestellung ihrer lokalen Zugehörigkeit. Hasmigs Zweifel an ihrer Zugehörigkeit zur Region empörte ihren Vater, da er sich der Gegend tief verbunden und verpflichtet fühlte. Ihre Erinnerung an diese Fremdheitserfahrung knüpft sie daran, dass ihr Vater demgegenüber die familiäre Ver-

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bundenheit mit der Region betont, die er vor der der anderen Bewohner herausstellt. Hier steht der Sprachverlust, ebenso wie bei den Namen, für den Verlust der Souveränität über die eigene Tradition und Herkunft. Das Gespräch zwischen Hasmigs Vater und ihr, wie sie es rekonstruiert, ist von dem erzwungenen Schweigen über die verlorene armenische Sprache und Akzeptanz ihrer Familie geprägt. Entgegen dieses Verlusts versucht Hasmigs Vater ihr seine Verpflichtung gegenüber der Region zu vermitteln. Ob die armenische Sprache in den armenischen Familien aus Dersim weiter gebraucht oder aufgegeben wurde, war wesentlich davon beeinflusst, ob sie 1938 in die Verbannung geschickt wurden oder in der Region blieben. Einige Dörfer im Osten von Dersim wurden, da die Regierung sie als islamisiert betrachtete, nicht zwangsdeportiert. Zu diesen zählte das Dorf der Familie von Hüseyin, der sich daran erinnert, wie seine Großeltern miteinander Armenisch sprachen. I: Bist du jetzt Alevite? Hüseyin: Bei Allah, ich weiß auch nicht, was ich bin. Nun, ich, so sehr \ Ohnehin sind der armenische Glauben und der alevitische Glauben einander sehr nah. I: Ja. Hüseyin: Ja, natürlich, mein Großvater, sie haben eben nicht diese Sache gemacht, sie hatten Angst. Denn meinen Urgroßvater, den Vater meines Großvaters, bringen sie 1915 in Y auf dieser Anhöhe um. Sie bringen meinen Urgroßvater um. Er [der Großvater] entflieht. Er kann sich retten, will ich sagen. Aus Angst haben sie es uns nicht gesagt. Wir sind so und so. Mein Großvater sprach aber darüber. Zum Beispiel, was wir sind, was wir machen. Wir haben uns auch nicht interessiert, wir haben diese Sprache nicht gelernt. Efendim (…) I: Aber dein Großvater konnte es [Armenisch]? Hüseyin: Wenn mein Großvater und meine Großmutter zusammenkamen, sprachen sie miteinander. Aber wenn wir zu ihnen kamen, hörten sie auf zu sprechen. Sie sprachen nicht. Wir fragten sie. Nichts, sagten sie. Es ist nichts. Zuerst reagiert Hüseyin ablehnend und ausweichend auf die Frage nach seiner religiösen Identifikation und räumt dann die Frage ganz aus, indem er die Unterschiede zwischen dem Glauben der Aleviten und dem der Armenier für nichtig erklärt. Durch diese Annäherung an die Aleviten versucht er, seine Rede an eine Gruppe anzuschließen, deren Status relativ akzeptiert ist. Er schildert das Überleben seines Großvaters und dessen Weiterleben in ständiger Angst, um seine eigene Unsicherheit über seine Identifikation zu erklären. Innerhalb der

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Familie macht er seine Großeltern für den Bruch in der Vermittlung insofern verantwortlich, da sie aus Angst vor weiterer Verfolgung schwiegen, vor der sie ihre Enkel bewahren wollten. Zugleich gesteht er selbstkritisch sein eigenes Desinteresse und das der anderen Nachkommen daran, die Sprache zu lernen, ein. Deshalb fühlt er auch sich selbst für den Wissensverlust verantwortlich. Hierbei zeichnet sich ein sensibles Verhältnis ab zwischen dem Schweigen über Erinnerungen der Überlebenden, das ihre Nachkommen schützen sollte, und dem Sprechen über Erinnerungen, das ihnen zu ihrer Identifizierung dienen könnte. Zwar schwiegen seine Großeltern über ihre Gewalterfahrung, aber sein Großvater sprach dennoch über die armenische Tradition. Durch die PräsenzForm „was wir sind“ vermittelt Hüseyin die kontinuierliche Bezugnahme seines Großvaters auf sein Wissen von der armenischen Vergangenheit, mit dem er sein Leben und das seiner Familie in der Gegenwart deutete. Der Großvater Hüseyins erhält sowohl durch sein Schweigen über die Gewalt, die er erlitt, als auch durch sein Reden über die armenische Tradition seine familiäre Rolle aufrecht, die unabdingbar für den Schutz seiner Nachkommen ist. Als einen wesentlichen Faktor, der das Reden über die armenische Vergangenheit innerhalb seiner Familie beeinflusste, schildert Hüseyin außerdem die andauernde Unterdrückung, der sich seine Familie seit dem Genozid ausgesetzt sah und auf die seine Familienmitglieder unterschiedlich reagierten. Hüseyin: Zum Beispiel ist mein Großonkel fünfzig, fünfzig und wie viel war das? War es dreiundfünfzig, im Jahr vierundfünfzig stirbt er in X bei einem Unglück. Er sprach Armenisch. Meine Großmutter erzählte [von ihm]. Er sagte, ständig kommen sie, treiben uns zusammen und bringen uns fort. Eines Tages, sagte sie, nahm er die Axt in die Hand, sagte sie. Vor dem Haus gab es Soldaten. Ich werde sie alle umbringen, sie können nicht hereinkommen. Sie haben ihm mit Gewalt die Axt weggenommen, sagte sie. Sie haben es nicht zugelassen, dass er sie umbringt. I: Konnte dein Vater Armenisch? Hüseyin: Nein. Er hat sich eben nicht \ Mein Vater hat sich eben, er hat sich gefürchtet, sie sahen sich vor. Hüseyin erinnert sich daran, dass sein Großonkel Armenisch sprach, und verbindet damit, dass sich dieser damit gegen die staatliche Unterdrückung und Gewalt zu behaupten versuchte. Dementsprechend verbindet er die Angst und Vorsicht seiner Eltern damit, dass sie nicht Armenisch sprachen. In ihrer Erzählung über seinen Großonkel vermittelt ihm seine Großmutter, wie die Familie versuchte, sich durch gegenseitige Selbstdisziplinierung und Kontrolle vor Ver-

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folgung zu schützen. In diesem Moment assoziiert er das Verhalten seines Großonkels mit dessen Tod, um die Konsequenzen zu verdeutlichen, die Versuche, sich gegen die erlittene Verfolgung zu behaupten, nach sich ziehen konnten. Dem stellt er das vermeidende Verhalten und das Schweigen seines Vaters gegenüber, mit dem sich auch Hüseyin als notwendige Schutzmaßnahme und aus Verbundenheit mit seinem Vater identifiziert. Hasmig gibt in der folgenden Sequenz wieder, wie sie versuchte, ihrer Enkeltochter eine Erklärung für ihr Schweigen über die armenische Tradition mit geben. Hasmig: Schau, mein Enkel, ein Kind, sagt zu mir, meine Enkeltochter, weißt du, was sie sagt? Großmutter Hasmig? Warum habt ihr uns so viele Jahre lang nie {etwas} gesagt? Ich sage, was hätte ich dir sagen sollen, mein Mädchen? Du hast gelernt, bist zur Grundschule gegangen. Du warst ein Kind. Danach bist du auf die Mittelschule gegangen. Danach hast du am Gymnasium gelernt. Danach bist du zur Universität gegangen. Was sollte ich dir sagen? Wenn ich etwas gesagt hätte, hätten sie dich #, sie hätten dich nicht studieren lassen. Sie hätten dich von der Schule geschmissen. Es macht mich traurig […], wenn ich es sagen würde. Nachher wärst du gegangen, was wäre aus dir geworden? Du hättest nicht arbeiten können, sie hätten dich rausgeschmissen. Du wärst nicht aufgenommen worden. Hasmig gibt ihre Antwort auf die Frage ihrer Enkelin danach, warum sie so lange über ihre armenische Familiengeschichte geschwiegen hatte, im Präsenz und in direkter Rede wieder, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen und um ihre Aussage zu vergegenwärtigen. Sie rechtfertigt ihr Schweigen gegenüber ihren Nachkommen damit, dass sie zum Wohl ihrer Enkelin und um deren Zukunft willen sie nicht von ihrer armenischen Familie habe wissen lassen wollen. Hasmig betont, dass die Verfolgung und Gefahr weiter andauern, sodass sie sich auch heute noch in ihrem Wohnhaus in Istanbul nicht sicher fühlen kann, sondern zurückgezogen und isoliert lebt. In den hier als Reihe betrachteten Aussagen zu den verschiedenen Formen von Schweigen wird deutlich, dass sich das Schweigen über Erfahrungen von Gewalt aufgrund der Schwierigkeiten, das erfahrene Leid in Worte zu fassen, mit dem notgedrungenen Verschweigen der armenischen Sprache bei den Überlebenden und ihren Nachkommen überlagern und sich gegenseitig verstärken. Die Überlebenden schweigen zudem über ihre erlittenen Gewalterfahrungen, um für ihre Nachkommen familiäre Rollen erfüllen zu können und um sie vor weiterer Verfolgung zu schützen. In ihren Erinnerungen deuten die Nachkom-

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men das Schweigen der Überlebenden weniger als Ausdruck fehlender Worte, sondern als ein strategisches Verschweigen aufgrund der Angst vor wiederholter Verfolgung. Als solches aufgefasst, gewinnt das Schweigen den Charakter eines Vermächtnisses, das die Nachkommen aus dem Gefühl der Verpflichtung gegenüber ihren Vorfahren übernehmen und fortsetzen. In der intergenerationalen Überlieferung nimmt die armenische Sprache für die Nachkommen der armenischen Überlebenden die Funktion eines Schlüssels zu einem Bedeutungsrahmen ein, in den sie ihre fragmentierten Erinnerungen einbetten können. Das Verschweigen der armenischen Sprache zog allerdings den Verlust eines wesentlichen Aspekts der intergenerationalen Vermittlung von Erinnerungen und des entsprechenden Deutungsrahmens für die Gegenwart und Zukunft nach sich.

7.1.3 Zwangskonversion und Re-Konversion In dem hier betrachteten historischen Kontext der Transformation des spätosmanischen Reichs in die Republik Türkei ist zwischen zwei Arten von Konversionen zu differenzieren: einer formellen Zwangskonversion, die staatlich autorisierte Beamte an Konvertiten zum sunnitischen Islam vornahmen und einer informellen Zwangskonversion, der die Verfolgten als Präventivmaßnahme vor Gewalt sich selbst unterzogen. Die Region Dersim wurde in der Vergangenheit mehrmals zum Ort von Zwangskonversionen, die mündlich und schriftlich überliefert werden und eine Folie für das Erzählen von Konversion darstellen.34 Aussagen über Zwangskonversionen und Re-Konversionen treten regelmäßig in den Erinnerungserzählungen auf. In der nachfolgenden Reihe sollen diese Aussagen rekonstruiert und auf ihre Funktionen hin näher untersucht werden. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Konstitution der Erinnerungserzählungen über Zwangskonversion selbst als ein Schritt in einem nicht abgeschlossenen Prozess der Aneignung des erzwungenen Glaubenswechsels verstanden werden kann. Zudem fragt sich, in welchem Artikulationsraum die Erzählenden versuchen, ihre Erinnerung an eine Erfahrung in der Vergangenheit zu rekonstruieren und ihr Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft zu verleihen.35 In diesem Zusammenhang wirft die Untersuchung zunächst einen Blick auf die Erinnerungserzählung von Hüseyin, in der er die Erzählung seines Großvaters über dessen Rettung vor dem Tod in Dersim 1938 wiedergibt.

34 Notgedrungen konvertierten Armenier zum Islam während der Massaker 1894–96, des Genozids 1915 und den staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938. Vgl. hierzu: Kharatyan (2015, 350–1). Für die Legende von Der Simon, siehe Hayreni (2015, 49). 35 Fabre (2010, 187–90).

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Hüseyin: Wir sind jetzt, sagt er [der Großvater], Muslime geworden. Damals haben sie, die Muslime, sie ja gezwungen. Bringt einen Koran her, sagt er. Auch ich werde vorlesen. Auch du, sagt der Imam, sollst vorlesen. Sie bringen einen Koran, mein Großvater liest vor. Ja, sagt er, dieser ist ganz, er ist ganz Muslim geworden, dieser. Dieser ist Muslim. Sie lassen meinen Großvater frei. Eben in der Gegend, in der er geboren wurde, kommen sie in die Dörfer, brennen die Häuser ab und plündern, sie lassen nichts mehr im Haus zurück. Sie haben eben nicht, also sie haben uns nicht in Ruhe gelassen. Beschwerden über Beschwerden, weißt du? Also diese, seit ein paar Jahren öffnet sich die armenische Sache. Sie ist hervorgekommen. Danach haben sie eben diese Dings gemacht. Also, wir haben sehr gelitten, sehr, wir haben furchtbares Leid erfahren. Verachtung. Hüseyin leitet die Erzählung von der Rettung seines Großvaters 1938 mit dessen Worten ein „Wir sind jetzt Muslime geworden.“ Die religiöse Zugehörigkeit zum Islam deklariert der Großvater durch diese Feststellung in der ersten Person Plural nicht nur auf sich selbst bezogen, sondern um die Wir-Gruppe seiner Familie erweitert. Durch seine Formulierung bezieht er sich auf ein Ereignis in der Vergangenheit, das einen Prozess nach sich zog, den er in der Gegenwart als abgeschlossen ansieht.36 Serop betont diese Aussage, indem er sie an den Anfang seiner Erzählung stellt. Die Umstände der Rettung seines Großvaters 1938 beschreibt Hüseyin, indem er die Aufforderung des Imams an seinen Großvater wiedergibt, öffentlich aus dem Koran vorzulesen. Hüseyin verdeutlicht den kompulsiven Charakter der Situation gleich im zweiten Satz, in dem er zwischen „sie“ und „wir“ differenziert, zwischen den Muslimen, von denen der Druck ausgeübt wurde und seiner Familie, die diesem Druck nachkommen musste. Die öffentliche Konversion des Großvaters gibt Hüseyin als Dialog in direkter Rede wieder, wodurch er sich die Zwangslage seines Großvaters eindrücklich vergegenwärtigt. Als eine der vielen Fähigkeiten seines Großvaters betont Hüseyin dessen ArabischKenntnisse, die er sich in der Schule angeeignet hatte. Sein Wissen befähigt ihn, in dieser Situation aus dem Koran vorzulesen, wodurch er sein Überleben und das seiner Familie sichert. Aufgrund seiner Kenntnis des Korans erkannte ihn der Imam offiziell als Muslim an und ließ ihn daraufhin wieder gehen. Nach dem, wie der Imam den religiösen Status seines Großvaters in diesem Moment einschätzte, gibt Hüseyin dessen Formulierung „ganz zum Muslim geworden“

36 Im türkischen Original steht diese Formulierung auch im Perfekt, der einen abgeschlossenen Prozess in der Gegenwart beschreibt.

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wieder, mit der sein Großvater als Konvertit eingeordnet wird. Jedoch auch nach der formellen Anerkennung als Muslime war, wie Hüseyin betont, seine Familie sozial nicht gleichgestellt. Die Folie, vor der Hüseyin diese Erinnerung seines Großvaters von der Rettung aus der Todesgefahr 1938 erzählt, bildet die Erinnerungserzählung über das Überleben seines Großvaters im Genozid an den Armeniern 1915. Der Großvater von Hüseyin entkam als Junge der ihm drohenden Ermordung im Genozid 1915, indem er im letzten Augenblick davonrannte. Dementsprechend erhält der Moment seiner Rettung 1938 die Bedeutung eines zweiten Entkommens vom Tod. Die daran anschließende Schilderung der wiederholten staatlichen Gewaltmaßnahmen und der Diskriminierung in Tunceli verdeutlicht, dass das erzwungene Vorlesen aus dem Koran zwar dem Großvater von Hüseyin das Leben gerettet hatte, da er dadurch als Konvertit zum Islam galt. Jedoch gestand der Staat ihm und seiner Familie nicht die gleichen Sicherheiten und Rechte wie anderen muslimischen Bürgern zu, weshalb sie der generellen Verfolgung in der postgenozidalen Gesellschaft ausgesetzt waren. Hüseyin deutet sein eigenes Erleben als eine Fortsetzung der Erinnerungen, die ihm in seiner Familie über erlittene Verfolgung und Gewalt überliefert wurden. Daher ließe sich die als core memory eingangs zitierte Beteuerung seines Großvaters „Wir sind jetzt Muslime geworden“ als ein Ausdruck des notwendigerweise immer wieder erneut zu vollziehenden Nachweises der Zugehörigkeit zum Islam und damit zur Loyalität gegenüber dem türkischen Staat lesen. Der andauernde Zweifel, der ihnen als armenischen Nachkommen entgegengebracht wird, zwingt sie in eine Position, in der die Bezeugung ihrer Loyalität ständig überprüft wird, ein Prozess, der in dem Ringen um Hegemonie nicht abgeschlossen sein darf. Diese Erinnerung von Hüseyin ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass er die Erfahrung seines Großvaters an keiner Stelle als Konversion bezeichnet, sondern lediglich von „diesem Dings“ spricht, das vollzogen wurde. In der folgenden Sequenz schildert Umut die Erinnerungen an die Zwangskonversion seines Vaters, wie sie ihm seine Familie vermittelte. Als Überlebender des Genozids 1915 wurden er und seine Familie zusammen mit anderen armenischen Familien aus Dersim 1938 in Viehwaggons von Elazığ in die Westtürkei zwangsdeportiert, wo sie sich bei ihrer Ankunft an dem Verbannungsort kollektiv zum Islam bekennen sollten. Umut: Am Abend lassen sie die Männer am Bahnhof von Z aussteigen und bringen sie in der Nacht von dort mit Lastwagen in die Kleinstadt Y. Dort gibt es Tierställe. Die sind leer. Sie sperren sie dort hinein. Nun ist es Morgen geworden, sie sagen: Alle werden zum Amt des Muftis ge-

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hen. Zu dieser Zeit gehen fünf, sechs armenische Familien nach Z. Von dort werden sie aufgeteilt. Jede Familie verteilen sie, nachdem sie Z hinter sich ließen, getrennt auf die Dörfer. Sie rufen den Mufti. Wir werden eure Personalausweise umändern, wir werden euch zum Islam bekehren. Sprecht euer salavat.37 Meine ältere Schwester versteht zu der Zeit kein Türkisch, sie kann Armenisch. Die Älteren verstehen Türkisch. Schließlich sprechen es alle. Die Reihe kommt an meinen Vater. Mein Vater war ein tiefgläubiger Mensch. Mein Vater sagt, ich werde kein salavat sprechen. Sie sagen zu meinem Vater, verschwinde, du alter gâvur, und werfen ihn hinaus. Die Deportation seiner Familie in Viehwaggons, ihre Unterbringung in Tierställen, die Trennung der Familien und Familienmitglieder rekonstruiert Umut als erniedrigende, verunsichernde und beängstigende Erfahrung. Danach wechselt er in die direkte Rede, um die Befehle der Soldaten und des Muftis während der kollektiven Zwangskonversion zu wiederholen. In dieser Situation entschied das Verstehen der Befehle auf Türkisch und das Aufsagen des salavat über Leben und Tod. Angesichts dessen hebt Umut in seiner Erzählung hervor, dass seine Schwester nur Armenisch verstand, worin sich für ihn ihre Immunität gegenüber der Zwangskonversion ausdrückt. Ebenso hebt er den festen Charakter seines Vaters hervor, der ihn nicht vom armenisch-apostolischen Glauben abrücken ließ. Die Weigerung seines Vaters zum Islam zu konvertieren, gibt Umut in direkter Rede wieder, wodurch er sie sich vergegenwärtigt. Das Festhalten an der Identifikation mit der armenisch-apostolischen Religion trotz Zwangskonversion und Verfolgung bildet in der Erinnerungserzählung von Umut das sinnstiftende und handlungsweisende Element, über das er das Weiterleben seiner Familie definiert. Seit der Zwangskonversion seines Vaters versteht Umut es als seine Aufgabe, dessen Folgen soweit wie möglich wieder rückgängig zu machen. Durch den Verlust seiner Eltern und damit ihrer Erinnerungserzählungen von der Zeit vor der Zwangskonversion sieht Umut auch die Möglichkeit zu einer Rekonversion verschwinden. Während die offizielle Anerkennung seines Großvaters und seiner Familie als Muslime in der Erzählung von Serop als eine Überlebensstrategie positiv konnotiert ist, Rettung bedeutet und Weiterleben ermöglicht, markiert die Erzählung von der Zwangskonversion, die der Vater von Umut verweigerte, einen Einschnitt in der familiären Überlieferung, der für Umut einen unwiederbringli-

37 Salat (arb.: salat, Plural: salavat) bezeichnet das rituelle Gebet der Muslime, das fünfmal am Tag in Richtung Mekka zu halten ist.

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chen Verlust bedeutet. Diesen Bruch beschreibt Umut für das Weiterleben der Familie als prägend, die seitdem bemüht ist, an das Verlorene anzuknüpfen. Mesut versichert mit Nachdruck, dass seine Eltern an ihrem christlichen Glauben festhielten und wehrt die Vorstellung ihrer religiösen Konversion vehement ab. I: Und kannst du erzählen, wie dein Vater Alevite wurde? Mesut: Nun, mein Vater hat ohnehin sein eigenes Armeniertum fortgeführt. Meine Mutter hat es fortgeführt, immer noch führt es meine Mutter fort. Wir führen unser Armeniertum immer noch fort. I: Aber nach außen tretet ihr als Aleviten auf ? Mesut: Nein, wir geben uns als Armenier bekannt, ich selbst. Aber meine Familie ist meistens über das Alevitentum gegangen. […] Wenn ich Familie sage, betrifft das bei uns die Seite meiner Mutter. Auf der Seite des Vaters ist niemand, also bei uns. Es lebt niemand mehr. Auch mein Vater ist […] gestorben. Auf der Seite meines Vaters ist also niemand mehr da. Jetzt gibt es uns. Wir sind da. Und klar, in dieser […] haben wir in Tunceli viel Leid erfahren, viel Unterdrückung erfahren. Es gab Druck. Du weißt, Minderheiten sind immer gezwungen, unter Druck zu leben. Sie sind es nicht eigentlich, aber das sind die Bedingungen. Wir sind fortgegangen und nach Istanbul gekommen. Als wir nach Istanbul kamen, bin ich unabhängig von den anderen gekommen. Ich bin nach Kumkapı gezogen. In Kumkapı bin ich zur Kirche gegangen. Ich bin zum Patriarchat gegangen. Ich habe gesagt, ich bin armenischer Herkunft. Ich möchte meine Eintragung ändern lassen, ich will wieder Armenier sein. Also ich will mit meiner eigenen Identität leben. Sie haben es nicht akzeptiert. Auch sie haben uns nicht akzeptiert. Auch sie haben uns nicht aufgenommen, also sind auch sie schuldig. Warum? Wir wollen frei weiter unsere eigene Religion ausüben. Aber leider hat der Mensch, der mir dort begegnet ist, der Priester oder […], unter den damaligen Bedingungen sagte er, es hat nicht geklappt. Was er auch getan hat, was nicht geklappt hat, das kann ich natürlich nicht wissen.“ Mesut betont, dass seine Eltern und seine Familie sich weiterhin öffentlich als Armenier identifizierten, trotz der Gewalt und des Drucks, dem sie in Tunceli ausgesetzt waren. Er unterstreicht dabei ihren Widerstand, den sie kontinuierlich gegen den religiösen Assimilationsdruck leisteten. Über diese Haltung unterscheidet er sie von ihren Verwandten, die sich dem Druck beugten und sich als Aleviten ausgaben. Mesut identifiziert sich mit seinen Eltern, indem er ihre Identifikation als christliche Armenier übernimmt und weiterführt. Aufgrund

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der Unterdrückung, die sie in Tunceli erlebten, zogen sie nach Istanbul, wo Mesut um offizielle Aufnahme in die Kirche beim armenisch-apostolischen Patriarchat in Istanbul bat. Da sie sein Gesuch ablehnten, schlussfolgert er, dass auch die armenische Kirche an ihrer Ausschließung teilhat. Mit diesem Vorwurf, den er gegen das armenisch-apostolische Patriarchat erhebt, knüpft er auch an den Leugnungsdiskurs an, der die Schuld für die Folgen des Genozids auf die armenisch-apostolische Kirche projiziert. In seiner Erinnerung an das Leben seiner Familie erläutert Mesut anschließend ausführlicher ihre Situation nach der Zwangskonversion in Tunceli. Mesut: Natürlich ist das nun, also sie haben damals nicht offen reden können. Wir haben uns nicht ausdrücken dürfen. Jetzt denke ich so, ja wir wussten, dass wir Armenier sind, aber zu Hause sagten sie uns das heimlich nachts. Also, tagsüber gab es keine Andeutung, denn wir wohnten in der A mahalle, sie haben es uns nachts erzählt. Und nachts hatten wir sowieso Angst. Von wo werden sie uns angreifen, was wird passieren? Also wir haben nicht wie ein Kind gelebt unter diesen Bedingungen. Überleg mal, von einer Seite Druck, von der anderen Seite innerhalb der Familie, das ist unsere Religion. Wenn du nach draußen gehst, verachten dich die Menschen. Also, stell dir mein Leben vor. Wirklich, wir haben uns doch gut geschlagen. Wir haben gut gekämpft. Bis heute sind wir gekommen. Ah, die armenischen Mitbürger, die hier in Istanbul leben, haben ihre Ruhe. Als ich kam, denn ich bin 1962 gekommen, habe ich gesehen, alle gehen in die Kirche und halten {Andacht}. Wir konnten dort nicht in die Kirche gehen. Es stand keine Kirche mehr. Also, sie waren alle zerstört. Wenn wir hingingen, wenn wir eine Weile Zeit dort verbrachten, sagten sie, schau, die Armenier gehen hin, sie gehen die Kirche besuchen. Das Leben seiner Familie in Tunceli war auch nach ihrer Rückkehr aus der Verbannung, wie sich Mesut erinnert, von Verfolgung, Kontrolle und Verachtung geprägt, und zwar nicht nur von staatlicher Seite, sondern auch vonseiten der Aleviten. In seiner Erinnerung zeichnet er seine Lebenswelt als zweigeteilt, in ein geschütztes Hausinneres, in dem seine Familie ihre Identifikation mit dem christlichen Glauben bewahrte und in ein ungeschütztes Äußeres, in dem es keinen Ort für ihre Glaubenspraxis mehr gab und wo sie für ihre armenische Identifikation verachtet wurden. Die fortgesetzte Verfolgung, die sie in Tunceli erlebten, schildert er am Beispiel ihrer Besuche von verbliebenen Kirchruinen. Bei diesen wurden sie von Aleviten beobachtet und konnten so nicht in Ruhe ihre Erinnerungsorte aufsu-

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chen.38 Diese Erinnerungspraxis im öffentlichen Raum bedeutete eine deutlich sichtbare Identifikation mit ihrer armenischen Familiengeschichte. Die Schwierigkeit selbst für die armenischen Überlebenden, sich dem Leugnungsdiskurs zu entziehen, verdeutlicht Mesut über den unterschiedlichen Umgang der Familienangehörigen mit der Situation des sozialen Drucks, der auf sie ausgeübt wurde. I: Also ist deine Familie alevitisch geworden? Mesut: Nun, wir sind solchermaßen alevitisiert, zum Beispiel, lass es mich so sagen, also: zehn meiner Geschwister, zwei davon sind fortgegangen, jetzt […], aber die anderen folgen nach außen hin dem Alevitentum, aber im Inneren dem Armeniertum. Also sie wenden eine doppelte # an, sie klären das nicht eindeutig in ihrem Gehirn. Also, ich kann es heute nicht sagen. Daran ist auch nichts Beängstigendes. Also, wenn du heute als Christ auf die Welt gekommen bist, das ist doch nicht deine Schuld. Der ist als Muslim geboren, auch er […] wird er es mit achtzehn Jahren annehmen, Muslim zu sein? Aber was ist es? So wie man hier jemandem, wie man von klein auf einem Menschen einen Befehl gibt, was man ihm injiziert, genauso geht es in sein Gehirn. Den sozialen Druck, zum Alevitentum oder sunnitischen Islam zu konvertieren, den seine Familie erlebte, beschreibt Mesut als einen andauernden Prozess, der zu einer Spaltung in ein Inneres und ein Äußeres der Konvertiten führe, deren Unvereinbarkeit wiederum eine psychische Disposition zur Unentschiedenheit nach sich ziehe. Für seine Familie in der Türkei sei die Praxis des armenischchristlichen Glaubens auf den privaten Raum begrenzt, im öffentlichen praktizieren sie hingegen die muslimischen Riten. Die Konversion vollzieht sich auf diese Weise alltäglich im Wechsel der Konvertiten zwischen privatem und öffentlichen Raum. Für seine Verwandten in der armenischen Diaspora biete sich hingegen die Möglichkeit einer eindeutigen Klärung, die den Konversionsprozess beende, indem sie die Spaltung in ein inneres und ein äußeres Verhalten aufhebe. Allerdings ringen auch die Nachkommen der armenischen Überlebenden aus Dersim, die in der armenischen Diaspora leben, damit, ihren Erinnerungen an die Zwangskonversion ihrer Eltern Sinn zu verleihen. So versucht Serop sei-

38 In der Provinz Tunceli ist die die Suche nach angeblich versteckten Schätzen in armenischen Ruinen und auf armenischen Friedhöfen seit dem Genozid 1915 virulent. Daher ist anzunehmen, dass sich die alevitischen Nachbarn erhofften, Mesuts Familie würde ihnen den Weg zu versteckten Goldschätzen weisen können, die sie bei der Kirchenruine vermuteten.

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ne religiöse Zugehörigkeit zu rekonstruieren, indem er deren Entwicklung entlang seiner Lebensstationen wie auf einer Landkarte aus seinem Gedächtnis nachzeichnet. Serop: Bis zum Alter von fünfzehn, achtzehn habe ich im Zentrum von Tunceli gelebt. Ich bin nicht gezwungenermaßen von dort geflüchtet. Wir sind groß geworden, alle sind gegangen, um Geld zu verdienen, für dies und jenes und so. Ansonsten, ich bin nicht nach Istanbul geflohen, weil ich dort [in Tunceli] Gewalt erfahren hätte. Ha, als wir nach Istanbul kamen, hatten wir dort unsere Kirchen und auch unser Patriarchat. Es gibt drei Kirchen in der Türkei. In der Türkei gibt es das Christentum. In Europa nicht, sieh mal. Sie sagten, dass es vor dieser dritten Generation einen Patriarchen aus Kayseri gab. Er sammelte aus Anatolien Kinder zusammen und brachte sie in ein armenisches Waisenhaus. Aber wenn du jetzt fragen würdest, wo ich doch hier in Deutschland Geld verdient habe, Gott sei Dank. Weißt du wonach ich mich sehne? Nach Tunceli. Ich würde gern dorthin zurückkehren! Serop bemüht sich, als ausschlaggebenden Grund für seinen Fortgang aus Tunceli nicht die dort herrschenden Lebensbedingungen in Verdacht zu bringen. Explizit verwirft er die Annahme, sie wären vor Gewalt geflohen. An dieser Stelle verteidigt er die Region seiner Vorfahren gegen Vorwürfe seiner Verwandten, die seinem Vater Geld boten, damit er nicht mehr weiter als maraba arbeiten müsse, sondern die Region verlassen könne.39 In seiner Wahrnehmung war die Verfolgung, die er und seine Familie in Istanbul durch die staatlichen Sicherheitskräfte aufgrund ihrer Herkunft aus Tunceli erlebten, weitaus schwerwiegender, als die in Tunceli erfahrene Unterdrückung, wie er im weiteren Verlauf seiner Erzählung verdeutlicht. Dass er seine Herkunftsregion Tunceli verteidigt und sich wünscht, dorthin zurückzukehren, deutet darauf, dass er sich seinen Vorfahren, ihrem Glauben und ihren Gräbern in der Region verbunden fühlt und daher dort seine Familientradition verortet. Nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus religiösen Gründen sei er nach Istanbul gezogen. Auch in der armenischen Diaspora in Deutschland orientiert er seine ideale Positionierung hinsichtlich seines Lebensorts und der Religionsausübung an dem Sitz des „wahren“ Christentums, den er für die Ostkirchen in der Türkei verortet. Allerdings hält er nicht Istanbul für den geeignetsten Ort für die Ausübung seiner Religion, da er sich dort am stärksten der staatlichen Kontrolle ausgesetzt sah,

39 Der Begriff maraba bezeichnet einen Pächter. In diesem Fall sind die enteigneten armenischen Grundbesitzer gemeint, die auf ihren früheren Ländereien Landwirtschaft betrieben.

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sondern Tunceli. Seinem Wunsch, an seinen Geburtsort zurückzukehren, entspricht seine nostalgische Erinnerung an die Kindheit in Tunceli. Serop hofft darauf, durch die Rückkehr an den Ort seiner Vorfahren auch zu den Orten ihres Glaubens zurückzukehren und dadurch ihre Tradition auf diese Weise fortsetzen zu können. Mahmut, geboren 1932/33 in einem Dorf im Landkreis Mazgirt von Tunceli, lebte Zeit seines Lebens in der Gegend seiner Kindheit.40 Dort hatten seine Eltern den Genozid an den Armeniern überleben können, indem sie sich bei Aleviten versteckt hielten. I:

Sind dein Vater und deine Mutter nach dem Völkermord zum Alevitentum konvertiert? Also sind sie zu Aleviten geworden? Mahmut: Was weiß ich, ich kann nicht mehr wissen, was sie taten, was sie machten, was sie gesehen haben. Soviel ich erlebt habe, soviel ist, was ich weiß. I: Aber du kennst sie als Aleviten? Mahmut: Hm, hm, natürlich. [ / ] I: Wie führst du heute deinen Glauben weiter? Fastest Du? Mahmut: Natürlich. Natürlich meine Liebe. Schau mal. So weit wie wir kennen auch unsere Kinder diesen Weg, diese Grundsätze, also so ist das nicht. Weil wir diese Sache mit offenen Augen betrieben haben, wir sind in diesem Glauben groß geworden. Natürlich vergessen wir das nicht. Schau [zeigt auf ein Foto an der Wand]. Dieser Mann ist Kureyşan, er ist Dede. Sey Bertal. Sogar vom Ort des Hacı Kureyş. Er ist der Herr dieses ocaks. Sie nennen ihn Sey Bertal ## Deva Kureşo. Dieser Mann ist der Herr dieses Orts. Wir, meine Tochter, wir lieben alle Völker. Wir lieben alle. Allah hat alle als Menschen erschaffen. Nie, also wir verachten niemanden. Jeder ist ein Wesen Allahs und alle beten zu Allah. Du hältst beispielsweise Andacht in deiner eigenen Sprache, ich in meiner Sprache. Die Sprache ist unterschiedlich, das kann sein. Äh, ansonsten ist Allah eins. Alle kennen Allah. Alle kennen Allah und Allah ist eins. Allah ist unser alles, Allah ist eins. Sieh mal, vier Bücher sind herabgekommen, vier Propheten sind gekommen. Alle vier sind rechtens. Jesus, Moses, David, Muhammed. Diese drei sind Propheten und diese drei sind auch rechtgeleitet. Zu diesen dreien gibt es auch ein Buch. Die Psalmen, die Thora, den Koran, die Bibel. Du kannst mir glauben, dass die Bibel feiner als die ande-

40 Interview mit Mahmut am 1. 7. 2012, in Dersim, Landkreis Mazgirt, Türkei.

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ren ist. Der Weg der Bibel ist schmaler. Wer auch immer sie gelesen hat, wird der Bibel sehr, äh. Natürlich, wir haben das nicht gesehen, ich weiß es nicht, aber es gibt Leute, die sie ja gelesen haben, die sie kennen und davon erzählen. Zum Beispiel der Prophet Jesus, Jesus ist der Prophet der Christen, nicht wahr? So sagen sie. Haha. Muhammed hat wohl gesagt, David ist gestorben und Moses ist auch gestorben. Ja und, was ist mit Jesus? Jesus niiiicht. Wo ist Jesus? Jesus hat sich in den Schatten zurückgezogen. Jesus wird herabsteigen. Er wird kommen, niemand weiß, wann er herabsteigen wird. Jesus ist nicht gestorben. I: Glaubst du daran? Mahmut: Natürlich, das ist natürlich richtig. Das kann nicht falsch sein. Die Geschichte wird niemals falsch geschrieben. Was auch immer über die Geschichte geschrieben wurde, ist richtig und wahr. Jeder hat von seiner eigenen Zeit, von seinen eigenen Dingen eine Geschichte, nicht wahr? Diese Geschichte verfolgt er weiter. Diese Geschichte ist wahr. Die Geschichte kann nicht falsch sein. Denn es gibt Geistliche, die Geistlichen untersuchen sie. Wäre es falsch, würden die Geistlichen das nicht akzeptieren. Nur eins kann sein. Im Koran kann es Betrug geben, dem Koran haben sie Falsches hinzugefügt. Den alten Koran gibt es nicht mehr. Es gab den wahrhaften Koran, den haben sie geändert. Alle haben zu ihrem eigenen Vorteil etwas hinzugefügt und ihr Recht begründet. Im Koran gibt es Fehler. Die gibt es, also, sie haben sie eingefügt. Dabei sollte es so nicht sein. Sie haben sie eingefügt. Jeder Herrscher hat seinen eigenen Vorteil daraus gezogen. Aber die anderen Bücher sind nicht so. Die anderen Bücher führen genau das fort, was in der Zeit der Propheten geschrieben worden ist. Das ist so. Ohnehin ist der Mensch so in der Welt. Wohin er sich wendet, dahin geht er auch. So, ja. Jetzt ist die Türkei zum Beispiel in wessen Hand? Ist sie nicht in der Hand von Erdoğan? In welche Richtung Erdoğan sich nun wendet, dorthin geht es, nicht wahr? So ist die Welt. Mahmut betont, nichts über den Glaubenswechsel seiner Eltern zum alevitischen Glauben wissen zu können, weil er es nicht selbst erlebt habe. Während er die Kluft zwischen der Erfahrung seiner Eltern und seinem Wissen darüber als unüberbrückbar darstellt, unterstreicht er ihre Weitergabe religiösen Wissens über das Alevitentum an ihn selbst, wie er es auch an seine eigenen Kinder weitergibt. In diesem Zusammenhang hebt er den Respekt der Aleviten gegenüber Andersgläubigen hervor und knüpft an die Akzeptanz der rechtgeleiteten

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Propheten und deren Schriften entsprechend der alevitischen Lehre an. Jedoch differenziert er zwischen den heiligen Büchern, indem er die Bibel als den schmaleren Weg beschreibt. Die Metapher eines schmalen Wegs zur höheren Erkenntnis entspricht dabei der Beschreibung des alevitischen mystischen Pfads zur religiösen Wahrheit. Nachdem Mahmut die Geschichtsschreibungen dieser religiösen Schriften aufgrund der Autorität der Geistlichen als wahr bezeichnet und somit an die Vorstellung der Dedes als Träger von Heiligkeit anknüpft, räumt er ein, dass der Koran zu Machtzwecken manipuliert wurde. Die Themenfelder von Recht und Gerechtigkeit entwickelt er weiter, indem er seine Erwartung der Rückkehr des Propheten Jesus am Tag des Jüngsten Gerichts äußert, wie er sie aus der mündlichen Überlieferung kennt. Den wesentlichen Unterschied zwischen den Propheten sieht er in dem Glauben daran, dass Jesus nicht wie die anderen Propheten gestorben sei, sondern weiterlebe und wiederkommen werde. Wiederum benutzt er als Folie eine alevitische religiöse Vorstellung, indem er von Jesus spricht, der sich in einen Schatten zurückgezogen habe, eine Formulierung, die für die Verborgenheit des Mehdi angewandt wird. Mahmuts Satz über den Menschen „Wohin er sich wendet, dahin geht er auch“, den er als einen Aphorismus formuliert, deutet auf eine ihm eindrücklich vermittelte Erfahrung aus dem mündlich überlieferten Familiengedächtnis hin. Dieser Sinnspruch fasst metaphorisch die Zwangskonversion als einen Richtungswechsel auf, den jemand in absoluter Abhängigkeit von den Machthabenden einschlägt und fortan weiterverfolgt. In dieser Metapher überträgt Mahmut eine unumkehrbare Wende auf dem Lebensweg eines Menschen auf den seiner Eltern, um diesen für sich und seine Nachkommen als ausschlaggebend zu benennen. Am Ende dieser Erinnerung versichert Mahmut, dass er auf dem Weg, den seine Eltern einschlugen, heute weiter fortgeht, um sein Verhalten zu generalisieren und es somit als konform darzustellen. Es zeigt sich, dass die Aussagen den sozialen Druck zur Konversion regelmäßig als einen andauernden, nicht abgeschlossenen Prozess beschreiben. Ihre Aussagen zeugen von ihrem Eindruck, dass die beständige Anzweifelung ihrer religiösen Zugehörigkeit mit dem Zweifel an ihrer nationalstaatlichen Zugehörigkeit verbunden wird. Diesem Zweifel sehen sich die Nachkommen der armenischen Überlebenden im hegemonialen Leugnungsdiskurs ausgesetzt, der sie zum wiederholten Bezeugen ihrer Konformität und Loyalität zur Staatsmacht zwingt. Als Bedingung für ihr Weiterleben in der Republik Türkei bedeutet die religiöse Konversion somit einen nicht abzuschließenden Prozess. In den oben angeführten Aussagen wird die Konversion zum Islam oder Alevitentum gleichsam ambivalent bewertet. Als Überlebensstrategie ist sie positiv, aufgrund der Fremdbestimmtheit jedoch negativ konnotiert. Die erzwun-

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gene Trennung der religiösen Praxis in ein Innen und Außen, in eine private christliche und in eine öffentliche alevitische beziehungsweise sunnitische Glaubenspraxis, erleben die Nachkommen der Konvertiten in der Türkei als eine unauflösbare Ambivalenz. Ihr Reden über ihre Islamisierung knüpft an den hegemonialen Leugnungsdiskurs an, insofern es Kritik an der restriktiven Haltung des armenisch-apostolischen Patriarchats gegenüber islamisierten Armeniern übt. Ihre Erzählungen von der Erfahrung wiederholter Verfolgung und Gewalt, die sie in der postgenozidalen Gesellschaft als armenische Konvertiten erleben, können sie jedoch an keinen der hegemonialen Diskurse anschließen. Aber auch für die Nachkommen außerhalb der Türkei stellt der Umgang mit der Zwangskonversion ihrer Vorfahren und dem daraus resultierenden Bruch mit der Tradition eine andauernde Schwierigkeit dar. Der Irreversibilität ihrer Konversion im Diesseits versuchen sie daher zu begegnen, indem sie von einer Umkehrung der Verhältnisse aus transzendenter Perspektive erzählen. Darin schließen die Aussagen zur Konversion an die Aussagenreihe zu Gerechtigkeit an.

