Figurenwissen: Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung 9783110229141, 9783110229134

The anthology makes an important contribution to the research topic ‘Literature and Knowledge’ and picks up on the curre

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German Pages 414 [416] Year 2012

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Table of contents :
Einleitung. Figuren, Wissen, Figurenwissen
Sehnsucht nach Umarmungen. Melancholie und Körperlichkeit in Dantes eschatologischer Anthropologie
Wissen als Macht. Figurendarstellung in Thürings von Ringoltingen Melusine
„Sçavoir l’Histoire; c’est connoitre les hommes“. Figurenwissen und Historiographie vom späten 17. Jahrhundert bis Schiller
Charakterisieren. Dilemma und Kunst der historiographischen Figurenzeichnung
Schein und Sein in Briefen. Über das Verhältnis von Figurendarstellung und Anthropologie in Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses
,Figurenwissen‘ vs. ,Textwissen‘. Zur literarischen Archäologie des psychischen ,Unbewussten‘ in der Erzählliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Figurationen der Leidenschaft. Die erzählte Gesellschaft des Honoré de Balzac
Zur Rezeption und Funktion von „Typen“. Figurenkonzeption bei Charles Dickens
Ideenträger und Ideenzerstörer. Figuren in Dostoevskijs Besy (Böse Geister)
,Nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum‘. Figuren in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen
Figur und Figuration. Perspektivierung sterblicher Zeit in Wilhelm Raabes Altershausen
Was Leser mit Figuren lernen. Henry James’ „The Real Thing“ (1892) und Stephen Cranes „An Experiment in Misery“ (1894)
Moosbruggers Welt. Zur Figuration von Strafrecht und Forensik in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften
Zur Beredsamkeit des Körpers. Figurendarstellung und Figurenwissen als multimodale Alltagsinszenierung
Narrative Theorien personaler Identität
Autorinnen und Autoren
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Figurenwissen: Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung
 9783110229141, 9783110229134

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Figurenwissen linguae & litterae

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linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies

Edited by

Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Erika Greber (Erlangen) · Ekkehard König (Berlin) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Pieter Muysken (Nijmegen) Wolfgang Raible (Freiburg) Editorial Assistant Aniela Knoblich

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De Gruyter

Figurenwissen Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung

Herausgegeben von Lilith Jappe, Olav Krämer und Fabian Lampart

De Gruyter

ISBN 978-3-11-022913-4 e-ISBN 978-3-11-022914-1 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

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Inhalt

Lilith Jappe, Olav Krämer, Fabian Lampart Einleitung. Figuren, Wissen, Figurenwissen . . . . . . . . . . . .

1

Manuele Gragnolati (Oxford / Berlin) Sehnsucht nach Umarmungen. Melancholie und Körperlichkeit in Dantes eschatologischer Anthropologie . . . . . . . . . . . . .

36

Almut Suerbaum (Oxford) Wissen als Macht. Figurendarstellung in Thürings von Ringoltingen Melusine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Daniel Fulda (Halle) „Sçavoir l’Histoire; c’est connoitre les hommes“. Figurenwissen und Historiographie vom späten 17. Jahrhundert bis Schiller . . .

75

Johannes Süßmann (Paderborn) Charakterisieren. Dilemma und Kunst der historiographischen Figurenzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Frank Zipfel (Mainz) Schein und Sein in Briefen. Über das Verhältnis von Figurendarstellung und Anthropologie in Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Wolfgang Lukas (Wuppertal) ‚Figurenwissen‘ vs. ‚Textwissen‘. Zur literarischen Archäologie des psychischen ‚Unbewussten‘ in der Erzählliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Michael Scheffel (Wuppertal) Figurationen der Leidenschaft. Die erzählte Gesellschaft des Honoré de Balzac . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Dorothee Birke (Freiburg i. Br.) Zur Rezeption und Funktion von „Typen“. Figurenkonzeption bei Charles Dickens . . . . . . . . . . . . . . 220 Friederike Carl (Freiburg i. Br.) Ideenträger und Ideenzerstörer. Figuren in Dostoevskijs Besy (Böse Geister) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

VI

Inhalt

Katharina Grätz (Freiburg i. Br.) ‚Nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum‘. Figuren in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen . . . . . . . 258 Thorsten Fitzon (Freiburg i. Br.) Figur und Figuration. Perspektivierung sterblicher Zeit in Wilhelm Raabes Altershausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Michael Butter (Freiburg i. Br.) Was Leser mit Figuren lernen. Henry James’ „The Real Thing“ (1892) und Stephen Cranes „An Experiment in Misery“ (1894) . . . . . . . . 307 Maximilian Bergengruen (Genf) Moosbruggers Welt. Zur Figuration von Strafrecht und Forensik in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften . . . . . . . 324 Anja Stukenbrock (Freiburg i. Br.) Zur Beredsamkeit des Körpers. Figurendarstellung und Figurenwissen als multimodale Alltagsinszenierung . . . . . . . . 345 Christian Budnik (Bern) Narrative Theorien personaler Identität . . . . . . . . . . . . . . 386 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

Einleitung

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Lilith Jappe, Olav Krämer, Fabian Lampart (Freiburg i. Br.)

Einleitung Figuren, Wissen, Figurenwissen

In der Forschung zur Figurendarstellung in der erzählenden Literatur ist allgemein anerkannt, dass bei der Produktion und Rezeption literarischer Figuren spezifische Wissensmengen und Wissensformen involviert sind: Autorinnen und Autoren beziehen sich in der Konzeption ihrer Figuren in aller Regel auf psychologisches und anthropologisches sowie literarisches Wissen, das heißt auf psychologische und anthropologische Annahmen, die in ihrer Zeit und ihrem kulturellen Umfeld geläufig sind, sowie gegebenenfalls auf in der literarischen Tradition vorgeprägte Figurentypen. Außerdem haben Figuren eine intendierte Funktion innerhalb der Gesamtkomposition des Werks, und diese Funktion besteht vielfach in der Vermittlung eines spezifischen Wissens, also darin, Auffassungen etwa über Moral, Gesellschaft oder Geschichte mitzuteilen. Leserinnen und Leser schließlich aktivieren in der Rezeption des Werks und seiner Figurendarstellungen bestimmte Wissensstrukturen, um die Textinformationen auf inferentiellem Weg zu ergänzen und Vorstellungen etwa über Aussehen, Charakter und Motive der Figuren zu bilden. Der vorliegende Band versammelt die Beiträge zu einer Ende 2008 am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) veranstalteten Tagung, in deren Zentrum die Untersuchung dieser Beziehungen zwischen Figuren in narrativer Literatur und verschiedenen Wissensformen stand. Zu den übergeordneten Fragestellungen der Tagung gehörten folgende: Welche Rollen spielen spezifische Wissensbestände bei der Darstellung von Figuren in Erzähltexten, welche Anthropologie wird in der Darstellung von Figuren in literarischen Texten vermittelt? Wie lassen sich Techniken und Strategien der Transferierung von außerliterarischen Wissensbeständen in literarische Narrationen systematisch beschreiben? Welche Differenzen und Konstanten ergeben sich für diese systematischen Aspekte des Themas, wenn man die Abhängigkeit von Figur und Wissen in diachroner Perspektive untersucht? Wie intensiv ist der Einfluss bestimmter Konventionen narrativer Genres bei der Darstellung von Figuren? Welche Arten des vorgängigen Wissens sind an der Konstitution von Personenvorstellungen auf der Grundlage von Textdaten beteiligt, wie vollzieht sich die Interaktion zwischen Textinformation und vorgängigem Wissen der Leserin oder des Lesers? Wie weit trägt der spe-

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zifisch ästhetische Charakter literarischer Texte dazu bei, außerliterarische Wissensbestände zu erweitern und zu ergänzen; inwieweit kann man sogar davon sprechen, dass die literarische Erzeugung von Figuren einen Erkenntnisprozess eigener Art ermöglicht, der das Wissen über den Menschen erweitern und als Parallelunternehmen zu den Wissenschaften gelten kann? Das Kompositum ‚Figurenwissen‘, das diesem Band als Titel dient, soll nicht als ein neuer Terminus etabliert werden, sondern lediglich als Kurzformel fungieren, unter der sich diese ganz verschieden gearteten Beziehungen zwischen literarischen Figuren und Wissen versammeln lassen. Den Begriff des Wissens verstehen wir dabei in jenem weiten Sinne, wie er etwa in der Wissenssoziologie gebräuchlich ist und wie er auch in Michael Titzmanns Definition des Begriffs ‚kulturelles Wissen‘ vorausgesetzt wird:1 ‚Wissen‘ fungiert also als Sammelbezeichnung für Annahmen sowie Konzepte und Typisierungen, die in einer Kultur oder in Teilen einer Kultur akzeptiert werden beziehungsweise geläufig sind.2 Der Tagungsband ist komparatistisch und interdisziplinär angelegt. Die oben umrissenen Fragestellungen werden an literarische Texte aus unterschiedlichen Epochen vom Mittelalter bis zur klassischen Moderne gerichtet; zudem ergänzen Beiträge, die Fragen der Personendarstellung und der Konstitution von Personen aus geschichtswissenschaftlicher, philosophischer und linguistischer Perspektive behandeln, die literaturwissenschaftlichen Untersuchungen. In dieser Einleitung wird zunächst die vorliegende Forschung zum Themenkomplex ‚Figur und Wissen‘ und damit der aktuelle Diskussionshintergrund skizziert, vor dem die Fragestellungen des vorliegenden Bandes zu sehen sind (I.). In einem zweiten Abschnitt erläutern wir diese zentralen Fragestellungen etwas ausführlicher (II.). Im Anschluss daran werden die Beiträge des Bandes kurz vorgestellt (III.), um dann schließlich einige Beobachtungen zu formulieren, die sich in der Zusammenschau der Beiträge ergeben (IV.). 1

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Zum Begriff des kulturellen Wissens vgl. Titzmann, Michael, „Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 99/1989, S. 47–61, hier S. 48; Ders., Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, München 1977, S. 268. Der Ausdruck ‚Wissen‘ wird hier also einerseits nicht in dem engeren und ‚starken‘ Sinne verwendet, der in der philosophischen Erkenntnistheorie einschlägig ist, also als Bezeichnung für begründete, wahre Meinungen. Andererseits rekurrieren wir aber auch nicht auf den speziellen Wissensbegriff, den Michel Foucault in seiner ‚Archäologie des Wissens‘ entwickelt hat und an dem sich auch die jüngere Forschungsrichtung der ‚Poetologie des Wissens‘ orientiert.

Einleitung

I.

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Literarische Figuren und Wissen: Zur Forschungsgeschichte

Zur Entwicklung der erzähltheoretischen Forschung über Figuren im Allgemeinen liegen mehrere Darstellungen vor: Die Monographie von Thomas Koch rekonstruiert ausführlich die wichtigsten theoretischen Ansätze der älteren, vorstrukturalistischen Erzählforschung sowie der strukturalistischen und poststrukturalistischen Literaturwissenschaft;3 auch die jüngeren Arbeiten von Fotis Jannidis und Jens Eder enthalten instruktive Abschnitte zur Forschungsgeschichte.4 Wir beschränken uns daher im Folgenden darauf, wie der Komplex ‚Figur und Wissen‘ in verschiedenen Theorieentwürfen behandelt worden ist. In der marxistischen Literaturtheorie wurden Beziehungen zwischen literarischen Figuren und Wissen vor allem anhand der Konzepte des Typus und des Typischen diskutiert.5 Für Georg Lukács wird eine „dichterische Gestalt“ dann „bedeutungsvoll und typisch“, „wenn es dem Künstler gelingt, die vielfältigen Verbindungen zwischen den individuellen Zügen seiner Helden und den objektiven allgemeinen Problemen der Epoche aufzudecken“, wobei diese allgemeinen Probleme grundsätzlich in gesellschaftlichen Konflikten und Widersprüchen bestehen.6 Die Schwächen und Grenzen von Lukács’ Theorie, die sich vor allem aus ihrem stark normativen Charak3

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Vgl. Koch, Thomas, Literarische Menschendarstellung. Studien zu ihrer Theorie und Praxis (Retz, La Bruyère, Balzac, Flaubert, Proust, Lainé), Tübingen 1991, S. 118–247. Vgl. Jannidis, Fotis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin, New York 2004, S. 1–3, 151–184; Eder, Jens, Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008, S. 39–60. Vgl. auch die etwas knapperen, aber ebenso instruktiven Forschungsüberblicke bei: Schneider, Ralf, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans, Tübingen 2000, S. 25–31; Nieragden, Göran, Figurendarstellung im Roman. Eine narratologische Systematik am Beispiel von David Lodges ‚Changing Places‘ und Ian McEwans ‚The Child in Time‘, Trier 1995, S. 15–30. Vgl. die konzisen Ausführungen bei: Winkler, Markus, „Typisch“, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III: P–Z, Berlin, New York 2003, S. 702–704; zu ‚typisch‘ als einem „Schlüsselbegriff“ in der präskriptiven Literaturtheorie des Sozialistischen Realismus ebd., S. 703. Vgl. Lukács, Georg, „Die intellektuelle Physiognomie des künstlerischen Gestaltens [sic]“, in: Werke, Bd. 4, Probleme des Realismus I. Essays über Realismus, Neuwied, Berlin 1971, S. 151–196 [zuerst 1936], vor allem S. 155–161, Zitat S. 156. Die zuerst publizierte Fassung dieser Abhandlung war weit kürzer und trug den Titel „Die intellektuelle Physiognomie der künstlerischen Gestalten“ (in: Das Wort, 1936, 4, S. 72–82; das Zitat dort S. 76); die Titeländerung in der Werkausgabe scheint auf einem Versehen zu beruhen.

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ter und dem dogmatisch vorausgesetzten Geschichts- und Gesellschaftsbild ergeben, liegen auf der Hand; in historischer Perspektive dürften seine Ausführungen zu typischen Figuren in der Literatur aber insofern noch von Interesse sein, als er darin Grundannahmen und Forderungen der realistischen Poetiken des 19. Jahrhunderts weiterführte und auf neue Weise zuspitzte.7 Die strukturalistische Richtung der Literaturtheorie hat eine ganze Reihe durchaus verschiedenartiger Konzeptionen der Figur vorgelegt, so dass es eine problematische Vereinfachung wäre, von ‚der‘ strukturalistischen Figurenkonzeption zu sprechen.8 Die strukturalistischen Ansätze haben sich teils auf die systematische Beschreibung der Funktionen von Figuren innerhalb der Handlung konzentriert, teils auf den ‚Aufbau‘ einer Figur aus Zeichen oder aus Merkmalen sowie auf die Strukturen, die der Verteilung von Figurenmerkmalen innerhalb eines Textes zugrunde liegen.9 Beziehungen zwischen Figuren und Wissen kamen vor allem innerhalb der Überlegungen zu dem zweiten Schwerpunkt in den Blick, also innerhalb der Versuche, in allgemeiner oder modellhafter Weise zu beschreiben, wie eine Figur aus Zeichen, ‚Semen‘ oder Merkmalszügen konstruiert wird. Verschiedene Theoretiker wiesen darauf hin, dass die literarischen Texte dabei an ‚Codes‘ ihrer kulturellen Umwelt partizipieren oder auf diese Codes Bezug nehmen.10 Lot7

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Zur Bedeutung des Begriffs des Typischen für die Poetik des Bürgerlichen Realismus vgl. Winkler, „Typisch“, S. 703. Zu dem Postulat der Repräsentativität der literarischen Figuren als einem zentralen Prinzip der realistischen Poetik vgl. auch: Thomé, Horst, Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993 (Hermea, N. F., Bd. 70), S. 39–41. So der überzeugende Hinweis von Jannidis, Figur und Person, S. 154. Für einen systematisch geordneten Überblick über strukturalistische Figurentheorien vgl.: Margolin, Uri, „Structuralist approaches to character in narrative: The state of the art“, in: Semiotica, 75/1989, 1/2, S. 1–24. Vgl. die Darstellung von Koch, der diese zwei Schwerpunkte der Theoriebildung verschiedenen Phasen des Strukturalismus zuordnet: Koch, Literarische Menschendarstellung, S. 200f.; zu den Figurentheorien in der „strukturalistischen Erzählsemiotik“ insgesamt ebd., S. 198–231. – Jens Eder fasst die thematischen Schwerpunkte innerhalb der „strukturalistisch-semiotischen Theoriebildung der Figur“ wie folgt zusammen: „1) Seinsweise und Definition der Figur, 2) die Beziehung zwischen Figur und Handlung und 3) die Arten und Verwendungsweisen von Zeichen, mit deren Hilfe die Figur konstruiert und charakterisiert wird“ (Eder, Die Figur im Film, S. 48). Vgl. die Zusammenfassung einiger solcher Ansätze bei: Koch, Literarische Menschendarstellung, S. 207–224. Koch referiert nicht nur einschlägige Theorien, sondern geht auch auf historische Studien und Interpretationen ein, die sich solcher Konzepte bedienen. – Für eine weitere, bei Koch nicht erwähnte Untersuchung, die sich eines semiotischen Ansatzes bedient und mit einem Code-Begriff arbei-

Einleitung

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man zufolge sind die typischen Gestaltungen von Figuren in der Literatur einer Kulturepoche bis zu einem gewissen Grad dem ‚Kulturkode‘ und insbesondere dem Charakterverständnis dieser Epoche verpflichtet; die Spezifik der literarischen Charaktere allerdings bestehe gerade darin, dass sie zugleich ein „System relevanter Abweichungen“ von dem kulturtypischen Schema realisieren.11 Auch Roland Barthes arbeitet in seiner Studie zu Balzacs Sarrasine, die manchmal noch seiner strukturalistischen ‚Phase‘ zugeordnet, manchmal schon als Übergang zur poststrukturalistischen angesehen wird, mit einem – allerdings einigermaßen idiosynkratischen – Begriff des Codes;12 zu den fünf Arten von Codes oder ‚Stimmen‘, die sich nach Barthes im Text zu einem ‚Netz‘ verbinden, gehören sowohl die ‚Stimme der Person‘, die in Form von ‚Semen‘ greifbar wird, als auch die ‚kulturellen Codes‘, die sich in Zitierungen eines kulturell eingebetteten Wissens manifestieren.13 Die jüngste Phase in der bisherigen Entwicklung der literaturtheoretischen Figurendiskussion bilden die kognitiven Theorien. In der deutschsprachigen Forschung werden diese Phase und diese theoretische Richtung vor allem durch die Arbeiten von Ralf Schneider, Fotis Jannidis und Jens Eder repräsentiert. Für die Figurentheorien dieser Richtung ist kennzeichnend, dass sie erstens den literarischen Text mitsamt seinen Figuren nicht, wie es viele strukturalistische Ansätze tun, isoliert als ein eigenständiges Zeichensystem betrachten, sondern ihn als Bestandteil eines Kommunikationsprozesses zwischen Autor und Lesern auffassen; dass sie zweitens dabei ihr Hauptinteresse der Seite der Rezeption zuwenden und dass sie drittens den Rezeptionsprozess unter Rückgriff auf die kognitionswissenschaftliche For-

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tet, vgl.: Berendsen, Marjet, Reading Character in Jane Austen’s Emma, Assen 1991; zu dem verwendeten Code-Begriff vgl. ebd., vor allem S. 14–16. Lotman, Jurij M., Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, München 41993, S. 357f., Zitat S. 358; zum Verhältnis zwischen literarischen Figuren und ‚Kulturkode‘ auch ebd., S. 367f. Vgl. Barthes, Roland, S/Z, Paris 1970, zum Begriff des Codes vor allem S. 27f. – Jannidis zufolge hat dieser Begriff „nur noch den Namen mit dem strukturalistischen Codebegriff gemeinsam“: Jannidis, Figur und Person, S. 157; zu der Studie von Barthes, der darin entwickelten Figurentheorie und dem Verfahren der Figurenanalyse vgl. ebd., S. 157–160. Zur ‚Stimme der Person‘ und den ‚Semen‘ vgl. Barthes, S/Z, S. 26; der Ausdruck „Voix de la Personne“ ebd., S. 28. Vgl. auch Barthes’ Ausführungen im Abschnitt „Personnage et figure“, ebd., S. 74f. – Zu den ‚kulturellen Codes‘ vgl. ebd., S. 27: „Les codes culturels enfin sont les citations d’une science ou d’une sagesse; en relevant ces codes, on se bornera à indiquer le type de savoir (physique, physiologique, médical, psychologique, littéraire, historique, etc.) qui est cité, sans jamais aller jusqu’à construire – ou reconstruire – la culture qu’ils articulent.“

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schung zu modellieren suchen. Konkret heißt das, dass sie den Prozess der Textrezeption insgesamt und auch die Figurenrezeption im Besonderen als eine ‚Interaktion‘ von Textinformationen und vorgängigem Wissen des Lesers konzipieren und die Mechanismen dieses Zusammenspiels sowie die Beschaffenheit der beteiligten Wissenskomplexe im Detail zu erhellen versuchen. In diesen Theorien stehen somit Beziehungen zwischen Figuren und Wissen ausdrücklich im Zentrum des Interesses. Hinsichtlich ihrer Ziele und Prämissen setzen die genannten Vertreter der kognitiven Richtung der Figurentheorie durchaus unterschiedliche Akzente. Schneider interessiert sich in seiner Modellierung des Rezeptionsprozesses vor allem dafür, wie und in welchem Maße der Text die Zuordnung einer Figur zu bekannten Personen- oder Figurenkategorien nahe legt. Er unterscheidet zwischen Kategorisierung und Personalisierung als zwei Grundformen, die die Figurenrezeption – die grundsätzlich in der Bildung eines mentalen Modells der Figur besteht – annehmen kann.14 Im Falle der Kategorisierung subsumiert die Leserin eine Figur aufgrund von wenigen Textinformationen einer bestimmten Kategorie, die entweder eine soziale, eine literarische oder eine textspezifische sein kann. Diesem Vorgang der Kategorisierung kann eine Individualisierung oder auch eine Entkategorisierung folgen: Erhält die Leserin im Fortgang der Lektüre weitere Informationen über die Figur, die sich nicht in die zunächst herangezogene Kategorie integrieren lassen, aber nur relativ geringfügige Abweichungen darstellen, so ‚individualisiert‘ sie diese Figur und betrachtet sie als einen Sonderfall innerhalb der gewählten Kategorie; wird sie aber mit Informationen über die Figur konfrontiert, die auf massive und überraschende Weise dieser Kategorisierung widersprechen, so revidiert sie die Einordnung und ‚entkategorisiert‘ die Figur. Während mithin die Kategorisierung als eine Grundform der Figurenrezeption auf einem top-down-Modus der Informationsverarbeitung beruht, liegt der Personalisierung als der gegensätzlichen Grundform ein bottom-up-Verfahren zugrunde: In diesem Fall legt der Text es nahe, die Figur nicht einer vorgeprägten Kategorie zu subsumieren, sondern eine Vielzahl von Informationen als Einzelinformationen zu registrieren und daraus allmählich eine umfassendere Figurenvorstellung zu entwickeln. Schneider will die theoretischen und methodischen Grundlagen für Untersuchungen bereitstellen, die eine Annäherung an die tatsächlichen Rezeptionsprozesse von historischen Lesern erlauben sollen;15 mithilfe seines theoretischen Ansatzes soll also etwa nachvollziehbar gemacht werden, ob die Leser be14 15

Vgl. hierzu und zum Folgenden: Schneider, Grundriß, S. 137–169. Vgl. ebd., S. 13.

Einleitung

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stimmte Figuren in personalisierender oder kategorisierender Weise wahrgenommen und welchen Kategorien sie sie gegebenenfalls zugeordnet haben. In dem historischen Teil seiner Studie, der sich der Figurendarstellung im viktorianischen Roman widmet, sucht Schneider daher zunächst die Wissensmengen zu benennen, die für die Rezeption dieser Romane durch ihr ursprüngliches Publikum relevant waren; dazu gehören neben grundlegenden Persönlichkeitstheorien und literarischen Konventionen des Viktorianismus sowie Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen auch speziellere Annahmen, die den umstrittenen wissenschaftlichen Disziplinen der Physiognomie und Phrenologie entstammten, ferner religiöse Menschenbilder sowie schließlich Typisierungen und Wertvorstellungen, die im Kontext der Industrialisierung aufgekommen waren.16 Das umfassendere Forschungsprogramm, in dessen Rahmen Schneider seine Theorie der Figurenrezeption verortet, ist das einer kognitionspsychologisch erneuerten, empirisch ausgerichteten Rezeptionsforschung. Dagegen präsentiert Jannidis seine Figurentheorie als Beitrag zu einer ‚historischen Narratologie‘.17 Auch er richtet sein Augenmerk weniger auf Textstrukturen als solche denn auf den Rezeptionsprozess und die Verarbeitung der Textinformationen durch den Leser, aber anders als Schneider verfolgt er nicht die Absicht, „die tatsächliche Rezeption zu erfassen“, sondern die, „Textvorgabe sowie Informationsvergabe und Gestaltbildung als intendierten Prozeß zu beschreiben“.18 Eine zentrale Rolle nimmt daher in seiner Theorie der ‚Modell-Leser‘ ein; darunter versteht Jannidis den „vom Autor intendierte[n] Leser“19 oder, genauer: „ein anthropomorphes Konstrukt, das gekennzeichnet ist durch die Kenntnis aller einschlägigen Codes und auch über alle notwendigen Kompetenzen verfügt, um die vom Text erforderten Operationen erfolgreich durchzuführen“.20 Die Anbindung an die Narratologie manifestiert sich bei Jannidis außerdem darin, dass er den Techniken der literarischen Darstellung von Figuren mehr Aufmerksamkeit widmet als Schneider.21 Im Hinblick auf das Thema ‚Figur und Wissen‘ sind aber vor allem zwei andere Schwerpunkte seiner Arbeit relevant: Zum einen unterbreitet Jannidis einen Vorschlag dazu, wie die Figur, verstanden als eine im 16 17 18 19 20 21

Vgl. ebd., S. 174–190. Vgl. Jannidis, Figur und Person, S. 10, 184. Ebd., S. 7. Ebd., S. 237. Ebd., S. 31. Vgl. die kritischen Bemerkungen zu Schneiders Ansatz in: Ebd., S. 182–185. Vgl. außerdem etwa Jannidis’ Ausführungen zur Analyse von Figureninformationen und der Art und Weise, wie sie im Text mitgeteilt werden: Ebd., S. 198–207.

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Lektüreprozess aufgebaute mentale Repräsentation, intern strukturiert sei: Vieles spreche dafür, dass die zu dieser mentalen Repräsentation gehörigen Informationen anhand einer basalen Struktur geordnet werden, die interkulturell konstant sei. Diese basale Struktur, die Jannidis als Basistypus bezeichnet, enthält eine Unterscheidung zwischen Innerem und Äußerem; sowohl dem Inneren als auch dem Äußeren können kurzfristige Zustände und langfristige Eigenschaften zugeschrieben werden.22 Zum anderen analysiert Jannidis näher, wie das Zusammenspiel von Textinformationen und Leserwissen bei der Figurencharakterisierung funktioniert, und zwar insbesondere bei der so genannten indirekten Charakterisierung: Hierbei werden bestimmte Phänomene der erzählten Welt, etwa die Einrichtung eines Raumes, durch ‚semiotische Trigger‘ als Zeichen markiert, die im Hinblick auf den Charakter einer Figur aussagekräftig sind; die Leserin sucht nach einer ‚passenden‘ Regelmäßigkeitsannahme, bildet mithilfe des betreffenden Phänomens und dieser Regelmäßigkeitsannahme eine abduktive Inferenz und trägt die erschlossene – nicht ausdrücklich im Text enthaltene – Information in ihr mentales Modell der Figur ein.23 Als drei Grundarten solcher Regelmäßigkeitsannahmen, also als drei „Formen einschlägigen Wissens“, nennt Jannidis Figurenmodelle (die femme fatale, der verrückte Wissenschaftler), figurale Schemata (‚größere Mengen Alkohol zu trinken, macht betrunken‘; ‚beim Beamen löst man sich vorübergehend auf‘) und situative Schemata, also Annahmen über typisierte Situationen oder Handlungszusammenhänge.24 Im Zentrum von Jens Eders Arbeit Die Figur im Film stehen, wie der Titel sagt, filmische Figuren; aber Eder entwickelt einen theoretischen Rahmen für die Analyse solcher Figuren, der teilweise auch für die Untersuchung von Figuren in der Literatur gültig sein soll.25 Auch in einer anderen Hinsicht verfolgt seine Arbeit einen noch umfassenderen Anspruch als die Studien von Schneider und Jannidis: Während diese sich jeweils auf eine bestimmte Fragestellung oder ein Set von Fragestellungen der Figurenanalyse konzentrieren und die Grundlagen zur Bearbeitung dieser Fragen zu klären versuchen, ist es Eders Absicht, von den vielfältigen geläufigen Arten des Redens über Figuren auszugehen, ihre jeweiligen Prämissen herauszuarbeiten und sie in einer umfassenden Theorie der Figur zu situieren, um auf diese Weise ihre Beziehungen zueinander zu erhellen. Eder erörtert zunächst die Frage nach 22 23

24 25

Vgl. Jannidis, Figur und Person, S. 185–195, v. a. 192f.; vgl. auch ebd., S. 240f. Vgl. ebd., S. 210, 214; ausführlich zu abduktiven Inferenzen beim Textverstehen im Allgemeinen (nicht speziell im Hinblick auf Figuren): ebd., S. 75–79. Vgl. ebd., S. 214–216, Zitat S. 214. Auch die Beispiele stammen von Jannidis. Vgl. Eder, Die Figur im Film, S. 14.

Einleitung

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der Ontologie von Figuren und entwickelt die These, Figuren seien wiedererkennbare fiktive Wesen mit einem Innenleben, also mit der Fähigkeit, „sich mit ihrem Bewusstsein auf Gegenstände zu beziehen, z. B. etwas wahrzunehmen, zu fühlen oder zu wollen“26. Dass sie fiktive Wesen sind, bedeutet wiederum nach Eders Explikation, dass sie „kommunikative Artefakte“ sind, „die durch die intersubjektive Konstruktion von Figurenvorstellungen auf der Grundlage fiktionaler Texte entstehen“27; oder, anders formuliert: Figuren sind abstrakte Gegenstände, die durch kommunikative Handlungszusammenhänge erschaffen werden, in denen fiktionale Texte hergestellt und rezipiert werden.28 Die Analyse von Figuren zielt letztlich immer auf irgendwelche Bereiche oder Aspekte dieser kommunikativen Handlungen. Eder differenziert zwischen solchen Aspekten und somit auch zwischen verschiedenen Arten der Figurenanalyse, indem er einerseits eine Unterscheidung zwischen empirischer Rezeption, intendierter Rezeption und idealer Rezeption einführt29 und andererseits unter Rekurs auf kognitionswissenschaftliche Forschungen verschiedene ‚Ebenen‘ von Rezeptionsprozessen voneinander abhebt (basale Wahrnehmung; Bildung mentaler Modelle; Erschließung indirekter Bedeutungen; Reflexion über kommunikative Kontexte). Aus der Kombination dieser Differenzierungen ergibt sich ein Raster, mit dessen Hilfe Eder verschiedene Arten des Redens über Figuren, die in der Alltagskommunikation oder in wissenschaftlichen Kontexten geläufig sind, einordnen und zueinander ins Verhältnis setzen kann.30 Eder unterscheidet zwischen vier Grundarten von Aussagen über Figuren; demnach können sich solche Aussagen beziehen auf: die Figur als fiktives Wesen (‚Rick Blaine ist ein zugleich zynischer und sentimentaler Cafébesitzer in Casablanca‘); die Figur als Symbol (‚Rick versinnbildlicht den Wandel von Egoismus zu Verantwortlichkeit‘); die Figur als Symptom, also als ein „Kulturphä26 27 28

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Ebd., S. 63. Ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 68f. Als „abstrakte Gegenstände, die durch kommunikatives Handeln erschaffen werden und so zum Teil einer objektiven sozialen Wirklichkeit werden“, haben Figuren einen ähnlichen ontologischen Status wie „Zahlen, Gesetze, Theorien oder Geld“ (ebd., S. 68f.). Vgl. ebd., S. 112–115. Die empirische Rezeption ist wiederum nach Rezipientengruppen und Zeitabschnitten zu differenzieren. – Unter der ‚idealen Rezeption‘ versteht Eder eine Rezeption, in der „sowohl die Intentionen der Produzenten und ihre impliziten Vorstellungen über die Zielgruppe als auch die tatsächlichen Rezeptionsvoraussetzungen dieser Zielgruppe berücksichtigt und auf Grundlage der Kommunikationssituation und ihrer Gelingenskriterien miteinander in Verbindung gebracht werden.“ (Ebd., S. 114). Vgl. die Tabelle ebd., S. 129.

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nomen, Einflussfaktor oder Anzeichen für Sachverhalte in der Realität“31 (‚Rick wurde von mehreren Autoren gestaltet‘; ‚Rick entspricht einem zeitgenössischen Männlichkeitsideal‘); die Figur als Artefakt (‚Rick wird oft in Nahaufnahmen gezeigt‘; ‚Rick treibt als Protagonist die Handlung voran‘).32 Diese vier Arten von Aussagen entsprechen grob verschiedenen Ebenen des Rezeptionsprozesses; so setzen etwa Aussagen über die Figur als Symbol „Schlüsse auf indirekte Bedeutungen“ voraus, während Aussagen über die Figur als Symptom „Schlüsse auf kommunikative Kontexte“ implizieren.33 Aussagen aller vier Arten können (bzw., in wissenschaftlichen Zusammenhängen: sollten) durch Angaben dazu präzisiert werden, ob sie sich auf die empirische, die intendierte oder die ideale Rezeption beziehen.34 Die Beziehungen zwischen Figuren und Wissen, denen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes widmen, wären in Eders Einteilung vor allem den Bereichen ‚Die Figur als Symbol‘ und ‚Die Figur als Symptom‘ zuzuordnen. Die Frage, welches Wissen über den Menschen, die Geschichte oder die Gesellschaft Autoren mithilfe ihrer Figuren vermitteln wollten, enthält dabei zumindest den wichtigen Teilaspekt der ‚indirekten Bedeutungen‘, die den Figuren – als ‚Symbolen‘ – in der intendierten Rezeption zugeschrieben werden sollen. Die Frage hingegen, welches (etwa anthropologische) Wissen in 31 32 33

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Ebd., S. 124. Vgl. ebd., S. 123–125. Die Beispiele stammen von Eder. Ebd., S. 128. – Eders Klassifikation der vier Arten von Aussagen stützt sich aber nicht allein auf die Entsprechungen zu verschiedenen Ebenen der Figurenrezeption, sondern orientiert sich auch an Grundfragen der Textanalyse sowie an einer Reihe von theoretischen Kriterien; vgl. dazu ebd., S. 125–128. Eders Figurentheorie ist nicht die erste, die systematisch zwischen verschiedenen Aspekten von Figuren unterscheidet und dabei sowohl die Tatsache, dass Figuren aus Zeichen ‚gemacht sind‘, als auch die Ähnlichkeiten zwischen Figuren und realen Personen zu berücksichtigen sucht; wichtige frühere Ansätze mit ähnlichem Anspruch sind entwickelt worden von James Phelan und Uri Margolin. Phelan unterscheidet zwischen der ‚synthetischen‘, der ‚mimetischen‘ und der ‚thematischen‘ Komponente von Figuren (Phelan, James, Reading People, Reading Plots. Character, Progression, and the Interpretation of Narrative, Chicago, London 1989, S. 2f.). Nach Margolin, der damit teilweise an Phelan anknüpft, gibt es vier gängige theoretische Modellierungen von Figuren, die jeweils einen Aspekt unserer vortheoretischen Auffassungen von Figuren aufgreifen; diese Modelle präsentieren Figuren als „topic entity of a discourse“, „artificial construct or device“, „thematic element“ oder als „nonactual individual in some fictional (possible) world“ (Margolin, Uri, „The What, the When, and the How of Being a Character in Literary Narrative“, in: Style, 24/1990, 3, S. 453–468, hier S. 453f.). Die Theorie von Eder erscheint allerdings noch überzeugender als diese Ansätze, da in ihr transparenter ist, weshalb gerade die vier genannten Aspekte oder Ebenen unterschieden werden und wie sie zusammenhängen.

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die Konstruktion von Figuren eingegangen ist, fasst die Figuren – in Eders Terminologie – als ‚Symptome‘ auf und setzt sie zu kommunikativen Kontexten in Beziehung. Die voranstehenden Ausführungen haben Entwicklungen in der theoretischen Diskussion über literarische Figuren in den Blick genommen. Es gilt aber zu betonen, dass der Themenkomplex ‚Figur und Wissen‘ und insbesondere Einflüsse des kulturellen Wissens auf Figurenkonzeptionen auch, um nicht zu sagen: vor allem in historisch ausgerichteten Untersuchungen behandelt wurde und wird. An dieser Stelle seien lediglich stichwortartig einige Forschungszusammenhänge genannt, die für das Thema des vorliegenden Bandes von herausgehobener Bedeutung sind. Beziehungen zwischen außerliterarischen ‚Wissenskorpora‘ und literarischen Figuren zählen zu den Interesseschwerpunkten sowohl in dem Forschungsgebiet der ‚literarischen Anthropologie‘35 als auch in dem verwandten Feld ‚Literatur und Wissenschaften‘36. Besondere Aufmerksamkeit haben dabei immer wieder literarische Darstellungen von kranken, insbesondere psychisch kranken Menschen und ihre Beziehungen zum psychologischen oder psychiatrischen Wissen der jeweiligen Zeit erhalten.37 Als ein weiterer, im vorliegenden Zusammenhang relevanter Forschungszweig ist die Untersuchung von Geschlechterkonzepten und ihren Einflüssen auf literarische Darstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit zu nennen, wie sie insbesondere in der feministischen und der an den Gender Studies orientierten Literaturwissenschaft betrieben wird.38 Um wieder eine andere, aber verwandte Art von

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Vgl. Riedel, Wolfgang, „Literarische Anthropologie“, in: Harald Fricke (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band II: H–O. Berlin, New York 2000, S. 432–434. Vgl. etwa: Richter, Karl/Schönert, Jörg/Titzmann, Michael (Hrsg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, Stuttgart 1997. – Als ein Nachbar- oder relativ eigenständiges Teilgebiet dieses Forschungsfeldes wäre das Gebiet ‚Literatur und Medizin‘ zu nennen, in dem ebenfalls Beziehungen zwischen medizinischem Wissen und Figurenkonzeptionen eine zentrale Rolle spielen. Vgl. etwa: Thomé, Autonomes Ich und Inneres Ausland; Reuchlein, Georg, Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur. Zur Entwicklung der Wahnsinnsthematik in der deutschen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, München 1986 (Münchner Germanistische Beiträge, Bd. 35). Besonders viel Aufmerksamkeit haben literarische Figuren dabei in der so genannten ‚Frauenbildforschung‘ gefunden; vgl. zu diesem Forschungsansatz etwa: Stephan, Inge / Weigel, Sigrid, Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft, 3. Aufl., Hamburg 1988. Für einen knappen Überblick vgl. auch: Schößler, Franziska, Einführung in die Gender Studies, Berlin 2008, S. 63–75. In den Entwürfen einer Gender-orientierten Narratologie hat die Kategorie der Figur

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Wissen geht es schließlich in Untersuchungen zu nationalen, ethnischen oder religiösen Stereotypen, die zum kulturellen Wissen einer Epoche gehören, und zu ihren Manifestationen in der Literatur.39

II.

Die zentralen Fragestellungen des Bandes

Die Fragen zu Beziehungen zwischen literarischen Figuren und Wissen, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung aufgeworfen und bearbeitet worden sind, lassen sich in drei Komplexe untergliedern. Diese übergeordneten Fragen bilden den Problemhorizont, innerhalb dessen sich der vorliegende Tagungsband verortet; die Beiträge widmen sich jeweils einer oder mehreren dieser drei Fragen. (i) Die erste dieser Fragen lautet: Welches historische Wissen über den Menschen ist in die Figurendarstellungen der literarischen Texte ‚eingegangen‘, und wie ist es in diesen Texten ‚verarbeitet‘ worden? Darüber, dass die Figurenkonzeptionen und Figurendarstellungen literarischer Texte so gut wie immer40 durch das kulturell geprägte Wissen der Autoren über den Menschen beeinflusst sind, besteht in der Forschung, wie bereits gesagt, ein weitreichender Konsens. Dieses Wissen kann sowohl alltagspsychologische Annahmen als auch psychologische, anthropologische, soziologische oder andere Theorien umfassen; es kann von den Autoren bewusst und intentio-

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hingegen bisher keine große Rolle gespielt; vgl. dazu: Gymnich, Marion, „Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung“, in: Vera Nünning / Ansgar Nünning (Hrsg., unter Mitarbeit von Nadyne Stritzke), Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart, Weimar 2004, S. 122–142. – Für eine an den Gender Studies orientierte Untersuchung von Männlichkeitskonzepten, in der literarische Figuren einen Schwerpunkt der Analysen bilden, vgl.: Erhart, Walter, Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München 2001. Erhart will in dieser Studie nicht „ ‚Männer-Bilder‘ “ in einem engen, traditionellen Sinne untersuchen, sondern die „narrativen Strukturen“ freilegen, „durch die Männlichkeit und männliche Identität jeweils konstituiert werden“ (ebd., S. 11); für diese von ihm analysierten Erzählmuster sind unter anderem bestimmte Figurentypen und Figurenkonstellationen konstitutiv. Vgl. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard, „ ‚Bei meinem alten Baruch ist der Pferdefuß rausgekommen‘ – Antisemitismus und Figurenzeichnung in ‚Der Stechlin‘ “, in: Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, Freiburg i. Br. 2002, S. 103–119. Manche Forscher würden hier vielleicht ohne Einschränkung ‚immer‘ sagen. Die etwas vorsichtigere Formulierung soll der Möglichkeit Rechnung tragen, dass es literarische Texte geben mag, deren Figurenkonzeptionen ausschließlich durch die ‚Spielregeln‘ bestimmter literarischer Genres determiniert ist.

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nal ihren Figurenkonzeptionen zugrunde gelegt werden oder auch ‚hinter ihrem Rücken‘ die Gestaltung der Figuren determinieren. Solche Relationen zwischen außerliterarischem Wissen über den Menschen und literarischen Figurenkonzeptionen sind inzwischen für eine große Zahl von Texten, Autorinnen und Autoren sowie Epochen untersucht worden; gleichwohl gibt es auf diesem Gebiet sowohl in historischer als auch in systematisch-theoretischer Hinsicht noch vieles zu klären. So ist bislang noch kaum hinreichend erforscht worden, wie im Einzelnen theoretische Annahmen in literarische Textstrukturen, insbesondere Figurenkonstruktionen, ‚übersetzt‘ werden bzw. wie die Beziehungen zwischen den vorgängigen theoretischen Überzeugungen und den literarischen Strukturen genau zu modellieren sind.41 Im Übrigen können literarische Texte sich selbstverständlich nicht nur affirmativ auf wissenschaftliche Theorien beziehen, sondern diese auch in Frage stellen, modifizieren oder zurückweisen, etwa indem sie Phänomene menschlichen Erlebens und Handelns zur Sprache bringen, die von den dominierenden theoretischen Annahmen über den Menschen nicht erfasst werden; auch diese verschiedenen Arten der Bezugnahme gilt es noch im Detail zu untersuchen. – Mit Fragen aus diesem ersten Komplex befassen sich im vorliegenden Band die Beiträge von Manuele Gragnolati, Almut Suerbaum, Daniel Fulda, Frank Zipfel, Michael Scheffel, Friederike Carl und Maximilian Bergengruen. (ii) Die zweite allgemeine Frage lässt sich so formulieren: Wie nutzen Autoren die Darstellung von Figuren, um Wissen zu vermitteln? Den Hintergrund dieser Frage bildet die Feststellung, dass literarische Figuren innerhalb von Texten stets eine Funktion erfüllen, dass also etwa häufig mithilfe der Figuren bestimmte Probleme aufgeworfen und ‚verhandelt‘ oder auch Geschichts- und Gesellschaftsbilder konstruiert werden. Das Wissen, das anhand der Figuren vermittelt wird, kann mithin sowohl anthropologische oder psychologische Annahmen als auch Auffassungen über Geschichte, Gesellschaft und Moral enthalten. Die Instanz, der dieses Wissen zugeschrieben wird, kann je nach vorausgesetzter Interpretationstheorie entweder die Autorin bzw. der Autor oder aber der Text sein.42 Obwohl diese

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Vgl. Jannidis, Figur und Person, S. 9; Titzmann, Michael, „Psychoanalytisches Wissen und literarische Darstellungsformen des Unbewußten in der Frühen Moderne“, in: Thomas Anz (Hrsg., in Zusammenarbeit mit Christine Kanz), Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Kontext, Würzburg 1999, S. 183–217, hier S. 183. Unter den Beiträgen des vorliegenden Bandes, die sich dieser zweiten Frage widmen, beziehen sich die von Johannes Süßmann, Daniel Fulda, Michael Scheffel

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zweite Frage in konkreten Untersuchungen vermutlich häufig in Verbindung mit der ersten behandelt werden wird, lässt sie sich von dieser analytisch trennen: In der ersten Frage geht es um die in der zeitgenössischen Kultur oder in der Vergangenheit bereits formulierten und kursierenden anthropologischen Annahmen, auf die Autoren beim Entwerfen ihrer Figuren Bezug nehmen; in der zweiten Frage geht es um das, was der Autor oder der Text mit den Figuren ‚macht‘, welche (womöglich originellen oder ‚innovativen‘) Auffassungen über den Menschen, die Geschichte oder Gesellschaft mithilfe der Figuren des Textes vermittelt wird. – Fragen sowohl des ersten als auch des zweiten Typs diskutieren die Beiträge von Daniel Fulda, Michael Scheffel und Maximilian Bergengruen; Fragen aus diesem zweiten Komplex stehen außerdem im Zentrum der Aufsätze von Johannes Süßmann, Thorsten Fitzon, Katharina Grätz und Michael Butter. (iii) Während die ersten zwei Fragen die Seite der Produktion oder den Text selbst betreffen, bezieht sich die dritte Frage auf die Rezeption; sie lautet: Welches vorgängige Wissen wird durch die literarischen Figurendarstellungen bei der Leserin oder beim Leser ‚aktiviert‘ oder ‚aufgerufen‘? Untersuchungen zu Fragen dieser Art dürften sich in vielen Fällen mit Untersuchungen zu Fragen aus dem ersten Komplex berühren; gleichwohl handelt es sich bei dieser dritten Frage nicht einfach um eine rezeptionsbezogene Reformulierung der ersten. Die erste Frage zielt auf die ‚Herkunft‘ oder die Kontexte des Wissens, auf das die Figurenkonzeptionen eines Textes Bezug nehmen, und zwar unabhängig davon, ob Hinweise auf dieses Wissen dem literarischen Text selbst entnommen oder nur mithilfe anderer Quellen gewonnen werden können. Die dritte Frage hingegen bezieht sich ausdrücklich und ausschließlich auf die Informationsvergabe des Textes; gefragt ist zum einen danach, welche Wissensstrukturen durch bestimmte Textelemente ‚aufgerufen‘ werden, zum anderen danach, wie die Textinformationen und das vorgängige Wissen der Leserin interagieren und welchen Modifikationen oder Transformationen dieses Wissen im Rezeptionsprozess unterzogen wird. – Um Fragen dieses dritten Komplexes geht es in dem Beitrag von Dorothee Birke. Zumindest erwähnt werden soll noch eine vierte Art von Fragen zu Figuren und Wissen, die sich ebenfalls in der Forschung findet – allerdings weniger in der literaturwissenschaftlichen als in der philosophischen und psychologischen –, im vorliegenden Band allerdings nicht vertreten ist. Diese Frage und Thorsten Fitzon auf den Autor; dagegen geht es in dem Beitrag von Wolfgang Lukas ausdrücklich um ein Wissen, das dem Text, nicht aber dem Autor, zugeschrieben werden kann.

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kann so formuliert werden: Welches Wissen kann man als Leser aus den Figurendarstellungen eines literarischen Textes gewinnen? Anders als in der zweiten Frage geht es hier nicht um ein Wissen, das der Autor des literarischen Textes vermitteln will oder das im Text ‚enthalten‘ ist, sondern um ein Wissen, das sich der Leser beim Reflektieren über die Figuren eines Textes erarbeitet; anders als in der dritten Frage geht es nicht um ein ‚altes‘ oder vorgängiges Wissen, das der Rezipient beim Lesen aktiviert, sondern um ein ‚neues‘ Wissen, das er in der Auseinandersetzung mit dem Text bildet. Indem das fiktionale Erzählen ein mentales Probehandeln ermöglicht, das auf eine „miterlebende Beteiligung“ von Zuhörern und Lesern zielt,43 wird der Leser in ein ‚Geschehen‘ involviert, das er anschließend reflektieren kann. Eine solche Perspektive nehmen vor allem philosophische oder auch psychologische Arbeiten ein, die ausgehend von literarischen Figuren andere philosophische oder psychologische Theorien über menschliches Handeln und Erleben hinzuziehen und mit dem literarisch Dargestellten in Dialog treten lassen. Diese Untersuchungen legen in manchen Fällen auch Wert darauf, die Intentionen der Autoren der literarischen Texte zu berücksichtigen, und überschneiden sich insofern mit Untersuchungen zur zweiten der oben genannten Fragen. In erster Linie geht es ihnen aber darum, die literarischen Figurendarstellungen – unabhängig von Autorintentionen – entweder zur Reflexion von psychologischen Themen zu verwenden, die im Werk angelegt erscheinen44 und sich im Lichte psychoanalytischer Theorien diskutieren lassen,45 oder für die Erörterung von Problemen, die der aktuellen

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Scheffel, Michael, „Erzählen als anthropologische Universalie: Funktionen des Erzählens im Alltag und in der Literatur“, in: Rüdiger Zymner/Manfred Engel (Hrsg.), Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder, Paderborn 2004, S. 121–138, Zitat S. 134. Die subjektiven Momente, die sich in solchen leserseitigen Wahrnehmungen von im Text ‚angelegten‘ Themen äußern können, sucht die psychoanalytische Literaturwissenschaft ausdrücklich in die Untersuchung einzubeziehen, da sie bemüht ist, alle Instanzen innerhalb der Trias Autor-Text-Leser gleichermaßen zu berücksichtigen. Vgl. Fischer, Gottfried, Von den Dichtern lernen … Kunstpsychologie und dialektische Psychoanalyse, Würzburg 2005. Vgl. Deserno, Heinrich, „Der Liebeswunsch in Heinrich von Kleists Novelle Die Marquise von O.“, in: Ortrud Gutjahr (Hrsg.), Heinrich von Kleist, Würzburg 2008 (Freiburger Literaturpsychologische Gespräche, Bd. 27), S. 133–158. Insofern als beide „Bewußtmachung“ betreiben, betrachtet Wyatt Literatur und Psychoanalyse als parallele Erkenntnisbemühungen. Wyatt, Frederick, „Literatur in der Psychoanalyse“, in: Freiburger Literaturpsychologische Gespräche, 5/1986, S. 23–42. Vgl. auch Jappe, Lilith, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse. Identität und Wirklichkeit im „Mann ohne Eigenschaften“, München 2011 (Musil-Studien, Bd. 38).

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philosophischen oder psychologischen Forschung entstammen, etwa Problemen aus der praktischen Philosophie, die das Wesen moralischer Entscheidungen oder rationalen Handelns betreffen.46

III.

Vorstellung der Beiträge

Die Beiträge werden im Folgenden in der Reihenfolge vorgestellt, die sich aus den Entstehungsdaten der behandelten Texte ergibt; in derselben Reihenfolge sind sie auch abgedruckt. Manuele Gragnolati analysiert einen Aspekt der ‚eschatologischen Anthropologie‘ von Dantes Göttlicher Komödie, nämlich die Bedeutung des Körpers für die Seelen der Verstorbenen; er zeigt, wie Dante in seiner Gestaltung dieses Themas auf originelle Weise heterogene und einander teilweise widersprechende Wissensbestände seiner Zeit verbunden hat. Die Seelen der Verstorbenen sind in Dantes Werk mit ‚Luftkörpern‘ ausgestattet, die es ihnen nicht erlauben, einander zu umarmen und so ihrer persönlichen Zuneigung Ausdruck zu geben. Einige Stellen in der Göttlichen Komödie legen die Auffassung nahe, dass dieser Mangel kein eigentlicher Mangel sei, da er die Seelen darauf hinweise, dass sie sich in ihrer Zeit im Fegefeuer von allen irdischen Bindungen lösen sollen. Diese traditionelle, auf Augustinus zurückgehende Lehre wird aber durch andere Passagen konterkariert, die zeigen, dass die Seelen auch nach ihrer Zeit auf dem Läuterungsberg noch ihren fleischlichen Körper vermissen und sich nach Umarmungen sehnen. Zudem lässt Dante im Paradiso Salomon verkünden, dass die Auferstehung der Körper am Ende der Zeiten den Seelen erlauben wird, geliebte Menschen wiederzufinden; solche Vorstellungen von der im Jenseits fortdauernden Bedeutung des Körpers und der persönlichen Zuneigung fanden sich zu Dantes Zeit nicht in der Theologie, wohl aber in der populären Dichtung. Dass dem Körper in Dantes Konzeption persönlicher Identität eine zentrale Stellung zukommt, stellt, so Gragnolati, einen der modern anmutenden Züge des in der Commedia entworfenen Bildes vom Menschen dar. Um die Frage nach den ‚modernen‘ oder, vorsichtiger, neuzeitlichen Dimensionen der in einem (spät-)mittelalterlichen Text entworfenen Anthropologie geht es auch in dem Beitrag von Almut Suerbaum, der sich mit dem im 15. Jahr46

Vgl. etwa: Livingston, Paisley, Literature and rationality. Ideas of agency in theory and fiction, Cambridge u. a. 1991; Nussbaum, Martha C., Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature, New York, Oxford 1990; Price, Martin, Forms of Life. Character and moral imagination in the novel, New Haven, London 1983.

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hundert entstandenen Melusinenroman Thürings von Ringoltingen befasst. Der Eindruck eines Changierens zwischen mittelalterlichen und modernen Tendenzen ergebe sich hier vor allem, wenn man darauf achtet, wie in dem Roman menschliche Handlungen verständlich gemacht oder eben nicht verständlich gemacht werden. Die jüngere mediävistische Forschung hat die These aufgestellt, dass die spätmittelalterliche Literatur durch einen ‚Rationalisierungsschub‘ geprägt sei, der sich darin äußere, dass „Handlungsmotivationen stärker als bisher an psychologisch plausible Umstände geknüpft werden“. Wie Suerbaums Analyse zeigt, partizipiert Thürings Roman bis zu einem gewissen Grad an diesem Rationalisierungsschub, indem er den männlichen Protagonisten an einigen Stellen Erklärungen für das auf überlegenem Wissen beruhende Verhalten Melusines entwickeln lässt. Andererseits aber präsentiert der Roman einige überraschende Handlungen und Entwicklungen von Figuren, für die keinerlei Erklärungen angeboten werden, zumindest keine Erklärungen, die auf psychische Vorgänge verweisen. Sofern der Text diese Handlungen überhaupt verständlich zu machen sucht, rekurriert er dabei auf die Kategorie des Zorns als Bestandteil einer spezifisch mittelalterlichen Anthropologie oder auf theologische Deutungsmuster von Sünde, Reue und Buße. Zwei Beiträge widmen sich der ‚Figuren‘- bzw. Personendarstellung in historiographischen Texten, der eine aus literaturwissenschaftlicher, der andere aus geschichtswissenschaftlicher Sicht. Daniel Fulda entwickelt die These, dass Schillers historiographische Schriften an der Schwelle von der frühneuzeitlichen zur modernen Geschichtsschreibung stehen und dass diese Zwischenposition sich auch und gerade in Schillers Art der Figurendarstellung zeige. Das zentrale Merkmal, das nach Fulda die moderne von der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung trennt, besteht in der Abwendung von einem personalistisch-interaktionistischen Geschichtsmodell zugunsten eines Geschichtsbilds, das übergeordnete Prinzipien zu den maßgeblichen Faktoren in der Dynamik historischer Prozesse erhebt. Schillers historiographische Werke zeigen sich einerseits noch deutlich der frühneuzeitlichen Tradition der Geschichtsschreibung verpflichtet, insofern sie nämlich die Akteure und ihre Überlegungen und Intentionen ins Zentrum der historischen Abläufe rücken. Die dabei zugrunde gelegten Annahmen über menschliche Motive und Handlungsweisen bezieht Schiller wesentlich aus der Tradition des ‚politischen‘ Verhaltenswissens, wie es besonders wirkungsmächtig von Gracián und Machiavelli formuliert worden war. Andererseits aber betreibt Schiller die Kohärenzbildung mittels ‚politisch‘ ausgerichteter Motivationen so konsequent, dass daraus das Bild eines übergeordneten Prozesses entsteht, der eine über die Handlungsintentionen

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der einzelnen Akteure hinausgehende Eigendynamik besitzt. „Etwas zugespitzt“ könne man daher, so Fulda, „von einer Geburt der Geschichte aus dem Geist der Intrige sprechen“. Johannes Süssmann zeichnet einige Grundlinien der Entwicklung der Theorie und der Praxis der abendländischen Geschichtsschreibung zwischen Antike und Neuzeit nach, wobei er jeweils die Implikationen der vorherrschenden Auffassungen und Verfahrensweisen für die Personendarstellung in historiographischen Werken herausarbeitet. Im Zentrum seiner Ausführungen steht aber, wie bei Fulda, ein Aspekt des tiefgreifenden Wandels, der sich um 1800 in der Historiographie vollzog. Ein entschiedener Bruch mit der älteren Theorie und Praxis der Geschichtsschreibung ergab sich für Süßmann vor allem dadurch, dass Gelehrte wie Niebuhr und Ranke nun die Geschichtswissenschaft konsequent von der Leitidee der Forschung aus konzipierten und historiographischen Texten die Aufgabe zuwiesen, im Ausgang von einer Fragestellung, die allein dem Erkenntnisinteresse der Geschichtswissenschaft selbst entstammte, ein ‚Gedankenbild‘ einer vergangenen Epoche zu entwerfen, das eine Erklärungsleistung zu erbringen vermochte. Diese neue Auffassung von der Aufgabe der Historiographie wurde auch leitend für die historiographische ‚Figurendarstellung‘: Die Darstellungen der historischen Akteure hatten nunmehr eine Verbindung des Besonderen und des Allgemeinen zu leisten, wie sie Friedrich Schlegel unter dem Begriff der ‚Charakteristik‘ theoretisch umrissen und von literaturkritischen wie historiographischen Texten gefordert hat. Ein instruktives Beispiel für diese neue Art der historiographischen ‚Figurenzeichnung‘ bietet Rankes Porträt von Ludwig XIV., das Süßmann im Schlussteil seines Beitrags analysiert: Ranke berichtet, wie Ludwig XIV. sich eine Vorstellung von seiner historischen Aufgabe bildet und seine eigene Person dieser Rolle gemäß formt; dabei gibt er zugleich zu erkennen, dass diese Vorstellung von der historischen Aufgabe Ludwigs letztlich seine, Rankes, Schöpfung ist, zu seinem ‚Gedankenbild‘ gehört. Die Literatur der Zeit um 1800 ist im vorliegenden Band durch Choderlos de Laclos’ Roman Les liaisons dangereuses vertreten, der im Zentrum des Beitrags von Frank Zipfel steht. Zipfel zeigt, dass die Figurendarstellung in Laclos’ Roman wesentlich als eine Auseinandersetzung mit der Problematik von Schein und Sein angelegt ist und dass die Form des polylogischen Briefromans die Entfaltung dieses Themas in spezifischer Weise unterstützt. Der Gegensatz von Schein und Sein spielt in dem Roman auf zwei Ebenen eine Rolle: Zum einen ist die Interaktion zwischen den Figuren in hohem Maße durch Verstellung und Täuschung geprägt; diese ausführlichen Darstellungen einer Diskrepanz zwischen äußerem Verhalten und wahren Absichten

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verweisen nach Zipfel auf einen spezifischen historischen Kontext, nämlich auf die Tugendvorstellungen und Verhaltensregeln, denen das Leben der aristokratischen Gesellschaft im Ancien Régime und insbesondere das Leben der Frauen in diesen Kreisen unterworfen war. Zum anderen tritt der Gegensatz von Schein und Sein aber auch in den Selbsteinschätzungen der Figuren zutage, in ihren Auffassungen von den eigenen Wünschen und Motiven, die in einigen Fällen von Selbsttäuschungen oder mangelnder Selbsttransparenz zeugen; in seiner Gestaltung dieser Phänomene greift Laclos zentrale Fragestellungen der Anthropologie des 18. Jahrhunderts auf, etwa die Fragen nach dem „Verhältnis von vernunftgeleitetem und gefühlsgeleitetem Handeln“, nach der „Authentizität von Gefühlen“ und nach dem „Verhältnis von Natürlichkeit und gesellschaftlich bedingtem Rollenspiel“. Die Form des polylogischen Briefromans, so Zipfel, ist für eine Auseinandersetzung mit der Schein/Sein-Problematik insofern zweckdienlich, als der Leser durch die Konfrontation mit verschiedenen, teils einander widersprechenden Perspektiven zu einer ‚detektivischen Lektüre‘ genötigt und somit gegenüber dem Text in eine Position gebracht wird, die der Position der Figuren gegenüber ihren Mit- und Gegenspielern ähnelt. Die in den Briefen enthaltenen kritischen Kommentare über die Selbsteinschätzungen der anderen Briefe schreibenden Figuren legen es zudem für den Leser nahe, alle Briefe samt den darin enthaltenen Selbstdeutungen einer kritischen Lektüre zu unterziehen. Die Zweifel an der Transparenz des Psychischen und der Erklärbarkeit bestimmter menschlicher Handlungen, die im Roman von Laclos zumindest angedeutet werden, verdichten sich in den Texten, die Wolfgang Lukas untersucht, zu einer offenen Ausstellung der Opazität von Handlungen und psychischen Vorgängen, die aber mit dem versteckten Angebot eines neuen Erklärungsmodells verbunden ist: Lukas analysiert die Genese eines Wissens vom psychischen Unbewussten in der deutschsprachigen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In theoretischer Hinsicht von zentraler Bedeutung für seine Analyse ist ein Begriff des ‚Textwissens‘; damit wird ein Wissen bezeichnet, das „keiner intradiegetischen oder extradiegetischen figuralen oder personalen Instanz“ zugeordnet werden kann, aber „gleichwohl ‚im Text‘ vorhanden ist“. In der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts lasse sich ein solches Textwissen über ein individuelles psychisches Unbewusstes nachweisen, das in wesentlichen Punkten dem Wissen entspreche, das dann seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in theoretischen Diskursen, insbesondere in der Psychoanalyse, explizit formuliert wird. Für die postromantische Erzählliteratur des Zeitraums zwischen etwa 1820 und 1850 sei charakteristisch, dass in vielen Texten ein psychologischer Erklärungsbe-

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darf – meist in Form ungeklärter Handlungsmotivationen – konstruiert und auch textintern als solcher markiert und thematisiert wird. Die Erklärungslücken betreffen vorzugsweise kriminelle Handlungen oder das Verhältnis der Figuren zu Erotik und Sexualität. Dieses rätselhafte Verhalten der Figuren wird auf der Ebene der histoire nicht erklärt; dafür liefert aber in vielen Fällen, wie Lukas am Beispiel einer Erzählung Stifters darlegt, die sprachliche Gestaltung des discours indirekte Hinweise auf die Ursachen dieses Verhaltens. Diese Ursachen beruhen meist auf verdrängten sexuellen Wünschen. Somit lässt sich, so Lukas, eine Isomorphie zwischen der Figur und dem Text konstatieren, zwischen der psychischen Operation der Figur, die sexuelle Inhalte ins Unbewusste verdrängt, und der semiotischen Operation des Textes, der diese Inhalte nur indirekt, etwa mithilfe von Metaphern oder mehrdeutigen sprachlichen Ausdrücken, zur Sprache kommen lässt. Auch Michael Scheffel deutet am Ende seines Beitrags über Balzac an, dass das in der Comédie humaine entfaltete anthropologische Modell in mancher Hinsicht schon auf Theorien des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts, darunter die Theorien Freuds, vorausweise; im Zentrum des Aufsatzes allerdings stehen theoretische Überzeugungen Balzacs, die er in Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften seiner Zeit entwickelt hat, sowie ihre Bedeutung für die Figurenkonzeption und die Verfahren der Figurencharakterisierung und Figurenkonfiguration in seinen Romanen. Um die besondere Art einer Narrativierung von Wissen nachzuvollziehen, die der Figurendarstellung bei Balzac zugrunde liegt, rekonstruiert Scheffel zunächst die theoretischen Annahmen, die Balzac selbst im Avant-propos zur Comédie humaine als Grundlage seines Werks vorgestellt hat. Dazu gehört an erster Stelle eine Annahme, für die sich Balzac auf die zeitgenössischen Arbeiten des Zoologen Geoffroy de Saint-Hilaire, aber auch auf ältere Theorien beruft, die Annahme nämlich, dass alle Lebewesen durch einen einheitlichen ‚Bauplan‘ verbunden sind und dass die Entwicklung verschiedener Tierarten durch die Unterschiede zwischen ihren Milieus bewirkt wurde. In Entsprechung dazu bringen nach Balzac auch verschiedene soziale Milieus unterschiedliche Menschenarten hervor. Das Leben der Menschen in der Gesellschaft ist aber im Vergleich zu dem der Tiere in der Natur in höherem Maß dem Einfluss verschiedener Zufälle ausgesetzt und weist folglich eine größere Dynamik auf, die sich etwa im sozialen Auf- oder Abstieg von Personen manifestiert. Trotz des unaufhörlichen Wandels, der die menschlichen Gesellschaften prägt, gibt es dort auch Regelmäßigkeiten in Gestalt von typischen Charakteren, Lebensläufen und Situationen. Mehr noch: Die wechselvollen Entwicklungen in der Gesellschaft können nach Balzac auf einen einzigen ‚sozialen Motor‘ zurückgeführt werden, den er mit der ‚Leiden-

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schaft‘ identifiziert. Anhand dieser auf der Ebene der – so Scheffel mit Ricœur – ‚Préfiguration‘ angesiedelten Annahmen lassen sich Balzacs Figurenkonzeption und seine Technik der Figurencharakterisierung besser verständlich machen: Viele Figuren in seinen Romanen sind als Verkörperung einer bestimmten Ausprägung der Leidenschaft entworfen, und sie werden häufig charakterisiert, indem sie und ihre sozial und räumlich bestimmte Lebensumgebung zusammen und als eine Einheit bildend beschrieben werden. Aber wie Scheffel unter anderem an dem Roman La Peau de Chagrin illustriert, setzt Balzac seine theoretischen Überzeugungen keineswegs in schematischer und gleichförmiger Weise um, sondern entwickelt, was das Verhältnis von Figur und Leidenschaften sowie die Technik der Charakterisierung angeht, zahlreiche Variationen und Differenzierungen, so dass das in seinen Romanen narrativ entfaltete anthropologische Modell komplexer erscheint als die im Avant-propos begrifflich formulierte Konzeption. La Peau de Chagrin sei außerdem im Hinblick auf die Beziehung zwischen Literatur und wissenschaftlichem Wissen insofern besonders interessant, als Balzac darin auf der Handlungsebene den naturwissenschaftlichen Weltzugriff mit einer Dimension des Wunderbaren und Rätselhaften konfrontiert und ferner in der Geschichte des Protagonisten eine Sicht auf die Determiniertheit des Menschen suggeriert, die philosophisch-wissenschaftlichen Theorien des späteren 19. und 20. Jahrhunderts nahe steht. Während Scheffel das Verhältnis zwischen Balzacs Art der Figurendarstellung, seinen theoretischen Überzeugungen und ihrem wissensgeschichtlichen Kontext analysiert und somit den Blick auf die Seite der Produktion richtet, konzentriert sich Dorothee Birke in ihrem Beitrag über Figuren bei Charles Dickens auf die Seite der Rezeption. Den Ausgangspunkt ihrer Untersuchung bildet die schon von Zeitgenossen und später etwa von E. M. Forster festgehaltene Beobachtung, dass Dickens’ Romane durch besonders viele typenhafte oder ‚flache‘ Figuren bevölkert seien, durch Figuren also, die nur durch eine einzige oder wenige Eigenschaften definiert sind und sich im Laufe der Handlung nicht entwickeln. Birke sucht anhand von exemplarischen Analysen die Verfahren der typisierenden Figurenzeichnung bei Dickens näher zu bestimmen, wobei sie sich in methodischer Hinsicht an Ralf Schneiders Theorie der Figurenrezeption orientiert. Diese Analysen sollen einer kritischen Überprüfung der meist fraglos akzeptierten Annahme dienen, nach der typisierte Figuren eine geringere ästhetische Leistung darstellen oder interpretatorisch weniger interessant seien als stark individualisierte Figuren. Wie Birkes Untersuchung von zwei Figuren aus David Copperfield zeigt, greift die typisierende Figurendarstellung bei Dickens sowohl auf soziale als auch auf literarische Kategorisierungen zurück; eine wichtige

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Rolle spielen dabei physiognomische Deutungsmuster. Bei einer der analysierten Figuren stehen die aufgerufenen sozialen und literarischen Kategorien tendenziell im Widerspruch zueinander. Sobald die Leserin diese Diskrepanz wahrgenommen hat, so Birke, könne sie diese als Manifestation von Vorurteilen oder uneingestandenen Ängsten des Ich-Erzählers David deuten und seine Darstellung anderer Figuren fortan unter diesem Vorzeichen betrachten. Entgegen einer verbreiteten Ansicht, der letztlich ein unhinterfragter parti pris zugunsten psychologischer Vielschichtigkeit zugrunde liegt, können mithin auch ‚flache‘ oder typenhafte Figuren komplexe Funktionen erfüllen. In dem Aufsatz von Friederike Carl über Dostoevskijs Roman Böse Geister liegt das Hauptaugenmerk wieder auf der Seite der Produktion und auf der Frage, welches Wissen in welcher Weise in die literarische Figurendarstellung eingegangen ist. Die Figurendarstellung in Böse Geister, so Carl, kann weitgehend als eine konsequente Ausgestaltung von Dostoevskijs Annahmen über das Wesen des russischen Volkes, die wiederum eng mit seinen religiösen Grundüberzeugungen verwoben waren, interpretiert werden; mithilfe dieser Figuren entfalte Dostoevskij seine Diagnose der tiefgreifenden Krise des zeitgenössischen Russlands. Die Mitglieder der revolutionären Gruppe, die im Zentrum des Romans steht, repräsentieren Carl zufolge verschiedene ideologische Verirrungen, denen in Dostoevskijs Augen die russische Intelligenz unter dem Einfluss des Westens zum Opfer gefallen ist. Die Figuren erscheinen aber als innerlich zerrissen, da es ihnen nicht gelingt, sich ganz mit den von ihnen verfochtenen Ideologien zu identifizieren; diese Gebrochenheit verweise darauf, dass die Ideologien nicht den wahren Bedürfnissen des Menschen gerecht werden. Die Ideen, politischen Überzeugungen und Weltanschauungen der Figuren werden in diesem ‚polyphonen‘ Roman somit keineswegs neutral oder als gleichrangig dargestellt, sondern in einer Weise präsentiert, die Dostoevskijs eigene Position deutlich erkennen lässt. Was sich allerdings in die so gedeutete Kompositionsstrategie des Romans nicht ohne weiteres integrieren lässt, ist der homodiegetische Erzähler, der sich als höchst unzuverlässig erweist: Die faktische Richtigkeit seiner Darbietung des Geschehens muss an verschiedenen Stellen als zweifelhaft gelten, und einige seiner Bewertungen anderer Figuren wirken inkonsistent. Diese Gestaltung der Erzählerfigur und die daraus resultierenden Ungewissheiten könnten von Dostoevskij, so Carl, als ein Reflex auf die Unübersichtlichkeit und Instabilität gemeint gewesen sein, die das Russland der 1860er Jahre kennzeichneten. Auch Katharina Grätz setzt in ihrem Beitrag über Theodor Fontane die literarischen Figurendarstellungen in Bezug zu theoretischen Positionen

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des Autors und berücksichtigt dabei neben Fontanes Sicht auf das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft auch seine poetologischen Überzeugungen. Sie rekonstruiert zunächst die Forderungen an die literarische Figurengestaltung, die Fontane in programmatischen und literaturkritischen Texten formuliert hat, um dann die Grundzüge der Figurendarstellungen und Figurenkonzeptionen seiner Romane zu analysieren. Aus seinen theoretischen Äußerungen geht hervor, dass Fontane solche literarischen Figuren für besonders gelungen und wertvoll hielt, die in der Mitte zwischen rein typenhaften, etwas Allgemeines repräsentierenden Figuren einerseits und rein individuellen und besonderen Figuren andererseits standen. Auch die Figurenkonzeptionen seiner eigenen Romane lassen das Bestreben erkennen, solche Figuren zwischen Typ und Individuum zu schaffen. Die Figuren werden einerseits als Repräsentanten sozialer Gruppen gezeichnet, andererseits aber auch mithilfe verschiedener Strategien – u. a. durch Anlehnungen an reale Vorbilder – wieder individualisiert. Für Fontanes Technik der narrativen Figurendarstellung ist darüber hinaus kennzeichnend, dass er die Perspektive des Erzählers stark in den Hintergrund treten und stattdessen eine Figur von verschiedenen anderen Figuren charakterisieren und bewerten lässt. Dabei bietet Fontane kaum Darstellungen innerer Vorgänge, sondern vor allem ausgedehnte Dialoge, die zu erkennen geben, welchen sozialen Regeln das Gespräch unterworfen ist und wie sich die Figuren gegenüber diesen Konventionen verhalten. Als leitend für Fontanes literarische Figurendarstellungen erscheint seine Grundüberzeugung, der zufolge der Mensch ein gesellschaftliches Wesen und in einem für ihn selbst kaum durchschaubaren Maße durch die Gesellschaft – insbesondere durch sozial vermittelte Rollenbilder, Denkmuster und Normen – geprägt ist, ohne aber vollständig durch sein Milieu determiniert und jeder Form von Autonomie beraubt zu sein. Thorsten Fitzon stützt sich in seiner Interpretation von Wilhelm Raabes unvollendetem Roman Altershausen auf Paul Ricœurs Untersuchungen zum Verhältnis von Zeit und Erzählung: zum einen auf Ricœurs generelle Annahme einer (verkürzt gesagt) Analogie zwischen realer Zeiterfahrung des Lesers und Zeitstruktur der Erzählung, zum anderen auf seine historische These, der zufolge in der Literatur der Moderne vielfach die Spannung zwischen der ‚sterblichen Zeit‘ des Einzelnen und der zur Vergangenheit wie zur Zukunft hin geöffneten Weltzeit dargestellt wird. Auch Raabes Roman, so die These von Fitzon, gestaltet die Erfahrung einer solchen Spannung, und zwar in der spezifischen Form, in der sie von einem alten Menschen erlebt wird. Die Zeiterfahrung des siebzigjährigen Protagonisten, der den Ort seiner Kindheit besucht, ist durch die gleichzeitige Präsenz und Überlagerung verschiedener Zeitschichten gekennzeichnet. Erzähltechnisch wird

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diese Simultaneität unterschiedlicher Lebensabschnitte dadurch anschaulich gemacht, dass die Hauptfigur gleichsam mit verschiedenen Stimmen spricht und teilweise von sich selbst in der dritten Person erzählt. Die Zeitschichten, die im Bewusstsein des Protagonisten zugleich präsent sind, fügen sich dabei nicht zu einer geschlossenen Entwicklung zusammen; die gelebte Zeit erscheint im Rückblick weniger als ein Kontinuum denn als eine Akkumulation von einzelnen, durch intensive sinnliche Eindrücke herausgehobenen Erlebnissen. In zwei Träumen wird diese sterbliche Lebenszeit des Protagonisten mit größeren historischen Prozessen und übergeordneten Zeitmodellen konfrontiert; der daraus resultierende Eindruck ist jeweils einer der Ernüchterung, denn der Hauptfigur werden vor allem die Dissonanz zwischen individuellen und historischen Zeitläufen und die Nichtigkeit der Bestrebungen des Einzelnen vor Augen geführt. Wie an dieser pessimistischen Grundierung deutlich wird, ist die in Altershausen gestaltete Konzeption einer altersspezifischen Zeiterfahrung unter anderem durch die Philosophie Schopenhauers und seine Reflexionen über das Alter inspiriert; zugleich trifft sie sich aber, so Fitzon, in mehreren Punkten mit Ansätzen der modernen Alterspsychologie des 20. Jahrhunderts. Michael Butter analysiert eine Erzählung von Henry James und eine von Stephen Crane als repräsentative Texte des amerikanischen Realismus bzw. Naturalismus; er konzentriert sich dabei zum einen auf Zusammenhänge zwischen vorausgesetztem Menschenbild, Figurenkonzeption und Erzählweise, zum anderen auf die leserbezogenen Funktionen oder Leistungen der Figurendarstellungen. Butters These lautet, dass diese Funktionen – ungeachtet der übrigen, durchaus weitreichenden Differenzen zwischen Realismus und Naturalismus – in den Texten von James und Crane ähnliche seien: Beide Erzählungen „ermöglichen es ihren Lesern, über die Auseinandersetzung mit und Teilnahme am fiktionalen Geschehen, Erfahrungen zu machen“. James’ The Real Thing bietet den Rezipienten die Gelegenheit, die Wirklichkeitsdeutungen des Protagonisten nachzuvollziehen, die Fehler in diesen Deutungen sowie die den Irrtümern zugrunde liegenden Einstellungen zu entdecken und so die Wichtigkeit einer unvoreingenommenen Verarbeitung von Erfahrungsdaten zu erkennen. Die Erzählung bleibt letztlich noch einer Anthropologie verpflichtet, die von der Lernfähigkeit und relativen Selbstbestimmtheit des Menschen ausgeht. Cranes Erzählung hingegen, deren Protagonist für einen Tag am eigenen Leib die Lebensweise eines Obdachlosen in den New Yorker Slums kennen lernen will, steht im Zeichen eines konsequenten Determinismus; die Hauptfigur erweist sich als dem Milieu unterlegen und findet (zumindest in einer Version des Textes) nach nur einem Tag nicht mehr in ihr gewohntes Leben zurück. Diese Ohnmacht des

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Menschen findet ihren erzähltechnischen Ausdruck darin, dass die Erlebnisse des Protagonisten nicht von ihm selbst, sondern von einem auktorialen Erzähler präsentiert und gedeutet werden. Während Cranes Text also einerseits die gefährliche Macht des Milieus vorführt, ermöglicht er es zugleich den Lesern, die Erkundung eines fremden Milieus im Modus der Fiktion und somit unter verringertem Risiko nachzuvollziehen. Die deterministische Anthropologie von naturalistischen Autoren wie Crane orientierte sich bekanntlich in vielen Fällen an den zeitgenössischen Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften. Maximilian Bergengruen legt in seinem Beitrag zu Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften dar, dass auch die Figur des Prostituiertenmörders Moosbrugger von Musil in Anlehnung an wissenschaftliche Konzepte seiner Zeit gestaltet wurde; die Zwecke, denen diese Konstruktion der Figur innerhalb des Romans dient, liegen aber weitab von einer Illustration wissenschaftlicher Erkenntnisse. Bergengruen zeigt zunächst, dass Musil mit der MoosbruggerFigur auf die in der zeitgenössischen Psychiatrie und Rechtstheorie geführten Debatten um Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit reagiert. Die psychischen Zustände Moosbruggers wurden von Musil in enger Anlehnung an psychiatrische Untersuchungen der Schizophrenie geschildert, obwohl die Schizophrenie in dem realen Fall eines Prostituiertenmörders, von dem Musil sich anregen ließ, keine prominente Rolle spielte. Dieses Vorgehen lässt sich nach Bergengruen damit erklären, dass das Krankheitsbild der Schizophrenie es Musil erlaubte, die Alternative zwischen Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit als fragwürdig hinzustellen und eine „Logik jenseits des Tertium non datur“ aufscheinen zu lassen: Moosbruggers vor Gericht gemachte Aussagen über seine Krankheit entziehen sich aufgrund ihrer paradoxen Struktur einer Einordnung als wahr oder falsch, wie sich auch sein Zustand einer eindeutigen Qualifizierung als gesund oder krank, zurechnungsfähig oder unzurechnungsfähig entzieht. Diese Konstruktion der Moosbrugger-Figur erfüllt wiederum eine spezifische Funktion innerhalb von Musils Roman: Moosbruggers Schizophrenie und seine jenseits des Tertium non datur angesiedelte Verfassung lassen ihn – wenn man ein um 1900 geläufiges Mystik-Verständnis zugrunde legt – als einen Mystiker erscheinen und damit auch als einen ‚Verwandten‘ des Romanhelden Ulrich. Die Reihe der Aufsätze beschließen ein linguistischer und ein philosophischer Beitrag, die sich mit der Darstellung von Personen in der Alltagskommunikation beziehungsweise mit dem Begriff der personalen Identität befassen. Eine Ausgangsannahme des vorliegenden Bandes lautet, dass die Produktion und die Rezeption literarischer Figuren durch vielfältige und

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komplizierte Wechselwirkungen mit dem Wissen über den Menschen oder über Personen verbunden sind, das in den diversen kulturellen Kontexten der Literatur kursiert. Dieses Wissen umfasst nicht nur wissenschaftliche Theorien, sondern auch Annahmen, Begriffe und Stereotype, die im Alltagswissen verankert sind. Die zwei abschließenden Aufsätze des Bandes beleuchten Aspekte dieses außerliterarischen Redens und Denkens über Personen, die auch im Hinblick auf die literarische Figurendarstellung von Interesse sind. Anja Stukenbrock untersucht aus linguistischer Perspektive die Darstellung von Figuren bzw. Personen in der face-to-face-Kommunikation des Alltags und richtet dabei den Fokus auf den kombinierten Einsatz sprachlicher und körperlich-visueller Ausdrucksmittel. In einer exemplarischen Detailanalyse untersucht sie eine Szene aus der Fernsehsendung Big Brother, in der einer der Teilnehmer von seiner Begegnung mit einer ‚merkwürdigen‘ Person erzählt. Mithilfe des Instrumentariums der Interaktionalen Linguistik und unter Rückgriff auf Konzepte u. a. von Bakhtin und Goffman analysiert Stukenbrock die verbalen, mimischen und gestischen Mittel, mit deren Hilfe der Sprecher die dargestellte Person beschreibt und sie typisierend der Kategorie des ‚Proleten‘ oder ‚Asozialen‘ zuordnet, wobei er sich immer wieder vergewissert, dass seine Zuhörerinnen sowohl sein Wissen über soziale Typen als auch seine Bewertungsmaßstäbe teilen. – Für die literaturwissenschaftliche Forschung zu Figurendarstellungen sind solche linguistischen Analysen von Alltagserzählungen zum einen insofern anschlussfähig, als diese Alltagserzählungen, so Stukenbrock im Anschluss an Bakhtin, zu den ‚primary speech genres‘ gehören, die eine Ressource für die komplexen ‚secondary speech genres‘ der Literatur bilden. Zum anderen macht Stukenbrocks Analyse aber auch deutlich, dass in der face-to-face-Interaktion durch den ökonomischen Einsatz von Rückversicherungen eine Verständigung über geteilte Wissens- und Normhorizonte hergestellt werden kann, die dann wiederum die Verwendung voraussetzungsreicher Techniken der impliziten Typisierung und Bewertung gestattet; daraus ergibt sich indirekt auch die Frage, ob und, falls ja, mit welchen Mitteln eine vergleichbare Verständigung über solche Voraussetzungen in der räumlich und zeitlich zerdehnten literarischen Kommunikation hergestellt wird. Christian Budnik präsentiert Fragestellungen, theoretische Ansätze und Thesen, die die Diskussionen zum Thema der personalen Identität in der sprachanalytischen Philosophie der letzten Jahrzehnte geprägt haben. Er weist darauf hin, dass der Begriff der personalen Identität in diesen Diskussionen auf zwei verschiedene Weisen verstanden worden ist und dass diese zwei Verwendungsweisen des Begriffs mit zwei verschiedenen Fragestellungen verknüpft sind. Zum einen wird ‚Identität‘ als Bezeichnung der Relation

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gebraucht, die zwischen einem Gegenstand und ihm selbst besteht; dieses Begriffsverständnis wird vorausgesetzt in der Diskussion um die Frage nach den Kriterien der diachronen Identität von Personen, also nach den Bedingungen, unter denen man sagen kann, dass eine Person P1 zum Zeitpunkt t1 und eine Person P2 zum (von t1 unterschiedenen) Zeitpunkt t2 ein und dieselbe Person sind, dass diese Person P1 und diese Person P2 identisch sind. Zum anderen aber wird der Ausdruck ‚personale Identität‘ auch verwendet als Bezeichnung für die „Konzeption, die Personen als Subjekte von Erfahrungen von sich selbst und ihrem Leben haben“. Der so verstandene Identitätsbegriff liegt der Frage zugrunde, welche „Vorkommnisse im Leben einer Person (Handlungen, Erfahrungen, Wünsche, Werte, Charakterzüge, etc.)“ es sind, die die Identität dieser Person ausmachen, die sich als ihr genuin zugehörig auffassen lassen. In den jüngeren Debatten um diese Frage hat der Gedanke, dass die so verstandene Identität einer Person eine narrative Struktur habe, eine große Rolle gespielt. Budnik stellt zunächst mit dem Ansatz von Marya Schechtman eine elaborierte Version einer solchen narrativen Identitätstheorie vor und skizziert dann einige Kritikpunkte, die sich gegen derartige Theorien vorbringen lassen. – Aus der Sicht der Literaturwissenschaft ist an Budniks Beitrag zunächst der Hinweis auf die zwei Verständnisweisen des Begriffs der personalen Identität von Interesse, gerade weil in literaturwissenschaftlichen Kontexten nur einer von ihnen – Identität im Sinne einer Selbstkonzeption – geläufig sein dürfte. Ferner liefert die Theorie Schechtmans mit ihrer detaillierten Analyse der Struktur von narrativen Selbstkonzeption eine Reihe von Gesichtspunkten, anhand deren auch die ‚Selbst-Erzählungen‘ literarischer Figuren analysiert werden könnten. Budniks kritische Anmerkungen zu Schechtmans Theorie schließlich machen darauf aufmerksam, dass narrative Identitätstheorien ein hohes Maß an Kohärenz und diachroner Kontinuität als notwendige Eigenschaften von Selbstkonzeptionen voraussetzen und dass durchaus bezweifelt werden kann, ob solche narrativen Selbstkonzeptionen sich tatsächlich bei vielen Personen finden und ob sie erstrebenswert sind.

IV.

Vergleichende Beobachtungen

Im Schlussteil dieser Einleitung sollen einige Beobachtungen festgehalten werden, die sich in der Zusammenschau der Beiträge ergeben. Dabei werden gelegentlich auch Gedanken herausgegriffen, die in den Aufsätzen selbst nicht im Zentrum stehen, die aber interessante Querverbindungen zu anderen Aufsätzen herzustellen erlauben.

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IV.1. Die Begriffe ‚Typ‘, ‚Typus‘ und ‚Charakter‘ Die Begriffe ‚Typ‘ oder ‚Typus‘ begegnen sowohl in Scheffels Aufsatz über Balzac als auch in Birkes Aufsatz über Dickens und Grätz’ Beitrag über Fontane. Scheffel und Grätz untersuchen Balzacs bzw. Fontanes Verständnis des Typus-Begriffs sowie ihre Auffassungen über Typen in der Literatur; bei ihnen wird dieser Begriff also als ein Teil der ‚Objektsprache‘ untersucht. Bei Birke hingegen ist der Begriff ‚Typ‘ ein Teil des Analyseinstrumentariums oder der wissenschaftlichen Metasprache. Michael Scheffels und Katharina Grätz’ Ausführungen zeigen, dass die Typus-Begriffe von Autoren für die Untersuchung von literarischen Figuren und Wissen von besonderem Interesse sind, da sie eine Art Brücke zwischen Annahmen über allgemeine Gesetz- oder Regelmäßigkeiten und der Konzeption von einzelnen Figuren darstellen. So ist Balzacs Vorstellung von menschlichen Typen verknüpft mit seinen allgemeineren, spekulativen Ideen von dem einheitlichen Bauplan der Lebewesen und dem determinierenden Einfluss des Milieus sowie von der Leidenschaft als dem Motor des sozialen Geschehens. Auch Fontanes Begriff von menschlichen Typen steht im Zusammenhang mit seinen Annahmen darüber, auf welche Weise und in welchem Maße das soziale Milieu das Individuum prägt oder determiniert. Die Poetik des Realismus sah die Leistung und das Wesensmerkmal von Typen oder typischen Figuren, kurz gesagt, darin, dass sie zwischen Allgemeinem und Einzelnem vermitteln. Wie Johannes Süßmann in seinem Aufsatz darlegt, weist Friedrich Schlegel eben diese Aufgabe dem „Charakterisieren“ zu. Schlegel greift damit offenbar den Begriff des Charakters auf, der für die Theorie und Praxis der literarischen Figurendarstellung im 18. Jahrhundert, aber auch noch darüber hinaus von großer Bedeutung war47 und der für historische Untersuchungen zu Beziehungen zwischen literarischen Figuren und Wissen von ähnlichem Interesse sein dürfte wie der des Typus. Süßmann nun weist darauf hin, dass auch die Praxis der historiographischen ‚Figurendarstellung‘ ab etwa 1800 sich an Prinzipien orientierte, die dem Schlegel’schen Konzept der Charakteristik entsprechen. Dorothee Birke untersucht in ihrem Beitrag nicht Dickens’ Verständnis des Typus-Begriffs, sondern gebraucht, wie schon angedeutet, den Begriff ‚Typ‘ als Teil der wissenschaftlichen Beschreibungssprache. Sie kon47

Vgl. Richter, Sandra, „Charakter und Figur. Charakterologie im Ausgang von der Rezeption des Theophrast von Eresos bis zu Christoph Martin Wielands Abderiten (1781)“, in: Nicolas Pethes/Sandra Richter (Hrsg.), Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900), Tübingen 2008 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 117), S. 145–169.

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trastiert diesen Begriff mit dem des Individuums und betrachtet beide als entgegengesetzte Extreme auf einer „Skala von mehr oder weniger komplex, individuell und psychologisch glaubwürdig ausgestalteten Figuren“.48 Dieses Verständnis von ‚Typ‘, das Typen als Figuren von geringer Komplexität auffasst und sie als solche Individuen entgegensetzt, steht in der Tradition von E. M. Forsters bekannter Unterscheidung von ‚flachen‘ und ‚runden‘ Figuren, auf die auch Birke – kritisch – Bezug nimmt. ‚Flach‘ sind nach Forsters Definition Figuren, die sich auf sehr wenige oder auf eine einzige Eigenschaft oder Idee reduzieren lassen und die den Leser niemals überraschen; anstelle von „flat characters“ gebrauchte Forster gelegentlich auch den Ausdruck „types“.49 Dieser jüngere, literaturwissenschaftliche Begriff des Typs ist von dem älteren Begriff des Typus, wie er sich bei den Autoren und Programmatikern des Realismus findet, scharf zu unterscheiden. Figuren, die dem Typen-Begriff des programmatischen Realismus entsprechen oder auch Typen im Sinne Balzacs sind, müssen offenkundig nicht Typen im Sinne Forsters, also ‚flache‘ Figuren, sein. Als Indiz dafür, dass man es hier mit unterschiedlichen Verständnissen von ‚Typ‘ zu tun hat, mag auch die Tatsache dienen, dass für Forster alle Figuren in den Romanen von Dostoevskij ‚runde‘ Figuren (also keine „types“) waren,50 dass aber, wie der Aufsatz von Friederike Carl zeigt, die Hauptfiguren von Dostoevskijs Böse Geister durchweg als individuelle Verkörperungen von etwas Allgemeinerem – und insofern als ‚Typen‘ im Sinne des realistischen Typenbegriffs – entworfen wurden: als Figuren, in denen sich auf verschiedene Weisen die Grundzüge des russischen Wesens ausprägen. IV.2. ‚Inneres‘ und ‚Äußeres‘ von Figuren; die Bedeutung der Physiognomik Fotis Jannidis hat die These aufgestellt, dass die Informationen, die eine literarische Figur beziehungsweise die mentale Repräsentation einer Figur konstituieren, stets mithilfe eines kulturinvarianten Grundmusters strukturiert werden, das er als ‚Basistypus‘ bezeichnet. Dieser Basistypus enthalte vor allem eine Unterscheidung zwischen der körperlichen ‚Außenseite‘ von 48

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Birke weist dabei aber auch darauf hin, „dass es sich bei Komplexität, Individualität und psychologischer Glaubwürdigkeit um verschiedene Aspekte der Figurenkonzeption handelt, die zwar oft, aber keineswegs immer korrelieren“. Vgl. Forster, E. M., Aspects of the Novel, London 1953 [zuerst 1927]; zur Unterscheidung zwischen ‚flachen‘ und ‚runden‘ Figuren S. 65–75, zu den Definitionen von ‚flat character‘ S. 65 und 75, für Verwendungen des Ausdrucks „types“ S. 65, 69. Vgl. ebd., S. 74.

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Figuren, die für andere Figuren wahrnehmbar ist, und ihrem mentalen ‚Innenleben‘.51 Der Basistypus sei stets eingebettet in kulturell variable Annahmen etwa darüber, wie das Innenleben von Personen beschaffen sei.52 In den Beiträgen dieses Bandes werden ganz unterschiedliche Gestaltungen des Verhältnisses zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ von Figuren analysiert; ausdrücklich zum Thema gemacht wird diese Beziehung zwischen Innerem und Äußerem in den Aufsätzen von Suerbaum, Fulda, Zipfel, Lukas, Birke und Butter. Mehrere dieser Beiträge untersuchen dabei die Rolle von physiognomischen Deutungsmustern in den behandelten Texten. Almut Suerbaum weist darauf hin, dass sich in Texten der deutschsprachigen mittelalterlichen Literatur erst ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts eine Unterscheidung zwischen dem Inneren und dem Äußeren der dargestellten Figuren findet. Das Innere wird dabei in der hoch- und spätmittelalterlichen Literatur als ein ‚Raum‘ entworfen, in dem die Beweggründe von Handlungen liegen und in dem die Figuren Normkonflikte austragen; insofern lasse sich diese Aussonderung und Ausgestaltung eines Innenlebens von Figuren als ein Prozess der Rationalisierung deuten. – Als Manifestation einer spezifischen, in diesem Falle instrumentellen Form von Rationalität kann man auch die Sicht auf die Beziehung zwischen Innerem und Äußerem betrachten, die Daniel Fulda in seinem Beitrag rekonstruiert, also jene Auffassung dieser Beziehung, die im politischen Verhaltenswissen der Frühen Neuzeit entfaltet wurde. Einen wesentlichen Teil dieser Verhaltenslehren bildeten Anweisungen dazu, wie man einerseits aus dem Äußeren anderer Personen auf ihre Motive schließen und andererseits die eigenen Absichten, Gefühle und Wünsche verbergen kann. – In Choderlos de Laclos’ Roman Les liaisons dangereuses, den Frank Zipfel untersucht, treten mit der Marquise de Merteuil und dem Vicomte de Valmont zwei Virtuosen der Verstellung auf, die wie späte Adepten der Verhaltenslehren von Gracián und Machiavelli erscheinen können. Der Themenkomplex von Verhaltensdeutung und Verstellung erhält freilich bei Laclos eine neue und spezifische Akzentuierung dadurch, dass er im Medium des Briefromans und vor dem Hintergrund neuer Ideale von Natürlichkeit und authentischem Gefühlsausdruck entwickelt wird. – In der Tradition des politischen Verhaltenswissens gilt das äußere Gebaren von Menschen, vereinfacht gesagt, als prinzipiell ‚lesbar‘ und nur dann als undurchschaubar, wenn die betreffende Person die Kunst der dissimulatio beherrscht. Eine andere Art von Undurchschaubarkeit analysiert Wolfgang Lukas in seiner Studie zu deutschen Er51 52

Vgl. Jannidis, Figur und Person, S. 192–194, 240f. Vgl. ebd., S. 193.

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zähltexten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Dass innerhalb dieser Texte das äußere Verhalten der Figuren keine eindeutigen Schlüsse auf ihr Inneres erlaubt und dass es in der Handlung wiederholt zu Fehldeutungen kommt, lässt sich nicht auf Praktiken der Verstellung und Täuschung seitens der Figuren zurückführen; vielmehr werde hier die menschliche Psyche generell, und zwar auch die Psyche des ‚Normalsubjekts‘, als rätselhaft dargestellt. In den bisher erwähnten Fällen besteht das ‚Äußere‘ meist in dem sichtbaren Handeln und Verhalten der Figuren, das ‚Innere‘ in ihren Gedanken, Absichten und Gefühlen. Auch die Physiognomik untersucht Beziehungen zwischen dem ‚Äußeren‘ und dem ‚Inneren‘ von Personen, aber dabei geht es vor allem um ‚äußere‘ Merkmale wie Gesichtszüge einerseits und ‚innere‘ Eigenschaften, Dispositionen oder Charakterzüge andererseits. Es ist bekannt, dass literarische Figurendarstellungen in verschiedenen Epochen in erheblichem Maße durch physiognomische Lehren beeinflusst waren, und zwar nicht nur in den Hochkonjunkturphasen dieser Lehren, also etwa zur Zeit Lavaters, sondern zum Beispiel auch über weite Strecken des 19. Jahrhunderts.53 Die Beiträge zum europäischen und nordamerikanischen Realismus und Naturalismus im vorliegenden Band bestätigen die Relevanz der Physiognomik für diese Literaturepoche; zusammengenommen, lassen sie zudem vermuten, dass der Umgang mit physiognomischen Deutungsmustern in der Literatur dieser Zeit keine eindeutige Richtung, etwa im Sinne einer zunehmenden Infragestellung, aufweist. Der ausgiebige Gebrauch, den Balzac von physiognomischen Deutungsmustern macht, ist kaum zu übersehen – zumal Balzac in einem Roman seinen Erzähler explizit die theoretischen Grundannahmen dieser Deutungen darlegen lässt – und ist der Forschung denn auch schon früh aufgefallen.54 Michael Scheffel weist in seinem Aufsatz darauf hin, dass diese Deutungsmuster bei Balzac in ein umfassendes anthropologisches und soziologisches System eingebettet sind, in dem die aktuelle Naturwissenschaft mit eher spekulativen Entwürfen amalgamiert ist. Wie Dorothee Birke ausführt, nutzt auch Dickens vielfach physiognomische Deutungsmuster, ohne

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Vgl. Tytler, Graeme, Physiognomy in the European Novel. Faces and Fortunes, Princeton (NJ) 1982; Shookman, Ellis (Hrsg.), The Faces of Physiognomy: Interdisciplinary Approaches to Johann Caspar Lavater, Columbia 1993; Agazzi, Elena/Beller, Manfred (Hrsg.), Evidenza e ambiguità della fisionomia umana. Studi sul XVIII e XIX Secolo, Viareggio 1998. Vgl. etwa Scheel, Hans Ludwig, „Balzac als Physiognomiker“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 113/1962, S. 227–244. Vgl. auch: Koch, Literarische Menschendarstellung, S. 99–117.

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dass dies bei ihm allerdings ausdrücklich thematisiert würde. Die Gültigkeit der physiognomischen Theoreme und damit die Zuverlässigkeit der darauf beruhenden Schlussfolgerungen von Äußerem auf Inneres scheinen bei Balzac ebenso wie bei Dickens vorausgesetzt zu werden. Im amerikanischen Realismus hingegen, etwa bei Henry James, erweisen sich Michael Butter zufolge gerade diese von der Physiognomik behaupteten Korrelationen als ungewiss; entsprechende Deutungsakte der Figuren sind Musterbeispiele für jene voreiligen Schlüsse, vor denen die realistischen Texte ihre Leser zu warnen suchen. Aber aus Butters Beitrag geht auch hervor, dass damit die Physiognomik nicht endgültig ihren Kredit verloren hatte: Bei Stephen Crane als einem Vertreter des Naturalismus erscheinen solche Deutungen wieder als unproblematisch und verlässlich. IV.3. Literatur und Wissenschaften Die Physiognomik war bekanntlich in vielen Phasen ihrer Geschichte sehr umstritten und führte daher im ‚offiziellen‘ Wissenschaftsbetrieb meist eine Randexistenz. In mehreren Beiträgen des Bandes werden die literarischen Figurenkonzeptionen aber auch zu Theorien aus anerkannten wissenschaftlichen Disziplinen in Beziehung gesetzt. Grob vereinfacht, kann man zwei Arten von Relationen zwischen literarischen Figurenentwürfen und wissenschaftlichen Theorien unterscheiden, die in mehreren Aufsätzen begegnen: zum einen ein Verhältnis der ‚Antizipation‘, zum anderen ein Verhältnis der ‚kreativen Adaptation‘ oder ‚Transformation‘. In mehreren Beiträgen werden Varianten der These aufgestellt, dass die untersuchten Figurenkonzeptionen Ähnlichkeiten zu späteren wissenschaftlichen Theorien aufweisen und in diesem Sinne wissenschaftliche Entwicklungen ‚antizipieren‘: Besonders explizit und ausführlich wird eine solche These von Wolfgang Lukas in seiner Untersuchung der postromantischen Erzählliteratur vertreten; in den Texten dieser Literatur sei implizit ein Konzept des Unbewussten vorausgesetzt, wie es in späteren Theorien der Psychoanalyse ausdrücklich ausgearbeitet worden sei. Michael Scheffel weist auf Parallelen zwischen der textinternen Anthropologie von Balzacs Romanen und den späteren Theorien von Marx, Engels und Freud hin. Thorsten Fitzon schließlich führt aus, dass die Darstellung der alterstypischen Zeitwahrnehmung in Raabes Altershausen in mehreren Hinsichten mit Theorien der Alterspsychologie des 20. Jahrhunderts konvergiere. In anderen Aufsätzen werden hingegen Varianten eines Umgangs mit dem zeitgenössischen wissenschaftlichen Wissen beschrieben, der eine ‚affirmative‘ Bezugnahme mit Formen der Abweichung, Kritik oder kreativen

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Transformation verbindet. So zeigt Manuele Gragnolati, dass Dante sich mit manchen Aspekten seiner Figurendarstellung in der Divina Commedia zustimmend auf theologische Konzepte seiner Zeit bezieht, dass er aber in anderen Hinsichten beziehungsweise in manchen Textpartien auch von diesen theologischen Lehren abweicht oder sie auf originelle Weise mit Vorstellungen aus ganz anderen Bereichen kombiniert. Eine andere Variante solch eines kreativen Umgangs mit anerkanntem wissenschaftlichen Wissen erörtert Michael Scheffel in seinem Aufsatz über den Autor der Comédie humaine, der die theoretischen Grundlagen seines Werks auf dem Wege einer eigenwilligen Erweiterung von Konzepten der zeitgenössischen Biologie entwickelt habe. Maximilian Bergengruen schließlich legt dar, dass Robert Musil sich einerseits in der Beschreibung der Symptome eines Geisteskranken eng am psychiatrischen Wissen seiner Zeit orientiert hat, andererseits aber diese Geisteskrankheit innerhalb des Romans als eine Mystikaffine Disposition deutet und sie somit in den Rahmen einer originären theoretischen Konstruktion stellt, die nicht der Wissenschaft entlehnt ist.

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Manuele Gragnolati

Manuele Gragnolati (Oxford / Berlin)

Sehnsucht nach Umarmungen Melancholie und Körperlichkeit in Dantes eschatologischer Anthropologie1

Dantes Commedia beschreibt bekanntermaßen die Reise durch das Leben nach dem Tod – von der Hölle durch das Fegefeuer hin zum Paradies –, auf die sich die Figur Dante (welche im Folgenden als Dante der Pilger bezeichnet wird) im Jahre 1300 begab. Die im frühen 14. Jahrhundert verfasste Commedia ist ein eschatologisches Gedicht, das gewöhnlich als Höhepunkt und Summa mittelalterlicher Weltanschauung gilt. Erich Auerbach hat jedoch bereits 1929 den modernen und innovativen Charakter von Dantes Gedicht hervorgehoben und mit dessen Bezug auf das irdische Leben sowie dessen Darstellung von Individualität assoziiert: „Dante fand die Gestalt des Menschen, die das europäische Bewußtsein besitzt“, das heißt, er zeigte, was die europäische Antike auf eine ganz andere Weise, das Mittelalter niemals gebildet hatte: den Menschen nicht in der fernen Gestalt der Sage noch in der abstrakten oder anekdotischen Formulierung des moralischen Typus, sondern den bekannten, lebenden, historisch gebundenen, das gegebene Individuum in seiner Einheit und Vollständigkeit, kurz die Nachahmung seiner historischen Natur – das hat Dante als erster geleistet, und darin folgten ihm alle späteren Bildner des Menschen.2

Es ist fraglich, ob Auerbach vollkommen recht hat, wenn er Dante bezüglich der Darstellung des Menschen in seiner individuellen und historischen Realität eine europäische Vorrangstellung einräumt. Ich meine jedoch, man kann ihm zustimmen, dass sich die Individualität der Figuren in der Commedia zum modernen Zeitalter hin öffnet. Natürlich ist die Beziehung Dantes zur Moderne ein weit reichendes Thema: Wollte man nur einen der am häufigsten diskutierten Aspekte dieses Verhältnisses benennen, wäre etwa an Dantes Darstellung antiker Figuren zu denken und diese damit zu vergleichen, wie Petrarca oder die Renaissance mit klassischen Autoren umgehen. Ein weite1

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Ich möchte Christoph Holzhey für seine einsichtsvollen Kommentare zu früheren Versionen dieses Artikels danken. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Isabel Schlinzig. Auerbach, Erich, Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin, Leipzig 1929, S. 212–213.

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rer, äußerst wichtiger Aspekt von Dantes Beziehung zur Moderne ist seine Haltung zur Sprache, und zwar insbesondere die Art und Weise, in der seine Sprachtheorie und -praxis während seines gesamten Schaffensweges eine energische Verteidigung des volgare (das man zwischen Volkssprache und Muttersprache ansiedeln kann) gegen das Prestige des Lateinischen darstellen.3 Mein Beitrag wird dagegen Auerbachs Hypothese zu Dantes moderner Anthropologie vor dem Hintergrund mittelalterlicher Eschatologie und Darstellungen des Lebens nach dem Tode überprüfen. Natürlich gehe ich mit Auerbach von der Annahme aus, dass uns Dantes eschatologische Vorstellungen etwas über sein Verständnis vom Menschen im irdisch-diesseitigen Leben mitteilen können. Im Speziellen werde ich argumentieren, dass Dantes Begriff vom Menschen ein körperlicher ist. Auch mit Bezug auf Körperlichkeit ließen sich verschiedene Aspekte betrachten: Während ich in der Vergangenheit das erforscht habe, was ich als „Dantes Anthropologie des Schmerzes“ bezeichnete, das heißt: die Bedeutsamkeit des Körpers als Ort der Erfahrung und das Potential physischen Schmerzes bei der Identitäts- und Sinnbildung,4 untersucht dieser Aufsatz eine andere Art und Weise, in der Körper und Sehnsucht als bedeutsame Komponenten des Selbst fungieren. Vor allem werde ich das Verhältnis zwischen Körper und Zuneigung diskutieren, wie es vom Akt der Umarmung symbolisiert wird oder genauer: von der „Sehnsucht nach Umarmungen“, auf die sich der Titel meines Aufsatzes bezieht. Bevor ich zur Diskussion der Umarmungen in Dantes Commedia übergehe, sei noch eine Vorbemerkung gestattet. Es ist keineswegs überraschend, dass sich Dantes Commedia – in ihrer Eigenschaft als Gedicht über das Leben nach dem Tod – mit Themen auseinandersetzt, die mit Verlust und der Trauer um Verstorbene verbunden sind. Interessanterweise finden diese Themen jedoch Widerhall in vielen Fragen, die für das psychoanalytische Verständnis von Subjektivität zentral sind, und besonders in der Art, wie sich 3

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Vom 2. bis zum 4. April 2009 fand zu diesem Thema am ICI Berlin Institute for Cultural Inquiry eine Konferenz mit dem Titel Dante’s Plurilingualism. Authority, Vulgarization, Subjectivity statt. Der Band zu dieser Tagung (Fortuna, Sara/Gragnolati, Manuele/Trabant, Jürgen (Hrsg.), Dante’s Plurilingualism: Authority, Knowledge, Subjectivity, Oxford 2010) ist bereits erschienen. Siehe Gragnolati, Manuele, „Gluttony and the Anthropology of Pain in Dante’s Inferno and Purgatorio“, in: Rachel Fulton/Bruce Holsinger (Hrsg.), History in the Comic Mode. Medieval Communities and the Matter of Person, New York 2007, S. 238–250; Ders., Experiencing the Afterlife. Soul and Body in Dante and Medieval Culture, Notre Dame, London 2005, S. 89–138; Ders./Holzhey, Christoph, „Dolore come gioia. Trasformarsi nel Purgatorio di Dante“, in: Psiche, 2/2003, S. 111–126.

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Sigmund Freud und Melanie Klein in ihren Arbeiten über Trauer und Melancholie mit Verlusterfahrungen beschäftigen.5 Es wäre sehr spannend, darüber nachzudenken, in welchem Maße es legitim und möglich ist, Dante und das Mittelalter mit psychoanalytischen Modellen, die sich mit in gewisser Weise ähnlichen Situationen beschäftigen, zu vergleichen und Unterschiede herauszuarbeiten. Im vorliegenden Aufsatz werde ich mich jedoch auf Dantes anthropologisches Verständnis für sich allein genommen konzentrieren und die originelle und oft paradoxe Art erörtern, in der es sich auf verschiedene Wissensbereiche – einschließlich der scholastischen Philosophie, der klassischen Literatur sowie der einfachen Spiritualität des Volkes – bezieht. Ich hoffe, dass es auf diese Weise möglich sein wird, nicht nur Auerbachs Aussage über die Modernität von Dantes Anthropologie besser zu verstehen, sondern darüber hinaus zu erfassen, in welchem Maße Dantes Gedicht nicht nur einem Diskurs oder einer Tradition des Wissens verpflichtet ist, sondern es schafft, verschiedene Diskurse und Traditionen einzusetzen und zu integrieren, sogar wenn sie sich nicht völlig miteinander vereinbaren lassen. Beginnen werde ich meine Untersuchung der mittelalterlichen Eschatologie mit einem Gedicht über das Jüngste Gericht, das nur ein paar Jahrzehnte vor Dantes Commedia in mailändischem Dialekt geschrieben wurde. Der Volksprediger Bonvesin da la Riva verfasste es, um es vor großem Publikum auf den Plätzen Mailands vortragen zu lassen. Das Gedicht beschreibt, was nach der Wiederkunft Christi und der Wiederauferstehung des Körpers geschehen wird. Es ist wichtig zu beachten, dass sich Bonvesin mit dem Jüngsten Tag am Ende der Zeit befasst, wenn der Körper wieder aufersteht. Zunächst beschreibt Bonvesin das Leid und den Schmerz, die die Bösen erwarten, und deutet dann darauf hin, dass sich die himmlische Herrlichkeit der Seligen – die jetzt eine „zweifache“ ist, da sie zuletzt nicht nur ihre Seele, sondern auch ihren Körper umfasst – unter anderem darin zeigen wird, dass sie einander umarmen:

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Con grand honor mirabile, I andaran con Criste Staran in dobia gloria Oi De, com quel è savio

con solazos conforto in l’eternal deporto, in anima e in corpo: ke sta per temp acorto.

In l’alto paradiso Illora dobiamente

quand i seran volai, seran glorificai,

Vgl. Freud, Sigmund, „Trauer und Melancholie“, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Anna Freud (Hrsg.), Frankfurt am Main 1999, S. 428–446; Klein, Melanie, „Mourning and its Relation to Manic-Depressive States“, in: Love, Guilt and Reparation and Other Works, New York 2002, S. 344–369.

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l’ora quand i fon nai: quant i seran beai.

Lo bon fio col bon patre Cusin seror fraëi, Tug s’an conzonz insema E tug se abrazaran (De die Iudicii, 325–336)6

e li bon companion, k’en stai fedhì baron, in la regal mason per grand dilectïon.

Während Bonvesins Vorstellung himmlischer Umarmungen unter Verwandten und Freunden unserem körperlichen und durch zwischenmenschliche Beziehungen geprägten Gefühl von Identität vollkommen begreiflich ist, werden wir sehen, dass Umarmungen in Dantes Commedia eine komplexe Rolle spielen: Einerseits werden sie als etwas dargestellt, das im Leben nach dem Tod, welches Dantes Gedicht beschreibt, nicht vorkommen kann – noch soll; andererseits deutet die Commedia durch das Motiv der Umarmungen an, dass das Verlangen nach anderen und die Sehnsucht nach dem eigenen leiblichen Körper im Himmel wichtige Komponenten des Individuums bleiben, und bringt damit ein Gefühl von Identität zum Ausdruck, das unserem gegenwärtigen Empfinden und unserer Auffassung nahe ist. Die Commedia, welche zwischen 1308 und 1321 entstand, stellt den Höhepunkt komplexer Veränderungen in der Eschatologie dar, die im zwölften Jahrhundert beginnen und während der folgenden Jahrhunderte andauern. Die traditionelle Eschatologie, für die Bonvesins Gedicht ein gutes Beispiel bietet, konzentrierte sich vornehmlich auf die Vorstellung eines letzten, kollektiv erfahrenen Gerichts am Ende der Zeit, die Wiederauferstehung des Körpers und die Erfahrung des Leidens in der Hölle oder der Glückseligkeit im Himmel danach. Die neue Eschatologie setzt ihren Schwerpunkt nunmehr auf der Betrachtung des persönlichen Todes des Individuums als des entscheidenden Moments im Leben jedes Einzelnen und konzentriert sich auf die Zeit im Leben nach dem Tod, wenn die Seele von ihrem Körper getrennt ist. Fokus dieser Akzentsetzung ist das individuelle Geschick der ab6

Ich zitiere den Text nach Le opere Volgari di Bonvesin da la Riva, Gianfranco Contini (Hrsg.), Rom 1941, S. 207–208. („Mit großer, wunderbarer Ehre und erquicklichem Trost werden sie mit Christus in die ewige Glückseligkeit eingehen; und sie werden in zweifacher Herrlichkeit sein, in Seele und Geist. Oh Gott, was für ein weiser Mann ist er, der das Licht erblickt zur rechten Zeit. Wenn sie ins hohe Paradies fliegen werden, dann werden sie zweifache Herrlichkeit empfangen. Sie müssen die Stunde segnen, da sie geboren worden sind: Niemand vermag zu sagen, wie glückselig sie sein werden. Der gute Sohn soll bei dem guten Vater sein und die guten Freunde, Cousinen, Schwestern, Brüder, die treue Gehülfen waren, werden alle zusammen sein im königlichen Haus, und sie alle werden einander umarmen mit großem Ergötzen.“ Die Übersetzung stammt von mir, M. G.).

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geschiedenen Seele, wobei zunehmend betont wird, dass deren Erfahrung auch ohne den Körper vollkommen ist. Diese Entwicklung wird durch die offizielle Anerkennung des Fegefeuer-Dogmas im Jahre 1274 sowie durch den 1336 erfolgten Erlass der päpstlichen Bulle Benedictus Deus theologisch bestätigt. Letztere erklärte, dass die abgeschiedene Seele im Himmel vollendete Glückseligkeit genieße und ihren Körper nicht benötige, um zur vollständigen Gottesschau Zugang zu erhalten.7 In kompletter Übereinstimmung mit der neuen eschatologischen Schwerpunktsetzung konzentriert sich Dantes Commedia nicht auf die endgültige Strafe oder Belohnung des Menschen am Ende der Zeit, sondern betont, dass die Seele, sobald sie sich beim physischen Tod vom Körper getrennt hat, einer persönlichen, individuellen Beurteilung unterzogen wird, die die Art und Weise festlegt, in der die Seele Schmerz (ob in der Hölle oder im Fegefeuer) oder Glückseligkeit (im Himmel) erfahren wird. Wissenschaftler wie Jacques Le Goff oder Colin Morris haben dargestellt, dass dieses neue Interesse daran, was der abgeschiedenen Seele im Leben nach dem Tode widerfährt, mit der wachsenden Bedeutung der Individualität (Morris nennt es die „Entdeckung des Individuums“) verbunden ist.8 Während man annehmen könnte, dass diese Akzentuierung der abgetrennten Seele eine Ablehnung des Körpers voraussetze, möchte ich demgegenüber aufzeigen, dass Körperlichkeit eine signifikante Rolle in Dantes Verständnis der menschlichen Identität spielt. In der Tat nehmen die Seelen, welche in der Commedia beschrieben werden, viele körperliche Charakteristika an: So ist das erste, was der abgetrennten Seele in der anderen Welt widerfährt – und zwar sogar noch bevor sie ihr individuelles Gerichtsverfahren durchläuft –, dass sie einen Körper aus Luft entfaltet, der ihr nicht nur eine Form gibt, sondern ihr auch ermöglicht, ihr Empfindungsvermögen zu äußern. Die Bildung eines solchen Luftkörpers wird in Purgatorio XXV erklärt, wo Dante der Pilger, nachdem er in der Hölle und im Läuterungsberg verschiedenen Figuren begegnet ist und ihre körperlichen Bestrafungen gesehen hat, 7

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Zur Komplexität der christlichen Eschatologie und damit verbundenen Spannungen im hohen Mittelalter vgl. Bynum, Caroline Walker/Freedman, Paul, „Introduction“, in: Caroline Walker Bynum/Paul Freedman (Hrsg.), Last Things. Death and Apocalypse in the Middle Ages, Philadelphia 1999, S. 1–17 (einschließlich einer ausführlichen Bibliographie). Siehe auch Le Goff, Jacques, Die Geburt des Fegefeuers, Stuttgart 1984; Trottmann, Christian, La vision béatifique. Des disputes scolastiques à sa définition par Benoît XII, Rom 1995; Bynum, Caroline Walker, The Resurrection of the Body in Western Christianity. 200–1336, New York 1995. Le Goff, Jacques, Die Geburt des Fegefeuers; Morris, Colin, The Discovery of the Individual. 1050–1200, New York 1972.