7.1.4 Überleben Die Überlebenden des Genozids 1915 werden in der Türkei mit dem pejorativen Begriff kılıç artıkları bezeichnet, der „die Überbleibsel des Schwerts“ bedeutet.41 In dieser Wendung ist die vernichtende Gewalt in der Metapher des Schwerts ausgedrückt. Zudem impliziert der Begriff eine Unvollständigkeit der intendierten Vernichtung und trägt dadurch für die Überlebenden einen gewaltandrohenden Charakter. Das Überleben der Armenier in Dersim ist vor dem Hintergrund der spezifischen historischen Situation einzuordnen, die in der Region durch zwei Ereignisse kollektiver Gewalt besonders geprägt wurde: dem Genozid an den Armeniern 1915 und den staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938. Im Folgenden nimmt die Untersuchung Aussagen über das Überleben als eine Reihe in den Blick. Umut überliefert die Erinnerungen seiner Eltern an die Zeit des Genozids an den Armeniern 1915 in Dersim, in der er schildert, wie sie überlebten.

41 Ritter (2012, 15). Die syrischen Christen, die ebenfalls während des Genozids 1915 verfolgt und ermordet wurden, prägten den Begriff Sayfo/Seyfo, der auf Aramäisch „Schwert“ bedeutet. Mit diesem Begriff erinnern sie an das „Jahr des Schwerts“, an dem ihre Vorfahren durch das Schwert „wie Schlachtschafe massakriert“ wurden, siehe Tamcke (2009, 71). Einen Überblick der Forschung zum „Seyfo“, der bereits die Periode seit den Massakern 1894–96 einschließt, bietet Taylor (2013, 25–9).

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Umut: 1915 ist mein Vater sechzehn, siebzehn Jahre alt. Meine Mutter ist acht, neun Jahre alt. Mein Vater befindet sich im Landkreis Peri, der zu Dersim gehört. Mein Vater, ein Bruder, seine Eltern, zusammen vier Personen, fliehen in die Berge, in die Höhlen. Sie essen Kräuter. Sie brechen Schildkröten auf und essen sie. Die Zeit vergeht. Mein Vater geht zu einem Ağa zwischen Nazımiye und Mazgirt. Er sagt, wir können für Sie als Hirten arbeiten, nehmen Sie uns auf. Der Ağa sagt, gut, kommt. Seine Mutter, sein Vater, sein Bruder und mein Vater kommen in diesem Dorf in einem Zimmer unter, das vom Stall abgetrennt ist, wo sie auf einer Pferdedecke und einer dünnen Matratze schlafen. Sie arbeiten als Hirten in diesem Dorf. Es vergeht einige Zeit. Mein Großvater stirbt dort. Mein Vater und seine Mutter legen meinen Großvater in eine Pferdedecke. Das eine Ende der Pferdedecke hält mein Vater, das andere Ende meine Großmutter. So tragen sie ihn fort und begraben ihn an einer Stelle. Mein Vater arbeitet bei diesem Ağa, solange das Massaker an den Armeniern andauert. Als er siebzehn, achtzehn Jahre alt wird, beginnt er mit der Schreinerarbeit, die er von seinem Vater gelernt hat. Er geht in das Dorf X von A Ağa. Er befreundet sich gut mit A Ağa. Zwei Jahre bleibt er dort. A Ağa besteht darauf, dass er dortbleibt, aber mein Vater trennt sich von dort. Er geht in die Gegend Z zu B Ağa. B Ağa liebt und respektiert meinen Vater. Auch hier schreinert er. 1915 ist meine Mutter mit ihrem Vater, ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihrem Bruder zusammen. Meine Mutter ist acht, neun Jahre alt. Meine Mutter und ihre Familie verstecken sich auf den Höhen des Bergs D über Monate. Während des Völkermords an den Armeniern verstecken sich dort in den Höhlen hundertfünfzig, zweihundert Leute. C Ağa hatte auf den Almen viele Tiere. Er sagte, die Armenier, die sich in den Felsen und Höhlen verstecken, sollen kommen und frische Speisen essen. Er sagte zu seiner Frau, spare nichts auf, versuche nicht, Käse und Fett herzustellen. Diese Armenier in den Bergen, in den Felsen sind hungrig und elend. Wir besitzen viel. Gib ihnen, sie sollen essen. 1915 sagt mein Onkel eines Tages, Mutter, sagt er, bring uns nach Hause. Koche einen Pilaw.42 Lass uns ihn essen, lass uns unseren Hunger stillen. Wenn sie wollen, sollen sie uns töten. Hundertfünfzig, zweihundert Menschen haben dort so gelebt. Meine Mutter hat das immer erzählt. Meine Mutter sagte, als wir uns in den Bergen und Höhlen versteckten, in der Zeit, als wir uns von Kräutern ernährten, haben wir von den

42 Reisgericht.

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Aleviten auf den Hochebenen Unterstützung erfahren. 1915 haben sie versucht, uns zu beschützen. Als wir aus den Höhlen kamen und einen Schatten sahen, fürchteten wir uns sehr. Denn wenn die Regierung dem Menschen zum Feind wird, wird alles, was du siehst, zum Feind. Sogar Bäume und Steine kommen einem wie Feinde vor. Wenn du einen Schatten siehst, fragst du dich sogar, ob das nicht ein Soldat ist. Beide Eltern von Umut erzählten ihm davon, wie sie vor der Verfolgung während des Genozids 1915 in die Berge von Dersim fliehen und dort in Höhlen überleben konnten. Angesichts der extremen Notlage, aus dem sozialen Leben herausgerissen und auf sich selbst geworfen zu sein, entwickelten sie verschiedene Überlebensstrategien, die sie an ihre Kinder weitergaben. Die Familie von Umuts Vaters konnte durch die handwerklichen Fähigkeiten seines Großvaters überleben, indem sie sich dem Schutz eines Ağas in Dersim unterstellten, der von ihnen wirtschaftlich profitierte. Umut erzählt, wie sein Großvater, der das Überleben der Familie gesichert hatte, starb und die Angehörigen ihn lediglich in einer Pferdedecke ohne Grabstein beilegen konnten. Daraufhin übernahm der Vater von Umut dessen Rolle und führte das Handwerk des Großvaters fort. Umut betont die Gunst und respektvolle Anerkennung, die sein Vater bei den Ağas aufgrund seiner Fähigkeiten gewann, während er herausstellt, dass sein Vater aus Vorsicht von einem Ağa zum anderen zog. In der Folge verhält auch Umut sich selbst später als Händler gegenüber seinen Geschäftspartnern zurückhaltend und vorsichtig. Umut erklärt sich das Überleben seiner Eltern mit ihrem professionellen Können und ihrer Vorsicht in den sozialen Beziehungen. Die Fortsetzung ihrer Verhaltensmuster gilt ihm als Bedingung für sein eigenes Weiterleben. Als Umut wiedergibt, wie die Familie seiner Mutter der existenziellen Gefahr des Hungertods ausgesetzt war, erhält die Erinnerung an seinen Onkel, der sich sehnlichst eine Mahlzeit wünschte, selbst wenn es die letzte wäre, einen eschatologischen Aspekt. In einem Satz seiner Mutter verdichtet sich ihre Erfahrung der ständigen Verfolgung, mit der die existenzielle Angst allgegenwärtig wurde: „Denn wenn die Regierung dem Menschen zum Feind wird, wird alles, was du siehst, zum Feind.“ Diesen Satz wiederholt Umut mehrmals, um ihn sich als die Essenz der Überlebenserfahrung seiner Mutter zu vergegenwärtigen und auf sein eigenes Weiterleben anzuwenden. Durch die Verfolgung, der sie in ihrem Versteck in den Bergen entkommen war, entwickelte seine Mutter ein Bewusstsein für allgegenwärtige Gefahr und Bedrohung. Diese Gefahr zu erkennen und sich vor ihr zu verbergen und zu schützen, gilt Umut als ein zentraler Bestandteil der Überlieferung seiner Mutter an ihre Kinder. Darüber hinaus verdeutlicht dieser Satz auch, dass sich das Vertrauen in die Schutzmacht der Ber-

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ge und Berghöhlen in Dersim durch diese Gewalterfahrung verloren hatte. Angesichts der omnipräsenten Bedrohung kann in dieser Wahrnehmung selbst die Natur den Verfolgten keinen Schutz mehr gewähren. Auch die Eltern von Mahmut überlebten den Genozid 1915 in Dersim in einem Versteck, wie er zu Beginn seiner Erzählung schildert, als er erklärt, wie die Ehe zwischen seinen Eltern zustande kam: Mahmut: Wir sind von Y hierhergezogen. Hier haben wir Land gekauft. Dort gab es kein Land, nur sehr wenig. Von dort, äh (…). Hier wurde Land verkauft, wir haben für Geld diesen Besitz gekauft und haben uns hier niedergelassen. Seit 1950 bis heute sind wir hier. 1950 sind wir von Y hierhergezogen. Zu der Zeit lebte mein Vater noch. Mein Vater ist hier gestorben, meine Mutter ist hier gestorben. Mein Vater starb, schätze ich 1955, 56, in dieser Zeit. Meine Mutter starb spät, mein Vater früh. Aber meine Mutter ist älter als mein Vater. Hm. Eigentlich kam meine Mutter als Braut zu meinem Vater [zu der Familie des Vaters]. Zuerst kam meine Mutter zu meinem Onkel. Mein Onkel ging zu der Zeit nach Amerika. Einige Jahre blieb er in Amerika, dann kam die Nachricht, die Nachricht seines Todes, da hieß es, er sei in Amerika gestorben. Danach lebte meine Mutter einige Jahre weiter bei der Familie meines Großvaters. Damals lebte meine Großmutter noch. Meine Großmutter sagte zu meiner Mutter, mein Mädchen, wenn du heiratest, wenn du jemand anderen als meinen Sohn nimmst, wenn du nicht meinen Sohn nimmst und jemand anderen heiratest, dann soll diese Sünde schwer auf dir lasten. Wenn du heiratest, dann nimm wieder meinen Sohn. Wenn du nicht heiratest, dann sage ich nichts. Es vergeht eine Zeit, danach kommt dieser Völkermord dazwischen. Dieses Ereignis geschah vor dem Völkermord. Nach dem Völkermord ging meine Mutter in die eine Richtung, mein Vater in eine andere Richtung. Natürlich, das ist eine Frage des Überlebens, von da an versuchten alle, ihr eigenes Leben zu retten. Der Mensch kann dann nicht auf dieses und jenes achten. (…) Nach einer Weile beruhigte sich die Lage etwas. Als sich die Situation normalisiert hatte, kamen die beiden wieder und trafen in Y, in Z wieder aufeinander. Dort finden sie sich wieder und dort heiraten sie. Dann bauen sie eben wieder ein Haus und gründen eine Familie. Und arbeiten eben. So und so. Jetzt sind wir fünf Geschwister. Ich habe zwei ältere Geschwister. Sie sind beide gestorben. Jetzt sind wir drei Geschwister am Leben. Ich bin da.

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Als er die Erfahrung seiner Eltern während des Genozids an den Armeniern 1915 beschreibt, verwendet Mahmut einen Ausdruck, der die Trennung seiner Eltern in ein eindrückliches Bild fasst: „Nach dem Völkermord ging meine Mutter in die eine Richtung, mein Vater in eine andere Richtung.“ In dieser Metapher drückt Mahmut die gravierenden Folgen der Gewalt aus, die den Verlauf des Lebens seiner Eltern fundamental beeinflusste. In der entgegengesetzten Richtung, die seine Eltern unwillkürlich einschlagen mussten, ist die Ungewissheit über das Überleben jedes Einzelnen ausgedrückt. Zugleich steht die Erinnerung an diesen Moment metaphorisch für die endgültige Trennung seiner Eltern von den Großeltern. Diese einschneidende Erfahrung seiner Eltern riss sie aus ihrem Familiengefüge und begründete ihre anschließende Einsamkeit. Dem gingen die Worte seiner Großmutter voraus, die Mahmuts jung verwitwete Mutter noch vor dem Genozid zu überzeugen versuchte, erneut einen ihrer Söhne zu heiraten. Diesem Wunsch nachzukommen, der von der zentralen Bedeutung zeugt, die die Großmutter der Familie beimaß, fühlten sich die Eltern von Mahmut nach dem Völkermord und nach dem Verlust ihrer Verwandten verpflichtet. Als die beiden sich nach dem Genozid wiederfinden, versuchen sie an die Erinnerung an ihre Eltern anzuknüpfen, indem sie einander heiraten und die Familienlinie fortsetzen. Mahmut beschließt die Reihe der Nachkommen, indem er sich selbst aufzählt. „Ich bin da.“ Damit sieht er sich selbst in der Fortsetzung dieses Vermächtnisses seiner Großmutter. Im weiteren Verlauf seiner Erzählung kehrt er noch einmal zu den Umständen des Überlebens seiner Eltern zurück. Mahmut: In der Zeit des Völkermords waren da meine Eltern. Und ihnen haben die Leute von dort geholfen und die Menschen haben sie gerettet. Bekannte Leute in dieser Gegend haben ihnen geholfen, also die eigenen Leute haben ihnen geholfen. Ohnehin, hätten sie ihnen nicht geholfen, wären sie erschossen worden. Den Leuten dort, den Menschen sei Allah gnädig, also sie haben geholfen, sie haben sie versteckt. Auf diese Weise haben diese Leute sie von diesem Dings gerettet. Danach haben sie geheiratet, Haus und Hof gekauft, sie brachten \ Was weiß ich. I: Wie haben sie ihnen geholfen? Mahmut: Was ist Hilfe, eben, zum Beispiel beim Völkermord wurde ein Befehl erlassen, alle Armenier werden umgebracht, keiner wird am Leben bleiben. Also was machen sie? Diese Leute zum Beispiel verstecken meine Mutter und meinen Vater. Sie sagen, nein, bei uns gibt es so etwas nicht. Bei uns gibt es keine Armenier, hier ist niemand. Auf diese Weise verstecken sie diese Menschen für eine gewisse Zeit, sie nehmen sie mit und verstecken sie. Sie bereiten ihnen heimlich Es-

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sen, bringen und geben es ihnen. Diese Menschen, was weiß ich, ob sie sie im Schuppen versteckten oder im Haus. Was auch immer sie gemacht haben, sie haben die Menschen versteckt. So verging eine Zeit. Eine Weile später, natürlich, ob es ein Jahr war, oder zwei Jahre, drei Monate oder ein Monat, das weiß ich nicht. Nachdem sich die Lage etwas beruhigt hatte, holten diese sie langsam, langsam hervor. Also, Allah bewahre uns davor, aber sollte es wieder so etwas geben, einen äh, oder sogar ein schlimmes (…), ein Drama, oder sogar einen Krieg oder so etwas und es hieße, zum Beispiel, sie werden die Kurden umbringen. Wenn es auch bei uns so kommen würde, dann könnten wir auch zwei, drei Kurden verstecken. Also, weil das Menschenkinder sind, tut es dem Menschen leid. Wer auch immer es sei. Wenn ein solcher Tag kommt, empfindet, wer Mensch ist, Mitleid. Ein Gefühl des Mitleids regt sich im Menschen. Mahmuts Erzählung ist von mehreren Satzabbrüchen und Pausen gekennzeichnet, die annehmen lassen, dass er ein Redeverbot über dieses Thema internalisiert hat, das sich in seinem vorsichtig, zögernden Reden ausdrückt. Er betont, dass es Bekannte aus der Gegend waren, die seinen Eltern halfen. Durch den Verlust ihrer Eltern erlebten Mahmuts Eltern eine Schutzlosigkeit, die sie ihren Kinder darüber vermittelten, das sie auf die Hilfe von Bekannten angewiesen waren. Dem entspricht die dankbare Verbundenheit, die Mahmut den Nachbarn der Umgebung gegenüber wiederholt zum Ausdruck bringt. Als Kinder verloren seine Eltern im Versteck ihr Zeitgefühl, sodass Mahmut ihr Warten als unbestimmte Zeit wiedergibt. Er vergegenwärtigt sich ihr Gefühl der Abhängigkeit, Einsamkeit und andauernden Bedrohung aufgrund der Verfolgung im Genozid, die ihm seine Eltern in ihren Erinnerungserzählungen von ihrem Überleben vermittelten. Die Worte der Nachbarn, die seine Eltern versteckten, gibt er in direkter Rede wieder, um die Schutzwirkung zu vergegenwärtigen, die sie darüber ausdrückten. In diesem Zusammenhang betont er, dass den Menschen, die seine Eltern vor dem Tod bewahrten, indem sie ihnen Schutz vor der Verfolgung boten, Allahs Gnade zustehe. Aufgrund des Überlebens seiner Eltern durch den Schutz von Nachbarn fühlt er sich dazu verpflichtet, in Zukunft Verfolgten seinerseits Schutz zu gewähren, wie er seinen Eltern zuteilwurde. In dieser Überlegung geht er davon aus, dass es weitere Gewaltverbrechen geben wird, in denen sich die Menschlichkeit der Menschen in ihrem Verhalten gegenüber dem Nächsten zeigen werde. Mahmut wiederholt eindringlich, dass Allah alle Menschen erschaffen habe, wodurch er verdeutlicht, dass er Gewalt, die Menschen gegen Menschen verüben, nicht für gerechtfertigt ansieht.

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Aus den Aussagen zum Überleben geht hervor, dass die Nachfahren die Erinnerungen über das Überleben und die Rettung vor dem Tod ihrer Eltern und Großeltern als ausschlaggebend für ihre eigene Lebensweise darstellen. Die Nachkommen rekonstruieren die Erinnerungen ihrer Vorfahren an omnipräsente und permanente Bedrohung. Sie verinnerlichen den Umgang ihrer Eltern damit, da sie deren Wissen über das Überleben als essenziell und handlungsleitend für ihr eigenes Leben auffassen. Um das Überleben ihrer Vorfahren zu erklären, zählen sie als entscheidende Faktoren deren besondere Fähigkeiten und besonderes Wissen, wie handwerkliches Können und Sprachkenntnisse, auf. Zudem legten die Überlebenden großen Wert auf die Familie, dem ihre Nachkommen zu entsprechen versuchen, indem sie zum Beispiel wiederum nur Kinder von Armeniern aus Dersim heiraten. In der Situation der allgegenwärtigen Verfolgung, in der selbst die Natur keinen Schutz mehr bietet, wurde die Fähigkeit lebenswichtig, zwischen Rettern und Verrätern zu unterscheiden. Denjenigen alevitischen Nachbarn, die den Armeniern das Leben retteten, indem sie sie aufnahmen, bei sich versteckten, und sie somit vor dem Unrecht bewahrten, fühlen sich die Erzählenden bleibend dankbar verpflichtet. Vor dem Hintergrund des Überlebens verstehen sich die Erzählenden selbst als die Fortsetzung des Vermächtnisses ihrer Eltern und Großeltern. Mit dem Wissen von den Bedingungen ihres Überlebens weiterzuleben und ihre Strategien fortzuführen, erweist sich für die Nachkommen als Möglichkeit, ihnen gegenüber loyal zu bleiben.

7.1.5 Rituale In den Erinnerungserzählungen beziehen sich die Nachkommen regelmäßig auf Rituale ihrer Verwandten, sodass diesbezügliche Aussagen hier als eine Reihe betrachtet werden. Diesen Aussagen werden jedoch zunächst einige Überlegungen zum Einfluss der kirchlichen Institutionen sowie zur Form und Bedeutung von Ritualen bei den Armeniern in Dersim vor dem Genozid 1915 vorangestellt. Die Glaubenspraxis der christlichen Armenier in der ländlichen Gebirgsregion Dersim wies bereits vor dem Genozid deutliche Unterschiede zu der von dem armenisch-apostolischen Patriarchat in Konstantinopel geprägten orthodoxen Glaubenspraxis und auch zu den umliegenden Regionen in der Ebene auf. Dieser Eindruck geht aus den Reiseberichten von Antranik und von den armenischapostolischen Priestern Bardizaktsi, Natanyan und Sırvantsdyants hervor. Antraniks Schilderung eines Gottesdiensts im Kloster Surp Garabed in Halvori Vank unter der Leitung des örtlichen Diakons zeugt von der Wahrnehmung einer religiösen Differenz:

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Zugleich erfüllte Zangoç die Aufgabe des diratsu. Wenn er auch las, indem er die Buchstaben aneinanderreihte, sagte er das „Luys Zıvart“ doch eigentlich auswendig auf. Es verlangte Geduld, um der schrecklichen Stimme und dem miserablen makam dieses Bergdiakons zuzuhören, er verwandte den „Lavug“ makam, der allen Menschen aus Dersim eigen ist. Danach sprach er auswendig eins, zwei Gebete, deren Worte er wiederum der lokalen Mundart anpasste und in einem makam aufsagte, der dem Geschmack der Bergbewohner entsprach. Der Priester begann aus der Bibel vorzulesen, aber auch hier übersprang er oft einen ganzen Satz und wenn es zu langen Wörtern kam, stockte er, bis er die Buchstaben miteinander verband. Der Gottesdienst war nach zehn Minuten beendet. Wir sprachen unser Gebet und gingen hinaus.43

Antranik hielt die mangelnde priesterliche Ausbildung ursächlich für die Differenz zwischen der ihm bekannten und der auf ihn befremdlich wirkenden Liturgie des Priesters der Klosterkirche Surp Garabed in Halvori in Dersim. Zudem geht aus Antraniks Darstellung hervor, dass es bereits seit der Landflucht im 19. Jahrhundert und aufgrund der Massaker 1894–96 an Nachwuchs an lokalen Priestern mangelte. Dadurch war der regulative Einfluss der armenisch-apostolischen Kirche auf die alltägliche Glaubenspraxis der Armenier in Dersim schon vor dem Genozid 1915 drastisch zurückgegangen. Darüber hinaus gab es, abgesehen von den Gegenden in der Ebene, in Peri, Pertek und Çemişgezek, im Inneren Dersims nur einige wenige Kirchen, wie zum Beispiel in Halvori und Ergen, die für die armenische Bevölkerung in einem begrenzten Umkreis Dienst leisteten. Die abgelegenen Dörfer in den Bergen, wie die der Mirakyans, blieben außerhalb des direkten kirchlichen Einzugsbereichs. Wie Antranik in seinem Reisebericht von 1888 schildert, beobachtete er bei den Familienangehörigen der Mirakyans einen alternativen Umgang mit Geistlichen und deren religiösen Diensten, der ihm bemerkenswert erscheint: Die Mirakyans haben weder Kirchen noch Priester, aber ihnen sind ein festes Christentum und ein tiefer Glauben an Gott eigen, die bei denen, die Kirchen und Priester haben, nicht zu sehen sind. Bei ihnen ist es unabdingbare und heiligste Pflicht, zweimal im Jahr, an Weihnachten und an Ostern, von entfernten Orten einen armenischen Priester herbeizuholen, durch ihn um die Vergebung der Sünden zu bitten und das hağortutyun zu erhalten.44 Danach ließen sie auch die Häuser, alle Tiere und Gegenstände des Hauses, also Waffen, Ackerwerkzeuge, Saatgut, Brot, Wasser, Mehl, Spreu, Haustiere und Vieh, segnen. All dies ließen sie von dem armenischen Priester segnen, damit sich im Haus keine „ungesegneten“ Dinge befänden. Zu welcher Jahreszeit sich auch immer bei den Mirakyans eine Taufe, eine Beerdigung, eine Hochzeit oder für was auch immer sich ein Anlass ergab, für den sie einen Geistlichen benötigten, gingen sie in eines der Dörfer der umliegenden Kreise, zum Beispiel nach Mazgirt, Pah oder Çarsancak und luden einen

43 Antranik (2012, 72). 44 Hağortutyun (arm.) „gesegnetes Brot“.

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Priester ein, der ihrer Einladung auch baldmöglichst nachkam, um die notwendige Zeremonie auszuführen.45

Hovsep Hayreni fügt in seiner Übersetzung von Antraniks Reisebericht hinzu, dass, selbst wenn ein Priester, der auf diese Weise eingeladen wurde, einmal versuchte zu entkommen, ihn die Mirakyans wieder einfingen und zwangen, den Dienst auszuüben, ihn aber ansonsten respektvoll behandelten und andächtig der Zeremonie folgten.46 Diese Überlieferung zeugt von einer besonderen Haltung der Angehörigen der Mirakyan-Familie gegenüber der Institution Kirche und deren Vertretern. Da ihnen die Priester unabdingbar für die Durchführung des Rituals erschienen, konnten sie selbst Zwang anwenden, um dieses zu gewährleisten. Die Bedeutung des Rituals erscheint ihnen hierbei wichtiger gewesen zu sein als der Respekt vor dem Ritualleiter. Die fehlende Basis für ein armenisches Gemeindeleben galt den armenischen Überlebenden des Genozids 1915 als einer der Hauptgründe für ihre Entscheidung, die östlichen Provinzen zu verlassen und nach Istanbul zu ziehen beziehungsweise aus der Türkei zu emigrieren.47 Seit dem Genozid kam dem Pilgern zu den Ruinen der zerstörten Kirchen die Bedeutung des Gedenkens an die Verstorbenen zu, so wie im Dorf Til im Landkreis Pertek, wohin noch bis in die 1970er Jahre Armenier aus Istanbul anreisten.48 Dieses Gedenk-Pilgern an „traumatische Orte“ kann als eine zentrale Mnemotechnik der in Dersim gebürtigen christlichen Armenier für ihre Verstorbenen angesehen werden. Im Folgenden nimmt die Studie die Aussagen ihrer Nachkommen über Rituale in den Blick. Mahmut erzählt von alevitischen Ritualen, die er mit seinen Eltern praktizierte, die im Genozid 1915 zum Alevitentum konvertiert waren, und die nun seine Kinder fortführen: I:

Seid ihr [die Familie] zusammen zu den heiligen Orten gepilgert, habt ihr gebetet, erinnerst du dich? Also zum Beispiel zu Düzgün Baba. Mahmut: Zu Düzgün Baba? Zum Düzgün Baba sind wir natürlich gepilgert. Viele Male sind wir zum Düzgün Baba gegangen. Ah, noch vor fünfzehn Tagen sind die Leute hier hingefahren, die Kinder sind gefahren. Ah, natürlich! Zum Düzgün Baba fahren wir immer. Auch meine Mutter

45 Antranik (2012, 137). 46 Hayreni (2015, 59). 47 Suciyan (2016, 34–90). 48 In Thil/Til wurden 1915 die Armenier aus Pertek in unmittelbarer Nähe der armenischen Klosterkirche Tilavank, die mittlerweile unter dem Keban-Staudamm liegt, in einem Massaker umgebracht, siehe hierzu Törne (2015a).

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und mein Vater gingen dorthin. Natürlich! Wir feierten cem, Dedes kamen. Zu meinem Vater kam ein Dede, der hielt seine Hand ins Feuer. Unsere rayber kommen aus Nazımiye. In Nazımiye gibt es den D-Berg, oberhalb von C gelegen. Was weiß ich, von dort kommen unsere rayber, aus Nazımiye kommen sie. Unsere pirs kommen auch von hier, aus V. Die sind auch aus W, ihre Familienlinie hat ihren Sitz in W, in U, W U. Unser mürşid ist von Baba Mansur. Unser mürşid ist von Baba Mansur, unser pir und unsere raybers sind von Kureyşan. I: Erinnerst du dich, wurde in Eurem Haus cem abgehalten? Mahmut: Ha, ich erinnere mich. Wir haben cems gefeiert, natürlich! Wir haben das immer gemacht. Zu Lebzeiten meiner Eltern wurde das in ihrem Haus gemacht, nach ihrem Tod haben wir das auch gemacht. Aber mittlerweile, seit ein paar Jahren, ist das nun vorbei. Niemand ist geblieben, niemand versammelt mehr die Gemeinschaft und hält cem, niemand mehr. Diese Dinge haben sie auch abgeschafft. Alles ist aus und vorbei. Die Zeiten ändern sich. Was weiß ich, die Lage verändert sich eben. Das hat sich geändert, das gibt es nicht mehr. In seiner Erzählung unterstreicht Mahmut nachdrücklich die Kontinuität in der alevitischen Glaubenspraxis, die er von seinen Eltern übernahm, die zum Alevitentum konvertiert waren. In Konversionsnarrativen ist typisch, eine Kontinuität zu konstruieren, um sich selbst und den Glauben an die religiöse Wahrheit zu legitimieren.49 Mahmut zeichnet eine solche kontinuierliche Linie in Hinsicht auf die Praxis des Pilgerns, der wie seine Eltern, er selbst und auch seine Kinder nachkommen. Darüber versucht er seine Zugehörigkeit zur alevitischen Glaubensgemeinschaft als beständig darzustellen, um seine soziale Akzeptanz zu sichern. Außerdem weist Mahmut seine Zugehörigkeit zum alevitischen Glaubenssystems nach, indem er seine Familie als Anhänger von bestimmten Geistlichen in den ocak-Linien der Kureyşan und Baba Mansur verortet. Er unterstreicht somit die Integration und Akzeptanz seiner Eltern und seiner eigenen Familie in der lokalen alevitischen Glaubensgemeinschaft. In diesem Zusammenhang erzählt er auch von alevitischen cems, die im Haus seiner Eltern gefeiert und von einem alevitischen Dede geleitet wurden, der seine Heiligkeit durch eine Wundertat unter Beweis stellte. Ebenso wie für das Pilgern sieht er sich auch für die cems in einer Traditionslinie mit seinen Eltern, indem er feststellt, dass cems auch nach dem Tod seiner Eltern weiter in seinem Haus stattfanden. Diese Schilderung der Kontinuität erfährt eine plötzliche Brechung, als er erläutert, dass die alevitische Praxis so heute von niemandem mehr fortgeführt 49 Johnston (2013, 549–73).

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werde, weil sie „auch abgeschafft“ worden sei. Mit der anschließenden Feststellung „Alles ist aus und vorbei“ verweist er auf eine fortgesetzte Verlustwahrnehmung. In dem Wandel auch der alevitischen Traditionen in Dersim sei dieser Verlust nunmehr abgeschlossen und seitdem sei „alles“ endgültig verloren. Mit dem Ende der alevitischen Glaubenspraxis fällt für ihn das Ende eines bis dahin noch fortbestehenden Referenzrahmens für die Erinnerung zusammen. Zu dieser Wahrnehmung führen die Verlusterfahrungen seiner Eltern, die in seinem Verständnis des aktuellen religiösen Wandels zugrunde liegen. Fatma wurde im Zentrum von Dersim geboren und lebt seit den 1970er Jahren in Istanbul, wo ich ihre Erzählung bei ihr in der Wohnung aufnahm.50 Ihre Eltern wurden im Zusammenhang mit der Deportation 1938 zwangsislamisiert und kehrten nach ihrer Verbannung in die Westtürkei nach Tunceli zurück. Fatma erinnert sich daran, wie sie in ihrer Kindheit in Tunceli die rituellen Handlungen ihrer Eltern im Alltag erlebte: I: Wie habt ihr zu Hause gefastet? Fatma: Wir selbst, sie haben gefastet. Mein Vater und seine Familie haben gefastet. Wir haben unser eigenes Fasten eingehalten, sie [die Aleviten] wussten es nicht, wir haben gefastet. Wir haben begonnen zu fasten, sieben Tage. Sie [die Aleviten] haben auch gefastet. Die Frau meines Onkels hat auch gefastet, mein Vater und seine Familie, wir fasteten, wir hielten unser Fasten ein. Sie aßen keine fetthaltigen Speisen. Sie aßen keine Eier. Sie aßen kein Fleisch. Nachdem wir unsere sieben Tage Fasten einhielten, haben sie das Fasten gebrochen. Danach wuschen sie die Wäsche. Sofort begannen wir mit dem essen. I: In welchem Monat habt ihr das gemacht? Fatma: Dieses Fest der Christen fällt in welchen Monat? So. Schau, wir haben dieses Fasten eingehalten und dazu an Gaxan und wir nennen es XızırFasten, Xıdıreyllaz. Drei Tage haben wir da gefastet, eigentlich ist das auch von den Armeniern. Zwölf Tage fasten wir auch an Aschure. I: Aber habt ihr das anders als die Aleviten begangen bei euch zu Hause? Fatma: Nein, genauso. Dieses zwölftägige Fasten Aschure halten wir, sie halten es wie die Aleviten. So wie sie. Sie aßen kein Fleisch, sie aßen keine Eier. Also, du wirst nach deinem Recht fragen, es darf kein Blut fließen, man darf keine Nägel schneiden, man darf sich nicht die Haare schneiden. Aber jetzt verfolgt niemand so einen tiefgläubigen Weg. Sie essen alles.

50 Interview mit Fatma am 16. 2. 2012, in Istanbul, Türkei.

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In ihrer Erinnerung an die Fastenzeiten, die in ihrem Elternhaus eingehalten wurden, bezieht sich Fatma auf drei Feste: „das Fest der Christen“, Gaxan und Aschure. Dabei spricht sie von dem „eigenen Fasten“, das ihre Familie ohne das Wissen der anderen einhielt. Sie konstruiert über die Dauer der Fastenzeit in ihrer Familie, die von der Fastenzeit der alevitischen Nachbarn abwich, eine religiöse Wir-Identität. Die Fastenzeiten ihrer Familie verliefen zudem zeitlich annähernd kongruent zu den alevitischen Fastenzeiten, wobei sie wiederum unterstreicht, dass die Abweichung ihrer Familie den Außenstehenden nicht auffiel. Zwei von den drei Hauptfesten ordnet sie ihrem Ursprung nach als armenische und eigene Feste ein, um ihre Einhaltung vonseiten ihrer Familie zu erklären. Nach dem Festkalender fallen die Feiertage von Gaxan und Xızır mit dem armenisch-apostolischen Weihnachtsfest sowie Hewtemal mit dem armenischapostolischen Osterfest zeitlich annähernd zusammen.51 Fatma bemerkt über das Fest Gaxan, es sei „eigentlich auch von den Armeniern“ und konstruiert damit einen älteren Ursprung des Festes in der armenischen Tradition, wodurch sie das mit ihm verbundene Fasten ihrer Wir-Identität aneignet. Lediglich das alevitsche Aschure-Fasten findet aufgrund seiner Verankerung im Mondkalender keine permanente Entsprechung in der christlichen Tradition. Anhand dieses Vergleichs verdeutlicht sie zugleich ihre Konformität mit dem angenommenen alevitischen Glauben, als auch die Bewahrung und Fortführung ihrer „eigenen“ Traditionen und ihres „eigenen Wissens“. Wie sie weiter erläutert, war die Durchführung christlicher Rituale auf den privaten Bereich und den Kreis ihrer Familie beschränkt. Die alevitischen Rituale, an denen auch ihre Nachbarn teilhatten, fanden hingegen sowohl außerhalb, als auch innnerhalb ihres Hauses statt. Die cems leiteten Dedes, denen ihre Familie über das ocak-System verbunden war, sodass diese sie in regelmäßigen Abständen besuchten: I: Und ging dein Vater früher zu cems? Fatma: Natürlich, wir hielten cem in unserem Haus. Unsere Dedes kamen. Wir haben Ziegen oder Schafe geschlachtet, Essen zubereitet, unsere Nachbarn zusammengerufen. Diese Nacht gibt es bei uns einen cem. Die Dedes kamen, danach hielten sie den cem ab, sie beteten für uns, sie beendeten ihre Andacht. Wir haben auch das Bett des Dedes bereitet. Mein Vater sagte, zerdrückt nicht den Rand des Bettes, das ist Sünde.

51 In der Forschung bestehen diverse Interpretationen des Gaxan-Festes, die verschiedene Aspekte betonen. Eine Einordnung, die sich auf das jährliche zoroastrische Erinnerungsfest für die Verstorbenen bezieht, bietet Gezik (2010, 84–5, 90). Zu Gaxan, siehe auch Çem (2010, 57–9).

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I: Fatma: I: Fatma:

I: Fatma:

I: Fatma: I: Fatma:

I: Fatma:

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Denn dort schläft der Dede. Jetzt gibt es sie nicht mehr, niemand geht mehr diesen Weg, niemand kennt ihn mehr. Sie kennen ihn nicht. Sie kennen ihn nicht, natürlich. Und jetzt, was werden deren Kinder wissen? Wie erinnerst du dich an diese Dedes? Sie sind eben Seyits. Alle aus der Gegend von Muxundi, also Kureyşans. Sie waren führende Männer, gelehrte Männer, belesene, den Weg weiterführende, gläubige Männer. Und nun sind sie, wir (…), was weiß ich. Wer wird sie noch aufsuchen? Jetzt bringen sie Bücher heraus, in den Büchern schreiben sie über Seyit Rıza. Ich habe weder Seyit Rıza gesehen oder gekannt, noch sonst etwas, ich habe seinen Namen gehört. Ich habe sein Buch gesehen. Sie forschen darüber, sie haben es im Fernsehen gezeigt. […] Also, erinnerst du dich daran? Haben zum Beispiel deine Mutter und dein Vater, haben sie bei euch zu Hause gebetet? Hm hm, sie machten das, natürlich. Wir erinnern uns daran. Der Dede kam, aß, trank, wir hielten unsere Andacht, unser Vater ließ uns im Haus in einer Reihe aufstellen. Kommt, meine Kinder. Mein Vater kam an den Kopf, meine Mutter kam neben ihn. Wir waren zwei Geschwister, drei Geschwister, wir waren Kinder. Danach wurden wir aufgereiht, dieser Dede hat dort für uns gebetet. Und wir haben seine Hand geküsst, sind gegangen und haben uns dort hingesetzt. Er spielte saz, aber was er nicht alles gesungen hat. Es war sehr schön. Sie haben wirklich schön gesprochen, schön auf der saz gespielt und gesungen. Haben sie auch die Sprache von Dersim gesprochen? Natürlich die Sprache von Dersim, nicht Türkisch, die Sprache von Dersim. Sie wussten viel. Aber mittlerweile gibt es nur noch ganz wenige Dedes, sie wissen es heute nicht mehr. Sie wissen es nicht, sie sind auch so wie wir. Es gibt auch keine Dedes mehr. Ich werde dir mal etwas sagen. Also, Dedes, die von 1938 bis jetzt leben würden, gibt es doch heute nicht mehr, was sollen sie dir sagen. In der Gegend von Dersim stehen manche Aleviten morgens auf und beten in Richtung Sonne. Hat deine Mutter so etwas gemacht? Natürlich, wir alle. Nun sieh mal, in den frühen Morgenstunden stehst du auf und grüßt die Sonne. Die Sonne geht auf, ja, du hältst deine Andacht zur Sonne hin. Danach erneuert sich der Mond. Der Mond steigt auf, nicht wahr? Auch zum Mond hin hielten wir unser Gebet.

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Die alevitische Gemeinschaft hat das erlebt. Sieh nicht auf die Aleviten heute, die cemevis sind gekommen. Sie verehrten die Pilgerorte, sie gehen zum Düzgün Baba, sie gehen in die cemevis, die armen Aleviten, was sollen sie tun? Wir sind auch so. I: Seid ihr zum Pilgern gegangen? Fatma: Wir gehen auch zum Düzgün Baba, natürlich. Dort schlachten wir unser Opfertier, zünden unsere Kerzen an. Wir alle, unser Vater, unsere Mutter, wir alle gingen und kamen zurück. Heute fahren sie mit Autos. Früher stiegen wir zu Fuß bis zum Gipfel hinauf. Dort hielten sie cem, sie spielten saz und hielten ihre Andachten. Fatma rückt das Wissen, das die Dedes zur Zeit ihrer Kindheit noch auszeichnete, in den Mittelpunkt ihrer Rekonstruktion der früheren Bedeutung der Dedes und deren allmählicher Autoritätsverlust bis zu ihrer heutigen sozialen Stellung. Die Dedes ihrer Kindheit verfügten demnach über ein breites Wissen, das heute nicht mehr besteht. Diesen Prozess des Wissensverlusts schildert sie als wechselseitig bedingt. Die Anhänger folgten den Dedes nicht mehr, die wiederum ihrerseits seit den Gewaltverbrechen in Dersim 1938 traditionelles Wissen verloren haben. In diesem Zusammenhang wertet Fatma den Übergang des Alevitentums zur verschriftlichten Religion als Problem für die bis dahin mündliche Wissenstradition. In der Konsequenz vergleicht sie die gegenwärtige Situation des Wissensverlusts bei den Nachkommen der Dedes und deren Anhängern mit ihrer eigenen, als Nachkommen armenischer Überlebender: „Sie wissen es nicht, sie sind auch so wie wir.“ So sieht sie in der Erfahrung der unüberbrückbaren Kluft in der Vermittlung von verworfenem Wissens eine Parallele zwischen den Armeniern und den Aleviten von Dersim. Des Weiteren konstruiert Fatma eine frühere Verbindung zwischen dem Glauben der Aleviten und der Armenier in Dersim aufgrund der zeitlichen Übereinstimmung der Feste, insbesondere von Gaxan. In ihrer Wahrnehmung misst sich das Ausmaß des Vergessens der religiösen Traditionen bei den Aleviten an ihrem Besuch in cemevis. In dieser Hinsicht zieht Fatma wiederum eine vergleichende Linie zu den Nachkommen der Armenier, die ebenso ihre „eigenen“ religiösen Traditionen verloren. Als ein zentrales Ritual in der christlichen Religion gilt die Taufe, die die Aufnahme in die Gemeinschaft der armenischen christlichen Kirche kennzeichnet. Im Mittelalter wurde in ländlichen Gegenden die Taufe in armenischen Familien noch am häuslichen Herd vollzogen, aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich der Ort des Rituals weitestgehend in Kirchen verlagert, wo es von Geistlichen durchgeführt wurde.52 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden 52 Hoogasian Villa (1982, 103).