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fragt, wie es einer abgeschiedenen Seele (die immateriell ist) möglich sei, an physischen Schmerzen zu leiden: „Come si può far magro / là dove l’uopo di nodrir non tocca?“ (Purgatorio, XXV, 20–21).9 Die sehr ausführliche Erklärung, welche die Figur des Statius liefert, ist eine der komplexesten und am meisten diskutierten Passagen der Commedia: Darin setzt sich Dante auf sehr gelehrte Weise mit einigen Prinzipien der scholastischen Philosophie auseinander, die Ende des 13. Jahrhunderts in Paris und Oxford debattiert wurden und überaus bedeutsame anthropologische Implikationen aufweisen. Nachdem er die Entwicklung der menschlichen Seele im Fötus – von pflanzlich zu empfindend und vernünftig – beschrieben hat, erläutert Statius insbesondere, dass die Struktur des Körpers in ihr enthalten sei und dass die abgeschiedene Seele, wenn sie in der anderen Welt ankomme, einen Körper aus Luft entfalte, der sowohl mit einer äußeren Form als auch mit allen sinnlichen Vermögen („ciascun sentire“) ausgestattet sei, von den einfachsten bis hin zu den komplexesten (welches für Dante das Sehvermögen ist). Die Einheit aus Seele und Luftkörper werde „ombra“ – Schatten – genannt, und dank ihres Luftkörpers könne die abgeschiedene Seele physischen Schmerz fühlen, sprechen, lachen und weinen (Purgatorio, XXV, 100–108).10 Das Selbst – einschließlich seiner physischen Eigenschaften – scheint in den Seelen der Commedia vollständig eingeschlossen zu sein, so dass sie in genau dem Moment, in welchem sie überhaupt keinen Körper haben sollten, 9

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Zitate aus der Commedia sind folgender Edition entnommen: Alighieri, Dante, La Commedia secondo l’antica vulgata, Giorgio Petrocchi (Hrsg.), Mailand 1966–67. („ ‚Wie kann man denn mager werden / Dort, wo nach Nahrung kein Bedürfnis bleibet?‘ “ Die Übersetzungen stammen aus: Alighieri, Dante, Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch. Übersetzt und kommentiert von Hermann Gmelin, 6 Bde., München 1988 [1949–1957], hier: Bd. 2, S. 297). „[…] Però che quindi ha poscia sua paruta, / è chiamata ombra, e quindi organa poi / ciascun sentire infino a la veduta. / Quindi parliamo e quindi ridiam noi; / quindi facciam le lagrime e’ sospiri / che per lo monte aver sentiti puoi. / Secondo che ci affliggono i desiri / e li altri affetti, l’ombra si figura; / e questa è la cagion di che tu miri.“ („ ‚[…] Und da sie sich nach seinem Aussehn bildet, / Nennt man sie Schatten, und sie zeugt dann wieder / Aus sich die Sinne alle bis zum Sehen. / So kommt es, daß wir reden, daß wir lachen, / Und daß wir weinen müssen auch und seufzen, / Wie du wohl auf dem Berge hören konntest. / Und je nachdem uns die Begierden quälen, / Und andre Leidenschaften, wird der Schatten / Geformt, und dieses ist’s, was dich verwundert.‘ “ Übers. Gmelin, Bd. 2, S. 303.) Eine neue Untersuchung von Statius’ Darstellung der embryologischen Entwicklung, die weithin – und heftig – von Danteforschern diskutiert worden ist, bietet Gragnolati, Manuele, „From Plurality to (Near) Unicity of Forms: Embryology in Purgatorio 25“, in: Teodolinda Barolini/Wayne Storey (Hrsg.), Dante for the New Millennium, New York 2003, S. 192–210.

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einen Körper aus Luft entfalten können. In der Tat ist alles in der Hölle und im Fegefeuer körperlich: Es genügt, eine beliebige Seite in Dantes Inferno oder Purgatorio aufzuschlagen, und man begegnet Figuren, die eine physische Strafe erdulden, angefangen bei den Gotteslästerern, auf die Feuer regnet, den Säern von Zwietracht, welche von Teufeln verstümmelt werden, oder den Dieben, die in der Hölle von Schlangen gebissen werden, bis hin zu den Stolzen, die sich unter dem Gewicht schwerer Felsen krümmen, den Maßlosen, welche von Hunger und Durst ausgezehrt werden, oder den Wollüstigen, die im Feuerwall des Fegefeuers brennen.11 Während der Luftkörper als Symbol dafür betrachtet werden kann, dass die Seele im Leben nach dem Tod auch ohne ihren fleischlichen Leib vollkommene Erfahrungen zu machen imstande ist, werden dennoch Schatten in der Commedia nicht als wirkliche Menschen verstanden, und es wird kenntlich gemacht, dass die Körper der Schatten aus Luft und nicht aus Fleisch bestehen. Der Mangel an Substanz, den Dante „vanità“ – Leere – nennt, wird zum ersten Mal im sechsten Gesang des Inferno erwähnt.12 Allerdings werden die Schatten in der Hölle meistenteils als so körperlich und greifbar dargestellt, dass der Leser vergisst, dass sie keine Substanz besitzen. Im Purgatorio hingegen gerät die „vanità“ der Schatten, ihr Mangel an Stofflichkeit, wahrhaft zu einem Leitmotiv und wird gleich zu Beginn hervorgehoben, als Dante der Pilger an den Gestaden des Läuterungsberges eintrifft. Hier begegnen Vergil und Dante der Pilger dem Schatten von Casella, einem alten Freund Dantes, der gerade am Läuterungsberg angekommen ist. Indem Casella, der Dante erkannt hat, seine Gruppe von Schatten verlässt und vortritt, um ihn zu umarmen, wird die Episode durch Worte wie „abbracciarmi“ und „affetto“ mit intimen und freundschaftlichen Emotionen aufgeladen: „Io vidi una di lor trarresi avante / per abbracciarmi, con sì grande affetto, / che mosse me a far lo simigliante“ (Purgatorio, II, 76–78).13 Dante der Pilger versucht den Schatten, der vor ihm steht, zu umarmen, scheitert aber dreimal, denn ungeachtet ihrer Erscheinung sind Schatten 11

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Obwohl die Schmerzen stets physischer Natur sind, stellen sie in der Hölle im Vergleich zum Fegefeuer eine vollkommen andere Erfahrung dar: ewig und nutzlos in der Hölle, sind sie zeitlich befristet und nutzbringend im Fegefeuer. Vgl. Gragnolati, „Gluttony“. „Noi passavam su per l’ombre, che adona / la greve pioggia, e ponavam le piante / sovra lor vanità che par persona“ (Inferno, VI, 34–36). („Wir gingen über jene Schatten, welche / Der Regen niederschlägt, und unsre Sohlen, / Die traten auf ihr Nichts, das Mensch geschienen.“ Übers. Gmelin, Bd. 1, S. 73). („Ich sah, wie eine Seele sich mir nahte / Und mich mit solcher Lieb umarmen wollte, / Daß sie mich gleiches zu vergelten drängte.“ Übers. Gmelin, Bd. 2, S. 25).

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„vane“, das heißt, sie besitzen keinen fleischlichen Leib, keine Substanz: „Ohi ombre vane, fuor che ne l’aspetto! / tre volte dietro a lei le mani avvinsi, / e tante mi tornai con esse al petto“ (Purgatorio, II, 79–81).14 Das Bild misslungener Umarmungen zwischen einer lebenden und einer toten Person entleiht der Autor Dante von Vergil, der es in bewegenden Textpassagen gebraucht hatte, um sowohl den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen als auch die Bedeutungslosigkeit des Lebens der Schatten in der Unterwelt hervorzuheben. Das Motiv der missglückten Umarmung hat eine lange Tradition in der klassischen Literatur: Es geht zurück auf die Ilias (in der Achilles versucht, den Geist von Patroklos zu umarmen [XXIII, 93–104]) und die Odyssee (in der Odysseus während seines Aufenthalts im Hades seine tote Mutter umarmen will [XI, 204–208]). Von Homer gelangt das Motiv zu Vergil, in dessen Werk drei missglückte Umarmungen dargestellt werden: zwischen zwei Liebenden (Orpheus und Eurydike in den Georgica, IV, 500–502), zwischen Ehemann und Ehefrau (Aeneas und Creusa in der Aeneis, II, 790–794) und zwischen Vater und Sohn (Aeneas und Anchises in der Aeneis, VI, 700–702). Vergil verstärkt das tragische Potential der missglückten Umarmung: Er verleiht den Passagen einen hochemotionalen Ton, der die Unmöglichkeit, einen geliebten Menschen zu umarmen, in ein starkes Symbol des Verlusts verwandelt. Als Beispiel will ich jene Stelle aus Aeneas’ Bericht über die Zerstörung Trojas zitieren, in der er beschreibt, wie er versuchte, den Geist seiner Frau Creusa zu umarmen, nachdem sie ihm erzählt hatte, dass sie hätte sterben müssen, damit er eine italienische Prinzessin heiraten und jene Nachkommenschaft zeugen könne, die eines Tages Rom gründen und die Welt erobern würden: haec ubi dicta dedit, lacrimantem et multa volentem dicere deseruit tenuisque recessit in auras. ter conatus ibi collo dare brachia circum: ter frustra comprensa manus effugit imago, par levibus ventis volucrique simillima somno. (Aeneis, II, 790–794)15

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(„O leere Schatten, bloße Augenbilder! / Dreimal umschlang ich ihn mit beiden Händen / Und dreimal kehrten mir zur Brust die Arme.“ Übers. Gmelin, Bd. 2, S. 25). („Also sprach sie und ließ mich Weinenden, vieles zu sagen / Wünschenden einsam stehn, entschwand in flüchtige Lüfte. / Dreimal wollte ich dort um den Nacken die Arme ihr schlingen, / dreimal vergeblich umarmt, entrann die Erscheinung den Händen, leicht wie Winde und ähnlich durchaus dem schwebenden

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In der gescheiterten Umarmung Casellas und des Pilgers an den Gestaden des Fegefeuers hallen Vergil’sche Töne nach, die ihr eine melancholische und nostalgische Stimmung verleihen. Mittels der intertextuellen Bezugnahme auf Vergil markiert Dantes Klage über die Substanzlosigkeit der Schatten – „Ohi ombre vane, fuor che ne l’aspetto!“ – ein Mangelempfinden und deutet an, dass die Seele, obschon sie einen Körper aus Luft erschaffen kann, ohne fleischlichen Leib „vana“ ist und dass ihr so etwas Wesentliches fehlt. Gewöhnlich heben Kommentatoren hervor, dass die missglückte Umarmung der beiden Freunde einen warnenden Hinweis darauf darstelle, dass sich im Fegefeur Empfindungen und Gefühle der Zuneigung des irdischen Lebens verändern müssten.16 Tatsächlich sagt Casella dem Pilger, nachdem dieser seinen alten Freund erkannt hat, dass er – obwohl er nun eine Seele und seines sterblichen Körpers beraubt ist – Dante weiterhin genauso liebt, wie er es in seinem irdischen Körper tat: „Così com’io t’amai / nel mortal corpo, così t’amo sciolta“ (Purgatorio, II, 89–90).17 Dante, der seinen Freund mit „Casella mio“ (Purgatorio, II, 91) anspricht, zeigt die gleiche Zuneigung, verfällt in Nostalgie nach irdischen Betätigungen und bittet seinen Freund, genau so zu singen, wie er in ihrer Jugend zu singen pflegte. (Man sollte dabei durchaus nicht außer Acht lassen, was die Jugendzeit in Florenz für den Dichter Dante bedeutet, der diese Episode verfasst, während er sich fern von seiner geliebten Stadt im Exil aufhält.) Während Casella eine der Kanzonen aus Dantes Convivio singt, sind die anderen Schatten und der Pilger so gänzlich gefesselt von Casellas bezaubernder Darbietung, dass sie alles vergessen und nichts Anderes wichtig zu sein scheint.18

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Traume.“ Vergil, Aeneis und die Vergil-Viten. Lateinisch-Deutsch, hrsg. und übers. von Johannes Götte, in Zusammenarbeit mit Karl Bayer, Gernsbach 1958, S. 92–93. Zur Casella-Episode vgl. Marti, Mario, „La tematica del canto di Casella“, in: Ders., Dal certo al vero. Studi di filologia e storia, Rom 1962, S. 75–100; Peirone, Luigi „Casella“, in: Enciclopedia dantesca, Rom 1970, Bd. 1, S. 856–858; Hollander, Robert, „Purgatorio II. Cato’s Rebuke and Dante’s ‚scoglio‘ “, in: Italica, 52/1975, S. 348–363; Freccero, John, „Casella’s Song. Purgatorio II, 12“, in: Ders./Rachel Jacoff (Hrsg.), Dante. The Poetics of Conversion, Cambridge (MA) 1986, S. 186–194; Barolini, Teodolinda, Il Miglior Fabbro. Dante e i poeti della „Commedia“, Turin 1993, S. 36–43. („Wie ich einst dich liebte / Im Menschenleib, so lieb ich dich als Schatten […]“. Übers. Gmelin, Bd. 2, S. 25). „Lo mio maestro e io e quella gente / ch’eran con lui parevan sì contenti, / come a nessuno toccasse altro la mente“ (Purgatorio, II, 115–117). („Mein Meister selbst und ich und jene Leute, / Die mit ihm waren, schienen so zufrieden, / Als ob nichts andres ihren Sinn berühre.“ Übers. Gmelin, Bd. 2, S. 27).

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Casellas Vortrag wird unterbrochen, als plötzlich Cato, der Wächter des Läuterungsberges, eintrifft und den Pilger und die Schatten ermahnt, ihre Reise durch das Fegefeuer fortzusetzen, damit sie am Ende das ablegen können, was sie daran hindert, Gott zu erreichen: Noi eravamo tutti fissi e attenti a le sue note; ed ecco il veglio onesto gridando: ‚Che è ciò, spiriti lenti? qual negligenza, quale stare è questo? Correte al monte a spogliarvi lo scoglio ch’esser non lascia a voi Dio manifesto‘. (Purgatorio, II, 118–123)19

Cato ist eine sehr rätselhafte Figur in Dantes Commedia, und nicht wenige Wissenschaftler haben sich gefragt, wie es möglich sei, dass der Dichter Dante einen Heiden und Selbstmörder zum Wächter des Läuterungsberges bestimmte.20 Für meine Erörterung bedeutsam ist dagegen, was Cato bei seiner ersten Begegnung mit Vergil und Dante dem Pilger antwortet, nachdem Vergil ihn gebeten hat, sie um seiner Frau Marcia willen, die – wie Vergil – nun im Limbus weilt, in das Fegefeuer einzulassen: Er erklärt, dass er sich mittlerweile vollkommen losgelöst hätte von der ursprünglichen, starken Liebe, die er für seine Frau Marcia auf Erden empfunden hätte. Das nun Entscheidende sei, dass Dantes Reise von einer „donna del ciel“, einer Dame, die den Himmel und Gottes Willen ‚repräsentiert‘, gewollt sei: Gott – und nicht Marcia – sei der Grund, aus dem er ihm Zutritt zum Läuterungsberg gewähren werde.21

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(„Wir waren alle völlig hingegeben / An den Gesang, da kam der würdige Alte / Und rief: ‚Was soll das heißen, träge Geister? / Was ist das für ein Zaudern und Vergessen? / Eilet zum Berg, euch von dem Fleck zu läutern, / Der euch noch immer Gottes Anblick hindert!‘ “ Übers. Gmelin, Bd. 2, S. 27). Zusätzlich zur bereits genannten Bibliographie zu Casella vergleiche man zu Cato: Hollander, Robert, „The Figural Density of Francesca, Ulysses and Cato“, in: Ders., Allegory in Dante’s „Commedia“, Princeton 1969, S. 104–135; Raimondi, Ezio, „Rito e storia nel I canto del Purgatorio“, in: Ders., Metafora e Storia. Studi su Dante e Petrarca, Turin 1972, S. 65–94, 104–135; Mazzotta, Giuseppe, „Opus Restaurationis“, in: Ders., Dante, Poet of the Desert. History and Allegory in the „Divina Commedia“, Princeton 1979, S. 14–65; Scott, John, „Cato, a Pagan Suicide in Purgatory“, in: Ders., Dante’s Political Purgatory, Philadelphia 1995, S. 69–84. Purgatorio, II, 70–93. Eine Erörterung dieser Episode findet sich in Gragnolati, Manuele, „Nostalgia in Heaven. Embraces, Affection and Identity in Dante’s Comedy“, in: John Barnes/Jennifer Petrie (Hrsg.), Dante and the Human Body, Dublin 2007, S. 91–111. Interpretationen mit anderer Schwerpunktsetzung bieten Iliescu, Nicolae, „Gli episodi degli abbracci nelle strutture del Purgatorio“, in: Yearbook of

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Dass Cato die Seelen deswegen tadelt, weil sie sich von Casellas Lied haben ablenken lassen, deutet darauf hin, dass die Seelen im Fegefeuer alle irdischen Wünsche aufgeben müssen, sogar diejenigen, die an sich weder negativ noch falsch sein mögen – wie Freundschaft, Kunst oder Philosophie –, da sie die Seelen daran hindern, zu Gott vorzudringen. Im Besonderen stellt die Begegnung des Pilgers mit Casella eine Einführung in das Augustinische Paradigma dar, das für die moralische Struktur von Dantes Entwurf des Läuterungsberges kennzeichnend ist: Im Fegefeuer lernen die Seelen, sich von allem Vergänglichen zu lösen, und bewegen sich hin zur vollkommenen Liebe zu Gott, indem sie ihren Willen dahingehend schulen, dass er seine Ausrichtung verändert – „from mortal to immortal objects of desire, from objects of ‚brief use‘ to objects that the soul can ‚enjoy‘ indefinitely“.22 Die Anhänglichkeit an den eigenen sterblichen Körper und die Nostalgie nach jenen irdischen Zuneigungen, die dieser Körper symbolisiert, stellen ebenfalls Zerstreuungen dar, die die Seele im Fegefeuer fahren lassen muss, wenn sie die vollkommene Liebe zu Gott erlangen will, welche notwendig ist, um den Himmel und damit das höchste Glück zu erreichen. Es könnte so aussehen, als sei das Fleisch des Leibes in dem eschatologischen Panorama der Commedia entbehrlich, da die Seelen, indem sie einen Körper aus Luft entfalten, in der Lage sind, eine Art der Verkörperung zu erlangen, die ebenso notwendig wie hinreichend scheint, um das Leben nach dem Tode vollständig zu erfahren und dem Selbst gänzlich Ausdruck zu verleihen. Während in Inferno und Purgatorio betont wurde, wie intensiv die Schmerzen der Seelen sind, enthält das Paradiso in der Tat eine Vielzahl von Stellen, die erkennen lassen, dass den Seelen ohne fleischlichen Leib im Himmel Zugang zur Gottesschau gewährt wird. Diese befriedigt all ihre Wünsche und gewährt ihnen vollkommene Glückseligkeit: Lume è là sù che visibile face lo creatore a quella creatura che solo in lui vedere ha la sua pace. (Paradiso, XXX, 100–102)23

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Italian Studies, 1/1971, S. 53–63; Modesto, Diana, „Virgil, Man or Shade? The ‚mancato abbraccio‘ of Purgatorio XXI, 132“, in: Spunti e Ricerche, 2/1995, S. 3–16. Barolini, Teodolinda, The Undivine „Comedy“. Detheologizing Dante, Princeton 1992, S. 98–121, hier S. 103. Siehe auch Aurigemma, Marcello, „Purgatorio“, in: Enciclopedia dantesca, Bd. 4, S. 745–750, v. a. S. 746. („Ein Licht ist droben, das den Schöpfer selber / Dort sichtbar macht für alle die Geschöpfe, / Die nur in seinem Anblick Frieden finden.“ Übers. Gmelin, Bd. 3, S. 363).

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Wenn Dante über die Engel schreibt, macht er deutlich, dass jedem Geist (sowohl dem der Engel als auch dem der Menschen) in der himmlischen visio Dei vollkommene Ruhe („si queta“) zuteil wird: E dei sapere che tutti hanno diletto quanto la sua veduta si profonda nel vero in che si queta ogne intelletto. (Paradiso, XXVIII, 106–108)24

Das Glück der Seele im Himmel drückt sich darin aus, dass – beginnend im Merkurhimmel – die individuellen Wesenszüge der heiligen Schatten durch das Licht verborgen werden, das sie umgibt und in dem die Freude manifest wird, welche die Gottesschau ihnen bereitet (Paradiso, IX, 70–72; XXI, 83–90). Und dennoch ist das eschatologische Panorama, welches die Commedia schildert, komplexer, und das Fleisch des Leibes spielt, wie ich im letzten Teil dieses Beitrags zeigen möchte, weiterhin eine wichtige Rolle in Dantes Verständnis des Selbst und seiner Beziehung zu anderen. Im oberen Teil des Läuterungsberges, auf der Terrasse der Habgierigen und Verschwender, findet ein weiterer Umarmungsversuch statt: Als Dante der Pilger dem Dichter Statius – der gerade den letzten Abschnitt im Prozess seiner Läuterung im Fegefeuer abgeschlossen hat – mitteilt, dass der Schatten vor ihm Vergil sei, beugt sich der Schatten von Statius hinunter, um die Füße seines dichterischen Lehrmeisters zu umfassen (Purgatorio, XXI, 130–131). Bemerkenswert an dieser Episode ist einerseits, dass Vergil Statius daran erinnert, dass Schatten immateriell seien und einander daher nicht umarmen könnten („Frate, / non far, ché tu se’ ombra e ombra vedi“ [Purgatorio, XXI, 131–132]25). Darüber hinaus folgt Statius’ Versuch, Vergil zu umarmen, auf dessen überraschende Erklärung, dass er willens sei, das Ende seines Aufenthalts im Fegefeuer um ein weiteres Jahr hinauszuzögern, wenn er dafür nur hätte am Leben sein können, als Vergil lebte („E per essere vivuto di là quando / visse Virgilio, assentirei un sole / più che non deggio al mio uscir di bando“ [Purgatorio, XXI, 100–102]26). Während der menschliche, fleischliche Körper – und die Gefühle der Zuneigung, die er symbolisiert – wie in der Casella-Epi24

25

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(„ ‚[…] Und du mußt wissen, daß sich alle freuen / So sehr als sie den Blick versenken können / In Wahrheit, welche alle Geister sättigt […]‘.“ Übers. Gmelin, Bd. 3, S. 339). („ ‚Mein Bruder, / Laß ab, denn du bist so wie ich ein Schatten.‘ “ Übers. Gmelin, Bd. 2, S. 257). („ ‚[…] Und um in jener Welt gelebt zu haben / Zur Zeit Virgils, hätt ich zu meiner Buße / Ein Jahr mehr, als ich mußte, zugegeben.‘ “ Übers. Gmelin, Bd. 2, S. 255).

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sode für jenen Teil der eigenen Identität zu stehen scheint, der in der therapeutischen Reise der Seele zum Himmel zurückgelassen werden sollte, deutet Statius’ Versuch einer Umarmung darauf hin, dass die Spannung zwischen irdischen Gefühlen der Zuneigung und der Liebe zu Gott möglicherweise andauern könnte, und zwar sogar nachdem die Seele den Prozess der Läuterung vollendet hat. Es sieht mit anderen Worten so aus, als habe die Augustinische Therapie des Fegefeuers nicht in vollem Umfang gewirkt. Wenn man schon Statius’ Wunsch, sein Eingehen in den Himmel zu verzögern – unmittelbar nachdem er geläutert worden ist –, verblüffend findet, so ist man noch erstaunter festzustellen, dass die Sehnsucht der Seele nach dem Körper und nach anderen inmitten des Paradiso erneut auftaucht, genau an jenem Punkt also, an dem sie aller Vermutung nach nicht mehr vorhanden und durch die herrliche Freude, welche die Vereinigung mit Gott gewährt, ersetzt worden sein sollte. Als Beatrice im Sonnenhimmel – des Pilgers Wunsch zum Ausdruck bringend – die Frage stellt, was den Seligen widerfahren wird, wenn ihr Körper wieder aufersteht, erklärt Salomons Seele, dass es im Himmel dann noch schöner werde. Speziell erläutert Salomon, dass durch die Wiedervereinigung der Seele mit dem Leib die Person wieder vollständig werde und dass deshalb die Gottesschau und die darauf folgende Glückseligkeit gesteigert würden: Come la carne glorïosa e santa fia rivestita, la nostra persona più grata fia per esser tutta quanta: per che s’accrescerà ciò che ne dona di gratüito lume il sommo bene lume ch’a lui veder ne condiziona; onde la visïon crescer convene, crescer l’ardor che di quella s’accende, crescer lo raggio che da esso vene. (Paradiso, XIV, 43–51)27

Salomon setzt sein Lob des wieder auferstandenen Körpers fort, indem er darauf hinweist, dass nach dessen Wiederauferstehung körperliche Merkmale, welche nun der Glanz der Seele verdecke, wieder sichtbar würden 27

(„Wenn uns die heiligen, verklärten Leiber / Einst wieder kleiden, werden die Gestalten / Noch viel genehmer, weil sie dann vollkommen. / Dann wird noch wachsen, was das höchste Gute / Uns an geschenktem Lichte hat verliehen, / An Licht, das ihn zu schauen uns gestattet. / Davon muß dann auch unser Schauen wachsen; / Es wächst die Glut, die sich daran entzündet, / Es wächst das Licht, das ausstrahlt von den Gluten.“ Übers. Gmelin, Bd. 3, S. 165/167).

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(Paradiso XIV). Im Anschluss an und als Antwort auf Salomons Worte beginnen alle geheiligten Seelen zu jubilieren; sie frohlocken ob der Vorstellung, sich letzten Endes wieder mit ihrem Leib zu vereinigen, und offenbaren damit, dass sie diesen immer noch begehren. Höchst erstaunlich ist, dass sie sich über den Gedanken, ihre Körper zurück zu bekommen, nicht nur deshalb freuen, weil ihre Gottesschau dadurch zunehmen wird, sondern auch, weil sie dadurch in der Lage sein werden, von ihnen geliebte Menschen wieder zu finden: Tanto mi parver sùbiti e accorti e l’uno e l’altro coro a dicer „Amme!“, che ben mostrar disio d’i corpi morti: forse non pur per lor, ma per le mamme, per li padri e per li altri che fuor cari anzi che fosser sempiterne fiamme. (Paradiso, XIV, 61–66)28

Im Unterschied zu vielen anderen Passagen des Paradiso, in denen betont wird, dass die Seelen im Himmel vollkommen glücklich sind und all ihre Wünsche durch die Gottesschau gänzlich befriedigt werden, führt Dante hier vor, dass es die geheiligten Seelen nach der Wiederkehr ihres leiblichen Körpers und nach dem vollendeten Glück, das diese mit sich bringen wird, verlangt. In diesem Abschnitt über die Auferstehung des Fleisches führt Dante in die Art und Weise, wie die Erfahrung des Himmels herkömmlich von Theologen theoretisiert wurde, etwas anderes ein; letztere betonten nicht die gesellige Seite der Freuden im Paradies, sondern konzentrierten sich auf die exklusive Beziehung des Individuums zu Gott.29 Sogar jene Theologen, die einräumten, dass es gewisse Beziehungen zwischen den Heiligen geben müsse, wiesen die Vorstellung zurück, dass Freundschaft und Zuneigung im Himmel persönlich oder exklusiv sein können. Bonaventura beispielsweise schreibt, dass jeder Heilige allen anderen Heiligen gleichermaßen nahe sei und dass sich jeder bei der Wiederauferstehung des Körpers 28

29

(„Es schienen mir so schnell und so behende / Die beiden Chöre Amen einzustimmen, / Daß sie die Sehnsucht nach dem Leibe zeigten; / Vielleicht nicht nur für sich, auch für die Mütter, / Die Väter und für all die andern, welche / Sie liebten, eh sie ewige Flammen wurden.“ Übers. Gmelin, Bd. 3, S. 167). Vgl. McDonnell, Colleen/Lang, Bernhard, Heaven. A History, New Haven 1988, S. 90–94. Zu dem beträchtlichen Gegensatz zwischen Bernhard von Clairvaux’ Lob der Freundschaft auf Erden und dem völligen Fehlen jedweder Interaktion der Heiligen in seinem Entwurf des Himmels vgl. Harrison, Anna, „Community Among the Saints in Heaven in Bernard of Clairvaux’s Sermons for the Feasts of All Saints“, in: Bynum/Freedman, Last Things, S. 191–204.

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ebenso sehr über das Glück anderer Menschen freuen werde wie über das eigene.30 Dantes Text teilt Bonaventuras Auffassung, dass die Seligen bei der Vorstellung frohlocken, dass die Auferstehung des Leibes auch andere Gesegnete betreffen wird. Darüber hinaus verleiht er einem Gefühl der Zuneigung Ausdruck, das intimer ist als das, welches Bonaventura andeutet: Denn hier ist es nicht eine Person, die sich an der Glorie aller anderen erfreut, sondern jedes Individuum jubelt angesichts der Aussicht, dass seine Liebsten ihren Körper ebenfalls zurück empfangen und dadurch einen höheren Grad von Glückseligkeit genießen werden. Dass es damit noch nicht getan ist, zeigt sich, wenn wir uns vom theologischen Konzept des Himmels wegbewegen und die populärere Dichtung betrachten, etwa Bonvesin da la Rivas Gedicht über das Jüngste Gericht, das ich zu Beginn dieses Aufsatzes zitiert hatte. Anders als bei den Theologen, welche den Hauptakzent auf das exklusive Verhältnis des Einzelnen zu Gott setzten, zeichnet sich in Bonvesins Gedicht ab, dass die Doktrin von der Auferstehung des Fleisches in der Populärkultur eine Beziehungsdimension beibehielt und dass man sich vorstellte, dieser Vorgang gebe den wieder hergestellten Personen im Himmel die Gelegenheit, ihre Liebsten wieder in die Arme zu schließen (auf Altmailändisch „abrazar“). Der Abschnitt in Dantes Paradiso, welcher die Sehnsucht der Seelen nach ihren Körpern mit der Zuneigung für von ihnen geliebte Menschen verknüpft, bestätigt, dass die Doktrin von der Wiederauferstehung des Leibes auf einer menschlichen und persönlichen Ebene als ein Sieg über Tod und Verlust verstanden wurde. Darüber hinaus legt Bonvesins Vorstellung, dass die Auferstehung des Fleisches den wieder hergestellten Personen Gelegenheit biete, ihre Liebsten wieder zu umarmen, den Gedanken nahe, dass man Salomons Lob der körperlichen Wiederkehr als endgültige Antwort auf die missglückten Umarmungen zwischen Casella und Dante dem Pilger an den Gestaden des Fegefeuers betrachten kann (und damit auch auf die epische Tradition, auf welche sie sich direkt oder indirekt beziehen). Wir können uns daher vorstellen, dass die beiden Freunde, wenn sich die Auferstehung vollzieht, wieder imstande sein werden, sich im Himmel zu umarmen, da ihre leiblichen Körper es ihnen gestatten werden.

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„[…] quod tantum gaudet de bono proximi, quantum de suo, dicendum quod verum est: unde Petrus plus gaudet de bono Lini, quam ipse Linus“. (Vgl. die Anmerkung zu diesem Satz: bk. 4, dist. 49, pt. 1, art. 1, q. 6, in: Bonaventurae Opera omnia, Bd. 6, A. C. Peltier (Hrsg.), Paris 1866, S. 578.

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Die Begegnung Casellas mit dem Pilger zu Beginn des Purgatorio kann, wie wir gesehen haben, als Symbol dessen gedeutet werden, was die Seelen im Fegefeuer aufgeben müssen: Anhänglichkeit an den Körper, Liebe für verlorene Freunde und Angehörige, Nostalgie nach dem irdischen Leben. Allerdings lässt sich im gleichen Moment nun retrospektiv erkennen, dass die Casella-Episode, indem sie an die Traurigkeit der misslungenen Umarmungen der Vergil’schen Tradition erinnert, nicht nur darauf hindeutet, dass die Seele im Purgatorium lernen muss, ihre Sehnsüchte zu verändern – wie Kommentatoren gewöhnlich bemerkt haben. Sie verleiht darüber hinaus einem Empfinden Ausdruck, dass die Schatten ohne fleischlichen Leib unvollständig sind, und zwar insofern, als man ihnen etwas entzogen hat, das mit persönlicher Identität und der Intimsphäre eigener Wünsche und Zuneigungen eng verbunden ist. Dantes Gedicht unterscheidet Schatten von wirklichen Menschen und zeigt, dass die Seele, obgleich unsterblich und mit Form und Sinnen ausgestattet, kein vollständiges menschliches Wesen, sondern unvollständig ist, solange sie von ihrem leiblichen Körper getrennt bleibt. Wie Salomon im Sonnenhimmel deutlich macht, wird die Seele erst aufhören, Fragment zu sein, wenn sie mit dem stofflichen Leib bei der Auferstehung wieder verschmilzt, denn dann ist sie endlich mit ihrem wirklichen Körper wieder vereint, zu der greifbaren, fleischlichen, ‚umarmbaren‘ Vollkommenheit der ganzen Person, „la persona tutta quanta“. Dantes Gedicht offenbart, dass man, wenn erst einmal alle irdischen Anhänglichkeiten aufgegeben sind und man zur Anschauung Gottes gelangt ist, wieder begehren kann, was für die eigene Individualität wichtig ist. In der Welt der Commedia, selbst im Himmel, ist es einem erlaubt oder wird man sogar dazu ermutigt, die Sehnsüchte nach dem eigenen, ganzen Selbst, dem eigenen Körper und den Personen, die einem etwas bedeuteten und weiterhin etwas bedeuten, zu behalten.

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Almut Suerbaum

Almut Suerbaum (Oxford)

Wissen als Macht Figurendarstellung in Thürings von Ringoltingen Melusine

I. „Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?“1 So formuliert Büchners Danton eine der zentralen Fragen der Moderne, mit deren Hilfe Figuren innerhalb der Texte, aber eben auch Leser zu ergründen versuchen, was vorgeht, wenn Menschen auf scheinbar unbegreifliche Weise handeln und dabei Grenzen übertreten. Das menschliche Bedürfnis, zu wissen und zu verstehen, wie es im eigenen Inneren oder dem des Anderen aussieht, mag universal sein, als methodischer Zugang zu literarischen Texten und ihren Figuren dagegen handelt es sich um eine Frage, die man jedenfalls in der europäischen Literatur erst von einem bestimmten Punkt an überhaupt stellen kann. Frühmittelalterliche Texte erzählen in der Regel vom Handeln der Figuren, doch die Frage danach, was sie wissen oder was „in ihnen“ vorgeht, ist, zumindest für deutsche Texte vor etwa 1170, kaum vorstellbar, denn Figuren frühmittelalterlicher Erzählungen handeln, doch sehen wir sie nur von außen. Das ändert sich in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts schnell und radikal, sodass wir für volkssprachliche Erzählungen seit etwa 1180 mit ziemlicher Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass es so etwas wie eine Innendimension literarischer Figuren in Texten gibt, und diese „Erfindung des inneren Menschen“ gilt als eine wesentliche Paradigmenverschiebung des zwölften Jahrhunderts.2 Im Ausfalten solcher Innenräume, darstellbar in 1

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Georg Büchner, Dantons Tod, 2. Akt [Fünfte Szene], ‚Ein Zimmer‘, in: Georg Büchner, Gesamtausgabe, Fritz Bergemann (Hrsg.), München 1965, S. 33; vgl. auch den Brief an Wilhelmine Jaegle, Giessen, November 1833, ebd., S. 161f., mit ähnlicher Formulierung: „Das Muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen.“ Diskutiert wird diese auf Augustinus zurückgehende Differenzierung von ‚homo exterior‘ und ‚homo interior‘ primär im Kontext von Visualität in volkssprachlichen Texten; so umfassend Schnell, Rüdiger, „Wer sieht das Unsichtbare? ‚Homo exterior‘ und ‚homo interior‘ in monastischen und laikalen Erziehungsschriften“, in: Katharina Philipowski/Anne Prior (Hrsg.), ‚anima‘ und ‚sêle‘: Darstel-

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Texten über die dort vollzogene Spaltung von Innen und Außen, kann man zugleich eine Rationalisierung sehen, denn hochmittelalterliche Texte wie Wolframs Parzival oder auch das höfisch überarbeitete Nibelungenlied präsentieren Figuren – oder jedenfalls, im Falle des Nibelungenliedes, einige Figuren – mit einem artikulierbaren Innenleben, das in unterschiedlicher Fokalisierung entweder von innen mithilfe innerer Monologe oder von außen in Erzählerkommentaren Einsicht in Beweggründe des Verhaltens erlaubt und auf diese Weise auch erstmals Normkonflikte im Inneren der Figuren explizit zur Sprache bringt.3 In diesem Beitrag soll exemplarisch ein Beispiel spätmittelalterlicher Erzählung in Prosa vorgestellt werden. Für diese Erzählexperimente in Prosa, die sich von der bis ins vierzehnte Jahrhundert dominanten Form der paarreimenden Narration entfernen, wird meist ein zweiter „Rationalisierungsschub“ angesetzt, in dem Handlungsmotivationen stärker als bisher an psychologisch plausible Umstände geknüpft werden. So konstatiert Jan-Dirk Müller die in seinen Augen charakteristische Spannung der frühen Prosaromane: „Unablässig wird das Wunderbare oder Monströse an erwartbare Handlungskonstellationen angeschlossen. Die Forschung hat es noch und noch herausgearbeitet: common sense und ein moralisches juste milieu sollen das Inkommensurable kommensurabel machen.“4 Müller hebt allerdings gleichzeitig hervor, dass dies kein einsinniger Prozess sei und dass gerade in der Artikulation und Bewahrung des solcher Rationalisierung Widerständigen der literarische Reiz der Prosaromane liege, die er wegen ihrer Grenzrolle als frühmodern bezeichnet. Wissen und Nicht-Wissen der Figuren spielt in diesen Texten, so soll hier argumentiert werden, eine zentrale Rolle. Wenn hier im Folgenden das Figurenwissen untersucht wird, so auch, um diese Kategorisierung als „frühmodern“ noch einmal zu hinterfragen, denn ge-

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lungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, Berlin 2006, S. 83–112, der die Kontinuität vom Früh- zum Hochmittelalter in den Vordergrund stellt. Es geht dabei in erster Linie darum, was Figuren sehen bzw. nicht sehen können, nicht aber darum, was sie wissen; zur Frage der kategorialen Unterscheidung von Innen und Außen vgl. außerdem die Einleitung in: Hasebrink, Burkhard/Schiewer, Hans-Jochen/Suerbaum, Almut/Volfing, Annette (Hrsg.), Innenräume in der deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 2008, S. XI–XXI. Paradigmatisch untersucht dies für das Nibelungenlied: Müller, Jan-Dirk, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, hier S. 249–295; vgl. zum Problem der Kategorien von ‚außen‘ und ‚innen‘ auch Ders., Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 317–361, mit Abgrenzung gegen Schnell, „Wer sieht das Unsichtbare?“. Müller, Jan-Dirk, „Rationalisierung und Mythisierung in Erzähltexten der Frühen Neuzeit“, in: Wolfram-Studien, XX/2008, S. 435–456; hier bes.: S. 441f.

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rade bei der Handhabung dieses Figurenwissens scheint es, dass diese Erzählungen in vielerlei Hinsicht mindestens so spätmittelalterlich wie frühmodern sind.

II. Damit zum konkreten Beispiel: Die Frage, was in uns lügt, mordet und stiehlt, stellt sich dem Leser von Thürings Melusinenroman von 1456 bzw. der ersten Druckfassung von 1474 durchaus – mit gutem Grund stellt sie sich vor allem aus der Handlung heraus, denn Mord, Brandstiftung und Erstechen sind dort keine Seltenheit.5 Die Geschichte ist in Umrissen noch in modernen Bearbeitungen und Rezeptionsstufen von Goethe bis Irmtraud Morgner oder A. S. Byatt präsent; im Kern handelt es sich um die Gestaltung eines sexuellen Tabus: Ein Mann, hier der adlige Reymund, verliebt sich in eine schöne Frau, um deren Feennatur er anfangs nicht weiß.6 Mit der Einwilligung in die Heirat ist ein Tabugebot verbunden, denn das Versprechen zukünftigen Glücks ist an die Bedingung geknüpft, samstags dürfe Reymund seine Ehefrau nicht sehen. Wie dem Leser bereits in der Vorrede mitgeteilt 5

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Thürings Bearbeitung der französischen Versfassung von Coudrette war vermutlich um 1456 abgeschlossen; die älteste Handschrift datiert von 1467, doch die älteste zuverlässige Handschrift (Kopenhagen, Königliche Bibliothek, Ms. 423, Ende 15. Jh.) ist jünger als die fast gleichzeitig mit der handschriftlichen Überlieferung einsetzende Drucküberlieferung in der Ausgabe von Johann Bämler, Augsburg 1474, und der vielleicht ebenfalls 1473 oder 1474 entstandene Basler Druck von Bernhard Richel; zudem fehlen dieser Handschrift die sicher zum Konzept der Bearbeitung gehörenden Illustrationen. Die Klassen der handschriftlichen Überlieferung sind beschrieben in der Edition von Schneider, Karin (Hrsg.), Thüring von Ringoltingen, Melusine. Nach den Handschriften kritisch hrsg., Berlin 1958, S. 19–28. Die Datierung des Basler Druckes ist unsicher; vgl. Schnyder, André/Rautenberg, Ursula (Hrsg.), Thüring von Ringoltingen, Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74, 2 Bde., Wiesbaden 2006, S. ix; Müller, Jan-Dirk (Hrsg.), Die Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, Frankfurt am Main 1990, S. 9–176 (Text) und S. 1012–1087 (Kommentar), ediert daher auf der Basis des vollständig illustrierten Augsburger Druckes von 1474; diese Ausgabe wird hier zitiert. Zum Erzählschema der so genannten „gestörten Martenehe“ Schulz, Armin, „Spaltungsphantasmen. Erzählen von der ‚gestörten Martenehe‘ “, in: Wolfram-Studien, XVIII/2004, S. 233–262; vgl. zur literarischen und musikalischen Rezeption Mertens, Volker, „Melusinen, Undinen. Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jahrhundert“, in: Johannes Janota/Paul Sappler/Frieder Schanze (Hrsg.), Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 201–231.

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wird, zieht sich Melusine vor ihm und den Augen des Hofes zurück, um unbeobachtet von allen im Bad vom Nabel an abwärts die Gestalt einer Schlange beziehungsweise eines Drachens anzunehmen – Text und ikonographische Tradition differieren in diesem Punkt.7 Melusine ist also in der Präsentation des Textes von Anfang an merkwürdig ambivalent: gleichzeitig vollkommen christliche Herrscherin, die zehn Söhne zur Welt bringt, den Grundstein zu Schloss Lusignan legt und auch im übertragenen Sinne die Weltherrschaft des Hauses begründet, andererseits aber ein nicht der Menschenwelt entspringendes Monstrum, dessen Abstammung Ehemann und Lesern gleichermaßen erst sehr viel später in allen Details deutlich wird. Es kommt, wie es in Tabuerzählungen seit Amor und Psyche kommen muss8 – Reymund übertritt das Gebot seiner Frau, doch überraschenderweise führt dies nicht zur Krise, denn Melusine vergibt ihrem Ehemann, die Liebe der beiden scheint ungestört. Die Katastrophe bricht erst herein, als Reymund im Zorn vor aller Öffentlichkeit das Geheimnis preisgibt: Melusine fliegt als Drache aus dem Fenster, umkreist zwar gelegentlich noch das Familienschloss, doch nur, um den bevorstehenden Tod eines Familienangehörigen vorauszudeuten. Solche Tode gibt es allerdings in reichlicher Zahl, da die Söhne das gesamte Spektrum menschlicher Karrieremöglichkeiten zu repräsentieren scheinen: vom erfolgreichen Strategen, der in fremden Gebieten Frau und Herrschaft findet, über den gelehrten Abt im von Melusine gegründeten Kloster bis hin zum brutalen Mörder, der aus Eifersucht seinen Bruder samt allen Mönchen im Kloster einschließt, verbrennt und ersticht. Thürings Roman verbindet auf diese Weise Elemente, die in der späteren Überlieferung weit auseinandertreten: das Märchenmuster der gestörten Martenehe zwischen Mensch und Fee; die Geschichte einer personalen Liebesbindung zwischen Reymund und Melusine, die zunächst sogar den Tabubruch zu überstehen scheint und in Scheitern und Abschied zu einer bewe7

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Die ikonographische Tradition untersucht Clier-Colombani, Françoise, La Fée Mélusine au Moyen Âge. Images, Mythes et Symboles. Vorwort von Jacques Le Goff, Paris 1991. Vgl. zu den deutschen Ausgaben auch Bock, Nicolas, „Im Weinberg der Melusine. Zu Editions- und Illustrationsgeschichte Thürings von Ringoltingen“, in: André Schnyder/Jean-Claude Mühlethaler (Hrsg.), 550 Jahre deutsche Melusine – Coudrette und Thüring von Ringoltingen. 550 ans de Mélusine allemande – Coudrette et Thüring von Ringoltingen, Bern u. a. 2008, S. 31–45, hier S. 32f., zur Herausbildung eines festen Kanons von Abbildungen; und den Beitrag von Vöhringer, Christian, „Monster, Bilder und Beweise. Die Bedeutung der Holzschnitte in Johannes Bämlers Melusine von 1474 und 1480“, in: Schnyder/Mühlethaler (Hrsg.), 550 Jahre deutsche Melusine, S. 327–342, zur Rolle der Visualität im Text-Bild-Ensemble. Vgl. Wawer, Anne, Tabuisierte Liebe. Mythische Erzählschemata in Konrads von Würzburg ‚Partonopier und Meliur‘ und im ‚Friedrich von Schwaben‘, Köln, Weimar, Wien 2000.

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genden Szene der gegenseitigen Liebeserklärung kulminiert; gleichzeitig aber auch die Geschichte einer dynastischen Linie, die unter der helfenden Hand der Feenkönigin zu Macht kommt, sich aber in einer sehr diesseitigen Welt durchsetzen muss und, so Thürings Erzähler, bis in die Gegenwart des Lesers hereinreicht.9 Damit aber kombiniert die Erzählung außerdem auch zwei ganz unterschiedliche Sichten auf das, was Figuren ausmacht, denn sie lässt sich auf verschiedene Weise lesen: als Variation auf das Erzählmuster von der gestörten Martenehe zwischen Mensch und Fee oder als frühmoderner Entwurf einer personalen Liebe zwischen Reymund und Melusine.10 Wie beurteilt man in einer solchen Erzählung die Figuren? Dieser Frage wollen die folgenden Untersuchungen auf zwei Ebenen und anhand von zwei Beispielen nachgehen. Wenn man Thürings von Ringoltingen Erzählung als Variation des Schemas von der gestörten Martenehe liest, so wird dieses Schema bestimmt vom Gegensatz der zwei Aktanten Mensch und Fee, zwischen denen es zu einer Annäherung – meist: Heirat – kommt, deren Differenz aber durch ein Tabu oder Verbot präsent gehalten wird. Der Tabubruch führt, je nach Schemavariation, entweder zur dauernden Trennung beziehungsweise zum Übergang des menschlichen Aktanten in die Feenwelt, so in den Lais der Marie de France, zum Beispiel im Lanval, oder aber zur Überwindung der Gesetze der Feenwelt, so in Konrads von Würzburg Partonopier, der mit Heirat und Wiedereingliederung in die ritterliche Welt endet.11 Fast immer ist der Gegensatz 9

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Die Bedeutung genealogischer Muster in den Melusinen-Erzählungen bei Jean d’Arras, Coudrette und Thüring untersucht Mühlherr, Anna, ‚Melusine‘ und ‚Fortunatus‘. Verrätselter und verweigerter Sinn, Tübingen 1993, S. 14–34; vgl. auch Peters, Ursula, Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. Die Adelsfamilie in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1999, S. 208–224; Kellner, Beate, „Melusinengeschichten im Mittelalter. Formen und Möglichkeiten ihrer diskursiven Vernetzung“, in: Ursula Peters (Hrsg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, Stuttgart, Weimar 2001, S. 268–295; Schausten, Monika, Suche nach Identität. Das „Eigene“ und das „Andere“ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2006, S. 152–197, hier S. 176f. Zu dieser Opposition vgl. Jannidis, Fotis, „ ‚Individuum est ineffabile‘. Zur Veränderung der Individualitätssemantik im 18. Jahrhundert und ihrer Auswirkung auf die Figurenkonzeption im Roman“, in: Aufklärung, 9/1996, S. 77–110, hier S. 80f. Variationen diese Schemas in literarischen Beispielen untersuchen Schulz, „Spaltungsphantasmen“; vgl. Huber, Christoph, „Mythisches erzählen. Narration und Rationalisierung im Schema der ‚gestörten Martenehe‘ (besonders im Ritter von Staufenberg und bei Walter Map)“, in: Udo Friedrich/Bruno Quast (Hrsg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin, New York 2004, S. 247–273; und Suerbaum, Almut, „St. Melusine? Minne, Martenehe und Mirakel im Ritter von Staufenberg“, in: Elizabeth Andersen/Manfred Eikel-

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zweier Welten gekoppelt mit einem Geschlechtsgegensatz; fast immer ist es die Frau, die einer Gegen- oder Anderswelt entstammt. Diese Besetzung der Schemapositionen führt allerdings in der Regel auch dazu, dass der männlich-menschliche Aktant im Zentrum des Interesses steht. Darin nun unterscheidet sich die Melusine-Erzählung auf signifikante Weise. Sofern man die Melusine im Licht ihrer französischen Vorlage als Hausüberlieferung eines Adelshauses, als Geschichte der Lusignan nämlich, liest, wird diese Diskrepanz sofort deutlich. Adelsfamilien beschreiben sich, daran haben auch geänderte ökonomische und soziale Schichtungen des Spätmittelalters nichts geändert, als Fortsetzung der männlichen Linie.12 In dieser Hinsicht bedient Thürings Melusine das patrilineare Muster, denn die Fortsetzung der Familienlinie in die Gegenwart der Leser geschieht über die Geschichte der Söhne.13 Doch damit ist nur die eine Hälfte des Textes erfasst, denn in der Zentralfigur Melusine sind die bestimmenden Parameter ihrer Geschichte nicht etwa die Väter, sondern vielmehr Mütter und Schwestern: Melusines übernatürliche Kräfte, je nach Perspektive Fluch oder Geschenk, stammen von ihrer Mutter, die nach dem Tabubruch ihres Ehemanns die drei Töchter mit der Aufgabe von Rache- und Erlösungsaufgaben betraut, an denen alle drei scheitern. Doch die Geschichten von Müttern und Kindern sind auf mehrfache Weise miteinander verquickt, sowohl durch das, was Figuren innerhalb der Erzählung über ihre Interaktion mit anderen wissen oder zu wissen glauben, als auch durch das, was wir als Leser über die dem Text zugrunde liegenden Wissensdiskurse rekonstruieren können.

III. Zwei kurze Stichproben zu Figurenkonstellationen sollen hier vorgestellt werden: eine an zentralen Figuren, nämlich Reymund und Melusine, eine an einer in interessanter Weise schillernden Nebenfigur, die weder ganz Bösewicht noch Held ist – der sechste Sohn, Geoffroy mit dem Zahn. Zunächst die Protagonisten: Im Zentrum der Erzählung steht ein Paar, das in vielerlei

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mann/Anne Simon (Hrsg.), Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2005, S. 331–345. Vgl. Kellner, „Melusinengeschichten“, S. 281–288; Müller, Höfische Kompromisse, S. 46–50. Vgl. zur Bedeutung der Söhne gegenüber der oft auf die weibliche Protagonistin fokussierten Mytheninterpretationen Taylor, Jane, „Melusine’s Progeny: Patterns and Perplexities“, in: Donald Maddox/Sara Sturm-Maddox (Hrsg.), Melusine of Lusignan. Founding Fiction in Late Medieval France, Athens, London 1996, S. 165–184.

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Hinsicht füreinander bestimmt zu sein scheint, sich aber auch radikal voneinander unterscheidet. Beide sind schön, jung und gut – womit ihre Präsentation genau den von Titzmann identifizierten Textsignalen für Märchenfiguren entspricht.14 Beide allerdings repräsentieren bei aller Affinität, wie sie das Märchenschema suggeriert, auch entgegengesetzte Pole, doch der wesentliche Unterschied zwischen Reymund und Melusine liegt weder in der Geschlechterdifferenz noch auch in der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Welten, sondern manifestiert sich im Text als eine Differenz im Wissen. Dies ist gleich bei der ersten Begegnung der beiden deutlich: Reÿmond kam in diser grossen klag zu einem brunnen genant der turst brunnen / beÿ dem selben brunne stunden gar dreÿ schön junckfrawen hochgeboren von adelicher gestalt / die er nun von leÿd vnd iamer gancz hett übersehen vnd ir nit acht gehebt hett. (22)

Mit dieser Beschreibung sind eine Reihe von Signalen gesetzt: Sowohl Reymund wie die drei Damen handeln innerhalb der Sphäre höfisch-adliger Verhaltensregeln, und dort erweist sich Reymund deutlich als defizitär, denn er unterlässt den Gruß an die Damen. Der Regelverstoß wird vom Erzähler markiert, allerdings auch erklärt: Reymunds Geistesabwesenheit ist Resultat der „grossen klag“, denn er hatte, wie im vorausgehenden Kapitel erzählt, unmittelbar vorher den Tod seines Lehnsherrn verursacht. Die jüngste und schönste dieser drei Damen reagiert nun auf Reymunds Grußverweigerung ebenfalls auf doppelte Weise, denn sie registriert die Zeichen seiner emotionalen Beunruhigung: Also sach die junckfraw wol das er töetlich gestalt was vor leid vnd von schrecken / vnd das er sich entfarbte on vnderlaß. (23)

Doch obwohl sie die Zeichen seiner inneren Bewegung liest und richtig deutet, artikuliert sie zunächst nur den Regelverstoß, mit dem sein grußloses Vorbeireiten die Gesetze der Kommunikation unter Adligen verletzt: Da fieng sÿ aber an vnd schuldiget in grosser vntrewe ¨ vnd vnzuchte das er nit mit ir redte. (23)

Die Provokation ist wirksam – Reymund kommt aus seiner Trance zur Besinnung, begrüßt die Dame auf das Höflichste und appelliert an ihre höfische Gesinnung, genauer: ihre „genade“, sie möge seinen Lapsus verzeihen. 14

Titzmann, Michael, „Psychoanalytisches Wissen und literarische Darstellungsformen des Unbewußten in der Frühen Moderne“, in: Thomas Anz (Hrsg., in Zus. mit Christine Kanz), Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Kontext, Würzburg 1999, S. 183–217. Zu Märchenelementen bei Thüring vgl. Mühlherr, ‚Melusine‘ und ‚Fortunatus‘, S. 7–14; Kellner, „Melusinengeschichten“, S. 275f.

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Damit ist die höfische Ordnung scheinbar restituiert, denn beide haben sich der Spielregeln höfischen Verhaltens versichert, und mit dem Appell an die „genade“ der Dame hat Reymund ihren Anspruch an herrschaftliche Souveränität, wie die Konstruktion höfischer Geschlechterrollen sie erfordert, bestätigt.15 Doch mit der Restitution gesellschaftlicher Verhaltensnormen wird der Bruch mit der Normalität nur umso deutlicher – Melusine nämlich akzeptiert nicht nur die Entschuldigungen des Unbekannten, sondern grüßt ihn mit Namen: Die iunckfraw antwurt gar güticlich vnd sprach: Reÿmond lieber freünd dein nott vnd klag seind mir le´yd in trewen. ¨ (23)

Hier nun treten Norm und Normalität auf doppelte Weise auseinander, denn der Gruß der Dame verrät, dass sie um genau die Ereignisse weiß, von denen Reymund hofft, er könne sie auf Dauer und vor allen geheim halten, nämlich die Umstände des Jagdunfalls mit tödlichem Ausgang. Für den Leser ist an diesem Punkt bereits erkennbar, dass Melusine Wissen besitzt, das ihr nach den gewöhnlichen Gesetzen von Raum und Zeit nicht zugänglich sein könnte, dass also ihr Verständnis für Reymunds Geistesabwesenheit nicht etwa Resultat subtilen psychologischen Einfühlungsvermögens ist, sondern auf übernatürliche Kräfte deutet. Aus der Perspektive der Figur Reymunds aber wird dies genau entgegengesetzt dargestellt: Anfangs erschrickt er über den Anblick der schönen Damen und äußert, aus der Perspektive des Erzählers und Lesers ganz richtig, dass er Zweifel daran hat, „ob er lebendig oder tod was / oder ob das ein gespenst oder fraw waer“ (23), also Zweifel erstens daran, ob er leibhaftig sieht oder nach dem Tod eine Vision erlebt, das heißt Fragen zum Status des eigenen Sehens, zweitens aber Zweifel am Status des Gesehenen, da er nicht entscheiden kann, ob er es mit einer Erscheinung oder einem Menschen zu tun hat. Genau diese Skepsis aber gibt er im Moment der höfischen Begrüßung, kaum ist sie artikuliert, auch schon wieder auf: Da Reÿmond hort das sÿ in mit dem namen nampte / das nam in ser wunder / vnd sprach / Ach edle vnd schöne junckfraw / mich kan nit verwundern das ir meinen namen wissent / wan mich bedunckt nit das ich ewch ¨ ÿe bekant hab / doch so sich ich wol ein vnsäglich schön angesicht von leÿb vnd gestalt vnd groß zuchte an ewch ¨ vnd sagt mir mein hercze vnd mut jch süll in meinem grossen kumer vnd herczleid noch einen trost von eüch empfahen / dar durch mir mein grosser kumer ettwas gemindert vnd geleichtert werde. (23) 15

Zu Herrschaftsrepräsentation und deren Realisierung in literarischen Texten vgl. Althoff, Gert, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997.

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Der Begriff „Wunder“ markiert hier den Bruch des Gesehenen und Erlebten mit den Gesetzen der Normalität;16 doch genau dieses Wunder wird im Folgenden der Rede in einen erklärbaren Zustand überführt, wenn Reymund behauptet, die Dame und ihre Fähigkeit zu trösten zu kennen, obwohl er sie noch nie gesehen habe. Nicht die Augen, sondern „hercz vnd muot“ verhelfen ihm zu dieser Erkenntnis, womit Reymund hier eine Differenzierung vollzieht, die sich im Ansatz mittelalterlicher Erkenntnislehre verdankt, nach der Augenschein und Erkennen, inneres und äußeres Sehen nicht deckungsgleich sind.17 Damit ist in der Rationalisierung Reymunds eine der Bruchstellen zwischen spätmittelalterlichem und frühmodernem Denken berührt, nämlich die Frage nach dem Stellenwert des Augenscheins. Zur Bedeutung des inneren Sehens in der Melusine wäre noch vieles genauer zu untersuchen, was hier nicht geleistet werden kann.18 Festzuhalten bleibt zunächst, dass im Dialog zwischen Melusine und Reymund eine Differenz spürbar wird: Reymund registriert die Abweichungen von der Normalität, relativiert sie aber als Erfahrung der inneren Affinität; Melusine dagegen, denn um sie handelt es sich natürlich bei der schönen Dame, besitzt Wissen, dass textintern nur dem Erzähler, nicht aber anderen Figuren verfügbar ist. Reymund also legt Verhal16

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„Wunder“ ist der Zentralbegriff des Spätmittelalters im Umgang mit dem Fremden; zur Differenzierung dieses Begriffs im Kontext der Diskussion um ‚curiositas‘, die Beschäftigung mit dem Neuen und Unerhörten, zentral Blumenberg, Hans, ‚Der Prozeß der theoretischen Neugierde‘, in: Die Legitimität der Neuzeit, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2003, S. 261–528, für den die zunehmend positive Bewertung der Neugier zum Kennzeichen der Moderne wird. Zur Situierung der Melusine im theologischen ‚curiositas‘-Diskurs des Mittelalters vgl. Schausten, Suche nach Identität, S. 181–190; Müller, „Rationalisierung“, S. 439–443. Ganz, David ‚Oculus interior‘: Orte der inneren Schau, in: Philipowski/Prior, ‚anima‘ und ‚sêle‘, S. 113–144, untersucht die theologischen Grenzziehungen zwischen Sehen und Nicht-Sehen; vgl. auch Ders., Medien der Offenbarung. Visionsdarstellungen im Mittelalter, Berlin 2008, hier S. 12f., zur Differenz zwischen menschlicher Sicht auf die ‚visibilia‘ und der göttlichen Zone der ‚invisibilia‘ und der für das Mittelalter zentralen „Spannung von Immanenz des Sehens und Transzendenz göttlicher Schau“. Zur Bedeutung des inneren Sehens in der kontemplativen Praxis des Mittelalters Largier, Niklas, „Die Applikation der Sinne. Mittelalterliche Ästhetik als Phänomenologie rhetorischer Effekte“, in: Manuel Braun/Chris Young (Hrsg.), Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, Berlin 2007, S. 43–60. Die Bedeutung von Sehen und Nicht-Sehen für die Figur Reymunds hebt Schausten, Suche nach Identität, S. 165f., hervor. Vgl. dazu außerdem jetzt Suerbaum, Almut, „Augenschein und inneres Sehen in Thürings von Ringoltingen Melusine“, in: Ricarda Bauschke/Sebastian Coxon/Martin Jones (Hrsg.), Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters, Berlin 2011, S. 425–440.

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tensweisen an den Tag, die gerade in seinem Versuch der Rationalisierung erkennbar machen, wie wenig er versteht; Melusine ist in diesen Begegnungen von Anfang an die dominante Partnerin und okkupiert diese Position wenig später auch im politischen Kontext, wenn sie die Dinge so arrangiert, dass Reymund tatsächlich zu Land und Herrschaft kommt. Wissen und die Fähigkeit, solches Wissen strategisch einzusetzen, sind hier also ganz buchstäblich Macht. Dies wird in den folgenden Episoden des Romans auserzählt, da Reymund zwar zum Herrscher von Lusignan wird, das zur Herrschaft nötige Wissen aber nicht etwa einem Beraterstab von Vertrauten verdankt, sondern allein Melusine, deren Anweisungen er treu und buchstäblich folgt.

IV. Weniger eindeutig ist dagegen, wie der so skizzierte Gegensatz innerhalb der Welt des Textes zu bewerten wäre, und dies schlägt sich bis in moderne Interpretationen nieder: Melusine kann genauso als monströse Verletzung gottgegebener Herrschaftsregeln männlicher Dominanz interpretiert werden wie als Quasi-Heilige weiblicher Selbstbestimmung.19 Ursache solch konträrer Interpretationen kann natürlich eine literarische Schwachstelle des Textes sein, der sich nicht eindeutig entscheiden kann zwischen Melusine als Monstrum oder Faszinosum. Möglich wäre aber auch, dass diese Ambivalenz nicht nur im Text verankert ist, sondern auch aus hinter dem Text stehendem kulturellem Wissen erklärbar wäre. Sie bricht auf an einer Frage, die sich Figuren innerhalb der Textwelt selbst stellen, wenn Reymund bei der oben zitierten ersten Begegnung mit Melusine nicht entscheiden kann, ob er Mensch oder Gespenst vor sich habe. Um die Frage danach, ob übernatürliche Erscheinungen auf Gott oder den Teufel zurückgehen, wird in der Theologie des 14. Jahrhunderts heftig gestritten, da in einer durch Visionen, Auditionen und Stigmatisierungen geprägten, oft stark körperbetonten Spiritualität gerade der Status dieses Körpers problematisch wird.20 Zum Ver19

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Solche Extrempositionen etwa bei Nichols, Stephen, „Melusine Between Myth and History: Profile of a Female Demon“, in: Maddox/Sturm-Maddox (Hrsg.), Melusine of Lusignan, S. 137–164; und Lundt, Bea, Melusine und Merlin im Mittelalter. Entwürfe und Modelle weiblicher Existenz im Beziehungs-Diskurs der Geschlechter. Ein Beitrag zur Historischen Erzählforschung, München 1991. Bynum, Caroline Walker, „Why all the fuss about the body? A medievalist’s perspective“, in: Critical Inquiry, 22/1995, 1, S. 1–33, hebt hervor, welche Rolle Körperlichkeit in mittelalterlicher Spiritualität spielt, warnt aber zugleich vor der Reduktion auf binäre Gegensätze.

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gleich ein kurzes Beispiel aus dem Queste-Teil des mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot, einer weiteren Prosabearbeitung einer französischen Quelle, die in ihrem ersten Teil bereits aus dem 13. Jahrhundert stammt, uns aber im Queste-Teil nur aus Handschriften des 15. Jahrhunderts überliefert ist und wohl auch erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts breiter rezipiert wird, also etwa zeitgleich mit Thürings Interesse an französischer Adelsliteratur.21 Die Passage, um die es hier geht, erzählt eine der Prüfungen, die Bohort, einer der Vettern Lancelots, bestehen muss. Er gelangt auf seinem Weg an ein Schloss, in dem er standesgemäß empfangen und zur Burgherrin geleitet wird. Sie ist jung, schön und entgegenkommend, und der Text evoziert das Märchenschema ähnlich explizit wie Thüring. Auch hier ist es die Dame, welche die Fäden der Situation in der Hand hat, denn sie bittet Bohort umstandslos um seine Liebe, was den zur Keuschheit verpflichteten Gralsritter in große Bedrängnis bringt. Bohort lehnt das Angebot auf Ehe und Herrschaft über ein Land, soweit sein Auge reicht, ab, auch dann noch, als die Dame mit ihm bis auf die Zinne des Turmes steigt und sich in die Tiefe zu stürzen droht. An diesem Punkt unterbricht die sonst sehr schnell voranschreitende Erzählung, und wir hören Bohorts Reflexion über die Identität der Dame: Und er besach sie und wonde sicherlich das die frauwe were ein edelwip, und es erbarmet yn zu male sere. (III 247, 16f.)

Sein Mitleid („erbarmen“) ist als Reaktion verständlich, da es die zu befürchtende Konsequenz seiner erneuten Weigerung antizipiert. Doch der retardierende Blick auf die Dame und ihren Status als Adlige scheint unmotiviert, lag doch der Grund seiner Ablehnung nicht im sozialen Rang der potentiellen Ehefrau, sondern vielmehr in seinem Keuschheitsgelübde. Dennoch wird gerade dieser Blick sozusagen „von hinten“ motiviert:22 Als die Dame 21

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Kluge, Reinhold (Hrsg.), Lancelot. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 147. 3 Bde., München 1948–1974; vgl. auch Steinhoff, Hans-Hugo (Hrsg.), Lancelot und Ginover I und II. Lancelot und der Gral I und II. Die Suche nach dem Gral. Der Tod des Königs Artus, 5 Bde., Frankfurt am Main 1995–2004. Die Textgeschichte der deutschen Fassungen und die Stadien des Übersetzungsvorgangs aus dem Französischen untersucht Unzeitig-Herzog, Monika, „Zu Fragen der Wirkungsäquivalenz zwischen der altfranzösischen Queste del Saint Graal und den deutschen Fassungen der Gral-Queste des Prosa-Lancelot“, in: Wolfram-Studien, XIV/1996, S. 149–170; vgl. zur Rezeption aus dem Französischen auch Backes, Martina, Fremde Historien. Untersuchungen zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte französischer Erzählstoffe im deutschen Spätmittelalter, Tübingen 2004. Der von Lugowski stammende Begriff ermöglicht es, die in mittelalterlichen Erzählungen häufigen Formen nicht-kausaler, oft vom Ende der Handlung her

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sich auf seine erneute Weigerung hin vom Turm stürzt, „da hub er syn hant uff end seynte sich“ (III 247, 21). Die Frage nach dem Wesen der Dame ist damit beantwortet, denn mit dem Kreuzzeichen Bohorts löst sie sich in Luft auf, was Klarheit über ihren Status verschafft: Die vermeintliche Frau war ein Phantom des Teufels; die gesamte Szene gerät damit zu einer Transformation der biblischen Versuchungsszene. In der Queste-Erzählung des Prosa-Lancelot mit ihrer stark geistlichen Prägung sind die Wertverteilungen mindestens vom Ende solcher Erzählsequenzen her deutlich: Liebe und Herrschaft gehören zu den Versuchungen des Teufels; die Vorbildlichkeit des geistlichen Ritters dagegen erfordert nicht nur Keuschheit und Weltabgewandtheit, sondern auch die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen von Gott gegebenen Visionen und Versuchungen des Teufels; nicht alle Ritter bestehen diese Proben so erfolgreich wie Bohort.23 Im Vergleich mit der stark geistlich orientierten Grals-Queste wird aber auch deutlich, wie ungewöhnlich anders Thüring von Ringoltingen seine Protagonistin positioniert, denn gerade in diesem Punkt versucht der Erzähler, darin vergleichbar seinem Protagonisten Reymund, die Sonderstellung Melusines stark in den Hintergrund zu drängen. Reymund stellt sich zwar die Frage nach der Natur der schönen Dame, lässt sie aber unbeantwortet im Raum stehen und akzeptiert im Folgenden fraglos die übernatürlichen Kräfte Melusines. Der Erzähler verfährt analog und unterlässt jede eindeutige Markierung der Melusine als ein die Norm des Natürlichen verletzendes Wesen: Sie redet wie eine adlige Dame, sie verhält sich wie eine mustergültige Herrscherin, sie liebt wie eine ideale Frau. Dennoch bricht in ihrer Rolle als Mutter das übernatürliche Element immer wieder durch. Der Text erzählt zwar in schlichter Iteration von Geburt und Taten der zehn Söhne, doch hebt die Iteration auch die Besonderheit hervor: Keiner der Söhne, mit Ausnahme Reymunds, des Jüngsten, ist „normal“; alle sind durch körperliche Abweichungen gekennzeichnet: Vriens hat ein zu kurzes, breites Gesicht,

23

konzipierter und damit finaler Formen der Kohärenz zu beschreiben; vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 110–119. Mindestens in den Passagen der Queste ist daher immer wieder die Nähe gerade der deutschen Fassung zu zisterziensischen Positionen hervorgehoben werden; eine solche Situierung ist auch angesichts der Überlieferungslage plausibel, selbst wenn es für sie keine festen Beweise gibt; vgl. dazu Heinzle, Joachim, „Zur Stellung des Prosa-Lancelot in der Literatur des 13. Jahrhunderts“, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Artusrittertum im späten Mittelalter. Ethos und Ideologie, Gießen 1984, S. 104–114.

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Gedes ist von leuchtend roter Gesichtsfarbe, Gyott hat ein höherstehendes Auge, Anthonis Wange ist mit einem Löwenmal gezeichnet, Reinhard hat nur ein Auge, das aber mitten auf der Stirn, Geoffroy steht wie einem Eber ein Zahn aus dem Mund. Wie diese Körperzeichen zu bewerten sind, wird in der Erzählung zunächst offen gelassen. Keine Zweifel dagegen lässt der Text daran, dass Melusine eine ideale Herrscherin ist, nicht nur, weil sie auf übernatürliche Weise Baumaterialien zur Konstruktion einer ganzen Serie von Schlössern beschaffen kann und Bargeld, mit dem sich die Bauleute zu schnellerem Arbeiten beflügeln lassen, sondern auch durch ihre politische Einsicht.24 In der Selbstverständlichkeit, mit der Melusine die Rolle der Herrscherin übernimmt, wird die Umkehrung der Geschlechterrollen deutlich. Indizien für Melusines übernatürliche Kräfte werden dabei vom Erzähler berichtet, von Reymund aber in keiner Weise thematisiert, weder, was die Begründung seiner Herrschaft angeht, noch die ungewöhnliche Erscheinung der Söhne. Nominell ist, so scheint es, Reymund zwar Herrscher über sein Reich, doch werden alle wichtigen Entscheidungen von Melusine gefällt, und sie ist es, die die Herrschaft in nach außen sichtbaren Zeichen repräsentiert. Reymund stellt keine Fragen, weder Melusine, noch, so scheint es, sich selbst, auch wenn sie wie jeden Samstag verschwindet: doch hett er sÿ darumb nie ersucht noch nachgefraget / vnd sein gelüb vnd eide gehalten, dann es auch nie nichcz dann gutes vnd keines argen gedacht. (95)

Melusines Wissen begründet den Herrschaftsanspruch; Reymunds Treue als Ehemann zeichnet sich im Gegensatz dazu dadurch aus, dass er fraglos die Regeln akzeptiert, die sie ihm setzt. Doch in dieser Konstellation von übernatürlichem Wissen und menschlich beschränktem Nicht-Wissen liegt auch das Konfliktpotential des Textes, denn in seinem fraglosen Akzeptieren der von Melusine gesetzten Regeln unterscheidet sich Reymund von anderen Mitgliedern des Hofes, und das Offenlegen dieser Unterschiede führt zum Eklat.25 Als Reymund samstags Besuch von seinem Bruder erhält und dieser sich darüber wundert, warum Melusine nicht zum Empfang der Gäste bereit sei, konstatiert Reymund den Stand der Dinge so, wie er ihn akzeptiert: „Lie24

25

„Vnd tichtet diß alles melusina / vmd bezalte ire werckleütt alle tag mit bereytem gelt / darumb sy auch dester williger waren ire werck zu volbringen.“ (45); vgl. Müller, Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 1052f., zur Reduktion des Übernatürlichen auf das nur Ungewöhnliche. Vgl. Schausten, Suche nach Identität, S. 171–181, zum Nicht-Wissen Reymunds, den sie als passiven Helden beschreibt und in ihrer Interpretation stärker in die Nähe des Hofes rückt.

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ber pr uder lasset eüch nit belangen/ auff morn sölt ir sÿ sehen“ (96). Reymunds Bruder benutzt seinerseits das kulturelle Wissen um die dubiose Natur schöner Erscheinungen und rät zum Test darauf, ob es sich um ein „gespenst vnd ein ungehewer wesen“ (96) handele. Doch auch an diesem Punkt ist die Figur Reymunds doppelt motiviert: Einerseits folgt er dem Vorschlag seines Bruders auf rationale Probe und schaut durch das Schlüsselloch, sodass er die Drachengestalt seiner Frau sieht. Doch auch dieses Sehen ist nicht Verstehen, denn was Reymund bekümmert, ist nicht etwa die Natur seiner Frau, sondern vielmehr die mögliche Konsequenz des Tabubruchs. Ausgerechnet in dem Moment, in dem ihre übernatürliche Gestalt ihm vor Augen gestellt wird, nimmt Reymund sie nun als Geliebte wahr, erinnert sich seines Versprechens und fürchtet die im Tabu angedrohte Trennung. Sein Zorn richtet sich nicht etwa gegen Melusine, die die Bedingungen gestellt hatte, sondern gegen den Bruder, der ihn zum Voyeur gemacht hat.26 Er behält daher das neugewonnene Wissen für sich – und doch nicht für sich allein, denn Melusine legt sich zu ihrem Ehemann ins Bett und umarmt ihn, was Reymund als Zeichen interpretiert: do wart er fro vnd gedacht. sÿ enweÿs villicht nicht vmb die vntrew ¨ so du ir bewisen hast. Aber sÿ wuste es alles wol wiewol sÿ nit deß geleich dem thett. (100f.)

Personale Liebe scheint die Gesetze des rituellen Tabus außer Kraft setzen zu können, auch wenn gerade die liebende Umarmung die Asymmetrie der Ehepartner erneut unterstreicht. Reymund glaubt, mehr zu wissen als seine Frau, hofft aber, die Untreue durch Verheimlichen ungeschehen zu machen; Melusine dagegen kennt, so scheint es, die Gedanken, aber auch die Gefühle ihres Mannes. Ausschlaggebend ist hier, dass der Tabubruch Geheimnis der beiden Liebenden bleibt; Melusine erklärt ihrem Mann die neuerliche Bedingung der ehelichen Privatsphäre – und auch an dieser Stelle hinterfragt Reymund das Verhalten seiner Frau nicht weiter, sondern gibt sich bezeichnenderweise mit der Plausibilität eines nicht überprüfbaren Wahrscheinlichkeitsschlusses im „villicht“ zufrieden. Für beide Ehepartner gilt an diesem Punkt, dass Liebe die Asymmetrie des Wissens voneinander tolerierbar macht. Problematisiert wird dies erst, als das Verhalten des mittleren Sohnes Geoffroy Anlass zu allgemeiner Beunruhigung gibt; darum soll diese schillernde Gestalt, weder ganz Bösewicht noch ganz Held, in einem zweiten Teil 26

Zur Differenzierung der Perspektiven vgl. Bock, „Im Weinberg der Melusine“, S. 37f., der anhand der Illustrationen nachweist, dass an dieser Stelle wechselweise die Aufmerksamkeit auf Reymunds Doppelreaktion aus Erkennen und Zorn oder aber auf das Wunderbare von Melusines Gestalt gelenkt wird.

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kurz untersucht werden. Geoffroys große Stärke macht ihn zu einer Erlösergestalt; im Kampf gegen Riesen befreit er ganze Länder aus Unterdrückung. Umso erstaunlicher scheint sein Verhalten, als er einen Brief von seinen Eltern erhält; er wird zum Katalysator der Katastrophe, die gegen Melusines kunstvoll orchestrierte Geheimhaltung zur endgültigen Trennung der Liebenden führt. Dabei erscheint das Verhältnis zwischen Eltern und Kind zunächst ganz unproblematisch: Reymund berichtet dem Sohn, dass es Vater und Mutter gut gehe, erwähnt den Eintritt des jüngeren Bruders Freymund in das von Melusine gestiftete Kloster Malliers und erkundigt sich, ob Geoffroy Pläne habe, demnächst nach Hause zurückzukehren. Die Mitteilung vom Klostereintritt des Bruders versetzt Geoffroy in Rage solcher Art, dass seine Untergebenen vor Furcht zittern. Geoffroy eilt nach Malliers, umzingelt das Kloster, treibt die in die Kirche fliehenden Mönche zusammen, steckt das Kloster in Brand und tötet den Bruder mitsamt allen Klosterangehörigen. Erst diese Katastrophe bringt Reymund dazu, nach den Ursachen menschlichen Handelns zu fragen. Er konstruiert eine Kette von Kausalzusammenhängen: vnd klagete das übel. so er selbs am grafen von Poytiers seinem vettern begangen hett. wiewol das wider seinen willen was vnd das er darnach ein merfeÿ vnd gespenst weÿb genommen hett vnd zehen sün von ir gewunnen vnd ÿezcunt den einen so iämerlich verloren hett. (112f.)

Rekonstruiert wird also eine Kette von Ereignissen, die sich in Reymunds Vorstellung gegenseitig bedingen: die ungewollte Verwicklung in den Tod des Lehnsherrn führt unmittelbar zur Ehe mit Melusine, aus der die Söhne hervorgehen. Erst an dieser Stelle bezeichnet Reymund Melusine als „merfey“ und „gespenst“, verdeutlicht also, was ihm anfangs zwar als Möglichkeit plausibel, aber nicht entscheidbar gewesen war. Das Verhalten des Sohnes erscheint ihm an dieser Stelle nur noch erklärlich durch die Natur der Mutter, die er im Zorn öffentlich verflucht: O du pöse schlang und schemlicher wurm / Dein sam noch dein geschlecht thut nymmer mer gut. (114f.)

In dieser Verfluchung wird öffentlich ausgesprochen, was Melusines und Reymunds Geheimnis war. Erst an diesem Punkt, als das, was bis dahin außer dem Leser nur einzelne Figuren wissen, nun vor dem gesamten Hof ausgebreitet wird, greift der Mechanismus des Tabus: Melusine muss Reymund verlassen. Der Liebesroman hat damit sein Ende erreicht – Reymund und Melusine nehmen Abschied voneinander in einer Szene, die durchaus an hochmittelalterliche Tagelieder erinnert. Wie im Tagelied oder wie im Gebet des Acker-

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manns aus Böhmen finden beide im Moment der endgültigen Trennung zu einer Sprache der Liebe, in der die personale Bindung artikuliert und eben auch über die Trennung hinaus affirmiert wird.27 Man mag diese Dialoge als Beweis für die Modernität des Textes sehen, eine Modernität, in der stark personale Liebe auch gegen die gesellschaftlichen Normen und literarischen Konventionen thematisiert wird. Doch bleibt auch die mittelalterliche Komponente dieser Szene deutlich, denn das Zur-Sprache-Bringen des Unsagbaren im Moment der Grenzüberschreitung ist ein wesentliches Moment hochmittelalterlichen Denkens, von der weltlichen Erzählung bis zur geistlichen Spekulation.28 Festzuhalten bleibt allerdings auch, dass dieses Moment der gegenseitigen Versicherung in hochstilisierter Sprache geschieht, die auf Traditionen der Preisrede in weltlicher Liebeslyrik und im Gebet zurückgreift, personale Bindung also in Formen artikuliert, die noch sehr stark mittelalterlichen Literaturkontexten verpflichtet sind.

V. Für die Figuren Melusine und Reymund werden Wissen und Freilegung von Wissen so ein wesentliches Element in der Entwicklung des zentralen Konfliktes. An der Nebenfigur ihres Sohnes Geoffroy dagegen wird deutlich, dass sich solche Fragen innerhalb des Textes nicht immer stellen lassen. Dies soll hier abschließend sozusagen als kurze Gegenprobe in Umrissen demonstriert werden. Geoffroys Wandlung vom vorbildlichen Helden und Befreier zum Mörder wird im Text ebenso wenig erklärt wie seine umgekehrte Bekehrung zum reuigen Büßer, der das Kloster nicht nur wiederaufbaut, sondern auch reformiert und, wie von seiner Mutter prophezeit, eine Wandlung vom Übeltäter zum vorbildlichen Herrscher durchläuft, ohne dass wir als Leser doch Stationen einer inneren Umkehr oder auch nur einer Gewissenserforschung sehen könnten. Während Reymund sich nach abgelegter Beichte in Rom und Absolution durch den Papst aus der Welt zurückzieht, um in der Einsamkeit Buße zu tun, leistet Geoffroy Wiedergutmachung, indem er als Erbe und Nachfolger seines Vaters die Herrschaft übernimmt. Doch an genau dieser Stelle berichtet der Text zwar von Reue und Bußhandlungen, verweigert aber 27

28

Zur Textform der Klage vgl. Suerbaum, „Augenschein und inneres Sehen“, S. 438–440. Strukturelle Gemeinsamkeiten in solchen Momenten der Grenzüberschreitung untersucht Hasebrink, Burkhard, „ ‚ein einic ein‘. Zur Darstellbarkeit der Liebeseinheit in mittelhochdeutscher Literatur“, in: PBB, 124/2004, S. 442–465.

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die Innensicht. Wir hören, was Vater und Sohn einander über ihre Pläne zu sagen haben, erhalten aber keinerlei Einsicht in ihre Motive. Wissen, so scheint es, ist nicht mehr so wichtig wie Handeln. Nur so ist zu erklären, dass Geoffroy auf seiner Aventiurereise die Geschichte seiner Mutter entdeckt, wenn er in einer Höhle das Grabmal ihres Vaters und die dort niedergeschriebene Geschichte ihrer Mutter Presine findet, dieses Wissen zwar auch seinem Vater vermittelt, als er ihn in Rom wieder trifft, doch das alles geschieht, ohne dass daraus für sein zukünftiges Handeln Konsequenzen erwachsen. Wissen führt in diesem Fall nicht zu Verstehensprozessen, sondern wird gesammelt wie eine Trophäe und dient der äußeren Handlungsmotivierung. In einem letzten Schritt schließlich verweigert die Erzählung auch noch das Handeln, denn Geoffroy, der vorbildliche Ritter, wäre der einzige, der den über die ältere Schwester seiner Mutter verhängten Fluch aufheben könnte, doch als ihn die Nachricht von dem zu bestehenden Abenteuer erreicht, ist er bereits so alt, dass er bei der Abreise erkrankt und kurz darauf stirbt.29 Zusammenfassend lässt sich so noch einmal konstatieren, welche Brüche durch Thürings Erzählung gehen. Sie erreicht ihren Kulminationspunkt im tageliedähnlichen Liebesdialog Melusines und Reymunds, der Wissen nicht mehr konstatiert oder deklariert, sondern performativ das Paradox einer Liebe gestaltet, die erst im Moment ihres Scheiterns als gegenseitig erfahren wird. Dennoch bindet der Text, darin eben doch stark mittelalterlich grundiert, die Geschichte und das Wissen um diese unerhörte Liebe zurück an eine Erzählung von dynastischen Linien, in denen der Ahnherr Geoffroy zum Detektiv wird, ohne dass wir auch nur fragen könnten, ob er die Konflikte seiner Eltern verstehe. Die Frage danach, was in ihm lüge, morde oder stehle, stellt die Figur Geoffroy nicht, sie interessiert offenbar auch den Erzähler nicht. Erklärbar machen könnte man die geschilderten Vergehen höchstens über die Erzählelemente von Sünde und Buße, die der Text durchaus anbietet, und zwar als theologisches Rahmenwissen, wie wir es aus Heiligenlegenden kennen. Die Frage nach dem Ursprung menschlicher Gewalthandlungen wäre damit theologisch-universal gelöst – Unheil geschieht, weil es in der Natur des Menschen liegt, gegen die Ordnung von Gott und Natur zu verstoßen; nur Einsicht in diese Sündhaftigkeit und Hoffnung auf göttliche Gnade vermögen die Ordnung wiederherzustellen. Doch eine solche Stilllegung des Problems scheint einem Text nicht angemessen, welcher so auffällig die Umkehr einer Figur vom Bösewicht zum Helden abkoppelt von 29

Vgl. Mühlherr, ‚Melusine‘ und ‚Fortunatus‘, S. 11f., Anm. 9, mit Hinweis darauf, dass das Palestine-Abenteuer bei Jean d’Arras im Gegensatz zu Thürings Vorlage Coudrette fehlt.

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internalisierten Prozessen der Einsicht, Reue oder Buße. Damit bliebe allein die anthropologische Kategorie des Zorns, die im Text sowohl für Geoffroy wie auch für seinen Vater Reymund an entscheidender Stelle ins Spiel gebracht wird. Allerdings gibt es auch dabei charakteristische Differenzierungen. Zorn ist für Geoffroy etwas, das in fast nibelungisch anmutender Anthropologie von ihm Besitz ergreift, ein Affekt, den weder die Figur noch der Erzähler hinterfragen.30 Reymund dagegen reflektiert über die Konsequenzen seines Handelns, allerdings nicht im Sinne der Gefährdung, die Zorn für das höfische Ideal größtmöglicher Affektkontrolle darstellt, sondern in theologischem Zusammenhang als Sünde, für die er als Einsiedler Buße tut, auch wenn seine Trauer letztlich ganz innerweltlich gebunden bleibt an den Schmerz über den Verlust der Geliebten. Liebe, und das wäre die moderne Seite des Thüring’schen Romans, entzündet sich nicht an der platonischen Idealität der vollkommenen Geliebten, sondern an der Doppelnatur der monströsen und engelsgleichen Frau. Dennoch aber wird für Reymund letztlich ‚curiositas‘, also der Drang, sich über die Natur der Dinge mit der Begutachtung des Augenscheins zu vergewissern, zum Verhängnis, sodass diese Liebe erst artikulierbar wird, als sich Reymund der Endgültigkeit seines Verlustes bewusst wird – womit die Melusinenerzählung in der darin enthaltenen theologischen Paradoxie von Wissen und Nicht-Wissen dann eben doch sehr viel mittelalterlicher ist, als es zunächst erscheinen mochte.

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„Sçavoir l'Histoire; c'est connoitre les hommes“

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„Sçavoir l’Histoire; c’est connoitre les hommes“ Figurenwissen und Historiographie vom späten 17. Jahrhundert bis Schiller

I.

Figurenwissen als Forschungsthema

‚Figurenwissen‘ ist bislang kein terminologisch besetzter Begriff. Gemeint sein könnte das Wissen, über das die Figuren in einem Erzähltext verfügen; dann kann man, wie es in der Erzähltextanalyse üblich ist, z. B. unterscheiden, ob der Erzähler mehr oder weniger oder ebenso viel berichtet, wie eine Figur weiß (Null-, externe oder interne Fokalisierung),1 oder man kann prüfen, wie unterschiedliche Informationsstände bei interagierenden Figuren und der Handlungsverlauf voneinander abhängen. ‚Figurenwissen‘ lässt sich aber auch ein Wissen über Figuren nennen, sei es das, was der Leser durch seine Lektüre über eine Figur erfährt,2 sei es das Wissen, das eingebracht wird von Autoren und Lesern, um die Figuren eines Erzähltextes zu konstruieren bzw. zu verstehen (es handelt sich dann also um ein generisches, nicht allein eine bestimmte Figur betreffendes Wissen). Diesem letzten, von den Veranstaltern der Tagung in ihrer Einladung vorgeschlagenen Verständnis schließt sich mein Beitrag an.3 Wissen ist in diesem Verständnis nicht etwas, was literarischen Figuren zugeordnet ist, sondern es ist ihnen vorgeordnet, denn sie werden erst im Einsatz dieses Wissens geschaffen. Um Wissen geht es dann nicht im unspezifischen Sinne eines engeren oder weiteren „Wahrnehmungshorizontes“4 oder des Informationsvorsprungs oder -nachteils einer Figur, und es geht ebenso wenig um ein Wissen, das in der Lektüre konstruiert werden muss. Gefragt ist vielmehr nach bestimmten Wissens1

2

3

4

Vgl. z. B. Martínez, Matías/Scheffel, Michael, Einführung in die Erzähltheorie, 3. Aufl., München 2002, S. 64, in Anwendung der Terminologie Gérard Genettes. Vgl. dazu Emmott, Catherine, Narrative Comprehension. A Discourse Perspective, Oxford 1997, S. 103–194; Margolin, Uri, „Character“, in: David Herman (Hrsg.), The Cambridge Companion to Narrative, Cambridge u. a. 2007, S. 66–79. Vgl. auch Jannidis, Fotis, „Character“, in: Peter Hühn u. a. (Hrsg.), Handbook of Narratology, Berlin, New York 2009, S. 14–29, bes. 18f. (unter der Überschrift „Character Knowledge“). Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 65.

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beständen, die ins Spiel kommen müssen, damit „aus Sätzen Personen werden“, wie Herbert Grabes die uns zwar sehr vertraute, aber keineswegs voraussetzungslose Behandlung von Text als Repräsentation von Menschen genannt hat.5 Den Nutzen eines solchen Begriffs von Figurenwissen sehe ich vor allem darin, dass er das Zusammenspiel zwischen textexternen und textinternen Faktoren zum Thema macht.6 Welches Bild von bzw. vom Menschen und deren/dessen Handlungen in literarischen und anderen textuellen Figuren entworfen bzw. wahrgenommen wird, das bemisst sich wesentlich nach kontextuellen anthropologischen, psychologischen, soziologischen usw. Wissensbeständen. Dies gilt zum einen für die Produktions-Seite: (Literarische) Texte bauen auf demjenigen Wissen vom Menschen und seinem Verhalten auf, das in ihrer jeweiligen Entstehungszeit verfügbar ist (die Formulierung ‚bauen auf‘ lässt die Möglichkeit offen, dass sie es zugleich erweitern). Zum anderen spielen die genannten Wissensbestände offensichtlich auch bei der Rezeption, in der „aus Sätzen Personen werden“, eine entscheidende Rolle. Zu berücksichtigen sind dabei: einerseits was der jeweilige Text anbietet – inhaltlich an Menschenwissen, formal an Darstellungstechniken –, und andererseits die Verstehensvoraussetzungen bei den Rezipienten, was sich ebenfalls weiter aufgliedern lässt in materielle Wissensbestände und die Art und Weise, wie diese Verstehenshilfen zum Einsatz kommen. In solchem Sinne nach Figurenwissen zu fragen, heißt mithin, einen theoretischen wie methodischen Dauerbrenner der Literaturwissenschaft, nämlich das Text-Kontext-Problem, so zu konkretisieren, dass es operationabel wird. Der mit dem Begriff Figurenwissen verbundene Problemkomplex ist demnach weitverzweigt und erfordert recht unterschiedliche Forschungsansätze: 1) Die produktionsästhetische Bedingtheit literarischer und anderer textueller Figuren ist in empirischer wie theoretischer Hinsicht ein Fall für die Diskursanalyse oder die Wissensforschung. 2) Mit welchen Darstellungstechniken Texte ihre Figuren modellieren, fällt – wenn es sich, wie hier vorausgesetzt, um Erzähltexte handelt – in den Aufgabenbereich der Narratologie. 3) Wie die textuell gegebenen Informationen von Lesern verarbeitet werden, welche Kompetenzen dabei genutzt werden und welche Wissensbestände ins Spiel kommen, sind wiederum psychologische oder kognitionswissenschaftliche Themen. Idealerweise würde all dies zusammengeführt – 5

6

Vgl. Grabes, Herbert, „Wie aus Sätzen Personen werden … Über die Erforschung literarischer Figuren“, in: Poetica, 10/1978, S. 405–428. Ich beziehe mich hier auf das Exposee der Tagung, das in die Einleitung zum vorliegenden Band eingegangen ist.

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in einer Theorie des Figurenwissens und ebenso in dessen konkreten, historisch differenzierten Analysen. Ansätze dazu gibt es, nämlich in der kognitiven Narratologie; zu nennen sind vor allem die Bücher von Ralf Schneider über die rezipientenseitige Modellierung von Romanfiguren im Leseprozess7 und von Fotis Jannidis über die Figur als Konstrukt des vom jeweiligen Text intendierten Modell-Lesers.8 In diesem Dreieck von Wissensforschung, Narratologie und Kognitionswissenschaft dürfte der Wissens-Pol bislang – das belegen auch die genannten Arbeiten – der am wenigsten berücksichtigte sein. Vordringlichen Klärungsbedarf sehe ich außerdem deshalb an diesem Pol, weil ihn der Begriff Figurenwissen in den Vordergrund rückt. Was heißt hier ‚Wissen‘? Gemeint ist schlechthin alles, was zur Modellierung von Figuren in Texten beiträgt, sei es bei der Produktion, sei es bei der Rezeption. Das können lebensweltlich erworbene Erfahrungen sein, wie Menschen denken, sich verhalten, interagieren, auch differenziert nach Berufen, Herkunft, Alter usw.; das können religiöse oder politische Überzeugungen sein, wie der Mensch oder z. B. Männer und Frauen sein sollen; das können wissenschaftliche Befunde oder Hypothesen zu all diesen Fragen sein; und das sind, nicht zuletzt, Erfahrungen mit oder Regelwissen von den jeweiligen Textgattungen (besonders wichtig bei fiktionalen, gattungsdifferenzierten Texten).9 Wissen in diesem Sinne ist also keinesfalls auf jene ‚wahre, begründete Meinung‘ eingeschränkt, die in der philosophischen Tradition als Wissen definiert wird und die in zwei rezenten Debattenbeiträgen gegen die kulturwissenschaftliche Verwendung des Wissensbegriffs ins Feld geführt wurde.10 Es umfasst vielmehr auch unreflektierte und nicht begründete Überzeugungen oder Wissen, das lediglich in Routinen, in eingeübten Handlungen repräsentiert ist; es 7

8

9 10

Vgl. Schneider, Ralf, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans, Tübingen 2000. Vgl. Jannidis, Fotis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin, New York 2004. Allgemein zur kognitiven Narratologie vgl. Herman, David, Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative, Lincoln, London 2002, hier S. 115–169; zur Figur: Ders. (Hrsg.), Narrative Theory and the Cognitive Sciences, Stanford 2003. Vgl. Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption, S. 81–90. Vgl. Köppe, Tilmann, „Vom Wissen in Literatur“, in: Zeitschrift für Germanistik N. F., 17/2007, S. 398–410; Stiening, Gideon, „Am ‚Ungrund‘ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ‚Poetologien des Wissens‘ “, in: KulturPoetik, 7/2007, 2, S. 234–248. Als Auseinandersetzung mit diesen Positionen vgl. Fulda, Daniel, „Poetologie des Wissens. Probleme und Chancen am Beispiel des historischen Wissens und seiner Formen“. Streitgespräch „Poetologie des Wissens? Pro und Contra“, Göttinger Arbeitsstelle für Theorie der Literatur, 20. Juni 2008, http://www.simonewinko.de/fulda–text.htm (Stand: 1. 12. 2010).

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kann die Wahrheitsfrage ganz ausblenden und sich auf ‚bloß‘ Gewünschtes beziehen; es umfasst letztlich alles, was in einer Kultur (zur Zeit der Produktion oder Rezeption eines Textes) für möglich gehalten wird. In dieser nichts ausschließenden Breite kann Wissen freilich nur als Element einer Theorie der textuellen Kommunikation im Allgemeinen oder der Produktion und Rezeption von textuellen Figuren im Besonderen berücksichtigt werden. Einen einigermaßen komplexen Text oder eine solche Figur daraufhin zu analysieren, welche Wissensbestände bei seiner bzw. ihrer Produktion und Rezeption ins Spiel kommen, würde schnell ins Uferlose und mitunter zudem Banale führen. In vielleicht nicht immer bewusster Reaktion auf dieses Problem sind viele literaturwissenschaftliche Untersuchungen besonders an inferiertem Wissen aus den Wissenschaften interessiert.11 Um ein Beispiel zu geben: Welches psychoanalytische, medizinische oder auch philologische Wissen in Hofmannsthals Elektra-Figur eingegangen und bei deren Interpretation zu berücksichtigen ist, interessiert die gegenwärtige Germanistik weitaus lebhafter als etwa die Konventionen des Herr-DienerVerhältnisses, die man kennen muss, um die Komik der Eingangsszene von Hofmannsthals Schwierigem zu goutieren.

II.

Die Nachrangigkeit der Figuren/ Akteure in der Geschichtsschreibung

Mein Beitrag wendet sich direkt einer Wissenschaft und deren Figurenwissen zu, nämlich der Geschichtswissenschaft. Die Geschichtswissenschaft bietet sich dafür nicht allein deshalb an, weil sie seit geraumer Zeit ein Paradefeld außerliterarischer Erzähltheorie und -analyse darstellt,12 sondern 11

12

Bereits bei Foucault, dem wichtigsten Referenzautor der kulturwissenschaftlichen Wissensforschung, findet sich gelegentlich diese Ausrichtung auf die Wissenschaft, wenn er Wissen als die „von einer diskursiven Praxis regelmäßig gebildeten und für die Konstitution einer Wissenschaft unerläßlichen Elemente“ definiert (Foucault, Michel, Archäologie des Wissens. Übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1973, S. 259). Zum Begriff der Inferenz als dem Hinzuziehen von Weltwissen bei der Informationsverarbeitung vgl. Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption, S. 51–55. Vgl. Jaeger, Stephan, „Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft“, in: Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hrsg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002, S. 237–263; Fulda, Daniel, „Why and How ‚Historicity‘ Depends on Readerly Narrativization. The Cognitivist Approach, its Potential, and its Problems“, in: Storia della Storiografia, 48/2005, S. 89–99; Munslow, Alun, Narrative and History, Basingstoke, New York 2007.

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ebenso, weil sich hinsichtlich ihrer Texte verstärkt die Frage nach der Wissensqualität inferierten Figurenwissens stellt. Müsste ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht auch dadurch eingelöst werden, dass das bei der Modellierung der historischen Subjekte inferierte Wissen seinerseits wissenschaftlichen Charakter hat? Tatsächlich stellt das ‚Figurenwissen‘ in der modernen Geschichtswissenschaft einen nachrangigen, allenfalls vereinzelt bearbeiteten Ansatzpunkt für Wissenschaftlichkeitsbemühungen dar. Suchen Historiker ihre Geschichtsdeutungen theoretisch zu untermauern, so bemühen sie eher Konjunkturmodelle oder demographische Gesetze als psychologische oder anthropologische Theorien.13 Denn vom einzelnen Akteur her lässt sich, so die Grundüberzeugung moderner Geschichtswissenschaft, die Veränderungsdynamik, die Geschichte ausmacht, nicht erklären. Das gilt bereits seit dem im frühen 19. Jahrhundert sich durchsetzenden Historismus: Geschichtsschreibung erzählt seitdem – idealtypisch zugespitzt – nicht von Figuren und deren Denken und Handeln, sondern von Prozessen, die sich über die Akteure hinweg vollziehen. Die Positionen in der histoire (der ‚Geschichte‘ im narratologischen Sinne), die im Roman der Held/die Heldin und andere Figuren innehaben, besetzt die moderne Geschichtsschreibung mit Staaten, Klassen, Ideen, bis hin zu Abstrakta wie ‚Modernisierung‘.14 Selbst die ‚großen Männer‘, die in der Geschichtsschreibung angeblich lange im Vordergrund standen, interessieren schon im 19. Jahrhundert in der Regel nicht ihretwegen, sondern weil sie als ‚Agenten‘ überindividueller Mächte aufgefasst und dargestellt werden.15 Oder wie Droysen es fasst: „So sind also die meisten Menschen nicht direkt und mit Absicht, aber indirekt und ohne es zu wissen und zu wollen, geschichtliche Arbeiter, und zwar so, daß sie, ihre Zwecke verfolgend, der Geschichte als Mittel dienen, die geschichtlichen Zwecke zu erfüllen.“16 Was die Akteure im 13

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Mehr als Alltagspsychologie zum Einsatz zu bringen liegt aktuell z. B. in der ‚Täterforschung‘ mit Blick auf die nationalsozialistischen Verbrechen nahe, ist aber auch hier die Ausnahme, vgl. exemplarisch Browning, Christopher R., Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Mit e. Nachw. (1998). Dt. von Jürgen Peter Krause, Reinbek 1999, S. 217–231, 287–290. Vgl. Fulda, Daniel, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin, New York 1996, S. 393f. Vgl. Harth, Dietrich, „Biographie als Weltgeschichte. Die theoretische und ästhetische Konstruktion der historischen Handlung in Droysens Alexander und Rankes Wallenstein“, in: Dt. Vierteljahrsschrift, 54/1980, S. 58–104, hier S. 100–102. Droysen, Johann Gustav, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständ. Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriß der Historik in der ersten handschriftl. (1857/58) und in der letzten gedr. Fassung (1882). Textausg. von Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 387.

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Sinn haben, sind lediglich ihre ‚Geschäfte‘, wovon die ‚Geschichte‘ prinzipiell zu unterscheiden sei: „die Tätigkeiten, mit welchen sich unsere Wissenschaft befaßt, treten in ihrer Gegenwart in allen anderen Kategorien, nur nicht in der auf, unter der wir sie befassen […]. Sie sind nur historisch, weil wir sie historisch auffassen, nicht an sich und objektiv“. Und „erst mit dieser Transposition [wird] aus den Geschäften Geschichte gemacht“.17 Eine Theorie der Geschichtsschreibung kann daher, auch wenn sie narratologisch argumentiert, nicht primär bei den erlebenden, handelnden usw. Personen ansetzen – anders als die literaturwissenschaftliche Narratologie, in der die Bewusstseinsdarstellung mehr oder weniger zentral ist.18 Dem Figurenwissen misst die Geschichtswissenschaft zumindest in den letzten zwei Jahrhunderten keine erstrangige Bedeutung bei. Und davor? Davor verzeichnet Historiographie tatsächlich meist das Handeln und die Händel der Mächtigen, mit deren Plänen und Absichten als treibenden Ursachen und den Plänen und Absichten der Konkurrenten als hemmenden Faktoren.19 So personalistisch aufgefasst, bieten die Erklärung und das Verstehen von historischem Geschehen reichlich Gelegenheit für die Inferenz von Figurenwissen. In Deutschland allerdings gibt es in der Frühen Neuzeit vergleichsweise wenig erzählende Historiographie, sieht man von den seit 1700 zahlreichen Übersetzungen, vor allem aus dem Französischen, ab. In Deutschland dominieren Kompendien, die dem akademischen Unterricht dienen.20 Sie gewinnen ihre Struktur nicht aus rekonstruierten, erzählten Geschehensverläufen, sondern lehnen sich an äußerliche Gerüste, an Chronologien, Herrscherfolgen und Dynastienwechsel, an. Der Durchbruch zu einer erzählenden Geschichtsschreibung gelingt in Deutschland erst Schiller; so jedenfalls die historiographiegeschichtliche These, die Johannes Süßmann21 und ich weitgehend übereinstimmend vertreten.

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Ebd., S. 69. Vgl. Genette, Gérard, Die Erzählung. A. d. Frz. von Andreas Knop. Mit e. Vorw. von Jochen Vogt, München 1994; Fludernik, Monika, Towards a ‚Natural‘ Narratology, London 1996. Vgl. Muhlack, Ulrich, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Humanismus, München 1991, S. 294–296. Als exemplarische Untersuchung zur deutschen Universitätshistorie vgl. Huttner, Markus, Geschichte als akademische Disziplin. Historische Studien und historisches Studium an der Universität Leipzig vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Aus dem Nachlaß hrsg. von Ulrich von Hehl, Leipzig 2007. Vgl. Süßmann, Johannes, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824), Stuttgart 2000.

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Schiller kann darüber hinaus als moderner Geschichtsschreiber gelten, denn er erzählt nicht bloß diese oder jene Geschichte. Vielmehr bringt seine Erzählung das Kontinuitäts- und Wandlungsprinzip der Geschichte als solcher zum Ausdruck. In Ansätzen kennt er auch schon die Unterscheidung zwischen Akteurs- und historischer Perspektive oder ‚Geschäften und Geschichte‘. Diese Unterscheidung wertet die Ebene der Figuren, die unvermeidlich ‚nur‘ ihre Geschäfte im Blick haben, ab zugunsten der darüber hinweggehenden Geschichte, die erst retrospektiv einsehbar ist (darauf kommt der abschließende Abschnitt VIII. zurück).22 Gleichwohl sind Schillers Geschichtswerke maßgeblich von einem bestimmten Figurenwissen geprägt; sie lassen sich als Paradefall eines Erzählens ausweisen, das ein elaboriertes Figurenwissen voraussetzt (beim Geschichtsschreiber) und zugleich vermittelt (an den Leser; dazu Abschnitt III.). Es bestimmt wesentlich Schillers Geschichtsverständnis und unterstützt zudem maßgeblich die narrative Kohärenzbildung (IV.). Und man kann noch weitergehen: Geschichte entsteht bei Schiller erst aus dem Rückgriff auf dieses Wissen (VII.). Freilich handelt es sich – das ist ebenso wichtig – um ein spezifisch frühneuzeitliches Figurenwissen. Dies scheint mit seiner eben skizzierten Leistung nicht zusammenzustimmen: Wie ist es möglich, im und sogar durch den Rückgriff auf ein frühneuzeitliches Wissen entscheidende Schritte in die historiographische Moderne zu tun? Wie kann ein Wissen, das auf die Akteure und ihre ‚Geschäfte‘ bezogen ist, dazu beitragen, ‚Geschichte‘ zu repräsentieren, die doch als über die Akteure und ihre ‚Geschäfte‘ hinweggehend gedacht wird? Verbinden lässt sich beides, indem man Schillers Historiographie als Schwelle versteht, in der beide Makroepochen, Frühe Neuzeit und Moderne, ineinander übergehen. Denn das von Schiller aufgegriffene Figurenwissen steht, wie ebenfalls gezeigt werden soll, in einer langen frühneuzeitlichen Tradition, die er jedoch unter neuen Bedingungen aktualisiert (VI.). Persistenz und Wandel dieses Wissens vom späten 17. bis zum späten 18. Jahrhundert sind dementsprechend auch aus historiographiegeschichtlichem Blickwinkel aufschlussreich: Um die zumal in Deutschland recht disparat erscheinende Entwicklung der Geschichtsschreibung in der ‚späten Frühen Neuzeit‘ nachzuzeichnen (was hier natürlich nur in punktuellen Andeutungen geschehen kann, vgl. V.), bietet die Kategorie des Figurenwissens einen von der Forschung bisher nicht genutzten Ansatzpunkt.

22

Vgl. Fulda, Wissenschaft aus Kunst, S. 244–248.

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III.

Schillers Geschichtsschreibung als Aktualisierung ‚politischen‘ Wissens

Um die konstitutive Bedeutung vorzuführen, die die handelnden Personen sowie die Einsicht in deren Bewusstseinsprozesse für Schillers Historiographie haben, sei eine längere Passage aus der Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs zitiert. Sie steht in der Mitte des dritten von fünf Büchern und leitet dort die Rückkehr Wallensteins ins Generalat der kaiserlichen Truppen ein. Damit wiederum beginnt die nur wenige Monate umfassende, aber breit dargestellte Kriegsphase, die Schiller als Zweikampf zweier herausragender Heerführer – eben Wallensteins und des schwedischen Königs Gustav Adolph – erzählt. Die unermeßlichen Reichthümer, die der Letztere [Wallenstein] besaß, die allgemeine Achtung, in der er stand, die Schnelligkeit, womit er sechs Jahre vorher ein Heer von vierzig tausend Streitern ins Feld gestellt, der geringe Kostenaufwand, womit er dieses zahlreiche Heer unterhalten, die Thaten, die er an der Spitze desselben verrichtet, der Eifer endlich und die Treue, die er für des Kaisers Ehre bewiesen hatte, lebten noch in dauerndem Andenken bey dem Monarchen, und stellten ihm den Herzog als das schicklichste Werkzeug dar, das Gleichgewicht der Waffen zwischen den Krieg führenden Mächten wieder herzustellen, Oesterreich zu retten, und die katholische Religion aufrecht zu erhalten. Wie empfindlich auch der kaiserliche Stolz die Erniedrigung fühlte, ein so unzweydeutiges Geständniß seiner ehmaligen Uebereilung und seiner gegenwärtigen Noth abzulegen, wie sehr es ihn schmerzte, von der Höhe seiner Herrscherwürde zu Bitten herabzusteigen, wie verdächtig auch die Treue eines so bitter beleidigten und so unversöhnlichen Mannes war, wie laut und nachdrücklich endlich auch die Spanischen Minister und der Churfürst von Bayern ihr Mißfallen über diesen Schritt zu erkennen gaben, so siegte jetzt die dringende Noth über jede andre Betrachtung, und die Freunde des Herzogs erhielten den Auftrag, seine Gesinnungen zu erforschen und ihm die Möglichkeit seiner Wiederherstellung von ferne zu zeigen. Unterrichtet von allem, was im Kabinet des Kaisers zu seinem Vortheil verhandelt wurde, gewann dieser Herrschaft genug über sich selbst, seinen innern Triumph zu verbergen und die Rolle des Gleichgültigen zu spielen. Die Zeit der Rache war gekommen, und sein stolzes Herz frohlockte, die erlittene Kränkung dem Kaiser mit vollen Zinsen zu erstatten. Mit kunstvoller Beredsamkeit verbreitete er sich über die glückliche Ruhe des Privatlebens, die ihn seit seiner Entfernung von dem politischen Schauplatz beselige. Zu lange, erklärte er, habe er die Reitze der Unabhängigkeit und Muße gekostet, um sie dem nichtigen Phantom des Ruhms und der unsichern Fürstengunst aufzuopfern. Alle seine Begierden nach Größe und Macht seyen ausgelöscht, und Ruhe das einzige Ziel seiner Wünsche. Um ja keine Ungeduld zu verrathen, schlug er die Einladung an den Hof des Kaisers aus, rückte aber doch bis nach Znaim in Mähren vor, um die Unterhandlungen mit dem Hofe zu erleichtern. (NA 18, S. 238, Z. 36 bis S. 239, Z. 34)23 23

Schiller wird hier und im Folgenden nach der Nationalausgabe (NA) zitiert: Schiller, Friedrich, Werke. Nationalausgabe. Begr. von Julius Petersen. Fortgef. von Lie-

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Geschichte stellt sich hier als Handlungsgeflecht zwischen Konkurrenten dar. Die Hauptakteure sind in diesem Fall der Kaiser und Wallenstein, die nacheinander mit ihren strategischen und taktischen Überlegungen vorgestellt werden. Diese werden bestimmt vom Bedenken des Nötigen und Möglichen, vor allem aber von Rangansprüchen („der kaiserliche Stolz“, Wallensteins „stolzes Herz“), von Konkurrenzbewusstsein und entsprechenden Rangverlustängsten („die Erniedrigung“, die Ferdinand fürchtet, und „wie sehr es ihn schmerzte, von der Höhe seiner Herrschaft zu Bitten herabzusteigen“) bzw. von Dominanzverlangen (Wallensteins „Begierden nach Größe und Macht“ sowie sein Frohlocken über die Aussicht, „die erlittene Kränkung dem Kaiser mit vollen Zinsen zu erstatten“) sowie von Misstrauen gegenüber potentiellen Feinden („wie verdächtig auch die Treue eines so bitter beleidigten […] Mannes war“). Dieses Misstrauen ist nur zu berechtigt, eben weil die Konkurrenz der Mächtigen das Grundgesetz der Politik bildet. Die erste Sorge aller Akteure ist es folgerichtig, die „Gesinnungen“ der anderen „zu erforschen“ (so lautet der Auftrag des Kaisers an seine Räte), die eigenen Empfindungen und Absichten hingegen „zu verbergen“ (wie es über Wallenstein heißt), das heißt, „die Rolle des Gleichgültigen zu spielen“, „um ja keine Ungeduld zu verrathen“. In jeder Haltung und in jeder Interaktion ist eine nach außen gekehrte, auf die Wahrnehmung des anderen berechnete Seite von ‚inneren‘, möglichst bedeckt zu haltenden Motiven, den „wahren Beweggründen“ (S. 247, Z. 27), zu unterscheiden – der Historiograph weist mit Formulierungen wie „schien[ ]“ oder „als ob“ immer wieder darauf hin (S. 240, Z. 29 u. 34). Die zweite Hauptsorge der Akteure zielt darauf, der Zukunft vorzubauen: Die eigenen Siege müssen langfristig vorbereitet, fremde Angriffe vorausschauend abgewehrt werden; aus solchem Kalkül heraus bietet Wallenstein, wie es etwas später heißt, dem Kaiser zunächst eine „Lockspeise“ an (S. 241, Z. 9).24 Das Wissen, das dieses Bild der Figuren, ihrer Pläne und ihres Verhaltens prägt, ist das ‚politische‘ Verhaltenswissen der Frühen Neuzeit, dessen berühmteste Autoren Machiavelli sowie der spanische Jesuit Baltasar Gracián

24

selotte Blumenthal und Benno von Wiese, Norbert Oellers (Hrsg.), Weimar 1943ff. Bd. 17 enthält die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung, Bd. 18 die Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs (beide hrsg. von KarlHeinz Hahn). Vgl. auch S. 246, Z. 16–18: „Wie das Loos nun auch fallen mochte, so hatte er durch die Bedingungen, die er von dem Kaiser erpreßte, gleich gut für seinen Vortheil gesorgt.“

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sind.25 Das Adjektiv ‚politisch‘ bezieht sich hier nicht allein, wie heute, auf Staatsangelegenheiten, sondern bezeichnet die taktisch geschickte Selbstbehauptung in Konkurrenzsituationen, zunächst am Hof (mit Schiller zu sprechen: angesichts „der unsichern Fürstengunst“, S. 239, Z. 29f.), seit etwa 1700 aber auch in anderen Interaktionssphären, im Geschäfts- und Privatleben, unter Gelehrten usf. In diesem vormodernen Sinne werde ich ‚politisch‘ im Folgenden durchweg gebrauchen. Sein Geltungshoch in Deutschland hat das politische Verhaltenswissen im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts; in dieser Zeit dominiert es die gesellschaftlichen Verhaltensregeln, wie zahlreiche Lehrbücher von Thomasius’ Kurtzem Entwurff der Politischen Klugheit bis zu Heumanns Politischem Philosophus belegen.26 Die Forderungen der Aufklärung nach Aufrichtigkeit (statt Misstrauen und Verstellung) und Geselligkeit (statt Konkurrenz) verdrängen das politische Verhaltenswissen nach dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts ins Subkutane. Jedoch erhält sich der Grundgedanke interaktioneller Vorsicht mit der Konsequenz steter Beachtung und Beobachtung des jeweiligen Gegenübers; in Adolph von Knigges Buch Über den Umgang mit Menschen findet er am Ende des Jahrhunderts noch einmal elaboriertesten Ausdruck.27 Man geht nicht zu weit, wenn man die Anthropologie des Politicus (so der zeitgenössische Begriff)28 als das wichtigste Figurenwissen der Neuzeit vor der ‚Entdeckung‘ des Individuums bezeichnet.29 ‚Figurenwissen‘ bietet das politische Wissen in zweifacher Weise. Zum einen informiert es darüber, wie Menschen in der Begegnung mit anderen sich und ihre Gegenüber wahrnehmen (nämlich als Konkurrenten), was sie 25

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29

Zu Schillers Stellung in dieser Tradition vgl. Alt, Peter-André, „Machtspiele. Die Psychologie des politischen Dramas in Schillers Don Carlos“, in: Christine Maillard (Hrsg.), Friedrich Schiller: ‚Don Carlos‘. Théâtre, psychologie et politique, Strasbourg 1998, S. 117–143, hier S. 128f.; Fulda, Daniel, „Wissen und Nicht-Wissen von anderen Menschen. Das Problem der Gemütererkenntnis von Gracián bis Schiller“, in: Hans Adler/Rainer Godel (Hrsg.), Formen des Nichtwissens der Aufklärung, München 2010, S. 483–504, hier S. 488–497. Vgl. Thomasius, Christian, Ausgewählte Werke, Bd. 16: Kurzer Entwurf der Politischen Klugheit [1707], Hildesheim, Zürich, New York 2002; Heumann, Christoph August, Der politische Philosophus, das ist / Vernunftmäßige Anweisung Zur Klugheit Im gemeinen Leben, Frankfurt am Main, Leipzig 1714. Vgl. Göttert, Karl Heinz, Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München 1988. Zum breiten Bedeutungsspektrum des Begriffs vgl. Till, Dietmar, „Politicus“ in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1–9, Darmstadt 1992–2009, Bd. 6, Sp. 1423–1445. Zu diesem Übergang vgl. Georg Stanitzek, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen 1989.