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Taufen in Kessab, einer armenischen Kleinstadt in Latakia, manchmal auch an einer Kirche im Freien gefeiert. Wenn die Mutter des Täuflings vor der Geburt ein Gelübde abgelegt hatte, pilgerte die Taufgemeinschaft zu einer Kirche und feierte dort unter freiem Himmel, aß dazu ein Opferlamm mit harisa, tanzte und sang.53 Nachdem das Taufkind dreimal in Wasser eingetaucht wurde, salbte man es mit heiligem Öl, müron, ein. In manchen Gegenden, darunter auch in Harput, behandelte man daher das Taufwasser, in das sich das Öl gemischt hatte, mit besonderer Sorgfalt und schüttete es nach der Taufe nicht achtlos fort.54 Fatma evoziert das Taufwasser, als sie ihre Erinnerung an einen Besuch in der armenischen Kirche in Istanbul mit der Erinnerung an ihre Taufe verbindet, die sie in ihrer Kindheit in Dersim erhielt: I: Gehst du jetzt zur Kirche? Fatma: Also ich, heute zur Kirche, hier in X gibt es doch keine Kirche. Wenn ich so nach Kumkapı ginge, wenn ich in Richtung Aksaray ginge, dann würde ich so hingehen und herumlaufen, ich gehe hin, laufe umher und gehe hinaus. Dort an der Tür zünde ich meine Kerze an, laufe innen herum und gehe wieder hinaus. Aber keiner würde zu mir sagen, wer bist du, was bist du? So wird nicht gefragt. Aber geh. Der Enkel meines Onkels ist hier gestorben. Er war auch von seiner Frau her unser enger Verwandter, er war Armenier. Sie sind nicht konvertiert. Sie haben ihren Mann in dieser großen Kirche aufgebahrt. Wir sind zur Beerdigung gegangen, sie haben ihn bestattet. Sie haben ihn gewaschen. Wir haben das dort gesehen. Sonst sagt doch keiner zu uns, wer seid ihr, warum kommt ihr? Warum seid ihr hereingekommen? Das gibt es nicht. Es reichte doch, wenn wir hinein- und hinausgehen. Und wir auch, auch wir wissen nichts. Wir gehen nicht ständig, was sollen wir tun. Wir verstehen doch kein Armenisch. Aber sie halten dort Predigten. Aber als Kinder sind wir getauft worden. Schau, nun die Familie von meinem Vater, die Tante der Großmutter meines Vaters war in Elazığ. Sie kam nach Tunceli, wie viele Geschwister wir auch waren, sie hat uns alle getauft. Sie sind alle getauft worden. Wir sind alle getauft. Meine Schwestern, meine Brüder.

53 Erinnerungserzählung von Arpine Boğikyan Garpusyan (geboren 1920), Hoogasian Villa (1982, 103). 54 Die Großmutter der Autorin Susie Hoogasian Villa, Maryam Cuskalyan Sirabian aus Harput erinnert sich beispielweise daran, mit dem Taufwasser Blumen gegossen zu haben, Hoogasian Villa (1982, 103).

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I: Wie war das? Fatma: Sie ist gekommen, danach ist sie eine Nacht bei uns zu Hause zu Besuch gewesen, sie kam, sie blieb eins, zwei Monate. Sie sagte, sie sagte zu meiner Mutter, bring das Wasser, sagte sie. Hol die Kinder her, sagte sie. Sie brachte es aus Elazığ mit, dieses Wasser. Sie goss es auf die Hände von uns Kindern, auf unser Gesicht, sie sagte allen, nehmt eine Dusche, sagte sie. Sie taufte uns. Wir sind rausgegangen, aber niemand konnte es wissen, draußen. Wer könnte etwas wissen. I: War sie in der Kirche tätig? Fatma: Natürlich, sie sind dort # Armenier. Sie gingen dort in Elazığ immer zur Kirche und sie fasteten. Sie sprach Armenisch. Aber wir konnten es nicht. I: Daran erinnerst du dich? Wie alt warst du damals? Fatma: Ich war groß, ha? Sie rief uns und sagte, die Großmutter, kommt meine Lämmchen, sagte sie, ich will eure Hände und euer Gesicht mit diesem Wasser waschen, sagte sie. Es ist gesegnetes Wasser, sagte sie. Lasst euch taufen! Natürlich, was können wir davon verstehen, was eine Taufe ist? Aber wir erhielten sie alle. In der Rekonstruktion verknüpft Fatma die Erinnerungen an ihre Kirchbesuche in Istanbul mit denen an ihre Taufe als Kind in Dersim. Die assoziative Verbindung besteht für sie in ihrem Unverständnis angesichts ritueller Handlungen, die sie ausführt oder an sich erlebt, ohne sich ihren Sinn erschließen zu können. Ihre Taufe beschreibt sie als eine Handlung, deren Sinn ihr weitestgehend unerklärt blieb, die bei ihnen Zuhause von einer Verwandten durchgeführt wurde, die mit gesegnetem Wasser ihre Gesichter und Hände wusch. Die Bedeutung der rituellen Handlung erläuterte ihr die Verwandte in dem Moment der Taufe insofern, als dass sie von gesegnetem Wasser sprach, welches sie eigens aus einer Kirche in Elazığ mitgebracht habe. Somit war Fatma die rituelle Bedeutung der Handlung bewusst, an die sie sich später in Istanbul erinnert. Sie empfindet sich selbst jedoch als unwissend im Vergleich zu ihren Verwandten, die in Elazığ zu einer Kirchgemeinde gehörten, Armenisch sprachen und die Bedeutung der Rituale kannten. Bei ihrer Ankunft in Istanbul während eines Besuchs in der Kirche konnte sie ihre Erinnerung an die Taufe in einen sinnvollen Bedeutungsrahmen einordnen. Die improvisierte, unkonventionelle Form ihrer eigenen Taufe und ihr retrospektives Verständnis des Rituals veranlassen sie, über ihr Verhältnis zur Kirche nachzudenken, die sie von zwei Faktoren bestimmt sieht: ihr eigenes Gefühl der Zugehörigkeit unabhängig von ihrer Kenntnis der kirchlichen Rituale und die Akzeptanz ihrer Zugehörigkeit durch die Kirchengemeinde. Fatma betont,

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dass vonseiten der Kirchgemeinde ihre Zugehörigkeit und ihre Herkunft nicht hinterfragt würde und impliziert damit, dass sie solche Fragen erwartet hätte. Diese antizipierten Kontrollfragen sind Ausdruck ihrer eigenen Unsicherheit. Einige Rituale sind ihr vertraut, wie das Anzünden von Kerzen und das Umhergehen in der Kirche. Daran kann sie aufgrund der von ihr erfahrenen Glaubenspraktiken aus ihrer Kindheit in Dersim anschließen, da sie beim Besuch von Pilgerorten cirak (Kerzen) anzündeten und um die Heiligengräber liefen. In Fatmas Wahrnehmung stellt die armenische Sprache die entscheidende Hürde dar, ohne deren Kenntnis ihr das Verständnis der Liturgie und der Predigten im Gottesdienst nicht möglich ist. Wenn es nicht für die zentralen Übergangsriten ihrer Verwandten wäre, die aktive Mitglieder in der armenischen Gemeinde sind, sähe sie für sich selbst keinen Anlass, die Kirchen in Istanbul regelmäßig zu besuchen. Wie aus ihrer Darstellung der Trauerfeier eines ihrer Verwandten in einer Kirche zu schließen ist, kann sie für sich nicht an den entsprechenden Erinnerungsrahmen anknüpfen, um sich als aktives Mitglied der Gemeinde zu empfinden. Anstelle dessen wiederholt sie die rituellen Formen, ohne sie sich im entsprechenden Bedeutungsrahmen zu erschließen. Aus den hier betrachteten Aussagen zu Ritualen wird deutlich, dass sie in den Erzählungen als Erinnerungsrahmen beschrieben werden, insbesondere die zentralen Rituale im alevitischen Glauben des Pilgerns, der cem-Feiern und der Fastenzeiten. Über Abweichungen in den Fastenzeiten konstruieren die Konvertiten eine religiöse Identität in christlicher Tradition im Unterschied zu den Aleviten. Den Wandel der alevitischen Glaubenspraxis interpretieren sie vor der Folie des Verlusts des Erinnerungsrahmens. Mit dem Bedeutungsverlust der Dedes als Erinnerungsorten geht in dieser Deutung auch das gelebte Gedächtnis und das Wissen von der Vergangenheit verloren. Dementsprechend erscheinen cemevis als Orte des Vergessens traditionellen Wissens. Die Aussagen über Rituale ziehen eine Parallele zwischen armenischen Überlebenden und alevitischen Dedes aus Dersim hinsichtlich des Prozesses des Verlusts religiösen Wissens, den beide Gruppe durchlaufen. Das Ritual der Taufe, das von den Nachkommen in Tunceli nur symbolisch fortgesetzt werden kann, erschließt sich der Getauften erst in dem entsprechenden Bedeutungszusammenhang bei einem Kirchenbesuch. Aus diesem retrospektiven Verständnis generiert sich kein Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft des in der christlichen Kirche institutionalisierten Glaubens. Vielmehr versuchen die Nachkommen der Überlebenden in der Position zu verbleiben, die ihre Großeltern und Eltern seit der erlittenen Gewalt einnahmen, wodurch sie ihre Erinnerung an den unwiederbringlichen Verlust verstetigen.

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7.1.6 Gerechtigkeit In den autobiographischen Erinnerungserzählungen von armenischen Überlebenden und ihren Nachkommen aus Dersim bilden die Aussagen über Erfahrungen von Gewalt eine Reihe, die im Folgenden in den Blick zu nehmen und insbesondere auf Sinnzuschreibungen zu untersuchen sind. Das Reden über Gewalterfahrungen ist von der Gültigkeit und Akzeptanz der Rekonstruktionen für den Erzählenden und seine Zuhörer abhängig. Daher soll gefragt werden, inwieweit die Überlebenden ihren Erfahrungen von extremen Verlust Ausdruck verleihen und sie diese an ihre Nachkommen weitervermitteln können. In einer kurzen Sequenz gibt Umut eine Erinnerungserzählung von einem Massaker während des Genozids 1915 in Dersim wieder, das nur zwei seiner Verwandten aus dem betroffenen Dorf überlebten: Umut: 1915 bringen sie die ganze Familie um. Von ihren Enkeln sind zwei am Leben geblieben, Norig und Kuren. Sie töteten sie gegenüber dem Dorf Z auf einem Hügel. Nachts leuchtete auf dem Hügel über den Leichen der Toten tagelang ein Licht. Als Umut die Erzählung seiner beiden Verwandten schildert, nach der sie als Jungen ihre gesamte Familie in einem Massaker im Genozid 1915 verloren, gibt er ein Erinnerungsbild von ihnen wieder, in dem ein Licht wahrgenommen wird, das mehrere Tage über den Leichen auf dem Hügel an dem Ort des Massakers leuchtete. Darüber deuteten seine Verwandten die Wahrnehmung einer metaphysischen Macht an, ohne sie weiter zu erläutern, wobei sie sich auf einen Deutungsrahmen bezogen, dessen Kenntnis sie bei den Zuhörern voraussetzen. Bei näherer Betrachtung dieses Narrativfragments des Lichts über den Leichen lassen sich in den Glaubensvorstellungen und Praktiken in Verbindung mit dem Tod in der Region Dersim Hinweise auf eine religiöse Vorstellungswelt finden, in der dieses Bild eingeordnet werden kann. Hripsime aus Harput spricht in ihren Erinnerungen davon, dass in einer verbreiteten Glaubensvorstellung vor dem Genozid an den Armeniern „gute Seelen Tauben ähneln“ und „von Licht erfüllt“ seien.55 Nach dem Tod dauere es bis zu sieben Tage, bis sich die Seele vollständig von dem Körper des Toten löse und in den Himmel aufsteige. Der Tod wurde also nicht als augenblickliches Scheiden aus der diesseitigen Welt aufgefasst, sondern als ein sich schrittweise vollziehender Prozess der Loslösung der Seelen von Körpern. Eine Reihe von rituellen Regeln unterstützte

55 „While the good soul was like a dove, or filled with light, the bad soul was as dark as smut.“, in: Hoogasian Villa (1982, 153).

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den ungestörten Ablauf dieses Loslösungsprozesses, damit die Seelen ihren Weg in die andere Welt finden und zur Ruhe kommen konnten.56 In der Erinnerung, die Umut überliefert, war das Leuchten über den Leichen mehrere Tage nach deren Ermordung auf dem Hügel gegenüber des Dorfs zu sehen. Dieses Bild scheint auf die Vorstellungswelt zu verweisen, in der die Seelen der Toten als Licht noch einige Tage bei den leblosen Körpern blieben, bevor sie sich endgültig von den Körpern trennten und entfernten. Bedeutsam scheint, dass sich in diesem Bild eine Wahrnehmung von Zeit und Vergänglichkeit äußert, die eine Kontinuität nach dem Tod annimmt. Dementsprechend bezeichnet der Tod den Übergang von einem Machtbereich zu einem anderen. Über dieses Fragment von den Seelen der unschuldig Ermordeten wird ein Bezug auf Vergangenheit genommen, die über hegemoniale Diskurse hinausgeht, deren „Macht den Tod nicht mehr kennt“.57 Noch nach der physischen Vernichtung der armenischen Familie im Völkermord nahmen die überlebenden Angehörigen in dem Licht eine Präsenz der Ermordeten über den Tod hinaus wahr. Ihre Erfahrung des extremen Verlusts konnten sie in diesem Bild an ihre Verwandten und Nachkommen vermitteln, indem sie ihnen darüber ihren Eindruck von einer Macht übertrugen, die außerhalb der weltlichen Macht über das Leben steht, die sich dieser Macht entzieht. Damit schließen sie nicht an den Diskurs der Macht an, der sich auf das Leben bezieht und dieses vollständig beherrscht, sondern ordnen den Tod ihrer Verwandten in einen Deutungsrahmen ein, der sich auf eine jenseitige Macht bezieht. Dieselbe Vorstellung scheint noch einem weiteren Bild zugrunde zu liegen, das Umut in einer Erinnerungssequenz wiedergibt, die ihm eine andere Verwandte, auch eine Überlebende des Genozids an den Armeniern 1915, erzählte: Umut: Alles was ich über 1915 gehört habe, handelte von Massakern und Vertreibung. Die Vertriebenen haben sie in den Wüsten von Diyarbakır und Urfa ermordet. Die Frau des Onkels meines Vaters, Schwägerin Zabel, erzählte davon. Sie brachten fünf- bis zehntausend Menschen fort. Hundert bis zweihundert Leute führte ein Soldat fort. Die Menschen gingen wie Lämmer. Sie erzählte Folgendes: Sie haben uns durch die Wüste getrieben. Es gab kein Essen, es gab kein Wasser, es gab kein Brot. Eines Tages haben sie uns mit Maschinengewehren erschossen. In der Nacht wachte ich auf, öffnete meine Augen und um mich herum lagen überall Leichen in Blut. Über all den Toten war eine Schar von Tauben. 56 Hoogasian Villa (1982, 146; 153–7), die Taube galt als Zeichen der Unschuld. 57 Michel Foucault konstatierte die gewandelte Bedeutung des Todes in der Moderne. „Die Macht kennt den Tod nicht mehr.“ Foucault (2001, 293).

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In dieser Erinnerungserzählung ist es eine Schar von Tauben, die über den Leichen aufsteigen, – sinnbildlich für die Seelen der Toten –, die sich von ihren Körpern lösten und über diesen schwebten, bevor sie sich endgültig von ihnen trennten. Auch hier endet die Erzählsequenz mit diesem Bild. Die Tauben werden, so wie das Licht, das über den Leichen in der Nacht leuchtet, nicht weiter erläutert, sondern in ihrem Verweischarakter auf einen Deutungsrahmen zitiert, der bei den Zuhörern vorausgesetzt wird. Für die Überlebenden wird ihre Gewalterfahrung über das solchermaßen religiös konventionalisierte Reden über den Tod erzählbar, wie es in der Zeit von vor dem Gewaltereignis gültig war. Ob die Nachkommen dieses Narrativfragment verstehen können, hängt davon ab, inwieweit sie an dementsprechende Vorstellungen vom Tod anschließen können. Mit den beiden Metaphern von Licht und Tauben, die für unsterbliche Seelen stehen, die ihren Weg in die andere Welt finden sollen, bezieht Umut sich auf Vorstellungen, die noch im 19. Jahrhundert auch die armenische Glaubenspraxis in ruralen Gebieten prägten und die auf vorchristliche Traditionen zurückgehen.58 In seiner Erinnerungserzählung vergleicht Umut die im Deportationszug abgeführten Armenier mit Lämmern. Damit erweckt er den Eindruck ihrer Unschuld und ihres Vertrauens in Gott, der sie auf dem rechten Weg sicher zu sich leite. In einer weiteren Erinnerungserzählung Umuts kommt einem anderen biblischen Motiv, dem eines Esels, eine wichtige Rolle zu.59 Es ist die Erinnerung seiner Mutter an den Tod ihres Vaters, des Großvaters von Umut, der 1915 von einem Bekannten an die Militärs verraten wird, die ihn vom Kayışoğlu-Felsen in Hozat in den Tod hinabstürzten: Umut: Der Vater meiner Mutter hieß Giragos. Eines Tages sandte D vom Stamm X meinem Großvater eine Nachricht in die Berge. Deine Kinder sind kräftig, sie können dort leben, aber du bist alt, du kannst nicht in den Bergen unterkommen. Die Ağas von Dersim achten mich. Bin ich ein Mann, der dich nicht schützen würde? Komm, bleibe in meinem Haus, sagt er. Wir sind zusammen aufgewachsen. Mein Großvater sagt, in Ordnung und sie gehen. Mit ihm war der Sohn seines Onkels, Ohan. Zwei, drei Tage darauf wacht meine Großmutter aus ihrem Traum auf und zuckt vor Schreck zusammen. Sie wird unruhig. Sie sagt zu meiner Mutter, geh deinen Vater besuchen, sieh, wie es ihm geht und komm

58 Russel (1987, 342–4). Zu Bestattungsriten im 19. Jahrhundert: „put lighted candles in the hands of the newly departed for the next world was dark“; „light the soul’s path to the next world“. 59 Parson (2013).

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7 Repräsentationen von Vergangenheiten in Dersim

zurück. Meine Mutter geht hin. Sie geht. Ihren Vater und den Sohn seines Onkels hat D Ağa mit einem solchen Plan aus den Bergen herabsteigen lassen und den Gendarmen in Hozat Bescheid gegeben: Bei mir sind zwei Armenier, kommt und nehmt sie entgegen, sagt er. Die Gendarmen kommen aus Hozat. Die führen meinen Großvater und seinen Neffen ab und werfen sie vom Kayışoğlu-Felsen nach unten. Aber in zwei von hundert Fällen ist das so gewesen. Gegen die Aleviten sagen wir nichts. Mein Großvater hieß Ohan, der andere Giragos. Der Vater meiner Mutter hieß Giragos. Der Sohn seines Onkels Ohan. Über die Kinder sagt D Ağa, sie sind jung und kräftig. Du bist alt, du komm. Deswegen geht mein Großvater allein. Meine Mutter träumt, weint und wacht auf. Ihr Vater zeigt sich ihr im Traum. In ihrem Traum sagt er ihr, meine Tochter, sorge dich nicht um uns. Jesus, der Messias hat uns einen Esel geschickt. Wir sind auf den Esel gestiegen und so nach unten hinabgestiegen. Meine Mutter war mit Jesus, dem Messias, ein Ganzes. In dieser Erzählung tragen zwei Träume zentrale Bedeutung. Der erste Traum veranlasst Umuts beunruhigte Großmutter dazu, ihre Tochter zur Nachforschung über den Verbleib ihres Mannes auf den Weg zu schicken. Der zweite Traum, in dem der Verstorbene seiner Tochter, der Mutter von Umut, erscheint und dessen Nachricht in direkter Rede wiedergegeben wird, wirkt im Gegensatz zum ersten nicht beunruhigend, sondern tröstlich, wie in den Worten des Großvaters, „Sorge dich nicht“ ausgedrückt ist. Das Bild von Umuts Großvater, der auf einem Esel, der ihm von Jesus, dem Messias, gesandt wurde, aufsitzt und in die Schlucht hinabreitet, verweist auf das Motiv des Adventus regis, des auf einem Esel in die Stadt einreitenden Königs. In der Thora kündigt Sachariah 9, 9 den Messias als einen bescheidenen, friedfertigen Unbewaffneten an, der für Frieden innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sorgen und ohne Waffen Gerechtigkeit bringen werde.60 Jesus zieht, obwohl er offenbar schutzlos ist, konfrontiert mit weltlichen Mächten, die ihn mit Waffen besiegen wollen, auf einem Esel reitend als König in Jerusalem ein. Der Esel, als das geringste Tier, auf dem der Messias in Jerusalem einreitet, symbolisiert eine Umwertung des Moments seiner tiefsten Demütigung zu seiner Erhöhung. Umut weist am Ende der Sequenz auf die tiefe Verbundenheit seiner Mutter mit dem Messias hin. Anhand dieser Referenz auf die biblische Überlieferung und auf Jesus kann die Mutter von Umut die Ermordung ihres Vaters ihrem Sohn erzählen, da diese ihr eine Deutung ermöglicht, in der die weltlichen

60 Parson (2013, 40–50).

7.1 Aussagereihen von Nachkommen der Armenier

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Machtverhältnisse umgekehrt werden. Indem sie den Tod ihres Vaters in einen Sinnzusammenhang stellt, der über den Tod hinausweist, kann sie ihrem Sohn vom Verlust ihres Vaters erzählen. Dieses Narrativfragment des Einzugs von Jesus auf dem Esel in Jerusalem nimmt auf eine Ebene Bezug, die sich dem physischen Sterben entzieht und die auf das Fortbestehen der Seelen der Gewaltopfer nach dem Tod verweist. So wird die Erfahrung von Gewalt durch das Anknüpfen an Narrative erzählbar, die vor der Gewalterfahrung Gültigkeit besaßen und die danach eine Folie für das Erzählen des Erlebten bilden können. Um diese Narrativfragmente einordnen zu können, ist die Kenntnis des Deutungsrahmens unabdingbar. Mit der Verlagerung der sinnstiftenden Motive in den Bereich des Traums und der biblischen Überlieferung versperrt sich diese Erzählung dem Zugriff und der Wirkmacht weltlicher Mächte und rationaler Wissensordnungen der Moderne. Auch Serop verknüpft seine Erinnerung daran, wie die Tochter eines Ağas seinem Vater die Füße wusch mit seinen Überlegungen zu den umgekehrten Machtverhältnissen zwischen Armeniern und Aleviten in Dersim vor und nach dem Genozid: Serop: Oberhalb von X liegt das Dorf Y. Die Männer [frühere armenische Bewohner] leben in Holland. Aber sie sind gekommen. Im Jahr 1966 sind sie aus Holland gekommen. Sie sind zum Beispiel zu meinem Vater gegangen. Er hatte sich etwas mit den unsrigen verstritten, im Zentrum. Diese Männer kamen. Nun, er ist ein maraba geworden. Aber sie haben meinem Vater Geld gegeben. Nur damit er hier nicht bleiben sollte. Komm, lebe hier, unter uns! Du bist kein maraba. Geh oder bleib, mach was du willst, sagten sie. Einmal sind wir hingegangen, das war 1966. Wir arbeiteten in Y auf dem Feld. Ich weiß es, sie war Ağa, die Tochter des Ağas, Frau Zilan. Als wir kamen, wir kamen vom Feld, wir waren fünf, sechs Leute, hat sie unsere Kleider gewaschen, unser Essen, unser Brot, alle unsere Arbeiten erledigt. Die Tochter des Ağas bedient ihre maraba. Sie bringt meinem Vater Wasser. Sie wusch ihm die Füße. Mein Vater hat sich geärgert. Bin ich hier der Ağa? Solche Dinge haben sie erlebt. In dieser Erzählung kommt es zu einer Umkehr der akzeptierten sozialen Rollen, indem die Tochter eines Ağas ihrem armenischen Pächter, dem Vater von Serop, die Füße wäscht und ihm somit ihre Ehre erweist. Der Vater von Serop arbeitet in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung als maraba auf dem ehemaligen Grundbesitz seiner Vorfahren. In seinem Bemühen um soziale Akzeptanz und aus Angst vor Verfolgung reagiert er auf die Respektbezeugung der AğasTochter mit Entrüstung, da die Umkehr der Verhältnisse ihn beunruhigen. An-

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7 Repräsentationen von Vergangenheiten in Dersim

ders als in der ablehnenden Haltung seines Vaters nimmt diese Erinnerung in der Erzählung von Serop einen zentralen Platz in seiner Deutung vom Leben im postgenozidalen Tunceli ein. Er liest in ihr einen Bezug auf eine vor dem Genozid gültige Gesellschaftsordnung, deren Restitution er sich erhofft. Demnach hat die Tochter des Ağas im Gedenken an die verworfene Ordnung und aus Respekt vor seinem Vater diese rituelle Handlung ausgeführt und damit die bestehende Rollenverteilung nonverbal umgekehrt und in Frage gestellt. Abschließend kommt die Untersuchung in dieser Reihe noch einmal auf die bereits zu Anfang geschilderte Erzählung von Umut von den Ereignissen 1938 und auf das Motiv des Reiters zurück: Umut: Als letztes kamen sie in unser Dorf Y. Sie holten die Leute aus den Häusern und reihten sie auf dem Friedhof wie entlang eines Seils auf. Darum herum stellten sie Maschinengewehre auf. Als sie die Gewehre aufstellen, steigt ein Weinen, Schreien und Rufen auf. So vergehen Stunden. Das stundenlange Warten auf den Tod wird zur Qual. Als sie es nicht mehr aushalten, flehen sie die Soldaten an. Was ihr auch vorhabt, tut es! Die Soldaten antworteten, wir warten auf einen Befehl aus Hozat. Endlich sehen sie, wie aus der Richtung von Hozat ein Reiter des Weges kommt. Ein Offizier steigt vom Pferd und fragt: Habt ihr sie aus den Häusern oder aus den Höhlen geholt? Als er zur Antwort bekommt, wir haben sie aus den Häusern zusammengetrieben, sagt er, in Ordnung. Es kam ein Befehl von Fevzi Çakmak. Wir verzeihen euch und schenken euch die Republik! Natürlich haben die Leute, als sie das hörten, die Beine des Pferds und des Mannes umarmt. In dem Moment, als die Armenier aus dem Dorf und Umuts Familie erfahren, dass sie nicht wie erwartet umgebracht werden sollen, sondern im letzten Augenblick vom Tod gerettet werden, verleihen sie ihrer tiefen Dankbarkeit dadurch Ausdruck, indem sie dem Überbringer der rettenden Nachricht zu Füßen fallen und seine Beine umarmen. In dieser Handlung und in der Art, wie der herbeieilende Reiter beschrieben wird, kann eine Referenz zu den in Dersim verehrten Figuren des Heiligen Georg, Surp Sarkis der armenischen Tradition oder auch zu Hızır in der alevitischen Tradition gesehen werden. Beiden Figuren ist die Rolle eigen, die Gemeinschaft vor Unheil und Gefahr zu retten. Mit dem wesentlichen Unterschied, dass in diesem Fall die Geste der Dankbarkeit nicht gegenüber einer religiösen Schutzfigur, sondern gegenüber einem türkischen Militär ausgedrückt wird. Dieser wird, da er eine Amnestie für die vom Tod Bedrohten erlässt, um sie ihnen als ihre Errettung in die Republik zu präsentieren, als die Manifestation eines Schutzheiligen gedeutet.

7.2 Aussagereihen von alevitischen Dedes

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Um den extremen Verlust bezeugen zu können, verweisen die Erinnerungserzählungen auf die Evidenz metaphysischer Mächte im Moment des Todes. Die Metaphern von Licht und Tauben für die Seelen der Toten zeugen von dem Glauben an eine Präsenz über den Tod hinaus und an eine Überwindung der weltlichen Mächte in einer anderen Welt, die einer anderen Gerechtigkeit folgt. In diesen Erinnerungsbildern an die Erfahrungen von erlittener Gewalt sind eine andere Wahrnehmung von Zeit und damit ein anderer Bezug zur Vergangenheit maßgeblich. Gerechtigkeit wird den zu Unrecht Ermordeten von der göttlichen Macht zuteil. Ihre Unschuld wird in dem Motiv von Lämmern und ihre Erhöhung angesichts der Erniedrigung in dem Motiv des Messias, der auf einem Esel einzieht, verdeutlicht. Die Metapher der Fußwaschung erinnert an das seit dem Gewaltereignis verworfene und für ungültig erklärte Ordnungssystem und wird zur Respektbezeugung, da sie eine Rollenumkehr der Tochter eines alevitischen Ağas gegenüber einem armenischen Überlebenden vornimmt, der auf dem früheren Landbesitz seiner Vorfahren als maraba arbeitet. Die Einbindung metaphysischer Kräfte, die in den Verlauf der Geschehnisse eingreifen, kann in den autobiographischen Erinnerungserzählungen der Nachkommen der Armenier aus Dersim dazu führen, dass selbst ein Hauptverantwortlicher der Gewaltverbrechen in Dersim 1938, wie hier der türkische Marschall Fevzi Çakmak, als er die Amnestie erließ, im Rahmen der narrativen Folie eines Schutzheiligen aus der regionalen Mythologie wiedergegeben wird.

7.2 Aussagereihen in autobiographischen Narrationen alevitischer Dedes aus Dersim Im Folgenden werden autobiographische Erinnerungserzählungen von alevitischen Dedes aus Dersim analysiert, indem regelmäßig auftretende Aussagen aus den verschiedenen Erinnerungserzählungen zusammenführt und als Reihen untersucht werden. Die Studie beleuchtet Aussagereihen zur Abstammung und Wunderkraft, zum Schweigen, zum Legitimationskonflikt, zur Zukunft und zur Gerechtigkeit. Dabei nimmt deren Analyse insbesondere in den Blick, inwieweit die Erinnerungserzählungen hegemonialen Diskursen entsprechen und inwieweit sie Narrativfragmente erkennen lassen, die davon abweichend auf Vergangenheiten Bezug nehmen, denen in der hegemonialen Wissensordnung keine Gültigkeit mehr zukommt. Ausschlaggebend für die jeweiligen Lebensläufe und die gegenwärtige Situation der Dedes in Dersim ist die Transformation ihrer Rolle, wie sie sich im 20. Jahrhundert vollzog. Die Dedes versuchen den tiefgreifenden sozialen und religiösen Wandel, der mit den staatlichen Gewaltverbrechen zu Beginn des Jahrhunderts einsetzte und sich in ihrer gegenwärtig

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7 Repräsentationen von Vergangenheiten in Dersim

umstrittenen Rolle äußert, in ihren narrativen Selbstentwürfen sinnvoll zu deuten. Dieser Transformationsprozess wird hier einleitend skizziert, um anschließend zu analysieren, wie sich die Dedes aus Dersim in ihren Erinnerungserzählungen zwischen akzeptiertem und verworfenem Wissen positionieren. Dabei werden auch die Bedingungen und Grenzen einer mündlichen Tradierung durch die Dedes umrissen. In der alevitischen Tradition in Dersim stellten die Dedes bis zu den staatlichen Gewaltverbrechen 1938 die sozialen, religiösen und politischen Autoritäten ihrer Gemeinschaft dar. Sie leiteten die Rituale in den religiösen Versammlungen, den cems, die zugleich Ort der Rechtsprechung waren, die ihnen ebenfalls oblag.61 Zudem erfüllten sie eine neutrale Vermittlerrolle bei Stammesfehden und politischen Auseinandersetzungen auch über die Grenzen von Dersim hinaus.62 Eine weitere zentrale Aufgabe der Dedes bestand darin, dass sie ihre Anhänger, die talips, mündlich in der alevitischen Lehre unterwiesen.63 Aufgrund der umfassenden Kompetenzen und dem damit verbundenen speziellen Wissen, das die Dedes innerhalb ihrer Familienlinie tradierten, sind sie historisch als die institutionalisierten Träger des fast ausschließlich mündlich überlieferten Wissens ihrer Gemeinschaft zu betrachten.64 Indem sie sich über ihre Wunderkraft, als gottgegebenes Zeichen, identifizierten und diese für ihre Gemeinschaft deuteten, legitimierten sie ihre Führungsposition als Vertreter der göttlichen Ordnung.65 Wie im ersten Teil des Buchs gezeigt wurde, entwarf der kemalistische Diskurs ein ambivalentes Bild der Dedes in Dersim. Sie wurden insbesondere bezichtigt, uneingeschränkte, unkontrollierte Macht über ihre Anhänger auszuüben und die „wahre“ Religion zu verfälschen. Der kemalistische Diskurs legitimierte die staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938, die einen Traditionsbruch markierten, in dessen Folge die traditionelle Machtstellung der Dedes und die Akzeptanz ihrer Überlieferung stetig abnahmen. Auch die links-militanten Diskurse der TİKKO und der PKK wandten sich insbesondere gegen die Dedes als religiöse Autoritäten, die sie wie der kemalistische Diskurs als Konkurrenten um die Machtposition in Dersim wahrnahmen.66 Der Diskurs des

61 Dreßler (2013c, 244); Langer (2008, 72, 76); Yaman (2004). 62 Bumke (1979, 535−6). 63 Sökefeld (2008b, 12). 64 Langer (2013, 9). 65 Sökefeld (2002, 164). 66 Özlem Göner und Martin Sökefeld sehen die 1970er Jahren als den Zeitpunkt an, ab dem der Status der Dedes von den linken Bewegungen gewaltsam unterminiert wurde und die mündliche Tradierung der Dedes abbrach. Siehe hierzu Göner (2017, 125); Sökefeld (2008b, 14).

7.2 Aussagereihen von alevitischen Dedes

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politischen Islam von Fethullah Gülen und der Cemaat-Bewegung sieht hingegen in alevitischen Dedes potenzielle Mittlerpersonen für die sunnitische Mission. Die bis heute andauernde Wirkmächtigkeit dieser diskursiven Verwerfungsprozesse des Wissens der Dedes in verschiedenen hegemonialen Diskursen äußert sich in dem gegenwärtigen Statusverlust der Dedes, die ihre soziale Vermittlerrolle, juristische Funktion und Akzeptanz als heilige Personen innerhalb ihrer Gemeinschaften unwillentlich aufgeben. Wie Markus Dreßler darlegte, begegnen einige Dedes in städtischen alevitischen Gemeinden in der Türkei und in Europa diesem Statusverlust, indem sie die Rolle „moderner Dedes“ einnehmen, wobei diese auf ihre religiöse Funktion eingeschränkt ist.67 Für Dedes, die weiterhin in ruralen Gegenden der Türkei leben, bietet sich diese moderne Alternative des Dedes-Amts nicht in gleichem Maß. Sie sehen sich mit den zentralen Problemen der zerrütteten sozialen Beziehungen, der veränderten ökonomischen Bedingungen und des drastischen Bevölkerungsrückgangs durch die Migration in die Städte konfrontiert. Infolgedessen halten die Dedes nicht mehr dem traditionellen Festkalender folgend cems ab und besuchen nicht mehr regelmäßig ihre Anhänger, die talips, ebenso wenig, wie die talips ihre Dedes regulär aufsuchen. Dennoch ist ihre ehemalige Bedeutung und soziale Stellung in der Bevölkerung weiterhin bekannt.68 Daher können die Dedes in dem Prozess, in dem die moderne Geschichtsschreibung allmählich das soziale Gedächtnis ablöst, als eine Art Überreste des sozialen Gedächtnisses angesehen werden, denen nunmehr die Funktion eines Erinnerungsorts zukommt.69 Die Transformation der Bedeutung von Schrift und Schriftlichkeit in der von oraler Tradition geprägten alevitischen Gemeinschaft näher zu bestimmen, erweist sich für die Analyse der Rede der Dedes aus Dersim über ihren Statusverlust und über „wahres Wissen“ von grundlegender Bedeutung. Markus Dreßler

67 Eine ausführliche Diskussion der Transformation des Dede-Amts durch die Verlagerung aus den ruralen Gegenden in die urbanen Zentren der modernen Türkei und Europa bietet: Dreßler (2013c, 241–66). Er beobachtete die Säkularisierung des Amts durch die Limitierung des Kompetenzbereichs der Dedes auf den religiösen Bereich, siehe S. 242; siehe zu den Aleviten im türkischen Säkularismus Dreßler (2002, 243–57). Eine Diskussion der Transformation des Dede-Amts im transnationalen Kontext am Beispiel alevitischer Dedes in Deutschland bietet Sökefeld (2002, 163–86). 68 David Shankland schildert die Zerrüttung der Dede-talip-Beziehungen infolge der Auflösung der Dorfgemeinschaft durch die Arbeitsmigration, siehe Shankland (2003, 135). Özlem Göner argumentiert, dass es insbesondere durch die Präsenz der türkischen staatlichen Kontrollorgane in Tunceli seit dem Militärputsch 1980 infolge der drastisch eingeschränkten Bewegungsfreiheit zu einem Ende des Besuchssystems zwischen Dedes und talips, sowie der Pilgerstätten kam, was einen irreversiblen Traditionsbruch bedeutete, Göner (2012, 304). 69 Törne (2012).

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7 Repräsentationen von Vergangenheiten in Dersim

konstatiert eine Verschiebung der Loyalität der Laien, die sie vormals dem Charisma der Dedes, nunmehr aber zunehmend der Schrift, entgegenbringen.70 Die zunehmende Bedeutung, die in alevitischen Gemeinden Schrift zukommt, die mit der Verschriftlichung der Religion einhergeht, wirkt sich auf die Legitimation der Dedes aus. So wie den überwiegenden Teil des mündlich tradierten Wissens, überlieferten die Dedes auch das genealogische Wissen über die heiligen Abstammungslinien in ocak-Familien von Vater zu Sohn mündlich weiter. Spezifische traditionelle Erzählmuster der Dedes bestehen in legitimatorischen Narrativen, über die sie den Nachweis ihrer Gottesnähe erbringen. Vor allem erfolgt dieser Nachweis ihrer heiligen Abstammung über die Familie des Propheten Muhammed (türk.: ehl-i beyt, evlad-ı resul, seyyid) und über ihre gottgegebene Segenskraft (türk.: bereket).71 Dabei leiten sie ihre heilige Abstammung von der Familie des Propheten Muhammed, über dessen Tochter Fatima und ihren Ehemann Ali sowie die ihm nachfolgenden elf Imame ab. Zudem beriefen sie sich auf den Gründungsvater ihrer heiligen Abstammungslinie.72 Außerdem legitimierten sie sich traditionell über den Nachweis ihrer gottgegebenen Segenskraft (türk.: bereket), die sie befähigte, durch die Huld, die ihnen von Gott zuteilwurde, Wunder (türk.: keramet) zu wirken.73 Das Wunderwirken, durch das sich immer wieder eine Person in einer Abstammungslinie auszeichnete, erfüllte die Funktion einer Aktualisierung und Bestätigung dieser dynamischen, sich innerhalb der ocak-Abstammungslinie stets neu manifestierenden göttlichen Segenskraft.74 Mit der Migration von Aleviten aus den ländlichen Gegenden in die Städte seit Mitte der 1970er Jahren setzte der Prozess der Verschriftlichung und Kanonisierung ein, der die bis dahin mündlich überlieferte alevitische Tradition wesentlich veränderte. In den Städten sahen sich Aleviten generell vonseiten der Schriftkultur und speziell vonseiten der Buchreligion des Islams vermehrt einem Erklärungsdruck ausgesetzt. Daher begannen alevitische Laien und Dedes, Handschriften aus dem Erbe der ocak-Familien zu publizieren, um ihren Glauben dementsprechend legitimieren zu können.75 Zu diesen Veröffentlichungen

70 Dreßler (2002, 17−21). 71 Dreßler (2013c, 243; Rhezak (2004, 198–9). 72 Aksünger (2013, 57). 73 Rhezak (2004, 201). Rhezak unterscheidet bei Huldwundern, als gottgegebener Fähigkeit, zwischen Heilungs- und Traumwundern. 74 Rhezak (2004, 202). 75 Olsson (1998, 200–5). Tord Olsson attestiert den ersten veröffentlichten Buyruks einen oralen Charakter, der in den ersten veröffentlichten Buyruks die Dialog-Form weiterführte, die der religiösen Unterweisungsform der Dedes an ihre talips glich. Im Unterschied dazu würden die jüngeren Veröffentlichungen einen defensiv argumentativen Charakter aufweisen.

7.2 Aussagereihen von alevitischen Dedes

227

zählten insbesondere ins Türkische übersetzte und kommentierte Versionen der alevitischen Glaubenslehre, dem Buyruk, die sich in Form von Manuskripten in einer Vielzahl von Kopien im Besitz alevitischer ocak-Familien befanden.76 Außerdem veröffentlichten Mitglieder der Dede-Familien genealogische Manuskripte, vor allem die Stammbäume, seceres, ihrer heiligen Abstammungslinien. Zuvor waren heilige Texte in Form von Manuskripten auf Arabisch, Osmanisch, Persisch und Armenisch seit dem 16. Jahrhundert in den ocaks verwahrt und weitervererbt worden. Das Einsetzen der neuzeitlichen Verschriftlichung markiert somit eine fundamentale Transformation der alevitischen Tradition, die nunmehr allen Interessierten einen gleichberechtigten Zugang zum veröffentlichten religiösen Wissen ermöglicht.77 Aufgrund der religiösen Diskriminierung und Verfolgung der Aleviten Ende des 15., im 16. und wieder im 19. Jahrhundert im Osmanischen Reich gingen diese mit Schriften distanziert vorsichtig bis vermeidend um. Die Dedes bemühten sich, die Dogmen ihrer Glaubensgemeinschaft vor Außenstehenden geheim zu halten und verschriftlichten daher ihr religiöses Wissen in der Regel nicht.78 Da die alevitischen Laien fast ausschließlich Analphabeten waren, stellten Schriftdokumente eine Rarität dar, deren Verständnis den meisten Gläubigen verschlossen blieb, wenn es ihnen nicht von ihren Geistlichen vermittelt wurde.79 Die Manuskripte mit den heiligen Abstammungslinien, den seceres, und die Glaubenslehre, dem Buyruk, vererbten die Dedes wie ein „heiliges Anvertrautes“ innerhalb ihrer ocak-Familien weiter.80 Es ist anzunehmen, dass die Anhänger der Dedes diese Schriftstücke als heilige Objekte verehrten, die sich von der Verehrung der Dedes als heilige Männer ableitete.81 Denn einer verbreiteten Vorstellung zufolge übertrug sich der Segen einer von Gott auserwählten Person auch auf Objekte in deren Besitz.82 76 Karakaya-Stump (2010, 273–87). 77 Dreßler (2013c, 247). 78 Aksünger (2013, 25); Sökefeld (2008b, 7). 79 Dreßler (2002, 18). Angesichts des hohen Analphabetentums in den ländlichen Gegenden der osmanischen Provinzen kann daher wohl kaum von einem ‚Prozess der Entfremdung der Aleviten von ihren Schriften’ gesprochen werden, den Levent Mete ab Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund der schriftlichen Wissensproduktion über die Aleviten vermutet, siehe Mete (2016, 199, 208). 80 Karakaya-Stump (2010, 274). 81 Dreßler (2002, 17–20). Markus Dreßler verdeutlicht den Zusammenhang zwischen einer Charismaloyalität gegenüber den Dedes und deren Entsprechung in der Interpretation der mystischen inneren Offenbarung, batini, durch die Dedes, im Gegensatz zu der äußeren Offenbarung, zahiri, durch die Schrift. 82 Zur Vorstellung von der Wunderkraft, keramet, die von weisen Personen und von den Objekten verstorbener weiser Personen getragen werden kann, siehe Aksünger (2013, 57).