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denken (sie machen Pläne zur eigenen Vorteilsmehrung), was sie wissen wollen (nämlich mehr als die anderen30) und wie sie sich präsentieren (nämlich meist verstellt). Zum anderen gibt es Anleitung, wie sich damit umgehen lässt – es handelt sich mithin sowohl um ein theoretisches als auch um ein praxisrelevantes Wissen und um ein Wissen, das seine eigene Relevanz reflektiert. Es mahnt wohl, wenngleich bisweilen nur noch formelhaft, über den zeitlichen Vorteil nicht das ewige Heil zu verlieren, leitet vor allem aber zur Selbstbehauptung im Hier und Jetzt an, indem es die womöglich bedrohlichen Absichten der anderen zu durchschauen lehrt. Die Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen (so ein Titel Julius Bernhard von Rohrs mit vier Auflagen von 1714 bis 1732) erforderte ein Figurenwissen, das typische Verhaltensweisen, die äußeren Anzeichen verborgener Motive sowie die jeweils situationsadäquaten Taktiken umfasst. Bereits Gracián riet dem Politicus: „Tanto es menester tener estudiados los sujetos como los libros“, denn beim Menschen sei es mehr als bei allem anderen nötig, ins Innere zu schauen.31 Um solche „Menschenkenntnis“32 geht es, materiell wie instrumentell, theoretisch wie praktisch. Indem Schiller das Verhalten historischer Akteure mit den Kategorien des politischen Interaktionswissens beschreibt, strukturiert und deutet, nutzt er ein so geprägtes ‚Figurenwissen‘ zum einen für seine Historiographie und vermittelt es zum anderen an den Leser. Denn seine Geschichtsschreibung fordert den Leser dazu heraus, sich selbst als Entzifferer zu betätigen und einem mit Verstellung Agierenden wie Wallenstein auf die Schliche seiner bedrohlichen Pläne zu kommen. Für eine exemplarische Untersuchung zum Thema Figurenwissen stellt dies geradezu den Idealfall dar, denn wir können hier ebenjenes Zusammenwirken von Textsignalen einerseits und Deutungsleistung des Rezipienten aufgrund des von ihm eingebrachten Wissens andererseits rekonstruieren, das der eingangs explizierte Begriff des Figurenwis30

31

32

In diesem geradezu erstrebten Informationsgefälle kommt das eingangs zuerst angesprochene ‚Figurenwissen‘ (das Wissen, über das Figuren verfügen) wieder ins Spiel, allerdings als Gegenstand des Figurenwissens, von dem hier die Rede ist. Gracián, Baltasar, Obras completas, Bd. 2, Madrid 1993, S. 251 (Max. CLVII); Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Aus dessen Werken gezogen von D. Vincencio Juan de Lastanosa u. a. d. span. Orig. treu u. sorgfältig übers. von Arthur Schopenhauer. Mit e. Nachw. hrsg. von Arthur Hübscher, Stuttgart 1990, S. 157: „So sehr als die Bücher, ist es nötig, die Menschen studiert zu haben.“ So der Begriff noch bei Knigge, Adolph Freiherr, Über den Umgang mit Menschen [5. Aufl. 1796], Karl-Heinz Göttert (Hrsg.), Stuttgart 1991, S. 27 u. ö. Die deutsche Diskussion des gesamten 18. Jahrhunderts hat Gunhild Berg gründlich und differenziert aufgearbeitet: Erzählte Menschenkenntnis. Moralische Erzählungen und Verhaltensschriften der deutschsprachigen Spätaufklärung, Tübingen 2006, S. 67–204.

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sens postuliert. Das politische Wissen der Frühen Neuzeit ist ein solches Figurenwissen in idealer Ausprägung, weil es in sich schon den Imperativ enthält, in jeder zu verstehenden Akteurskonstellation angewandt zu werden, ursprünglich in der Realität, potentiell aber auch in Geschichten davon, also in textuellen Repräsentationen. Es vermittelt zwischen beidem, weil es sowohl für die Lebenspraxis als auch für Lektüren relevant ist. In der zitierten Passage aus der Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs ist es eine dichte Folge von Textsignalen („verdächtig“, „Gesinnungen erforschen“, „verbergen“, „verrathen“, „unsichere Fürstengunst“ usw.), welche die politische Analyse aktiviert.33 Voraussetzung ist freilich, wie eingangs erwähnt, dass solchen Textsignalen ein entsprechender Wissensbestand auf Rezipientenseite korrespondiert. Auch dies lässt sich am Beispiel des politischen Wissens gut studieren, denn ein moderner Leser nimmt in den genannten Signalwörtern offensichtlich nicht so leicht die umfassende Anthropologie des politischen Wissens wahr. Schließen lässt sich dies schon aus der vorhandenen Forschungsliteratur, die den Bezug von Schillers Historiographie auf das politische Wissen der Frühen Neuzeit nie thematisiert hat.34 Das wiederum 33

34

Da die einzelnen Signalwörter in einem systematischen Zusammenhang stehen, greift hier nicht die übliche Unterscheidung zwischen „word-activated inference“ und „pattern-activated inference“ (vgl. Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption, S. 53). Vgl. Osterkamp, Ernst, „Die Seele des historischen Subjekts. Historische Portraitkunst in Schillers Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung“, in: Otto Dann/Norbert Oellers/Ernst Osterkamp (Hrsg.), Schiller als Historiker, Stuttgart, Weimar 1995, S. 157–178, sowie Prüfer, Thomas, Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 170–182. Osterkamp stellt überzeugend heraus, dass die Taten der historischen Akteure nach Schiller nur mit Rücksicht auf deren Charaktere zu verstehen seien, so dass der Geschichtsschreiber ebenso einen „Blick in [die] Seele“ seiner Figuren werfen müsse wie jeder andere Erzähler (das Zitat im Abfall der Vereinigten Niederlande, NA 17, S. 54, und ganz ähnlich in der Vorrede zu Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre, NA 16: Erzählungen, Hans Heinrich Borcherdt [Hrsg.], S. 9). Als Quellen dieser Auffassung macht er jedoch lediglich die literarischen Traditionen Plutarchs und Theophrasts sowie die zeitgenössische Erfahrungsseelenkunde aus. Schillers besondere Aufmerksamkeit für Verstellung und Durchschauen sowie für interaktionelle Zusammenhänge lässt sich damit nicht erklären. Prüfer betont mit Recht die anthropologische Dimension der Geschichte in der Spätaufklärung und bei Schiller, meint damit aber die neue Anthropologie der sinnlich-sittlichen Doppelnatur des Menschen und der historischen Entwicklung seiner Gattungsmöglichkeiten. Kaum an der Tradition der Charaktererkenntnis interessiert ist Leslie Sharpe, Schiller and the Historical Character. Presentation and Interpretation in the Historiographical Works and in the Historical Dramas, Oxford 1982.

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weist auf etwas, das im Grunde nur eine hermeneutische Selbstverständlichkeit ist: Hinsichtlich der Rezipientenseite erfordert die Frage nach verstehensnotwendigen Wissensbeständen besondere Aufmerksamkeit für etwa entstandene, zeitlich oder kulturell bedingte Differenzen gegenüber dem Wissenshorizont des Autors bzw. der ursprünglichen Rezipienten.35 Eine weitere Zeitdimension kann hinzukommen, wenn das relevante Figurenwissen eines Textes schon zu dessen Entstehungszeitpunkt nicht mehr aktuell ist. Indem Schillers Historiographie auf ein Wissen zurückgreift, das nach dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts nicht mehr gepflegt wurde (wenngleich es nicht einfach verschwand), scheint eine solche Ungleichzeitigkeit zu entstehen.

IV.

Das Geschichtsbild des ‚politischen‘ Figurenwissens

Die vom politischen Wissen angeleitete Analyse von Konkurrenzen, Plänen und Gegenplänen, Verstellung und Durchschauen wirkt sich natürlich massiv darauf aus, welche Handlungsmuster in einer auf dieser Grundlage erzählten Geschichte dominieren. Erzeugt wird so ein wesentlich personalistisches oder interaktionistisches Geschichtsbild. Die wichtigste Operation des Historiographen bildet die Zuordnung der verschiedenen Akteure zueinander, nämlich als Gegner, Unterstützer oder Beobachter. Zur Geltung kommt diese personale Konstellation zunächst einmal in bestimmten einzelnen Situationen. Das allein konstituiert allerdings noch keine Geschichte. Hinzukommen muss etwas, was die diachrone oder Verlaufs-Dimension der Geschichte strukturiert. Auch dazu trägt die politische Analyse bei, denn die ‚Pläne‘, die sie bei den verschiedenen Akteuren identifiziert, reichen und treiben über die jeweilige Situation hinaus. So wird die jeweils gegenwärtige Situation auf die Zukunft hin gespannt: Schiller erklärt Wallensteins unbeugsames Aushandeln einzigartig vorteilhafter Bedingungen für sein zweites Generalat damit, dass „der Plan zur künftigen Empörung“ längst „entworfen“ war (S. 245, Z. 28). Das dynamische Moment der Geschichte wird vom politischen Wissen in den Absichten der Akteure entdeckt, entsprechend seinem generell personalistisch-interaktionistischen Ansatz.36 35 36

Ähnlich schon Grabes, „Wie aus Sätzen Personen werden …“, S. 412f. Zur interaktionistischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung in Schillers Dramen vgl. Link, Jürgen, „Die Geburt des Komplotts aus dem Geist des Interaktionismus. Zur Genealogie von Verschwörungstheorien in der Literatur der Goethezeit (besonders bei Schiller)“, in: KulturRevolution, 29/1994, S. 7–15.

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Gerade die typisch politische Unterscheidung von ‚inneren‘ verborgenen Absichten und verbergendem Verhalten nach außen unterstützt die Identifizierung von weitgespannten Intentions- und Handlungsketten: Hinter allem Handeln eine Absicht zu vermuten, ist das ständige Geschäft des Politicus – und des mit politischem Wissen arbeitenden Historikers. Beide versuchen, solche Absichten möglichst frühzeitig ‚aufzudecken‘. Für den Politicus bringt dies ein charakterisierender Satz über den Kardinal Granvella aus dem Abfall der vereinigten Niederlande auf den Punkt: „Mit bewundernswürdiger Schärfe des Geistes durchspähte er das Gemüth seines Herrn, und erkannte oft in der Miene schon die ganze Gedankenreihe, wie in dem vorangeschickten Schatten die nahende Gestalt.“ (NA 17, S. 85, Z. 32–35) Dementsprechend besteht die Analyseleistung des Historikers nicht zuletzt darin, zukunftsträchtige Pläne schon dort zu identifizieren, wo davon noch gar nichts oder kaum etwas nach außen dringt, denn auf diese Weise lassen sich Handlungsketten über das Offenkundige hinaus verlängern. Schiller ‚weiß‘ bereits bei Wallensteins Absetzung von seinem ersten Generalat (1630), dass die – erst 1634 ausgeführte – Rache am Kaiser sein beständiger und wichtigster Gedanke war. (In der Nationalausgabe liegen gut 100 Seiten zwischen Plan und Ausführung, am ersten Publikationsort des Dreyßigjährigen Kriegs, den Historischen Calendern für Damen für 1791 bis 1793, waren es sogar zwei Jahrgänge.) „Von seinen hochfliegenden Planen ward kein einziger aufgegeben“, heißt es zudem gerade an dieser Stelle (NA 18, S. 134, Z. 31f.), wie um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass es solche Pläne sind, die die Episoden der Geschichte zusammenbinden, und kurz vor Wallensteins Rückkehr ins Generalat erinnert Schiller noch einmal daran, wie langfristig die Affekte wirken, von denen Wallenstein angetrieben wird: „Von einer glühenden Leidenschaft aufgerieben, während daß eine fröhliche Außenseite Ruhe und Müßiggang log, brütete er still die schreckliche Geburt der Rachbegierde und Ehrsucht zur Reife, und näherte sich langsam aber sicher dem Ziele.“ (S. 234, Z. 2–5)37 Narratologisch gesprochen, haben wir es hier, wie an vielen anderen Stellen, mit formal gewissen, inhaltlich indessen ungewissen und daher spannungswahrenden Vorausdeutungen in die Zukunft zu tun. Für ein vom politischen Wissen ausgehendes Erzählen von Geschichte ist diese Technik ebenso typisch und bezeichnend wie die charakterologische Introspektion. Etwas maliziös könnte man mit dem gegenüber Schiller eine Generation äl37

Ähnlich S. 236, Z. 33–35. Über Maximilian von Bayern heißt es sogar, er sei „im ganzen Laufe dieses Krieges einem einzigen überlegten Plane getreu“ gewesen (NA 18, S. 92, Z. 33f.).

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teren Historiker Johann Matthias Schroeckh bemerken, solche Historiographie erweise den großen Herren und berühmten Männern eine besondere Ehre dadurch […], daß man ihnen weitaussehende, meistentheils aber eigennützige Absichten bey allen ihren Unternehmungen zuschreibt. […] die Welt soll den Geschichtschreiber bewundern, welcher die Herzen der Menschen viel gewisser durchschauet haben will, als man sie zu ihren Zeiten kennen gelernet hat.38

Aus dem Blickwinkel moderner Historiographie liegt zudem der Einwand nahe, eine so verfahrende Geschichtsschreibung drohe leicht in Zirkelschlüsse zu geraten, weil die verborgenen Absichten der Akteure deren Handeln erklären sollen,39 während sie doch nur aus diesem Handeln erschlossen sind. Ein Publikum, dem das politische Figurenwissen geläufig ist und als zuverlässig gilt, hat dagegen keinen Anlass, solche Einwände zu erheben. Aber ist es nicht vielleicht nur eine bestimmte Figur – nämlich Wallenstein –, die in politischen Kategorien charakterisiert und von der aus Geschichte in den Kategorien des Politicus konstruiert wird? Darf man das bislang an diesem Erzverräter Gezeigte verallgemeinern? Ja, man darf, denn sein Gegenspieler, der Kaiser, wird in dasselbe Referenzsystem gestellt. Zwar macht Schiller Unterschiede zwischen Protestanten und Katholiken, indem seine konfessionelle Parteilichkeit List und Tücke (fast) immer nur auf katholischer Seite findet. Alle Parteien jedoch agieren unter den Bedingungen politischer „Arglist und Verstellung“ (S. 106, Z. 12) bzw. werden von Schiller einem historiographischen Blick unterworfen, der laufend Vorwände und „Mißtrauen“, „Machinationen“ und versäumte Momente, die „nimmer wiederkehren[ ]“, sowie „Wachsamkeit auf beyden Seiten“ diagnostiziert.40 Unterschiede weisen die Akteure und Parteien innerhalb des politischen Deutungsrahmens auf – nämlich derart, dass Schiller die Katholiken stets als einen Tick geschickter darstellt, moralisch gesprochen: als hinterhältiger. 38

39

40

Schröckh, Johann Matthias, Christliche Kirchengeschichte, Bd. 1, Frankfurt, Leipzig 1768, S. 269, zit. nach: Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, Teilbd. 1–2, Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer (Hrsg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 604–621. Vgl. S. 245, Z. 38, S. 246, Z. 5, S. 245, Z. 31 mit zahlreichen erklärenden Wendungen wie „mußte“, „daher“, „Dieser Plan erfoderte“. Vgl. S. 24, Z. 23–25, S. 25, Z. 3–9: „Keinen scheinbarern Vorwand hätten die Protestanten ihrem gemeinschaftlichen Feinde geben können, als diesen, Uneinigkeit unter sich selbst […]. So zeigte diese unselige Trennung den Machinationen der Jesuiten einen Weg, Mißtrauen zwischen beyde Partheyen zu pflanzen, und die Eintracht ihrer Maßregeln zu zerstören. Durch die doppelte Furcht vor den Katholiken und vor ihren eigenen protestantischen Gegnern gebunden, versäumten die Protestanten den nimmer wiederkehrenden Moment, ihrer Kirche ein durchaus gleiches Recht mit der Römischen zu erfechten.“ Das letzte Zitat S. 25, Z. 20.

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Und noch die Moral, die der Geschichtsschreiber Schiller verficht, ist ‚politisch‘ geprägt, wenn er – ganz wie Thomasius – die mäßigende „Stimme der Klugheit“ gegen „den mächtigen Zwang der Leidenschaften“, konkret meist des Ehrgeizes, stellt (S. 78, Z. 34f.; es wird also nicht so sehr Moral gegen politisches Geschick ausgespielt als die rechte von der schlechten Politik unterschieden). Schillers politische Introspektion fragt nach den persönlichen Gründen für das Handeln der Akteure, gleich ob es sich um den Kaiser oder um den pfälzischen Kurfürsten Friedrich V. handelt, der den Habsburgern kurzzeitig die böhmische Krone entwand,41 und diese Gründe erscheinen zugleich als hauptsächliche Bewegungsfaktoren des historischen Prozesses. Selbst dort, wo es ausnahmsweise ganze Völker sind, die als Agierende dargestellt werden, liegt das personalistische Interaktionsmodell des politischen Wissens zugrunde: „Die Reformation machte den Niederländern das Spanische Joch unerträglich, und weckte bey diesem Volke das Verlangen und den Muth, dieses Joch zu zerbrechen, so wie sie ihm größtentheils auch die Kräfte dazu gab.“42 Gelegentlich sind es ganze Staaten und Dynastien, bei denen die politische Analyse zur Anwendung kommt, die eigentlich bei einem einzelnen Akteur den „Haupt-Affekt“ oder dominanten „Charakterzug“ ermitteln soll, weil dieser nämlich sich am wenigsten verbergen lasse, vielmehr die meisten Handlungen eines Menschen erkläre und dadurch berechenbar mache:43 Heinrich IV. hatte ein halbes Menschenalter lang das ununterbrochene Schauspiel von Oesterreichischer Herrschbegierde und Oesterreichischem Länderdurst vor Augen, den weder Widerwärtigkeit, noch selbst Geistesarmuth, die doch sonst alle Leidenschaften mäßigt, in einer Brust löschen konnten, worin nur ein Tropfen von dem Blute Ferdinand des Arragoniers floß. Selbst in den kleinsten Geistern aus Habsburgs Geschlechte war diese Leidenschaft groß; dieser Trieb grenzenlos in seinen beschränktesten Köpfen; dieser einzige Charakterzug schlimm in der kleinen Zahl seiner vortrefflichen. (S. 50, Z. 35 bis S. 51, Z. 6)

Schillers erstem großen Geschichtswerk, dem Abfall der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung von 1788, liegen die Kategorien des politischen 41 42

43

Vgl. S. 27, 78f. S. 9, Z. 19–26. Der nächste Satz folgt dann wieder dem Normalmodell der Herrscherinteraktion: „Alles Böse, welches Spaniens Philipp gegen die Königin Elisabeth beschloß, war Rache, die er dafür nahm, daß sie seine protestantischen Unterthanen gegen ihn in Schutz genommen, und sich an die Spitze einer Religionsparthey gestellt hatte, die er zu vertilgen strebte.“ Vgl. Christian Thomasius, […] Neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen Wissenschafft / Das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wider ihren Willen / aus der täglichen Conversation zuerkennen, Halle [1691], hier S. )(3vf. Hier auch der Begriff „Haupt-Affect“.

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Wissens ebenfalls zugrunde: Politici von Graden sind zunächst die Hauptkontrahenten Wilhelm von Oranien und Philipp II. von Spanien, ungeachtet des Sympathiegefälles zwischen ihnen: Die stille Ruhe eines immer gleichen Gesichts verbarg eine geschäftige feurige Seele, die auch die Hülle, hinter welcher sie schuf, nicht bewegte, und der List und der Liebe gleich unbetretbar war […]. Menschen zu durchschauen und Herzen zu gewinnen, war kein größerer Meister als Wilhelm […]. Niemand war wohl mehr zum Führer einer Verschwörung gebohren, als Wilhelm der schweigende. Ein durchdringender fester Blick in die vergangene Zeit, die Gegenwart und die Zukunft, schnelle Besitznehmung der Gelegenheit, eine Obergewalt über alle Geister, ungeheure Entwürfe, die nur dem weit entlegenen Betrachter Gestalt und Ebenmaß zeigen, kühne Berechnungen, die an der langen Kette der Zukunft hinunter spinnen, standen unter der Aufsicht einer erleuchteten und freieren Tugend, die mit festem Tritt auch auf der Gränze noch wandelt. Ein Mensch wie dieser konnte seinem ganzen Zeitalter undurchdringlich bleiben, aber nicht dem größten Kenner der Gemüther, nicht dem mißtrauischten [ ! ] Geist seines Jahrhunderts. Philipp der zweite schaute schnell und tief in einen Karakter, der, unter den gutartigen, seinem am ähnlichsten war. (NA 17, S. 68, Z. 37 bis S. 69, Z. 6; S. 70, Z. 2–16)44

Der Kardinal Granvella agiert ebenfalls als geschickter Politicus,45 während Egmont und Margarethe von Parma nicht zuletzt deshalb scheitern, weil sie in dieser Kunst zurückbleiben. Auch zur Erklärung, warum die erzählten Machtkämpfe so und nicht anders ausgegangen sind – und damit: warum die Geschichte so verlaufen ist –, hat das politische Wissen also beizutragen. Warum scheitert dann Wallenstein, wenn er doch als berechnender Politicus par excellence, der langfristig plant und jederzeit sich beherrscht, dargestellt wird? „Gerade diese überkluge Sorgfalt, sich von allen Seiten zu decken, gereichte ihm zum Verderben“ (NA 18, S. 306, Z. 37f.), urteilt Schiller kurz vor dem ‚letzten Akt‘ der Wallenstein-Handlung, der Zusammenziehung der Truppen in Pilsen und dem offenen Abfall vom Kaiser. Denn mit allen Feinden des Kaisers zugleich zu verhandeln (den Franzosen, den Schweden und den Sachsen), und zwar geheim, bedeutete, das Prinzip politischer Geschicklichkeit zu überanstrengen und es dadurch ebenso aufzuheben, wie die nötige Geheimhaltung in der Untereinander-Verständigung der 44

45

Vgl. auch S. 252, Z. 8–10 über Oranien: „was er im Stillen mit sich herumtrug wußte niemand; niemand hatte in seiner Seele gelesen.“ Vgl. außer dem oben bereits angeführten Zitat: „Die einzige [Leidenschaft], die ihn wirklich beseelte, das süße Bewußtseyn eigener Ueberlegenheit und Kraft, mußte er sorgfältig vor dem argwöhnischen Blick des Despoten [Philipps II. von Spanien] verhüllen.“ (NA 17, S. 86, Z. 36–38) „In das Interesse der Krone hüllte er seinen eigenen Ehrgeiz“ (S. 88, Z. 8f.). „So herrschte er, weil er seine Herrschaft verbarg“ (S. 86, Z. 5).

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verschiedenen Verhandlungspartner aufflog. Schillers Sympathie gehört, wie gesagt, nicht den extremsten, d. h. verschlagensten Politici. Wo er zeigen kann, dass maximale List und Verstellung nicht zum Erfolg führen, sondern sich gegen den wenden, der sie übt, kommt seine politische Analyse (im Sinne des frühneuzeitlichen Verhaltenswissens) demnach sogar mit seinen politischen Anschauungen (im modernen Sinne des Wortes) überein.

V.

Das politische Figurenwissen in der frühneuzeitlichen Historiographie

Die personalistisch-interaktionistische Geschichtsauffassung sieht in den Plänen und Taten der politischen, militärischen und geistlichen Führer die maßgeblichen Faktoren des historischen Geschehens und begreift historische Erkenntnis daher vor allem als Rekonstruktion von personalen Konstellationen und Interaktionsgefügen sowie als Aufdeckung jener Motive und Absichten, die die Akteure vor ihren Konkurrenten geheim zu halten versuchten. Die entsprechende Historiographie ist wesentlich der Frühen Neuzeit zugehörig, denn sie erzählt Geschichten, nicht Geschichte – was auch meint, dass sie literarischen oder besser rhetorischen Darstellungsidealen folgt, vor allem aber dass sie exemplarische, nicht genetische Sinnbildung betreibt, d. h. dass sie Geschichten erzählt, an denen sich beispielhaft Tugenden und Laster, Herrschergeschick und -scheitern studieren lassen, während ‚die Geschichte‘ als autonomes, prozessartiges Ganzes noch gar nicht gedacht wird.46 Vorlagen geben dazu bereits die großen Geschichtsschreiber der Antike, vor allem Polybios, Sallust und Tacitus, und auch die humanistische Historiographie des 16. Jahrhunderts hat Geschichte in menschliches Handeln und dahinter aufzudeckende Pläne und Absichten auseinandergelegt.47 Am 46

47

Zu dieser grundlegenden Differenz zwischen frühneuzeitlicher und moderner Geschichtsauffassung vgl. Koselleck, Reinhart, „Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1979, S. 38–66. Die von Jan Marco Sawilla vorgebrachte Kritik ist im Einzelnen vielfach berechtigt, erschüttert jedoch nicht jene Basisdifferenzierung (vgl. Sawilla, „ ‚Geschichte‘: Ein Produkt der deutschen Aufklärung? Eine Kritik an Reinhart Kosellecks Begriff des ‚Kollektivsingulars Geschichte‘ “, in: Zeitschrift für historische Forschung, 31/2004, S. 381–428). Vgl. Keßler, Eckhard, „Das rhetorische Modell der Historiographie“, in: Reinhart Koselleck/Heinrich Lutz/Jörn Rüsen (Hrsg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982, S. 37–85, hier S. 74f.

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entschiedensten vertreten wurde die personalistisch-interaktionistische Geschichtsschreibung indessen um 1700, zeitgleich mit dem – und begünstigt durch den – Geltungshöhepunkt des politischen Verhaltensideals, das jetzt nicht mehr nur ein Spezialwissen für Herrscher und Hofleute bot, sondern ein anthropologisches und soziales Wissen für ‚alle‘ (bis ins Bürgertum hinab), die sich in der ‚Gesellschaft‘ bewegen und behaupten mussten. Sçavoir l’Histoire; c’est connoitre les hommes, qui en fournissent la matiére, c’est juger de ces hommes sainement; étudier l’Histoire, c’est étudier les motifs, les opinions, & les passions des hommes, pour en connoitre tous les ressorts, les tours & les détours, enfin toutes les illusions qu’elles sçavent faire aux esprits, & les surprises qu’elles font aux cœurs.48

So lautet die zentrale Definition in der bis weit ins 18. Jahrhundert vielgelesenen Programmschrift De l’usage de l’histoire des Abbé de Saint-Réal (zuerst 1671). Saint-Réal entwirft eine Geschichtsschreibung, die sich noch weit entschiedener als die Schiller’sche auf die Menschen und ihre Leidenschaften konzentriert, und zwar als zentrale Gegenstände der Geschichtsschreibung ebenso wie als deren Lehrinhalt, denn was die Historie lehren kann, ist für Saint-Réal die Macht der falschen Meinungen und täuschenden Leidenschaften über den Menschen. Wissen biete die Historie, indem sie aufdeckt, welche psychischen Ursachen die Handlungen der Großen ebenso wie aller Menschen haben, „car sçavoir, c’est connoitre les choses par leurs causes“.49 Zugleich ist dieses Wissen gefordert, um Geschichte zu verstehen (als Leser und mehr noch als Geschichtsschreiber). Denn die Fähigkeit, zwischen dem, was die Menschen äußerlich zeigen, und dem, was sie innerlich bewegt, zu unterscheiden, erfordert ein bestimmtes Wissen von der Tätigkeit der menschlichen Seele oder des Herzens sowie von den Konventionen wie Notwendigkeiten des Verhaltens in der Gesellschaft. 48

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Saint-Réal, César Vichard de, „De l’Usage de l’historie“, in: Les Œuvres de M. l’Abbé de Saint Real, nouv. éd., T. 3, Paris 1752, S. 195–311, hier S. 197. Eine deutsche Übersetzung erschien als: Frantzösischer Sack-Spiegel / Denenjenigen / So sich selbsten gerne kennen möchten / zu Liebe / Durch den Abbt von St. Real In Frantzösischer / Anietzo aber In Teutscher Sprach vorgestellet Durch Johann-Baptista Crophius von Käyser-Sieg, Augsburg 1691, hier S. 39: „die Historie wissen / ist so viel / als / die Menschen / von denen darinn gehandelt wird / erkennen / und von denselbigen klüglich urtheilen; die Historie studieren / ist so viel / als / die Bewegungs-Ursachen / die Meinungen und Gemüths-Bewegungen der Menschen studieren / um alle derselben Getrieb / Fündlein / und Ausflüchten / ja allen falschen Wahn / so sie dem Gemüth beybringen können / und allen Betrug / wormit sie das Herz hintergehen / erkennen.“ Ebd. Vgl. Frantzösischer Sack-Spiegel, S. 39: „Wissen ist / die Sachen durch ihre Ursachen erkennen“.

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Schaut man nicht allein auf deutsche Autoren, so ist es also keineswegs erst Schiller, der das Figurenwissen der politischen Verhaltenslehren für die Geschichtsschreibung nutzt. Im Gegenteil: Der Abbé Saint-Réal und die ähnlich orientierten Autoren um 170050 stehen diesem Wissen weit näher als Schiller, dessen aufklärerische Bildung in wichtigen Punkten wegführt vom politischen Wissen machiavellistischer Prägung, wie es z. B. in der durchaus pessimistischen Anthropologie Saint-Réals zum Ausdruck kommt. Umso irritierender erscheint, dass Schiller in seiner Historiographie überhaupt an ein Modell anknüpft, das gut ein Jahrhundert alt ist. Denn um ein Anknüpfen handelt es sich sogar im Sinne einer direkten Rezeptionsbeziehung: Die von Saint-Réal verfasste Histoire de Dom Carlos (1672, viele Auflagen) bildet die Hauptquelle für Schillers Karlos-Tragödie (deren stoffliche Vorbereitung den jungen Dramatiker bekanntlich erst auf den rechten Geschmack an der Geschichte brachte).51 Saint-Réal geht in seiner „nouvelle historique“ sehr großzügig mit den Fakten um, indem er den Infanten zum Opfer seines Vaters aufgrund erotischer Konkurrenz um die französische Prinzessin Elisabeth macht, aber eben dieses Hauptinteresse an einer möglichst komplexen psychologischen Erklärung und Verknüpfung der Figuren faszinierte Schiller.52 Ein weiteres Werk der französischen Historiographie des 17. Jahrhunderts, das für seine Dramatik wichtig ist, die Histoire de la Conjuration du Comte Jean Louis de Fiesque des Kardinal de Retz (zuerst 1665, von Schiller in der Fassung von 1682 benutzt), ist von einem ähnlich starken Interesse am Charakter der Akteure, am Aufdecken ihrer verborgenen Motive sowie ihren Intrigen geprägt. Für Schiller liegen „historisches und Charakter-Interesse“ von Anfang an nah beieinander, und mit seinem Wechsel zur Geschichtsschreibung ändert sich prinzipiell nichts daran, wie das auf eines seiner historiographischen Projekte gemünzte Zitat unter-

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Vgl. Zwink, Christian, Imagination und Repräsentation. Die theoretische Formierung der Historiographie im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert in Frankreich, Tübingen 2006, S. 245 über Claude François Menestrier sowie S. 329–332 über Charles Rollin. Wie besonders Rollin herausstellt, handelt es sich zugleich um ein Wissen davon, dass das Subjekt überall in der Gesellschaft Rollen zu spielen hat. Da es sich um eine bloß äußerliche Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen handle, müsse der Historiker hinter die mit diesen Rollen verbundenen Masken blicken. Zu Schillers Interesse an der ‚inneren Geschichte‘ seiner Figuren als Verbindungsglied zwischen seinen Dramen und der Historiographie vgl. Darras, Gilles, „D’une histoire à l’autre. L’histoire intérieure dans les premiers drames, les récits de fiction et les écrits historiques de Friedrich Schiller“, in: Etudes germaniques, 60/2005, S. 695–714. NA 7,2: Don Karlos. Anmerkungen, Paul Böckmann/Gerhard Kluge (Hrsg.), S. 120.

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streicht.53 Solchem Interesse für die verborgenen Pläne der Akteure entsprechend, wählte er seine historischen Stoffe (der Geschichtsschreibung wie des Dramas) denn auch bevorzugt aus Verschwörungen und Rebellionen, die wiederum ebenso in der französischen Geschichtsschreibung ein Jahrhundert zuvor besonders beliebt waren.54 So bekannt die angeführten Texte in der Schiller-Forschung sind, so wenig hat man die Gelegenheit genutzt, anhand dieser Rezeptionskonstellation die historiographiegeschichtliche Entwicklung vom späten 17. zum späten 18. Jahrhundert zu verfolgen. Dazu beigetragen hat sicher, dass die Beurteilungen der von Eduard Fueter „galant“ genannten Geschichtsschreibung weit auseinander gehen:55 Während die ältere Forschung kaum ein gutes Haar an ihr ließ, schon weil sie eher literarisch als an den Tatsachen orientiert gewesen sei (was zutrifft, aber wenig besagt),56 ist sie in neuerer Zeit zur Vorgeschichte der Aufklärungshistoriographie aufgewertet worden.57 Frühaufklärerisch ist in der Tat die programmatische Ablehnung eines memoriagestützten Wissens von vielen Begebenheiten zugunsten eines iudiciumgestützten Wissens von deren Ursachen und Gründen58 – noch abstrakter formuliert: die ‚wissenstechnologische‘ Umstellung von der Quantität der Inhalte, die als nicht mehr beherrschbar gilt, zur Qualität der Form, in der über alle möglichen Inhalte zu urteilen ist. Ebenfalls in Richtung Aufklärung geht der Verzicht auf den traditionellen christlichen Deutungsrahmen, jedoch 53

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NA 25: Schillers Briefe: 1. 1. 1788–28. 2. 1790, Eberhard Haufe (Hrsg.), S. 151, Brief an Körner vom 1. Dezember 1788. Gewürdigt wird die Bedeutung der französischen Historiographie des 17. Jahrhunderts (Saint-Réal und Retz) für Schiller vor allem von Paul Böckmann, Schillers Don Karlos. Edition der ursprünglichen Fassung und entstehungsgeschichtlicher Kommentar, Stuttgart 1974, S. 407–425. Was Fueter ‚galant‘ nennt, ist nahezu dasselbe, was mein Beitrag als ‚politisch‘ bezeichnet. Um 1700 überschneiden sich das politische und das galante Verhaltensideal oder Wissen weitgehend, denn es geht beiden um die Geltung bei anderen und darum, wie diese zu erreichen sei. Das galante Ideal akzentuiert mehr die Inszenierung von kommunikativer Harmonie, das politische hingegen pflegt das Bewusstsein von gesellschaftlicher Konkurrenz. Beide treffen sich im Interesse an einer Menschenkenntnis als Durchschauen der verborgenen Absichten und Motive der anderen. Vgl. Fueter, Eduard, Geschichte der neueren Historiographie, München, Berlin 1911, S. 156f., 331–333. Vgl. Leffler, Phyllis K., „The ‚Histoire raisonnée‘ 1660–1720, a Pre-Enlightenment genre“, in: Journal of the History of Ideas, 37/1976, S. 219–240. Vgl. Saint-Réal, „De l’Usage de l’historie“, S. 198f.; Manfred Beetz, Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, Tübingen 1980, S. 149–153.

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‚fehlt‘ noch das Bewusstsein, in einer Fortschrittsgeschichte zu stehen, die in der eigenen Gegenwart ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hat. Weitere Unterschiede zum Menschenbild wie zur Historiographie der Aufklärung ließen sich anfügen, etwa die pessimistische Anthropologie der politisch-galant geprägten Geschichtsschreibung sowie deren Voraussetzung, dass absichtliche Täuschung ein ubiquitäres und daher in Rechnung zu stellendes, nicht aber ein zu überwindendes Sozialverhalten sei.59 Zu eng an die Aufklärungshistorie sollte man die vom politischen Wissen geprägte Geschichtsschreibung daher nicht rücken.60 Trotzdem lassen sich weitreichende Kontinuitäten beobachten, und zwar gerade in der hier besonders interessierenden Erklärung von Geschichte aus dem Charakter und den Absichten ihrer Akteure. Denn dieses Erklärungsprinzip bleibt bis tief in die Aufklärungshistorie hinein wirksam. Voltaires Geschichtsschreibung wird dadurch geradezu strukturiert, wie besonders deutlich die Histoire de Charles XII roi du Suède von 1731 zeigt. Weiterhin gilt hier: Was die Geschichte bewegt, sind die Konkurrenz und die Absichten der Fürsten, und um diese zu erkennen, muss der Historiker die Charaktere ergründen. Die Kohärenz der erzählten Geschichte wird wiederum durch die Langfristigkeit garantiert, mit der die Figuren einmal gefasste Absichten verfolgen. Im Idealfall zeichnet sich der spätere Eroberer schon im Kinde ab – Voltaire weist dementsprechend bereits „dans les actions les plus indifférentes de son enfance“ den „naturel indomptable“ seines Helden auf, also Charakterzüge, „qui marquaient ce qu’il devait être un jour.“61 Das klingt nach einer Stilisierung, um literarische Geschlossenheit zu erreichen, doch auch im akademischen Bereich bleiben die Kategorien des politischen Wissens lange maßgeblich. So fordert Sulzer in seinem Kurzen Begriff aller Wißenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit vom Geschichtsschreiber „eine starke Kenntnis der Welt, des menschlichen Herzens und der Würkung der Leidenschaften […], damit er die Quellen der Handlungen leichter entdecken“ kann.62 Denn die Historie wird von Sulzer definiert als 59 60 61

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Vgl. Saint-Réal, „De l’Usage de l’historie“, S. 210. Vgl. Zwink, Imagination und Repräsentation, S. 237. Voltaire [d. i. François-Marie Arouet], Œuvres historiques. Édition présentée, établie et annotée par René Pomeau, Paris 1957, S. 62f. („So ließ dieser unbezähmbare Charakter schon in den unbedeutendsten Handlungen seiner Kindheit jene Züge zu Tage treten, welche […] zum Voraus ahnen lassen, was sie einst sein werden.“ Übers. nach: Voltaire, Die Geschichte Karls XII. Königs von Schweden. Nach der Ausg. von Beuchot 1829 ins Dt. übertr. von Adolf Seubert, Leipzig 1907). Sulzer, Johann Georg, Kurzer Begriff aller Wißenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worin jeder nach seinem Inhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird, 2., ganz veränd. u. sehr verm. Aufl. Leipzig 1759, S. 39.

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Behältnis, darin die merkwürdigsten Entschliessungen und Rathschläge der größten Männer, die Tugenden und Laster, Ehre und Schande ganzer Völker und einzeler Personen für die Nachwelt aufbehalten werden, und sie ist überhaupt ein Spiegel des menschlichen Lebens, in welchem man alle zu den Lehren des gesellschaftlichen Lebens nöthige Beyspiele auf das deutlichste sehen kann.63

Ebenso bleibt es dabei, dass die Historie sowohl politisches Wissen erfordere (beim Geschichtsschreiber) als auch (dem Leser) eine „gründliche Kenntnis des Menschen“ vermittle.64 „Die so verschiedenen Beweggründe der Handlungen öffnen uns das menschliche Herz nach allen seinen Falten, und nach den mancherley Wegen, auf welchen es seinen Neigungen ein Genüge zu leisten sucht“, heißt es auch bei dem Wittenberger Kirchenhistoriker Schroeckh, einem jener Universitätshistoriker der mittleren Aufklärung, in denen manche neuere Forscher die Formierung der Historie zu einer „Fachwissenschaft“ verkörpert sehen.65 „Die Kirchenhistorie wird, wie jede andere Geschichte, alsdenn pragmatisch vorgetragen, wenn man nicht die Begebenheiten allein, deren Ausgang und Entwickelung sich nur von ohngefähr zuzutragen scheinet, vorstellet; sondern hauptsächlich nach ihren Ursachen und Triebfedern forscht.“ Indem sie die „Leidenschaften“ unter dem Schein der Tugend oder der Konvention aufdeckt, „schärft [sie] vornehmlich unsere Klugheit“. (Historiographische Beispiele dafür bringt Abschnitt VII. im Zusammenhang mit Schillers ‚Quellen‘ zur Sprache.) Wie bereits in Abschnitt IV. angedeutet, behandelt Schroeckh das politische Wissen und die charakterologische Introspektion, die es anleitet, allerdings nicht mehr als unproblematisch verfügbar. Dass es um die „geheimsten Regungen des Herzens“ geht, stellt sich ihm nicht allein als Reiz und Nutzen dar, sondern ebenso als methodische Schwierigkeit und als Gefahr, „die Wahrheit der Historie“ zu verfehlen.66 Von der Tradition der charakterologischen Ursachensuche distanziert er sich: „Unverzeihlich“ hätten vor allem „die Französischen Geschichtschreiber […] gefehlet, […] indem sie Absichten und Triebfedern älterer Begebenheiten nicht aus historischen Umständen erwiesen, sondern durch eine vermeinte witzige Scharfsinnigkeit erfunden haben.“67 Das Prinzip, Geschichte aus den „innern Bewegungs63 64 65

66 67

Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Schröckh, Christliche Kirchengeschichte, Bd. 1, S. 265. Die folgenden Zitate ebd. u. S. 266. Vgl. Fleischer, Dirk, Zwischen Tradition und Fortschritt. Der Strukturwandel der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung im deutschsprachigen Diskurs der Aufklärung, Teilbd. 1–2, Waltrop 2006, S. 516. Schröckh, Christliche Kirchengeschichte, Bd. 1, S. 269, 268. Ebd., S. 269.

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gründen und Absichten“ der Akteure zu erklären, gibt er zwar nicht auf, doch fordert er, solche Ursachensuche müsse „nach gewissen Grundsätzen angestellt werden“.68 Schroeckh folgt damit einer Diskussion über die Möglichkeit, andere Menschen trotz deren Verbergungsanstrengungen zu durchschauen, die bereits seit dem Jahrhundertanfang geführt wurde.69 In dieser das ganze Jahrhundert andauernden Diskussion ging es meist um die Gemütserkenntnis unter Anwesenden, am besten unter Gesprächspartnern. Umso unsicherer musste ein retrospektives Durchschauen längst Verstorbener, womöglich aus einer anderen Kultur, erscheinen. Tenor jener Diskussion war es jedoch, dass die Gemüter der Menschen (einschließlich des eigenen) weder völlig transparent noch völlig intransparent seien, weil sich ein Charakter z. B. in dem verrate, was jemand immer wieder tut. Verfahre man systematisch und methodisch, so könne man (relativ) sicher auf verborgene Motive schließen – das bisher als Kunst (ars) verstandene politische Wissen sollte hier zu einer Wissenschaft erhoben werden. Ein glatter Verzicht auf charakterologische Ursachenforschung war daher auch für die akademische Historie nicht geboten, wohl aber mehr „Behutsamkeit“ und mehr Methodenbewusstsein. Die verborgenen Motive, heißt es bei Schroeckh, die die Akteure „nicht deutlich verrathen haben, dürfen […] ihnen nicht zugeeignet werden“.70

VI.

Von der Praxis des gesellschaftlichen Umgangs zur Konstituierung von Geschichte(n)

Die Bedeutung des politischen Wissens in der Historiographie veränderte sich demnach im Laufe des 18. Jahrhunderts, brach aber nicht ab. Ähnliches gilt für den erwarteten Nutzen dieses Wissens für den Autor bzw. Leser von Historiographie. In Abschnitt III. wurde betont, dass das politische Figurenwissen für das Verstehen von Geschichte(n) ebenso wie für die Lebenspraxis relevant gewesen sei. Die frühe Aufklärung thematisierte diesen Zusammenhang offensiv, mit Blick auf den Roman ebenso wie auf die Geschichtsschreibung, nämlich als Argument für den praktischen Nutzen einer Beschäftigung mit bloßen Erfindungen bzw. längst Vergangenem. Als „grossen Nutzen derer Romane“ stellte Thomasius (unter der Maske eines Monatsge68 69

70

Ebd., S. 268, 267. Vgl., auch für das Folgende, Fulda, „Wissen und Nicht-Wissen von anderen Menschen“. Schröckh, Christliche Kirchengeschichte Bd. 1, S. 268.

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sprächs-Teilnehmers, des Kaufmanns Christoph) heraus, dass sie „denen Lesenden Gelegenheit [geben] die Kunst derer Leute Gemüther zu erforschen, welche meines erachtens vor den Grund der wahren Politic zu halten, […] gleichsam spielende und in Müßiggang zu lernen“.71 Was die Geschichtsschreibung und ihren Nutzen angeht, so lautet ein, wenn nicht das zentrale Argument bei dem Halle’schen Philosophen und Juristen Nicolaus Hieronymus Gundling ganz ähnlich: „Die Politic ist ohnstreitig auch in der Historie fast am besten zu lernen“.72 Denn die Geschichte sei das ideale Anwendungsfeld für ein Durchschauen von „Intriguen“, das sich zugleich als Analyse von Machtkonkurrenzen vollzieht, und übe besser darin ein als alle Verhaltenslehren, die mager und trocken seien, weil ihnen die Beispiele fehlen.73 Aus der Historie lerne man „allerley Leute und Menschen Gemüther zu erkennen“, denn „alle unsre actiones kommen ex nostro temperamento & passionibus“.74 Nun betont Gundling, typisch für die frühaufklärerische Aneignung des ursprünglich an den Höfen beheimateten politischen Wissens, dass die „Lehre der Klugheit“ nicht allein für einen „grossen Herrn“, sondern „bey allen und ieden Privat-Personen notwendig und nützlich sey“.75 Ist – mag man fragen – Intrigenabwehrkompetenz aber wirklich das, was jedermann braucht? Gundling begründet den ubiquitären Bedarf an politischem Wissen denn auch damit, dass jeder „Mensch“ vor die Anforderung gestellt sei, „nach allen Respectibus ein Genügen [zu] leisten“.76 Man darf dies wohl so verstehen, dass politisches Wissen dazu befähigen soll, mit komplexen Interaktionssituationen zurechtzukommen (frei nach Gundling: Anforderungen in allen Hinsichten zu genügen), und zwar nicht erst, wenn zu befürchten ist, 71

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Thomasius, Christian, Freimüthige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmässige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher [1688–1690], Bd. 1–5, ND Frankfurt am Main 1972, Bd. 1, S. 49f. Gundling, Nicolaus Hieronymus, Academischer Discours über des Freyherrn Samuel von Pufendorffs Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten, so jetziger Zeit in Europa sich befinden. Aus richtigen und unverfälschten MSCtis ans Licht gestellet, Frankfurt am Main 1737, Prolegomena S. 1. Ebd., S. 1f.; vgl. Nicolaus Hieronymus Gundling, Einleitung zur wahren Staatsklugheit. Aus desselben mündlichen Vortrag aufgezeichnet, itzo aber aus zuverläßigen Handschriften zusammen getragen, Frankfurt am Main, Leipzig 1751, S. 10f. (diese Kritik richtet sich gegen Gracián und dessen Übersetzer August Friedrich Müller). Gundling, Discours über Pufendorffs Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten, S. 1; Ders., Ausführlicher und vollständiger Discours über dessen Abriß einer rechten Reichs-Historie, Frankfurt am Main, Leipzig 1732, S. 12. Gundling, Einleitung zur wahren Staatsklugheit, S. 4. Ebd., S. 3.

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dass Konkurrenten verborgene Absichten hegen. Als intransparent scheint vielmehr die Gesellschaft als solche wahrgenommen zu werden, eben weil so viele Rücksichten (lat. respectus) zu nehmen seien. Es liegt nahe, darin den Beginn jener epochalen Umstellung im Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft zu sehen, die Luhmann wie folgt beschreibt: als Umstellung von der Inklusion in Form fester Zugehörigkeiten z. B. zu einem Stand zur Exklusion des freigesetzten Individuums, die sich in der Wahrnehmung des Individuums als Gezwungensein zu immer wieder anderen kommunikativen Anschlüssen niederschlug.77 In der Mitte des 18. Jahrhunderts politisches Wissen zu kultivieren wäre dann als Versuch zu verstehen, die Durchschauens-Kompetenz des Subjekts nicht gegenüber konkreten Intrigen, sondern angesichts einer sich pluralisierenden, sich in Funktionssysteme ausdifferenzierenden und dadurch unübersichtlicher werdenden Gesellschaft zu stärken. Das wäre nach wie vor ein elementarer Praxisbezug, aber ein von konkreten Praxisfällen wie List, Täuschung und Intrige abstrahierender. Noch lockerer stellt sich der Bezug des politischen Wissens zur Interaktions- und Kommunikationspraxis in jener Adaption dar, die es in Roman und Romantheorie des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts erfährt. Die poetologische Anerkennung, die der deutsche Roman nun erstmals findet, ist untrennbar damit verbunden, dass er auf das politische Wissen der (jetzt psychologisch verstandenen) charakterologischen Ursachenanalyse aufbaut: Wir „müssen“, heißt es in Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman von 1774, bei jeder „Begebenheit, das ganze innre Seyn der handelnden Personen, mit all’ den sie in Bewegung setzenden Ursachen in dem Werk des Dichters sehen“.78 Denn erst dadurch werden die Figuren plastisch79 und wird ihre Geschichte plausibel, so dass das Erdichtete wie (potentielle) Realität erscheint und sich dem Vorwurf der Phantasterei entziehen kann.80 Die ursprüngliche Funktion des politischen Figurenwissens, nämlich Schutz gegen die Gefahren im Umgang mit anderen zu verschaffen, deutet sich bei Blanckenburg wohl noch an: 77

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Vgl. Luhmann, Niklas, „Individuum, Individualität, Individualismus“, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt am Main 1989, S. 149–258. Blanckenburg, Friedrich von, Versuch über den Roman, Faks.dr. der Orig.ausg. von 1774. Mit e. Nachw. von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, S. 265. Darauf, dass die Figuren erst durch Introspektion plastisch werden, verweist auch die moderne Forschung zum Figurenwissen, vgl. Grabes, „Wie aus Sätzen Personen werden …“, S. 407. Vgl. Voßkamp, Wilhelm, Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973, S. 186f.

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Wenn wir es einsehen gelernt haben, auf welche Art, und durch welche Mittel eine Begebenheit so erfolgt ist, wie sie erfolgte; – wenn wir das, was gewisse Ursachen unter gewissen Umständen wirken und hervorbringen können, richtig zu beurtheilen, und jede Wirkung gegen ihre Ursache abzuwiegen wissen; so werden wir uns, wenn gewisse Ursachen in uns zutreffen, uns gegen sie in Schutz zu setzen vermögen […].81

Im Vordergrund steht jedoch der poetologische Zweck: Eine detailgenaue und dem jeweils kulturell etablierten Figurenwissen entsprechende Darstellung ‚äußerer‘ Handlungen und ‚innerer Triebfedern‘ in deren Bedingungszusammenhang soll entscheidend dazu beitragen, den Eindruck von Wahrscheinlichkeit zu erzeugen und dadurch die Gattung Roman zu legitimieren. In Schillers Geschichtsschreibung hat das politische Figurenwissen eine stützende, ja konstituierende Funktion ähnlicher Art. Denn es dient dazu, Geschichte hinsichtlich ihrer Akteure wie ihrer Verläufe kognitiv und emotional nachvollziehbar zu machen, so dass sie als ‚vergangene Gegenwart‘ erscheint. In sie kann sich der Leser hineinversetzen, um den Fortgang der Geschichte imaginativ mitzuerleben.82 Wie bei der Adaption des politischen Wissens für den Roman geht es also um nicht weniger als um die narrative Konstituierung der dargestellten Welt (durch die spezifische Struktur der ‚inneren‘ Motivation ‚äußerer‘ Handlungen sowie deren Überkreuzung und Verkettung) sowie darum, die dargestellte Geschichte für den Leser attraktiv zu machen. Beides gelingt Schillers Historiographie in ähnlich neuartiger und durchschlagender Weise, wie Wielands Geschichte des Agathon (1766/67) es auf dem Gebiet des Romans vorgemacht hatte. Das politische Figurenwissen ermöglicht am Ende des 18. Jahrhunderts die Etablierung einer neuen Art, Geschichten (Romane) und Geschichte zu schreiben: Gewissermaßen dem funktionssystemischen Ausdifferenzierungsimpuls folgend, der sich bereits in Gundlings Bedarfserklärung für das politische Wissen andeutete, trägt es dazu bei, den Roman als autonome Kunstform sowie die Geschichtsschreibung als Erkenntnisform sui generis zu etablieren. Seine ursprünglich primäre praktische Funktion im gesellschaftlichen Umgang hat sich dagegen gewandelt – und abgeschwächt – zu einer Schulung in der psy81 82

Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 293. Vgl. Schillers Lob der historiographischen Gattung Memoiren dafür, dass sie „Begebenheiten in ihren geringfügigsten Umständen, und Karaktere in ihren verborgensten Zügen entwickeln“, denn das gebe „ihnen eine Mine von Wahrheit, einen Ton von Ueberzeugung, eine Lebendigkeit der Schilderung, die kein Geschichtschreiber, der Revolutionen im Großen mahlt, und entfernte Zeiträume aneinander kettet, seinem Werke mittheilen kann“ (NA 19 I: Historische Schriften, 3. Teil, Waltraud Hagen/Thomas Prüfer [Hrsg.], S. 10).

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chologisch-moralischen Beurteilung der Menschen, letztlich mit dem Zweck der moralischen Selbstbewahrung.83 Menschen zu ‚durchschauen‘ soll nicht mehr die Beherrschung eines konkurrentiellen Intrigenspiels ermöglichen, sondern folgt einem von solcher Praxis sich distanzierenden, teils modellhaft anthropologischen, teils auf Selbstbeherrschung zielenden moralischen Interesse des „feineren Menschenforschers“.

VII. Wie politisches Figurenwissen aus Geschäften Geschichte macht Schiller konnte demnach auf einiges zurückgreifen, als er Geschichte auf der Grundlage des politischen Figurenwissens schrieb: auf ‚galante‘ Geschichtserzählungen aus dem âge classique, auf charakterologische Motive sowohl bei den großen Geschichtsschreibern als auch in der akademischen Historik des 18. Jahrhunderts, auf Übertragungen in die seinerzeit aktuelle Romanpoetik, um nur das Wichtigste zu wiederholen. Vorlagen, an die sich seine nicht allein auf die ‚Geschäfte‘ der Akteure, sondern auf die ‚Geschichte‘ (als autonomes, prozesshaftes Ganzes) zielende Historiographie einfach hätte anschließen können, gab es hingegen nicht – und konnte es im Grunde nicht geben, weil das politische Figurenwissen eben auf die ‚Geschäfte‘ zielt und nicht auf die ‚Geschichte‘ (das gilt sogar für den Begriffsgebrauch um 1700: Das politische Wissen soll dazu verhelfen, die eigenen „Geschäfte“ auch gegen den Widerstand anderer voranzubringen84). Die galante Historiographie stellte daher beispielhafte Geschichten dar, nicht aber die ‚Geschichte‘, die so, als Kollektivsingular, noch gar nicht gedacht wurde. Hingegen hatten die führenden deutschen Historiker der mittleren Aufklärung zwar den Zusammenhang der Geschichte fest im Blick. Je ambitionierter die deutsche Universitätshistorik jedoch auf diesen Zusammenhang zielte, desto unzureichender musste die traditionelle Handlungsverknüpfung auf der Basis des politischen Figurenwissens erscheinen. In Johann Christoph Gatterers vergleichsweise avancierter Programmschrift „Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählung“ spielt dementsprechend der – als „System“ gedachte – „allgemeine Zusammenhang“ der Begebenheiten eine große Rolle, während das politische Figurenwissen nur 83

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Vgl. Schillers zuerst 1786 veröffentlichte Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte, besonders die Einleitung NA 16, S. 7–9. Das folgende Zitat ebd., S. 7. Vgl. Till, „Politicus“, Sp. 1429.

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noch in der beiläufigen Empfehlung, der Historiker müsse „auf den Character der handlenden Hauptpersonen“ achtgeben, sowie in der nicht weiter ausgeführten Bemerkung präsent ist, „Charactere sollen in der Geschichte das seyn, was Definitionen in Wissenschaften sind“.85 Der „Plan“, nach dem ein Historiker wie Gatterer Geschichte schreiben möchte, gründet sich nicht mehr auf die Pläne der historischen Akteure! Für sich genommen ist dies als historiographiegeschichtlicher Fortschritt zu werten, der aber steckenblieb, weil die deutsche Universitätshistorie zu keiner Darstellung gelangte, die die Prozessualität der neu gedachten Geschichte zu repräsentieren geeignet gewesen wäre, sondern sich in programmatischen Entwürfen einerseits und überbordenden Kompilationen sowie kompendienhaften Lehrbüchern andererseits verhedderte.86 Nicht nur einem ‚politisch‘ interessierten Geschichtsschreiber wie Schiller konnte sie daher keine Muster bieten. So breit der historiographische Traditionsstrom des politischen Figurenwissens bis hin zu Schiller floss, so schlecht ließ er sich am Ende des 18. Jahrhunderts nutzen, denn er hatte sich in recht weit voneinander entfernte Stränge aufgegliedert und damit geschwächt. Schiller hingegen greift das politische Figurenwissen noch einmal mit äußerster Konsequenz auf, um Geschichtsabschnitten Kohärenz zu verleihen, die zugleich als Entwicklungsstadien eines universalen Prozesses dargestellt werden. Das war historiographiegeschichtlich doppelt neu, denn diese Synthese brachte einerseits die deutschsprachige Geschichtsschreibung auf einen bisher unerreichten Gipfel politischer Handlungsmotivierung und Kohärenzbildung und führte andererseits darüber hinaus, weil sie die so konstituierte einzelne Geschichte (den niederländischen Freiheitskampf, den Dreißigjährigen Krieg) als Teil der einen Geschichte verstehbar machte. Dass Schiller in diesen entscheidenden Punkten mehr leistete als seine zahlreichen Vorgänger, lässt sich bis in einzelne Textstellen hinein verfolgen. Die Quellen, die der Historiograph Schiller benutzt hat – es handelt sich durchweg um publizierte Schriften –, wurden in der Forschung zumeist bereits um 1900 ermittelt, ohne dass man allerdings systematische Vergleiche angestellt hätte, die Schillers Arbeitsweise erhellen würden. Solche Verglei85

86

Gatterer, Johann Christoph, „Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählung“, in: Allgemeine historische Bibliothek, 1/1767, S. 15–89, hier S. 80, 86 u. 88. Dieser Differenzpunkt sticht umso mehr heraus, als ‚pragmatische‘ Romantheorie und Historik um 1770 weitgehende Parallelen aufweisen, wie Hahl, Werner, Reflexion und Erzählung. Ein Problem der Romantheorie von der Spätaufklärung bis zum programmatischen Realismus, Stuttgart u. a. 1971, S. 48–61 herausgestellt hat. Vgl. Fulda, Wissenschaft aus Kunst, S. 49–100, 175–183, 204–208.

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che wurden erst in jüngster Zeit in Angriff genommen.87 Sehr erleichtern wird dies demnächst der angekündigte Kommentarband der Nationalausgabe zu den Historischen Schriften (NA 19 II), der die in Schillers Text (offenkundig oder vermutlich) eingeflossenen Passagen der benutzten Quellen stellengenau verzeichnet. Durch freundliche Vermittlung des Bandherausgebers Thomas Prüfer konnte ich die von mir zitierten Stellen aus dem Abfall der vereinigten Niederlande und der Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs mit den in NA 19 II nachgewiesenen Quellen vergleichen. Dieser Vergleich zeigt zunächst einmal, dass die von Schiller benutzten Geschichtsschreiber ebenfalls mit dem politischen Figurenwissen arbeiten, teils beiläufig, teils dominant (abhängig vor allem von der Gattung des jeweiligen Werks, weniger hingegen von seiner Entstehungszeit). So hält sich der anonyme Verfasser einer von Schiller benutzten Geschichte des Dreyßigjährigen Krieges und des Westphälischen Friedens zugute, „daß ich mehrern Raum auf die Ursachen der Begebenheiten, wie und warum diese und jene Unternehmung vorgenommen worden, auf den Character derer sich hervorgethanen Personen, deren Lebens-Umstände, gewendet, als auf die Begebenheiten selbst“.88 Ähnlich lobt der 87

88

Vgl. Jaeger, Stephan, „Schiller und die Quellen seiner Geschichtsschreibung. Eine Untersuchung zur Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 52/2008, S. 216–246. Zu nennen ist außerdem die unveröffentlichte Master-Arbeit von Pauline Pujo (der ich für die freundliche Überlassung ihrer sehr sorgfältigen und anspruchsvollen Arbeit herzlich danke): ‚Die Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung‘ von Friedrich Schiller und ihre Quellen, Mémoire de Master 1, Université Paris-Sorbonne-Paris-IV, U.F.R. d’Études Germaniques / École Normale Superieure 2007–2008. Pujos Studie fragt – ähnlich wie die vorliegende –, wie Schiller der epochale Schritt von einer Historie als Interaktionsdarstellung zur Repräsentation von ‚Geschichte‘ gelang, gibt aber eine andere Antwort: Als entscheidend sieht sie die Umdeutung bestimmter Begriffe, die Schiller bereits in seinen Quellen findet, in geschichtsphilosophisch aufgeladene Begriffe an (z. B. „libertas Religionis“ bei Strada in „Gewissensfreiheit“, vgl. S. 58–60). Ähnlich ist auch die Ausgangsfrage bei Jaeger, nämlich wie Schillers Geschichtsschreibung aus einem kontingenten Vergangenheitsgeschehen historische Notwendigkeit konstruiert. Anders als seine Quellen, so die Antwort, lasse Schiller die „Innenperspektive“ der Akteure und die Analyse des Historikers „ineinander[ ]gleiten“ (S. 244). Wie im Folgenden zu lesen ist, laufen meine Analysen eher auf das Gegenteil hinaus, nämlich dass Geschichte bei Schiller zwar aus den Handlungen der historischen Figuren entsteht, aber jenseits ihrer Motive, Pläne und Perspektiven. [Buder, Christian Gottlieb,] Geschichte des Dreyßigjährigen Krieges und des Westphälischen Frieden. Zum Behuf der gegenwärtigen Staats-Begebenheiten, Frankfurt, Leipzig 1748, Vorrede S. )(2v. Buder war Professor der Rechte und der Geschichte in Jena. Unter seinem Namen veröffentlichte er u. a.: Kurzer Begriff Der Neuesten Reichs-Historie vom Jahr 1714–1740. Zum Gebrauch der Academischen Lectionen verfasset, 4. Aufl., Jena

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Übersetzer einer von Schiller bereits 1786 gelesenen Historie des Dreyssigjährigen Krieges den Verfasser Bougeant: „Allenthalben entdecket er die geheimen Triebfedern von den Handlungen und Begebenheiten; und man siehet leicht, daß er sie nicht bloß errathen, sondern zuverläßig gewußt.“89 An den Stellen, die in den Abschnitten III. und IV. zitiert wurden, geht Schiller gleichwohl deutlich über alle seine Quellen hinaus, und zwar durchweg, sei es indem er eine Darstellung oder Erklärung nach Maßgabe des politischen Wissens ganz neu formuliert,90 sei es durch plastischere Ausführung vorhandener Ansätze,91 z. B. durch direktere Introspektion,92 sei es durch rhetorische Zuspitzung.93 Der Einsatz des politischen Figurenwissens in seiner Historiographie stützt sich zwar auf eine reiche Tradition, ist in der konkreten Ausführung jedoch weitgehend sein eigenes Werk.

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1748, ein Werk, das auf charakterologische Introspektion verzichtet. Die Anonymität seiner Geschichte des Dreyßigjährigen Krieges darf man sich wohl so erklären, dass ein auf der Grundlage des politischen Figurenwissens geschriebenes Geschichtswerk einem Professor nicht anstand. Hier bestätigt sich noch einmal die prinzipielle Fremdheit zwischen deutscher Universitätshistorie und erzählender Geschichtsschreibung im Zeitalter der Aufklärung. Auch Gundling überführte die theoretisch von ihm hergestellte Verbindung von Historie und politisch-charakterologischer Analyse nicht in historiographische Praxis. Bougeant, Guillaume-Hyacinthe, Historie des Dreyssigjährigen Krieges und des darauf erfolgten Westphälischen Friedens. Mit Anmerkungen und einer Vorrede begleitet von Friedrich Eberhard Rambach, Bd. 1–4, Halle 1758–1760, Bd. 1, S. 53. Vgl. weiterhin die plakative Formulierung bei Gottlob Benedikt Schirach, „Leben Albrechts Wallensteins Herzogs von Friedland“, in: Ders., Biographie der Deutschen, Bd. 5, Halle 1773, S. 23–211, hier S. 163: „Der seltsame und ausschweifende Charakter Wallensteins kann allein dieses Betragen erklären.“ So z. B. in NA 17, S. 85, Z. 32–35; S. 86, Z. 5 und Z. 36–38, S. 88, Z. 8f.; NA 18, S. 24, Z. 23–25, S. 25, Z. 3–9, S. 92, Z. 33f., S. 134, S. 31f. Besonders fällt Schillers Hinzutat an der Stelle NA 18, S. 78, Z. 34f., auf, da der Kontext hier nahezu vollständig aus Michael Ignaz Schmidt, Geschichte der Deutschen, Bd. 9: Mathias und Ferdinand II. Vom Jahre 1613 bis 1630, Ulm 1789, S. 170–174, gezogen ist. Vgl. NA 17, S. 68, Z. 37 bis S. 69, Z. 6; S. 70, Z. 2–16 mit Famiano Strada, De Bello Belgico. Decades Duae; Ab Excessv Caroli V. Imp. usq[ue] ad Initium Praefecturae Alexandri Farnesii Parmae Placentiaeque Ducis III. Ad Annvm 1678. Continvatae, Mainz 1651, S. 54. Das gilt z. B. für die Passage NA 18, S. 239, Z. 20–34. Quelle ist hier [Buder,] Geschichte des Dreyßigjährigen Krieges und des Westphälischen Friedens, S. 70: „Wallenstein merckte wol, weswegen sein Vetter so redete und verstellete sich meisterlich.“ Schiller amplifiziert dies und fügt die Introspektion „sein stolzes Herz frohlockte“ hinzu. Wie in NA 18, S. 306, Z. 37f. Der Kontext ist hier stark an [Buder,] Geschichte des Dreyßigjährigen Krieges und des Westphälischen Friedens, S. 96f., angelehnt.

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Was diese Eigenständigkeit für die Struktur seiner Geschichtsschreibung bedeutet, lässt sich besonders gut an der längeren – bereits am Anfang von Abschnitt III. zitierten – Passage studieren, die den Kaiser und Wallenstein als sich belauernde Kontrahenten vorstellt. Hauptquelle dieses Abschnitts (wie überhaupt des Dreyßigjährigen Kriegs) ist die mehrbändige Geschichte der Deutschen von Michael Ignaz Schmidt, dem Direktor des habsburgischen Hausarchivs, die damals ganz neu und die erste sowohl gelehrte als auch erzählende Nationalgeschichte überhaupt in Deutschland war. Eine Reihe von Formulierungen übernimmt Schiller wörtlich von Schmidt, beispielsweise Wallensteins „Reichthum“ sowie die „Schnelligkeit“, mit der er vor „sechs Jahren“ ein Heer aufbaute, dass er deshalb als „das schicklichste Werkzeug“ erschien, dies erneut zu tun, und dass die aktuell „dringende Noth“ den Kaiser zwang, den entlassenen Feldherrn zurückzurufen.94 Die Gründe, die für Wallensteins zweites Generalat sprachen, sind bei beiden Historiographen dieselben. Ganz anders ist hingegen die Fokalisierung dieser Gründe. Schmidt präsentiert sie als Gesichtspunkte, die am Wiener Hof erwogen werden, ohne sie bestimmten Figuren als Gedanken oder Argumente zuzuordnen. Schiller hingegen notiert sie (genauer: die ersten drei) als Bewusstseinsinhalte des Kaisers. Nun ließ sich, wie wir sahen, eine solche Introspektion bereits im späten 18. Jahrhundert als methodisch bedenklich kritisieren oder als bloß rhetorischer Trick abtun, der veralteten Mustern politischer Charakterologie folge. Bei Schiller indes hat sie durchaus zeitgemäße Funktionen, denn sie dient der Konfiguration einer Geschichte (der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges) und darüber hinaus der Darstellung von Geschichte (als solcher): Den Kaiser als jemanden darzustellen, der seine Handlungsmöglichkeiten kalkuliert, bedeutet, ihn allererst zum Mitspieler im politischen Interessengeflecht zu machen. Erst dadurch wird es möglich, das Verhältnis zwischen Ferdinand II. und dem anschließend ebenfalls introspektiv dargestellten Wallenstein als prinzipiell ergebnisoffene Konkurrenz um die Macht zu begreifen. Schillers Hauptquelle Schmidt hatte dagegen den Kaiser gleichsam aus dem politischen Getriebe herausgenommen; auf den Satz, aus dem eben 94

Alle Zitate sowohl in der zitierten Schiller-Passage als auch bei Michael Ignaz Schmidt, Geschichte der Deutschen, Bd. 10: Ferdinand II. und Ferdinand III. Vom Jahr 1630 bis 1648, Frankenthal 1791, S. 86. Der ganze Satz lautet hier: „Die Erinnerung, mit welcher Schnelligkeit er [Wallenstein] das Nähmliche [die Aufstellung einer kaiserlichen Armee] vor sechs Jahren verrichtet, was er für Zutrauen von Officieren und Gemeinen, welche Kriegserfahrung, welches Ansehen, und selbst welche Reichthümer er besitze, ließen keinen Zweifel übrig, daß er nicht das schicklichste Werkzeug dazu sey.“

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zitiert wurde, folgt dort: „Ferdinand, von Natur zur Güte gestimmt, und ohne Ahnung einer Rache, wie sie ein Wallenstein ausüben konnte, war leicht zu bewegen.“95 Der Unterschied, der dadurch entsteht, dass Schiller sowohl den Kaiser als auch Wallenstein als Politiker darstellt, ist zunächst dramaturgischer Art, denn Strategiekalküle auf beiden Seiten ermöglichen die Konstruktion einer komplexeren Handlung, als wenn einer der verschlagene Schurke und der andere das ahnungslose Opfer ist. Man mag hier einwenden, dass es eben so ja gewesen sein könnte und dass die Konstruktion einer komplexeren Handlung dann kein Gewinn für die Erkenntnis der Geschichte sei. In Schmidts Text ist die Nichtanwendung des politischen Figurenwissens auf den Kaiser offenkundig allerdings anders motiviert, nämlich durch Rücksicht auf den Dienst- und Landesherrn, dessen Ahn mit einem am Ende rebellischen General nicht auf eine Stufe gestellt werden darf. Die anderen Historiographen, auf die Schiller sich hier stützt, schreiben ebenfalls mehr oder weniger stark parteilich, mit derselben Folge, dass sie die Akteure durchaus ungleichmäßig der politischen Analyse verborgener Absichten und langfristiger Intrigen aussetzen. Die Folge sind Geschichtsdarstellungen, in denen einzelne große Akteure das Geschehen steuern, entweder weil sie die geschicktesten Politici sind (wie Wallenstein in der anonym erschienenen Geschichte des Dreyßigjährigen Krieges) oder weil der ‚Held‘ Dissimulation und Intrigen gar nicht nötig hat (so Gustav Adolph bei Mauvillon96). Mit einem modernen Begriff von Geschichte – als allen Handlungsintentionen (‚Geschäften‘) übergeordnetem, eigendynamischem Prozess – lassen sich solche Akteure nicht vereinbaren. Damit aber handelt es sich nicht allein um eine Frage des gewählten Plots, sondern ebenso um eine Frage der Geschichtsauffassung: ‚Geschichte‘ erscheint nur dort, wo ein Geflecht von sich überkreuzenden Absichten, Aktionen und Reaktionen dargestellt wird, das sich von niemandem beherrschen lässt. In diesem Sinne Geschichte vorzuführen, ist einige Jahre später dann der epochal bedeutsame Effekt der hochkomplexen Handlungsstruktur des Wallenstein. Das Prinzip ist indes schon in Schillers Historiographie vorgebildet (und ansatzweise üb-

95 96

Ebd. Vgl. Mauvillon, Éléazar de, Geschichte Gustav Adolphs, Königs von Schweden. Aus den Arkenholzischen Handschriften und den vornehmsten Geschichtschreibern, [Friedrich Gotthilf Rambach (Übers.),] Bd. 1–2, Breslau 1776–1777. Bei Schiller hingegen führt die offene Parteinahme für Gustav Adolph nicht dazu, dass er auf eine Darstellung unter den Kategorien des politischen Wissens verzichtet, auch wenn dies im Vergleich zumal mit Wallenstein zurückgenommen erscheint, vgl. NA 18, S. 280, Z. 25–28, oder S. 185, Z. 19–23.

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rigens schon in der Verschwörung [ ! ] des Fiesko zu Genua). Etwas zugespitzt könnte man von einer Geburt der Geschichte aus dem Geist der Intrige sprechen.

VIII. Geschichte jenseits des politischen Figurenwissens Allerdings gelangt Schillers Geschichtsschreibung nicht allein auf diesem Wege über das personalistisch-interaktionistische Geschichtsbild der auf dem politischen Figurenwissen basierenden frühneuzeitlichen Historie hinaus: Dass das „Spiel des politischen Uhrwerks“ immer wieder gehemmt „und alle Berechnungen der menschlichen Klugheit vereitelt“ werden (S. 280, Z. 2–4), liegt zunächst wohl daran, dass kein Akteur alles vorhersehen und vorausplanen kann. Für Schiller lässt sich der Geschichtsverlauf aber auch von einem übergeordneten Beobachterstandpunkt aus, also vom zurückblickenden Historiker, nicht vollständig als Aktion und Gegenaktion erklären. Das wiederum stellt für ihn keinen Mangel der Geschichte (als Prozess wie auch als Erzählung) dar, sondern gilt ihm ganz im Gegenteil als entscheidend für deren Sinnermittlungs- und Sinnvermittlungspotential. So kommentiert er den Tod Gustav Adolphs in der Schlacht bei Lützen wie folgt: Die Geschichte, so oft nur auf das freudenlose Geschäft eingeschränkt, das einförmige Spiel der menschlichen Leidenschaft aus einander zu legen, sieht sich zuweilen durch Erscheinungen belohnt, die gleich einem kühnen Griff aus den Wolken in das berechnete Uhrwerk der menschlichen Unternehmungen fallen, und den nachdenkenden Geist auf eine höhere Ordnung verweisen. (S. 279, Z. 23–28)

Denn dass den Führer der Protestanten der Schlachtentod ereilte, sei ein „so unerwarteter Zufall“, dass die „Vernunft“ nach einem „höheren“ Sinn darin suche (S. 279, Z. 35f., 38). Schiller findet ihn darin, dass sein plötzlicher Tod den Schwedenkönig davor bewahrt habe, vom „Wohlthäter Deutschlands“ zum Tyrannen zu mutieren (S. 280, Z. 13). Wäre er weiter siegreich geblieben, so hätte er sich vom „Beschützer“ der deutschen „Freyheit“ in deren Unterdrücker verwandelt (S. 280, Z. 18 u. 15). Bezeichnenderweise hat der gesamte Absatz keinerlei Vorbild in den von Schiller genutzten Quellen. Die zitierten Überlegungen gehen über die Perspektiven des politischen Wissens entschieden hinaus, denn sie beziehen sich auf ein Prinzip (die Freiheit), das die Handlungsmotivationen der Akteure (ihre „Leidenschaft“) ebenso wie ihre Pläne und Intrigen („das berechnete Uhrwerk der menschlichen Unternehmungen“) übersteigt, und zwar doppelt: ethisch und historisch. „Die ganze Weltgeschichte ist ein ewig wie-

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derholter Kampf der Herrschsucht und Freiheit“ um gesetzliche Rechte des Bürgers, heißt es im Abfall der vereinigten Niederlande (NA 17, S. 39, Z. 21f.). Das ist die Perspektive des Historikers, nicht der historischen Akteure; sie legt einen Leitfaden durch die ‚Geschichte‘, nicht durch die ‚Geschäfte‘. Für das Figurenwissen des Politicus bedeutet dies, dass es nicht ausreicht, um die universalgeschichtliche Weite in den Blick zu bekommen, die der kurz vor Schiller etablierte ‚Kollektivsingular Geschichte‘ impliziert: So hilfreich es ist bei der Konstellation der Hauptakteure sowie der Bildung mehr oder weniger langer Handlungsketten, so sehr bleibt es an die Reichweite persönlicher Absichten und Pläne gebunden. Wie eben gezeigt, gelingt es Schiller zwar, das politische Figurenwissen so einzusetzen, dass es nicht nur die Geschäfte der Akteure strukturiert, sondern eine Geschichte erzeugt, die alle Geschäfte übersteigt. Doch lässt sich mit ihm diese transpersonale Geschichte nicht ihrerseits strukturieren und deuten. In der modernen Historiographie vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart konnte es deshalb keine maßgebliche Rolle spielen. Statt sich primär auf ein Wissen über den einzelnen Menschen zu stützen, verlagerte sich das historiographische Hauptinteresse nun auf überpersönliche Geschichtsmächte. Diese würden heute z. B. als systemische Prozesse angesprochen; die Historiker im Jahrhundert nach Schiller sprachen von ‚Ideen‘. Schiller steht am Übergang zu diesem neuen Paradigma, und man kann beobachten, wie er das alte zur höchsten Leistungsfähigkeit treibt, ohne sich damit zufrieden zu geben, so dass das neue schon als Bedarf und im Umriss erscheint. Hier wie auch in anderen Bereichen (der ästhetischen Theorie, der Tragödie) ist es seine besondere Leistung, im Rückgriff auf genuine Wissensbestände der Frühen Neuzeit in die Moderne überzuleiten.

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Martínez, Matías/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 3. Aufl., München 2002. Muhlack, Ulrich, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Humanismus, München 1991. Munslow, Alun, Narrative and History, Basingstoke, New York 2007. Osterkamp, Ernst, „Die Seele des historischen Subjekts. Historische Portraitkunst in Schillers Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung“, in: Otto Dann/Norbert Oellers/Ernst Osterkamp (Hrsg.), Schiller als Historiker, Stuttgart, Weimar 1995, S. 157–178. Prüfer, Thomas, Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft, Köln, Weimar, Wien 2002. Pujo, Pauline, ‚Die Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung‘ von Friedrich Schiller und ihre Quellen, Mémoire de Master 1, Université ParisSorbonne-Paris-IV, U.F.R. d’Études Germaniques / École Normale Superieure 2007–2008 [unveröff.]. Sawilla, Jan Marco, „ ‚Geschichte‘: Ein Produkt der deutschen Aufklärung? Eine Kritik an Reinhart Kosellecks Begriff des ‚Kollektivsingulars Geschichte‘ “, in: Zeitschrift für historische Forschung, 31/2004, S. 381–428. Schneider, Ralf, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans, Tübingen 2000. Sharpe, Leslie, Schiller and the Historical Character. Presentation and Interpretation in the Historiographical Works and in the Historical Dramas, Oxford 1982. Stanitzek, Georg, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen 1989. Stiening, Gideon, „Am ‚Ungrund‘ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ‚Poetologien des Wissens‘ “, in: KulturPoetik, 7/2007, 2, S. 234–248. Süßmann, Johannes, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824), Stuttgart 2000. Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, 2 Bde., Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer (Hrsg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1990. Till, Dietmar, „Politicus“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Red. Gregor Kalivoda u. a., Bd. 1–9, Darmstadt 1992–2009, Bd. 6, Sp. 1423–1445. Voßkamp, Wilhelm, Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973. Zwink, Christian, Imagination und Repräsentation. Die theoretische Formierung der Historiographie im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert in Frankreich, Tübingen 2006.

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Johannes Süßmann

Johannes Süßmann (Paderborn)

Charakterisieren Dilemma und Kunst der historiographischen Figurenzeichnung

Wer danach fragt, welches Wissen durch die Figuren in historiographischen Texten vermittelt wird (so ist das suggestive Thema des Sammelbandes hier aufgefasst), verwickelt sich in ein Sprachproblem. Denn das Wissen in historiographischen Texten ist heute eine Sache zuerst der Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftler. Sie aber sprechen nicht von „Figuren“, wenn sie über das Wissen in ihren Texten sprechen.1 Vielmehr reden sie von historischen „Personen“ und streiten darüber, was sich wissenschaftlich über solche Personen aussagen lässt. Das heißt, die Themenstellung dieses Bandes (und daher auch die des vorliegenden Beitrags) ist in einer literaturwissenschaftlichen Terminologie formuliert, die bei vielen Historikerinnen und Historikern Unbehagen auslösen dürfte. Selbst wenn sie den Begriff der „Figuren“ nicht von vorneherein als unangemessen zurückweisen, würden sie doch darauf beharren, dass er einer Außensicht entstammt, die das historiographische Wissen zu verfehlen droht, weil sie es als literarisches Problem fasst statt als Erkenntnisproblem. Auf der anderen Seite empfinden viele Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler das Beharren der Historiker auf einer geschichtstheoretisch-methodischen Herleitung des Wissens in historiographischen Texten als Ausflucht.2 Stellen die Historiker sich damit nicht blind für die literarische Eigengesetzlichkeit der Texte, aus denen sie ihr Wissen beziehen und in denen sie selbst es formulieren? Tun sie damit nicht so, als wäre historisches Wissen ablösbar von der Sprache und Textualität, in der man es kommuniziert? Von literaturwissenschaftlicher Seite wird Historikerinnen und Historikern schnell Positivismus unterstellt. Dann scheint es, als wären die Sprache der Literaturtheorie und die Sprache der Geschichtstheorie nicht 1

2

Das lässt sich z. B. an den Einführungen in das geschichtswissenschaftliche Arbeiten zeigen, wie sie im Gefolge von Droysens Historik und in Auseinandersetzung mit ihr entstanden sind und weiterhin entstehen. Von „Figuren“ ist dort nirgendwo die Rede. Vgl. dazu Süßmann, Johannes, „Quellen zitieren. Zur Epistemik und Ethik geschichtswissenschaftlicher Textproduktion“, in: Joachim Jacob/Mathias Mayer (Hrsg.), Im Namen des anderen. Die Ethik des Zitierens, Paderborn 2010, S. 125–139.

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ineinander übersetzbar, als redete – allen Berufungen auf den linguistic turn zum Trotz –, wer diese Sprachen spricht, unweigerlich aneinander vorbei. Der folgende Beitrag reagiert auf dieses Sprachproblem, indem das Thema darin sowohl literaturtheoretisch als auch geschichtstheoretisch analysiert werden soll. Da dies in einem literaturwissenschaftlichen Rahmen geschieht, wird im ersten Teil zunächst ein literaturwissenschaftlicher Problemaufriss gegeben, um dann im zweiten Teil zu fragen, wie dieser sich in den Kategorien der Geschichtstheorie darstellt. Im dritten Teil soll mit Leopold Rankes Porträt Ludwigs XIV. ein konkretes Beispiel zur Diskussion gestellt werden.

I. Im Gegensatz zu vielen anderen Textsorten fand die Historiographie von Anfang an Beachtung, wenn Literaturtheoretiker über das Verhältnis von Texten und Wissen nachdachten. Aristoteles etwa – um mit dem wirkmächtigsten aller Poetologen zu beginnen – hat das Verhältnis der Dichtung zum Wissen bekanntlich dadurch profiliert, dass er es von dem Verhältnis der Geschichtsschreibung zum Wissen absetzt; dieser Gegenüberstellung ist das folgenreiche Kapitel IX der Poetik gewidmet. Der Historiker wird darin als jemand gekennzeichnet, der „darstellt, was geschehen ist“, im Gegensatz zum Dichter, der darstellt, „was geschehen müsste“.3 In komprimierter Form ist damit mehreres zugleich gesagt. Erstens wird vorausgesetzt, dass Geschichtsschreibung und Dichtung gleichermaßen von Geschehen handeln. Beide stellen Handlungen dar. Daraus kann man schließen, dass Aristoteles hier nur diejenigen Arten von Dichtung im Auge hat, für die das zutrifft; explizit nennt er die Tragödie, die Komödie und das Epos. Zweitens unterscheidet er zwischen verschiedenen Arten von Handlungen. Mit dem, „was geschehen ist“, meint er offenbar tatsächlich Geschehenes, also Handlungen, die wirklich stattgefunden haben und inzwischen abgeschlossen sind (die Vorzeitigkeit ist wichtig). Solche Handlungen darzustellen wird zum bestimmenden Merkmal der Historiographie erhoben. Für die Frage nach dem Verhältnis von Geschichtsschreibung und Wis3

Aristoteles, „Poetik“, übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt, in: Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach. Herausgegeben von Hellmut Flashar, Bd. 5, Berlin 2008, S. 1–41, hier S. 14. Die folgenden Zitate im Text entstammen dieser Übersetzung, Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

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sen ergibt sich daraus drittens, dass Aristoteles der Historie per definitionem die Aufgabe zuschreibt, Wissen zu transportieren. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Art von Wissen, nämlich um empirisches Wissen. Bezogen auf die Texte, die Historikerinnen und Historiker schreiben, können wir also sagen: Sie sind für Aristoteles der Inbegriff einer auf außertextliche Sachverhalte bezogenen Aussageform. Als solche blieben sie fortan in der Literaturtheorie präsent. Die Geschichtsschreibung stellt darin also das Musterbeispiel eines referentiellen Diskurses dar. Welche Implikationen dies hat, wird klarer, wenn man sich ansieht, welche Arten von Handlungen nach Aristoteles in der Dichtung dargestellt werden. Mit dem, „was geschehen müsste“, ist, wie er zuvor erläutert hat, eine Handlung gemeint, die wahrscheinlich oder notwendig ist, soll heißen: die einer inneren Verlaufsgesetzlichkeit folgt. Die Dichtung nämlich stellt eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar. ‚Etwas Allgemeines‘ aber meint, dass es einem bestimmten Charakter mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zukommt, Bestimmtes zu sagen oder zu tun. Dieses versucht | die Dichtung darzustellen, die Namen werden dazugesetzt; ‚Einzelnes‘ meint: das, was Alkibiades getan und was er erlitten hat. (S. 14)

Eigengesetzlich, so erfahren wir hier, ist eine Handlung, wenn sie „einem bestimmten Charakter mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zukommt“, mit anderen Worten: wenn sie einer Figur nach deren Anlage und Eigenschaft entspricht; wenn sie aus dieser Figur konsequent und stimmig hervorgeht; wenn diese Figur sich in der Handlung verwirklicht.4 Der Gegensatz dazu ist, was Aristoteles hier „Einzelnes“ nennt und der Geschichtsschreibung zuweist: Handlungen, die jenes inneren Zusammenhangs entbehren.5 Auch sie werden an einem Charakter festgemacht, aber bezogen auf sie spricht Aristoteles nicht mehr nur vom Tun, sondern auch vom Erleiden. Damit sind offenbar Einwirkungen von außen gemeint, auf die der Charakter keinen Einfluss hat und die sein Tun durchkreuzen. Vor allem aber wählt Aristoteles mit Alkibiades ein Beispiel, das nach der katastrophalen Politik, die dieser zu verantworten hatte, und ihrer Darstellung bei Thukydides als Inbegriff eines unsteten und unzuverlässigen Charakters galt. Daraus lässt sich folgern, dass Geschichtsschreibung und Dichtung hier nicht nur abgegrenzt, sondern auch hierarchisiert werden. Als referentieller 4

5

Vgl. Schmitt, Arbogast, „Erläuterungen“, in: Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 5, S. 43–128, hier S. 105–119. Zum Folgenden genauer Schmitt, Arbogast, „Kommentar zu Kapitel 9“, in: Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 5, S. 372–426, besonders S. 377, 385, 387f.

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Diskurs vermittelt die Geschichtsschreibung Wissen, aber nur empirisches Einzelwissen. Als autoreferentieller Diskurs vermittelt die Dichtung Erkenntnis, nämlich Einsicht in den notwendigen Zusammenhang von Charakteranlagen und ihrer Verwirklichung im Tun. Als Speicher von Tatsachenwissen verharrt die Geschichtsschreibung auf dem unteren Rang, der dem empirischen Wissen in den Erkenntnistheorien der griechischen Philosophen zukommt.6 Als Produzent von Erkenntnis in notwendige Zusammenhänge, also in Gesetzmäßigkeiten, hat die Dichtung teil an dem obersten Rang dieser Wissensform. In Aristoteles’ Worten: „Deshalb ist die Dichtung auch bedeutender und philosophischer als die Geschichtsschreibung.“ (Ebd.) Wenn wir von diesen Bestimmungen ausgehen, besteht das Wissen, das durch Figuren in historiographischen Texten vermittelt wird, primär aus dem Verweis auf außertextlich-reale, wenngleich vergangene Tatbestände. Etwas als ein Geschichtswerk zu lesen, enthielte entsprechend die Anweisung, Personennamen, die darin auftauchen, so zu verstehen, dass es Menschen dieses Namens in Wirklichkeit gegeben hat; Handlungen, die ihnen zugeschrieben werden, für etwas zu halten, das tatsächlich stattgefunden hat; Begebenheiten, mit denen sie konfrontiert werden, als erlittenes Schicksal anzusehen. Geschichtsschreibung ist nach diesem Verständnis Faktographie: ein Tatsachenbericht, in dem die Personennamen als Zurechnungsinstanzen für das dargestellte Geschehen fungieren. Das ist der Grund, warum viele Historikerinnen und Historiker nicht von Figuren sprechen würden. Für sie handelt es sich um reale Personen. Wozu ist solches Tatsachenwissen gut? Die Literaturtheoretiker im Gefolge des Aristoteles haben darauf die Antwort gegeben: Es erfüllt einen praktischen Zweck. „Zeugin der Zeitläufte, Licht der Wahrheit, lebendiges Gedenken, Lehrmeisterin des Lebens, Botschafterin der Alten“ ist die Geschichtsschreibung nach Cicero.7 „Zeugin der Zeitläufte“ heißt, sie bewahrt das Geschehene; „lebendiges Gedenken“ heißt, sie dient der Erinnerung der Nachwelt, wird also bei der Erziehung gebraucht, um den Nachwachsenden zu erklären, woher etwas kommt; „Lehrmeisterin des Lebens“ heißt, sie liefert den höheren Wissenschaften und Künsten Material. Rednern und Phi-

6

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Dazu ausführlicher Muhlack, Ulrich, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, S. 67f. „[…] testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis […]“. Cicero, Marcus Tullius, De oratore / Über den Redner. Lateinisch – deutsch. Hg. und übersetzt von Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007, S. 144 (II, 36) (Übersetzung von mir, J.S.).

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losophen verschafft sie Beispiele, Rechtsgelehrten hilft sie bei der Auslegung der Gesetze, Theologen stellt sie Hintergrundwissen für die Auslegung heiliger Texte zur Verfügung. „Botschafterin der Alten“ heißt, sie stiftet Tradition. Entscheidend ist: In alledem hat die Geschichtsschreibung dienende Funktion. Das Wissen, das sie bietet, praktisch zu verstehen, heißt, ihm eine untergeordnete Stellung zuzuweisen. Als Einzelwissen ist es per definitionem nicht theoriefähig, nur als Hilfsmittel oder Illustration außergeschichtlicher Erkenntnis erfüllt es seinen Zweck. Der Geringschätzung des historiographischen Wissens entspricht also, dass die Geschichtsschreibung in dem System der Wissenschaften und Künste, wie es sich in Antike und Mittelalter ausgebildet hat, lediglich als Hilfswissenschaft anderer Disziplinen erscheint.8 Mit Hilfe des geschichtlichen Wissens wurde Erkenntnis illustriert, die ihm vorauslag und die für über- oder außergeschichtlich galt. Auf diese Art wuchs den Figuren in Geschichtswerken eine zweite Art von Wissen zu. Sie konnten als Illustrationen höherer Einsicht dienen: als Exempla.9 Die Handlung, die ihnen zugeschrieben wurde, erschien dann als Beispiel: sei es für anthropologisches Wissen (die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur), sei es für moralisches (die Folgen von Tugenden oder Lastern), sei es für theologisches (das Walten Gottes in der Welt). Aller Verworrenheit zum Trotz erlangten die Geschehensverläufe in den Geschichtswerken damit doch noch innere Konsequenz und Stimmigkeit. Allerdings stammte diese Einheit nach Meinung der meisten Literaturtheoretiker nicht aus dem Geschehenen selbst, sondern wurde ihm durch die Beziehung auf die überzeitlichen Wahrheiten erst durch nachträgliche Deutung zugeschrieben.10 Das heißt, es handelte sich durchaus um eine geliehene, von den höheren Wissenschaften nur geborgte Einheit, zu der die Historie als magistra vitae und Exemplum fand. Wenn man die erstgenannte Bestimmung der Historie über ihren Gegenstandsbezug als referentielle Funktion bezeichnet, die zuletzt genannte über 8 9

10

Dazu Muhlack, Geschichtswissenschaft, S. 55–63. Vgl. Koselleck, Reinhart, „Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“, in: Hermann Braun/Manfred Riedel (Hrsg.), Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1967, S. 196–219. Wieder in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt amMain 1979, S. 38–66, und Muhlack, Geschichtswissenschaft, S. 44–55. Dazu Völkel, Markus, ‚Pyrrhonismus historicus‘ und ‚fides historica‘. Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis, Frankfurt am Main u. a. 1987.

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ihre praktische Verwendung als pragmatische, dann hat man die beiden Dimensionen beieinander, in denen das Wissen, das man an den Figuren in der Geschichtsschreibung festmachte, von der klassischen Literaturtheorie diskutiert wurde. Sie sind darin, könnte man sagen, doppelt kodiert. Diese doppelte Kodierung wurde von vielen Literaturtheoretikern als Konflikt empfunden, ja sogar als Dilemma der Geschichtsschreibung. Die Stilisierung eines Geschehens zum Exemplum mochte es interessant erscheinen lassen, sie drohte aber stets die faktographische Richtigkeit zu überlagern und damit in Zweifel zu ziehen.11 Daher war unter den Verfassern der vielen Traktate, „wie man Geschichte schreiben soll“, umstritten, ob die Geschichtsschreiber die Deutung bereits selbst vornehmen oder nicht doch besser anderen überlassen sollten: den Rednern und Philosophen z. B. oder den Dichtern, die aus den historischen Stoffen ihre Stücke formten. Die meisten Literaturtheoretiker gaben in diesem Konflikt der Faktentreue den Vorzug, forderten, die Geschichtsschreibung solle ein getreuer Spiegel des wirklich Geschehenen sein, in seiner ganzen Zufälligkeit und Durchkreuztheit; entsprechend habe sie sich allen rhetorischen Aufputzes zu enthalten, ebenso aller expliziten Deutungen und Belehrungen. Diese wurde anderen Textsorten vorbehalten, was der Historie die Glaubwürdigkeit sichern sollte, aber immer auch ihre Unterordnung zementierte.

II. Entwickelt in der Antike und bereits damals zum festen Bestandteil der Rhetorik gemacht, wurde dieses literaturtheoretische Modell der Geschichtsschreibung mit der Rhetorik ins Mittelalter weitergereicht, dort an den Universitäten und anschließend im Schulunterricht verankert, bis weit in die Neuzeit tradiert. Wer nachliest, was Rousseau im Emile über den Bildungswert der Geschichtsschreibung sagt,12 findet es noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts intakt. Allerdings ergaben sich daran im Verlauf der Neuzeit zunehmend Komplikationen. Sie erwuchsen daraus, dass die Literaturtheoretiker beim Nachdenken über die Geschichtsschreibung Konkurrenz bekamen.

11 12

Für Beispiele vgl. ebd. Rousseau, Jean-Jacques, „Emile“, in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4. Education – Morale – Botanique. Edition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris 1969, S. 526–537.

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Man muss sich die Standortgebundenheit des Modells klarmachen.13 Keiner der Literaturtheoretiker, die es entwickelten: weder Aristoteles oder Cicero noch Lukian oder Quintilian, hat selbst historiographische Werke verfasst. Ihre Profession war die Rhetorik, die meisten arbeiteten als Lehrer. Auch ging es ihnen nicht um Geschichtsschreibung als solche, vielmehr diente ihnen diese, wie wir bei Aristoteles sahen, entweder zur Profilierung der Dichtung, oder sie wurde als eine der paradigmatischen Aussageweisen im System der Rhetorik analysiert. Das heißt, die rhetorische Theorie der Geschichtsschreibung stellte in der Tat eine Außensicht dar, die mit der historiographischen Praxis kaum etwas zu tun hatte. Geschrieben wurde Geschichte in der Vormoderne nicht von Rhetoriklehrern, auch nicht von anderen Gelehrten an den Schulen, sondern von den Politikern, die selbst Geschichte machten. Ob man Herodot nimmt, Thukydides und Polybios oder Sallust, Caesar und Tacitus, stets waren es Staatsmänner, Feldherrn und Magistrate, von denen die maßgeblichen Geschichtswerke stammen. Im Mittelalter setzte sich das mit Gregor von Tours über Einhard und Otto von Freising fort; in der Neuzeit sind Machiavelli und Friedrich II. von Preußen die bekanntesten Beispiele. Als „Schule der Prinzen“ wird sie von letzterem gekennzeichnet.14 Diese Politiker thematisierten Ereignisse, die sie selbst miterlebt hatten, epochemachende Umbrüche, die vorher niemand sich hatte vorstellen können, Neubestimmungen ihrer Welt, die sie sich politisch, und das hieß: historisch-immanent zu erklären versuchten: die Perserkriege im Falle Herodots, den Peloponnesischen Krieg im Falle des Thukyides, den Sieg Roms über die Diadochenreiche im Falle des Polybios usw. Was irgendwelche Rhetoriker an den Schulen über die Geschichtsschreibung lehrten, kümmerte diese Aristokraten so wenig, dass sie sich weder daran hielten noch sich explizit damit auseinandersetzten. Lediglich in Vorreden, Einleitungen oder Methodenkapiteln ihrer Geschichtswerke nahmen sie zu ihrem Vorgehen Stellung. Das ist der Grund, warum wir aus der rhetorischen Theorie, wie man Geschichte schreiben soll, kaum etwas über das tatsächliche Vorgehen der vormodernen Historiker erfahren. 13

14

Zum Folgenden s. Süßmann, Johannes, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824), Stuttgart 2000, S. 42–44. „L’histoire est l’école des princes: c’est à eux de s’instruire des fautes des siècles passés, pour les éviter, et pour apprendre qu’il faut se former un système, et le suivre pied à pied […].“ Friedrich II. von Preußen, „Histoire de mon temps“, 2 Bde., in: Œuvres de Frédéric le Grand. Johann David Erdmann Preuß (Hrsg.), Bde. 2+3, Berlin 1846, hier: Bd. 1, S. XXIV der Ausgabe in Folio (= S. XXXII der Ausgabe in Oktav).

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Theorie und Praxis der vormodernen Geschichtsschreibung stammten nicht nur von verschiedenen Personengruppen, sie gehörten verschiedenen Welten an, dienten verschiedenen Zwecken, richteten sich an verschiedene Adressaten. Dieses Nebeneinander von politischer Zeitgeschichtsschreibung und rhetorischer Theoriebildung hatte einen praktischen Grund: In Gesellschaften von ständisch beschränkten Informationsmöglichkeiten konnten nur Magistrate das nötige Eingeweihtenwissen erlangen, um sachkundige Geschichtswerke zu verfassen; Lehrern waren die Wege dazu verbaut. Selbst den Mitgliedern der verantwortlichen Eliten stand wegen der geringen Schriftlichkeit nur ein kleines Zeitfenster offen, um Vorgänge, die sie nicht selbst miterlebt hatten, zu rekonstruieren: nämlich nur so lange, wie sie andere Augenzeugen darüber befragen konnten, also etwa sechzig Jahre. Deshalb war die politische Historiographie der Vormoderne im Kern immer eine Darstellung der jüngstvergangenen Geschichte oder lief doch auf diese zu. Ihr Erkenntnisprinzip war die Autopsie: der Bericht des selbsterlebten Geschehens, erweitert um die Berichte oder Aufzeichnungen anderer Teilnehmer und Augenzeugen. Was auf dieser Grundlage dargestellt wurde, erlangte den Status einer Quelle, die von den Nachgeborenen nur noch kanonisiert, kommentiert und kompiliert, aber nicht mehr hintergangen werden konnte. Diese Kanonisierung und sekundäre Bearbeitung erfolgte an den Schulen. Das Nebeneinander funktionierte so lange, bis eine dritte Gruppe entstand, die sich einmischte – das waren die geschichtskundigen Gelehrten. Mit den Humanisten tritt dieser Typus uns voll entwickelt gegenüber.15 Die Humanisten kamen von der Rhetorik her, viele verdienten ihr Brot als Rhetoriklehrer, zugleich hatten sie jedoch ein inhaltliches Interesse an einer bestimmten Geschichtsepoche, bildete die Orientierung an der Antike ihr Ziel und Movens. Anders als die politischen Geschichtsschreiber fanden die Humanisten sich von ihrem historischen Gegenstand gleich dreifach getrennt: Die Antike war untergegangen und konnte nicht mehr aus dem eigenen Erleben oder der Befragung anderer Augenzeugen rekonstruiert werden, sondern nur noch indirekt durch die Analyse von schriftlichen oder archäologischen Zeugnissen. Diese Zeugnisse erwiesen sich durch die mittelalterliche Überlieferung als verschüttet, entstellt und verderbt; sie mussten allererst 15

Zum Folgenden Walther, Gerrit, „[Art.] Humanismus“, in: Enzyklopädie der Neuzeit. Friedrich Jaeger (Hrsg.), Bd. 5, Stuttgart, Weimar 2007, Sp. 665–692, hier Sp. 670–675; Muhlack, Geschichtswissenschaft, S. 351–353 und S. 397–400, jeweils mit weiterer Literatur.

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wiederaufgefunden und durch gelehrte Tätigkeit gereinigt werden. Der Rangunterschied zwischen den politischen Praktikern und den Gelehrten bestand fort, aber die Humanisten entwickelten eine Vorstellung von Geistesaristokratie, in der erst die durch Gelehrsamkeit vermittelte Orientierung an der Antike zum rechten politischen Handeln in der Gegenwart befähigte. Aus diesem Neuansatz entstand, ausgehend vom Humanismus, eine gelehrte Geschichtskunde, die das rhetorische Modell der Geschichtsschreibung modifizierte. Zum einen bezogen die gelehrten Geschichtswerke der Neuzeit sich nicht auf ein selbsterlebtes oder von anderen Augenzeugen erfragtes geschichtliches Geschehen, sondern auf die Zeugnisse, denen man Auskunft über dieses Geschehen verdankte. Damit entstand eine neue Art von historiographischer Referenz: Nicht mehr die Fakten, sondern andere Texte oder Zeugnisse, die von den Fakten kündeten, wurden zum Gegenstand der Geschichtswerke. Zum andern rechtfertigte die Darstellung in den gelehrten Geschichtswerken sich nicht mehr mit der Vorbildfunktion einer einzelnen Handlung, vielmehr galt den Humanisten die gesamte Antike als vorbildlich, wurde den Antiquaren das gelehrte Wissen über die Antike zum Selbstzweck.16 Damit entstand eine neue Art von historiographischer Darstellung: Nicht mehr einzelne Exempla, sondern das enzyklopädische Ausbreiten aller möglichen Früchte des Gelehrtenwissens wurde zum Darstellungsprinzip der Geschichtswerke. Auch blieben diese Erweiterungen nicht auf die Antike beschränkt: Angeregt von den Konfessionskämpfen, übertrugen die Theologen des konfessionellen Zeitalters sie auf die Kirchengeschichte, angeregt von den Auseinandersetzungen zwischen den Ständen und den Fürsten, übertrugen die Juristen sie auf die Rechts- und Verfassungsgeschichte. In all diesen Bereichen entwickelte sich in der Frühen Neuzeit eine gelehrte Geschichtskunde, die neben die politische Historiographie und die rhetorische Theoriebildung trat, sie immer häufiger kritisierte und revidierte, sie ergänzte und die Lücken in ihr auffüllte, ihnen mit immer größerem Selbstbewusstsein begegnete – nur zu ersetzen vermochte sie sie nicht. Das lag an den Grenzen, die der gelehrten Geschichtskunde bis in die Aufklärung gesetzt blieben. Auch die aus Zeugnissen gewonnenen Fakten galten als Abbilder des historischen Geschehens; dadurch blieb die gelehrte 16

Vgl. Momigliano, Arnaldo, „Ancient History and the Antiquarian“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 13/1950, S. 285–315. Deutsch u.d.T.: „Alte Geschichte und antiquarische Forschung“, in: Ders., Wege in die Alte Welt, übersetzt von Horst Günther, mit einer Einführung von Karl Christ, Frankfurt am Main 1995, S. 111–160.

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Geschichtskunde Faktographie. Auch das durch gelehrte Kritik gewonnene Faktenwissen blieb dem Offenbarungswissen der Theologen, dem Naturrecht der Juristen oder der Vernunft der Philosophen untergeordnet und war lediglich zu praktischen Zwecken zu gebrauchen; dadurch blieben die gelehrten Geschichtswerke pragmatische Hilfsmittel im konfessionellen, politischen oder intellektuellen Kampf. Die kopernikanische Wende kam erst mit der radikalen Historisierung allen Denkens und Wissens in der Zeit um 1800.17 Die Erfahrung der Französischen Revolution, die durch die Revolutionskriege und Napoleon ganz Europa erfasste, bewirkte eine Verzeitlichung auch jener Vernunft, die bis dahin für zeitlos, der Geschichte enthoben, dem empirischen Geschichtswissen übergeordnet gegolten hatte. Auch die Vernunft rutschte auf einmal in die Geschichte wie die Offenbarung, das Recht, die Moral. All dies erschien nun selbst geschichtlich, Teil der Geschichte, seinerseits der geschichtlichen Einsicht unterworfen, statt diese von einem überlegenen Standpunkt aus anleiten und strukturieren zu können. Damit erfuhr die Geschichte eine ungeheure Aufwertung; zugleich gewann die Beschäftigung mit ihr einen neuen Status. Unter dem Einfluss der Transzendentalphilosophie Kants und des deutschen Idealismus radikalisierten Gelehrte wie Niebuhr und Ranke ihre Beschäftigung mit der Geschichte zum Begriff der Forschung.18 Forschung hieß zum einen, dass man das geschichtliche Geschehen nicht länger als Objekt betrachtete, das man durch die Ermittlung von Fakten widerspiegeln könne; vielmehr wurde klar, dass der Historiker lediglich durch die methodisch kontrollierte Arbeit an den Zeugnissen eine Idee des Geschehenen entwickeln könne, eine Vorstellung oder ein „Gedankenbild“, wie Droysen sagen wird.19 Und dieses Gedankenbild ist keine Mimesis des Geschehenen, sondern ein Erkenntnismodell mit explanatorischer Funktion. Damit hörte die Geschichtsschreibung auf, Faktographie zu sein. Sie verwandelte sich in Erkenntnis, sie wurde zur Wissenschaft. Zugleich hat sie sich durch die Selbstverpflichtung auf Forschung von der untergeordneten, dienenden, praktischen Funktion emanzipiert, die man ihr seit der Antike zugewiesen hatte. Die neu entstandene Geschichtswissenschaft beansprucht Autonomie. Das heißt, sie beansprucht, sich die Regeln der Forschung, ihre Methode, ihre Darstellung selbst zu 17 18 19

Muhlack, Geschichtswissenschaft, S. 414–417. Dazu ausführlich Süßmann, Geschichtsschreibung, S. 199–215. Droysen, Johann Gustav, Historik. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Textausgabe von Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 9.

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setzen. Und sie beansprucht, dass auch die Erkenntnis, die sie nach dieser selbstgesetzten Methode gewinnt, keinen Vorgaben von außen mehr unterliegt, sondern Ergebnis selbstgestellter Fragen ist. Durch diese Wende, die mit dem Aufkommen der historistischen Geschichtswissenschaft gleichgesetzt werden kann, entfiel der überkommene Dualismus zwischen rhetorischer Theoriebildung und praktisch geübter Historiographie.20 Es entfiel aber auch der Gegensatz zwischen der gelehrten und der politischen Historiographie. Um ein explanatorisches Gedankenbild des Geschehenen zu entwickeln, waren die nachgeborenen Geschichtswissenschaftler mindestens ebenso kompetent wie die Augenzeugen und zeitgenössischen Politiker. Im Zeichen der Forschung wurde nicht nur das Erkenntnisprinzip der Autopsie hintergehbar, auch die historiographische Darstellung konnte eine neue Anschaulichkeit, Lebendigkeit und Einheit gewinnen, die dem bis dahin unerreichten Vorbild der politischen Historie entsprach. Für die Frage nach dem Figurenwissen heißt das erstens: Der Durchbruch des Forschungsprinzips und die Entstehung einer autonomen Geschichtswissenschaft änderte die Ordnung des Diskurses. Die Theorie der Historiographie wurde der Literaturwissenschaft abgesprochen, in die Geschichtstheorie aufgenommen und dort dem Erkenntnisprinzip unterstellt. Zweitens: Für geschichtswissenschaftliche Werke galt fortan, dass deren Referenz sich nicht auf das geschichtliche Geschehen selbst bezog, sondern auf ein methodisch entwickeltes Modell dieses Geschehens. Entsprechend besagen die Figuren, die in geschichtswissenschaftlichen Werken auftauchen, nicht, dass es dieselben als reale Personen gegeben hat, sondern dass eine Geschichtsforscherin oder ein Geschichtsforscher sich das Gewesensein dieser Personen in der dargestellten Weise vorstellt, um damit ein gestelltes Problem zu erklären. Drittens: Die Pragmatik geschichtswissenschaftlicher Werke ergab sich fortan aus ihrer Funktion als Produzenten von Erkenntnis. Für die dargestellte Handlung heißt das, ihre Einheit wird dadurch gestiftet, dass sie die Problemfrage des Werks beantwortet. Sie beruht nicht auf irgendwelchen vorfindlichen Erzählmustern, vielmehr ergeben die jeweiligen Erzählungen (falls denn erzählt wird, was in einem historiographischen Werk keineswegs notwendig so zu sein braucht) sich aus der Art der Fragestellung. Daraus folgt dann auch, welche Bedeutung einer Figur in dem entsprechenden Erzählganzen zukommt. Mit einem Begriff Friedrich Schlegels könnte man diese neue Art, die referentielle und die pragmatische Kodierung der Figuren in geschichtswissen20

Vgl. Muhlack, Geschichtswissenschaft, S. 412–435.

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schaftlichen Werken zu vermitteln, als „Charakteristik“ bezeichnen.21 Schlegel hat diesen Begriff vor allem für ein neues Genre von literaturkritischen Texten verwendet; unter seinen Fragmenten finden sich jedoch auch einige, in denen er eine neue Form von Historiographie damit umschreibt: Die wahre Historie charakterisirt die Begebenheiten, die falsche erklärt sie […].22 Auch Charakterisiren ist etwas vom Erzählen und Darstellen noch ganz verschiednes. In der Charakteristik wird man bald Einzelnes zu erzählen haben, Anekdoten, die eben charakteristisch sind; bald wird man allgemeine Resultate ziehen und Reflexionen machen.23 Die Biographie soll und will nicht bloß erzählen, sondern charakterisiren, das innerste Wesen eines außerordentlichen Geistes nach allen seinen Eigenheiten lebendig vor Augen stellen.24

Die Beispiele ließen sich mehren. Zwei Dinge zeigen sich aber schon hier: Schlegel spricht vom „Charakterisieren“ als einer Tätigkeit, die in verschiedenen Textsorten geübt werden kann: in der Biographie, der Literaturkritik und eben auch in der Historie. Was mit Charakterisieren jeweils gemeint ist, schwankt von Fragment zu Fragment. Ein Punkt allerdings zieht sich durch: Das ist die neuartige Verschränkung von Besonderem und Allgemeinem. Charakterisieren heißt für Schlegel offenbar, das Besondere einer Figur oder Handlung so darzustellen, dass es zugleich als Ergebnis von etwas Allgemei21

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Die beste Bestimmung dieses Begriffs gibt Oesterle, Günther „ ‚Kunstwerk der Kritik‘ oder ‚Vorübung zur Geschichtsschreibung‘? Form- und Funktionswandel der Charakteristik in Romantik und Vormärz“, in: Wilfried Barner (Hrsg.), Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989, Stuttgart 1990, S. 64–86. Allerdings zeigt er auch, dass die Charakteristik schon bei Schlegel zu einer „Zauberformel“ avancierte, weil sie alle möglichen unversöhnlichen Gegensätze zu vermitteln versprach (ebd., S. 74). Für den hier verfolgten Zusammenhang kommt es darauf an, dass die Charakteristik im Schlegel’schen Sinn die Empirie der Faktographie mit praktisch orientierter Deutungsarbeit verbindet. „Die Aufgabe des Charakteristikers besteht demnach darin, ein unendlich interessantes Individuum derart zu beschreiben, zu deuten, interpretierend zuzubereiten, dass an ihm die ins Universelle ausgreifenden Bezüge transparent werden.“ (Ebd., S. 75). Schlegel, Friedrich, „Philosophische Lehrjahre 1796–1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796–1828“, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bde. 18+19. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Ernst Behler, 2 Bde., München, Paderborn, Wien, Zürich 1963–1971, hier Bd. 18, S. 243, Nr. 597. Schlegel, Friedrich, „Fragmente zur Geschichte und Politik. Erster Teil“, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 20. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Ernst Behler, Paderborn 1995, S. 381, Nr. 324. Hervorhebung im Original. Schlegel, Friedrich, „[Rez. der franz. Übersetzung v. Hormayrs Österreichischem Plutarch]“, in: Österreichischer Beobachter, Beilage Nr. 19 nach Nr. 69 vom 8. 8. 1810.

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nem kenntlich wird.25 Dadurch unterscheidet es sich sowohl von der Faktographie (die Schlegel im zweiten Zitat mit „Einzelnes erzählen“ umschreibt) als auch von der subsumtionslogischen Unterordnung unter ein Allgemeines, das dem Besonderen vorausliegt, unabhängig von ihm da ist, abstrakt benennbar ist (was Schlegel im ersten Zitat als „erklären“ bezeichnet). Das Charakterisieren bringt am Besonderen ein unsichtbares Allgemeines zum Vorschein („das innerste Wesen“), das von diesem Besonderen nicht ablösbar ist, darauf bezogen bleibt, selbst spezifisch-individuell ist („das innerste Wesen eines außerordentlichen Geistes nach allen seinen Eigenheiten“). Wenn man für das so verstandene Allgemeine den Erkenntnisbegriff der historistischen Geschichtsschreibung einsetzt, dann bringt Schlegels Begriff des Charakterisierens den Umgang mit den Figuren darin auf den Punkt.

III. Erläutern wir das bislang abstrakt und allgemein Formulierte zuletzt an einem Beispiel, nämlich an dem Porträt Ludwigs XIV., das Leopold von Ranke in seiner Französische[n] Geschichte, vornehmlich im 16. und 17. Jahrhundert zeichnet. 1852 veröffentlicht, 1861 in wenig veränderter zweiter Auflage erschienen, handelt es sich um eine Darstellung, „welche durch die glückliche Vereinigung eines beispielhaft klaren Gegenstandes mit der reifen Meisterschaft des Betrachters als dessen am meisten abgerundetes und geschlossenes, insofern klassisches Werk gelten darf“.26 Von Anfang an fällt auf, dass Ranke seinen Gegenstand im Titel und in der Vorrede nur zeitlich umreißt. Als Epochendarstellung kommt das Werk daher; für bloße Faktographie könnte man es nach den Paratexten halten. 25

26

Ranke hat genau dies wenige Jahre später für sein erstes Geschichtswerk in Anspruch genommen, wenn er schreibt, es sei ihm darum gegangen, „das Allgemeine unmittelbar und ohne langen Umschweif durch das Besondere“ darzustellen. Ranke, Leopold, „Erwiderung auf Heinrich Leos Angriff“, in: Hallische Literaturzeitung Nr. 131, Mai 1828, Sp. 193–199. Wieder in: Leopold Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 53/54. Zur eigenen Lebensgeschichte. Alfred Dove (Hrsg.), Leipzig 1890, S. 659–666. Dazu Walther, Gerrit, „Der ‚gedrungene‘ Stil. Zum Wandel der historiographischen Sprache zwischen Aufklärung und Historismus“, in: Otto Gerhard Oexle/Jörn Rüsen (Hrsg.), Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 99–116. Vossler, Otto, „Einleitung“, in: Leopold von Ranke, Französische Geschichte vornehmlich im XVI. und XVII. Jahrhundert. Ausgabe in zwei Bänden mit einer Einleitung von Otto Vossler, Stuttgart 1954, S. 5–42, hier S. 29.

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Lediglich im letzten Satz der Vorrede gibt Ranke einen Wink: „Ich denke, auch ein historisches Werk darf seine innere Regel aus der Absicht des Verfassers und der Natur der Aufgabe entnehmen.“27 Wie fast immer bei Ranke wird damit in Anspruch genommen, dass es eine „innere Regel“ gibt, auch wenn diese an keiner einzigen Stelle des Werks expliziert wird. Stattdessen muss sie der Darstellung entnommen werden, und zwar der narrativen Gestaltung dieser Darstellung, ihrem plot. Ranke versetzt seine Leser in die gleiche Situation, in der er sich als Historiker gegenüber der Geschichte sieht. Er mutet ihnen das Gleiche zu, was er selbst gegenüber dem Geschehenen getan hat, nämlich die innere Regel erst rekonstruieren zu müssen, um sie dann als Produkt „aus der Absicht des Verfassers und der Natur der Aufgabe“ – wir können also sagen: aus der Fragestellung – verstehen zu können. Es ist hier nicht der Ort, diese Rekonstruktion im Einzelnen vorzuführen. Verwiesen sei direkt auf das Ergebnis. Rankes Fragestellung lautet: „Wie ist der absolutistische Staat in Frankreich geworden?“28 Entstehen, Höhepunkt und Selbstzerstörung des französischen Absolutismus bilden sein Thema. Der Höhepunkt dieses Vorgangs wird durch die Regierung Ludwigs XIV. markiert; ihr sind das zwölfte bis sechzehnte von achtzehn Büchern gewidmet. Vor diesem Hintergrund kommt dem Porträt Ludwigs XIV. entscheidende Bedeutung zu. Auffällig ist zunächst der Ort des Porträts. Im erzählten Geschehen taucht Ludwig erstmals im elften Buch auf, das der Regierung des Kardinals Mazarin und der Fronde gewidmet ist. Trotzdem wird hier nichts weiter über ihn gesagt. Auch das zwölfte Buch, überschrieben mit „Das erste Jahrzehnt der Selbstregierung Ludwigs XIV.“, hebt keineswegs mit dem Porträt an. Stattdessen wird im ersten Kapitel zunächst die Regierungsübernahme nach dem Tod Mazarins 1661 erzählt, die den Beginn der Selbstregierung darstellt. Dann folgen im zweiten Kapitel lang und breit die inneren Reformen, die nach der Regierungsübernahme eingeleitet wurden. Erst im dritten Kapitel stellt Ranke unter der Überschrift „Der König in den ersten Jahren der Regierung“ seinen Protagonisten vor. Zum einen erzeugt er durch dieses Hinhalten Erwartungsspannung. Zum anderen aber stellt er damit von vorneherein klar, dass der König nicht nur deshalb porträtiert wird, weil es ihn gegeben hat, sondern weil er aktiv in das Geschehen eingegriffen hat, das für 27

28

Ranke, Leopold von, Französische Geschichte vornehmlich im XVI. und XVII. Jahrhundert. Ausgabe in zwei Bänden mit einer Einleitung von Otto Vossler, Stuttgart 1954, S. 48. Nach dieser Ausgabe wird fortan im Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert. Vossler, „Einleitung“, S. 30.