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7 Repräsentationen von Vergangenheiten in Dersim

Die Geheimhaltung der Manuskripte und die Regulierung des Zugangs durch die Dedes verstärkte dabei noch deren Bedeutung als heilige Objekte, da sie sich somit in einem sakralen Bereich des Unzugänglichen und Unerreichbaren befanden. Für die Legitimation der Dedes kam dem Wissen, das in den Dokumenten schriftlich fixiert war, weitaus geringere Bedeutung zu, als deren Besitz und Aufbewahrung als heilige Objekte.83 Wenn die Dedes den Stammbaum oder die Heiligenlegenden ihres ocaks aus dem Gedächtnis rezitierten, wurde es von den Gläubigen vorbehaltlos als gültiges Wissen und als Nachweis ihrer heiligen Abstammung anerkannt und keines schriftlichen Beweises bedurfte. Zudem unterschied sich die Funktion von Handschriften von denen anderer heiliger Objekte in der alevitischen Glaubenspraxis signifikant, da die Manuskripte keine liturgischen Instrumente darstellten. Die Langhalslaute (türk.: saz oder bağlama), das sakrale Begleitinstrument der Dedes und Sänger (türk.: zakir) im cem, dient bis heute als kollektives Gedächtnismedium der Gemeinschaft.84 Einem Holzstab mit Schlangenkopf (türk.: tarik, zaza.: tariq) kam als heiligem Objekt insbesondere beim Hızır-Fest und bei dem Initiationsritus der Wahlbrüder (türk.: müsahip) in der öffentlichen Befragung (türk.: görgü), im Görgü-cem , eine zentrale Rolle zu.85 Während dies und anderen heilige Objekte symbolische Entsprechungen im Weltbild der alevitischen Glaubensgemeinschaft aufwiesen und im rituellen Verwendungskontext unverzichtbar eingebunden waren, traf das auf die secere- und Buyruk-Manuskripte nicht zu.86 Das relativ große Interesse, das den alevitischen Schriftdokumenten seit dem „alevitischen Revival“ von pro-alevitischen Akteuren und in der Forschung entgegengebracht wird, ist also vor allem mit dem modernen Wissensregime zu erklären, das schriftlich überliefertem Wissen mehr Prestige zuschreibt als mündlichem.87 In den autobiographischen Erzählungen der Dedes aus Dersim nimmt die Transformation ihrer Rolle einen wichtigen Platz ein, wie insbesondere mit Blick auf bestimmte, regelmäßig auftretende Aussagen deutlich wird, die im Folgenden näher untersucht werden sollen.

83 Langer (2008, 79). 84 Hendrich (2004b, 159–76). 85 Zur Verwendung und Bedeutung der Ritualstäbe tariq (za.), die als Zeichen der Unabhängigkeit der alevitischen ocaks vom Bektaşiorden galten, und zur Zerstörung der tariqs durch die Bektaşi im Ersten Weltkrieg und bis zur Gründung des türkischen Nationalstaats, siehe: Langer (2008, 80). Aleviten in Dersim glaubten an ein autonomes Leben der tariq, siehe hierzu: Gezik (2010, 193–4). 86 Langer (2008, 79–80). 87 Mete (2016, 199–230), Karakaya-Stump (2010, 273–87).

7.2 Aussagereihen von alevitischen Dedes

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7.2.1 Abstammung und Wunderkraft Aus den hier untersuchten autobiographischen Narrationen der alevitischen Dedes aus Dersim konstituiert sich eine Reihe aus Aussagen über die Herkunft und Abstammung der jeweiligen ocak-Familie und die Wundertaten der Familienmitglieder, die als Heilige verehrt werden. Zuerst nimmt die Studie die Darstellung von Cafer in den Blick, einem Angehörigen des Celal-Abbas-ocaks, der 1951 in Ankara geboren wurde. Seine Erzählung nahm ich in seinem Haus im Dorf seiner Vorfahren im Landkreis Pülümür in der Provinz Tunceli auf.88 I:

Deswegen möchte ich gern ihre eigene Geschichte, ihre Lebensgeschichte hören, soweit Sie sich daran erinnern. Cafer: Ich will es Ihnen so erklären. Nun ist unsere Gegend hier, ist dieses Anatolien, die Heimat der Rum und der Armenier. Unsere Großväter kommen im Jahr 1200 aus dem Iran, aus dem Ursprungsort Chorasan, nach Ägypten. Nachdem sie eine Weile in Ägypten geblieben waren, sind sechzehn turkmenische Stämme, keine kurdischen, turkmenische Stämme \ Jetzt wirst du sagen, Dede, warum Turkmenen? Unsere Großväter haben in der Region des Kaspischen Meeres Töchter von den Türken [zur Frau] genommen und ihnen welche gegeben und sich das Türkentum angeeignet. Eigentlich sind wir die Kinder der Haschimiten, Turabi. Turabi bedeutet bescheiden, nachsichtig und den Menschen verbunden zu sein. Also deswegen sagen sie zu uns Turab, Turabi, zu unserem Stamm. Die Menschen, die aus eben diesem Stamm kommen, sind unser Vorfahr Seyid Mahmudi Hayrani, also der Vater von Hacı Kureyş, Seyid Mahmudi Hayrani ist wessen Kind? Er ist der Sohn von Seyid Mesut, Seyid Mesut wiederum ist der Sohn von İbrahim Mükerrem, İbrahim Mükerrem wiederum ist der Sohn von El Mücahit, El Mücahit wiederum ist der Sohn von İmam Musa al-Kazım. Also unser Stamm leitet sich von İmam Musa al-Kazım her ab, er stammt von einem der Zwölf Imame von İmam Musa al-Kazım ab. Unser Vorvater Seyid Mahmud Hayrani, der Vater von Hacı Kureyş, kommt nun mit sechzehn Stämmen und sieben Männern. Wer sind diese sieben Männer? Als sie kommen, lassen sie sich in Anatolien in, äh, in Adıyaman nieder. Von Adıyaman bricht unser Großvater mit sechzehn Stämmen auf und sie kommen nach Dersim. Es gibt doch diesen Ort Nazımiye, sie kommen dahin und unser Vorfahr gründet dort einen Standort. Er verheiratet seinen eige-

88 Interview mit Cafer am 6. 8. 2011, in Dersim, Kreis Pülümür, Türkei. Eine Einführung in den Celal-Abbas-ocak bietet Munzuroğlu (2013, 130–76).

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nen Sohn Hacı Kureyş mit der Schwester von Abdal Musa. Die Kinder von dieser Schwester leben nicht mehr. Nach der Geburt eines jeden Kindes, sobald es sechs Monate alt war, kamen zwei Wölfe, einer von der einen Seite, der andere von der anderen Seite, nehmen das Kind und tragen es fort. Sie kommen aus dem Geheimnis. Niemand sieht sie. Also die Jungen leben nicht mehr. Aber natürlich unser Großvater. Zu dieser Zeit bekommt Hacı Kureyş dort zwei Söhne. Der eine ist Mahmut der sechste, der Name des anderen ist Mewali. Und der andere ist Düzgün Baba. Und eine Tochter namens Ana Xaskar. Wir wissen es so. Also das ist, was uns unsere Älteren sagten. Nachdem ich mich zu Beginn des Gesprächs auf die Bedeutung der Dedes für die Überlieferung des alevitischen Glaubens bezogen und ihn nach seinen Erinnerungen an sein Leben gefragt habe, beginnt Cafer damit, die Ankunft seiner Vorfahren in der Region Dersim zu schildern. In mehreren aufeinanderfolgenden Migrationen, die im 13. Jahrhundert einsetzten, seien seine Vorfahren, die turkmenischer Abstammung seien, aus der Gegend von Chorasan am Kaspischen Meer über unterschiedliche Stationen bis nach Dersim gelangt. Mit dieser Erzählung über seine Abstammung und Herkunft knüpft Cafer weitestgehend an den kemalistischen Diskurs an, der die Aleviten als von turkmenischer Abstammung auffasst und einen mythischen Ursprung östlich von Chorasan annimmt. Auch in Übereinstimmung mit dem kemalistischen Diskurs widerspricht er dem PKK-Diskurs, der für die Aleviten einen kurdischen Ursprung entwirft. Diese explizite Abgrenzung findet im weiteren Verlauf seiner Erzählung auch eine Entsprechung in seiner negativen Haltung gegenüber den Aktivitäten der PKK in Dersim. Im Unterschied zum kurdischen Geschichtsnarrativ über die Herkunft der Aleviten nahm der kemalistische Diskurs Elemente aus der mündlichen Überlieferung aus Dersim auf, die er entsprechend der türkisch-nationalistischen Ideologie gezielt umdeutete, um die Aleviten zu vereinnahmen. Hingegen bildete sich der kurdische Ursprungsmythos als Konkurrenzerzählung zum türkischen Geschichtsnarrativ heraus und ließ die mündliche Überlieferung der Aleviten unberücksichtigt. Die Frage nach der ursprünglichen Bevölkerung Anatoliens stellten beide nationalistischen Diskurse gleichermaßen und beantworteten sie jeweils mit Narrativen, die einen ethnisch und kulturell homogenen Ursprung konstruierten. Eine Aussage, die in Cafers Erzählung als Behauptungselement zu den hegemonialen Diskursen erkennbar ist, bezieht sich auf die regionale Überlieferung. Er erwähnt den Mythos von zwei Wölfen, die als Mittlerwesen zwischen dem göttlichen Bereich, die aus dem Geheimnis, aus dem Verborgenen (türk.:

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batini) in dem weltlichen, äußeren Bereich (türk.: zahiri) erschienen und die Kinder von Kureyş, seinem heiligen Stammvater, aus dieser Welt trugen.89 Die beiden Wölfe, die als Attribute von Kureyş gelten und zwischen Diesseits und Jenseits hin- und herwechseln, dienen ihm dazu, den göttlichen Einfluss auf Leben und Tod in seiner Abstammungslinie zu symbolisieren. Am Ende beruft sich Cafer auf die mündliche Überlieferung der Ältesten in seiner Familie, in deren Überlieferungskette er sich einreiht, um seine Aussagen über seine Abstammung zu legitimieren. Durch seine Betonung, „wir wissen es so“ positioniert er das Wissen, das ihm mündlich überliefert wurde, bewusst in dem Diskursfeld der konkurrierenden hegemonialen Diskurse. Celal aus der Derviş-Cemal-Abstammungslinie wurde um 1943 in einem Dorf im Landkreis Ovacık in der Provinz Tunceli geboren, wo ich in seinem Haus seine Erzählung aufzeichnete.90 In der folgenden Sequenz schildert Celal die sukzessive Ansiedlung von Armeniern und Aleviten in Dersim: Celal: In der Gegend des Dorfs X gibt es einen Weiler namens Y. Als die Armenier sich in dieser Gegend niederließen, gab es in Y einen Felsen. Vor diesem Felsen lagerten sie drei Monate. Bei Regen schützt der Felsen die Menschen, so wie ein Schirm. Nachdem sie drei Monate dort ihre Zelte aufgeschlagen hatten, verteilten sie sich auf die Dörfer. Aber die Armenier haben diesen Felsen als Pilgerort angesehen. Als auch X Ağa in diese Gegend kam, ließ auch er zuerst dort die Zelte aufschlagen. Am selben Ort, im selben Weiler, ließ er sich nieder. Auch er kampierte dort drei Monate. Nach drei Monaten traf er sich mit den armenischen Mönchen und fragte nach Land, woraufhin sie zu freien Ländereien geschickt wurden. Sowohl Aleviten als auch Armenier sind immer noch in dieser Gegend nebeneinander in diesen Dörfern und pilgern einmal im Jahr zu diesem Felsen. Also, das ist die Bedeutung dieses Pilgerorts. An schweren Tagen hast du uns vor dem Regen in Schutz genommen. An schweren Tagen hast du uns im Regen gerettet, also hat es nicht auf uns geregnet, du bist zu unserem Retter geworden. In dieser mythischen Erzählung von dem Beginn der Besiedlung der Region Dersim verleiht Celal der Natur und den Naturphänomenen eine tragende Rolle. Ein Felsen, der aufgrund seiner natürlichen Beschaffenheit den Ankömmlingen Schutz vor den widrigen Witterungsbedingungen bietet, begründet eine intensi-

89 Çakmak (2013, 333). 90 Interview mit Celal am 3. 8. 2011, in Dersim, Kreis Ovacık, Türkei. Eine Rekonstruktion der Migrationsgeschichte des Derviş Cemal ocaks bietet Tee (2010, 335–92).

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ve Verbundenheit, die den Schutzsuchenden zu diesem Ort in der Natur erwächst. Am Ende dieser Erzählung gibt Celal in direkter Rede die Dankesworte wieder, die die Menschen an den Felsen richteten, den sie als Retter in der Not ansahen. Dieses Rettungsmotiv stellt somit einen Bezug zu verworfenen Vergangenheiten her, in denen Menschen in Gefahrensituationen Zuflucht und Schutz in der Natur fanden. Wie bei Cafer, sind es auch in dieser Erzählung von Celal zuerst die Armenier, die sich in der Gegend von Dersim ansiedeln, bevor die Aleviten später hinzustoßen und Land von den armenischen Geistlichen zugesprochen bekommen. Celal konstruiert Parallelen zwischen diesen beiden Bevölkerungsgruppen über denselben Ort, an dem sie ankommen und über die gleiche Dauer von drei Monaten, für die der Felsenvorsprung beiden Schutz gewährte. Die Erzählung erklärt nicht nur eine Verbindung dieser beiden Gruppen zu diesem Ort in der Natur, die gleichermaßen von Dankbarkeit, bleibender Verbundenheit und religiöser Verehrung als Pilgerort geprägt ist. Darüber hinaus definiert sie auch die Beziehung zwischen diesen beiden Gruppen untereinander, die auf eine Dankbarkeit und Verpflichtung der Aleviten gegenüber den Armeniern verweist, die sie wie der Felsen in der Gegend aufnahmen und ihnen Platz gewährten. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zum Narrativ des harmonischen Zusammenlebens von Muslimen und Christen im Osmanischen Reich, wie es der Leugnungsdiskurs konstituiert.91 Diese Erzählung vermittelt eine Parallele zwischen den beiden Gruppen darüber, dass sie sich von denselben Gefahren der Naturwelt bedroht sahen und in dem Gebirge in Dersim Zuflucht fanden, dem sie seitdem ihre religiöse Verehrung entgegenbringen. In diesem Ursprungsmythos besteht demzufolge im Motiv des Felsens ein narratives Behauptungselement gegenüber den hegemonialen Diskursen. Als unabdingbarer Bestandteil der Erzählungen über die familiäre Abstammung der Dedes galten traditionell die Wundertaten ihrer Vorfahren, die von der göttlichen Gunst zeugten, durch welche sich die ocak-Familie auszeichnete. Darauf bezieht sich Kazım, ein Angehöriger des Baba Mansur ocaks, der 1962 in einem Dorf im Landkreis Mazgirt in der Provinz Tunceli geboren wurde und dessen Erzählung ich in seinem Haus aufnahm:92 I:

Kannst du mir als erstes deinen Namen, den Namen deines Vaters und deines Großvaters sagen? Also euer ocak, wo sind seine Niederlassungen hier in Dersim? Woher seid ihr gekommen, könntest du davon erzählen?

91 Mills (2010, 211). 92 Interview mit Kazım am 26. 8. 2011, in Dersim, Kreis Mazgirt, Türkei.

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Kazım: Nun, natürlich, sehr erfreut. Zuerst einmal vielen Dank. Ich habe ein Buch, um vollständig von meinem Großvater zu erzählen. Das werde ich bringen. Darf ich die Namen vorlesen? Wäre das möglich, wäre das angemessen? I: Nein, nur deine Erinnerungen, wie du dich daran erinnerst. Kazım: Ja, reicht das? I: Das reicht völlig, ja. Für mich ist das das Wichtigste. Kazım: Nun, ich bedanke mich. Mein Name ist Kazım, Kazım Dürüst. Die Leute nennen mich Kazım Dede. Zu Beginn seiner Erzählung möchte Kazım auf eine veröffentlichte heilige Abstammungslinie, secere, des Baba-Mansur-ocaks zurückgreifen, um seinen Aussagen mehr Legitimität zu verleihen. In den Erzählungen der Dedes begegnet diese Strategie des Legitimierens über eine Schriftquelle regelmäßig, sie kann als ein kreativer Anpassungsprozess gedeutet werden, die der zusätzlichen Legitimation ihres Wissens in der Moderne dient. Allerdings zeugt diese Strategie auch von Zweifeln, die die Dedes internalisiert haben und die das mündlich überlieferte Wissen, das sie vertreten, fundamental in Frage stellen. Die Nachfrage Kazıms, ob seine eigene Erzählung ausreiche, verweist auf seine Ungewissheit über die Gültigkeit und Akzeptanz seines eigenen, ihm mündlich überlieferten Wissens gegenüber dem hegemonialen Schriftwissen. Obwohl er mitnichten seine eigene Rede schwächen möchte, sondern sie zusätzlich zu bestärken versucht, indem er die verschriftlichten Quellen mit einzubeziehen beabsichtigt, gibt er durch diese Unterordnung die traditionelle Art der Legitimierung der Heiligkeit des Dedes auf, die sich in ihrer Verkörperung der göttlichen Weisheit und durch das gottgegebene Wirken von Wundertaten manifestierte. Anschließend verknüpft Kazım seine Abstammung und die Bedeutung der Wundertaten mit dem Erleiden von Gewalt: Kazım: Nun, also, man muss jedem Tag danken, der vergeht. Eine Gemeinschaft, ein Mensch, also, so wie er es glaubt, der auf die richtige Weise, also auf die richtige Weise von dieser Kultur, von diesem Vermächtnis keinen Teil bekommen hat, weißt du, ob er will oder nicht (…) weißt du, also er bleibt ganz direkt benachteiligt, also. Deswegen wurden früher Wahrheit und Aufrichtigkeit sehr, sehr hoch geachtet. Ohnehin in der Türkei, in der Türkei konnten wir als alevitische Gemeinschaft, als alevitische Gemeinschaft ohnehin bis vor ungefähr fünfzehn bis zwanzig Jahren, also auch nicht zwanzig, zehn (…) fünfzehn Jahren ungefähr, doch nicht sprechen. Das Alevitentum ist nachgewiesen worden, genauer gesagt, weißt du also. Das Alevitentum ist bis vor

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zwanzig Jahren, fünfundzwanzig Jahren und in den Jahren davor sehr geheim, sehr verborgen gewesen, weißt du? Aber diese unsere damalige alevitische Gemeinschaft, weißt du, seien es die alevitischen Dedes, seien es die alevitischen pirs, alle talips und mürids, die dem Alevitentum ihre Liebe entgegenbrachten, wirklich aus ganzem Herzen, weißt du, also Menschen, die mit dem Herzen sehen, trugen diese Philosophie, diesen Glauben bis heute weiter, weißt du? Indem sie ihn bis heute weitertrugen, ließen sie das Alevitentum, ehl-i beyt, leben, genauer gesagt. I: Ja. Kazım: Was die zwölf Imame, der Heilige Hüseyin, erlebten, die Erlebnisse der zwölf Imame aus dem Stamm des ehl-i beyt sind sehr (…) weißt du, also, was sie erlebten? Ohnehin leben wir immer noch in ihrem Gedenken, wirklich. Sodass wir ungefähr seit zwanzig, fünfundzwanzig Jahren\ Also in der wirklichen Bedeutung, in der wirklichen Bedeutung sollte man das nicht abstreiten. Von den alevitischen Dedes gibt es keine charakteristischen Wundertaten, weißt du. Aber vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, dreißig Jahren, vierzig Jahren waren Wundertaten der alevitischen Dedes, von unseren aus dem alevitischen Stamm kommenden Dedes, sehr überragend, weißt du? Kazım setzt den Beginn des Verlusts des Vermächtnis der Dedes vor zwanzig bis vierzig Jahren an, für den er zwei korrelierende Faktoren verantwortlich zeichnet. Zum einen sei die Sichtbarkeit des Alevitentums und zum anderen das Verschwinden der Wunderkraft dafür ursächlich. Die öffentliche Sichtbarkeit des Alevitentums seit den letzten vier Jahrzehnten erscheint ihm im Gegensatz zur Glaubensvorstellung der im Inneren verborgenen göttlichen Wahrheit, die er als die Voraussetzung für gottgegebene Segenskraft und das Wunderwirken ansieht. Davor habe innerhalb der Gemeinschaft die Aufrichtigkeit (aufrichtig, türk.: dürüst) noch einen Wert dargestellt, die er mit der Innerlichkeit des Glaubens verbindet. Somit impliziert er, dass seitdem über das Alevitentum offen gesprochen wird, sich die „Wahrheit“ verloren habe. Die Dedes hätten früher mit ihrer Geheimhaltungsstrategie, takiye, die Gemeinschaft vor Gewalt nach außen hin geschützt und somit durch ihren persönlichen Einsatz die Tradition bewahrt. Dieses persönliche Einstehen der Dedes leitet er historisch von den zwölf Imamen und deren Leidensgeschichte ab. In der Erinnerung von Kazım begegnet somit eine Bewertung der traditionellen Rolle der Dedes, die den dominanten Diskursen entgegengesetzt ist. Während diese die Dedes beschuldigen, die alevitische religiöse Tradition zu korrumpieren, ihre Gläubigen auszunutzen und zu unterdrücken, hebt Kazım

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ihre bewahrende Rolle für die Tradition und Glaubensgemeinschaft hervor. Indem er insbesondere die Dedes als Opfer von Gewalt in der jüngeren Vergangenheit benennt, stellt er sich gegen die Schuldumkehr des kemalistischen Legitimationsdiskurses. Die Leidensgeschichte von Kerbela, der Gründungsmythos der alevitischen Religionsgemeinschaft, dient ihm als Folie, um die erlittene Gewalt der Dedes in der jüngsten Vergangenheit anzudeuten. Er bezieht sich auf die Verfolgung und den Märtyrertod Hüseyins und anderer Angehöriger der Prophetenfamilie, ehl-i beyt, um den persönlichen Einsatz und die Aufopferungsbereitschaft zu betonen, mit denen die Dedes in der Vergangenheit versuchten, ihre Gemeinschaft vor religiöser Verfolgung zu schützen. Dieses Deutungsmuster dient ihm dabei wiederum der Legitimation der Dedes, die in diesem Rahmen als Nachfolger der rechtgeleiteten Märtyrer erscheinen.93 In dieser Sichtweise verknüpft Kazım die göttliche Gabe der Wunderkraft, keramet, mit der Verfolgung und der Gewalt gegen deren Träger. Diese Kraft der Dedes symbolisiert in den Heiligen- und Wunderlegenden einen Widerstand, den sie gegen die Verfolgung ihrer Gemeinschaft leisten konnten und der sich in dem göttlichen Segen manifestierte, über den sich ihr Glaube als der „wahre“ erwies. Die Erfahrung moderner Gewalt im 20. Jahrhundert habe dazu geführt, so versteht es Kazım, dass sich seitdem die Leidensbereitschaft und der Widerstand der Dedes verloren haben. Anstelle dessen geben die Dedes zunehmend ihr geheimes Wissen der Öffentlichkeit preis und verlieren deswegen ihre gottgegebene Wunderkraft. Seinen Familiennamen Dürüst, der Aufrichtigkeit bedeutet, kontrastiert er mit der verlorenen Innerlichkeit des Glaubens und damit der Schutzmacht der Dedes.94 In Kazıms Erzählung erinnert ihn sein Nachname, Aufrichtigkeit, nur an die verlorene Stellung seiner Familie. Die Erzählung von der Abstammung der Dedes verweist auf vielerlei Weise auf ihre Gewalterfahrungen, das wird unter anderem daran deutlich, wie sich Celal aus dem Derviş Cemal ocak auf die Namen seiner Vorfahren bezieht: Celal: Der Name meines Großvaters ist İbrahim. Aber die Leute nannten ihn Verrückter. Also jemand, der ganz verrückt ist. Der Name meines Vaters ist İsmail. Und mein Name ist Celal. Also, ich habe meinen Vater und meinen Großvater erlebt. Einführend reiht Celal sich selbst wie üblich in die Abstammungslinie seiner Vorfahren ein, deren Namen er aufzählt und zu denen er an letzter Stelle seinen

93 Neuwirth (2007, 78–80). 94 Ausgesprochenen Worten und besonders Namen wird in mündlichen Kulturen eine magische Wirkmacht zugesprochen, siehe Ong (2002, 31–3).

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eigenen Namen anfügt.95 Nach dieser Aufzählung hebt er jedoch als Besonderheit hervor, dass er zwei Generationen seiner Familie erlebt hat. Trotz ihres gesellschaftlich exponierten Status als religiöse Anführer überlebten sein Großvater und sein Vater die staatliche Verfolgung und Gewalt in der Region Dersim. Über diese Bemerkung versucht Celal seine herausgehobene Stellung in der Tradition zu legitimieren. Aufgrund des Wissens, das ihm von den zwei Generationen überliefert wurde, so erläutert er im weiteren Verlauf, konnte er sich mehr religiöses und historisches Wissen aneignen als andere Nachkommen von Dedes, deren Vorfahren in den Gewaltverbrechen in Dersim 1938 ermordet wurden. Durch dieses Herausstellungsmerkmal versucht er seine Selbstdarstellung als ein besonders wertvolles Verbindungselement in der Überlieferungskette zu bestärken und seine angestrebte Position als Wissensautorität in der Gemeinschaft zu untermauern. So entwirft Celal das Bild von sich als einer Person, die den Gläubigen den verloren gegangenen Zugang zu einem früher gültigen kollektiven Wissen zeigen könnte. Er spricht damit zwei hauptsächliche Themen seiner Lebensgeschichte an, die sich durch seine gesamte Erzählung ziehen: die Überlieferung traditionellen Wissens und die Erfahrung von Verfolgung und Gewalt in seiner Familie. In der Erzählung von Abidin aus dem Derviş Gewr ocak, geboren 1934 in einem Dorf im Landkreis Mazgirt in der Provinz Tunceli, wo ich sie aufnahm, erinnert er sich an einen seiner Verwandten, der eine grausame Prüfung seines alevitischen Glaubens bestand:96 Abidin: Es kam viel Leid. Wir haben viel Leid erfahren. Dann hat dieser Enkel unseres Großvaters, er war vierundzwanzig, fünfundzwanzig Jahre alt. Er war arm. Er war sehr bedauernswert. Er flehte so zu Allah. Efendim, wenn nicht aus Höflichkeit hat er weder mit jemandem geredet, noch zu Ungunsten von jemandem gesprochen, noch geflucht, noch sonst irgendetwas (–) niemandem gegenüber zeigte er schlechte Laune. Er war ein sehr wohlerzogener Mensch. Um sich rasieren zu lassen, ging er in den Landkreis Palu. Von diesen Menschen gibt es unterschiedliche Stämme. Die Zaza-Bevölkerung ist verschieden und unser alevitischer Teil ist wiederum verschieden. Efendim, wir finden beim Propheten Gnade, sie finden bei anderen Dingen [Gnade]. Sie finden

95 Als Verrückte (zaza. budala) werden Gläubige bezeichnet, die alles andere aufgegeben und sich gänzlich Gott gewidmet haben, insbesondere Wanderderwische und Asketen gelten als Träger göttlichen Segens. 96 Interview mit Abidin am 26. 8. 2011, in Dersim, Kreis Mazgirt, Türkei. Für eine Einführung in den Derviş-Gewr-ocak, siehe Deniz (2013, 264–307).

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den Glauben im Menschen. Als sie ihn erwischten, fragten sie, woher stammst du, von wo kommst du, wer bist du? So wie du einen Gast empfangen würdest. Er sagte, ich komme aus so und so und bin hierhergekommen. Warum bist du gekommen, fragten sie. Daraufhin er, ich habe mich auf den Weg gemacht und bin gekommen. Um zu sehen, was es gibt, besuche ich die Dörfer. Als er das so sagte, sagten sie, der ist Alevite. Lasst ihn uns nehmen und auf den Holzhaufen werfen. Mal sehen, ob Aleviten wohl verbrennen oder nicht? Mit Holzhaufen meine ich Reisig, der vom trockenen Laub übriggeblieben ist. Sie werfen den Mann auf diesen Haufen und mit Stöcken in den Händen stellen sie sich um den Haufen auf, um ihn, falls er flüchten sollte, mit diesen Stöcken zu schlagen und zu töten. Damals gab es keine Waffen oder so. Die Männer bleiben die Nacht über bis zum Morgen dort. Am Morgen stehen sie auf, der Mann ist fort. Und sie sehen, dass der Mann entkommen ist und flieht. Sie steigen auf Pferde und verfolgen ihn auf Pferden. So sehr sie sich auch bemühen, sie holen ihn nicht ein. Er verflucht diese Männer. Er sagt, so wie ihr mich verbrennen wolltet, so soll Allah euch verbrennen. Er verflucht diese Leute. Aus der Abstammungslinie dieses Mannes ist keiner mehr geblieben. Eines Tages in den neunzehnhundertsechziger Jahren sandten sie einen Brief. Wir hatten dieses Grab noch nicht gemacht. Wir brachten diesen Brief damals her und vergruben ihn. Später fragten wir uns, was wohl in dem Brief stand? Wir wollten den Brief hervorholen und lesen, aber wir konnten ihn nicht finden. Wo er hin ist, was geschehen ist, wissen wir nicht. Er ist auch verschwunden. Danach kommt dieser Mann hierher. Wenn ich gestorben bin, richtet mein Grab nicht mit Schmuck her. Legt um es herum nur so Steine. Nur der Ort soll deutlich sein, das reicht, sagt er. Und zu dieser Zeit, zu dieser Zeit, zu der Zeit meines Großvaters, meines Vaters, geht ein Testament von Hand zu Hand. Dieser Mann hat solche Menschen erlebt, hat solche Handlungen erlebt, stand darin. Sie bringen ihn her, efendim, als seine Zeit gekommen war, starb der Mann und er sagte, wenn ihr mein Grab so einkreist, reicht das. Macht keinen Sarg. Holt einen Hoca, dass er aus dem Koran lese, einen evlad-ı resul, ein anderer soll nicht kommen. Wenn kein evlad-ı resul den Koran liest, soll kein anderer lesen. So lesen sie vor und begraben ihn. Damals begraben sie ihn hier. Auch mein Grab soll so deutlich sein. Die Besucher sollen an meinem Erdhügel beten und gehen. Etwas anderes möchte ich nicht. Sagt es den Besuchern so. Damals haben wir sein Grab so gemacht. Dann ist da diese historische Sache, wir sind gegangen, es gibt unsere secere. Unsere

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Abstammungslinie ist zur Zeit des Propheten zum Derviş Beyaz ocak gekommen. Dieser Derviş Beyaz kam aus Chorasan vor langer Zeit. I: Wohin ist er hier zuerst gekommen? Abidin: In der Türkei? I: Ja. Abidin: Das dort war Chorasan. Sie werden die Enkel der Propheten aus Chorasan genannt, sie werden die Kinder des Propheten İbrahim genannt. I: Also ist Derviş Gewr der, der mit Kureyş zusammen in den Ofen geworfen wird? Abidin: Ja, sie sind zusammen hineingegangen. Jetzt werde ich das meiner Annika erzählen. Zu dieser Zeit kommt ein Padişah. Das ist lange her. Der Name des Padişahs war Alaeddin Keykubat. Sie kommen zur Burg in Van. Von diesem Mann will unser Großvater freigesprochen werden. Du bist evlad-ı resul. Du kommst aus dem Stamm des Propheten. Steig in den Ofen! Wenn du verbrennst, stirbst du. Wenn du nicht stirbst, dann werde ich dir die secere unterschreiben und aushändigen, auf der steht, dass du der Enkel des Propheten bist. Sie stecken ihn in den Ofen. Da war der Freund des Provinzgouverneurs, also sein Assistent. Er war vielleicht sein Anwalt, Lehrer oder Anführer (…) Er sagte, geh du auch mit ihm zusammen hinein. Dieser Mann jammert, wie soll ich mit ihnen hineingehen? Sie werden sowieso verbrennen, warum soll ich mit ihnen zusammen verbrennen, mein Paşa? Er sagt, nein, ob du verbrennst oder nicht, du wirst uns ihr Geschick überbringen. Dann gehen sie da hinein. Der Morgen bricht an und die drei kommen wieder aus dem Ofen heraus mit dem Kureyş Baba. Sie kommen heraus. Als sie herauskommen, fragt ihn der Paşa, was hast du gesehen? Der Mann sagte, als wir in den Ofen hineinkamen, war da eine solche Kälte und so ein Wind wehte, dass ich es nicht beschreiben kann. Es schneite, es war neblig. Aber wir tranken. Wir hatten uns alle getrennt in eine Ecke gesetzt und über uns flog ein Vogel. Aus den Schwingen dieses Vogels fiel feine Asche herab. Auf diesen Derviş Baba fiel am meisten Asche. Da sagte der Paşa, sein Name sei nicht Derviş Beyaz, sondern Derviş Gewr. Sein früherer Name war Derviş Beyaz, aber von nun an wird sein Name Derviş Gewr sein. Darunter setzt er seine Unterschrift und [das ist] die secere unserer Abstammungslinie in Varto in Hınıs im Dorf Şarıkan. Abidin gibt die Erinnerungen wieder, die ihm über die Erlebnisse einer seiner Verwandten und seines Stammvaters Derviş Gewr vermittelt wurden und dabei verbindet er die beiden Wundergeschichten miteinander. In der angrenzenden

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Region Palu wollten die schafiitischen Zaza seinen Verwandten, da er Alevite war, auf den Scheiterhaufen werfen und töten. Abidin beschreibt eine religiöse Differenz zwischen den schafiitischen Zaza in Palu und den alevitischen Zaza in Dersim, was ihre legitimatorische Herleitung vom Propheten Muhammed anbetrifft. Diese religiöse Differenz sei ursächlich für die Gewaltausübung gegen seinen Verwandten. Diesem gelang es jedoch, wie Abidin erzählt, der drohenden Verbrennung und seinen Verfolgern zu entkommen, indem er sich unbemerkt vom Scheiterhaufen entfernen und wundersam schnell entfliehen konnte. Anschließend wurde er in Dersim als Heiliger verehrt, wovon sein schlichtes Grab zeugt, das für die Zurückhaltung und Selbstlosigkeit der Heiligen steht. Abidin erklärt an dieser Stelle, dass sein Verwandter und dessen Bestattung ihm ein Vorbild sind und verdeutlicht damit, dass er sich selbst in der Nachfolge der heiligen Abstammung sieht. In seinem Wunsch nach einem schlichten Grab drückt er aus, dass er auch über seinen Tod hinaus als Angehöriger seiner heiligen Abstammungslinie wahrgenommen werden will. Direkt im Anschluss an diese Prüfungsgeschichte seines direkten Verwandten erzählt Abidin die Heiligenlegende des Begründers seines ocaks, von Derviş Gewr, dem Grauen Derwisch. Auch Derviş Gewr wurde einer Prüfung seines Glaubens unterzogen, die er dank eines Huldwunders bestehen konnte. Obwohl er in einen Ofen gesteckt wurde, verbrannte er nicht und stieg von Asche bedeckt, unversehrt und lebendig aus dem Ofen. Diese beiden Erzählungen weisen Parallelen zu der Geschichte der Errettung İbrahims aus dem Ofen auf, wie sie in der jüdischen Überlieferung im Talmud und Midrasch und in der islamischen Überlieferung im Koran tradiert wird.97 In dieser Geschichte wird die Macht des bösen Herrschers Nimrud, der İbrahim in den Ofen wirft, durch göttliches Wirken gebrochen, wie sich in der Kühle äußert, die sich im Ofen verbreitet. Diese Kühle rettet den Bedrohten vor dem Verbrennen. Auch Abidin erzählt von einer Kälte, die seinen Urahn Derviş Gewr und die anderen, die zusammen mit ihm in den Ofen gesteckt worden waren, vor der Verbrennung bewahrte. Die Schilderung des Sitzens und Trinkens im Ofen (türk.: ocak) evoziert den Vergleich mit einer alevitischen Versammlung, einem cem, und der rituellen Vertiefung, für die in Dersim auch Alkohol und Haschisch konsumiert wurden, um sich in einen anderen Bewusstseinszustand zu versetzen.98 Während des cems und auf der Seelenreise der Dedes kam zwei 97 Im Koran: Sure al-Anbiya’ 21, 68–70; Sure al-Saffat 37, 97–98; im babylonischen Talmud, II. Abt., 3. Traktat, 118a; im Midrasch: Genesis Rabba 44, 18; Leviticus Rabba 36, 4. 98 Der Rauschmittelkonsum, insbesondere von Alkohol und Tabak, gehört im kemalistischen Diskurs über Dersim zu den ambivalent gezeichneten Merkmalen, sowohl als Abhängigkeit, zum Zeichen ihrer Degeneration aber auch als Trank-Opfer-Ritual als Zeichen der sumerischen

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Vögeln Heli und Sırsaleke eine tragende Rolle zu, die als Vermittler der Nachrichten zwischen dem Jenseits und dem Diesseits und als Begleiter der Seelen auf der Reise dienten.99 Der Vogel, aus dessen Gefieder Asche fällt, vermittelt in der Erzählung von Abidin über Derviş Gewr zwischen dem göttlichen und dem weltlichen Bereich und symbolisiert die Unsterblichkeit der Träger von Heiligkeit. Abidin verbindet seine beiden Erzählungen über seinen Urahn und seinen Verwandten, indem er eine Parallele in der Prüfung der Wunderkraft und Heiligkeit alevitischer Geistlicher zieht, die Sunniten unter Gewaltanwendung vornahmen. Allerdings kommt die Prüfung der Authentizität der beiden Derwische ihrer Verurteilung zum Tod durch Verbrennung gleich. Abidin kann, indem er an das konventionalisierte Erzählmuster vom heiligen ocak-Begründer Derviş Gewr und dessen Überleben anschließt, auch von der Gewalt erzählen, die seinem direkten Verwandten angetan wurde. Nicht nur die Vorfahren von Abidin erscheinen in seiner Erzählung als Günstlinge der göttlichen Segenskraft, sondern er stellt sich auch selbst in deren Nachfolge. Mit dieser Wunderlegende, in der die höhere Gerechtigkeit sich darin manifestiert, dass die zum Tode Verurteilten gerettet werden, verknüpft Abidin die staatliche Beglaubigungspraxis in osmanischer und republikanischer Zeit. Anschließend legt er ausführlich die Geschichte und Funktion des Manuskripts des Stammbaums seiner Abstammungslinie dar, um die zentrale Bedeutung zu erläutern, die er der Beglaubigungsurkunde beimisst: Abidin: Dort [in dem Dorf, wo die secere ausgehändigt wurde] gab es früher einen Leser, […], er ist auch aus unserer Familie. Diese secere liegt in seinen Händen. 1955 brachte er sie hierher. Er kam und bemühte sich sehr. Ihr als Kureyş Baba, Baba Mansur, Delili Berxecan, Şah Mansur, bringt alle eure seceres zusammen! Lasst sie uns nach Ankara bringen und von Neuem unterzeichnen! Damals war die Regierungszeit von Celal Bayar. Sie haben sie nicht gefunden. Sie [seine Verwandten] haben sich sehr bemüht, aber sie haben sie [die secere] nicht gefunden. Eine ist hier, die andere ist wer weiß wo, sagten sie. Niemand fand sie und brachte sie her. Sie sind verschwunden. Unsere aber befand sich

Tradition, die Tankut mit Homa assoziiert, siehe: Tankut (2000, 15–16, 55–56); Sevgen, Tarih Dünyasi 2, 10 (1950, 510–5). Zur Funktion des Rauschs durch Alkoholkonsum im cem bei den Bektaşi in der Türkei, siehe: Nicolas (2016, 241–54). 99 Gezik (2010, 91, 183). Während des cem riefen die Dedes den Namen des Vogels Heli (kurd.) Huli (zaza.) an, während Sırsaleke den Vogel bezeichnet, der die Dedes auf ihrer Seelenreise ins Jenseits begleitet.

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in seiner Hand. Er brachte sie nach Ankara. In Ankara hat der Präsident der Republik gesagt, das war der Enkel des Propheten. Wie hast du dies verstecken und bis heute bewahren können? Kannst du beweisen, dass das dir gehört? Da sagte er, zu dieser Zeit hat mein Großvater dies und das gemacht. Dann hat er alles vorgelesen und der Präsident der Republik hat ihm eine einzige Unterschrift geleistet und sie ihm gegeben. Wenn es nicht so gewesen wäre, hätte er die secere dem Mann weggenommen und an die Museen gesandt. Jetzt wurde ein Buch mit unserer secere gedruckt. In Deutschland ist einer unserer Verwandten Absolvent der Fakultät, er hat Medizin studiert, er ist in Deutschland geboren. Er hat eine Kopie der Schrift der secere an uns geschickt und wir haben sie überall verteilt. Dieses Geschick hat dieses Kind aufgedeckt. Die alte secere ist immer noch dort. Sie ist der Beweis unserer Abstammung. Wie in einem Melderegister der Name deiner Eltern geschrieben steht, so ist es auch bei uns. Der Name steht da geschrieben und so wird der Beweis erbracht. Von damals bis heute nennen sie uns Derviş Beyaz, Derviş Gewr ocak. I: Also ist Derviş Gewr ein ocak, ja? Abidin: Ja, wir sind ein ocak. Sie haben uns die Aufgabe der rayber überlassen. Wir sind keine pirs, wir sind rayber. Wir sind die rayber von zwölf Stämmen. Die vom Kureyş Baba [ocak] sind unsere talips und die vom Baba Mansur [ocak] sind unsere talips. Auch denen vom Baba Mansur [ocak] gelten wir als pirs. Von diesen zwölf Stämmen, A, B, C, D, E, F, G, H, von diesen zwölf Stämmen gibt es in unserer secere den Nachweis. Es stand geschrieben. Es ist eine secere, die den Dedes von ganz früher, aus ganz alten Zeiten, erhalten geblieben ist. Die zentrale Funktion des Schriftstücks besteht für Abidin in dem Nachweis der Legitimität seiner heiligen Abstammungslinie gegenüber den wechselnden weltlichen Herrschern. Dabei erscheint es ihm für die Schutzfunktion des Manuskripts unabdingbar, dass seine Familie das Original innerhalb der heiligen Abstammungslinie überliefert und aufbewahrt und es nicht als Ausstellungsobjekt in ein nationales Museum gerät. In seiner Erzählung verdeutlicht er die Rolle der Dedes für die Gewährung der Ausweisfunktion der seceres. Abidin erinnert sich an eine der Prüfungen ihrer Abstammung durch einen weltlichen Herrscher. Demnach war es 1955 der amtierende Präsident der Republik Türkei, Celal Bayar, einer der Hauptverantwortlichen in den staatlichen Gewaltverbrechen 1938 in Dersim, der die secere des Derviş Gewr ocaks beglaubigte und somit seinen Schutzbefohlenen, der alevitischen Abstammungsgemeinschaft, ein Schutzversprechen gab. Abidin ver-

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gleicht die secere mit einem Eintrag in das Melderegister und erwartet dementsprechend von dieser Einschreibung in die nationalstaatlichen Archive, dass ihm und seiner Gemeinschaft Rechtsschutz vor Verfolgung und Gewalt durch die Staatsmacht gewährt wird. Vor dem Hintergrund des rechtlich ungesicherten Status der Aleviten als Religionsgemeinschaft lässt sich die staatliche Anerkennungspolitik der Authentizität der secere als eine Maßnahme zur Verstetigung des Abhängigkeitsverhältnisses der Aleviten im Wahrheitsregime der türkischen Republik verstehen, denn die staatliche Beglaubigung des Dokuments ist auf ungewisse Zeit angelegt. Ihre Erneuerung kann plötzlich eingefordert werden und damit ist auch die Absicherung, die den Aleviten versprochen wurde, unzuverlässig. Durch diese prinzipielle Möglichkeit zur Suspendierung ihrer rechtlichen Anerkennung hält das türkische Rechtssystem die Aleviten permanent in einem vulnerablen Status. Indem Abidin hervorhebt, dass sich das Original im Besitz seiner Familie befindet, die es bewahrt, bezieht er sich allerdings auf die göttliche Legitimation der Dedes. Letztere hält er für noch wichtiger als die notgedrungene Anerkennung durch weltliche Herrscher, da ihm die göttliche im Gegensatz zur weltlichen Schutzmacht als dauerhaft gültig und zuverlässig erscheint. Aus der hier betrachteten Reihe von Aussagen zu Abstammung und Herkunft wird ersichtlich, dass die Dedes im Bewusstsein der fundamentalen Infragestellung ihres Wissens und ihrer Weisheit versuchen, ihre Erzählungen an hegemoniales Wissen anzuschließen. Der hegemoniale kemalistische Diskurs wirkt maßgeblich für die Erzählungen über die Abstammung und Herkunft der Dedes. Sie können hinsichtlich des Ursprungsmythos der authentischen alevitischen Religion, die mit den turkmenischen Stämmen aus Chorasan nach Anatolien gelangt sei, daran anschließen, um ihrer Rede Legitimität zu verleihen. Sobald die Dedes aber an Fremdbilder aus hegemonialen Diskursen über Aleviten anknüpfen, um ihre Aussagen zu legitimieren, tragen sie zugleich zur Verwerfung des in ihrer Person verkörperten Wissens der inneren Offenbarung bei. Zudem führt die Aneignung von hegemonialen Diskursen dazu, dass die Dedes im Anschluss an das Leugnungsmuster der Schuldumkehr die Gründe für ihren Statusverlust bei sich selbst suchen, indem sie diesen mit der äußerlichen Sichtbarkeit des Glaubens und ihrer verlorenen Wunderkraft erklären. Im Unterschied zur heiligen Abstammung der Familie und den Wundertaten, die der Legitimation der Dedes gegenüber ihren Anhängern dienten, erfüllt die secere vorrangig die Funktion eines Ausweisdokuments, um die Glaubensgemeinschaft vor dem türkischen Staat als legitime Bürger auszuweisen und um staatlichen Schutz vor Verfolgung und Gewalt gewährt zu bekommen. Die alevitischen Geistlichen in Dersim konnten einer ihrer wesentlichen gesellschaftlichen Funktionen nicht gerecht werden, als sie ihren Anhängern keinen

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Schutz mehr vor den staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 bieten konnten. Trotzdem kann sich ihr Bemühen um die Einholung der staatlichen Anerkennung ihrer göttlichen Legitimation über die Beglaubigung der seceres auch als präventive Schutzmaßnahme vor weiterer Gewalt gegen sie und ihre Glaubensgemeinschaft erklären lassen. Diskursive Behauptungselemente begegnen hingegen in der mündlich überlieferten Erzählung von der armenischen Bevölkerung in Dersim über die Ankunft ihrer Vorfahren in der Region sowie in Erzählungen der armenischen und alevitischen Gemeinschaften über ihre religiöse Verehrung der Natur als Schutzmacht in Dersim. Mythische Erzählungen, in denen Naturphänomene den Verlauf der Handlung bestimmen, so wie die Kälte, die im Ofen İbrahim vor dem Feuertod schützt, beruhen auf Vorstellungen von einer göttlichen Gerechtigkeit, die ihre Günstlinge in einer weltlichen Prüfung vor dem Tod rettet. Als ein weiteres narratives Behauptungselement tritt zudem die Leidensgeschichte von Kerbela als Deutungsmuster moderner Gewalterfahrungen hervor, da sie eine Identifikation der Dedes und ihrer Anhänger als Opfer von Gewalt und Verfolgung zulässt, die sich gegen die Schuldumkehr des türkischen Leugnungsdiskurses stellt.

7.2.2 Schweigen Eine Reihe von Aussagen der Dedes aus Dersim steht in Verbindung mit verschiedenen Formen des Schweigens, die sich in den Erzählungen nachzeichnen lassen. Die Untersuchung nimmt in Hinsicht auf diese Reihe den komplementären Charakter von Sprechen und Schweigen in den Blick und analysiert, wie die Dedes diese deuten. Die Erinnerungserzählung von Rıza, der dem Sarı Saltık ocak angehört und 1934 in einem Dorf im Landkreis Hozat in der Provinz Tunceli geboren wurde, nahm ich im Zentrum von Hozat auf.100 Rıza deutet die Erfahrungen moderner Gewalt in Dersim vor der Folie der Leidensgeschichte von Kerbela: I:

In Dersim gibt es seit langer Zeit Unterdrückung und Gewalt, wie sehen Sie das? Rıza: Nicht nur in Dersim, überall, wo die Aleviten leben, gab es Gewalt. Seit der Gründung des Islam gibt es [Gewalt]. Seit das Prophetentum an den heiligen Propheten übertragen wurde bis heute hat die Feindschaft seiner Feinde, der Umayyaden, von diesem Tag bis zum heutigen Tag ange-

100 Interview mit Rıza am 28. 8. 2011, in Dersim, Kreis Hozat, Türkei.

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dauert. Nach dem Heiligen Propheten fiel der Heilige Ali. Der Heilige Hasan wurde vergiftet und starb. Der Heilige Hüseyin fiel in Kerbela, das ist das schwarze Gesicht des Islams. Vierundachtzig Jahre blieben die Umayyaden an der Macht und ermordeten die Angehörigen des Stamms der ehl-i beyt. Sechshundert Jahre gab es die Herrschaft der Abbasiden, sie verübten auch Massaker. Zweihundert Jahre lang haben die Seldschuken, sechshundert Jahre die Osmanen die gleiche Gewalt ausgeübt, seit einhundert Jahren ist die Republik gekommen und hat dasselbe gemacht, also diese Massaker sind keine Angelegenheit von heute. Die wahren Schuldigen sind nicht die, die Haq anerkennen, sondern die, die nicht wissen, was es bedeutet, die Schöpfung von Haq umzubringen. Nicht nur achtunddreißig, wir haben dieses Leid immer schon erfahren. Hier wurden achtunddreißig Schätzungen zufolge vierzigtausend Leute umgebracht. Das haben eben Leute getan, die Haq nicht fürchten. I: Sie waren achtunddreißig vier Jahre alt? Was geschah mit ihrer Familie? Rıza: Ich erinnere mich, dass ich damals vier Jahre alt war. Mein Großvater wurde vom Militär umgebracht, siebenunddreißig Personen in meiner Familie sind umgebracht worden, wir sind deportiert worden. Schuld war es, Dede zu sein (…). An dieser Darstellung von Rıza ist bezeichnend, dass er unter der Gewalt in der Region Dersim ausschließlich jene versteht, die der alevitischen Gruppe zugefügt wurde, mit der er sich selbst identifiziert. Durch diese Ausschließung lässt er nicht nur die Gewalt, die die türkische Regierung gegen die armenische Bevölkerungsgruppe in Dersim in den Massakern 1894–96, im Genozid 1915 und in den Gewaltverbrechen 1938 ausübte, in seinem Sprechen aus. Er verschweigt zugleich auch die Gewalt, die Aleviten gegen Armenier in Dersim während der Massaker 1894–96 und im Genozid an den Armeniern 1915 ausübten. Sein Verschweigen kann auf ein sedimentiertes verschwiegenes Wissen der Täter zurückgehen, dass er unbewußt fortsetzt, es kann auch ein bewußt selektives Verschweigen sein, mit dem er andere Opfergruppen staatlicher Gewaltverbrechen unerwähnt lässt, in beiden Fällen ist es kongruent zum hegemonialen habitualisierten Leugnungsdiskurs. Seine ausweichende verbale und nonverbale Reaktion auf meine Fragen nach Beziehungen seiner Familie zu Armeniern und seine verstummende, abbrechende Rede lassen beide Deutungen zu. Zudem verschweigt Rıza den spezifischen Charakter der Gewaltverbrechen in Dersim 1938, die sich gegen die gesamte Bevölkerung richteten, indem er sie in den Deutungsrahmen der alevitischen Leidensgeschichte einordnet, die sich weder räumlich noch temporär begrenzt gegen die Gruppe der Aleviten richtete. Damit beabsichtigt er, sich als Zugehöriger der Prophetenfamilie der ehl-i beyt

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herauszustellen. Vor diesem Deutungsmuster kann er die Erfahrung von Leid und Verlust seiner Vorfahren als eine regelhafte, typisch alevitische und als spezifische Leidensgeschichte der Dedes deuten und erzählen, sodass sie ihm zur Bestätigung seiner heiligen Abstammung dient. Allerdings verhält sich sein Rekurs auf das Kerbela-Erzählmuster nicht nur kongruent zum Leugnungsdiskurs. Zugleich nimmt er darüber eine Inversion des offiziellen türkischen Leugnungsdiskurses zum Genozid 1915 und den staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 vor. In der Position eines Richters klagt er als die wahren Schuldigen diejenigen an, die die göttliche Gerechtigkeit Haq nicht anerkennen, sondern Gewalt gegen Unschuldige ausüben. Somit erhebt er den traditionellen Anspruch der alevitischen Dedes darauf, die weltliche Vertretung der göttlichen, ewigen Gerechtigkeit zu sein. In dieser Rolle des Richters konkurriert er mit der nationalen türkischen Justiz, die auf dem Leugnungsdiskurs des Genozids von 1915 aufbauend auch die Strafverfolgung der Täter der staatlichen Gewaltverbrechen von 1938 unterlässt. Eine weitere Form von Schweigen besteht in taktischem Verschweigen, das in den Erzählungen in Hinsicht auf Sprachen begegnet. Wie eingangs erwähnt, sind Sprachen konstitutiv für Erinnerungserzählungen und daher maßgeblich für die mündliche Tradition der Dedes. Celal aus dem Derviş Cemal ocak erinnert sich an die Bedeutung von Sprachkenntnissen und deren Rolle in der intergenerationalen Überlieferung von Wissen in seiner Familie. I: Welche Sprachen sprach dein Großvater? Celal: Mein Großvater? Mein Großvater sprach Kirdaski [Kurmanci], er sprach Zazaki, er sprach Türkisch und er sprach auch Armenisch. Mein Vater sprach dieselben Sprachen. I: Hm. Sprach er auch Arabisch und Farsi? Celal: Er sprach auch Arabisch, mein Vater sprach nur wenig Arabisch. Hm. Und ich habe leider diese Sprachen […]. Kirdaski, Zazaki und Türkisch habe ich auch gut übernommen. Also, die anderen Sprachen habe ich nicht richtig übernehmen können. Ich habe mich nicht darum bemüht, also, wenn ich gewollt hätte, hätte ich sie [die Sprachen] wie sie [sein Großvater, sein Vater] gelernt. Allerdings haben sie es verheimlicht, dass sie diese [Sprachen] konnten, also, äh, sie haben es verheimlicht. Sie haben nicht gesagt, wir können so viele Sprachen. Eines Tages sagte mein Vater sogar zu mir, mein Sohn, wenn du vier Sprachen kannst, dann heißt das, es gibt vier Stämme, wenn du fünf Sprachen kannst, gibt es fünf Stämme. Also, sie sind sehr wichtig, achtet darauf, lernt sie, sagte er. Aber wir haben dem keine Beachtung geschenkt. Und dann ist meine Jugend nicht unter so guten Bedingungen verlaufen.

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Celal erinnert sich an die große Bedeutung, die sein Vater der Kenntnis von anderen Sprachen beimaß. Demnach verdeutlichte ihm sein Vater, dass die Akzeptanz von Sprachen die Existenz der Sprechergruppe anerkenne und deren Kenntnis bedeute, sich mit ihren Sprechern austauschen und sich deren Wissen erschließen zu können. Mit den anderen Sprachen, die in Dersim in osmanischer Zeit gesprochen wurden, spielt er auf Armenisch und Arabisch an, deren Gebrauch durch den Genozid 1915 und die türkische Sprachpolitik in der Republik drastisch eingeschränkt wurde. Diese Sprachen zu lernen, erwies sich für Celal als schwierig, da seine Eltern und Großeltern ihm ihr Sprachwissen verschwiegen, um die Familie vor Verfolgung zu schützen. Als Erklärung dafür, weshalb ihn sein Vater nicht initiierte, räumt Celal eine selbstkritische Bemerkung darüber ein, dass er sich nicht genügend für den Spracherwerb interessiert und keine ausreichende Neigung gezeigt habe, weshalb er nicht die Voraussetzungen für die Dede-Nachfolge und für die Überlieferung des Wissens an ihn erfüllt habe. In dieser Selbstbezichtigung verschiebt er die Verantwortung für den Traditionsbruch auf sich. Während das strategische Verschweigen der Sprachkenntnisse seiner Verwandten dem Schutz der Familie diente, wurde es für Celal zu einem unüberwindbaren Hindernis, das ihm den Zugang zu der traditionellen Überlieferung versagte. Die Strategie seiner älteren Verwandten, sich durch ihr Verschweigen vor weiterer staatlicher Verfolgung und Gewalt zu schützen, ist für ihn nur schwer nachvollziehbar, da er sich selbst dadurch aus der Überlieferungskette ausgeschlossen sieht. Der Statusverlust der Dedes, der mit dem Abbruch der Überlieferungskette einhergeht, begründet in seiner Wahrnehmung die ungeklärte und damit ungeschützte gesellschaftliche Position der Dedes in Dersim. Nachdem hier die Rolle des strategischen Verschweigens von Sprachen für die mündliche Überlieferung beleuchtet wurde, wird im Folgenden dazu in den Blick genommen, wie Celal die Schweigegebote seines Vaters zu bestimmten Wissensinhalten einordnet. Dazu äußert er sich in einer Kindheitserinnerung: Celal: Ich ging neben meinem Vater ins Dorf. Neben unserem Vater haben wir keinen Laut von uns geben dürfen, also das war nicht möglich. Wenn du etwas Falsches sagtest, dann warf mein Vater uns einen solchen Blick zu, in Ordnung, wir haben also aufgehört zu reden. Er sagte nicht, redet nicht, das ist falsch, oder so etwas. Mit einem Blick haben wir verstanden. Wenn wir später sagten, warum hast du mich dort so angesehen, dann sagte er, weil du etwas Falsches gesagt hast, habe ich dich so angesehen. (…) [ / ] Nach 1965, 1970, gab mein Vater sein Dedetum ganz auf. I: Hm, hm.

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Celal: Er sagte so etwas; Sohn, es gibt kein helal. In dem Gewinn von Allen gibt es auf jeden Fall haram. Wir haben das bis jetzt hingenommen, lass es uns von nun an nicht mehr hinnehmen! Also, lass uns aus eigener Kraft arbeiten, lass uns im Schweiße unseres Angesichts arbeiten! Es gibt nichts Besseres als den Schweiß unseres Angesichts. Nun, so haben wir das auch gemacht. In seiner Erzählung deutet Celal die spezifischen Schweigegebote seines Vaters als ein wichtiges pädagogisches Mittel. Abhängig vom Ort, im privaten oder öffentlichen Raum, vermittelte sein Vater nonverbal Regeln für das wahre Sprechen an seine Kinder. Im öffentlichen Raum erteilte er für falsches Wissen Schweigegebot. Jedoch widmet Celal seine Aufmerksamkeit weniger den Regeln, nach denen sein Vater die Aussagen differenzierte als einem anderen Aspekt dieser Erziehung zum strategischen Schweigen. Während er seine Abhängigkeit von den Schweigegeboten seines Vaters ausdrückt, hebt er zugleich seine Anpassung daran als positives Zeichen der engen Beziehung zwischen ihm und seinem Vater hervor. Das gemeinsame Schweigen bedeutet für Celal ein Verhalten, dass er sich aneignen und über das er sich seinem Vater annähern konnte. Durch die fehlende Initiation in das Wissen der Dedes blieb ihm eine verbal artikulierte Verständigung mit seinem Vater verwehrt. Das Verschweigen von potenziell gefährdendem Wissen erscheint in dieser Deutung von Celal als ein sozial codiertes Verhalten in der Bevölkerungsgruppe der Dedes. Seit der Erfahrung moderner Gewalt und dem daraus resultierenden Traditionsbruch konnten sich die potenziellen Nachfolger, die nicht in das geheime Wissen initiiert wurden, nur noch konventionell verhalten, indem sie den Regeln des Redeverbots folgten. Das Schweigen und das stille Redeverbot seines Vaters versteht Celal dabei als Schutzmaßnahme angesichts der erschwerten Bedingungen, unter denen sie als Dede-Familie seit den staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 lebten.101 Ohne das Wissen zu kennen, worüber die älteren Dedes entschieden hatten, zu schweigen, erfüllt er das Redeverbot formal, wenn auch in dem Bewusstsein, dass ihm der Inhalt fehlt, um es an seine Nachfolger weitergeben zu können. Celal sieht die einzige Möglichkeit, sich in die Linie seiner Vorfahren zu stellen und deren Tradition fortführen zu können, in der Fortsetzung ihres Schweigens. Mit dieser Kindheitserinnerung vom Redeverbot seines Vaters verknüpft Celal eine Erinnerung an sein Erwachsenenalter, als ihm sein Vater erklärte, dass er angesichts der regel- und rechtlosen Gegebenheiten sein Dede-Amt aufgebe und seinen Sohn zu selbigen Verhalten auf-

101 In seiner Erzählung interpretierte Celal das Schweigen seines Vaters als Schutzmaßnahme für seine Familie.

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forderte. In dieser assoziativen Kette seiner Erinnerungen tritt das kollektive Schweigen als Annäherung an seinen Vater und das Wissen seiner Vorfahren hervor. Im folgenden Ausschnitt spricht Celal nicht von einem verweigerten Sprechen, wie in den bisher betrachteten Formen von Verschweigen, sondern von einem Schweigen, das durch den Mangel an Worten bedingt ist. Infolge einer extremen Verlusterfahrung durch die Gewalt des Militärputsches 1980 gegen seine Familie hörte sein Vater auf zu sprechen. Celal erinnert sich an die Umstände, die seinen Vater zu diesem Entschluss veranlassten und an dessen Schweigezeit: Celal: Danach wurde unser Leben auf den Kopf gestellt, meine Schwester. (–) Mein Vater sprach fünfzehn, zwanzig Jahre lang mit niemandem mehr, nur mit Zeichen. Er gab alles auf. (–) In den letzten Monaten von 1980, im Monat Oktober, ereignete sich der Vorfall, da wir den Prozess 1981 eröffneten, wird der Vorfall für [das Jahr] 1981 angezeigt. (–) Später hat mein Vater \ Vielleicht gab es Leute, die davon profitieren wollten. Mein Vater sah sich ihnen gegenüber. Mein Sohn, ich habe es Allah überlassen. Und wirklich hatte er es Allah überlassen. Fünf, zehn Jahre, bis 1992 dauerte der Prozess an. Während der Zeit des Prozesses trat mein Vater nicht als Kläger auf. Also, wir sind so hingegangen und sagten, was wir gesehen hatten. Was wir gesehen hatten, das sagten wir. Wir haben weder Ahmet noch Mehmed verleumdet. Es wurden die Aussagen von ungefähr einhundertzwanzig Leuten aufgenommen. Glaub mir, wir wussten den Namen von diesem Offizier nicht, also wir wissen ihn nicht. Die Soldaten, deren Aussagen aufgenommen wurden, gaben wohl seinen Namen an. Wir wissen es nicht. Vor zwei, drei Jahren sagten sie sogar, diesen Menschen hätten sie erschossen. Weil wir den Namen nicht wussten. Wir wissen doch gar nichts. Ist es dieser Mensch, ist er es nicht? Also, wer hat es getan, was hat er getan, was ist passiert? Auch das wissen wir nicht. Wir haben es nun einmal an Allah übergeben und so geht es dahin. (–) Mit diesem widersprüchlichen Leben sind wir wiederum aus dem Dorf fortgezogen. Mein Vater ist in ein anderes Dorf, nach X gegangen und ich bin nach Y gegangen. Meine Familie wurde in alle Winde verstreut. Ich lebte in Y, ich blieb ein, zwei Jahre. Im dritten Jahr bin ich nach Z

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gekommen und geblieben. Ich bin geblieben, wie auch mein Vater. Später ist er nach V gekommen und hat sich in diesem Haus niedergelassen. Danach sind wir auch hergekommen und sind wieder mit meinem Vater zusammengezogen. Wir betrieben wieder Viehhandel. Also, wir haben unser Brot auf dem Rücken des Viehs verdient. Am Morgen zogen wir los, wie Hirten. Wir waren unsere eigenen Hirten. Wir zogen morgens los und kehrten mittags wieder zurück. Wir gingen mittags los und kamen abends wieder, bis in die Zweitausender [Jahre], dann haben wir wieder ein Leid erlebt. Celals Erzählung von dem extremen Verlust seiner Familie, den sie durch den Militärputsch 1980 erlitten, ist in der narrativen Struktur durch Auslassungen repräsentiert, die in Form von mehreren längeren Pausen seine Rede durchsetzen. An zwei Stellen in der Erzählung von Celal folgen Pausen direkt auf die Äußerung seines Vaters über seinen Rückzug aus dem Dede-Amt. Demnach hätte zuerst sein Vater und dann hätten sie beide „es ganz Allah überlassen“. Nachdem Celal ihre gemeinsame Resignation und Aufgabe der Vermittlerrolle zwischen Menschen und Göttlichem erklärt, schweigt er selbst. Während dieser Schweigezeit seines Vaters, die Ausdruck wortloser Trauer und Hilflosigkeit war, forderte ihn die türkische Justiz auf, nach Tunceli zu kommen, um vor Gericht auszusagen. Celals Vater verweigerte jedoch jegliche Aussage, um nicht gegen jemanden aus seiner Gemeinschaft aussagen zu müssen. Das Schweigen seines Vaters vor der staatlichen Gerichtsbarkeit erfüllt eine Funktion, die der traditionellen Rolle der Dedes entspricht. Denn das Schweigen stellt die einzige Möglichkeit dar, die Gemeinschaft gegenüber der staatlichen Justiz zu schützen. Eine Aussage eines Dedes vor Gericht, mit der er jemanden aus seiner Gemeinschaft hätte belasten können, wäre vor dem Hintergrund der früheren Position der Dedes als Richter wie ein Verrat an der Gemeinschaft erschienen. Da eine Aussage vor Gericht unmöglich war, da sie der staatlichen Ordnung, nicht aber der Aufrechterhaltung der Ordnung in Dersim gedient hätte, wie sie vormals von den Dedes vertreten worden war, interpretiert sein Sohn das Schweigen seines Vaters als Verweigerungshaltung und als das einzig mögliche Verhalten gegenüber der staatlichen Verfolgung und Gewalt, der sie als Dedes ausgesetzt waren. Die wiederholte Erfahrung staatlicher Gewalt zwang seinen Vater zur Aufgabe des Amts des Wissensträgers der Gemeinschaft und führte zu seinem Schweigen. In der Konsequenz beschreibt Celal seinen Vater und sich mit der Metapher von „Hirten, die ihre eigenen Hirten sind“. Der Hirt, der seine Schafe verloren hat, gleicht einem spirituellen Wegführer ohne Anhänger, der nur noch Verantwortung für sich selbst trägt und dessen alltägliche Aufgabe sich

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auf seinen Selbstschutz beschränkt. Das Schweigen von Celals Vater steht in diesem Fall für ein nicht mehr formuliertes Wissen der Dedes, da seine Rolle aufgrund systematischer und langfristiger Verfolgung und Gewalt nicht mehr als allgemeingültig und sinnstiftend angesehen wird. Aus der hier betrachteten Reihe von Aussagen zu Schweigen lassen sich verschiedene Formen von Schweigen differenzieren. Das ausschließliche Reden der Dedes aus Dersim über Gewalt, die ihre Familien und die alevitische Gemeinschaft während den Verbrechen 1938 in Dersim erlitten, stellt ein selektives Verschweigen dar. Indem sie ihre Gewalterfahrungen vor der konventionellen Deutungsfolie der alevitischen Leidensgemeinschaft erzählen, folgen sie insofern dem hegemonialen Leugnungsdiskurs über den Genozid 1915, als dass sie durch das Reden über ihr Leid als Aleviten ihre Verantwortung im Genozid an den Armeniern 1915 in Dersim und die armenischen Opfer in Dersim 1938 verschweigen. Nach den Gewaltereignissen verschwiegen die Dedes ihre Kenntnisse der armenischen Sprache und brachen die Überlieferung von spezifischem Wissen ab, um ihre Gemeinschaft vor weiterer Verfolgung zu schützen. Von ihren Nachkommen wird dieses taktische Verschweigen von spezifischen Wissensinhalten weniger als Schutz der Gemeinschaft und Regulativ des wahren Wissens, sondern vielmehr als ihre Ausschließung aus der traditionellen Überlieferungskette aufgefasst. In dieser Sicht verwehrt ihnen dieser Ausschluss Legitimität und damit Sicherheit. Wenn sie mit der staatlichen Rechtsprechung konfrontiert sind, geraten die Dedes, als vormalige Vertreter der göttlichen Gerechtigkeit für ihre Gemeinschaft, in einen Aussagezwang, dem sie sich nur in ein verweigerndes Schweigen entziehen können. Die notgedrungene Entscheidung, ihr Wissen vor der Gemeinschaft und ihren Söhnen, als potenziellen Nachfolgern, zu verschweigen, äußert sich in einem argumentativ geführten inneren Konflikt der potenziellen Nachfolger. Für diejenigen Nachkommen, die sich weiterhin der inneren Offenbarung verpflichtet sehen, lässt sich eine Kontinuität zu ihren Vorgängern nur in einer formalen Fortsetzung von deren innerem Rückzug in das Schweigen aufrechterhalten. Neben diesen Formen von defensivem, selektivem und verweigerndem Verschweigen, sind die Erzählungen auch von einem Schweigen als dem Fehlen von Worten angesichts extremer Verlusterfahrungen durch erlittene Gewalt geprägt. Diese Form des Schweigens als ein Verstummen derer, die Gewalt erlitten hatten, äußert sich in ihren Erzählungen durch Satzabbrüche und Schweigepausen. Anschließend an diese Abbrüche der Rede folgen Erläuterungen über die Konsequenzen, die das Opfer und anschließend dessen Nachkommen aus der erlittenen Gewalt zogen. Die wichtigste und verbreitetste Reaktion besteht

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in dem Rückzug der Dedes aus ihrer bisherigen gesellschaftlichen Position, zu dessen Erklärung sie auf die traditionelle Vorstellung von der allgemeinen Schutzlosigkeit der Dedes verweisen, worauf die Studie im Weiteren in der Aussagenreihe zu Gerechtigkeit noch zurückkommt.

7.2.3 Legitimationskonflikt In den autobiographischen Erinnerungserzählungen der Dedes aus Dersim stellt das Reden über den Legitimationskonflikt eine weitere Reihe von Aussagen dar, die sich auf die Transformation ihrer Rolle beziehen. Zuerst betrachtet die Studie wiederum die Erzählung von Celal aus dem Derviş-Cemal ocak, der sich daran erinnert, wie sein Vater ihm die Überlieferung von geheimem Wissen aus der religiösen Praxis verweigerte: I:

Also, kannst du von dem Geheimnis erzählen, das die Dedes mit sich tragen? Was ist das für ein Geheimnis? Hat es mit Religion, Geschichte, Politik zu tun? Seit wann gibt es dieses Geheimnis im Alevitentum? Celal: Das Geheimnis der Dedes gibt es schon seit sehr langer Zeit, meine Schwester. I: Hm. Celal: Es sind mit dem Alevitentum verbundene Dinge, also, die geheim bleiben sollten. Auch Dinge, die die Geschichte und Religion betreffen, hielten sie [geheim]. Denn es gab solche Geheimnisse, die in cems. Ich habe das in Erzincan in einem cem erlebt. Es waren drei, vier Dedes dort, auch mein Vater war da und Hüseyin war da. Es gab auch zwei Dedes aus Erzincan, einer war von Ağuiçen, einer von Baba Mansur. Sie führten in X einen cem durch. Also, sie begannen abends um sieben und hörten um eins auf. Die Gebete brachen nicht ab, sie bewegten sich und sahen einander immer so an, […], und sagten hala, hala. Nach dem cem, nachdem sie ihre saz abgelegt hatten, sagten sie, alle sollen sich bequem hinsetzen, also man kann Zigaretten rauchen. Nachdem sie diese Worte gesprochen hatten, sahen sie einander an. Also, es drehte sich, es drehte sich, sie sahen einander an, niemand sagte etwas. Es ist nicht gut zu übertreiben, um zwei Uhr, gegen drei, also für zwei Stunden, ich erinnere mich an zwei Stunden, gab keiner einen Ton von sich. Wir hatten einen mürid aus X, er liebte meinen Vater sehr, sein Name war Musa, […]. Er ging und stieß meinen Vater leicht an und sagte auf Kurdisch: o merdo, also, er ist gestorben, sagte er. Also, er ist gestorben, sieh, er sagt auch nichts. Einer namens Mustafa sagte zu ihm, […]. Also, er ist nicht gestorben. Wenn er sterben würde, wärst du gestorben. Sie

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sind unsterblich, sagte er. Und dank seines Anstoßens, nach zwei Stunden, also drei, dreieinhalb Stunden erinnere ich mich, fingen sie um drei an, zu sprechen. Nach drei, vier Tagen habe ich einmal gefragt, ich sagte, Vater, also nach diesem cem, warum habt ihr einander so angeschaut, also, und so geschwiegen, wie tot? Also, eure Körper waren dort, aber eure Seelen müssen woanders gewesen sein, so sah es doch aus. Er sagte, das ist ein Geheimnis, ich kann das nicht sagen. Zunächst schildert Celal die restriktive Vermittlung religiösen Wissens, in das die Dedes durch Initiationsriten unterwiesen wurden, als ein typisches Merkmal der alevitischen Tradition, über das sich die Dedes als dessen Wegführer legitimierten. Anschließend beschreibt er eine rituelle Vertiefung, die sein Vater mit einigen anderen Dedes nach einem cem praktizierte, die an die Praxis der Seelenreise erinnert, wie sie für die zoroastrische Religion überliefert ist.102 In der alevitischen Terminologie wird diese Form der Vertiefung mit dem Begriff tewt bezeichnet.103 Die Ausübung dieser Praxis, die auf einen Zustand veränderter Wahrnehmung zielte, erforderte spezielle Übung. In diesem anderen Bewusstseinszustand konnten sich die Seelen der Dedes von ihren Körpern lösen und zwischen Diesseits und Jenseits (türk. gaib) hin- und zurückreisen. Durch die Praxis des tewt konnten die Dedes Huldwunder, keramet, zeigen, die ihnen zur Legitimation als Träger des göttlichen Segens, bereket, dienten. Meistens standen diese Huldwunder mit Feuer in Verbindung. So konnten die Dedes während des tewt ihre Hand ins Feuer oder in siedendes Wasser halten. Wie Celal das Gespräch der Laien untereinander schildert, lässt darauf schließen, dass es sich beim tewt zumindest in dieser Zeit, um eine ungewöhnliche Praxis der Dedes handelte, die bei den talips Befremden und Beunruhigung hervorrief. Wie sich Celal erinnert, erklärte sich einer der Anwesenden diese Handlung jedoch als Zeichen dafür, dass die Dedes unsterblich seien und daher unversehrt von ihrer Seelenreise zurückkehren würden. Hinsichtlich der Jenseitsvorstellungen, die mit der Praxis der Seelenreisen verbunden sind, erscheint in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass mit dem religiösen Konzept Geheimnis, sır, im Alevitentum der Tod nicht als ein absolutes Ende, sondern als Übergang in eine andere Welt verstanden wird. Viele der lokalen Heiligen in Dersim sind den Legenden nach nicht verstorben, sondern an einer Stelle verschwunden, an der sie „zum Geheimnis wurden“ (türk.: sır olmuş).104 Das Reden vom Geheimnis und dessen Überlieferung ist

102 Gignoux (1981). 103 Gezik (2010, 195). 104 Gezik (2000).

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also eng mit dem Glauben an die Unsterblichkeit der Dedes als Ausdruck ihrer Heiligkeit verbunden sowie auch mit ihrer Fähigkeit, zwischen der hiesigen und der jenseitigen Welt zu wechseln. Daher misst Celal der Unterweisung in die Praxis des tewt zentrale Bedeutung in der Überlieferung an ihn bei. Obwohl er sich erhofft, die Nachfolge seines solchermaßen geschulten Vaters anzutreten, weist dieser ihn zurück. Der zentrale Konflikt zwischen ihm und seinem Vater erwächst Celal aus der ihm verweigerten Initiation in das institutionalisierte Wissen, das ihm zur Legitimation als Angehöriger einer heiligen Abstammungslinie gereicht hätte. Daran anschließend gibt Celal eine Parabel wieder, die ihm sein Vater erzählte, als er ihn unermüdlich drängte, ihm seine Entscheidung gegen eine Überlieferung des entsprechenden Wissens zu erklären: Celal: In der Zeit, als er krank wurde, habe ich gefragt. Also fünfzehn, zwanzig Jahre später habe ich noch einmal gefragt. Er hat mir nichts gesagt, es blieb verschlossen. Er sagte, mein Sohn, du hast einen Garten, wenn du deinen Garten pflegen willst, würdest du einen Arbeiter anstellen. Dem Arbeiter würdest du sagen, wenn du diesen Garten bis zum Abend pflegst, gebe ich dir fünfzig Lira. Aber bevor der Arbeiter die Gartenarbeit nicht fertiggestellt hat, würdest du ihm die fünfzig Lira nicht geben. Wenn er die Gartenarbeit beenden würde, würdest du sie ihm geben. Also wenn du siehst, dass er deine Gartenarbeit beendet hat, gäbest du sie. Er sagte, wenn du das verstanden hast, dann reicht dir das. Also, ich habe es so verstanden: Sind deine Taten, deine Dienste wohl angenommen worden oder nicht? I: Hm. Celal: Sie gaben fortan ihr gutes Gefühl gegenüber den Leuten auf und übergaben ihr Wesentliches an Haq. Ist ihr Handeln, sind ihre Taten angenommen worden, ist ihnen von irgendwoher ein Wohl geschehen? Also, haben sie es machen können? Meiner Ansicht nach kamen sie so dazu. Sonst erklärte er es mir nicht, nur so viel sagte er mir. Wenn du das verstanden hast, dann reicht dir das. Den anderen von uns [Geschwistern] sagte er das auch nicht. Die Parabel erinnert an die im Koran und der Bibel überlieferte Vorstellung von Gott als dem Richter, der über den gerechten Lohn einer Arbeit entscheidet. Im biblischen Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg entlohnt Gott die Arbeiter nicht nach geleisteten Arbeitsstunden, sondern nach ihrem Bedarf. In den Hadithen wird der Betrug eines Arbeiters um seinen Lohn für die erbrachte Leistung verurteilt. In der Parabel von Celals Vater stellt die nicht erbrachte Leistung den Grund dafür dar, den Tagelöhner nicht zu entlohnen. Mit dieser Para-

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bel antwortet Celals Vater ihm auf seine Frage nach dem Geheimnis damit, dass Leistung und Entlohnung vor Gott einander entsprechen. Celal deutet die Parabel seines Vaters dahingehend, dass seine Initiation in das geheime Wissen an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, die nicht erfüllt sind. Da er mit der Verweigerungshaltung seines Vaters ringt, überträgt er die Bedeutung dieser Parabel auf die gesamte alevitische Gemeinschaft, die demnach das Handeln der Dedes nicht mehr entsprechend anerkennen und achten würde, sodass sich die Dedes ganz von ihnen ab- und Gott zugewandt hätten. Somit erklärt er sich die Haltung seines Vaters als eine generelle Reaktion auf die zerrüttete Beziehung zwischen den Dedes und ihren Anhängern, um sie nicht spezifisch in seiner Person begründet zu sehen. Celal ist demnach überzeugt, dass sein Vater ihn vollständig in das religiöse Wissen initiiert hätte, wenn die Beziehung zwischen Dedes und Anhängern bestehen geblieben wäre. Dies geht aus seiner abschließenden Bemerkung hervor, in der er seine grundsätzliche Eignung für die Nachfolge im Dede-Amt durch seine Kenntnis dieser Parabel bestätigt sieht und sich darüber von seinen Geschwistern als Anwärter auf die Nachfolge abzuheben versucht. Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen der Initiation in das Geheimnis und die dafür notwendig zu erbringenden Leistungen beschreibt auch Kazım, geboren 1962, aus dem Baba Mansur ocak, der ebenfalls von dem Vergleich mit den Tagelöhnern spricht.105 I:

Es wird gesagt, im Alevitentum gäbe es ein Geheimnis. Also, bei den Dedes und pirs ist ein Geheimnis verborgen. Was ist wohl dieses Geheimnis? Kazım: Das Geheimnis ist eben eine Hilfe, die von den Vorfahren übernommen wird. Es ist ein Zeichen, es ist eine Weisheit, genauer gesagt, weißt du? Nun, es wurde früher erzählt, weißt du? Die talips, manche talips sagten zu ihren pirs, mein pir hilf mir, hilf, sagten sie. Mein talip, leiste einen Dienst, einen Dienst, weißt du? Nun ist es so, wenn ein Mensch an einem Ort einen Dienst leistet, ja, dann nimmt er auch etwas dafür von der anderen Seite, weißt du, also? Wenn du also am Morgen, wenn du zur Arbeit gehst, du bist ein Tagelöhner, du bist ein Arbeiter, wenn du tagsüber arbeitest, wirst du am Abend deinen Tageslohn entgegennehmen und zurückkommen, nicht wahr? Aber wenn du morgens hinaus auf die Straße gehst und abends wiederkommst, wird dir jemand etwas geben? Niemand wird dir etwas geben, nicht wahr? Du hast es

105 Interview mit Kazım am 26. 8. 2011, in Dersim, Kreis Mazgirt, Türkei.

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dir nicht verdient. Nun, deswegen wird ein jeder Mensch auf eine Weise an einem Ort einen Dienst leisten. Aber wenn du dem Weg des Alevitentums, dem Weg der ehl-i beyt dienst, also vollständig, dann wirst du die Belohnung bekommen, weißt du? Du wirst dein Gebet erhalten und daraus besteht dieses Geheimnis, weißt du? Das Geheimnis. Auch Kazım spricht von dem Dienst eines Tagelöhners, der entsprechend des Tauschprinzips an seiner Leistung gemessen entlohnt wird. Als Belohnung für die vollkommene Erfüllung der Aufgabe, erläutert Kazım, erhalte der Arbeiter ein Gebet, worin ein Verweis auf eine rituelle Anerkennung enthalten zu sein scheint. In seiner Darstellung entspricht das Geheimnis der Entlohnung der Gläubigen für deren Loyalität in der Glaubenspraxis durch die Geistlichen. Diesen Gleichnissen von Gerechtigkeit liegt das Prinzip des Tauschs zugrunde. Für Jacques Derrida ist das Geben auf weltlicher Ebene ausschließlich als Tausch zu begreifen, da es immer von Beherrschung und Bemessung bestimmt sei, im Unterschied zu der Maßlosigkeit und Unberechenbarkeit der transzendenten Gabe.106 In beiden Gleichnissen werden aufgrund der Bedingungen, an die der Erhalt der Gabe geknüpft wird, Tauschsituationen beschrieben. Dabei bleiben die beteiligten Parteien und der Zeitpunkt der Erteilung der Gabe offen, sodass eine transzendente Gabe ohne erwartete Gegengabe möglich bleibt. Auf die Bedeutung der Gerechtigkeitsvorstellung dafür, das Dede-Amt aufzugeben, kommt die Untersuchung noch in der Aussagenreihe zur Gerechtigkeit zurück. Bisher wurden die Repräsentationen von verweigerter Überlieferung vonseiten der Dedes an ihre potenziellen Nachfolger untersucht. Die Aussagen über den Überlieferungskonflikt beziehen sich aber auch auf die Ablehnung der traditionellen Überlieferung vonseiten der Nachfolger selbst. Dafür wird der folgende Ausschnitt aus der Erinnerungserzählung von Hassan aus dem Derviş Cemal ocak, geboren 1959 im Landkreis Ovacık in der Provinz Tunceli, herangezogen, die ich in Hozat aufnahm.107 Darin reflektiert Hassan darüber, wie er mit dem Wissen umging, welches sein Vater weitergab: Hassan: Denn, was aus der Geschichte kommt, was beschrieben kommt, was verziert kommt, was sich der Moral und den Werten, dem Glauben und den Werten verschreibt, ist die Rückschrittlichkeit, ist der Feudalismus. Feudal zu sein bedeutete, rückschrittlich zu sein. Da es so ist, trittst auch du heraus und stellst dich dem entgegen. Äh, nach all

106 Waldenfels (1997, 385–409). 107 Interview mit Hassan am 25. 8. 2012, in Dersim, Kreis Hozat, Türkei.

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dem war mein Vater eigentlich äh, also, äh, obwohl er das Pir-Sein, die Mission sehr gut kannte. Ich habe es nicht viel ausgeübt, aber ich war gleichgültig. Er war ein guter Prediger, äh, er war ein guter Ratgeber, er war ein guter Geschichtenerzähler. Zum Beispiel beriet er alle […]. Bei uns gibt es eben eine Sache, die Buyruk genannt wird, der Buyruk des […]. Ganz wenige Leute verstehen etwas [davon]. Er hatte ihn Wort für Wort auswendig gelernt, an jedem Punkt machte er äh, zeigte er sich verständig. Er hatte den Koran gelesen. Also, er war ein Berater, er war alles. Und unter diesen Umständen lernten wir die Feinheiten dieses Lebens, die Details im praktischen Leben, wie einen Teil des Lebens kennen. Aber wir haben uns überhaupt nicht interessiert. Einige Dinge haben wir viel später erfahren. Also, zum Beispiel, äh, dass meinem Vater selbst, der seine Kultur mündlich übertrug, […] Probleme [entstanden], erfuhr ich im Jahr 1990. Er sagte mir der ich […] mein Lehrer, denn diese klugen Dinge zu erklären, verstanden wir doch nicht. Wir wollten es nicht lernen, denn wir waren doch klein. Denn wenn er auch ein ganz gewöhnliches Wissen vermittelte, war es doch ein Wissen, das ihm selbst übertragen worden war. Es war nötig, dieses weiter zu vermitteln. Das ist eben der Verlust, unser Anteil an dem Verlust. Es ist ein großer [Verlust], diese Werte nicht zu überliefern. In der Argumentation von Hassan ist das rhetorische Mittel der concessio, des Eingeständnisses, prägend, mit dem er rechtfertigt, dass er die traditionelle Wissensüberlieferung seines Vaters ablehnte. Zwar nimmt er Argumente auf, die nicht dem hegemonialen Diskurs entsprechen, wenn er sich auf den Wert der Überlieferung seit Generationen beruft und dessen Verlust bedauert. Er schränkt die Gültigkeit dieser Gegenargumente allerdings sogleich wieder ein, indem er hegemoniale Argumente anführt und die Gegenargumente dadurch entkräftet. Nachdem er seine zunächst negative Haltung gegenüber dem Wissen seiner Vorfahren mit der Abwertung der mündlichen Tradition im offiziellen Diskurs erklärt, bedauert er, deshalb das Wissen verloren zu haben, das ihm sein Vater zu vermitteln versuchte. Seine Wertschätzung für das Wissen seines Vaters habe er erst entwickelt, als er die Probleme wahrnahm, die dessen Überlieferung für seinen Vater bedeutet hatten. Daraufhin gelangte er zu der Einsicht, dass eine Verbindung zwischen der systematischen Verfolgung der Dedes von staatlicher Seite und der Verfolgung durch linksmilitante Gruppen bestehe. Hassan erkennt zwar die Persönlichkeit als kennzeichnenden Aspekt für die traditionelle Überlieferung an, hält aber deren fehlende schriftliche Dokumentation für den Grund ihres Verlusts.