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Rankes Fragestellung relevant ist. Schon diese Einbettung macht also klar: Die Figurenzeichnung ergibt sich aus der pragmatischen Funktion, nicht aus der referentiellen. Der erste Satz des Porträts lautet: „In den Berichten der Gesandten, deren Aufmerksamkeit auf den heranwachsenden Fürsten gerichtet war, findet man wenigstens einige Notizen über den Eindruck, den er in den Jahren seiner Jugend machte.“ (340) Ganz von außen nähert Ranke sich seiner Figur an. Über die Außensicht, den bloßen „Eindruck“ steigt er ein. Gleichzeitig nennt er hier seine Quellen, die in den folgenden Seiten dann auch in Fußnoten als Belege angeführt werden: Es sind die Relationen der italienischen, vor allem der venezianischen Gesandten am französischen Hof. Erweitert wird diese Grundlage im Fortgang um Reden und Flugschriften, die Ranke als Ausdruck der „öffentlichen Meinung“ referiert (343), um Selbstzeugnisse des Königs (344), um panegyrische Literatur des Hofes (344f.), um Memoiren wichtiger Höflinge, um die zeitgenössische Hofberichterstattung, um Bilder (345) u. a. Vom ersten Satz an ist damit deutlich gemacht, dass dieses Porträt sich nicht unmittelbar auf den historischen Ludwig bezieht, sondern auf die Quellen über ihn. Von unmittelbarer Anschauung des Geschehenen kann keine Rede sein. Die referentielle Funktion verweist durchgängig auf Quellen. Was Ranke aus den Gesandtenberichten referiert, sind vielfältige Begabung und gute Anlagen, ohne hervorstechende persönliche Merkmale. Dann folgt der Eifer, mit dem der König sich der Geschäfte annimmt. Alle seine Kräfte, seine ganze Tätigkeit widmete er der Erfüllung seiner Pflicht. Ob das nun aber reines Pflichtgefühl war oder nur lebendig angeregter Ehrgeiz? Ich denke, ausschließend weder das eine noch das andere. (342)

Erstmals meldet der Erzähler sich an dieser Stelle in der ersten Person selbst zu Wort. Damit wird markiert, dass nun eine Reflexion folgt. Der nächste Satz lautet: „Welche Gefühle konnte ein Fürst in sich tragen, dessen Jugend mit Stürmen, wie er sie erfahren hatte, erfüllt gewesen war?“ (342) Das heißt, hier setzt die Rekonstruktionsarbeit des Historikers ein. Die „Gefühle“, also das Innere des Königs, über das die Quellen schweigen, wird durch ein Gedankenbild gefüllt, an dessen Verfertigung Ranke die Leser beteiligt. Es läuft auf die Feststellung hinaus: Welchen Sinn hatte es auch, die Monarchie herstellen zu wollen ohne den Monarchen? Denn hier vor allem ist zur Ausbildung der Gewalt auch ihr Träger erforderlich. Ein selbstherrschender König war notwendig; durch den Sieg war es Ludwig XIV. geworden; er nahm sich vor ein König zu sein, wie er sein müsse. (343)

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Die Stelle ist in mehrfacher Hinsicht entscheidend. Sie besagt erstens, dass Ludwig seine guten, wenngleich ziemlich unspezifischen Begabungen dazu genutzt hat, um der König zu werden, der er sein musste. Die Person wird als Kunstprodukt begriffen, als Selbstschöpfung im Hinblick auf die historische Aufgabe, in die sie gestellt ist. Wer Ludwig XIV. wirklich war, wissen wir nicht. Es interessiert Ranke auch nicht. Wichtig ist ihm, wie der König seine historische Aufgabe begriffen und sich dafür erfunden hat. Nur im Vorübergehen sei darauf hingewiesen, dass Personalität für Ranke offenbar weder etwas Statisches noch etwas Essentialistisches ist. Vielmehr begreift er eine Person als etwas Offenes, Werdendes, das im Wechselspiel von Anlagen und Situation entsteht, von wahrgenommenen Notwendigkeiten und der Reaktion darauf. Hier kommt es darauf an, dass zweitens die historische Aufgabe, aus deren Verständnis die Person als Kunstprodukt erwächst, als Ergebnis einer analytischen Deutungsarbeit präsentiert wird. Ranke schreibt die Einsicht in die historische Notwendigkeit hier Ludwig selbst zu, er erklärt ihn zu einem bewussten Akteur. Durch die Verwendung der ersten Person, als die Reflexion einsetzt, ist jedoch klar gemacht, dass sie in Wirklichkeit von Ranke stammt. Das heißt, Ranke beansprucht hier herauszuarbeiten, wie die Lebensaufgabe Ludwigs sich für diesen darstellen musste, Ranke versteht seine Erkenntnisarbeit als Rekonstruktion. Ob Ludwig dies tatsächlich auch so gesehen hat, ist nicht wichtig. Die durch Deutung herausgearbeitete Aufgabe bleibt dieselbe, auch wenn Ludwig völlig unbewusst damit umgegangen wäre. Für die Darstellung heißt das drittens, dass die Figur als Protagonist auf einen Erzählzusammenhang bezogen ist, der sich aus der Deutungsarbeit des Historikers ergibt. Nur insofern sie für diesen erzählten Erkenntnisgegenstand relevant ist, indem sie in ihn eingreift, ihn verändert, wird die historische Person zur historiographischen Figur. Die Fortsetzung des Porträts bestätigt diese Deutung. Vorgeführt wird an mehreren, durchaus topischen Zügen die Selbst-‚Fabrikation‘ Ludwigs XIV. für die Steigerung der Krongewalt.29 Dabei fällt der Satz: „Was er sich anfangs als Gesetz auferlegt haben mochte, ward ihm durch Gewöhnung gleichsam Natur.“ (344) Die Dynamik der Selbstformung bringt Anlagen und sozialhistorische Notwendigkeit zur Deckung, bis beides ununter29

Ohne Rankes Reflexionsniveau wird sie im Einzelnen vorgeführt von Burke, Peter, The Fabrication of Louis XIV, New Haven, London 1992. Deutsch u.d.T.: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork, Berlin 1993. Wieder Frankfurt am Main 1995.

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scheidbar erscheint. Sobald er an diesen Punkt gelangt ist, geht Ranke einen Schritt weiter: von der Figur zu der Idee, der Tendenz, der Struktur, für die sie steht: Wollte man unter absoluter Monarchie eine solche Staatsform verstehen, wo jede Existenz von dem Dafürhalten des Fürsten abhängt, alle Kräfte desselben von seinem unmittelbaren Gebot beherrscht werden, wo dem höchsten Willen nur die gleiche und unbedingte Unterwürfigkeit aller gegenüberstehen, – eine solche war die Monarchie Ludwigs XIV. nicht. (345)

Der abstrakte Begriff „absolute Monarchie“ wird im Hinblick auf die Figur Ludwigs XIV. modifiziert und korrigiert, nicht etwa umgekehrt. Daran zeigt sich die Erkenntnisfunktion der Figur. Sie ist konkreter als der Begriff, reicher, vielfältiger, komplexer. Sie wird von Ranke als „Realtypus“ verstanden, der gerade durch die Abweichung vom Idealtypus „absolute Monarchie“ Einsicht in die historische Besonderheit der französischen Monarchie generiert. Gegen Ende läuft die Betrachtung – äußerst diskret – auf ein politisches Urteil über die Regierungsform hinaus, wiederum explizit auf den Erzähler bezogen: Bossuet gibt sich in seinen politischen Abhandlungen viele Mühe, absolute Gewalt und Willkür zu unterscheiden; die höchste Autorität soll nach ihm der Ausdruck der Religion und der Gerechtigkeit sein. Ich weiß nicht, ob Ludwig XIV. diesen Gedanken mit Bestimmtheit ergriffen hatte. Zunächst sah er sich als den Herrn an; als einen solchen jedoch, dem vor allem die Pflicht obliege, die allgemeinen Interessen aufrechtzuerhalten; […]. (355)

Das „Ich weiß nicht“ setzt ein Fragezeichen und überlässt das Urteil dem Leser. Am Schluss des Porträts steht jedoch das Urteil über die historische Relevanz. Und dieses fällt völlig eindeutig aus: „Welchen politischen Meinungen man auch huldigen mag, niemand kann leugnen, dass diese Monarchie, wie sie war und immer mehr wurde, eine der grössten welthistorischen Erscheinungen ist.“ (355) In den anschließenden letzten Sätzen führt Ranke dies aus. Von der äußeren Erscheinung Ludwigs in den Quellen über die Rekonstruktion von Ludwigs Lebensaufgabe und der Vorführung seiner Selbsterschaffung ist das Porträt zur Diskussion vorangeschritten, wie dieser Typus sich zu seinem allgemeinen Begriff verhält, um schließlich bei der politischen und historischen Beurteilung zu enden. Das macht klar: Nichts daran ist zufällig, nichts ist bloße Faktographie. Jeder Satz ist Deutung, Argumentation – und so muss es, dem Selbstverständnis der modernen Geschichtswissenschaft entsprechend, in der Historiographie auch sein.

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Literaturverzeichnis Quellen Aristoteles, „Poetik“, übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt, in: Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach. Herausgegeben von Hellmut Flashar, Bd. 5, Berlin 2008, S. 1–41. Cicero, Marcus Tullius, De oratore / Über den Redner. Lateinisch – deutsch. Hg. und übersetzt von Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007. Droysen, Johann Gustav, Historik. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Textausgabe von Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977. Friedrich II. von Preußen, „Histoire de mon temps“, 2 Bde., in: Œuvres de Frédéric le Grand. Johann David Erdmann Preuß (Hrsg.), Bde. 2+3, Berlin 1846. Ranke, Leopold von, Französische Geschichte vornehmlich im XVI. und XVII. Jahrhundert. Ausgabe in zwei Bänden mit einer Einleitung von Otto Vossler, Stuttgart 1954. Ranke, Leopold, „Erwiderung auf Heinrich Leos Angriff“, in: Hallische Literaturzeitung Nr. 131, Mai 1828, Sp. 193–199 [wieder in: Leopold Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 53/54. Zur eigenen Lebensgeschichte. Alfred Dove (Hrsg.), Leipzig 1890, S. 659–666]. Rousseau, Jean-Jacques, „Emile“, in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4. Education – Morale – Botanique. Edition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris 1969. Schlegel, Friedrich, „[Rez. der franz. Übersetzung v. Hormayrs Österreichischem Plutarch]“, in: Österreichischer Beobachter, Beilage Nr. 19 nach Nr. 69 vom 8. 8. 1810. Schlegel, Friedrich, „Fragmente zur Geschichte und Politik. Erster Teil“, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 20. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Ernst Behler, Paderborn 1995. Schlegel, Friedrich, „Philosophische Lehrjahre 1796–1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796–1828“, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bde. 18+19. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Ernst Behler, 2 Bde., München, Paderborn, Wien, Zürich 1963–1971.

Forschung Burke, Peter, The Fabrication of Louis XIV, New Haven, London 1992. Deutsch u.d.T.: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork, Berlin 1993 [wieder Frankfurt am Main 1995]. Koselleck, Reinhart, „Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“, in: Hermann Braun/Manfred Riedel (Hrsg.), Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1967, S. 196–219 [wieder in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 38–66]. Momigliano, Arnaldo, „Ancient History and the Antiquarian“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 13/1950, S. 285–315 [deutsch u.d.T.: „Alte Geschichte und antiquarische Forschung“, in: Ders., Wege in die Alte Welt, übersetzt von

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Johannes Süßmann

Horst Günther, mit einer Einführung von Karl Christ, Frankfurt am Main 1995, S. 111–160]. Muhlack, Ulrich, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991. Oesterle, Günther „ ‚Kunstwerk der Kritik‘ oder ‚Vorübung zur Geschichtsschreibung‘? Form- und Funktionswandel der Charakteristik in Romantik und Vormärz“, in: Wilfried Barner (Hrsg.), Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989, Stuttgart 1990, S. 64–86. Schmitt, Arbogast, „Erläuterungen“, in: Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 5, S. 43–128. Süßmann, Johannes, „Quellen zitieren. Zur Epistemik und Ethik geschichtswissenschaftlicher Textproduktion“, in: Joachim Jacob/Mathias Mayer (Hrsg.), Im Namen des anderen. Die Ethik des Zitierens, Paderborn 2010, S. 125–139. Süßmann, Johannes, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824), Stuttgart 2000. Völkel, Markus, ‚Pyrrhonismus historicus‘ und ‚fides historica‘. Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis, Frankfurt am Main u. a. 1987. Vossler, Otto, „Einleitung“, in: Leopold von Ranke, Französische Geschichte vornehmlich im XVI. und XVII. Jahrhundert. Ausgabe in zwei Bänden mit einer Einleitung von Otto Vossler, Stuttgart 1954, S. 5–42. Walther, Gerrit, „[Art.] Humanismus“, in: Enzyklopädie der Neuzeit. Friedrich Jaeger (Hrsg.), Bd. 5, Stuttgart, Weimar 2007, Sp. 665–692. Walther, Gerrit, „Der ‚gedrungene‘ Stil. Zum Wandel der historiographischen Sprache zwischen Aufklärung und Historismus“, in: Otto Gerhard Oexle/Jörn Rüsen (Hrsg.), Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 99–116.

Schein und Sein in Briefen

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Frank Zipfel (Mainz)

Schein und Sein in Briefen Über das Verhältnis von Figurendarstellung und Anthropologie in Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses

Les liaisons dangereuses ist ohne Zweifel einer der Romane, auf den Henry James’ bekannte Beschreibung des Verhältnisses zwischen Figur und Handlung in der Erzählung voll und ganz zutrifft – und das, obwohl James’ Aussage in The Art of Fiction (1884) für den psychologischen Roman des 19. Jahrhunderts formuliert ist und Choderlos de Laclos’ Briefroman bereits am Ende des 18. Jahrhunderts (1782) veröffentlicht wurde. What is character but the determination of incident? What is incident but the illustration of character? What is a picture or a novel that is not of character? What else do we seek in it and find in it?1

Diese zentrale Bedeutung der Figuren für das Erzählen wurde in der klassischen Narratologie eher am Rande zur Kenntnis genommen, hat jedoch in den letzten Jahren ein gesteigertes Interesse gefunden. Zu den Kernpunkten einer figurenzentrierten Erzähltheorie gehört die Erkenntnis, dass sowohl bei der narrativen Gestaltung von Figuren – besonders in so genannten figurenzentrierten Erzählungen2 – wie auch bei der Rezeption der entsprechenden Geschichten diverse Annahmen über menschliches Verhalten, Erleben und Handeln aktualisiert, thematisiert und verarbeitet werden.3 1

2

3

James, Henry, „The Art of Fiction“ [1884], in: Ders., Selected Literary Criticism, Morris Shapira (Hrsg.), London 1963, S. 49–67, hier S. 58. Zur Einschränkung von James’ Diktum auf figurenzentrierte Erzählungen im Gegensatz zu handlungszentrierten vgl. Todorov, Tzvetan, „Les hommes-récit“, in: Ders., Poétique de la prose (choix) suivi de Nouvelles recherches sur le récit, Paris 1980, S. 33–46. Dass zum Verständnis von literarischen Figuren Auseinandersetzungen mit Annahmen über menschliches Verhalten notwendig sind, wird hier vorausgesetzt, und die sowohl notwendige wie zuweilen wenig fruchtbare Kontroverse über das Verständnis von Figuren als menschliche Personen oder als Zeichenkonglomerate wird damit übersprungen (vgl. zu diesem Komplex u. a. Grabes, Herbert, „Wie aus Sätzen Personen werden … Über die Erforschung literarischer Figuren“, in: Poetica, 10/1978, S. 405–428; Jouve, Vincent, L’effet-personnage dans le roman, Paris 1992; Jannidis, Fotis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin, New York 2004).

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Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung ist die Frage, wie solche anthropologischen Fragestellungen in Laclos’ Roman – und insbesondere durch dessen Figurenzeichnung – bearbeitet werden. Dabei wird ein Problemkomplex herausgegriffen, der als eines der zentralen Themen der Liaisons dangereuses gelten kann4 und der hier in erster Näherung als Schein-undSein-Problematik bezeichnet werden soll. Diese figurenspezifische Darstellung dieser Problematik wird auf zwei Ebenen untersucht: auf der gesellschaftlichen und auf der individualpsychologischen Ebene. Zudem wird versucht, die Thematisierung des anthropologischen Problemkomplexes ‚Schein und Sein‘ mit der durch die Erzählform des Briefromans bedingten spezifischen Figurendarstellung von Laclos’ Roman in Beziehung zu setzen. Dabei wird die These vertreten, dass narratologisch-rezeptionsästhetisch betrachtet eben diese spezifische Darstellungsform die Vermittlung eben jenes anthropologischen Problemkomplexes in besonderer Weise unterstützt. Am Beginn der Arbeit stehen deshalb einige allgemeine Bemerkungen zur Erzählform des Briefromans und zu seiner Verankerung im 18. Jahrhundert.

I.

Brief und Briefroman: Narratologisch-rezeptionsästhetische Vorbemerkungen

Der Briefroman ist in besonderer Weise und mehr noch als der homodiegetische Roman5 ein Roman, der vorgibt, keiner zu sein.6 Er wird als Folge von Briefen bzw. als Briefwechsel dargeboten, die/der von einem fiktiven Herausgeber einer (vermutlich) interessierten Öffentlichkeit präsentiert

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5

6

Vgl. Todorov, Tzvetan, „Les catégories du récit littéraire“, in: Communication, 8/1966, S. 125–151, hier S. 140–141; Hagen, Kirsten von, Intermediale Liebschaften. Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos’ ‚Les liaisons dangereuses‘, Tübingen 2002, S. 38. Der homodiegetische Roman wird nicht selten als fingierte Autobiographie und damit als ein Roman, der seine Fiktionalität verleugnet, beschrieben, so z. B. von Käte Hamburger (Die Logik der Dichtung, 3. Aufl., Stuttgart 1977, S. 272–273), Gérard Genette (Fiction et diction, Paris 1991, S. 68), Dorrit Cohn („Signposts of Fictionality. A Narratological Perspective“, in: Poetics Today, 11/1990, S. 775–804, hier S. 794). Zu einer kritischen Diskussion dieser Vorstellung vgl. Zipfel, Frank, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001, S. 136–140. Vgl. Rousset, Jean, „Une forme littéraire: le roman par lettres“, in: Ders., Forme et signification. Essais sur les structures littéraires de Corneille à Claudel, Paris 1964, S. 65–103, hier S. 75.

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wird/werden.7 In der für den Briefroman charakteristischen Herausgeberfiktion8 wird so getan, als ob es sich um einen authentischen Briefwechsel handele.9 So werden in Vorworten und anderen Paratexten in der Regel nahe liegende Fragen im Hinblick auf die Authentizität des Veröffentlichten beantwortet, z. B. die Frage, wie die Briefe in die Hände des Herausgebers gelangt sind,10 oder die Frage, welches Interesse daran besteht, diese Briefe zu veröffentlichen – im Allgemeinen wird dabei auch erläutert, warum eine eigentlich nicht öffentliche Korrespondenz der Allgemeinheit zugänglich gemacht wird. Betrachtet man die klassische narratologische Unterscheidung zwischen histoire und discours, so erweist sich der Briefroman in vielerlei Hinsicht als eine besondere Art der Darbietung einer Geschichte. Im Vergleich mit dem heterodiegetischen Roman bedeutet die Darstellung der Geschichte in Briefen den Verzicht auf eine vermittelnde, die verschiedenen Figurenperspektiven integrierende Erzählinstanz. Rudimente einer übergreifenden Erzählinstanz sind allenfalls in der Ordnung der Briefe zu erkennen, die nicht immer in absolut chronologischer Reihenfolge dargeboten werden, oder in Erläuterungen durch Zwischentexte, Fußnoten usw. Auch im Vergleich mit dem homodiegetischen Roman zeigen sich signifikante Unterschiede, so z. B. im Hinblick auf das Verhältnis von Erzählzeitpunkt und Geschichte und im Hinblick auf die Möglichkeit, die Darbietung der Geschichte auf verschiedene Erzähler zu verteilen.11 Im Folgenden werden einige aus den narrato7

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Vgl. die Definition von Gerhard Sauder, „Briefroman“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. I, Berlin, New York 1997, S. 255–257. Vgl. z. B. Voßkamp, Wilhelm, „Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert“, in: DVjs, 45/1971, S. 80–116, hier S. 90; Picard, Hans Rudolf, Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1971, S. 15–18; Jeske, Wolfgang, „Der Briefroman“, in: Otto Knörrich (Hrsg.), Formen der Literatur in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1981, S. 49–57, hier S. 52. Die Frage nach der Bedeutung solcher Authentizitätsfiktionen für den Roman im Allgemeinen sowie für den Briefroman und für den Roman des 18. Jahrhunderts im Besonderen kann und soll hier nicht weiter verfolgt werden. Vgl. Versini, Laurent, Le roman épistolaire, Paris 1979, S. 51. Letzteres gilt natürlich nur für die polylogische oder mehrstimmige Variante des Briefromans. Zur Unterscheidung zwischen monologischen (es werden nur die Briefe einer Person dargeboten), dialogischen (es werden die Briefe von zwei Korrespondenten dargeboten) und polylogischen (es werden die Briefe mehrerer Korrespondenten dargeboten) Briefromanen vgl. z. B. Calas, Frédéric, Le roman épistolaire, Paris 2005, S. 24–39; Jost, François, „The Epistolary Novel: An Unacted Drama“, in: Joseph P. Strelka, Literary Theory and Criticism. Part I: Theory, Bern u. a. 1984, S. 335–350, hier: S. 346; Jeske, „Briefroman“, S. 53.

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Frank Zipfel

logischen Besonderheiten des polylogischen12 Briefromans sich ergebende Eigentümlichkeiten dieser Erzählform im Hinblick auf die Figurendarstellung und die durch diese Darstellung implizierte Rezeption in einem kurzen Überblick zusammengestellt. Diese Zusammenstellung bildet dann den Hintergrund für eine figurenzentrierte Betrachtung des Verhältnisses zwischen dem Themenkomplex ‚Schein und Sein‘ und der spezifischen Darstellungsform von Laclos’ Briefroman. I.1.

Eingeschobene Narration und Adressaten-Bezug: empathische Lektüre

Der Briefroman ist logischerweise durch bestimmte Aspekte der Textsorte Brief gekennzeichnet. Ein Brief wird gewöhnlich relativ bald nach den zu berichtenden Ereignissen geschrieben, jedenfalls nicht, wie z. B. die Autobiographie, erst Jahre nach den geschilderten Begebenheiten. Das erzählende Ich und das erzählte Ich rücken im Brief in der Regel zeitlich nahe zusammen.13 Diese ‚Nähe‘ zwischen den Ereignissen und ihrer Wiedergabe kann als Unmittelbarkeit14 der Darstellung bezeichnet werden, und das in zweifachem Sinn: zeitliche Unmittelbarkeit als geringer Zeitabstand zwischen Ereignis und Schilderung einerseits und die daraus ableitbare emotionale Unmittelbarkeit andererseits, insofern zu vermuten ist, dass der Schreiber nicht oder kaum die Möglichkeit hat, die durch das geschilderte Ereignis induzierten Gefühle und Reaktionen zu reflektieren und/oder zu kontrollieren. Diese Besonderheiten des homodiegetischen Erzählens in Briefen haben Auswirkungen auf den Briefroman als eine in Briefen verfasste Darstellung einer Geschichte. Für die Gesamtkomposition eines Briefromans bedeutet das, dass man hier, ähnlich wie für das Tagebuch, mit Genette von einer ‚nar-

12

13

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Im Hinblick auf den Briefroman Laclos’ werden die folgenden Ausführungen für den polylogischen Briefroman formuliert unter Vernachlässigung der monologischen Variante. Vgl. hierzu Mandelkows allerdings etwas extrem formulierte Position: „Im Briefroman rücken Erzähl-Ich und Erzähltes-Ich zeitlich nahezu bis zur Identität zusammen.“ (Mandelkow, Karl Robert, „Der Briefroman. Zum Problem der Polyperspektive im Epischen“, in: Ders., Orpheus und Maschine. Acht literaturgeschichtliche Arbeiten, Heidelberg 1976, S. 13–22, hier S. 15). Vgl. Fellows’ Rede von der „immédiateté“ (Fellows, Otis, „Naissance et mort du roman épistolaire français“, in: Dix-huitième siècle, 4/1972, S. 17–38, hier S. 23) und auch Herman, Jan, Le mensonge romanesque. Paramètres pour l’étude du roman épistolaire en France, Amsterdam, Leuven 1989, S. 52.

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ration intercalée‘,15 einer eingeschobenen Narration sprechen kann. Die Geschichte wird in kleinen Erzählabschnitten präsentiert, die jeweils in zeitlicher Nähe zu den Ereignissen verfasst werden: „Le roman devient le récit d’une historie en train de se dérouler.“16 Der Standpunkt des jeweiligen Briefschreibers entspricht dem entsprechenden Zeitpunkt im Ablauf der Geschichte. So hat im Gegensatz zum autobiographischen oder zum auktorialen Erzähler keiner der Briefschreiber zur Zeit des jeweiligen Erzählens einen Überblick über die gesamte Geschichte.17 Zudem haben Briefe einen klaren Adressaten. Die Darstellung der Ereignisse ist in der Fiktion des Romans nicht wie bei anderen fiktionalen Erzählformen intentional an einen nicht weiter benannten und nur aus den im Text eingeschriebenen Rezeptionserwartungen konstruierbaren impliziten Leser gerichtet. Die Geschehnis-Darstellungen in Briefen werden im Hinblick auf konkrete Leser verfasst, die zudem in der Regel selbst Figuren der Geschichte und ihrerseits Verfasser von Briefen sind. Die Kombination von Unmittelbarkeit der Darstellung und direktem Adressatenbezug ist wohl dafür verantwortlich, dass der Briefroman als Gattung des Öfteren mit einer Verminderung der Erzähldistanz und mit unmittelbarem Zugang zu den Figuren in Verbindung gebracht wird:18 „le lecteur est rendu contemporain de l’action, il la vit dans le moment même où elle est vécue et écrite par le personnage.“19 Der Leser könne sich – auch durch die in der Regel Vertraulichkeit konnotierende Briefform – besonders leicht mit dem jeweiligen Briefschreiber identifizieren oder sich zumindest in ihn einfühlen. Zudem könne er sich, da er den Lesevorgang selber vollzieht, auch in die Position des fiktiven Briefempfängers hineinversetzen. So sei der Leser 15

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Genette, Gérard, „Discours du récit“, in: Ders., Figures III, Paris 1972, S. 65–282, hier S. 229–230. „Der Roman wird zum Bericht einer Geschichte, die sich gerade ereignet.“ Stewart, Philip/Therrien, Madeleine, „Aspects de texture verbale dans Les Liaisons dangereuses“, in: Revue de l’Histoire Littéraire de la France, 82/1982, S. 547–558, hier S. 547. (Diese und in folgenden Fußnoten eingefügte Übersetzungen der nichtdeutschsprachigen Forschungsliteratur stammen, sofern nicht anders gekennzeichnet, von F. Z.) Vgl. Roussets Aussage: „auteur et personnage vivent au jour le jour une destinée ouverte dont l’achèvement leur est inconnu.“ (Rousset, „Une forme littéraire“, S. 70: „Autor und Figur leben von Tag zu Tag ein offenes Schicksal, dessen Ende ihnen unbekannt ist.“). Vgl. Stackelberg, Jürgen von, „Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 1/1977, S. 293–309, hier S. 297. Rousset, „Une forme littéraire“, S. 67.

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von Briefromanen sozusagen in einer privilegierten Position im Hinblick auf die emotionale Anteilnahme an den Figuren der Geschichte. Man könne sagen, der Briefroman leiste zumindest im Hinblick auf die Einzelbriefe einer empathischen Lektüre Vorschub.20 I.2.

Fragmentierung und Multiperspektivität: voyeuristische und detektivische Lektüre

Die Aussagen über die Möglichkeiten einer empathischen Lektüre betreffen das Verhältnis zwischen Leser und Einzelbrief im Hinblick auf die Anteilnahme des Lesers sowohl an den Aussagen des Senders wie auch an den vorstellbaren Reaktionen des Empfängers. Zu beachten ist jedoch gleichzeitig, dass der Leser des Romans weder mit dem Sender noch mit dem Adressaten der Briefe identisch ist, sondern unwillkürlich die Rolle eines eigentlich am Kommunikationsprozess nicht beteiligten, quasi heimlichen Lesers einnimmt. Der Rezipient wird zum Mitleser von Briefen, also von vertraulichen, privaten, ja intimen Mitteilungen, die nicht für ihn bestimmt sind – und das systematisch, da ihm eine ganze Korrespondenz präsentiert wird. So wird der Rezipient des Briefromans in eine Art Schlüsselloch-Position gedrängt – und dies kann durch die Authentizität suggerierende Herausgeberfiktion verstärkt werden. Wie durch ein Schlüsselloch sieht der Leser als Beobachter bzw. als Text-Voyeur Dinge, die nicht für ihn bestimmt sind. Der Briefroman, der als öffentlich gemachte authentische private Korrespondenz zwischen den Beteiligten inszeniert wird, macht den Rezipienten also quasi zwangsweise zum Voyeur – wobei der Rezipient durchaus nicht abgeneigt sein muss, diese Position einzunehmen.21 In Bezug auf Laclos’ Liaisons dangereuses hat Didier Masseau diesen Sachverhalt treffend in folgender Formulierung ausgedrückt – und seine Beobachtung gilt zwar insbesondere für Laclos, aber auch für andere mehrstimmige Briefromane:

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Vgl. Voßkamps Ausführungen: „Der Leser im Briefroman übernimmt prinzipiell eine doppelte Funktion, indem er sich einerseits in den jeweiligen Briefeschreiber und dessen Geschriebenes versetzt und andererseits in die Rolle des Adressaten des Briefes.“ (Voßkamp, „Dialogische Vergegenwärtigung“, S. 107). Anscheinend war es zumindest im 18. Jahrhundert in Mode, private Briefe von anderen zu lesen, so man ihrer habhaft werden konnte. In England sollen deshalb besondere Strafen für die Umleitung bzw. Entwendung von Briefen eingeführt worden sein. Bei der Lektüre des Briefromans konnte der Rezipient seinen briefvoyeuristischen Gelüsten sozusagen straffrei nachgehen (vgl. Fellows, „Naissance“, S. 28).

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La grande originalité de Laclos est en effet de compromettre insidieusement le lecteur en le transformant qu’il veuille ou non en expérimentateur, en exégète et en voyeur.22

Auch die beiden anderen von Masseau aufgeführten Beschreibungen des Rezipienten eines Briefromans, der Experimentator und der Exeget, lassen sich aus der Struktur der polylogen Korrespondenz ableiten. Die Aufteilung der Darstellung der Geschichte auf eine Reihe von Brieferzählungen führt zu einer Fragmentierung des Erzähldiskurses. Mit dieser Ästhetik der Diskontinuierlichkeit23 geht eine lückenhafte Präsentation der Geschichte einher. Naturgemäß schließt die Geschehensdarstellung eines Briefes nicht direkt an die des Vorgängerbriefes an. Überlappungen und Auslassungen in der Geschehensdarstellung sind die Regel. Diese Diskontinuierlichkeit des Erzähldiskurses kann einen Realitätseffekt24 erzeugen und zur Spannungssteigerung eingesetzt werden.25 Unweigerlich jedoch wird der Leser genötigt, sich die Geschichte des Romans aus den notwendig fragmentarischen Brieferzählungen zu erschließen: „Le lecteur est prié d’être intelligent. Il se voit invité à reconstituer une partie de la réalité qu’on lui dérobe.“26 Die Fragmentierung der Geschichte geht im polylogen Briefroman mit einem ständigen Wechsel der Perspektiven einher. Die Geschehensdarstellungen erfolgen notwendigerweise immer aus der Perspektive des jeweiligen Briefverfassers; die fiktive Welt des Briefromans wird ausschließlich aus der Perspektive der beteiligten Figuren dargestellt. Die sich so ergebende Multi-

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Masseau, Didier, „Le narrataire des ‚Liaisons dangereuses‘ “, in: Laclos et le libertinage 1782–1982, Paris 1983, S. 111–135, hier S. 115. („Die große Originalität Laclos’ besteht in der Tat darin, den Leser hinterhältigerweise dadurch zu kompromittieren, dass er ihn, ob er will oder nicht, in einen Experimentator, einen Exegeten und einen Voyeur verwandelt.“). Vgl. die Bezeichnung von Versini „esthétique du discontinue“ (Versini, Roman épistolaire, S. 57). Vgl. die Aussage von Fellows: „la technique épistolaire avait l’avantage de plonger le lecteur dans l’événement, d’introduire l’idée d’une action actuelle envisagée d’une manière chaotique et, pour ainsi dire, inachevée comme c’est le cas dans la vie courante.“ (Fellows, „Naissance“, S. 29: „Die Brieftechnik hatte den Vorteil, den Leser in das Ereignis einzutauchen, die Idee einer gegenwärtigen Handlung einzuführen, die in chaotischer Art und Weise betrachtet wird und sozusagen unabgeschlossen bleibt, wie es im richtigen Leben der Fall ist.“). Vgl. Voßkamp, „Dialogische Vergegenwärtigung“, S. 98. Rousset, „Une forme littéraire“, S. 80 („Der Leser wird gebeten, intelligent zu sein. Er wird dazu eingeladen, einen Teil der Geschichte, den man ihm vorenthält, zu rekonstruieren.“).

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perspektivität27 und die Absenz einer übergreifenden Erzählinstanz führen dazu, dass der Leser des Romans sich aus den jeweils subjektiven Darstellungen einzelner, gegebenenfalls mehrerer Figuren selbständig ein Bild über die Fakten der fiktiven Welt machen muss.28 Fragmentierung der Geschichte und Multiperspektivität des Erzählens bedeuten für die Rezeption des Briefromans, dass der Rezipient nicht nur zu einem voyeuristischen, sondern auch zu einem detektivischen Leser gemacht wird.29 Mit diesem Begriff des detektivischen Lesers kann man Masseaus oben zitierte Erläuterung des Rezipienten als Experimentator und Exeget zusammenfassen. Der Rezipient hat sowohl die Aufgabe, die lückenhafte Darstellung der Geschichte durch Inferenzen aufzufüllen, wie auch die, den Einfluss der einzelnen subjektiven Figurenperspektiven auf die Darstellung zu berücksichtigen: „Für jeden Brief muß der Leser sich aufs neue sowohl mit der Absender- als auch mit der Adressatenperspektive vertraut machen und diese […] aneinander anschließen.“30 Voyeuristisches und detektivisches Lesen beziehen sich auf die gesamte vom Rezipienten zu interferierende Ebene der histoire und so natürlich auch und in besonderer Weise auf die Figuren. Da eine das Gesamtgeschehen überblickende Erzählinstanz fehlt, werden die Informationen über die Figuren ausschließlich von den Figuren selbst in ihren Briefen übermittelt. Dabei werden in den Briefen entweder Informationen über die Briefschreiber selbst oder über andere Figuren ausgebreitet. Der Rezipient hat bei der Bewertung dieser Informationen die Subjektivität der jeweiligen Verfasserfiguren einzukalkulieren – hierzu gehören besonders die Einschätzung des Maßes an Intelligenz oder Klarsichtigkeit der Figur und das Erkennen ihrer persönlichen Vorlieben sowie ihres ideologischen Hintergrunds. Allerdings 27 28

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Vgl. von Hagen, Liebschaften, S. 38. Die Abwesenheit einer übergreifenden Erzählinstanz wird in Kombination mit der oben erläuterten Unmittelbarkeit oft als Grundlage dafür genommen, den Briefroman als Gattung mit dem Drama zu vergleichen (vgl. z. B. Jost, „The Epistolary Novel“). Allerdings trägt der Vergleich nur so weit, als hier wie dort die Rezeption nicht durch eine übergeordnete vermittelnde Instanz geleitet wird. In einem anderen wichtigen Bereich ist der Vergleich jedoch falsch. Das im Drama Dargestellte bzw. auf der Bühne Vorgeführte sind unmittelbar gezeigte, objektive Fakten der fiktiven Welt des Dramas, die fiktive Welt des Briefromans ist nur mittelbar durch die Erzählungen der einzelnen Briefschreiber zugänglich. Vgl. Moravetz’ Rede vom „detektivischen Blick des Lesers“ (Moravetz, Monika, Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Héloïse und Laclos’ Liaisons Dangereuses, Tübingen 1990, S. 253). Moravetz, Formen der Rezeptionslenkung, S. 248.

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müssen schon diese Voraussetzungen für die Bewertung des Geschilderten quasi in einem hermeneutischen Zirkel aus den Briefen selbst gewonnen werden. Briefschreiber unterliegen vielleicht mehr noch als gewöhnliche homodiegetische Erzähler dem Verdacht der Unzuverlässigkeit, und das sowohl im Hinblick auf die Selbstdarstellung wie im Hinblick auf die Fremddarstellung. [La lettre] se dirige vers un destinataire, elle s’adresse à quelqu’un, elle est moyen d’action; dans la lettre, on se raconte et on s’explore, mais devant autrui et pour autrui.31

Die Darstellung der eigenen oder einer anderen Person im Brief ist unweigerlich von den Intentionen des Senders im Hinblick auf den Empfänger bestimmt, von dem Bild, das die Figur dem Adressaten von sich selbst oder von anderen vermitteln will. I.3.

Briefe bei Laclos: Ausdruck von authentischen und vorgetäuschten Gefühlen

Der zuletzt beschriebene Adressatenbezug von Darstellungen in Briefen ist für Choderlos de Laclos’ Briefroman Les liaisons dangereuses von besonderer Wichtigkeit. Um diese Aussage zu erläutern, ist ein kurzer Exkurs in den kulturhistorischen Hintergrund des Briefromans notwendig. Das 18. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Briefromans. Die Texte der im Hinblick auf die Gattung bekannten großen Namen wie S. Richardson, J. J. Rousseau, J. W. Goethe und eben Choderlos de Laclos bilden nur die Spitze des Eisberges.32 Als für das 18. Jahrhundert charakteristische Erzählform wird der Briefroman mit der im Deutschen unter der Bezeichnung Empfindsamkeit bekannten, aber in ganz Europa verbreiteten Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts in Verbindung gebracht. Zudem geht die Konjunktur des Briefromans einher mit einer Konjunktur des Briefes als adäquate Ausdrucks- und Mitteilungsform des empfindsamen Gefühls. „Une lettre de tous les genres d’écrire, est le plus vrai, le plus rapproché de l’entretien ordinaire, et le plus propre surtout au développement de la sensibilité“,33 so 31

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Rousset, „Une forme littéraire“, S. 72: „Der Brief ist an einen Empfänger gerichtet, er wendet sich an ein Gegenüber, er ist Mittel der Handlung; im Brief erzählt und erforscht man sich selbst, aber vor anderen und für andere.“ Für eine historische Darstellung besonders in Bezug auf Frankreich vgl. Versini, Roman épistolaire. Zitiert nach Rousset, „Une forme littéraire“, S. 68: „Ein Brief ist unter allen Schreibweisen die wahrste, die nächste am gewöhnlichen Gespräch und vor allem die geeignetste zur Entwicklung der Empfindsamkeit.“

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Claude-Joseph Dorat, einer der vielen heute weniger bekannten französischen Briefroman-Autoren der Zeit. Gellert fordert in seiner Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen für den natürlichen Brief, dass der Briefschreiber sich „der freiwilligen Folge seiner Gedanken“34 überlasse und diese ohne vorherige Ordnung aufzeichne. Wichtiger noch ist, dass der Briefschreiber „sein Herz mehr reden“ lassen solle „als seinen Verstand“.35 S. Richardson entwickelt im Vorwort zu Clarissa eine ähnliche Brieftheorie: „The letters are written while the hearts of the writers must be supposed to be wholly engaged in their subjects.“36 Briefe werden deshalb als „instantaneous descriptions and reflections“37 angesehen. „Das 18. Jahrhundert wird nicht zufällig zu einem des Briefes“, stellt Habermas fest und beschreibt die Briefe dieser Zeit als „Behälter für ‚die Ergießung der Herzen‘ “.38 Gleichzeitig wird der Brief als ein Ort gesehen, in dem die persönliche Individualität konstituiert und dargestellt wird: „Briefe schreibend entfaltet sich das Individuum in seiner Subjektivität.“39 Die mit dem empfindsamen Brief verbundene Funktion der unmittelbaren, authentischen Darstellung des Gefühls wird dann natürlicherweise auch auf den Briefroman übertragen. Der Briefroman ist nach Rousseau die Form der Erzählkunst, in der das Herz zum Herzen spricht,40 eine Art „Kardiogramm-Literatur“.41 Die Konzeption des Briefs als Ausdruck authentischen Gefühls und als Spiegel der Persönlichkeit findet sich auch in Laclos’ Roman, jedoch nur am Rande.42 Die Vorstellung vom Brief als adäquatem Ort der Gefühlsdarstel34

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Gellert, Christian Fürchtegott, Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, in: Ders., Sämtliche Schriften. Vierter Teil, Leipzig 1769 [Faksimilenachdruck Hildesheim 1968], S. 3–96, hier S. 37. Gellert, Abhandlung, S. 64. Richardson, Samuel, Clarissa, or, The History of a Young Lady, edited with an Introduction and Notes by Angus Ross, London u. a. 2004, S. 35. Richardson, Clarissa, S. 35. Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der Bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied, Berlin 1962, S. 66. Habermas, Strukturwandel, S. 66. Vgl. die Einleitung von La nouvelle Héloïse: „c’est ainsi que le cœur sait parler au cœur“ (Rousseau, Jean-Jacques, La nouvelle Héloïse, in: Ders., La nouvelle Héloïse, théâtre, poésies, essais littéraires. Œuvres complètes II, Éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin, Paris 1961, S. 15). Stackelberg, „Briefroman“, S. 298. Laclos’ Roman wird im Folgenden zitiert nach Laclos, Pierre Ambroise François Choderlos de: Les Liaisons dangereuses ou Lettres recueillies dans une société, et publiées pour l’instruction de quelques autres, in: Laclos, Oeuvres, 1–386, die angegebenen Übersetzungen sind der Ausgabe Laclos, Choderlos de, Gefährliche Liebschaften. Aus dem Französischen von Franz Kauders, Düsseldorf, Zürich 2000 entnommen.

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lung wird implizit von der Figur der naiven Cécile vertreten. Sie ist der Ansicht, dass sie nur in Briefen ihren Emotionen ungeschminkten Ausdruck verleihen kann, und das sogar im Gegensatz zum unmittelbaren Gespräch. Über Intimes fällt es ihr leichter zu schreiben als zu sprechen.43 Die Konzeption des Briefes als Offenlegung der Persönlichkeit findet man explizit nur an einer Stelle und relativ spät im Roman. Die Aussage ist in einem Brief des Chevalier de Danceny an die Marquise de Merteuil enthalten, die den jungen Verehrer von Cécile de Volanges inzwischen zu ihrem Geliebten gemacht hat. Danceny, der Musiker, ist wohl – neben Mme de Tourvel – die Figur des Romans, die dem Modell des empfindsamen Subjekts am nächsten kommt. Auf Merteuils durch rationales Kalkül bedingte Ankündigung, dass sie ihm nicht mehr schreiben werde, da das zu gefährlich sei, reagiert Danceny mit Unverständnis und mit einer flammenden Rede auf die Vorzüge des Briefes. […] [U]ne Lettre est précieuse! si on ne la lit pas, du moins on la regarde … Ah! sans doute, on peut regarder une Lettre sans la lire, comme il me semble que la nuit j’aurais encore plaisir à toucher ton portrait … Ton portrait, ai-je dit? Mais une Lettre est le portrait de l’âme. Elle n’a pas, comme une froide image, cette stagnance si éloignée de l’amour; elle se prête à tous nos mouvements: tour à tour elle s’anime, elle jouit, elle se repose … Tes sentiments me sont tous si précieux! me priveras-tu d’un moyen de les recueillir? (S. 345)44

Ein Brief sagt mehr als tausend Bilder – so könnte man in umkehrender Abwandlung eines bekannten Sprichwortes Dancenys Briefkonzeption umschreiben. Diese Vorstellung entspricht der dargestellten Konzeption des 18. Jahrhunderts, wonach der Brief als unmittelbarer Ausdruck der Gefühle 43

44

Vgl. den Brief 27 an Mme de Merteuil: „Mon Dieu, que vous êtes bonne, Madame! comme vous avez bien senti qu’il me serait plus facile de vous écrire que de vous parler.“ (S. 58; „Mein Gott, wie gut Sie sind, Madame! Wie richtig haben Sie gefühlt, dass es mir leichter sein wird, Ihnen zu schreiben, als mit Ihnen zu reden.“ S. 82) und den Brief 75 an Sophie: „Peut-être même avec toi, à qui je dis tout, si c’était en causant, je serais embarrassée.“ (S. 149; „Vielleicht käme ich sogar Dir gegenüber, der ich doch alles anvertraue, in Verlegenheit, wenn ich es laut sagen müsste.“ S. 209) Vgl. hierzu auch: Takeda, Arata, Die Erfindung des Anderen: Zur Genese des fiktionalen Herausgebers im Briefroman des 18. Jahrhunderts, Würzburg 2008, S. 69. „Wie kostbar ist […] ein Brief! Auch wenn man ihn nicht liest, so schaut man ihn doch an … Ach, gewiß, man kann einen Brief betrachten, ohne ihn zu lesen, so wie mich dünkt, dass ich noch Freude empfände, wenn ich im Dunkel der Nacht dein Bildnis berührte … Dein Bildnis, habe ich das Wort geschrieben? Aber ein Brief ist doch das Bildnis der Seele. Er hat nicht, wie ein kaltes Bild, diese Starre, die der Liebe so fern ist: er macht alle Bewegungen unseres Gemüts mit; abwechselnd belebt er sich, genießt oder ruht … Deine Gefühle sind mir so teuer! Willst du mich des Mittels berauben, sie einzusammeln?“ (S. 481).

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des Individuums angesehen wird und auch als Mittel eines solchen Ausdrucks benutzt wird. Allerdings weicht Laclos’ Roman in mancher Hinsicht von dieser Konzeption ab. Bereits im Vorwort des Herausgebers wird deutlich, dass bei der abgedruckten Korrespondenz grundsätzlich nicht uneingeschränkt mit einer solchen Konzeption des Briefes zu rechnen ist: […] [D]e plus, presque tous les sentiments qu’on y exprime, étant feints ou dissimulés, ne peuvent même exciter qu’un intérêt de curiosité toujours bien au-dessous de celui de sentiment […]. (S. 7)45

Wie um diese Warnung vor der Unaufrichtigkeit zu verstärken, weist der Herausgeber in einer Fußnote zu Brief 65 auf eine Täuschung von Danceny gegenüber Cécile hin.46 Es mag kein Zufall sein, dass mit diesem Hinweis auf eine briefliche Lüge gerade die Ehrlichkeit der Figur in Frage gestellt wird, die später – wie gesehen – dem Brief als unverfälschtem Ausdruck der Persönlichkeit huldigt. Zudem steht die Warnung des Herausgebers vor den Unaufrichtigkeiten der Korrespondenten in Einklang mit den Ratschlägen, die Mme de Merteuil ihrer Elevin Cécile in Bezug auf das Briefeschreiben erteilt: […] vous dites tout ce que vous pensez et rien de ce que vous ne pensez pas. […] Vous voyez bien que, quand vous écrivez à quelqu’un, c’est pour lui et non pas pour vous: vous devez donc moins chercher à lui dire ce que vous pensez, que ce qui lui plaît davantage. (S. 242f.)47

Der Brief wird damit der Funktion des authentischen und spontanen Ausdrucks des Gefühls und der Persönlichkeit des Senders entkleidet. Durch seine ausschließliche Adressatenbezogenheit wird er im Gegenteil zum Mittel der Inszenierung der eigenen Person und der Manipulation anderer. Briefe bleiben so zwar Selbstaussagen, aber sie werden gleichzeitig zu Selbstverschleierungen,48 und dies umso mehr, als Briefe nicht nur Berichte über 45

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„Zudem können die in diesen Briefen ausgedrückten Empfindungen, da sie fast alle erheuchelt oder versteckter Natur sind, bestenfalls die Neugier erregen. Die Neugier aber steht tief unter der echten menschlichen Anteilnahme.“ (S. 11). „M. Danceny n’accuse pas vrai. Il avait déjà fait sa confidence à M. de Valmont avant cet événement. Voyez la lettre LVII.“ (S. 131) „Danceny spricht hier nicht die Wahrheit: Er hatte sich Herrn de Valmont schon vor diesem Ereignis anvertraut. Siehe den siebenundfünfzigsten Brief.“ (S. 184). „Sie sagen immer alles, was Sie denken, und nie etwas, das Sie nicht denken. […] Sie müssen sich doch klar machen, dass Sie, wenn Sie jemandem schreiben, es für ihn tun und nicht für sich. Also müssen Sie weniger zu sagen suchen, was Sie denken, als das, was dem andern besser gefällt.“ (S. 340). Vgl. von Hagen, Liebschaften, S. 38.

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Verführungshandlungen enthalten,49 sondern nicht selten selber als Verführungshandlungen anzusehen sind. In besonderem Maße wird die Unaufrichtigkeit von Aussagen in Briefen im Roman an den Figuren Valmont und Merteuil dargestellt. Valmonts Unaufrichtigkeit wird exemplarisch in dem berühmten Brief 48 vor Augen geführt. Der Libertin schreibt ein glühendes Liebesbekenntnis an Tourvel, und das auf dem Rücken der Kurtisane Émilie, mit der er gerade ein erotisches Abenteuer durchlebt. Der Inhalt des Briefes ist hochgradig zweideutig, da die Formulierungen sich sowohl auf die sinnliche Liebesnacht Valmonts mit Émilie beziehen können wie auch auf seine vorgeblich rein spirituelle Liebe zu Tourvel. Zudem schickt Valmont diesen Brief nicht direkt an Tourvel, sondern auf dem Umweg über Merteuil, so dass auch sie den Brief lesen kann. Die private Intimität des Briefkontakts wird damit aufgebrochen. Das hat zur Folge, dass die Intentionsstruktur des Briefes sich verkompliziert. Die Intention Valmonts besteht nicht nur in dem Spaß, seiner Angebeteten einen zweideutigen Liebesbrief aus dem Bett einer anderen zu schreiben, sondern auch darin, damit vor seiner Vertrauten zu glänzen.50 Der Versuch, die nicht aufrichtigen Gefühlen entsprechenden und manipulativen Zwecken dienenden Briefe Merteuils aufzuzählen, würde zur Wiedergabe fast des halben Romans führen. Exemplarisch seien die Briefe 104 und 105 herausgegriffen, in denen Merteuil Mme de Volanges und ihrer Tochter gegenteilige Ratschläge im Hinblick auf deren Beziehung zu Danceny erteilt. Die den Gefühlsausdruck legitimierende Intimität des Briefkontrakts (ein Empfänger – ein Leser) wird nicht nur durch Valmont durchbrochen. Merteuil erlaubt Cécile eine Korrespondenz mit Danceny unter der Bedingung, dass sie diese mitlesen und überwachen darf; Valmont lässt Merteuil seine eigenen und die Briefe der Tourvel an ihn lesen; schließlich diktiert Valmont sowohl Cécile wie auch Danceny, was sie jeweils an den anderen schreiben sollen. Die potentiell in jedem Brief vorhandene Unaufrichtigkeit sowie die Pervertierung der normalerweise mit dem privaten Briefwechsel verbundenen Intimität stellen den Rezipienten von Laclos’ Briefroman vor eine komplexe Aufgabe. Er muss bei der Ermittlung der Wahrheit über die fiktive Welt nicht nur die Fragmentierung überwinden, die subjektive Perspektive der Darstellung einkalkulieren, sondern auch die mögliche Verstellung der Figuren be49

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Vgl. Matzat, Wolfgang, „Die moralistische Affektkonzeption in Choderlos de Laclos’ Les Liaisons dangereuses“, in: Romanische Forschungen, 104/1992, S. 293–312, hier S. 295. Vgl. Moravetz, Formen der Rezeptionslenkung, S. 251.

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rücksichtigen. Diese Verstellung führt dazu, dass der Rezipient nicht immer eindeutig wird feststellen können, ob das, was in den Briefen ausgesagt wird, als authentisch oder vorgetäuscht anzusehen ist. [C]omment établir la réalité des sentiments chez des personnages qui utilisent la parole pour dissimuler et tromper? Il est difficile de déterminer la véracité de leurs déclarations dans les lettres qui doivent être lues en fonction de l’identité du destinataire et des intentions de celui qui écrit.51

Die Kunst der Verstellung ist zwar im Roman explizit hauptsächlich durch die beiden Libertins Merteuil und Valmont verkörpert. Wenn Briefe jedoch grundsätzlich als Mittel der Täuschung eingesetzt werden können, ist die Möglichkeit einer solchen Täuschung und Verstellung bei allen Brieflektüren zu berücksichtigen: „Le lecteur en vient à suspecter toute lettre.“52

II.

Laclos’ Les liaisons dangereuses : Ein Roman von Schein und Sein

Die Stichworte Täuschung und Verstellung leiten über zur Betrachtung der in Les Liaisons dangereuses mittels der Figurendarstellung bearbeiteten anthropologischen Fragestellungen. Mit diesen Stichworten ist der Themenkomplex angesprochen, der im Folgenden untersucht werden soll: das Verhältnis von Sein und Schein – oder anders formuliert: das Verhältnis von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, von Authentizität und Spiel, von Wahrheit und Täuschung. Für die Analyse der Thematisierung von Schein und Sein im Zusammenhang mit den Figuren des Romans werden zwei Ebenen unter-

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Stewart/Therrien, „Aspects“, S. 555. („Wie soll man die Realität der Gefühle einschätzen bei Figuren, welche die Sprache benutzen, um zu verschleiern und zu täuschen? Es ist schwierig die Wahrhaftigkeit von Aussagen zu ermitteln in Briefen, die im Hinblick auf die Identität des Adressaten und die Absichten des Schreibenden gelesen werden müssen.“). Delon, Michel, P.-A. Choderlos de Laclos: Les Liaisons dangereuses, Paris 1986, S. 52 („Der Leser wird dazu gebracht, jedem Brief mit Argwohn zu begegnen.“). Claudia Liebrand ist der Ansicht, dass, weil gezeigt wird, dass die Figuren nie schreiben, was sie meinen, eine empathische Lektüre von Laclos’ Roman nicht möglich sei (vgl. Liebrand, Claudia, „Briefromane und ihre ‚Lektüreanweisungen‘: Richardsons Clarissa, Goethes Die Leiden des jungen Werthers, Laclos’ Les Liaisons dangereuses“, in: Arcadia, 32/1997, S. 342–364, hier S. 358.) Mir scheint, dass das aus der in 1.1 beschriebenen Perspektivenstruktur ableitbare Empathie-Potential des Briefromans auch dann erhalten bleibt, wenn deutlich gemacht wird, dass Briefe auch zur Täuschung verwendet werden können.

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schieden, die Ebene eher gesellschaftlich begründeter und damit historisch bedingter menschlicher Verhaltensweisen einerseits und die Ebene eher individualpsychologisch begründeter und deshalb möglicherweise über längere Zeiträume konstanter Verhaltensweisen des Menschen der abendländischen Tradition andererseits.53 Für beide Ebenen wird die Thematisierung von Schein und Sein im Roman durch die exemplarische Analyse verschiedener Figuren und der durch sie bearbeiteten anthropologischen Fragestellungen untersucht. II.1.

Schein und Sein – Gesellschaftlich

Das gesellschaftliche System, in dem sich die Figuren der Liaisons dangereuses bewegen, wird als streng geregelt dargestellt, und diese Regelungen betreffen insbesondere die Frauenfiguren. Die allgemein akzeptierte und propagierte Norm in Hinblick auf das Verhalten einer Frau in der aus noblesse d’épée und noblesse de robe zusammengesetzten aristokratischen Gesellschaft54 wird durch den von einem strengen Tugendideal gelenkten vertu-Diskurs bestimmt. Dieses Ideal verlangt von der ehrbaren Frau (femme honnête) neben einer allgemeinen Wohlanständigkeit und Wohltätigkeit vor allem eine absolute sittliche Tugendhaftigkeit.55 II.1.1. Frauenfiguren im Gesellschaftssystem der Liaisons dangereuses: Cécile de Volanges, Mme de Tourvel, Marquise de Merteuil In einer Gesellschaft, die Tugendhaftigkeit als einzige weibliche Verhaltensnorm propagiert, sind Männer, so legt es der Roman nahe, für Frauen grundsätzlich als gefährlich anzusehen. Alle weiblichen Figuren sehen sich den emotionalen und/oder erotischen Avancen der männlichen Figuren ausgesetzt, soweit sie nicht ein Alter erreicht haben, das sie für die Nachstellungen 53

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Diese Unterscheidung ist eine heuristische, da Begründungszusammenhänge im konkreten Einzelfall beide Ebenen umfassen können. Zum Unterschied zwischen dem alteingesessenen Schwertadel (noblesse d’épée) und dem aus dem Bürgertum neu entstandenen Amtsadel (noblesse de robe) in den Liaisons dangereuses vgl. Pinkernell, Gert, „Zur Funktion und Bedeutung der Dreiecksfigur in den Liaisons dangereuses“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 84/1974, S. 291–306. Vgl. Moravetz, Formen der Rezeptionslenkung, S. 110–114. Zur Differenzierung des vertu-Begriffs im Hinblick auf die Liaisons dangereuses vgl. auch Pabst, Esther Suzanne, Die Erfindung der weiblichen Tugend. Kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007, S. 259–308.

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der Männerwelt unattraktiv erscheinen lässt.56 Ein Eingehen auf die Avancen der Männer führt jedoch zur moralischen Entehrung, die in der Regel den kompletten Ausschluss aus der Gesellschaft mit sich bringt und damit dem sozialen Tod der Frau gleichkommt. Dieser Bedrohung sind die Frauen in jeder Phase ihres Geschlechtslebens und unabhängig von ihrem Familienstand ausgesetzt. So ist trotz der grundlegenden Unterschiede zwischen den drei zentralen Frauenfiguren jede von ihnen auf ihre Weise von diesen gesellschaftlichen Gegebenheiten bestimmt. Für die nach der Klostererziehung in die Gesellschaft eingeführte Cécile besteht die Bedrohung in einem sinnlichen Verhältnis vor ihrer Ehe, für die verheiratete Mme de Tourvel besteht sie in einer amourösen Verbindung neben der Ehe, und auch der verwitweten Mme de Merteuil wäre es nicht erlaubt, sich auf eine nicht durch eine neue Ehe sanktionierte erotische oder emotionale Beziehung mit einem Mann einzulassen. Eine auf persönlicher Zuneigung oder auch nur auf individueller sexueller Anziehung beruhende Beziehung zum anderen Geschlecht bleibt jedoch im vorgestellten Gesellschaftssystem für Frauen äußerst unwahrscheinlich. Der einzige Rahmen für eine Nahbeziehung zu einem Mann ist die Ehe. Ehen werden jedoch nicht auf der Grundlage einer freien Auswahl durch die zukünftigen Ehepartner geschlossen, sondern die Ehemänner werden für einen so genannte „mariage de convenance“ von den Eltern ausgesucht – so geschieht es im Roman für Cécile (vgl. Brief 98, S. 217–219), so berichtet es Mme de Merteuil über ihre eigene Verheiratung (vgl. Brief 81, S. 172). Männer hingegen können ihre Ehepartner nach ihren Vorlieben frei wählen: Von Gercourt wird berichtet, dass er Cécile trotz ihres Vermögens wohl nicht heiraten würde, wenn sie nicht blond wäre oder nicht die von Gercourt für seine zukünftige Frau geforderte Klostererziehung genossen hätte (vgl. Brief 2, S. 14). Zudem werden Männern erotische Abenteuer außerhalb der Ehe nur bedingt als moralische Verfehlung ausgelegt, und es steht ihnen frei, die Frauen, die sich ihnen hingeben, zu kompromittieren. Mme de Merteuil beschreibt diesen Gegensatz ausführlich in dem berühmten Brief 81: Combattant sans risque, vous devez agir sans précaution. Pour vous autres hommes, les défaites ne sont que des succès de moins. […] (S. 168)57

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Vgl. Brief 44, in dem Valmont seine Rache gegenüber Mme de Volanges, die ihn bei der Présidente de Tourvel angeschwärzt hat, auf die Tochter lenkt, da das Alter der Mutter diese vor Valmonts Schlägen schützt („puisque l’âge de cette maudite femme la met à l’abri de mes coups“, S. 93). „Als Kämpfer, der nichts einsetzt, bedürfen Sie nicht der Vorsicht. Für euch Männer ist eine Niederlage nur ein Erfolg weniger.“ (S. 236).