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Die Nachkommen lehnten das mündlich überlieferte Wissen, im Anschluss an hegemoniale moderne Diskurse, ab. In diesem Ausschließungsprozess verlaufen die zwei miteinander konkurrierenden nationalistischen Diskurse, der türkische und der kurdische, kongruent und verstärken einander. Ihr Zusammenwirken wird auch im folgenden Ausschnitt deutlich. Die Erinnerungserzählung von Haydar aus dem Pilvenk-ocak, geboren 1956 in einem Dorf im Landkreis Pertek in der Provinz Tunceli, zeichnete ich in seinem Garten auf:108 I:

Wovon hat Ihre Großmutter am meisten erzählt? Also durch was wurde sie am meisten beeinflusst? Haydar: Das ist jetzt eine Dings Frage. Wie kann ich das sagen? Als erstes, so kann ich es sagen, also meine Großmutter wurde über hundert Jahre alt und kannte keinen Arzt. Was ein Arzt ist, was er macht, für was er gut ist. Meine Großmutter lebte hundert Jahre und wusste nicht, wer ein Arzt ist, wofür er gut ist. Allerdings hatte sie, wie ich eben sagte, ihren Glauben, ihre Kultur. Zum Beispiel versuchte mein Vater die Dinge, die er von seinem Großvater übernommen hatte, in seinem Leben zu leben und sie in passender Weise zur Grundlage seines Lebens und Glaubens zu machen. Zum Beispiel lässt sich das bei uns auf Kurdisch einfacher ausdrücken. Na ra baba dede me. Also, dieser Weg ist von unseren Großvätern und Urgroßvätern zu uns gekommen. Ihr wisst, im Alevitentum ist der Weg wesentlich. Dieser Weg ist Kultur, Tradition, Bekenntnis, Glauben, er entspricht so einer ganzen Reihe von Dingen. Das war in ihrem Leben, lass es uns so sagen, bei uns gibt es das nicht, aber in ihrem Leben hatten diese besagten Dinge, die alle als Werte wahrgenommen wurden, sie hatten alle in ihrem Leben einen Platz. Ihr werdet sagen, wie war das? Es gab sie in den Beziehungen zu den Nachbarn. Es gab sie in den Beziehungen des Einzelnen zu einer anderen Gesellschaft, in den gesellschaftlichen Beziehungen, in den Beziehungen zu Menschen. Es gab sie in den Beziehungen zur Natur. Zum Beispiel hätten sie einen alten Baum nicht gefällt. Das war ein Glaube. Vielleicht würdet ihr das unterschätzen, aber überlegt doch mal, wie sehr dieser Glaube in Hinsicht auf die Natur, in Hinsicht auf die Lebewesen Dings ist, nicht wahr? Zum Beispiel würden sie einen klitzekleinen Käfer nicht töten. Diese Gegend, denkt mal, wir lernen die Philosophie erst neu kennen, wir beginnen sie zu begreifen. Diese Orte gehörten nicht ihnen allein, sie selbst lebten vorübergehend mit dem Ganzen, mit den Käfern, mit den Schlan-

108 Interview mit Haydar am 13. 8. 2011, in Dersim, Kreis Pertek, Türkei.

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gen, mit den Bäumen, mit allen Lebewesen zusammen, als so einen Ort nahmen sie es wahr. Sie besaßen einen solchen Glauben. Dementsprechend haben die unsrigen zum Beispiel keine schwarzen Schlangen umgebracht, also die kälteste Sache. Das war, wodurch sie am meisten geprägt wurden. Glaube, Kultur, diese Dinge, an die sie in ihrem Leben glaubten, also eine dementsprechende Haltung. Denkt mal, ungefähr bis wohin du deine Hand austreckst, so lebten sie, eins zu eins. Sagen wir, es sollte nicht nur so sein, sie lebten in ihrem eigenen Leben das Gesagte, beendeten es und gingen. Haydars Problematisierung der Überlieferung seiner älteren Verwandten ist zwischen zwei Aspekten aufgespannt, die beide verschiedene Konzeptionen von Raum und Ort beinhalten. Der größte Unterschied zwischen seiner Generation, die er damit zugleich kategorisch von der Generation der Älteren trennt, besteht für ihn in der verschiedenen Art, das Leben wertzuschätzen. Für die Älteren war die Vorstellung handlungsleitend, dass sie die Welt mit allen anderen Lebensformen als temporäre Gäste teilten. Demgegenüber bemerkt Haydar, dass das Weltbild seiner Generation eine solche Vorstellung nicht kenne. Zu Beginn seiner Erzählung hatte er diesen empfundenen Bruch in der Überlieferung folgendermaßen geschildert: Haydar: Unsere Großväter und Väter lebten, wie gesagt, inniglich in ihrem ihnen eigenen tiefen Glauben und Leben. Sie haben uns so zurückgelassen, also. Wir können dieses Leben nicht leben. Denk an ihren Glauben, ihre Frömmigkeit, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. In seiner Wahrnehmung verbindet Haydar ein Gefühl der Verlassenheit seiner Generation mit dem Verlust des Glaubens, den die Älteren mit ihrem Ableben mit sich fortgenommen hätten. Diese Wahrnehmung ist Ausdruck seiner Dissoziation vom holistischen Weltbild seiner Vorfahren. Hiervon zeugt auch seine anschließende Schilderung darüber, wie der Bruch der Überlieferung in seiner Familie verlief, wie er ihn heute deutet: I: Über wen von eurer Familie wurde am meisten erzählt? Haydar: Über meinen Vater und über meine Großmutter. Wenn du heute die Bauern fragst, dann heißt es so, ich denke jetzt daran, ich verstehe es erst jetzt. Meine Großmutter hat ihre eigenen Kinder und ein Waisenkind großgezogen. Sie hatte zwei Söhne und drei Töchter. Jetzt sind sie alle, wen du auch fragst, ihre Kinder zeigen sie wie ein Musterbeispiel vor. Auch mein Vater […], wie gut, dass ich zusammen mit meinen Kindern […], er starb im Jahr 2001. Wir haben für die Verhält-

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nisse in unserer Gesellschaft keine normale Vater-Sohn-Beziehung erlebt. Zwei Freunde, Geschwister […] wir übten sogar noch Druck auf ihn aus, entwickelten eine dominierende Beziehung und entfernten uns darüber von seinem Leben. Er war uns bei diesem Thema unterlegen. Sagen wir, mein Vater erfüllte lückenlos die Xıdır – Fastenzeit nach dem alevitischen Glauben, bis zu der Zeit, in der wir Linke wurden. Aber unserem Links-Sein, unserer materialistischen Sichtweise war er mit seinem Gottesverständnis, mit seinem Glaubensverständnis ein wenig für dieses Thema unterlegen, also. Was zum Beispiel? Ein wenig gibt es in unseren Bräuchen und Sitten auch die Anbetung der Natur, es gibt unsere Pilgerorte, bei uns gibt es heilige Stätten. Bei uns werden alle Dinge respektiert, die die Natur erschaffen hat. Zum Beispiel wurden wir böse auf ihn. Was erwartest du von diesem Stein? Oder was erwartest du von diesem Baum? Wir haben ihn ein wenig von diesem Leben abgeschnitten. Mein Vater bemühte sich, in einer Phase, in der Geld sehr bestimmend war, es gar nicht anzuerkennen. Diese Beziehungen haben ihn nicht berührt. Obwohl es im Dorf viele Dinge gab, bemühte er sich um die Grenze eines Felds, darum, mit einem Baum, mit einem Nachbarn kein gestörtes Verhältnis zu haben. Wenn es so ist, sieh, denk mal, mit dem großen Einfluss seines Vaters und seiner Mutter ist er immer noch bis in dieses Alter gekommen. Die Verbundenheit zu ihrer Mutter, ihre diese äh, also, alle Kinder dieser Frau sind heute verheiratet, fortgegangen, denk mal, ihre Kinder sind an verschiedenen Orten, ihre Kinder sind in der Bürokratie an höchste Stellen gelangt, also ihre Töchter, jetzt sind sie Frauen. Wie gesagt, so hinsichtlich meiner Großmutter, meines Vaters und meines Onkels, diese haben in der Gemeinschaft dauerhaft eine Spur hinterlassen, sie zeigten sich also als eine Farbe. Ich empfinde das so. Denn die Einschätzungen von den Anderen waren auch so. Wenn ihr jetzt fragt, werden sie euch zu dem Thema ihrer Verschiedenheit eine Rede halten. Ich glaube, dass meine Großmutter daher für dieses Thema mit ihrer Haltung innerhalb und außerhalb der Familie eine Spur hinterließ. So nehme ich es an. Sein aggressives Verhalten gegenüber dem Glauben seines Vaters schildert Haydar in einem einräumenden Argumentationsstil. Als Anhänger der marxistischen Linken griff er ihn insbesondere für seinen Glauben an Naturheiligtümer an. Während er sein dominantes Verhalten gegenüber seinem Vater einräumt, wiederholt er wie zu seiner eigenen Verteidigung zweimal, dass sein Vater „ihnen“ in dieser Diskussion um die wahren Werte „unterlegen“ gewesen sei. In

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der ersten Person Plural versteht er sich als Vertreter eines Kollektivs, das seinem Vater aus zwei Gründen überlegen gewesen sei: aufgrund des Wahrheitsanspruchs des modernen Bildungssystems und aufgrund der Mehrheitsstellung linker Positionen in Dersim. Die Auseinandersetzung mit seinem Vater gibt er in seiner Erinnerungserzählung einseitig wieder, indem er nur den Fragen seiner linken Organisation in direkter Rede eine Stimme verleiht, hingegen die Antwort seines Vaters unausgesprochen lässt. Ohne auf die Argumente seines Vaters einzugehen noch auf dessen Schweigen, gesteht er seine eigene Verantwortung für die Distanzierung seines Vaters von der traditionellen Lebensweise ein. Anschließend erläutert er dessen ablehnende Haltung gegenüber dem modernen ökonomisch-sozialen System, seine Distanz zur Geldwirtschaft, sein solidarisches Verhalten zu den Nachbarn und seinen Respekt vor Bäumen. Dieses ökonomische und soziale Handeln seines Vaters akzeptiert Haydar entsprechend der marxistischen Philosophie, während er die religiöse Weltsicht, die seinen Vater dazu motivierte, erst vor Kurzem anerkannte. In seiner abschließenden Rehabilitation des Ansehens seines Vaters beruft er sich auf die Spuren, die er und seine Vorfahren in der Gemeinschaft hinterlassen hätten, insbesondere auch das Bezeugen dieses Umstands durch viele Stimmen in der Gemeinschaft. So dreht er die vormalige kollektive Diskreditierung seines Vaters aus den eigenen Reihen um in eine Rehabilitation aus der Gemeinschaft heraus, die nunmehr ihren Vorfahren wieder eine handlungsweisende Rolle in der Gegenwart zuschreibt. Die Zerrüttung der sozialen Beziehungen in Dersim infolge der Gewalterfahrungen wirkte sich nicht nur auf die interfamiliäre Überlieferungssituation aus, sondern generell auf die Beziehungen zwischen den Dedes und den talips. Ali aus dem Ali Abbas ocak wurde 1952 in einem Dorf im Landkreis Ovacık in der Provinz Tunceli geboren.109 Die folgende Sequenz aus seiner Erinnerungserzählung, die ich in seinem Haus aufzeichnete, nimmt auf diese Entwicklung näher Bezug: Ali: […] Den Dedes wurde damals Gewalt angetan, ständig haben sie Gewalt erlebt, sie haben Verachtung erfahren. Denn das Dedetum ist nicht einfach. Die Dedes gehören immer zu dem unterdrückten Teil [der Bevölkerung]. Unsere Dedes, zum Beispiel unsere Väter, wurden unterdrückt, unser Großvater wurde unterdrückt, unsere Abstammungslinie wurde unterdrückt, als Stamm wurden wir in Kerbela unterdrückt, von der Zeit von Muʿāwiya und von Yazid bis heute wurden wir unterdrückt und wir werden immer noch unterdrückt.

109 Interview mit Ali am 5. 7. 2011, in Dersim, Kreis Ovacık, Türkei.

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I: Sehen Sie sich selbst als Dede? Ali: Ich kann mich selbst nicht als Dede bezeichnen. Ich kann mich selbst nicht als Dede sehen. Denn ich habe dieses Vermächtnis nicht angetreten. In diesem Moment werde ich als Dede angesehen, aber ich selbst kann mich nicht als Dede sehen. Aber manche Menschen können sagen, ich bin Dede. I: Ja und manche talips erkennen jemanden nicht als Dede an. Ali: Der ist kein Dede. Wenn dieser talip nicht auf den Dede achtet, dann ist er kein Dede. Wenn der talip sich nicht vor dem Dede scheut, wenn dieser talip diesem nicht ängstlich ins Gesicht schaut, dann kann er kein Dede sein. Wenn ein talip einen unserer Dedes ansieht, dann sollte er sich vor ihm fürchten. Er hat von ihm doch kein Wunder gesehen. Er sollte sich scheuen, er sollte sich von sich selbst aus scheuen. So, Dede zu sein ist nicht leicht. So wie Kazım es in seiner Erzählung herausstellt, die in der Aussagenreihe zur Abstammung und Wunderkraft bereits diskutiert wurde, stellten die Huldwunder ein wesentliches Mittel der Dedes dar, um ihren talips Zeichen ihrer Heiligkeit zu erbringen. Auch Ali verbindet in seiner Erzählung das besondere Leid, das die Dedes in der Vergangenheit immer wieder erlitten hätten, mit ihrer Fähigkeit, Wunder zu bewirken. Den Verlust der Wunderkraft hält er für ursächlich dafür, dass gegenwärtig viele talips ihre Dedes nicht mehr anerkennen. Die Verantwortung auf Seiten der talips sieht Ali darin, dass sie ihren Dedes gegenüber Respekt vor ihrer schweren Rolle zeigen, die er in ihrem Leid für die Gemeinschaft beschreibt. Ali betont in seiner Erzählung besonders die Kontinuität des Leids der Dedes und ihre Bedeutung für die Gemeinschaft. Dadurch misst er dem Traditionsbruch, der zu seinem Nicht-Antreten der Nachfolge führte, keine große Bedeutung bei. Entscheidend für die Legitimität eines Dedes ist in Alis Augen vielmehr dessen Akzeptanz unter den talips. Abidin aus dem Derviş Gewr ocak problematisiert die Gewalt, die gegen die alevitische Gemeinschaft ausgeübt wurde und den Statusverlust der Dedes: I: Wann hast du den letzten cem im Haus erlebt? Abidin: Das ist sehr lange her. Soweit ich mich erinnere, war das mindestens vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren. I: Habt ihr danach keinen cem mehr gehalten? Abidin: Leider nicht. Es blieb den talips überlassen. Wir sind auch nicht zu den talips gegangen. Wir fragten nicht nach ihrem Befinden. Sie sind auch nicht zu ihren rayber gegangen. Aber sie wissen, wer ihre rayber und wer ihre pirs sind. Sie sagen, mein Vorfahr ist der rayber von dem

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und dem Mann und wir sind die talips von dem und dem Mann. Zu dem und dem Mann kamen die Dedes und wir bildeten eine Menschenmenge und schlachteten die heiligen Bergziegen. Daran erinnern sie sich. Natürlich wissen die ganz Jungen das nicht. Sie gewöhnen sich erst neu daran. Jetzt haben sie cemevis gebaut. Bis hin in andere Länder, hier und da erfuhren alle davon. Früher fürchtete man sich. Niemand konnte cem halten. Wir haben Wächter aufgestellt. Wenn die Gendarmen es gesehen hätten, sie wussten nicht, was ein cem ist, sie hätten sie zusammengesammelt, fortgebracht und der Reihe nach verprügelt. Alle, Frauen, Mädchen, Kinder, sie sammelten sie alle ein, brachten sie fort und schlugen sie. Sie erhielten Prügel. Sie taten ihnen großes Unrecht an. Nach dieser Zeit kam dieses Militär, es kam auf und danach wurde alles erlaubt. Kennzeichnend für diese Rekonstruktion des Wandels in den Beziehungen zwischen Dedes und ihren Anhängern aufgrund der Überlieferungssituation ist, dass Abidin sie zwischen den drei Polen von Erinnerung, Wissen und Gewalt aufspannt. Es sei aus Unwissenheit geschehen, dass die staatlichen Ordnungsorgane in der Vergangenheit Gewalt gegen alevitische Gemeinden verübten. Demgegenüber beobachtet Abidin, wie die Aleviten gegenwärtig ihren Glauben und ihre Praxis offenlegen in der Hoffnung darauf, dass sie durch ihre Transparenz in Zukunft vor unrechtmäßiger Verfolgung von Außenstehenden geschützt sind. Die aktuelle Entfernung von Dedes und ihren Anhängern voneinander verschiebe das religiöse Wissen in den Bereich der Erinnerung und des Vergessen. Zudem setzt er den Beginn des Vergessens religiösen Wissens mit dem Ende der Gewalt gegen Aleviten in Zusammenhang, dessen Beginn er mit dem Militärputsch 1980 ansetzt. Aktuell habe sich das Wissen um die besondere Verehrung verloren, die den Dedes gezollt wurde. Als Ausdruck für die Heiligkeit der Dedes vermittelt er an anderer Stelle seiner Erzählung ein mythisches Bild aus seiner Kindheit. Demnach senkten Bergziegen ihre Köpfe vor den Dedes, um sich für die Opferung anzubieten. Bergziegen galten in der religiösen Vorstellungswelt des Alevitentums als Boten Gottes, als die Attribute von Hızır und stellen somit Zeichen für die Heiligkeit der Dedes dar.110

110 Die Bergziegen nähern sich den Dedes und bieten sich zur Opferung an, um das religiöse Jagdverbot angesichts des Hungers aufzuheben. Wenn die Knochen der Opfertiere anschließend unversehrt blieben, bestand der Glaube, dass die Tiere wieder lebendig und zurück in die Berge kehren würden. Aufgrund der mythologischen Bedeutung von Bergziegen und anderen Wildtieren, die in den Bergen von Dersim lebten, galt es als Vergehen, sie zu jagen. Siehe hierzu: Kahraman, Dersim Hayat 7 (2011, 3); Gezik (2010, 207–8).

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Abidin argumentiert hier, dass der Ort der Versammlung der alevitischen Gemeinschaft früher wesentlich von der Präsenz des Dedes abhing, dessen Person einen lebendigen Ort der Erinnerung darstellte. Demgegenüber bieten die cemevis gegenwärtig einen Raum als Ort der Versammlung an, der auf das Wissen um die Bedeutung der sozialen Beziehungen zwischen den Dedes und ihren Anhängern verzichten kann. Erst mit dem Verlust des traditionellen Wissens in der jüngsten Generation entstehe in diesen cemevis ein Raum, so stellt es Abidin dar, der es unter den Bedingungen der Kontrolle ermöglicht, der Verfolgung und Gewalt weitestgehend zu entgehen. Der äußere Auslöser des hier untersuchten Legitimationskonflikts bestand in dem staatlichen Diskurs, der in kemalistischer Zeit bestrebt war, die Beziehung zwischen alevitischen Dedes und ihren Anhängern zu unterbinden. Schilderungen von Versuchen der Dedes, die Überlieferung trotz der Unterminierung ihrer Legitimität fortzuführen, begegnen in mehreren der Erinnerungserzählungen der Dedes und ihrer Nachkommen. Die folgende Schilderung einer staatlichen Diskriminierung von Dedes aus Dersim von Celal aus dem Derviş Cemal ocak bezieht sich in dieser Hinsicht auf die Zeit unmittelbar nach dem ScheichSaid-Aufstand 1925: Celal: Mein Großvater war ein guter Dichter, also ein Sänger. Er war ein sehr guter Sänger. Er nahm an cems teil. Er hielt cems in Erzincan, in Malatya, in Elazığ, in Ovacık, er ging nach Sivas, nach Tokat, nach KayseriDeveli. Also, er war in den alevitischen Gegenden viel unterwegs. Aber danach, nach 1938, hat er sein Dedetum so in einer Ecke abgelegt. Ohnehin, vor 1938 haben sie einmal, 1926, meinen Vater mit meinem Großvater in Erzincan festgenommen. Die damaligen Beys haben sich eingeschalten, also die Erzincan Beys, A Bey, B Bey und C Bey, solche Leute sind dazugekommen. Unter einer Bedingung ließen sie sie gehen. Nur unter der Bedingung, keine Lieder zu singen und keine cems zu halten, ließen sie sie gehen. Sie sagten, wenn ihr die Leute nicht anleitet, indem ihr ihr Bewusstsein weckt, sie nicht versammelt und sie nicht zusammenbringt, seid ihr frei. Sie kamen zurück. Aber natürlich ist das eine Gewohnheit. Als sie zu den Menschen [in Dersim] zurückkamen, hielten sie cems < und sangen Lieder. Was immer ihre eigene Tradition, ihr eigener Brauch, ihr eigener Glaube ist, das haben sie fortgeführt, das haben sie auch fortgeführt. In der Erzählung hebt sich Celals Stimme an der Stelle, als er die verschiedenen Aufgaben der Dedes aufzählt, die sie gewohnheitsgemäß weiterführten, obwohl sie gerade erst aus der Haft entlassen wurden. Aus dieser Erinnerung an den

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Widerstand der älteren Dedes scheint Celal Selbstbewusstsein zu schöpfen. Die Bedingung, unter der die Dedes freigelassen wurden, gibt er in direkter Rede wieder, wodurch sie an Eindringlichkeit gewinnt und seine eigene Auseinandersetzung mit diesen Forderungen verdeutlicht, die er auch heute an sich gestellt sieht: „Wenn ihr die Leute nicht anleitet, indem ihr ihr Bewusstsein weckt, sie versammelt und sie zusammenbringt, seid ihr frei.“ Dieses Ultimatum führte in seiner Familie noch nicht zu der Aufgabe der traditionellen Dede-Rolle, sondern erst die Erfahrung der staatlichen Gewaltverbrechen von 1938 in Dersim. Als einen weiteren Aspekt des Verlusts der traditionellen Überlieferung der Dedes nennt Celal die Manuskripte, die sich in ihrem Besitz befanden: Celal: Es gab auch alte Bücher bei unseren Leuten, nicht diese neuen Bücher. Also das waren Bücher, die vor eintausend Jahren, zweitausend, fünftausend Jahren geschrieben wurden, die sich bei unseren Leuten befanden. Ha, diese Bücher sind sicherlich von den Armeniern geblieben, ja. Von den Römern sind sie den Armenier geblieben, von den Armeniern sind sie uns geblieben, sie sind auch bei uns geblieben, eh! So sind sie gekommen, also. Aber in letzter Zeit galt es als Schuld, in wessen Haus sich diese Bücher auch befanden. Alle {verheimlichten} den Ort der Bücher. Der Wald, des Waldes […], unter dem Stein […]. Wir verschwiegen es, sieben, acht Mal sind sie unter die Erde gegangen und wieder hervorgekommen. I: Hm. Ah, in diesem Sandık [per Handzeichen Verweis auf die Truhe im Zimmer] waren auch Bücher. Celal: Sie waren [darin], auch diese gibt es nicht mehr. Danach kam noch eine Sache auf, der Mann hat die Bücher in seinem Besitz nicht dem Katasteramt überlassen. Er schickte sie nach Çemişgezek. Er schickte sie also an einen sicheren Ort. Er schickte sie nach Hozat. Hozat sandte sie hierher. Er schickte sie nach Nazımiye, Nazımiye schickte sie nach Pülümür. An einen sicheren [Ort]. Also, soll es ruhig eine Operation geben, falls es eine gibt, sollen die wertvollen Gegenstände im Haus nicht verloren gehen. Sie sind in der Erde verrottet. Die Menschen sind gestorben, sie blieben. Die Geschichte ist auf diese Weise erloschen und vergangen. Weißt du? Sie blieb in den Mündern einiger weniger Leute. Sie blieb in den Ohren einiger weniger Leute. Anders ist sie nicht bestehen geblieben, also. Geh, besuche und frag überall in diesem Ovacık die Leute. Die Menschen werden von ihrer Arbeit berichten, sie sind weder an Geschichte noch an Kultur interessiert, noch interessieren sie sich für die Zukunft. Einer achtet auf seinen Tagesplan, ein anderer auf seine Einnahmen, also. Auch für die Religion interessieren sie sich nicht. Auch die Religion liegt in niemandes Interesse.

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I: Ja. Celal: Sie brachten sie und verbrannten sie an einer Ecke des Hauses, von einigen […] von anderen wieder wurden sie von Maulwürfen zerstört, also die Dinge in der Erde. Es waren dicke Bände, dick und schön. Nach Zwanzig, Dreiundzwanzig sind wahrscheinlich eine Reihe neuer Gerüchte aufgekommen. Aus wessen Haus sie armenische Bücher hervorholten, die waren Armenier. Die Leute verbrannten sie, warfen sie weg, […]. So ist es in Wirklichkeit gewesen, weißt du? Diese Geschichte ging so zu Ende und ist vergangen. Seine Erinnerungen an die alten Manuskripte und Bücher verbindet Celal mit dem Widerstand gegen die systematischen staatlichen Suchaktionen nach diesen Büchern. Die Menschen, in deren Gewahrsam sich die Bücher und Manuskripte befanden, hätten sie immer wieder vergraben und versteckt, um nicht dem Staat als Beweis für dessen Verdacht zu dienen, Armenier zu sein. Mit dem Verlust der Manuskripte und Bücher assoziiert Celal den Verlust von Wissen, das in einer jahrtausendalten Überlieferungskette über verschiedene Kulturen schließlich auf seine Gemeinschaft gekommen sei. Der Verlust des schriftlich überlieferten Wissens führe dazu, dass heute dieses Wissen nur noch mündlich überliefert werde und sich in Celals Augen daher verliere, wovon das gegenwärtige Desinteresse der Bevölkerung an Kultur, Geschichte und Religion zeuge. In seiner Argumentation stützt sich Celal auf die Legitimation von Autoritäten über Schriftquellen, die in hegemonialen Diskursen verbreitet ist. Dem entsprechen auch seine geringe Wertschätzung der mündlichen Überlieferung und sein Zweifel gegenüber dessen Fähigkeit, Wissen über längere Zeit zu tradieren. Allerdings scheint er dem Leugnungsdiskurs zuwiderlaufend die byzantinische und armenische Geschichtsschreibung auch für die eigene Geschichte als konstitutiv zu erachten, weshalb er die Vernichtung der versteckten Bücher als wesentlichen Verlust bedauert, der zu dem gegenwärtigen Zustand des Unwissens der Bevölkerung führe. Mit dieser Sichtweise verkehrt Celal den offiziellen Legitimationsdiskurs für die Vernichtung in Dersim 1938 von der Aufklärung der ungebildeten Bevölkerung von Dersim ins Gegenteil und spricht der türkischen Bildung, die von ihr beanspruchte Bedeutung für die lokale Bevölkerung ab. Die hier betrachteten Aussagen zum Legitimationskonflikt zeigen, dass die Dedes auf religiöse Deutungsmuster zurückgreifen, um ihre Entscheidung zur Aufgabe der Überlieferung und ihrer vormaligen Rolle zu erklären. In der Parabel über die Tagelöhner verweisen sie in diesem Zusammenhang auf eine göttliche Gerechtigkeit. Die Fähigkeit, Wunder zu wirken, die für die Legitimation der Dedes auf Erden notwendig ist, wird als göttliche Gabe an die Bedingung geknüpft, sich im Glauben zu erweisen. Über die Parabel verschieben sie den

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Legitimationskonflikt, der durch Verfolgung und Gewalt ausgelöst wird, auf eine transzendente Ebene, in der sie die Verantwortung für ihr Handeln verorten. Die mündliche Überlieferung wird von den Nachkommen der Dedes im Anschluss an die miteinander konkurrierenden türkischen und kurdischen nationalistischen Diskurse fast völlig abgelehnt. In beiden Diskursen wird die autoritäre Persönlichkeit der Dedes als Träger von Wissen und Heiligkeit gegenüber der Schriftlichkeit des modernen Wissens ausgeschlossen. Die persönliche Überlieferung von Dede zu talip war es, die in der traditionellen Überlieferungsart anerkannt wurde. Das Ende von Gewalt und Verfolgung gegen die Gemeinschaft fallen in dieser Aussagereihe mit der Auflösung des Respektsverhältnisses gegenüber den Dedes und dem daraus resultierenden Verlust des Wissens, das durch sie überliefert wurde, zusammen. Zudem wird der Verlust des schriftlich überlieferten Wissens in Büchern und Manuskripten, die versteckt und aus Angst vernichtet wurden, mit dem Überlieferungsbruch der eigenen Geschichte, Kultur und Religion assoziiert. Diesen Aussagen über den Legitimationskonflikt der Dedes liegt die Vorstellung eines eigenen, verworfenen Wissens zugrunde. Trotz dessen schwindender Akzeptanz und Bedeutung gegenüber dem machtvoll eingesetzten Wissensregime versuchen es die Dedes, als Grundlage ihrer Autorität, zu rekonstruieren.

7.2.4 Zukunft Eine der Herausforderungen für Überlebende von Gewalt und ihren Nachkommen besteht in dem Zwang, ihre Erzählungen an gültigen narrativen Mustern zu orientieren. Das offizielle türkische Geschichtsnarrativ zeichnet deutlich einen sinnstiftenden Horizont ab, der gleichsam auf einer linearen Zeitvorstellung beruht: die Zeit bis zur Gründung der Republik Türkei ist demnach durch Unrecht und Gewalt gekennzeichnet, seit Beginn der türkischen Nation als Rechtsstaat herrschen hingegen Ordnung und Frieden. Als ein zentrales normatives Erzählmuster gelten moderne Vorstellungen von Zeit. Von diesen abweichende Bezüge auf Zeit – auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – sollen nachgezeichnet werden, um aufzuzeigen, wie die Dedes in ihren Erzählungen verschiedene Zeitvorstellungen abwägen. Die Analyse dieser Aussagenreihe zu Zeit erlaubt es, auf die Möglichkeiten der Rede von „anderen“, „subalternen Vergangenheiten“ zu schließen. In der nachfolgenden Aussagenreihe beziehen sich die Dedes auf Zeit, indem sie ihre Erfahrungen in der Vergangenheit und Gegenwart an ihren Erwartungen für die Zukunft orientieren. Zeit gilt Menschen als Erfahrungshorizont, an dem sie erlebte oder erwartete Ereignisse und ihr Handeln orientieren und

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sinnvoll deuten.111 In Erzählungen ordnen sie ihre kontingenten Erfahrungen in zeitlichen Sequenzen an, um ihnen Konsistenz zu verleihen. Für Gemeinschaften wirkt ihr jeweiliges Zeitverständnis sinn- und identitätsstiftend. Das Zeitkonzept des alevitischen Glaubens in Dersim weist sowohl Elemente des zyklischen als auch des linearen Zeitmodells auf. Die Vorstellungen von der Seelenwanderung und von der Wiederkehr des Mehdi, des zwölften Imams, entsprechen eher dem zyklischen Zeitmodell, während die Vier-Stufen-Lehre und die Endzeitvorstellung dem linearen Zeitmodell folgen.112 Insbesondere können Opfer von Gewalt ihre Erinnerungen an Erfahrungen erzählen, wenn sie diese als Einschnitte in ihrem Leben deuten und ihnen somit eine besondere Bedeutung beimessen. Die Deutung von Zeit teilt sich bei Überlebenden von kollektiven Gewaltverbrechen in eine Zeit vor und eine nach der Gewalterfahrung. Celal aus dem Derviş-Cemal-ocak erinnert sich in seiner Erzählung daran, wie die älteren Dedes die Geschehnisse der Vergangenheit in der Gegenwart interpretierten und ihre Erwartungen für die Zukunft daran deutend orientierten: Celal: Die Dedes sagten, 1938 sei Dank! Es wird so eine Zeit kommen, da wird der Vater dem Sohn zum Feind werden. Es wird kein Bekenntnis und keinen Glauben mehr geben. Die Leute werden einen Schlag großen Ausmaßes erleiden. Jahrelang wird es sich nicht beruhigen. Zwischen 2001 und 2003 wird es zwei Jahre lang eine Ordnung geben. Schafe und Wölfe werden umherspazieren. Danach wird es wieder […]. Den Verlust kennt Allah, sagten sie. Genauso ist es gekommen, meine Tochter. Genauso ist es gekommen. Diese Erinnerung verknüpft Celal mit seinen Überlegungen zu Rolle und Funktionen des Geheimnisses, wodurch er daran erinnert, dass das Wissen der Dedes über die Zukunft als Huldwunder galt. An dieser Stelle ruft sich Celal die Prophezeiungen der Dedes über die Zukunft in Dersim in Erinnerung, die vom Verlust des Glaubens und von Gewalt gekennzeichnet sein würde. Gemessen am endgültigen Ende der Zeit, welches die Dedes erwarteten, ordneten sie die Gewalt in Dersim 1938 sogar als noch dankenswerten Moment ein. Mehr noch deuteten sie diese als Bestätigung ihrer Prophezeiung von sich ausweitenden Unruhen und Feindschaften. Zudem erklären die Dedes den Abfall der Menschen vom Glauben zur Ursache für den Ausbruch dieser Gewalt, die weiter zunehmen werde. Verbunden damit sei, dass die Menschen weder soziale und religiöse Ordnung noch Normen mehr anerkennen würden. Die sich verschlechternde Situation würde Ruhephasen kennen, die sich in der Metapher des Nebeneinanders von Schafen 111 Rüsen (2003, 23–53). 112 Dreßler (2002, 93–6; 114–22); Aksünger (2013, 95).

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und Wölfen äußert, die für eine ungewöhnlich konfliktfreie Koexistenz stehen. Celal verbindet somit im Anschluss an die Prophezeiung der älteren Dedes den gegenwärtigen Zustand der Ungerechtigkeit und der unterlassenen Rechtsprechung mit dem Verlust der juristischen Rolle der Dedes und der Apostasie der talips. Für die Menschen bliebe das Verständnis des ganzen Ausmaßes dieses Verlusts verschlossen, den allein die göttliche Gerechtigkeit, Haq, ermessen könne. Abschließend wiederholt Celal, dass sich die Weissagung der älteren Dedes bestätigt habe und unterstreicht somit die andauernde Gültigkeit ihres Wissens. Indem er diese ältere Deutung vertritt, stellt er sich in die Kette der Überlieferung seiner heiligen Abstammungslinie, um sich als Bewahrer des Wissens über die Vergangenheit und die Zukunft der Gemeinschaft darzustellen und somit seine gesellschaftliche Position zu bestärken und den dementsprechenden Respekt unter den talips zu gewinnen. Die zeitlichen Ordnungsvorstellungen hinsichtlich der Übergänge vom Leben zum Tod, vom Diesseits zum Jenseits, die im alevitischen Glauben ihre rituellen Entsprechungen aufweisen, bieten symbolische Orientierungen, um Erfahrungen existenziellen Wandels sinnvoll einordnen zu können. Als Bezeichnung für den Glauben begegnet der Begriff Weg (zaza.: ra), dem als mystischem Weg in der Sufi-Tradition eine zudem teleologische Bedeutung zukommt. In dem folgenden Ausschnitt deutet Kazım aus dem Baba-Mansur-ocak diesen Weg, dessen Ursprung und zukünftigen Verlauf: Kazım: Wir sind ihre Erben, wir sind die Erben von ehl-i beyt, wir sind die Erben der Zwölf Imame, wir sind die Erben des Heiligen Propheten, weißt du? Natürlich sind unser Weg und unsere Grundsätze, ist der Weg des Alevitentums schmaler als ein Haar und schärfer als ein Schwert. Stirb, wende dich nicht von deinem Bekenntnis ab, stirb, aber wende dich nicht von deinem Bekenntnis ab. Dieser unser Weg ist noch nicht zu Ende, aber er ist schmaler geworden, weißt du? Der Weg des Alevitentums ist schmaler geworden. Der Grund ist eben, dass jede Gesellschaft auf ihre Weise, dass sie sich selbst nicht bildeten, weil sie sich kein Wissen aneigneten, weil sie die Erleuchtung nicht erlangten, weißt du? Eben weil sie sich nicht ihres eigenen Willens angenommen haben, weißt du? Auf verschiedene Weise haben sie sich eben in ihrer eigenen Einheit bewegt, weißt du, also? I: Was gab es für eine Prophezeiung im Alevitentum, was mit dem Alevitentum in Dersim geschehen wird? Also, haben deine Älteren darüber gesprochen? Also, wohin wird es gehen, wie wird es sein? Kazım: Also, du meinst jetzt (…), nicht wahr, also?

7.2 Aussagereihen von alevitischen Dedes

I: Kazım: I: Kazım:

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Was sagt das Alevitentum, was in Zukunft geschehen wird? He, in der Zukunft. Sagten die Älteren etwas dazu? Hm, in Ordnung, ich. Nun sieh, es sieht nicht gerade gut aus, natürlich. Es sieht nicht gerade gut aus, weißt du, also? Das Alevitentum, das Alevitentum wird seinen Namen verlieren, aber das Alevitentum wird mit der Zeit verschwinden, also das will ich euch sagen. Weißt du, also das Alevitentum wird verloren gehen, weil, weil unser Weg und unsere Grundsätze \ Eben haben wir die cemevis erwähnt, darauf will ich nun zurückkommen. Weißt du warum? Ein cemevi zu errichten ist gut und schön, allerdings, nun, wenn ich heute hier die Gemeinschaft versammeln würde, beschließen wir Grundsätze und begeben uns auf einen Weg. Die Seyits, pirs, zakirs setzten sich zusammen, weißt du? Sie erteilen Empfehlungen und Ratschläge. Von diesen Empfehlungen und Ratschlägen kann ich sagen, dass also fünf Prozent eingehalten und fünfundachtzig, fünfundneunzig Prozent nicht eingehalten werden können, weißt du, also? Dessen könnt ihr euch sicher sein. Mit der Zeit, ihr seid jung, also ihr werdet das erleben, mit der Zeit \ Unser İmam Dede, dieser İmam Dede sagte das, weißt du? Allah gebe euch Gesundheit und ein langes Leben.

Hier beschreibt Kazım den mystischen Pfad seiner Glaubensgemeinschaft mit den Metaphern „schmal wie ein Haar und scharf wie ein Schwert“, um den hohen Anforderungen und harten Konsequenzen Ausdruck zu verleihen, die es erfordere, ihn zu verfolgen. Für die gegenwärtige Lage seiner Gemeinschaft beobachtet Kazım, dass „der Weg schmaler geworden“ sei und dass er sich „mit der Zeit verlieren“ und schließlich „verloren gehen“ werde. Dieser Weissagung entsprechend, die Kazım von einem älteren Dede übernimmt, erwartet er ähnlich wie in der oben wiedergegebenen Prophezeiung von Celal den Untergang des alevitischen Glaubens in der nahen Zukunft. Zudem ist seine Äußerung über den Namensverlust der Glaubensgemeinschaft bemerkenswert, die er für die Bewahrung der kollektiven religiösen Identität ausschlaggebend hält. Seine Deutung des Namensverlusts ist vor dem Hintergrund der gezielten begrifflichen Verwirrung durch den neuen Begriff Aleviten im kemalistischen Diskurs zu verstehen. Zudem kommt in den Heiligenlegenden in Dersim Namen die Rolle zu, dass sie in dem Moment ausgesprochen werden, wenn die Heiligkeit des Namensträgers offenbar wird. Um ihre Eigenschaften bewahren zu können, weichen die Namensträger dieser Zuschreibung aus, indem sie sich den talips entziehen. Die beiden hauptsächlichen lokalen Heiligen Düzgün Baba und Munzur Baba fliehen beide nach ihrer Entdeckung und der

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7 Repräsentationen von Vergangenheiten in Dersim

Sichtbarwerdung ihrer außerordentlichen Eigenschaften in die Berge, in denen sie „zum Geheimnis“ werden.113 Vor diesem Hintergrund betrachtet, ist die Sorge Kazıms um den Namensverlust mit dem Verlust des Bewusstseins der kollektiven Identität seiner Glaubensgemeinschaft verbunden, wie er ihn in dem Bereich der Sichtbarkeit, zahiri, beobachtet, in den das vormals Innerliche, batini, übergehe.114 Angesichts des kemalistischen Diskurses über das Unwissen der Bevölkerung in Dersim ist es bemerkenswert, dass Kazım einen Rückgang des Wissensstands der Aleviten in Dersim beobachtet. Die Gründe dafür sieht er in dem fehlenden Bemühen um Bildung, Wissen und Erleuchtung in seiner Gemeinschaft. Die Dedes, die er als Erben der heiligen Vorfahren, der Zwölf Imame und des Propheten legitimiert und sie damit als Bürgen der Kontinuität aus der Vergangenheit herausstellt, versteht er implizit als Träger dieses überlieferten Wissens, das er für das Fortführen des Weges als notwendig erachtet. Dass die talips sich gegenwärtig von dem Streben nach dem göttlich legitimierten Wissen und dem Erlangen der Erleuchtung abwenden, vergleicht er mit dem Abkommen vom Weg und den Dedes als den Wegführern. Die wahrgenommene Krise des alevitischen Glaubens, in der die Kontinuität und Stabilität der Tradition in Frage gestellt sind, interpretieren die Dedes hier als eine zeitliche Krise, die sie in ihren Erzählungen mit der Endzeiterwartung verknüpfen. Darüber hinaus sieht Kazım das Sich-Annehmen, des Wiederaneignen des eigenen Willens als zentrale Bedingung für die Gläubigen an. Ohne diesen eigenen Willen könnten letztere den Ratschlägen und Empfehlungen der Dedes nicht nachkommen. Mit dieser Beobachtung verbindet er auch seine Kritik an den cemevis, die er indirekt als nicht sozial verpflichtend und daher wirkungslos beschreibt. Hingegen habe früher die Funktion des cem in der willentlichen Einigung auf gemeinschaftliche Prinzipien und der gegenseitigen Verpflichtung bestanden, die durch die Dedes gewährleistet gewesen sei. Hier deutet Kazım die gegenwärtige Aneignung hegemonialer Diskurse in seiner Glaubensgemeinschaft, die nicht mehr auf die religiöse Lehre des Alevitentums und die Dedes als spirituelle Lehrer achtet, als ursächlich für deren zukünftige Auflösung. In dem Reden über die Zukunft des Glaubens und der Glaubensgemeinschaft wird auch der Platz thematisiert, den die Andersgläubigen darin einnehmen werden. Dazu wird nun ein Blick auf die Erinnerungserzählung von Rıza aus dem Sarı Saltık ocak geworfen. Rıza wurde 1934 in einem Dorf im Landkreis Ovacık in der Provinz Tunceli geboren. Seine Erzählung zeichnete ich in seinem

113 Gezik (2000). 114 Dreßler (2002, 47–9); Gezik (2010, 36–8).

7.2 Aussagereihen von alevitischen Dedes

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Haus in Hozat auf.115 Rıza vergleicht hinsichtlich seiner Vorstellung von der Endzeit die verschiedenen Religionen miteinander: I:

Gibt es eine Vorhersehung, was in der Zukunft mit dem Alevitentum in Dersim geschehen wird? Rıza: Meine Tochter, nun, die Welt hat sich sechs Mal gefüllt und geleert, eine Leerung und eine Füllung gibt es noch. Nun, sei es in der Welt der Christen oder in der Welt des Islam, in ihnen gibt es keine tiefe Verbundenheit mehr. Alle sind auf Gewinn und Nutzen aus. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Weg Jesu und dem Weg Muhammeds. Jesus sagt die Wahrheit und auch Muhammed. Es ist nicht nötig, die vier Bücher voneinander zu trennen. Das Wort ist Allah eigen. Das alles sind Allahs Worte. Allah würde nicht sagen, die Bibel ist verboten und über die anderen etwas anderes sagen. Was er über sie sagt, genau das würde er auch über die anderen sagen. Rıza zufolge stehe in der Vorstellung des Alevitentums noch eine letzte, siebte Füllung der Zeit aus, bevor die Endzeit anbrechen werde, die sich durch einige Anzeichen bereits andeute. Die Dedes seien für deren Interpretation bedeutsam. In Hinblick auf die Endzeit spricht er sich für Verständigung und Vereinigung zwischen den Buchreligionen aus, die jeweils für sich die göttliche Wahrheit beanspruchen. Rıza betont, dass religiöse Differenzen aus der göttlichen Perspektive nicht existieren. Am Ende der Zeit werde das göttliche Urteil die vier heiligen Bücher, die die Glaubensgemeinschaften einzeln betrachten würden, in gleicher Weise anerkennen. Vor diesem Hintergrund argumentiert Rıza für mehr interreligiöse Toleranz. Aus dem fundamentalen Prinzip der alevitischen Glaubenslehre heraus, welches der Gleichberechtigung von verschiedenen Glaubensvorstellungen einen zentralen Stellenwert beimisst, erwachse ihr, wie Rıza im Weiteren ausführt, das Schlüsselargument für ihr Bestehen und schließlich das Aufgehen der anderen Religionen in ihr: I:

Nach dem Glauben in Dersim, wohin wird der Glaube der Bevölkerung in Dersim sich entwickeln, gibt es darüber eine Vorhersehung? Rıza: In der Welt wird diese Zerstörung andauern und der Weg der Grundsätze wird neu begründet werden. Für die ganze Welt, für die ganze Menschheit wird das Alevitentum wie eine Sonne aufgehen, dafür wird der Höchste Gott (cenab-ı rabb) den Bewahrer der Welt senden. Die christliche Gemeinschaft sagt:

115 Interview mit Rıza am 28. 8. 2011, in Dersim, Kreis Hozat, Türkei.

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Jesus, der Geist Gottes, wird kommen. Und wir sagen, zusammen mit Jesus wird der Mehdi Ali Resul kommen, sie werden beide kommen. Kugeln, Geschosse und Bomben werden außer Kraft gesetzt, es wird eine neue Ordnung kommen. Jesus und Mehdi werden sich in Dımışkı vereinen. Dımışkı ist das heutige Damaskus. Dort werden sie sich vereinen und von neuem ein System, eine Ordnung bringen, daran glauben wir. I: Haben Sie einen Engel, der Sie beschützt? Rıza: Das kann ich nicht sagen. I: Gibt es Engel und Heilige, die diese Region Dersim beschützen? Rıza: In Dersim gibt es viele Heilige. In jedem Gebiet, überall gibt es sie. Es gibt eine Klasse von Heiligen, die in der Gemeinschaft aufgegangen sind, die ihr Leben auf diese Weise anerkennen und fünfhundert, sechshundert Jahre ihre Existenz so fortführen. Mit seinem Glauben an das Kommen des Mehdi Ali Resul am Ende der letzten Leerung der Welt, der die neue Definition der Weltordnung bringen werde, vertritt Rıza eine typische messianische Vorstellung des schiitischen Islam. Sein Glaube an das Alevitentum, das für die neue Weltordnung wegweisend und für alle Menschen gültig sein werde, impliziert seine Gewissheit, dass es unter allen Religionen eben das Alevitentum sein wird, welches vor dem letzten Gericht bestehen und durch die Rückkehr der heilsbringenden Propheten in der höchsten Position eingesetzt werden wird. Am Ende der Zeit werde dadurch die göttliche Gerechtigkeit erfüllt. Für die Zeit bis zum Jüngsten Tag geht er davon aus, dass Zerstörung und Gewalt sich weiter fortsetzen werden. Zwar antwortete er nicht auf meine Frage, ob er glaube, dass er von Heiligen oder guten Geistern beschützt werde, aber in Hinblick auf die Region Dersim verweist er auf die vielzähligen Heiligen und deren schützende Kraft. Als Wegweiser der alevitischen Religion obliegt den Dedes entsprechend dieser messianischen Erzählung eine wichtige Aufgabe. Um sich nicht als in besonderer Weise prädestiniert in diesem Szenario der Neubegründung der Weltordnung herauszustellen, ist Rıza bemüht, seine eigene herausgehobene Position als Angehöriger einer heiligen Abstammungsfamilie zu nivellieren, indem er von einer Gruppe von Heiligen spricht. Die Erzählung von Cafer aus dem Celal-Abbas-ocak bietet eine ähnliche eschatologische Interpretation: I: Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Cafer: Vallah, das ist es, was ich mir für die Zukunft wünsche. Aber dieser Wunsch, auch ich kann nicht die Zukunft sehen. Ich kann nur das vorhersehen, dass der Höchste Erhabene (cenabı zü’l celâli) den Menschen

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wieder seine Weisheit und Göttlichkeit zeigen wird, also. Entweder werden sie sich besinnen, oder in ihr Verhängnis gehen. Ich weiß das, also. Meiner Ansicht nach. Also die Menschen halten sich nicht an die Aufrichtigkeit. Was habe ich anfangs gesagt? Die Weisheit, die ihnen Allah zeigte, hat den Menschen nicht gepasst. Deswegen wird der Höchste Erhabene (cenabı zü’l celal) ein solches Erdbeben verursachen, dass die Menschen ihn jammernd um Hilfe anrufen werden. Also der Höchste (cenabı hak teâlâ) soll es uns nicht zuteilwerden lassen, wir wollen es nicht erleben, aber ich habe diese Zeichen gesehen, also. Das ist es, also. In dieser Prophezeiung stellt Cafer einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Glaubensverlust und den Naturkatastrophen her, die er als göttliche Strafe für das menschliche Abwenden von Gott und von der Aufrichtigkeit in Zukunft erwartet. Die Rettung aus der existenziellen Not aufgrund der von Gott gesandten Naturkatastrophen setzt die Einsicht in die Weisheit der überlegenen Macht Gottes in der Gemeinschaft voraus. In diesem Moment der existenziellen Gefahr und der totalen Abhängigkeit werde die göttliche Gnade sich in ihrer Weisheit den Einsichtigen erneut zeigen, ihnen verzeihen und sie von Strafe freisprechen. Der Prophezeiung von der Wiederkehr der göttlichen Weisheit und Gerechtigkeit am Ende der Zeit liegt ein Anspruch auf Wahrheit und Gerechtigkeit zugrunde, der mit dem staatlichen Narrativ konkurriert. Cafer beruft sich auf die Prophezeiung und beteuert ihre Gültigkeit, indem er ihre Anzeichen bezeugt, um seine eigene Autorität hinsichtlich seiner Fähigkeit der Weissagung zu stützen. In der Erzählung von Mustafa aus dem Pilvenk-ocak, geboren 1969 in einem Dorf im Landkreis Pertek in der Provinz Tunceli, die ich in seinem Haus aufnahm, tritt eine weitere Verbindung zwischen den Diskurssträngen Glaubensverlust, Zeitenende und Heilserwartung hervor:116 I:

Gab es eine Vorsehung, wohin der Weg des Alevitentums führen wird? Was sagten die Älteren über die Zukunft des Alevitentums? Wie wird das Ende des Alevitentums sein? Mustafa: Das Ende des Alevitentums. Mein Vater und so, sie sagten, also Allah ist eins, der Prophet ist eins, also ist auch die Religion eins. Sie trennten sich aufgrund dieses Unterschieds in der Andacht. Schließlich ist zum Beispiel der Prophet Muhammed eins und auch Allah ist eins. Die Religion ist die Religion des Islams. Sie machten einen Unterschied in der Andacht und trennten sich. Der Weg des Alevitentums\

116 Interview mit Mustafa am 13. 8. 2011, in Dersim, Kreis Pertek, Türkei.

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Also, diese Kurden fordern ja ihr Recht. Das Ende des Alevitentums wird auch gezwungenermaßen am Ende, wenn die Religionen eins geworden sind\ Allah ist eins. I: Wie wird das Alevitentum zum Beispiel in fünf Jahren, in zehn Jahren, gelebt werden? Wird es wie heute, wie zu Zeiten deines Vaters, gelebt werden, was wird passieren? Mustafa: Ich sage, es entwickelt sich zum Besseren. Es wird besser werden, ja. Als zur Zeit meines Vaters hier cem gehalten wurde, stellten wir einen Wächter auf. Man muss sich um alles bemühen. Auch jetzt, überall, sieh, wie viele cemevis es in Istanbul gibt. Ihr wisst es auch, vielleicht gibt es zwanzig cemevis. In Erzincan, in Elazığ, in Malatya gibt es welche. Es gibt überall welche. Das Alevitentum wird nicht aufhören, es wird leben. Meiner Ansicht nach wird es auch besser. Jetzt gibt es dreißig Millionen Aleviten, also generell in der Türkei. In dieser Darstellung hebt Mustafa die Vorstellung der Einheit in Allah, der Einheit des Glaubens, hervor, die ihm als Garant für den Fortbestand der Glaubensgemeinschaft gilt. Hinsichtlich der Diskriminierung der Aleviten vonseiten des sunnitischen Islam, die er implizit andeutet, vergleicht er deren aktuellen unrechtmäßigen Status mit dem der Kurden in der Türkei. Indem er sich auf deren politische Bewegung bezieht, die seit fünfunddreißig Jahren mehr Rechte vom türkischen Staat einfordern, prophezeit er einen ähnlichen Ausgang in diesen Aushandlungen um eine gerechte Anerkennung für die Aleviten in der Türkei. Mit dieser Ansicht orientiert er sich an dem pro-kurdischen Diskurs, dem zufolge insbesondere Dersim und dem dortigen Alevitentum eine tragende Rolle in der Zukunft der politischen Emanzipationsbewegung der kurdischen Gruppe zukommen werde. Die Orientierung an einer kollektiven kurdischen Identität dient dazu, die Einforderung politischer und religiöser Rechte für die Aleviten in Dersim zu legitimieren. Die Aussagenreihe zu Deutungen von Zeit in den Erinnerungserzählungen der Dedes betrachtet mündlich überlieferte Vorstellungen über die Zukunft, über welche sich die Dedes als Stellvertreter der jenseitigen Gerechtigkeit legitimieren. In den Erzählungen ist die Vorstellung von einem siebten, letzten Zeitalter zentral, das vor dem Ende der Zeit anbräche. Dieses sei von einem Rückgang des Glaubens geprägt und führe zu einem Anstieg der Gewalt und Rechtlosigkeit unter den Menschen. Vor dieser Folie interpretierten die älteren Dedes, wie es ihre Nachkommen wiedergeben, die Vernichtung von 1938 als ein erstes Indiz für die Wahrheit ihres Vorherwissens, dessen Bestätigung zugleich die Legitimität der Dedes stützt. Die gegenwärtige Abwendung von den Dedes auf dem spirituellen Weg zur jenseitigen Gerechtigkeit habe zur Abnahme der Verfolgung der

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Aleviten geführt. Zugleich nehme aber auch durch die Apostasie und die fehlende Rechtsprechung der Dedes die Gewalt zu, worin die Dedes wiederum ein Zeichen für das Anbrechen der Endzeit sehen. Des Weiteren äußert sich in diesen Prophezeiungen die Erwartung des Mehdi, der am Ende der Zeit kommen werde, um die göttliche Gerechtigkeit zu bringen. Diese eschatologische Erzählung entspricht der messianischen Vorstellung des schiitischen Islam. Darin verhält sie sich kongruent zum republikanischen Diskurs von der Wiedergeburt in die neue Welt der Republik.117 Zugleich weicht die alevitische Erwartung der Erlösung vom republikanischen Diskurs ab, indem sie die göttliche Gerechtigkeit und Ordnung im Jenseits verortet. Auch der kurdisch-nationalistische Diskurs bietet insbesondere den jüngeren Dedes eine Folie, vor der sie ihre Hoffnung auf ein Ende der Unterdrückung und auf eine gerechte diesseitige Zukunft erzählen können. In den Aussagen zu den Deutungen der Zukunft sind schon einige Aspekte der Konzeptionen von Gerechtigkeit angesprochen, die die Untersuchung in der nun folgenden Aussagenreihe zu Gerechtigkeit ausführlicher nachzuzeichnen versucht.

7.2.5 Gerechtigkeit Zu den Hauptaufgaben der Dedes in den alevitischen Gemeinden zählten die Vermittlung von Glaubensvorstellungen über göttliche Gerechtigkeit sowie die Streitschlichtung und die Rechtsprechung. Im Folgenden betrachtet die Untersuchung Aussagen der Dedes zu Recht und Gerechtigkeit sowie zu Schuld und Vergebung. In Hinblick auf die zentrale Fragestellung nach den Grenzen und Möglichkeiten des Redens über Gewalt bietet die Analyse insbesondere dieser Aussagenreihe Aufschluss über Bewertungen der erlittenen Gewalt. Da der besonders im Gerichtswesen institutionalisierte Leugnungsdiskurs die Opfer für schuldig erklärt, ringen die alevitischen Dede darum, tradierte Vorstellungen von einer „anderen Gerechtigkeit“, deren Einhaltung ihnen als traditionelle Pflicht oblag, gegenüber normativen Rechtsvorstellungen in der Türkei auszutarieren. Zunächst soll hier die rituelle Verankerung von Schuldbekenntnis und Vergebung im Versammlungsritual (türk.: cem) skizziert werden, die der Rede der Dedes von Gerechtigkeit und Rechtsprechung zugrunde liegt. Im cem leitet der Dede eine kollektive Bitte um Vergebung (türk.: tövbe) an, die gemeinsam von allen Teilnehmern mit der Gebetsformel „Allah möge verzeihen“ (türk.: estağfirullah) gesprochen wird.118 Diese ritualisierte kollektive Vergebungsbitte ist ein

117 Dreßler (2002, 224–8). 118 Langer (2008, 72, 97). Siehe außerdem: Larsson (2014); Peterson (2002, 244–5).

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wesentlicher Bestandteil des cems und folgt im Ablauf nach der komplementären Erklärung des allgemeinen Einverständnisses (türk.: rızalık), das der Dede zu Beginn der Versammlung von allen Teilnehmern einholt und gegebenenfalls mittels Rechtsprechung regelt. Nachdem zunächst die einzelnen Teilnehmer miteinander „ins Reine kommen“ müssen, also einander verzeihen und vergeben sollen, wird danach gemeinsam um die göttliche Vergebung gebeten. In diesem ritualisierten Ablauf bildet die zwischenmenschliche Vergebung die Voraussetzung, um im Einvernehmen die göttliche Vergebung erbitten zu können. In der folgenden Sequenz spricht Kazım aus dem Baba-Mansur-ocak über die Bedingungen für die Vergebung im Görgü cem: Kazım: Wenn du in den Görgü cem gehst, dann wirst du deine Hände, Lenden und Zunge beherrschen. Ohne das zu kritisieren, ohne Vorurteile, das ist heute vielleicht an einigen Orten, an vielen Orten besprochen worden, inwieweit das richtig ist und inwieweit das falsch ist. Unsere sunnitischen Mitbürger sagen eben, wenn du eine Sünde begehst, gehst du in die Moschee und verrichtest das rituelle Gebet (namaz), dann werden dir deine Sünden vergeben. Allah bewahre, bei uns gibt es so etwas nicht. Wenn ein talip sein Recht des Anderen (kul hakkı) verwirkt hat, wenn er lügt, Allah bewahre, wenn er stiehlt, Allah bewahre, wenn er Ehebruch begeht und ähnliche schlechte Angewohnheiten hat, dann hat er gar keinen Platz im Görgü cem. Er wird nicht in den cem gelassen, weißt du? Er wird ganz sicher nicht hineingelassen. Um die strengen Bedingungen für eine Vergebung im Alevitentum zu unterstreichen, vergleicht Kazım sie mit der sunnitischen Glaubenspraxis des rituellen Gebets in der Moschee. Seiner Meinung nach ermögliche es die sunnitische Praxis dem Einzelnen aufgrund der fehlenden sozialen Kontrolle durch die Gemeinschaft, relativ leichtfertig zu sündigen, weil eine unkomplizierte und bedingungslose Vergebung von göttlicher Seite garantiert sei. Hingegen bestehe im Görgü cem, wie Kazım herausstellt, in dem gemeinsamen Einverständnis, also der Vergebung aller Teilnehmer untereinander, die Bedingung für die Teilnahme am Ritual. Der respektvolle Umgang miteinander entsprach dem Recht des Anderen, das auch Nicht-Angehörige der alevitischen Gemeinschaft miteinschloss.119 Ohne das kollektive Einverständnis für die Teilnahme einer Person erfolge dessen Ausschluss aus dem Ritual, und nach dem Richtspruch des Dedes werde eine Bestrafung für den Schuldigen festgelegt. Entsprechend dieser

119 Rechte des anderen, „kein Wesen darf das Recht eines anderen Wesens verletzen“, siehe: Aksünger (2013, 98).

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Praxis im cem kam ein wesentlicher Teil der Verantwortung dafür, wem vergeben wurde, der Glaubensgemeinschaft zu.120 Während des Rituals wurde öffentlich und kollektiv unter der Leitung des Dedes über die Gewährung der Vergebung entschieden. Mit diesem Vergleich verdeutlicht Kazım, dass die sunnitische Praxis lediglich eine formale Einhaltung der Gebetspflichten voraussetze, während die alevitische Praxis das gemeinschaftliche Übereinkommen und die gegenseitige Vergebung der im cem versammelten Gemeinschaft für die göttliche Vergebung erfordere. Auf die Rolle der Geistlichen in der göttlich legitimierten Rechtsprechung gehen mehrere Aussagen näher ein. So hebt auch Rıza aus dem Sarı-Saltıkocak, geboren 1934, die hohe Verantwortung hervor, die in diesem System beim Menschen liege:121 Rıza: Unsere Familie ist groß. In der Vergangenheit waren die Leute dieser Gegend unserer Familie sehr verbunden. Unsere Familie war auch eine sehr fähige Familie. Sechshundert Jahre lang banden wir uns an keinerlei Herrschaft. Die Leitung über die Gegend hier lag bei den ocaks, den Dede ocaks. Das Recht lag in den Händen der Dedes. Sie schlossen Frieden. Im Alevitentum gibt es keinen Streit und keinen Groll. Niemand darf niemandem böse sein. Beherrsche deine Hände, Lenden und Zunge haben sie befohlen. Es gibt vier Tore, şeriat, tarikat, marifet, hakikat, jedes Tor hat einen Wächter, rehber, pir, mürşit, müsahip. Im Alevitentum gibt es keine Lüge, keinen Ehebruch, nichts Unreines. Immer wird jeder sich selbst auf Schlechtes untersuchen und sich reinigen. In unserer Philosophie suchen wir unseren Schöpfer nicht auf der Erde, im Himmel, auf dem Festland, im Meer. Im Koran steht ein Vers, der sagt, ihr werdet die göttliche Gerechtigkeit (haq) im Menschen erkennen. Der Mensch ist ein edles Geschöpf. Der Mensch ist der Herrscher über achtzehntausend Welten (…) das ist der Mensch. Aber wenn der Mensch sich selbst erkennen würde, für sein Inneres einstehen würde, sich von Schlechtem fernhielte, nicht lügen würde, nichts Verbotenes, keinen Ehebruch begehen würde, das Recht des anderen (kul hakkı) anerkennen würde, das Große und das Kleine anerkennen würde, seinen Verstand für Gutes verwenden würde, dann wäre dieser Mensch der göttlichen Gerechtigkeit (haq) am nächsten. Aber wenn er betrügt, dann ist das etwas anderes. Zwischen diesem Menschen und der göttlichen Gerechtigkeit (haq) kann keine Verbindung bestehen bleiben.

120 Engin (2001, 51). 121 Interview am 28. 8. 2011, in Dersim, Kreis Hozat.

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Rıza stellt die historische Position der Dedes gegenüber den weltlichen Herrschern als autonom heraus. Mit uneingeschränkten Rechtsgewalten ausgestattet, hätten die Dedes die Gegend jahrhundertlang regiert. Entgegengesetzt zum kemalistischen Diskurs stellt Rıza die Dedes als Friedenstifter dar, deren Fähigkeiten ihre Unabhängigkeit sicherten. Der Mensch könne die göttliche Gerechtigkeit, haq, durch Selbstdisziplinierung und innere Reinigung in sich selbst erkennen. Der republikanische türkische Diskurs erhob eben diesen Glauben an Gott im Menschen zum Vorwurf, um die Aleviten als Atheisten zu diskreditieren. Den Grund für den Verlust der früheren Machtstellung seiner Familie sieht Rıza darin, dass sich die Menschen der weltlichen Herrschaft unterordnen würden, womit die Entfernung von der göttlichen Gerechtigkeit einhergehe. Die Rechtspraxis der Dedes vertrete die göttliche Gerechtigkeit, wodurch Rıza die Unterordnung unter eine weltliche Herrschaft und deren Justiz infrage stellt. Zu dem Konzept des Rechts der Anderen, kul hakkı, führt Kazım aus dem Baba-Mansur-ocak Folgendes aus: Kazım: Da unsere Leute nicht aus eigener Kraft ihre eigenen Hände, ihre eigenen Gedanken, ihren eigenen Willen beherrschen können, ihr Selbst nicht beherrschen können, weißt du, also. Ein Mensch\ Ohnehin hat das der Pir Hünkar gesagt. Er sagte, beherrscht eure Hände, Zungen und Lenden, eure Vertrauten und Ehepartner, weißt du, also? Wenn ein Mensch seine eigenen Bedürfnisse vor sich herträgt, dann heißt das, dass dieser Mensch aus der Menschheit herausgetreten ist. Es ist nicht möglich, dass du jeden deiner eigenen Wünsche, jedes Bedürfnis erfüllst, weißt du? Nach den Befehlen des Allmächtigen Allah, weißt du, also? Also, nach den Geboten des Höchsten also, weißt du? Wenn du dich auf diese Weise verhältst, weißt du, also, erlangst du das Recht auf Leben. Auch nennen wir es das Recht des Anderen (kul hakkı). Das Recht des Anderen zu verletzen, ist eine große Sünde. Kazım beruft sich auf die ethischen Grundsätze des Pir Hünkar Hacı Bektaş Veli zur Selbstdisziplin, zur Beherrschung von Händen, Zunge und Lenden und dem Respekt gegenüber dem Nächsten. Entsprechend der Überlieferung des Korans betont er, dass in der Verletzung der Rechte des anderen eine große Sünde bestehe. Damit die Gläubigen in Dersim diese ethischen Grundsätze einhalten können, bedürfe es einer unterstützenden Kraft, womit er auf die Rolle der Dedes als Rechtssprecher nach der traditionellen Ordnung eingeht, ohne die sich der alevitische Glaube verlieren würde. Aus den bisherigen Ausführungen wurde ersichtlich, dass sich die meisten Erinnerungserzählungen an die Praxis der rituellen Vergebung auf die Situation

7.2 Aussagereihen von alevitischen Dedes

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innerhalb der Gemeinschaft beziehen. Für den Fall, dass einer der Teilnehmer am cem sich an jemandem schuldig gemacht hatte, der nicht im cem anwesend war, also an einem Außenstehenden, nicht zur Gemeinde gehörenden oder ausgeschlossenen Menschen, bestand das Problem, wie dessen Vergebung trotz seiner Abwesenheit eingeholt werden konnte. Der Umgang mit diesem Problem wird in den Erinnerungserzählungen in Bezug auf die Frage beleuchtet, wie die Dedes über Schuld hinsichtlich des Genozids an den Armeniern reden. Dazu wird hier ein Ausschnitt aus der Erzählung von Haydar aus dem Pilvenk-ocak herangezogen, der zwei Schuldfälle aus einem cem schildert: Haydar: Um diesen cem zu halten, müssen zunächst alle Bauern, die dorthin kommen können, ausreichende Kompetenzen besitzen. Es wird nach Einverständnis gesucht, nach Gerechtigkeit und Recht. Gibt es unter euch jemanden, der verärgert ist? Zum Beispiel gab es in unserem Dorf einen Nachbarn von uns in meinem Alter, der mich für mein Leben geprägt hat. Er war klein, er war der Heumacher des Dorfs. Er war wirklich ein sehr liebenswürdiger Mensch im Umgang und mit seinem Leben. Der Mann stand auf und sagte, ich bin in der Enge. Wenn er sagt, ich bin in der Enge, bedeutet das also, ich bin schuldig. Er sagt es also der Gemeinde von sich aus. Die Leute fragen, was ist es, was ist los, warum bist du in der Enge, was ist deine Schuld? […] die Wirkung auf uns, wir sprechen vom cem. Der pir fragte, was ist deine Schuld? Erzähl, sodass die Gemeinde es hört. Er sagte, in unser Haus kam, ich weiß nicht woher, eine Erzincaner Metallschale. In Erzincan werden doch Kupferdinge hergestellt. Was wir Metallschale nennen, so eine große, für Wasser und Essen. Sie kam von außen in unser Haus. Wir benutzen sie. Wem sie auch gehört, wir benutzen sie ohne Einverständnis. Ich lernte es eben dort, dass im Alevitentum das Einverständnis grundlegend ist. Wenn für eine Sache kein Einverständnis eingeholt wird, dann gilt diese Sache als haram. Deswegen, sagte er, wir benutzen sie. Wem sie auch gehört, ich möchte ihn um sein Einverständnis bitten. Als er das so sagte, sagten die Leute, nanu, was ist denn schon dabei? Der pir sagte der Gemeinde, was er tun soll. Er wandte sich an die Gemeinde und sagte, gibt es jemanden, der eine solche Metallschale verloren oder abgegeben hat? Das ist die aktuelle Situation. Niemand erhob seine Stimme. Dann fassten sie einen Entschluss. Sie sagten, benutze sie. Gehe zu Pilgerorten, also sagen wir, in unserem Dorf gibt es einen Pilgerort, den wir X nennen, nahe des Dorfs Y. Mindestens aus zwanzig Dörfern kommen sie dorthin und treffen sich. Wenn du an einen solchen Ort gehst, sprich da-

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von. Vielleicht gehört sie einem von diesen Bauern, hat sich unter die deinen gemischt und ist so zu dir gekommen. Wenn der Besitzer auftaucht, lass sie verzinnen, da es Kupfer ist, wird Zinn aufgetragen. Du wirst sie verzinnen lassen, du wirst sie reparieren und ihrem Besitzer zurückgeben. Deswegen wird dir verziehen, wir entheben dich aus deiner Enge, also es sei dir verziehen oder es sei dir vergeben. Also, vielleicht fiel auch von diesem Mann, der sich so beschämt verkroch, ein riesiger Berg, eine Last ab. Das war das Leben bei ihnen. Im Dorf gab es noch einen, der danach sagte, ich bin in der Enge. Er war ein Raufbold, einer, der die Grenzen der Felder der Bauern verschob. Nanu, warum du? Als ich mit den Ochsen das Feld pflügte, beschlagnahmte ich drei Einheiten (evlik) des Felds von İbrahim. Was wir evlik nennen, ist also so eine Fläche von der Länge der Zimmerdecke. Deswegen kam er zu mir, wurde auf mich wütend und ich schlug ihn, da ich kräftiger bin. Jetzt soll der pir kommen und es regeln. Der pir soll einen Stein platzieren, sodass von nun an unsere Grenze festgelegt sei. Die Leute sagten, nein, er soll in der Enge bleiben, also, er soll so schuldig bleiben. Nun, was ist seine Strafe? Er sagte, seine Strafe ist es, dass seine Tiere nicht mit den Tieren des Dorfs [zur Weide] gehen werden. Ihm wird kein lokma gegeben werden.122 Das waren die Strafen in dieser Zeit. Also nicht, führ ihn ab, werfe ihn ins Gefängnis, foltere ihn. Der Mann war natürlich Bauer. Es gab niemanden, der die Tiere zur Weide bringen würde, es gab niemanden, der den Mann zum Dings bringen würde. Er wurde komplett aus dem Leben ausgeschlossen. Also, stellt euch vor, dieser Mann erlebte das so, dass er weinte und jammerte. Also, wie könnt ihr mich einer solchen Strafe unterziehen? Ich erlebte das in diesen cems. Das war wirklich, was uns am meisten beeinflusste. Also eine Gesellschaft, die ihre eigene Gerechtigkeit unter sich suchte. Sie machte das zu ihrem Glauben, sie zeigte ihr Einverständnis, und regelte die Probleme in den Beziehungen. Eine Form, um die Vergebung von jemandem in dessen Abwesenheit beim cem zu bitten, schildert Haydar in seiner Erinnerung an einen cem in seiner Kindheit. An dem Fall des unrechtmäßigen Besitzes einer Kupferschale aus Erzincan zeigt sich, wie die Gemeinschaft mit Nicht-Angehörigen und Abwesenden umging. Kupfer- und Zinngeschirr, das generell von armenischen Handwerkern hergestellt und repariert wurde, war in den Haushalten in Dersim und Umgebung verbreitet. Die unrechtmäßige Aneignung armenischen Besitzes spielte

122 Lokma, auch loqme (zaza.), bezeichnet eine Opfergabe, siehe: Gezik (2010, 112–3).

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während des Genozids 1915 und in dessen Folge eine wichtige Rolle. Demnach hätte es viele Anlässe zur Selbstanzeige unter den Bewohnern in Dersim gegeben. Aufgrund der Abwesenheit der rechtmäßigen Besitzer im cem bedurfte es der Selbstanzeige oder der Anzeige aus der Glaubensgemeinschaft heraus, um einen solchen Fall vor das Gericht in einer cem-Versammlung zu bringen. Der Besitz der Kupferschale rief ein Schuldgefühl bei ihrem neuen Besitzer wach. Um einen Ausgleich zu schaffen und um somit Vergebung zu erreichen, wurde ihm von der Gemeinde auferlegt, dass er die Schale restaurieren lassen und ihrem eigentlichen Besitzer zurückgeben solle. Dabei geht dieser Richtspruch davon aus, dass der Besitzer noch am Leben war. Die hier geschilderte Form von ausgleichender Gerechtigkeit und Vergebung von Schuld geht von einem intakten gesellschaftlichen Gefüge aus. Dieses gerät angesichts des Genozids, der vollständigen Entrechtung, Enteignung und Vernichtung der Armenier und syrischen Christen, endgültig aus dem Gleichgewicht. Mit der zunehmenden Zerrüttung des sozialen Gefüges in Dersim erklären die Dedes auch das Ende ihrer traditionellen Stellung als Richter. Der ungeklärte Rechtsstatus der Aleviten im millet-System führte in republikanischer Zeit zu den Bemühungen der Dedes, eine Anerkennung ihrer Religionsgemeinschaft vor dem nationalstaatlichen Rechtssystem zu erreichen, wie Cafer aus dem Celal-Abbas-ocak in Hinblick auf eine offizielle staatliche Bestätigung seiner heiligen Abstammungslinie schildert: I: Welche Folgen hatte dieses Dokument [die secere] für eure talips? Cafer: Für unsere talips gibt es überhaupt keine [Folgen]. Es ist nichts passiert. Also, was heißt das? Wenn vonseiten des Staats etwas passiert, ist er von dieser Abstammung, also. Mit diesem Dokument bescheinigt er sich selbst, dieser ist ein Seyit. Also, das heißt Sicherheit. So wie jeder Staat ein Grundgesetz hat, gibt es auch ein Grundgesetz der Türkei. Das Grundgesetz sagt, ungeachtet der Religion, Rasse und Konfession sind die Menschen vor dem Gesetz gleich. Diese Gleichberechtigung gibt es bei uns nicht. Wenn du fragst, warum gibt es keine Gleichberechtigung? Wo es doch nach unserer Religion, wenn es doch den Koran gibt und der Koran die ehl-i beyt anerkennt. Von den alevitischen Kindern gibt es keinen, der Präsident der Republik wäre. Es gibt keinen, der Premierminister wäre, keinen, der Generalstabschef wäre! Kein Alevite ist der Leiter des Diyanet geworden. Kein Alevite ist Polizeikommandant geworden, das gibt es nicht! Sobald gesagt wird, diese Leute sind aus Tunceli, aus Dersim, in Ordnung! Vorbei! Vorbei! Deswegen gibt es für uns keine Gerechtigkeit, also. In unserem Land gibt es das nicht. Wenn sie sagen, doch, gibt es, dann sollen sie mir in der Leitung des Diyanet

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einen, dann sollen sie mir einen alevitischen Diensthabenden zeigen. Sie sollen mir einen Reinigungsmann zeigen, ja! Aber wenn wir in den Koran schauen, sagt der Koran, dass er keine şeyhs, Mollas, keine Derwische anerkennt. Er erkennt auch keine Konfession an, allein die ehl-i beyt erkennt er an. Ja und, wir sind auch die Nachkommen der ehli beyt. Aber für uns nicht, gibt es nichts. Angesichts dessen, dass eine offiziell von staatlicher Seite beglaubigte secere dem Alevitentum keine Rechte garantiert habe, kritisiert Cafer generell die Lage für seine Religionsgemeinschaft im türkischen praktizierten Recht. Dabei zieht er eine Parallele zwischen der Missachtung der Schrift und der Missachtung der Dedes. Er zeigt diese nicht nur in der im türkischen Grundgesetz verankerten Gleichberechtigungsklausel auf, sondern auch in der seiner Meinung nach im Koran festgelegten Herausstellung der ehl-i beyt als den rechtmäßigen Vertretern Gottes auf Erden. Mit seinen Anklagen und Einforderungen von Anerkennung wendet Cafer sich an die türkische Religionsbehörde, das Diyanet, was von seiner Aneignung des Diskurses über Schriftloyalität und den säkularisierten modernen Dede zeugt. Einen Konflikt zwischen göttlicher Legitimation und der Anerkennung vor dem weltlichen Recht konstruiert auch die Erzählung von Musa aus dem Aguiçen-ocak, die ich auf seinem Hof in Elazığ aufnahm:123 Musa: Ja, aber die Geschichte ist richtig. In der Geschichte gibt es keine Meinungsverschiedenheit (ihtilaf). Die Geschichte ist richtig. Nun erleben wir in der Türkei ein Problem, historisch gesehen, in der Türkei, der Islam der Sunniten, der Ummayaden und der Aleviten, also zu diesem Thema eben. Hier gibt es eine Meinungsverschiedenheit, es besteht keine Einigkeit. Also es gibt keine Einigkeit. Im Islam gibt es keine Hilfe. Wir sind den ehl-i beyt verbunden. Wir sind nicht als Konfession […] mit ihnen in einem Einvernehmen. Nun gibt es also so eine Auffassung. Ihr seid Propheten, wir erkennen das an, aber es gibt eine Entwicklung, die ihr nicht erfunden habt. Und das ist die Konfession. Aber nach euch […] genau hundertfünfzig Jahre nachher wurden die Konfessionen erfunden. Die Menschen, die heute den Konfessionen angehören, erkennen diese Konfessionen als Recht an. Sie sind also vom Propheten. Unsere Meinungsverschiedenheit hat uns eben als Schia bezeichnet. Unsere Meinungsverschiedenheit mit dem Islam besteht auf diese Weise und wird auch fortbestehen. Wir sind nicht einverstanden. Weil sie

123 Interview mit Musa am 14. 9. 2011, in Elazığ, Türkei.

7.2 Aussagereihen von alevitischen Dedes

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die politische Ideologie ständig bestimmen, schicken sie bis 1826 Patrouillen, verbrennen und zerstören sie. Hinsichtlich der Frage, was als rechtens anerkannt wird, bezieht sich Musa auf einen juristischen Begriff aus der islamischen Rechtswissenschaft, den Dissens, ihtilaf. In seinen Augen liege ein solcher Dissens, eine solche Meinungsverschiedenheit der Nichtanerkennung der alevitischen ehl-i beyt zugrunde und äußere sich in der gegen sie ausgeübten Gewalt. Gegen die Fremdzuschreibung als Konfession (türk.: mezhep), die eine Differenz des Alevitentums vom Islam impliziert, verwahrt Musa sich vehement. Über diese explizite Ablehnung der juristischen Klassifizierung als Konfession definiert er sein Selbstverständnis als Angehöriger der ehl-i beyt in Abgrenzung von der staatlichen Politik und staatsloyalen Rechtsprechung. Vielmehr deklariert er unabhängig von den Begrifflichkeiten der islamischen Rechtswissenschaft eine legitime Vertretung der göttlichen Gerechtigkeit durch die Dedes. Die aktuelle Situation der Dedes, denen ihre frühere Stellung als Streitschlichter abgesprochen wird, schätzt Celal, geboren 1943, aus dem DervişCemal-ocak als in besonderem Maß vulnerabel ein:124 Celal: Also du wirst verstehen, wir sind sowohl in den Bergen [von den linksmilitanten Organisationen], als auch in den Beziehungen [von staatlichen Institutionen] getroffen worden. Weil wir nichts gemacht haben, fällt es uns nicht leicht. Wenn wir wenigstens etwas getan hätten oder Leute in den Bergen geworden wären, dann hätten wir sagen können, wir haben es getan, wir stehen dafür ein. Wenn wir Leute mit Beziehungen gewesen wären, hätten wir wiederum sagen können, wir stehen dafür ein. Aber wir waren weder Leute der Berge, noch Leute mit Beziehungen, also. Wir sind in der Mitte getroffen worden, weil wir uns in niemandes Angelegenheiten eingemischt haben, haben sie uns von beiden Seiten angegriffen. Seine Erinnerungserzählung beendet er mit einer Erläuterung zu der Aufgabe des Dedeamts, insbesondere in seiner rechtsprechenden Funktion: Celal: Wir haben alles an Allah übergeben. In der Ruhe des Jüngsten Tags, wie viele Prozesse sie miteinander haben, sie sollen sie austragen. Glaub mir, bis zum heutigen Tag stehen wir als Familie zu unserem Wort. Aber die einen wollen uns benutzen, die anderen wollen von uns profitieren.

124 Interview am 3. 8. 2011, in Dersim, Kreis Ovacik.

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Wenn jemand über uns die Situation zu destabilisieren versucht, dann ist das etwas, was uns nicht erreicht. Wenn unsere Familie davon wüsste, dann würden wir so etwas nicht zulassen, aber wenn es ohne unser Wissen geschieht, was sollen wir tun? Was sollen wir tun? Unsere Kraft reicht nicht mehr aus, damit wir selbst davon leben können. Um die anderen zu erreichen, reicht sie schon gar nicht mehr. So ist mein Leben verlaufen, meine Schwester. In der Vergangenheit nahmen die Dedes eine gesellschaftliche Stellung als neutrale Schlichter zwischen einander verfeindeten oder miteinander zerstrittenen Parteien ein. Diese neutrale Position, auf der ihre herausgehobene gesellschaftliche Position beruhte, gewährte auch ihre Immunität gegenüber gesellschaftlichen Spannungen. Als die türkische Republik begann, in Dersim ihre Macht gewaltsam auszuüben und ihr Rechtssystem zu etablieren, wurde die exponierte Position der Dedes auf bisher beispiellose Art angreifbar. Seine Entscheidung, die Rechtsprechung aufzugeben, begründet Celal mit seiner Erwartung der göttlichen Gerechtigkeit. „In der Ruhe des Jüngsten Tags, wie viele Prozesse sie miteinander haben, sie sollen sie austragen.“ Somit nimmt er kritisch Abstand von der staatlichen Justiz, deren Zeit er ohnehin bis zur Einsetzung des göttlichen Rechts am Jüngsten Tag befristet sieht. Die Aussagenreihe zu Gerechtigkeit vermittelt die traditionelle Vorstellung aus der Rechtsprechung durch die Dedes im cem, wonach göttliche Vergebung nur durch kollektive Einigung erreicht werden kann. Die Verantwortung über Schuldbekenntnis und Vergebung liegt somit zu einem großen Teil bei den Menschen. Die Dedes galten als die Stellvertreter der göttlichen Gerechtigkeit auf Erden. Ihre Persönlichkeit und Rechtsprechung stellen ihre Nachkommen als unabdingbar für die Wahrung der ethischen Regeln der Selbstdisziplin und dem Recht des Anderen, kul hakkı, dar. Das kollektive selbstregulierende Rechtssystem weist trotz des Rechts des anderen angesichts der staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim eine Lücke auf, da es eine Selbstbezichtigung nicht gegenüber abwesenden, geschädigten Personen voraussetzt, die als Opfer der Vernichtung keinen Ausgleich mehr für ihr erlittenes Leid entgegennehmen können. Mit Bezug auf die Rechtsordnung im Alevitentum stellen die Dedes die nationalstaatliche Jurisprudenz und die staatsloyale islamische Rechtswissenschaft in der Türkei regelhaft in Frage. Den juristischen Dissens, ihtilaf, den die islamische Rechtswissenschaft religionshistorisch den Aleviten als Konfession, mezhep, zuschreibt, lehnen die Dedes ab, da dieser dem osmanischen Staat zur Rechtfertigung von Gewalt gegen die Aleviten diente. Ihre Situation in Dersim beschreiben die Dedes als besonders vulnerabel, da sie weder in ihrer vormaligen Stellung als Streitschlichter in den lokalen Strukturen verankert, noch durch das staatliche Rechtssystem geschützt sind.

8 Schluss Die vorstehende Untersuchung ist der Versuch einer diskursanalytischen Rekonstruktion der Grenzen und Möglichkeiten des Redens über Vergangenheiten, insbesondere über Erfahrungen von Verfolgung und Gewalt in der Moderne. Die Analyse widmete sich autobiographischen Erinnerungserzählungen über Genozid und Gewaltverbrechen von Überlebenden und deren Nachkommen aus Dersim, einer Bergregion im Osten der Türkei. Um die Bedingungen dieser Rede zu analysieren, wurde die Beziehung zwischen diskursiver Wissensproduktion und Macht, als beständiges Ringen um Hegemonie, in das Zentrum der Betrachtung gerückt. Angesichts der Bedeutung der oralen Tradition in der Region verfolgte die Untersuchung das Ziel, den Prozess der Wissensgenerierung über Vergangenheiten in der Moderne nachzuzeichnen, um eine spezifische diskursive Formation und Praxis mündlicher und schriftlicher Aussagen zu rekonstruieren. Somit konzentrierte sich die Untersuchung darauf, verschiedene Rekonstruktionen von Vergangenheiten in schriftlichen und mündlichen Narrativen in ihrer wechselseitigen Beeinflussung und Interdependenz zu beleuchten. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf die Ausschluss- und Anpassungsmechanismen des hegemonialen Leugnungsdiskurses zum Genozid an den Armeniern gelegt, über die sich nicht nur das offizielle Geschichtsnarrativ, sondern auch private Erinnerungen konstituieren. Um die Schlüsselfrage danach zu beantworten, inwiefern es möglich ist, in Abhebung von hegemonialen Diskursen von verschwiegenen Vergangenheiten und verleugnetem Wissen zu reden, wurden Prozesse der Einschreibung der autobiographischen Erinnerungserzählungen von Überlebenden des Genozids an den Armeniern 1915 und den staatlichen Gewaltverbrechen 1938 und deren Nachkommen in den hegemonialen Leugnungsdiskurs in der Türkei analysiert. Die Untersuchung ging damit der Frage nach, wie sich die spezifische Erzähltradition in der Region Dersim in Folge der Erfahrung von Verfolgung und Gewalt in der Moderne wandelte und welche Funktion ihr in Erinnerungserzählungen heute zukommt. In Anlehnung an Zygmunt Baumann folgte die Untersuchung dem Gedanken, dass hegemonialen Diskursen in der Moderne zentral eine Strategie inhärent ist, ambivalente Aussagen auszumerzen, indem sie deren Anpassung an mächtige Narrative erzwingen. Die Bedeutungsoffenheit solcher ambivalenter Aussagen ist nach dem modernen Verdikt der Eindeutigkeit negativ konnotiert. Implizit formulieren hegemoniale Diskurse auf diese Weise die Drohung, vom hegemonialen Wissen abweichende Narrationen zu verwerfen und deren Träger mit Gewalt auszuschließen. https://doi.org/10.1515/9783110630213-008

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Nach Zygmunt Baumann führt Wissen, welches in hegemonialen Diskursen als ambivalent zurückgewiesen wird, unweigerlich zu weiteren Ambivalenzen, zu einem anderen Wissen, das sich wiederum nicht eindeutig zuordnen lässt. Mit einem Begriff von Michel Foucault wurde dieses ambivalente Wissen als „verworfenes Wissen“ beschrieben, dessen immanentes Potenzial, „wieder aufzutauchen“, der hegemoniale Diskurs fürchtet. Als zentrale These der Untersuchung ist festzuhalten, dass die Bevölkerung von Dersim insbesondere aus ambivalenten Zuschreibungen, die in hegemonialen Geschichtsnarrativen über die Vergangenheit der Region bestehen, semantisches Behauptungspotential für ihre eigenen Erinnerungserzählungen schöpfen kann. Angenommen wurde zudem, dass ohne die Erfahrung der erlittenen Gewalt in der Moderne die orale Tradition schon früher durch den Verschriftlichungsprozess abgelöst worden wäre. Die mündliche Überlieferung bietet die Möglichkeit, an Motive anzuschließen, die auf verworfenes Wissen Bezug nehmen und semantische Zugänge zu subalternen Vergangenheiten bieten. Die Geographie von Dersim, die von hohen Bergen und reißenden Flüssen geprägt ist, verbindet sich in beiden mündlichen Überlieferungen, der Überlieferung der armenischen wie auch der alevitischen Gemeinschaft, mit dem Glauben an lokale metaphysische Schutzmächte. Über deren Manifestationen an bestimmten Orten, meist Pilgerstätten, und deren aktives Eingreifen in den Verlauf der Ereignisse sind viele Legenden und Mythen mündlich tradiert. Diese Überlieferungen wurden als eine Folie für gegenwärtige Erinnerungserzählungen an Verfolgung und Gewalt untersucht. Um diese Motive subalterner Vergangenheiten aus der oralen Tradition rekonstruieren zu können, wurden im ersten Teil der Untersuchung verschiedene schriftliche Diskurse über Dersim in den Blick genommen und als Bedingungen der mündlichen Rede kritisch beleuchtet. Die einzelnen untersuchten Diskurse stellen jeweils Teildiskurse des hegemonialen Leugnungsdiskurses dar, an den sie unterschiedlich anschließen. Aus der Analyse des kemalistischen Diskurses über Dersim ergibt sich, dass er, direkt an den jungtürkischen Diskurs anknüpfend, die entscheidenden Ausschlusskriterien formulierte. In Hinsicht auf die Zugehörigkeit von Dersim zur imaginierten türkischen Nation entwirft der kemalistische Diskurs drei Differenzkategorien: religiös, sprachlich und geographisch. Durch die Zuschreibung dieser Differenzen als a) religiös alevitisch, b) Dimli/Zazaki-sprachig und c) geographisch abgelegen und unzugänglich, vollzieht sich in diesem Diskurs eine Verwerfung der Region und ein Ausschluss ihrer Bevölkerung aus der türkischen Nation. Insbesondere im Vorwurf der religiösen und politischen Unzuverlässigkeit knüpft der kemalistische Diskurs zu den staatlichen Gewaltverbrechen in Dersim 1938 an den jungtürkischen Leugnungsdiskurs zum Genozid an den Armeniern an. In dem

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Diskurs zu den Gewaltverbrechen 1938 in Dersim lässt sich somit eine frühe Aufnahme, Verstetigung und damit Sedimentierung des Leugnungsdiskurses zum Genozid an den Armeniern nachvollziehen. Als weitere verschriftlichte Diskurse zu Dersim wurden Diskurse der türkischen linken Bewegungen, der Gülen-Bewegung und des armenisch-apostolischen Patriarchats in Istanbul untersucht. Als Ergebnis zeigt sich, dass der Diskurs der TIKKO, gegründet von Ibrahim Kaypakkaya, eine Kritik am Leugnungsdiskurs übt. Er lehnt die Herrschaft der jungtürkischen und im Anschluss daran der kemalistischen Elite als faschistische Regimes ab und tritt für eine Geschichtserzählung ein, die den Genozid an den Armeniern und die verübten Gewaltverbrechen in Dersim eingesteht. An diese Aussagen können die armenischen Überlebenden und deren Nachkommen ebenso wie die Aleviten in Dersim ihre Erinnerungen anschließen, worin vermutlich ein weiterer Grund für die staatliche Verfolgung der Vertreter der TIKKO besteht. Die Analyse des Diskurses des politischen Islam der Cemaat-Bewegung hinsichtlich Dersim zeigt, dass dieser mit dem kemalistischen Diskurs korreliert, dabei allerdings insbesondere die religiöse Differenz der Bevölkerung in Dersim betont. Indem sie nicht als Teil der Aleviten anerkannt, sondern als Ungläubige kategorisiert werden, drängt er sie in eine angreifbare Position. Durch die Abwesenheit alternativer Bildungseinrichtungen in Tunceli wirkt sich die Präsenz der Cemaat-Bewegung besonders stark aus. Selbst der Diskurs des armenisch-apostolischen Patriarchats in Istanbul ist, wie die Untersuchung deutlich macht, vom hegemonialen Leugnungsdiskurs durchdrungen. Ausdruck findet dies etwa in dem vom Patriarchen geäußerten Zweifel an der religiösen Zugehörigkeit der Nachkommen der armenischen Überlebenden aus Dersim zur armenisch-apostolischen Kirche und der Ausgrenzung islamisierter Nachkommen der armenischen Überlebenden. Die erwähnten Ausprägungen des Leugnungsdiskurses in verschriftlichten Diskursen aus dem ersten Teil der Untersuchung, dienten dann im zweiten Teil der Einordnung seiner Auswirkungen auf gegenwärtige Erinnerungserzählungen in Dersim. Die Diskursanalyse der Erinnerungserzählungen führte zu zwei zentralen Ergebnissen: Erstens zeigt sich, dass diese dem hegemonialen Leugnungsdiskurs unterworfen sind, dieser ihnen eingeschrieben ist. Dies führt zu inhärenten Widersprüchen und Abbrüchen in den Erzählungen, die wiederum davon zeugen, dass ihnen narrative Folien zugrunde liegen, die nicht dem Leugnungsdiskurs entsprechen. Sie führen zum zweiten zentralen Ergebnis: In den Erinnerungserzählungen lassen sich Motive aus der mündlichen Überlieferung rekonstruieren, die auf subalterne Vergangenheiten Bezug nehmen. Aus dem Vergleich der im Rahmen der Untersuchung interviewten zwei Gruppen geht hervor, dass sich das Ausmaß der Einschreibung des Leugnungs-

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diskurses in die Erinnerungserzählungen bei den Nachkommen der armenischen Überlebenden und den Aleviten aus Dersim unterscheidet. Dies ist von den jeweiligen sozialen Erinnerungsrahmen abhängig, wie im Folgenden ausgeführt wird. Der wichtigste Grund für die Anpassung an den Leugnungsdiskurs besteht darin, dass er den Überlebenden und ihren Nachkommen eine Möglichkeit bietet, ihre Erinnerungen an gegenwärtig gültige Narrative im bestehenden Wahrheitsregime anschließen und damit an ihr soziales Umfeld vermitteln zu können. Abgesehen davon können sie nur sehr eingeschränkt Erinnerungen auf andere Art und Weise, wie beispielsweise über schweigende Handlungen an ihre Nachkommen vermitteln. Die Leugnung tritt in den Erinnerungserzählungen in drei verschiedenen Formen auf: 1. als Adaptation der argumentativen Leugnung, die das Ereignis umdeutet und dessen Sinn bis zur Unkenntlichkeit verdreht; 2. als negierende Verleugnung, die das Ereignis selbst abstreitet; 3. als verinnerlichtes Schweigen, das es bewusst auslässt, das Ereignis zu verbalisieren. Die zuletzt genannte Form, das verinnerlichte Schweigen, begegnet in der Analyse als besonders komplexes Phänomen, da sich in ihm verschiedene Formen des Schweigens überlagern. Eine Form besteht in der Übernahme des aufoktroyierten Verschweigens der Täter, das sich in der Unmöglichkeit äußert, ihre Narrative im gültigen Wahrheitsregime anzuschließen, da der Leugnungsdiskurs bestimmt und vorschreibt, von wem, wann und wie über den Gegenstand gesprochen werden darf. Eine andere Form stellt hingegen das Schweigen der Überlebenden über ihr erlittenes Leid dar. Dieses Schweigen kann von dem Verlust ihrer Erinnerung und dem Vergessen herrühren, da mit ihrem sozialen Umfeld auch ihr sozialer Erinnerungsrahmen verloren ging. Es kann ihnen zudem aber auch als Strategie dienen, um ihren Nachkommen gegenüber familiäre Rollen erfüllen zu können, die gesellschaftlich von ihnen erwartet werden und um ihre Nachkommen vor dem Wissen um die Verfolgung und Gewalt, die ihre Vorfahren erlitten, und zugleich vor fortgesetzter Gewalt, zu schützen. Unter den Bedingungen der anhaltenden Leugnung in der postgenozidalen Gesellschaft, die den legitimierenden Rahmen für eine Fortsetzung der Verfolgung und Gewalt gegen ihre Familien verstetigt, wird die Furcht der Überlebenden ständig aufrechterhalten. Das verinnerlichte Schweigen über die Erfahrung von Leid und Verlust stellt innerhalb der Familien der Überlebenden und deren Nachkommen einen Bestandteil ihres Weiterlebens dar. In der familiären Überlieferung wird es, wenn thematisiert, oft mit Vorwürfen an den Schweigenden verbunden und als Hindernis für die Bewahrung der narrativen Identität der Nachkommen empfunden. Denn obwohl die Überlebenden schweigen, um ihre Nachfahren zu schützen,

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kann dieses Verhalten bei den Nachfahren als Zeichen mangelnden Vertrauens in sie aufgefasst und als Ursache für ihre Unkenntnis der eigenen Herkunft und Abstammung bedauert oder auch verurteilt werden. Das verinnerlichte Schweigen stellt aber nicht nur ein Problem dar, wie es in der Forschung meistens interpretiert wird. Im Gegenteil nehmen die Nachkommen es manchmal auch positiv wahr, sogar als ein Verhaltensmuster, an das sie anschließen können. Das Schweigen, das die Nachkommen von den Überlebenden übernehmen, dient den beiden untersuchten Gruppen dazu, sich vor Gewalt und Verfolgung zu schützen. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen besteht in den verschiedenen sozialen Rahmen, welche die Grenzen ihrer Rede bestimmen. Auf eine positive Bewertung des verinnerlichten Schweigens deuten die Erzählungen der Nachfahren der armenischen Überlebenden in Hinsicht auf die religiöse Identifikation seit der Konversion zum Islam, die ihre Vorfahren während des Genozids an den Armeniern vollzogen, um ihr Überleben zu ermöglichen. Aufgrund der seitdem andauernden Diskriminierung und Gewalt, die sie vonseiten der türkischen Gesellschaft und selbst von ihren alevitischen Nachbarn in Dersim erleiden, fühlen sie sich weder dem sunnitischen Islam oder Alevitentum noch dem armenisch-apostolischen oder syrisch-orthodoxen Christentum zugehörig. In diesem Fall erfüllt das verinnerlichte Schweigen, welches sie nach dem Vorbild ihrer Vorfahren als Zeichen ihrer Treue zu ihnen fortsetzen, um sich gleichsam einer eindeutigen religiösen Zuordnung zu entziehen, eine identitätsstiftende Funktion. Auch bei den alevitischen Dedes lässt sich eine ähnliche Übernahme des Schweigens von Vater zu Sohn beobachten. In Reaktion auf die Gewaltverbrechen von 1938 schwiegen die überlebenden Dedes, um sich und ihre Familien vor der Diskriminierung durch türkische staatliche Institutionen, aber auch vor der Gewalt von Teilen ihrer eigenen Gemeinschaft zu schützen. Als ein wichtiges Legitimationsargument für die Gewaltverbrechen in Dersim diente der kemalistischen Regierung der Vorwurf, die alevitischen Dedes in Dersim würden ihre Anhänger hinters Licht führen und ausnutzen. Ebenso wendet der linksmilitante Diskurs sich ablehnend gegen die religiösen traditionellen Autoritäten und gegen die Dedes. Somit setzen die Nachkommen der alevitischen Dedes das Schweigen ihrer Vorväter fort, um sich vor Gewalt zu schützen. Die Nachkommen der armenischen Überlebenden und die Aleviten aus Dersim unterstehen im Diskurs des modernen Nationalstaats dem Druck, sich über ihre Herkunft, Sprache und Religion zu identifizieren. Durch die Erfahrungen des Genozids 1915 und der staatlichen Gewaltverbrechen 1938 wuden die Identitätskategorien der Armenier und Aleviten spezifisch geprägt. Aus der durch Schweigen, Verschweigen und daraus folgend durch Vergessen gekennzeichne-

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ten Überlieferung Zugehörigkeiten zu rekonstruieren, stellt die Nachkommen der armenischen Überlebenden und Aleviten heute vor eine schwierige Herausforderung. Um diese zu bewältigen, schaffen sie sich in ihren autobiografischen Erzählungen eine narrative Identität, die versucht, an die überlieferten fragmentarischen Erinnerungen der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft anzuknüpfen, die sich aber heute vielmehr als eine Identifikation mit modernen Identitätskategorien manifestiert. Die Zugehörigkeit zur armenisch-apostolischen oder syrisch-orthodoxen Kirche ihrer Vorfahren vor dem Genozid nachzuweisen, ist für die Nachkommen der armenischen Überlebenden schon allein aufgrund der im Genozid zerstörten Kirchenarchive unmöglich. Zudem waren in den abgelegenen Bergen von Dersim die armenisch-apostolische und die syrisch-orthodoxe Kirche vor dem Genozid kaum institutionalisiert. Es gab nur wenige Kirchen und Priester, sodass Zugehörigkeitsrituale wie die Taufe auch vor dem Genozid lange Reisen zu Kirchen in der Region erforderten. Anders gestaltete sich die Situation in den umliegenden Städten: In Sivas, Harput, Erzincan und Malatya bestanden bis zum Genozid armenische Gemeinden, die eine wichtige Rolle im städtischen Leben als Händler, Ärzte, Künstler und Fotografen spielten. Die armenischen Überlebenden, die aus Städten mit armenischen Gemeinden im spätosmanischen Reich stammten, gründeten Heimatstadtorganisationen und hielten ihre Erinnerungen in Erinnerungsbüchern, den houshamadyan, fest. Eine vergleichbare Vergemeinschaftung in der Diaspora nach dem Genozid hat es von den armenischen Überlebenden aus Dersim nicht gegeben, wohl nicht zuletzt, weil sie sich auch schon vor dem Genozid vielmehr an städtischen Zentren wie Harput und Sivas orientierten und mit den dortigen armenischen Gemeinden Austausch suchten. Für die syrisch-orthodoxen Christen bestanden Zentren im benachbarten Elazig und in Mardin. Denjenigen armenischen Überlebenden, die in die Dörfer von Dersim zurückkehrten, bot sich weder die Gelegenheit wie den Vertriebenen, die in Istanbul zusammentrafen, ihre Erinnerungen an den Genozid mit anderen Überlebenden auszutauschen noch erfuhren sie von der intensiven künstlerischen Suche nach Ausdrucksformen zu diesem Thema in den armenischen Zeitungen. Für sie erhielten Rituale, die nicht in der Kirche, sondern im Familienkreis eingehalten werden konnten, in der postgenozidalen Gesellschaft der Türkei eine weitaus größere Bedeutung. Wiederum aus Angst vor weiterer Verfolgung, setzten sie die Rituale ihrer Vorfahren schweigend fort und übertrugen sie auf die gleiche Weise an ihre Nachkommen. Da den Nachkommen die explizite Erklärung zu diesen Ritualen fehlt, erschließt sich ihnen die Bedeutung dieser Handlungen und Symbole nur dann, wenn sie diese im entsprechenden Bedeu-

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tungsrahmen erleben und einordnen können. Demzufolge ist für die Nachkommen der Anschluss an die armenische Gemeinschaft in Städten für ihre gegenwärtige retrospektive Identifikation mit der Kultur ihrer Vorfahren entscheidend. In der Region Dersim allerdings, wo gegenwärtig Kirchenruinen lediglich an einen Aspekt der religiösen Zugehörigkeit ihrer Vorfahren erinnern, orientieren sich die Nachfahren an der alevitischen, manchmal an der sunnitischen Praxis, worin sich der anhaltende Anpassungsdruck zeigt, dem sie ausgesetzt sind. Als ein erster Ausdruck der zunehmenden Sichtbarkeit gründete sich der Verein der Dersim-Armenier, der von Istanbul aus versucht, eine identitätsstiftende Kulturarbeit für die Nachkommen der Armenier aus Dersim anzubieten und das Thema des Genozids von 1915 in Dersim öffentlich anzusprechen. Nicht nur vonseiten der Nachkommen der armenischen Überlebenden in Dersim besteht diesem Engagement gegenüber Unsicherheit und Skepsis. Neben einigen Unterstützern wurde seitens des alevitischen Vereins Hollanda Dersim Vakfı, der um Aufmerksamkeit für die staatlichen Gewaltverbrechen von 1938 bemüht ist, Kritik am Verein der Dersim-Armenier laut. Diese Kritik reichte soweit, dass die bloße historische Existenz der Armenier in Dersim abgestritten und damit mustergültig der Leugnungsdiskurs wiedergegeben wurde. Die moderne Identitätskategorie ist auch hinsichtlich der Aleviten in Dersim problematisch. Nicht nur ist der Begriff Aleviten ein moderner, kemalistischer Neologismus, sondern besonders für die damit bezeichnete religiöse Gemeinschaft in Dersim verband sich mit dessen Einführung der gewaltsame Prozess ihrer Ausschließung aus der akzeptierten Gruppe der staatsloyalen, türkischsprachigen Aleviten. Ein deutliches Zeichen dieser diskursiven Ausschließung lässt sich in der Betonung der türkischen Herkunft der Aleviten erkennen. Auf diese öffentlich akzeptierte These der kemalistischen türkisch-nationalen Historiographie nehmen die alevitischen Dedes aus Dersim gegenwärtig regelmäßig Bezug, um ihre Rede zu legitimieren. Ein alternatives Identifikationsangebot präsentiert sich ihnen spiegelbildlich im kurdischen Nationalismus, der im Alevitentum die vorislamische kurdische Religion erkennen will. Ein anderes modernes Identifikationsangebot bietet sich ihnen über ihre Muttersprache Dimilki/ Zazaki, die von hegemonialen nationalistischen Diskursen aber nur solange Akzeptanz erfährt, wie sie entweder dem Türkischen oder dem Kurdischen zugeordnet wird. Die Sprache der Vorfahren sprechen und sich über diese mit deren Tradition identifizieren zu können, bildet für Überlebende von Genozid und Gewaltverbrechen und für deren Nachkommen die Grundlage ihrer Erinnerung. Das Armenische wird in ruralen Gebieten der Türkei seit 1915, wenn überhaupt, dann nur noch flüsternd im Privaten verwendet. Das Dimilki/Zazaki hingegen wird in

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Dersim bis heute als Muttersprache der Mehrheit der Bevölkerung gesprochen und selbst von den Nachkommen der armenischen Überlebenden. Als essenzieller Träger der Erinnerung besteht in der Bewahrung des Dimilki/Zazaki, trotz dessen Einschränkung durch die kemalistischen Sprachpolitik, ein begünstigender Faktor für die kollektive Erinnerung. Im Vergleich zwischen den beiden untersuchten Gruppen wird deutlich, dass der Grad der Übernahme der Leugnung in den Erzählungen sehr unterschiedlich ist, abhängig von der betroffenen Gruppe und dem Ereignis selbst. Wenn es sich um die Erinnerung eines armenischen Überlebenden an den Genozid von 1915 handelt, wird diese auch im Familienkreis nur selten geäußert, sondern vielmehr über das Abbrechen der Rede, über Schweigen und über stille Handlungen an die Nachkommen übertragen. Erinnerungen der in den Gewaltverbrechen 1938 verfolgten Aleviten werden innerhalb der Gemeinschaft hingegen durchaus thematisiert, in den öffentlich vorgetragenen Klageliedern konnte dafür sogar eine Form der kollektiven Erinnerung gefunden werden. Wenn Aleviten aus Dersim über den Genozid an den Armeniern sprechen, verschweigen sie oft den Anteil ihrer eigenen Gemeinschaft an dem Verbrechen. Die Armenier, die den Genozid überlebten, wurden auch 1938 wieder verfolgt. Von diesen unterschiedlichen Erfahrungshorizonten der Gewaltverbrechen bedingt sind auch die verschiedenen Erinnerungsrahmen mit den daran geknüpften Wissensfeldern, an welche die zwei Untersuchungsgruppen jeweils anschließen können. Insgesamt lässt sich aus den Ergebnissen schließen, dass der hegemoniale Leugnungsdiskurs, der sich ursprünglich in Vorbereitung auf den Genozid an den Armeniern argumentativ entwickelte, bis heute die deutlich stärkere Ausschließung von Narrativen der armenischen Überlebenden und deren Nachkommen bewirkt. Die Erinnerungspolitik der AKP-Regierung im Rahmen ihrer Öffnungskampagne verdeutlicht diesen anhaltenden Ausschließungsmechanismus der Leugnung. Bezeichnenderweise scheint es im Vergleich im türkischen Parlament unverfänglicher gewesen zu sein, öffentlich die Gewaltverbrechen in Dersim 1938 zu thematisieren, da es der AKP-Regierung leichtfiel, jegliche Verantwortung von sich zu weisen. An die Opfer des Genozids an den Armeniern zu gedenken, ohne das Verbrechen in einen relativierenden Erklärungsrahmen der Situation zweier Gegner im Ersten Weltkrieg einzuordnen und damit ein typisches Leugnungsmuster zu bedienen, ist im offiziellen Diskurs weiterhin ausgeschlossen. Im Vergleich zu den Armeniern, die sich dem Leugnungsdiskurs am stärksten ausgesetzt sehen, ist es den Aleviten aus Dersim in begrenztem Maß und in bestimmten diskursiven Räumen innerhalb der Gesellschaft in der Türkei möglich, ihre Rede an traditionelle Narrative anzuknüpfen. So ordnen sie ihre Erinnerungen an die Verfolgung und Gewalt, die ihre Gemeinschaft in den staatli-

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chen Verbrechen 1938 erlitt, sowie die anschließenden Gewalterfahrungen in Dersim in alevitische religiöse Erzählmuster der Verfolgung der Schiiten in Kerbela ein, womit sie sich der Leugnung zumindest teilweise entziehen können. Wie die Untersuchung zeigen konnte, bieten den Nachkommen der überlebenden Armenier aus Dersim armenische religiöse Erzählmuster ebenfalls eine Folie für ihre Erinnerungserzählungen vom Genozid 1915. Für das Erzählen von Erfahrungen des Verlusts der Angehörigen, der Gemeinschaft, des sozialen Umfelds finden Motive Verwendung, die in der religiösen Vorstellung die Hoffnung auf ein jenseitiges Leben nach dem Tod ausdrücken. Solche Narrative sind in der postgenozidalen Gesellschaft der Türkei noch weniger anschlussfähig als Narrative, die auf die armenische historische Präsenz in der Vergangenheit Bezug nehmen, da letztere nostalgisch als interreligiöses und interethnisches harmonisches Zusammenleben in osmanischer Zeit gerahmt werden. Eine Möglichkeit der Akzeptanz ihrer Erinnerungen an die erlittene Gewalt ohne deren Anpassung an den hegemonialen Leugnungsdiskurs bietet sich den Armeniern in der Türkei im Allgemeinen und den Armeniern auf dem Land im Besonderen nicht. Aufgrund ihrer Isolation seit dem Genozid von 1915 und in Ermangelung eines kollektiven Erinnerungsrahmens konnten die armenischen Überlebenden und deren Nachkommen in ruralen Gebieten keine Erinnerungsgemeinschaft mehr re-konstituieren, ihrem eigenen Vergessen der Erinnerungen kaum etwas entgegensetzen. Sie hatten ihre Verwandten und ihre Herkunft verloren, durften ihre Sprache nicht mehr sprechen, konnten ihren Glauben nicht mehr öffentlich ausüben, sodass sie sich auf den privaten Raum und die strikt innerfamiliäre Überlieferung beschränken mussten. Aber auch diejenigen Armenier, die aus Dersim nach Istanbul flohen, um Anschluss an die armenische Gemeinschaft in der Stadt zu suchen, erlebten weitere Schwierigkeiten. In Istanbul wurden sie von den Ordnungskräften ausgegrenzt und diskriminiert, in diesem Fall für ihre Herkunft aus Dersim, die im Zusammenhang der Gewaltverbrechen von 1938 und dem Aufkommen linksmilitanter Gruppen seit den 1970er Jahren und besonders der PKK seit den 1990er Jahren mit dem Vorwurf politischer Opposition, sei es kommunistischer oder kurdisch-nationalistischer Orientierung, sowie der Kollaboration mit äußeren Feinden behaftet war. Den Aleviten aus Dersim bietet sich über ihre religiöse Identifikation die Möglichkeit, an dem Prozess der neu erfundenen religiösen Tradition, den die gesamte alevitische Gemeinschaft in der Türkei durchläuft, teilzunehmen. Unter der Bedingung, dass sie ihre Erfahrungen als die sich fortsetzende Verfolgung der Anhänger des Propheten Ali interpretieren, werden ihre Erinnerungen als Teil des kollektiven Gedächtnisses der Aleviten akzeptiert. Dementsprechend sind die alevitischen Dedes bemüht, ihre Erfahrungen der staatlichen Gewalt-

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verbrechen in Dersim 1938 in eine lange Kette von Leiderfahrungen einzuordnen, die für die alevitische Gemeinschaft seit dem Martyrium in Kerbela konstitutiv wirken. Die alevitische orale Tradition in Dersim hat durch das erfahrene Leid in den Gewaltverbrechen von 1938 zweifelsohne einen tiefgreifenden Einschnitt erlitten und unterzieht sich seitdem einer Transformation. Diese Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, dass die mündliche Überlieferungskette von Vater zu Sohn in den alevitischen Dede-Familien unterbrochen ist und damit das tradierte Wissen zunehmend in Vergessen gerät. Gleichzeitig hat mit dem alevitischen Revival in den 1980er Jahren ein Verschriftlichungs- und Kanonisierungsprozess eingesetzt, von dem sich die alevitischen Dedes in Dersim eine Akzeptanz ihrer Religionsgemeinschaft und eine Restitution der gesellschaftlichen Stellung ihrer Väter und Großväter versprechen. Dabei verläuft der Verschriftlichungsprozess des tradierten religiösen Wissens unter den alevitischen Dedes jedoch keineswegs reibungslos, zu eng ist er mit der Aushandlung von Machtpositionen in der religiösen Hierarchie verbunden. Die Dedes aus Dersim reflektieren diesen Prozess ambivalent, da er ihnen zwar eine Akzeptanz in Aussicht stellt, aber nur unter der Bedingung, dass sie ihre Erfahrung von Gewalt und Verfolgung machtkonform umdeuten. Die Widerstände, die sich gegen den Verschriftlichungsprozess bei einigen Dedes aus Dersim beobachten lassen, können daher auch vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Verfolgungserfahrung verstanden werden. Als den traditionellen Trägern des mündlich überlieferten religiösen Wissens bestand die zentrale Funktion der Dedes im Schutz ihrer Gemeinschaft. Mit der Verschriftlichung dieses Wissens verliert sich auch die Bedeutung der religiösen Verstellung aus der schiitischen Praxis, der takiye, womit sich eine zunehmende Schutzlosigkeit der Gemeinschaft verbindet. In dieser Perspektive bot die mündliche Überlieferung durch ihre Flexibilität einen Schutz vor Gewalt, der im modernen Regime der Eindeutigkeit verloren geht. Bezeichnenderweise sind es die Klagelieder der oralen Tradition in Dersim, die den Ort der Erinnerung an die Erfahrungen der staatlichen Gewaltverbrechen von 1938 darstellen. In den Aussagen der Dedes äußert sich ihr Bedauern, dass ihnen der Bruch in der Überlieferung die nötige Akzeptanz ihrer Glaubensgemeinschaft verwehrt. Ein weiteres zentrales Ergebnis der Untersuchung betrifft die Beziehung zwischen Erfahrung, Erinnerung und dem geographisch konnotierten Erinnerungsrahmen. Als Bezugspunkte spielen Orte und daran geknüpfte Narrative eine wichtige Rolle für das Erzählen von Erfahrungen. Die armenischen Überlebenden und ihre Nachkommen und die Aleviten aus Dersim beziehen sich in ihren Erinnerungen regelmäßig auf natürliche Erscheinungen in ihrer physi-

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schen Umgebung, sowie auf deren Rolle für den Schutz vor Bedrohungen in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Das allumfassende Ausmaß der Verfolgung und Gewalt im Genozid an den Armeniern drückt sich in der Art der Bezugnahme auf die Berglandschaft in den Erinnerungserzählungen der Überlebenden und ihrer Nachkommen aus, die von dem einschneidenden Ereignis zeugt. Wie schon im Fall von Angriffen in der Vergangenheit nahm die armenische Bevölkerung aus Dersim und der näheren Umgebung auch während des Genozids 1915 in den Almen und Höhlen in den hohen Bergen Zuflucht. Die Geographie Dersims, die traditionell einen sicheren Ort darstellte und Schutz vor Gefahr bot, erscheint in den Erinnerungen an den Genozid angesichts der systematischen Verfolgung und Vernichtung der Armenier jedoch als durchdrungen von der bedrohlichen Macht der Verfolger. Sie verbinden sich in den Erinnerungen der armenischen Überlebenden mit Gefühlen von tiefgreifender Unsicherheit, Angst, Misstrauen und Verzweiflung gegenüber dem drohenden Verrat durch ihre Nachbarn und der Auslieferung an ihre Peiniger. Diese Assoziation rührt daher, dass viele der mit Mythen und Legenden assoziierten Orte in Dersim zu traumatischen Orten der Verfolgung wurden, an denen Massaker verübt wurden. Seit dem Genozid an den Armeniern überlagern sich in den Erinnerungserzählungen der örtlichen Bevölkerung diese beiden Bedeutungsebenen der mythischen und traumatischen Orte. Sie bilden ein semantisches Spannungsfeld, in welchem Motive aus Narrativen über untergeordnete Vergangenheiten und Muster des Leugnungsdiskurses aufeinanderstoßen. Während der Leugnungsdiskurs die traumatischen Ereignisse, welche die Überlebenden an diesen Orten erlitten, systematisch abstreitet oder argumentativ legitimiert, evozieren die Mythen und Legenden aus den mündlichen Erzähltraditionen Vorstellungen von Schutzmächten, die der Gewalt Einhalt gebieten und die lokale Bevölkerung vor dem Tod bewahren können. Die Erzählungen sind somit von der Ambivalenz geprägt, die durch den notwendigen Anschluss an den Leugnungsdiskurs einerseits und die ihren Erzählungen zugrundeliegenden regional verankerten Schutzvorstellungen andererseits entsteht. Die Analyse der Erinnerungserzählungen ergab, dass es vor allem Verweise auf Motive aus mythischen und religiösen Narrativen sind, die eine Erzählung der Erinnerungen an Erfahrungen extremen Verlusts und Leids ermöglichen. Der Verweis auf solche Motive erlaubt es den Erzählern, die Deutung ihrer Erinnerungen nicht komplett dem hegemonialen Wahrheitsanspruch preisgeben zu müssen, sondern eine Umkehr der bestehenden weltlichen Machtverhältnisse vornehmen und ihre Erinnerungen auf eine jenseitige Ordnungsvorstellung hin orientieren zu können. Indem die Überlebenden dem unwiederbringlichen Verlust, den sie erlitten, eine jenseitige Deutung verleihen, können sie den Umdeu-

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tungsstrategien der ständig um Hegemonie ringenden Macht ausweichen. In dieser Hinsicht verbinden sowohl die armenischen Überlebenden und deren Nachfahren als auch die alevitischen Dedes aus Dersim ihre Erzählungen von Gewalterfahrungen mit Vorstellungen von metaphysischen Mächten, von denen sie im Jenseits einen Ausgleich für das ihnen im Diesseits widerfahrene Unrecht erwarten. Die Erinnerungen an das diesseitige Unrecht werden vor dem Hintergrund einer Erwartung von Wahrheit und Gerechtigkeit im Jenseits, die eine Umkehr der weltlichen Machtverhältnisse impliziert, erzählbar. Durch diesen Ausgleich wird die verlorene, umgestürzte Ordnung narrativ restituiert, die als Folie für die Erzählung notwendig ist. Aus der Perspektive metaphysischer Ordnung erlangen die Erzähler für ihre Erinnerungen eine Gültigkeit, die diesen in hegemonialen Diskursen stetig abgesprochen wird. Die Vorstellung von einer anderen Gerechtigkeit bezieht sich in den armenischen Erzählungen dabei zugleich auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zum einen zeugt sie vom Fortbestehen der Erinnerung an eine gewaltvoll umgewälzte Gesellschaftsordnung und dem daraus resultierenden Unrecht gegen die armenische Gemeinschaft im Genozid und seitdem in der postgenozidalen Gesellschaft, zum anderen vermittelt sie die Erwartung der Widerherstellung dieser gerechten Ordnung am Jüngsten Tag für die Ewigkeit. In ähnlicher Weise verbinden die alevitischen Erinnerungserzählungen, in ihrer Einbettung in die orale Tradition die Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander. Die regionale orale Tradition weist Elemente eines zyklischen Zeitverständnisses auf, wonach das Alevitentum wiederholt Phasen der Ausdehnung und der Verkleinerung erfährt. Zugleich ist die im linearen Zeitverständnis typische Erwartung des Mehdi prägend, der am Ende der Zeit über die Menschen richten wird. Über ihre Interpretationen der Geschichte als auch ihre Vorhersagen für die Zukunft vermitteln die alevitischen Dedes ihrer Glaubensgemeinschaft die Vorstellung einer jenseitigen Gerechtigkeit, welche zu jeder Zeit gültig ist und die göttliche Ordnung in der Endzeit als wahrhaftig einsetzen wird. Über ihr Wissen wollen sie sich darüber hinaus in ihrer traditionellen Rolle als Friedensstifter, Richter und religiöse Autoritäten der alevitischen Gemeinschaft legitimieren. Den Umstand, dass ihnen im gegenwärtig gültigen Rechtssystem des türkischen Nationalstaats diese Rolle abgesprochen wird, deuten sie als weiteren Hinweis auf ein Nahen der Endzeit. Dieses verbinden sie mit der Aussicht auf ein göttliches Gericht, welches über das Unrecht auf der Welt urteilen und die göttliche Gerechtigkeit wiederherstellen werde. Trotz der semantischen Überlagerung von mythischen und traumatischen Orten lässt sich auch weiterhin die Erwartung der Schutzmacht, die der Vorstel-

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lung der Bevölkerung nach von der Natur in Dersim ausgehen kann, als ein Bezugspunkt in den Erzählungen von den wiederholten Erfahrungen von Verfolgung und Gewalt nachzeichnen. Den Schluss dieser Untersuchung soll daher ein Auszug aus einer Erinnerungserzählung bilden, die auf die Schutzfunktion der Natur Bezug nimmt. In Anbetracht der beschädigten Bäume in seinem Garten erinnert sich Hüseyin, ein Nachkomme armenischer Überlebender, an die Angriffe von 1994, als das türkische Militär sein Dorf zwangsräumte und viele Häuser und Wälder in der Umgebung zerstörte: Dreihundert, vierhundert Jahre alte, große Bäume, eben diese Bäume hier. Denen haben sie allen Gift gegeben. Also, so sind sie vertrocknet und eingegangen, diese Walnussbäume. Schau, zum Beispiel von denen da, all diese Bäume sind alte Bäume. Sie sind alle mit Gift von den Helikoptern aus, von oben (angegriffen worden). Diese könnten doch den Menschen Schutz bieten, es könnte doch dies und das sein, so etwas. (…) Lass uns hier entlanggehen. Dieser Baum ist interessant. Schau, komm ich zeige dir einen interessanten Baum. Er wehrt sich, ha? Er stirbt nicht. Er will nicht sterben.

Die Anwendung extremer Verfolgungsmaßnahmen, mit der das türkische Militär 1994 sogar die Bäume in den Dörfern von Tunceli gezielt angriff, erklärt Hüseyin sich mit dem potenziellen Schutz, den diese den Menschen vor Verfolgung bieten könnten. In einer Allegorie hebt er die bemerkenswerte Widerstandskraft von einem der betroffenen Bäume hervor, der sich mit aller Kraft seiner Vernichtung entgegenstellt. Als wichtiger symbolischer Bezugsrahmen mythischer und religiöser Narrative steht gerade auch die Natur für eine Zeitlichkeit, die menschliche Verhältnisse und Vorstellungen übersteigt. Moderne Vorstellungen, die erbittert um die Macht über den Tod ringen, schließen andere Zeitverständnisse aus. Umso eindrücklicher sind die in dieser Untersuchung betrachteten Bezüge auf untergeordnete und verworfene Vergangenheiten aus der mündlichen Überlieferung, die darauf warten, wenn nicht wieder aufzutauchen, so doch wieder entdeckt zu werden. Die einzigartige Bedeutung dieser Motive besteht darin, dass sie es erlauben, gleichzeitige und gleichberechtigte Bezüge auf andere Vergangenheiten wahrzunehmen und diese dadurch, soweit wie noch möglich, anzuerkennen.

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Anhang: Karte von Dersim, Türkei

https://doi.org/10.1515/9783110630213-010