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En effet, ces liens réciproquement donnés et reçus, pour parler le jargon de l’amour, vous seul pouvez, à votre choix, les resserrer ou les rompre: heureuses encore, si dans votre légèreté, préférant le mystère à l’éclat, vous vous contentez d’un abandon humiliant, et ne faites pas de l’idole de la veille la victime du lendemain! (S. 169)58

Beispielhaft wird diese Situation im Roman durch die Stellung Valmonts in der Gesellschaft vorgeführt. Mme de Volanges, welche Valmont zwar privat als sittlich verworfenes Subjekt ansieht, das unzählige Frauen bloßgestellt und ins Unglück gestürzt hat, findet keinen Grund, nicht gesellschaftlich mit ihm zu verkehren, ja sie empfängt ihn sogar in ihrem eigenen Hause, weil er aus einer angesehenen und reichen Familie stammt, allgemein als charmant gilt und sich mit einer Mischung aus Liebenswürdigkeit und gefürchtetem Spott die Gesellschaft gefügig zu machen weiß (vgl. Brief 32, S. 64–66). Zudem wird durch die Prévan-Episode gezeigt, dass Männer im Gegensatz zu Frauen auf Solidarität untereinander zählen können: „La rivalité entre hommes repose sur une solidarité foncière.“59 Von Prévan, einem Rivalen und quasi Alter-Ego von Valmont, wird berichtet, er habe parallel drei als unzertrennlich geltende Freundinnen verführt und dies selbst den jeweiligen Männern der drei gestanden. Die betrogenen Männer hätten sich schließlich mit ihm versöhnt, ihre Frauen jedoch verstoßen und deren Untreue bekannt gemacht; alle drei Frauen mussten sich aus der Gesellschaft zurückziehen: Eine ging ins Kloster, die andern beiden leben ohne soziale Kontakte auf ihren Gütern (vgl. Brief 79, S. 159–165).60 Prévan hingegen hat ähnlich wie Valmont keinerlei moralische Sanktionierung seiner Handlungen zu befürchten.61 58

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„Diese süßen Bande, die – um in der üblichen Sprache der Liebe zu reden – einer dem anderen auferlegt, haben Sie als Mann allein die Macht nach Ihrem Belieben zu festigen oder zu lösen; und wir Frauen müssen uns noch glücklich schätzen, wenn Sie in Ihrer Leichtfertigkeit die Verschwiegenheit dem Skandal vorziehen, wenn sie, indem Sie sich mit dem demütigenden Verlassen begnügen, die Göttin von gestern nicht zum Opfer von heute machen.“ (S. 236). Delon, Laclos Liaisons, S. 63. („Die Rivalität zwischen Männern stützt sich auf eine fundamentale Solidarität.“). Eine ähnliche Versöhnung geschieht zwischen Valmont und Danceny, allerdings erst nachdem Danceny im Duell Valmont tödlich verwundet hat. Valmont gibt Danceny jedoch mit den Briefen der Marquise die Mittel an die Hand, sich und ihn an Mme de Merteuil zu rächen (vgl. Delon, Laclos liaisons, S. 90). Vgl. die Aussage von Pacini: „Constructions of gender prevailed over any consideration of Prévan’s morality or behaviour: the latter was allowed to align himself with the men offended, instead of with the women with whom he had happily spent the night.“ (Pacini, Giulia, „Women in the Sociable Contract, in Les liaisons dangereuses“, in: Nottingham French Studies, 43/2004, 2, S. 1–11, hier S. 3).

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Schließlich zeigt der Roman, dass Frauen nicht nur tugendhaft sein, sondern unter allen Umständen tugendhaft erscheinen müssen. In Brief 76, indem Valmont die Merteuil vor eben jenem Prévan warnt, wird deutlich, dass nicht nur eine tatsächliche Verbindung zu einem Mann, sondern auch der bloße Anschein einer solchen Beziehung eine Frau gesellschaftlich vernichten kann: „S’il peut gagner seulement une apparence, il se vantera, et tout sera dit.“ (S. 151)62 Diese Ansicht vertritt auch Mme de Volanges gegenüber Mme de Tourvel, wenn sie ihr rät, das Landgut von Mme de Rosemonde zu verlassen, weil allein der gemeinsame Aufenthalt von Tourvel und Valmont im gleichen Landhaus drohe, die Tourvel zu kompromittieren (vgl. Brief 32, S. 66). Laclos’ Briefroman zeigt jedoch nicht nur, dass die weiblichen Figuren dieser permanenten Entehrungsgefahr ausgeliefert sind. Die Handlungsentwicklung scheint den Schluss nahe zu legen, dass es den Frauen letztlich trotz mancher Anstrengungen nicht gelingt, sich vor dieser Gefahr zu schützen. Die junge Cécile wird zwar vordergründig dadurch entehrt, dass ihr durch Valmont Gewalt angetan wird, allerdings wird Céciles Entehrung dadurch ‚begünstigt‘, dass ihre Erziehung sowohl im Kloster wie auch durch ihre Mutter versagt hat. Sie ist so naiv und in weltlichen Dingen so unwissend, dass sie die Gefahren, denen sie in der Gesellschaft ausgesetzt ist, nicht einmal kennt, geschweige denn einzuschätzen oder abzuwehren weiß. Mme de Tourvel wird als prüde und religiös-devot beschrieben und entspricht so (vielleicht sogar in übertriebener Weise) den gesellschaftlichen Erwartungen an die Tugend einer Frau. Die Tatsache jedoch, dass sie sich in den ihren ethischen Grundsätzen völlig entgegenstehenden Valmont verliebt, kann dahingehend gedeutet werden, dass ihr religiöser Eifer letztlich die ihr eigene Methode ist, ihre unterdrückten und gesellschaftlich gefährlichen emotionalen und sinnlichen Bedürfnisse nicht an die Oberfläche dringen zu lassen.63 Beide Frauen, Cécile und Tourvel, repräsentieren zudem den Typus der sensiblen oder empfindsamen Frau, die an die Authentizität des Gefühls und seines Ausdrucks glaubt: Cécile, weil sie zu jung und ungebildet ist, um es besser zu wissen, Tourvel, weil ihre religiösen Überzeugungen ein Verständnis des Selbst und der Welt vorgeben, das von Ehrlichkeit und Authentizität geprägt ist. Den Gegensatz zu diesen beiden Figuren bildet Mme de Merteuil. Ihr ist es gelungen, durch eine perfekte Inszenierung den Ruf einer tugendhaften 62

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„Wenn es ihm bloß gelingt, einen Scheinerfolg zu erringen, wird er sich schon damit brüsten und hat alles erreicht.“ (S. 212). Vgl. Delon, Laclos Liaisons, S. 92.

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Witwe zu genießen, ohne auf männliche Liebhaber verzichten zu müssen. Wie eine solche Inszenierung möglich ist, gibt Merteuil in dem bereits zitierten Brief 81 an Valmont preis. Ihren Erfolg in der Gesellschaft führt Merteuil auf zwei Prinzipien zurück: erstens eine totale Selbstkontrolle, die sogar eine durch viel Übung erarbeitete Kontrolle über die eigene Physiognomie umfasst (u. a. dadurch, das sie sich selbst lehrte, mit ihren Gesichtszügen das Gegenteil von dem auszudrücken, was sie empfindet), und zweitens den eisern befolgten Grundsatz, nie Beweise, z. B. in Form von Briefen, einer Verbindung mit einem Mann zu hinterlassen und stets so viel Macht und Wissen über den jeweiligen Liebhaber zu gewinnen, dass er es sich nicht erlauben kann, eine Verbindung mit Merteuil gegen deren Willen publik zu machen. So gelingt es Merteuil, jeden Liebhaber zu bekommen, den sie haben möchte, und ihn wieder loszuwerden, wenn er beginnt, ihr zu missfallen, ohne den Ruf einer unerreichbaren und tugendhaften Frau zu verlieren. Merteuil ist zudem der Überzeugung, dass Liebe nicht die Ursache des sinnlichen Vergnügens, sondern allenfalls ein Vorwand der Sinnlichkeit sei. So hat sie nicht den Wunsch, Liebe zu empfinden, sondern sie hervorzurufen und/oder vorzutäuschen: „je sentais un besoin de coquetterie qui me raccommoda avec l’amour; non pour le ressentir à la verité, mais pour l’inspirer et le feindre.“ (Brief 81, S. 173)64 Die einzige emotionale Regung, die Merteuils erotische Abenteuer zu begleiten scheint, ist der Triumph über die Gesellschaft und die einzelnen Männer.65 Insofern hat Merteuil eine gewisse Freiheit in einem auf Unfreiheit insbesondere der Frau basierten Gesellschaftssystem erreicht. Es gelingt ihr, gegen die Regeln der Gesellschaft zu verstoßen und trotzdem den Schein zu wahren. Aber, obwohl sie behauptet, mit ihrer Lebensweise ihr Geschlecht rächen zu wollen („née pour venger mon sexe et maîtriser le vôtre“, S. 170),66 ist sie eine Rebellin nur für sich selbst, keine frühe Streiterin für die Emanzipation der Frau, wie zuweilen behauptet wird.67 Sie zeigt keinerlei Absicht, die gesellschaftliche Situation zu 64

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„Ich fühlte ein Bedürfnis nach kokettem Spiel, das mich der Liebe näher bringen sollte; nicht um sie wirklich zu empfinden, sondern um sie einzuflößen und vorzutäuschen.“ (S. 243). Vgl. Matzat, der Merteuils Liebeskonzeption u. a. in der Moralistik des 17. Jahrhunderts verankert sieht: Für Merteuil sei Liebe eine Art Machtkampf, ein Feld für die Bestätigung der eigenen Person, ein Mittel der Anerkennung und des amourpropre (vgl. Matztat, „Affektkonzeption“, S. 297–298. „geboren, mein Geschlecht zu rächen und das Ihre zu meistern“ (S. 237). Vgl. Stackelberg, Jürgen von, „Le Féminisme de Laclos“, in: Raymond Trousson (Hrsg.), Thèmes et Figures du Siècle des Lumières, Genève 1980, S. 271–284, hier S. 284; Delon, Laclos Liaisons, S. 55.

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verändern, im Gegenteil, sie nutzt die bestehenden Gegebenheiten zu ihrem Vorteil. So bleibt sie letztlich in den Denkschemata ihrer Erziehung und Gesellschaft verwurzelt: Sie scheint die Rolle der Frau nicht als autonomes, mit gleichen Rechten wie der Mann versehenes Subjekt zu begreifen.68 Die Besonderheit des Verhaltens der Merteuil besteht darin, dass sie sich wie ein männlicher Libertin verhält: Sie übernimmt in ihren sexuellen Abenteuern den aktiven, verführenden Part und beendet sie mit der gesellschaftlichen Vernichtung des vormaligen Liebhabers (vgl. Prévan-Episode).69 Auch kennt sie keine Solidarität gegenüber Geschlechtsgenossinnen und benutzt ihr freundschaftlich verbundene Frauen wie Mutter und Tochter Volanges ohne die geringsten Skrupel, um sich an einem Mann, der sie einmal ohne ihre Zustimmung verlassen hat (Gercourt), zu rächen. Trotz ihrer intellektuellen Überlegenheit und ihrer Skrupellosigkeit scheitert auch Merteuil an den gesellschaftlichen Gegebenheiten. Sie wird ihren eigenen Prinzipien, keine geschriebenen Spuren ihrer Taten zu hinterlassen, untreu. Das Bedürfnis nach einem Publikum und nach Anerkennung für ihre Taten scheint so übermächtig, dass sie sich mit dem bekenntnishaften Brief 81 Valmont in die Hände gibt.70 Am Ende scheitern also die drei zentralen Frauenfiguren, und alle drei werden konsequenterweise aus der Gesellschaft entfernt. Cécile kommt zu Fall, weil sie von ihrer Klostererziehung und ihrer Mutter falsch oder gar nicht auf die gesellschaftlichen Realitäten vorbereitet wurde und letztlich nicht klug genug ist, diese ad hoc zu durchschauen.71 Sie muss zurück ins Kloster. Die Présidente de Tourvel geht zugrunde, weil sie nicht fähig ist, Valmont in einer Weise zu durchschauen, dass ihr die Gefahr, die von ihm ausgeht, rechtzeitig bewusst wird, und weil es ihr nicht gelingt, ihre Emotionalität und ihre Sinnlichkeit mit Hilfe ihrer religiösen Überzeugungen in Schach zu halten. Dieses Dilemma führt zu einer Art geistiger Umnachtung, und Tourvel zieht sich in ein Kloster zurück, um dort (an gebrochenem Herzen) zu sterben. Mme de Merteuil wird nach der Veröffentlichung ihrer 68 69 70

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Vgl. Pacini, „Women“, S. 10. Vgl. Delon, Laclos Liaisons, S. 63. Vgl. Kavanagh, Thomas M., „Educating Women: Laclos and the Conduct of Sexuality“, in: Nancy Armstrong/Leonard Tennenhouse (Hrsg.), The Ideology of Conduct. Essays on Literature and the History of Sexuality, New York, London 1987, S. 142–159, hier S. 158; Delon, Laclos Liaisons, S. 77. Die Feststellung von Céciles mangelndem Scharfsinn lässt sich durch den Vergleich mit Mme de Merteuils Bericht von ihrer eigenen Einführung in die Gesellschaft und ihrer quasi autodidaktischen Auseinandersetzung mit deren Regeln treffen (vgl. Brief 81).

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Briefe und der damit verbundenen Aufdeckung ihrer Lebensweise ebenfalls aus der Gesellschaft ausgestoßen; sie verliert zudem einen Großteil ihres materiellen Besitzes und durch eine Pockeninfektion72 sogar ihre Schönheit. Ihr bleibt nur die Flucht nach Holland.73 Inwiefern das Dargestellte als repräsentativ für die Pariser Gesellschaft der Zeit gelten kann, ist wohl schwer zu beurteilen. Immerhin hat die Briefromanautorin Mme Riccoboni in ihrem Briefwechsel74 mit Laclos diesem nur im Hinblick auf das skrupellose Verhalten der Merteuil Übertreibung vorgeworfen und ihn wegen der Darstellung der Kombination von Bösartigkeit und Unaufrichtigkeit gerügt: […] [O]n vous reprochera toujours, Monsieur, de présenter à vos lecteurs une vile créature, appliquée dès sa première jeunesse à se former au vice, à se faire des principes de noirceur, à se composer un masque pour cacher à tous les regards le dessein d’adopter les mœurs d’une de ces malheureuses que la misère réduit à vivre de leur infamie. (S. 763)75

Laclos hingegen verteidigt in diesem Briefwechsel seine Darstellung als exemplarisch für bestimmte Personen der Gesellschaft. Doch auch wenn die Figur der Merteuil als übertrieben und unrealistisch anzusehen wäre, so kann ihr Verhalten als logische und konsequente Ausnutzung der Bedingungen einer auf Scheinhaftigkeit basierenden Gesellschaft, wie sie im Roman dargestellt wird, angesehen werden. II.1.2. Laclos und die Erziehung der Frau im 18. Jahrhundert Die im vorigen Abschnitt beschriebenen zentralen Frauenfiguren sowie der mit ihren Handlungen und Motivationen verbundene Gesamtzusammenhang der fiktiven Welt des Romans zeigen, dass das gesellschaftliche System 72

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Dabei ist im Französischen die Pockeninfektion (petite vérole) homonym zu Syphilis (grande vérole). Inwiefern das Scheitern Merteuils in der Gesamtkomposition des Romans ernst zu nehmen ist oder die poetische Gerechtigkeit ihres Sturzes durch die Akkumulation der Bestrafungen (Verlust der gesellschaftlichen Position, des Vermögens und der Schönheit) ironisch gebrochen wird, sei hier dahingestellt. Der Briefwechsel wird zitiert nach Laclos, Œuvres. „Man wird Ihnen stets vorwerfen, Monsieur, eine ruchlose Kreatur dargestellt zu haben, die von Jugend an bestrebt ist, sich in lasterhaftem Verhalten zu üben, sich die dunkelsten Prinzipien zu eigen zu machen, sich eine Maske zurechtzulegen, um vor den Augen aller anderen die Absicht zu verbergen, das sittliche Verhalten einer dieser Unglücklichen anzunehmen, welche die Not und Armut zwingt, in der Ehrlosigkeit zu leben.“ (Diese und die in den Fußnoten 77, 78, 79, 81 und 82 beigefügten Übersetzungen stammen von F. Z.).

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dieser fiktiven Welt auf einer Art Sozialvertrag beruht, der genau festgelegte und geschlechtsspezifisch unterschiedliche Vorstellungen über die jeweils angemessenen Verhaltensweisen von Mann und Frau in der Gesellschaft umfasst. Der Roman exemplifiziert damit Erkenntnisse und Annahmen über die gesellschaftlichen Verhältnisse und insbesondere über die Rolle der Frau in der Gesellschaft, die Laclos in essayistischer Form in zwei unvollendeten Traktaten über die Erziehung der Frauen etwa zur gleichen Zeit der Niederschrift der Liaisons dangereuses dargelegt hat.76 Auf die Frage, wie die Erziehung bzw. Bildung der Frauen verbessert werden könnte, antwortet Laclos mit einem kategorischen: „il n’est aucun moyen de perfectionner l’éducation des femmes.“77 (S. 389) Da die Erziehung der Frauen nicht in der Entfaltung ihrer Begabungen, sondern in der Beschneidung ihrer Fähigkeiten bestehe, könne man ohnehin von Erziehung oder Bildung nicht sprechen; die gegebenen Einschränkungen kämen vielmehr einem Verderben (dépravation) der Frauen gleich (vgl. S. 390). Den Frauen könne auch gar keine Erziehung zukommen, da sie in der Gesellschaft im Status der Sklaverei lebten: „Partout où il y a esclavage, il ne peut y avoir éducation; dans toute société les femmes sont esclaves; donc la femme sociale n’est pas susceptible d’éducation.“78 (S. 391) Der Hintergrund für diese Aussagen ist eine an den frühen Rousseau anknüpfende Vorstellung des Gegensatzes von Natur und Gesellschaft: „La nature crée que des êtres libres; la société fait que des tyrans et des esclaves.“79 (S. 419) So finden sich in jedem Sozialvertrag die Frauen, weil sie die Schwächeren sind, in der Rolle der Sklaven wieder.80 Da die Frauen die Männer nicht besiegen können, haben sie sich, so Laclos, darauf verlegt, sie zu verführen: „Elles sentirent enfin que, puisqu’elles étaient plus faibles, leur unique ressource était de séduire; elles connurent que si elles étaient dépendantes des hommes par la force, ils pouvaient le devenir d’elles par le plaisir.“81 (S. 421) Die Frauen hätten es durch die 76

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In der Pléiade-Ausgabe der Œuvres sind die beiden Traktate unter dem Titel Des femmes et de leur éducation abgedruckt. Sie werden nach dieser Ausgabe zitiert. „Es gibt kein Mittel, die Bildung der Frauen zu verbessern.“ „Überall, wo Sklaverei herrscht, kann es keine Bildung geben; in jeder Gesellschaft sind die Frauen Sklaven, also ist die Frau in der Gesellschaft nicht empfänglich für Bildung.“ „Die Natur erschafft freie Wesen, die Gesellschaft macht daraus Tyrannen und Sklaven.“ Vgl. Kavanagh, „Educating“, S. 145. „Sie bemerkten schließlich, dass, da sie die Schwächeren waren, die Verführung ihr einziges Mittel darstellte; sie erkannten, dass, auch wenn sie den Männern in

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Kunst der Verführung geschafft, im fortwährenden Krieg zwischen den Geschlechtern gewisse Siege über die Männer zu erringen. Allerdings sei diese Kunst der Verführung auch eine Kunst der Verschleierung (konkret in der Umhüllung des Körpers durch gleichzeitig verhüllende, aber die Imagination reizende Kleidung), der Verstellung (z. B. ablehnen, wenn man eigentlich zustimmen will) und des Scheins (d. h. des Wissens darum, dass die durch Entzug entstehenden Vorstellungen eine Sache größer, stärker, intensiver und damit begehrenswerter erscheinen lassen, als sie in der Wirklichkeit ist). Zudem würden die Männer es zuweilen schaffen, die Waffen der Frauen gegen diese selbst zu richten, in diesem Fall würde die Unterdrückung der Frauen noch verstärkt und verschärft: „quelquefois aussi les hommes ont tourné contre elles-mêmes ces armes qu’elles avaient forgées pour les combattre, et leur esclavage en est devenu plus dur.“ (S. 422)82 Bei näherer Betrachtung scheint diese Beschreibung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau erstaunlich genau den Gegebenheiten in den Liaisons dangereuses zu entsprechen. Das Spiel der Verführung scheint sich ausschließlich gegen die Frauen gewendet zu haben. Im dargestellten gesellschaftlichen Rahmen nützen die Verführungskünste den Frauen wenig, da Verführung offen angewendet zur sozialen Ächtung führt. Mme de Merteuil bildet auch nach ihrem eigenen Bekunden die sprichwörtlich die Regel bestätigende Ausnahme, und diese Ausnahme wird zumindest auf der Oberfläche der Geschichte am Ende aus der fiktiven Welt eliminiert. II.1.3. Schein und Sein der Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Darstellungsform Briefroman Betrachtet man Laclos’ Roman vor dem Hintergrund seiner Aussagen über die Erziehung der Frau, kann man die Frauenfiguren des Romans als exemplarische Darstellung der Situation der Frauen und ihrer Verhaltensweisen in der französischen adeligen Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts interpretieren. Dabei wird durch die Figurendarstellung in den Liaisons dangereuses letztlich das Bild einer Gesellschaft mit einer hohen Diskrepanz zwischen Sein und Schein gezeichnet. In diesem Gesellschaftssystem ist es von unbedingter Wichtigkeit, zwischen gesellschaftlichem Schein und gesellschaft-

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Hinblick auf die Stärke unterlegen waren, diese ihnen im Hinblick auf das Vergnügen unterlegen werden konnten.“ „Manchmal haben die Männer auch die Waffen, welche die Frauen geschmiedet hatten, um sie zu bekämpfen, gegen die Frauen selbst gewendet, und deren Sklaverei wurde dadurch noch drückender.“

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lichem Sein unterscheiden zu können, um nicht das Opfer von die Existenz bedrohenden Täuschungen zu werden. Gleichzeitig wird gezeigt, wie schwierig es für die meisten Figuren ist, diese Unterscheidung in einer konkreten Situation zu treffen. Diese Unsicherheit im Hinblick auf die Einschätzung der Figuren durch andere Figuren wird dem Leser in besonders sinnfälliger Art und Weise durch die Form des Briefromans vor Augen geführt. Durch die Subjektivität der Brieferzählung wird dem Rezipienten die jeweilige Sicht der einzelnen Figuren nachvollziehbar gemacht. Er wird zum unmittelbaren Zeugen davon, wie wenig die einzelnen Figuren imstande sind, die Scheinhaftigkeit der gesellschaftlichen Beziehungen zu durchschauen. Dass die jungen Liebenden Cécile und Danceny nicht bemerken, wie sie von Valmont und Merteuil zu anderen Zwecken als den ihren benutzt werden, mag durch ihre mehrfach unterstrichene jugendliche Naivität erklärbar sein. Nichtsdestotrotz ist diese mangelnde Einsicht in die Gegebenheit für die Betroffenen gesellschaftlich äußerst gefährlich. Mme de Volanges, die von ihrem Alter her neben Mme de Rosemonde die erfahrenste Teilnehmerin am Pariser Gesellschaftsspiel sein müsste, schätzt zwar die Gefährlichkeit eines Valmont richtig ein, vermag aber nicht die Machenschaften der Marquise de Merteuil zu durchschauen. Mme de Tourvel nimmt einerseits die Warnungen ihrer Beschützer-Freundin Volanges ernst, kann aber andererseits nicht umhin, ihren eigenen gegensätzlichen Erfahrungen mit Valmont mehr zu vertrauen, und ist nicht imstande zu sehen, dass ihre persönlichen Beobachtungen im Umgang mit Valmont nur auf einem von diesem explizit für sie inszenierten Augenschein beruhen. Dem Leser wird u. a. dadurch, dass er die Perspektiven der verschiedenen Figuren in ihren Briefen nachvollziehen kann, und dadurch, dass er die adressatenspezifischen Differenzen in den Briefen einer Figur erkennen kann, die Diskrepanz zwischen Täuschung und Wirklichkeit, zwischen Sein und Schein vorgeführt. Zudem kann man die These vertreten, dass eine Parallele zwischen der Position des Rezipienten gegenüber dem Text und der Stellung der Figur gegenüber ihrer Umwelt gezogen werden kann. Die Fragmentierung der Handlungsdarstellung und die Absenz einer die subjektiven Darstellungen integrierenden oder wertenden Erzählinstanz erfordern vom Rezipienten eine detektivische Lektüre. Ähnlich wie die Figuren des Romans darum bemüht sind, ihre schwer durchschaubare Welt einzuschätzen, muss sich der Rezipient aus den unterschiedlichen, im Ansatz teilweise widersprüchlichen Informationen aus den Briefen durch eigene Inferenz- und Interpretationsleistungen ein Bild der fiktiven Figuren und ihrer Welt machen. Er muss dabei nicht nur die Subjektivität der Darstellung einkalkulieren, sondern auch

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die Verstellungs-, Täuschungs- und Manipulationsmanöver, auf die er explizit hingewiesen wird. Dabei wird ihm durch die Figuren im Text vorgeführt, wie wenig zuverlässig Einschätzungen im Hinblick auf das Sein und Schein von Phänomenen ausfallen können. So kann er sich nicht sicher sein, „daß er alle Informationen für eine richtige Entschlüsselung der Briefe stets zur Hand hat“.83 Zudem kann der Rezipient die Frage nach Täuschung oder Manipulation von der innertextlichen Kommunikation zwischen den Briefpartnern auf die außertextliche Kommunikation zwischen Autor und Rezipient übertragen. Mit der Herausgeberfiktion sind bereits erste Anhaltspunkte für eine mögliche Täuschung bzw. Manipulation des Rezipienten durch den Autor gegeben, da sie aus zwei in ihren Aussagen gegensätzlichen Teilen besteht. Die Notice de l’éditeur (Vorbemerkung des Verlegers) und die Préface du rédacteur (Vorwort des Herausgebers) widersprechen sich im Hinblick auf das Verhältnis der abgedruckten Korrespondenz zur Wirklichkeit. Der Herausgeber geht natürlich davon aus, dass der Briefwechsel real ist und dass er ein realistisches Bild der Gesellschaft zeichnet und insofern nützlich und lehrreich, insbesondere für weibliche Leser, sein kann. Der Verleger hingegen sieht das in den Briefen gezeichnete Bild der Gesellschaft als unrealistisch an, weil die sittliche Verdorbenheit einiger Figuren dem Jahrhundert der Aufklärung nicht entspricht. En effet, plusieurs des personnages […] ont de si mauvaises mœurs qu’il est impossible de supposer qu’ils aient vécu dans notre siècle; dans ce siècle de philosophie, où les lumières, répandues de toutes parts, ont rendu, comme chacun sait, tous les hommes si honnêtes et toutes les femmes si modestes et si réservées. (S. 3)84

Allerdings ist diese Kritik so formuliert, dass sie auch ironisch gelesen werden kann und in diesem Falle die Aussagen des Herausgebers eher unterstützen als ihnen widersprechen würde. Wie dem auch sei, der Rezipient ist aufgefordert, sich über das Verhältnis des Romans zur gesellschaftlichen Wirklichkeit seine eigenen Gedanken zu machen. Die fingierte Authentizität kann dahingehend gedeutet werden, dass der Rezipient das im Roman gezeichnete Bild einer Gesellschaftsschicht, wenn nicht als wahres, so doch als 83 84

Moravetz, Formen der Rezeptionslenkung, S. 252. „In der Tat führen einige Personen […] einen so sittenlosen Lebenswandel, daß wir unmöglich annehmen können, sie hätten in unserem Jahrhundert gelebt – in unserem Jahrhundert der Philosophie, in dem, wie jedermann weiß, die allenthalben verbreitete Aufklärung sämtliche Männer so gut und sämtliche Frauen so bescheiden und zurückhaltend gemacht hat.“ (S. 7).

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ein wahrhaftiges ansehen soll. Gleichzeitig kann der Rezipient sich jedoch fragen, ob ihm tatsächlich ein wahrheitsgemäßes Bild der Gesellschaft vorgelegt wird oder ob er durch ein absichtlich täuschendes bzw. manipulierendes Bild in die Irre geführt werden soll. II.2.

Schein und Sein – Individualpsychologisch

Auf der individualpsychologischen Ebene bezieht sich die Dichotomie von Sein und Schein, von Wahrheit und Täuschung auf die Selbsteinschätzung der Figuren, d. h. auf ihre Vorstellung von sich selbst, ihren Lebensprinzipien und den Motiven, die ihre Handlungen bestimmen. Die gesellschaftlichen Gegebenheiten, wie sie im Roman dargestellt werden, verlangen von den Individuen ein hohes Maß an Selbst- und Affektkontrolle. Besonders die weiblichen Figuren müssten, um dem in der Gesellschaft gehuldigten Tugendideal zu genügen bzw. um den Anschein zu erwecken, das zu tun, ein quasi ausschließlich vernunftgeleitetes Handeln an den Tag legen. Letztlich ist aber keine der Figuren, weder der weiblichen noch der männlichen, imstande, dieses Maß an Kontrolle und an Vernunftorientierung aufzubringen. In besonderer Weise lässt sich das individualpsychologische Verhältnis zwischen Sein und Schein an Mme de Tourvel und an Valmont beobachten. II.2.1. Mme de Tourvel: Empfindsame Authentizität als Selbsttäuschung Die Problematik der Unterscheidung zwischen Schein und Sein in den individuellen Reaktionen einer Figur wird ironischerweise gerade bei der eine Philosophie der absoluten Aufrichtigkeit vertretenden Mme de Tourvel besonders deutlich. Die Tatsache, dass die Présidente am Ende Valmont nicht widerstehen kann, liegt sicherlich zum einen daran, dass sie einem so listigen und geschickten Verführer wie Valmont einfach nicht gewachsen ist. Die Verführung der Tourvel ist aber letztlich auch dadurch begründet, dass sie ihre eigenen Gefühle und Motivationen wohl lange Zeit falsch einschätzt. Sie ist nicht nur ein Opfer Valmonts, sondern auch ein Opfer ihrer selbst.85 Die Dichotomie von Sein und Schein zeigt sich besonders deutlich in den Widersprüchen von Tourvels Verhalten. Diese Widersprüche tauchen schon in ihren ersten Briefen auf und verstärken sich bis zu ihrer endgültigen Kapitulation gegenüber den Eroberungsversuchen von Valmont. Mme de Tourvel wird am Beginn ihrer Begegnung mit Valmont von Mme de Volanges vor der erotischen und moralischen Gefahr, die von Valmont 85

Vgl. von Hagen: Liebschaften, S. 63.

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ausgeht, gewarnt. An und für sich hat Tourvel keinen Grund, an den Schilderungen ihrer älteren und erfahreneren Freundin zu zweifeln. Eine vernunftgeleitete Abwägung müsste ihr den näheren Umgang mit Valmont verbieten oder sie zumindest zu einer wachsamen Vorsicht zwingen. Tourvel vertraut jedoch den eigenen emotionalen Erfahrungen mit Valmont bzw. dem Augenschein, den er ihr darbietet, mehr und versucht sogar, Mme de Volanges’ Urteil über Valmont in Frage zu stellen (vgl. Brief 11, S. 32–33). Sie lässt sich geradezu bereitwillig durch die geschickte Inszenierung Valmonts blenden. Für dieses Verhalten von Tourvel lassen sich aus ihren Briefen zwei Erklärungen ableiten: Tourvel scheint zum einen eine Art unüberwindlicher Sympathie gegenüber Valmont zu empfinden, und/oder sie scheint zum anderen trotz ihrer gegenteiligen Moralvorstellungen die Tatsache, dass Valmont ihr den Hof macht, zu genießen. Unabhängig davon, ob die eine oder die andere oder beide Erklärungen zutreffend sind, wird aus den Briefen der Présidente deutlich, dass sie keine dieser nahe liegenden Motivationen für ihre Handlungen auch nur in Betracht zieht. Möglicherweise ist zudem ein gewisser Hochmut im Spiel. Tourvel ist nicht nur der Ansicht, dass Valmont gar kein so schlechter Mensch sein kann, sondern sie hat sich auch vorgenommen, ihn dazu zu bringen, sein ausschweifendes Leben und seine erotischen Abenteuer zu bereuen: „je le prêche avec beaucoups de sévérité. Vous qui le connaissez, vous conviendrez que ce serait une belle conversion à faire.“86 (S. 25) Es scheint, dass Tourvel sich in ihrer von religiösem Eifer unterfütterten Tugendhaftigkeit über jegliche Versuchung derart erhaben fühlt, dass sie die Gefahr, die Valmont gesellschaftlich und emotional für sie darstellt, nicht erkennt bzw. trotz der Warnungen ihrer Freundin nicht erkennen will. Fadenscheinig erscheinen jedenfalls ihre Gründe, der Bitte von Volanges, nicht mit Valmont an einem Ort zu bleiben, nicht oder nicht sofort zu entsprechen (vgl. Brief 11, S. 33). Widersprüchlich erscheint auch die Tatsache, dass Tourvel, obwohl sie vorgibt, nichts für Valmont zu empfinden, diesen von einem ihrer Leute verfolgen lässt, um in Erfahrung zu bringen, was Valmont macht, wenn er das Schloss der Rosemonde verlässt. Definitiv paradox wird Tourvels Verhalten, nachdem Valmont sie mit seinem Liebesgeständnis konfrontiert hat. Sie tritt in einen Briefwechsel mit ihm ein, obwohl sie sich darüber im Klaren zu sein scheint, dass allein schon das Abschicken eines Briefes an Valmont ihr ge86

„[…] ich predige ihm mit großer Strenge. Sie, die Sie ihn kennen, werden mir zugeben, daß ihn zu bekehren eine schöne Aufgabe wäre.“ (S. 36). Vgl. auch Valmonts Bericht darüber: „Elle veut, dit-elle, me convertir.“ (S. 23, „Sie will, so sagt sie, mich bekehren.“ S. 32).

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sellschaftlich gefährlich werden kann: So verlangt sie schon in ihrem ersten Brief, dass Valmont ihr diesen Brief zurückgeben solle, damit keine Spur einer Verbindung zwischen ihr und ihm bleibt. Aber obwohl Valmont auf diese Bitte nicht eingeht, hört Tourvel nicht auf, ihm zu antworten. So entstehen zwischen dem 21. 8. und dem 27. 9. insgesamt acht Briefe an Valmont. Die Gründe, die Tourvel sich dafür zurecht legt, sind immer solche, die das Schreiben eigentlich verbieten würden: Sie möchte erklären, warum sie Valmont nicht liebt und nicht lieben kann, sie möchte erklären, warum sie ihm nicht mehr schreiben wird, sie muss ihm Vorhaltungen machen, dass er die getroffenen Vereinbarungen bezüglich der Häufigkeit und der Themen der Briefe nicht einhält usw. (vgl. die Briefe 24, 41, 43, 50, 56, 67, 78, 90). Damit tut Tourvel genau das Gegenteil von dem, was sie sagt: Anstatt die Kommunikation zu unterbrechen oder Valmonts Liebesdiskurs zu unterbinden, gibt sie ihm Gelegenheit und Anlass, beides fortzuführen. Exemplarisch lässt sich dieser Mechanismus an Brief 50 beobachten. Der Brief ist gespickt mit Sätzen in Frageform in Hinblick auf die negativen Auswirkungen der Liebe und auf die Zerstreuungen von Valmont in Paris. Diese Fragen geben sich zwar den Anschein, in rhetorischer Form gestellt zu sein, sie scheinen jedoch nichtsdestotrotz eine Beantwortung geradezu herauszufordern.87 So scheint es, dass Tourvel im Hinblick auf ihre eigenen Gefühle und auf die Motivation ihres Handelns einer Selbsttäuschung unterliegt. Eine Art Einsicht in diese Verkennung findet sich in Brief 102, dem ersten, den Tourvel an Rosemonde schickt und ebenfalls dem ersten, in dem sie sich ihre Gefühle für Valmont eingesteht. Fatal effet d’une présomptueuse confiance! pourquoi n’ai-je pas redouté plus tôt ce penchant que j’ai senti naître? Pourquoi me suis-je flattée de pouvoir a mon gré le maîtriser ou le vaincre? (S. 232)88

Die Verkennung der Gefahr, in die sich Tourvel durch ihre Kommunikation mit Valmont gibt, und die Täuschung über die Gefühle, die für sie dabei im Spiel sind, ist besonders vor dem Hintergrund ihrer eigenen Liebeskonzeption verheerend. Tourvel sieht in der Liebe ein der Vernunft entgegenstehendes Gefühl, das den Menschen in Verwirrung stürzt, von kurzer Dauer ist und nur bittere Reue zurücklässt (vgl. Brief 50, S. 102). Gleichzeitig wird die Liebe als ein Gefühl beschrieben, das eine kaum zu bändigende Macht über 87 88

Vgl. Moravetz, Formen der Rezeptionslenkung, S. 223. „Verhängnisvolle Wirkung überheblichen Selbstvertrauens! Warum bin ich vor dieser Neigung, die ich in mir keimen fühlte, nicht eher erschrocken? Warum schmeichelte ich mir, ich könnte sie nach meinem Willen meistern und besiegen?“ (S. 326).

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den Verliebten entwickelt. Diese Liebeskonzeption ist u. a. aus den folgenden drei Gegebenheiten im Roman herauszulesen: zum ersten aus der Verwirrung, in die ihre Liebe Tourvel trotz ihrer von Vernunft und Tugend geprägten Lebenseinstellung stürzt, zweitens aus der Aussage von Rosemonde, dass es für einen Verliebten trotz aller Willensanstrengung schwierig ist, sich auf Dauer von dem Objekt seiner Begierde fernzuhalten,89 und drittens aus der Tatsache, dass Tourvel am Ende sich einer Liebesbeziehung mit Valmont hingibt, einer Beziehung, die nicht weniger bedeutet als die Aufgabe aller ihrer Lebensprinzipien. Vor dem Hintergrund dieser Liebeskonzeption führt das Festhalten am Schein der Indifferenz dazu, dass Tourvel erst Gegenmaßnahmen ergreift, als es schon zu spät ist. So führen die mangelnde Einsicht in das eigene Gefühlsleben und die damit verbundene Selbsttäuschung zuerst zur Entehrung und schließlich in den Tod. II.2.2. Vicomte de Valmont: Vorgetäuschtes Gefühl als authentisches Empfinden? Eine andere Form der individualpsychologischen Unklarheit zwischen Sein und Schein ist bei Valmont zu beobachten. Valmonts Verführung von Tourvel ist dadurch geprägt, dass er sich in seinen Briefen der Sprache, Rhetorik und Argumentation der von Tourvel geschätzten religiös geprägten Empfindsamkeit bedient. Mit diesem Trick versucht er, die zu Erobernde über seine Beweggründe und seine Absichten zu täuschen. Valmont ist sich dabei natürlich der Täuschung gegenüber Tourvel voll bewusst. Allerdings wird im Laufe der Handlung die Frage aufgeworfen, ob und inwiefern die ursprünglich vorgetäuschten Gefühle für Valmont zu realen und authentischen werden. Valmonts Verführungsspiel beginnt als eine Art Sport. Die devote und prüde Mme de Tourvel erscheint ihm nur deshalb als reizvolles Ziel, weil sie schwer zu erobern sein wird (vgl. Brief 4, S. 17). Zudem ist die Eroberung ausschließlich auf Macht- und Lustgewinn angelegt.90 Es stellt sich jedoch die Frage, ob Valmont durch seine Briefe und Handlungen nicht nur die Tourvel, sondern quasi auch sich selbst von seiner Liebe zu ihr überzeugt. Da Valmont in seinen Briefen ein Meister der Verstellung ist,

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In ihrer Reaktion auf Tourvels Geständnis und Flucht schreibt Mme de Rosemonde: „quand on est là, il est bien difficile de se tenir toujours éloignée de celui dont notre cœur nous rapproche sans cesse.“ (S. 233) „Wenn man einmal so weit ist, dann ist es sehr schwer, sich dauernd von dem fernzuhalten, dem unser Herz uns immer wieder nahebringt.“ (S. 327). Vgl. Brief 7, S. 22, und Matztat, „Affektkonzeption“, S. 300.

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kann der Rezipient bis zum Ende nicht eindeutig entscheiden, ob aus der vorgetäuschten Liebe ein authentisches Gefühl entsteht. Zwei Möglichkeiten sind mit den Gegebenheiten des Textes vereinbar: die Möglichkeit, dass Valmont im Laufe der Zeit so in die Rolle des Liebenden hineinwächst, dass er ganz in ihr aufgeht, oder die Möglichkeit, dass er sich von Anfang an über seine Gefühle gegenüber der Présidente täuscht.91 Bereits manche Aussagen in Brief 4 scheinen nicht so recht zu dem vorgeschobenen sportlichen Wettkampf mit möglichst schweren Hindernissen zu passen: „Je n’ai plus qu’une idée; j’y pense le jour et la nuit. J’ai besoin d’avoir cette femme, pour me sauver du ridicule d’en être amoureux.“92 (S. 18) Die Tatsache, dass Valmont seine Gefühle gegenüber Mme de Tourvel nicht völlig transparent sind, bleibt von Merteuil nicht unbemerkt: Or, est-il vrai, que vous vous faites illusion sur le sentiment qui vous attache à Mme de Tourvel? C’est de l’amour, ou il n’en exista jamais: vous le niez de cent façons; mais vous le prouvez de mille. (Brief 134, S. 312)93

Mme de Merteuil zeigt in der Folge des Briefes Valmont an seinen eigenen Formulierungen, dass er für Tourvel Liebe empfindet, u. a. durch die Vorzüge und die Einzigartigkeit, die er dem Objekt seiner Begierde zuschreibt. Eine Veränderung Valmonts könnte auch aus folgendem Geständnis bei der Beschreibung der ersten gemeinsamen Nacht mit Tourvel heraus gelesen werden: „Je ne sortis de ses bras que pour tomber à ses genoux, pour lui jurer un amour éternel; et, il faut avouer tout, je pensais ce que je disais.“94 (Brief 125, S. 295) So stellt sich die Frage, ob für Valmont unwillentlich aus Täuschung Ernst geworden ist, aus einem vorgetäuschtem Gefühl ein authentisches oder, wenn man so will, aus Schein Sein. Ob diese Wandlung tatsächlich stattfin91

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Vgl. die Aussage von von Hagen: „So erkennt Valmont nicht, dass die Briefe, die er an die Présidente de Tourvel richtet, in dem Glauben, sie enthielten geheuchelte Gefühle, tatsächlich seiner Gefühlslage ziemlich genau entsprechen.“ (von Hagen: Liebschaften, S. 40). „Nur ein Wunsch beschäftigt mich noch; ich denke bei Tag daran und träume des Nachts davon. Ich muß diese Frau haben, um mich von der Lächerlichkeit eines schmachtenden Verliebten zu retten.“ (S. 25). „So ist es denn wahr, Vicomte, daß Sie sich über das Gefühl, das Sie an Madame de Tourvel knüpft, noch Täuschungen hingeben? Das ist Liebe, oder es hat nie welche gegeben. Zwar leugnen Sie es auf hundert Arten, aber Sie beweisen es auf tausend.“ (S. 436). „Ich erhob mich aus ihren Armen, um vor ihr auf die Knie zu sinken und ihr ewige Liebe zu schwören; und – um alles zu gestehen – ich dachte, was ich sagte.“ (S. 413f.).

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det, bleibt sowohl für die beteiligten Figuren95 wie auch für den Rezipienten im Dunklen – nicht zuletzt deshalb, weil Laclos einen Brief mit eindeutigeren Hinweisen auf diesen Wandel aus dem Roman entfernt hat.96 Für Valmonts Untergang reicht aber bereits die beschriebene Unklarheit. Die Selbsttransparenz des überlegen rational handelnden Verführers wird dadurch in Frage gestellt. Die damit verbundene Verunsicherung wird verstärkt durch die Unterschiedlichkeit der beiden Systeme, in denen Valmont sich nun zu bewegen versucht. Einerseits bleibt er dem libertinistischen System der Merteuil weiter verpflichtet, andererseits tritt er in die empfindsame Gefühlswelt der Tourvel ein, ohne die Konsequenzen der beiden sich widersprechenden Lebensformen in der jeweiligen Situation voll zu überblicken. Er entscheidet sich nicht mehr rational für das eine oder andere Verhalten, sondern scheint je nach Situation recht planlos mal nach den Prinzipien der einen, mal nach denen der anderen zu handeln. So bringt der Versuch, an den libertinistischen Grundsätzen festzuhalten, ihn dazu, den von Merteuil vorgegebenen Plan einer Trennung von Tourvel umzusetzen, gleich darauf jedoch versucht er, diese Trennung wieder rückgängig zu machen. Auch Valmont scheitert am Ende und bezahlt letztlich den Verlust der Selbstkontrolle mit seinem Leben. II.2.3. Schein und Sein von Emotion und Motivation und ihr Verhältnis zur Darstellungsform Briefroman Die Dichotomie von Schein und Sein betrifft auf der individualpsychologischen Ebene die Frage, inwiefern den Figuren ihre Emotionen und Handlungsmotivationen bewusst und transparent sind. Auch auf dieser Ebene wird die Darstellung der Schein-Sein-Problematik durch die spezifische Art der Informationsvergabe über die Figuren im Briefroman unterstützt. In besonderer Weise kommen dabei wieder die Subjektivität der Informationsvergabe, die Multiperspektivität sowie die potentielle Unaufrichtigkeit der Schriftkommunikation zum Tragen. Über das Mitlesen ihrer Briefe bekommt der Rezipient einen direkten Zugang zu den Selbsteinschätzungen der Figuren. Gleichzeitig werden ihm die Figuren nicht nur in ihrer Selbstdarstellung, sondern auch aus der Sicht anderer Figuren präsentiert. Zudem 95

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Vgl. die Aussage von Mme de Volanges: „Mais que direz-vous de ce désespoir de M. de Valmont? D’abord faut-il y croire, ou veut-il seulement tromper tout le monde, et jusqu’à la fin?“ (Brief 154, S. 352; „Aber was sagen Sie zu der Verzweiflung Herrn de Valmonts? Darf man ihm glauben, oder will er alle Welt täuschen bis ans Ende?“ S. 490). Vgl. den Kommentar zu S. 352 des Romans in Laclos, Œuvres, S. 1391f.

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tauschen sich die Figuren über die Aussagen und Selbstdarstellungen anderer Figuren aus und kommentieren diese. Insbesondere Mme de Merteuil kommentiert die Briefe anderer, vor allem die von Cécile und die von Tourvel, die Valmont ihr zukommen lässt (z. B. in Brief 33, S. 68), schließlich die von Valmont selbst (s. Kapitel 2.2.2); aber auch Valmont kommentiert die Briefe anderer (z. B. in Brief 25, S. 55–56).97 Durch diese kritischen Kommentare der Beteiligten wird implizit auch der Rezipient zu einer kritischen Lektüre der Briefe aufgefordert. Kombiniert man die Multiperspektivität und die impliziten Aufforderungen zur kritischen Lektüre mit der Aufforderung des Herausgebers dazu, mögliche Verstellungs- und Verschleierungstaktiken der Briefschreiber einzukalkulieren, kann man sagen, dass der Rezipient aufgefordert ist, die Selbstdarstellungen der Figuren, die Authentizität ihrer eigenen Gefühlseinschätzung in Frage zu stellen. Dabei werden grundlegende Fragen der Anthropologie, so wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert darstellt, verarbeitet und zur Diskussion gestellt: das Verhältnis von vernunftgeleitetem und gefühlsgeleitetem Handeln, die Frage der Authentizität von Gefühlen, das Verhältnis von Natürlichkeit und gesellschaftlich bedingtem Rollenspiel, das Verhältnis von Sinnlichkeit bzw. Erotik und Emotion, das Verhältnis von Kontrolle und Hingabe.

III.

Schlussbemerkungen: Historisch-soziale und individualpsychologische Anthropologie in der Rezeption der Figuren von Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses

Dem Leser werden also die Schwierigkeiten der Figuren mit der Unterscheidung von Sein und Schein auf der gesellschaftlichen und auf der individualpsychologischen Ebene vor Augen geführt, und dies sowohl durch die thematisierten Inhalte wie auch durch die Form, in der diese präsentiert werden. Der zeitgenössische Leser des späten 18. Jahrhunderts kann in den Figuren des Romans ein Bild der Gesellschaft und der Zeit, in der er lebt, erkennen: Philosophische und ethische Positionen seiner Zeit, der Vernunftglaube der Aufklärung, Rousseaus Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft sowie das ebenfalls auf Rousseau zurückgehende Konzept einer Innerlichkeit mit spontanen und authentischen Gefühlen sowie die mit diesen Vorstellun97

Vgl. hierzu auch: Moravetz, Formen der Rezeptionslenkung, S. 247.

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gen verbundenen Diskussionen werden aufgegriffen. Allgemein philosophische wie auch gesellschaftsbezogene anthropologische Wissensbestände der Zeit werden über die Figurendarstellung in Kombination mit der besonderen Erzählweise des Briefromans verarbeitet und in Frage gestellt. Die Tatsache beispielsweise, dass alle an der Handlung beteiligten Hauptfiguren in mehr oder weniger tragischer Weise scheitern, kann gelesen werden als Infragestellung sowohl der ethischen oder philosophischen Systeme, die den persönlichen Handlungen der Figuren zugrunde liegen, wie auch einer Gesellschaftsform, die auf ungleiche Behandlung der Geschlechter und Überbewertung des äußeren Scheins angelegt ist. Für den Rezipienten späterer Epochen wird das Interesse an den gesellschaftlichen und philosophischen Positionen des Endes des 18. Jahrhunderts in mancher Hinsicht nur noch ein historisches sein. Das lässt sich exemplarisch an einer besonderen Art der Rezeption, nämlich den Verfilmungen des Romans im 20. Jahrhundert, nachvollziehen. Choderlos de Laclos’ Roman wurde bisher vier Mal für das Kino verfilmt:98 Les liaisons dangereuses 1960 (Regie: Roger Vadim; 1959/60), Dangerous Liaisons (Regie: Stephen Frears; 1988), Valmont (Regie: Milos Forman; 1989), Cruel Intentions (Regie: Roger Kumble; 1999). Die vier Verfilmungen sind in ihrer Anlage und Herangehensweise sehr verschieden. Nichtsdestotrotz weisen sie im Hinblick auf die Behandlung anthropologischer Fragestellungen signifikante Gemeinsamkeiten auf. Diese Gemeinsamkeiten können hier zwar nicht ausführlich beschrieben werden, aber bereits eine erste Sichtung deutet darauf hin, dass ein gesteigertes Interesse der Filmemacher und (insofern deren Rezeption als exemplarische gesehen werden kann) der Rezipienten des 20. Jahrhunderts an der individualpsychologischen Ebene des Romans besteht. Vadim und Kumble aktualisieren die literarische Vorlage. Vadim verlegt die Geschichte in das Pariser Diplomatenmilieu am Ende der 1950er Jahre, Kumble in das US-amerikanische Highschool-Milieu der 1990er. So versuchen beide die Handlungsstruktur des Romans auf gesellschaftliche Strukturen zu übertragen, die in ähnlicher Weise von einer extremen Schein/SeinDichotomie geprägt sind wie die französische Adelsgesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts. Aber die sozialkritischen Aspekte der Vorlage, insbesondere die Frage nach der Stellung der Frau in der Gesellschaft, treten trotzdem in beiden Verfilmungen stark zurück. Der jeweilige Hintergrund scheint mehr der Herstellung von Rahmenbedingungen zu dienen, in denen die Handlung des Romans auch im 20. Jahrhundert halbwegs plausibel ab98

Die spezifisch fürs Fernsehen produzierten Verfilmungen wie der Mehrteiler Les liaisons dangereuses (Regie: Josée Dayan; 2003) bleiben unberücksichtigt.

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laufen kann, als der Infragestellung der aktualisierten Gesellschaftsstrukturen. Frears und Forman hingegen belassen die Geschichte im 18. Jahrhundert. Allerdings wird dabei die historische und gesellschaftliche Verortung der Geschichte zurückgedrängt bzw. zu einem dekorativen Hintergrund degradiert.99 Allen vier Verfilmungen ist gemein, dass sie den individualpsychologischen Aspekt der Vorlage stärker in den Vordergrund rücken und zum Teil fast ausschließlich an diesem und an seiner Neuinterpretation für das 20. Jahrhundert interessiert zu sein scheinen. Sowohl Vadim wie Frears interessieren sich für den emotionalen Teil der Psyche der Merteuil. Ihre Darstellungen der Figur legen nahe, dass hinter der Fassade von Merteuils Verhalten authentische Gefühle zu entdecken seien und dass es eine tiefere emotionale Bindung von Merteuil an Valmont gibt. So zeigen sie die Marquise am Ende als vereinsamte, ja sogar traurige bzw. gebrochene Frau (in beiden Filmen sieht man in einer der letzen Einstellungen in Großaufnahme eine Träne auf dem Gesicht von Jeanne Moreau bzw. Glenn Close). Alle vier Verfilmungen nutzen und verstärken zudem die im Roman angelegte Möglichkeit, Valmonts Handlungen mit emotionalen Motivationen zu erklären und zu entschuldigen. Sie legen dem Zuschauer nahe, auch positive Seiten an der Figur des Verführers zu entdecken. Die Darstellung Valmonts impliziert in allen vier Filmen, dass die gespielte Liebe Valmonts gegenüber Tourvel zu einem ernst gemeinten Gefühl mutiert; sie deuten, wenn auch in verschiedener Weise, Valmonts Geschichte als mehr oder weniger positive Entwicklung, als Konversion des Libertins zu einer so genannten wahren Liebe. Sowohl Vadim als auch Frears legen nahe, dass Valmont sich im Kampf absichtlich töten lässt, um seine Verfehlungen gegenüber seiner großen romantischen Liebe Tourvel zu büßen. Forman besetzt Valmont mit dem wohl wenig dämonischen Colin Firth und lässt diesen zudem eher eine Art nicht erwachsen gewordenen Lausbuben spielen als einen gefährlichen Verführer. Kumble schließlich lässt keinen Zweifel an der Läuterung Valmonts, indem er ihn eine Art Heldentod sterben lässt. So sind es erwartungsgemäß die allgemein anthropologischen, auf individualpsychologische Auseinandersetzungen ausgerichteten Fragestellungen, welche die Ge99

Allerdings bleibt die Frage nach der Stellung der Frau in der Gesellschaft bei diesen Verfilmungen stärker präsent als bei den aktualisierenden. Das könnte daran liegen, dass die aktualisierenden Verfilmungen die für das 18. Jahrhundert formulierten Aussagen zur Stellung der Frau als anachronistisch tilgen müssen, während die historisierenden Verfilmungen diese Aussagen übernehmen können und der Zuschauer so die Möglichkeit hat, über etwaige Parallelen zwischen damals und heute nachzudenken.

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schichte und die Figuren der Liaisons dangereuses nach wie vor interessant machen und für eine fortgesetzte Rezeption unabhängig vom historischen Kontext sorgen.

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Wolfgang Lukas (Wuppertal)

‚Figurenwissen‘ vs. ‚Textwissen‘ Zur literarischen Archäologie des psychischen ‚Unbewussten‘ in der Erzählliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Das psychische Unbewusste eines Subjekts stellt einen speziellen Fall der Wissensproblematik dar, an der sich exemplarisch die (potentiell komplexe) Relation zwischen dem „Text“ und seinen Figuren untersuchen lässt. Der Begriff des Unbewussten ist seinerseits zunächst erklärungsbedürftig, da er bekanntlich eine ganze Palette von verschiedenen Typen eines Unbewussten bzw. Nichtbewussten umfassen kann.1 Im Folgenden soll von einer ganz spezifischen Klasse von Nichtbewusstem die Rede sein, nämlich von demjenigen Unbewussten, das die Psychoanalyse um 1900 ‚entdeckt‘ bzw. zumindest erstmalig theoretisiert und zunächst als „Unterbewusstes“ und schließlich als „Unbewusstes“ benannt hat.2 Im Gegensatz zu sonstigen ‚Wissensinhalten‘, die einem Subjekt nichtbewusst – oder, in der historischen Terminologie um 1800: „unbewußt“3 – sein können, wie z. B. das in der naturwissenschaftlich orientierten (Experimental-)Psychologie des 19. Jahrhunderts vieldiskutierte Problem des Nichtwissens über die (etwa bei Wahrnehmungsprozessen) ablaufenden physiologischen Vorgänge, repräsentiert das psychoanalytische Unbewusste ein Nichtwissen, das sich seinerseits als ein spezifischer Modus des (individuellen) Wissens fassen lässt: Das Unbewusste – etwa ein bestimmter mit Sexualität verknüpfter Vorstellungskomplex – repräsentiert ein Wissen, das dem Subjekt zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht verfügbar ist, gleichwohl ‚in ihm‘ vorhanden ist bzw. vorhanden sein muss, weil es die Handlungen dieses Individuums determiniert und zu deren Erklärung notwendig angenommen werden muss. Neben dem „bewusst wissen, dass“ und „glauben, dass“ stellt das „unbewusst wissen, dass“ somit nur einen weiteren Modus des personalen Wissens dar, der sich im Rahmen eines weiten Wissensbegriffs sinnvoll untersuchen lässt. 1 2

3

Siehe z. B. Pongratz, Ludwig J., Problemgeschichte der Psychologie, München 21984. Vgl. Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Baptiste, Vokabular der Psychoanalyse, 2. Bd., Frankfurt am Main 51982, S. 568f. (Artikel „Unterbewußtes, Unterbewußtsein“). Vgl. etwa Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart […], Bd. 4, Wien 1811, S. 835f. (Eintrag „Unbewußt“).

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Entscheidend ist nun die Frage danach, in welcher Gestalt derartiges Wissen in einem literarischen Text gegeben ist. Der einfachste Fall ist jener, wo Texte einen individuellen Bewusstwerdungsprozess der Figur darstellen bzw. narrativ entfalten, d. h. wo Figuren vom Zustand des unbewussten Wissens in den des bewussten Wissens übergehen – ein Fall, der allerdings bekanntlich erst in der Literatur ab ca. 1890 auftaucht,4 dann freilich gehäuft und zeitgleich zur Formierung psychologischer bzw. psychiatrischer Theorien über die Existenz eines individuumspezifischen nichtbewussten Wissens – in der historischen Terminologie als „Halbbewußtsein“, „Unterbewußtsein“, „zweites Bewußtsein“ bzw. „zweites Ich“ benannt5 –, von denen die psychoanalytische Theorie ihrerseits eine spezifische Teilmenge darstellt. Es kann aber auch der Fall auftreten, dass das betreffende Subjekt sich seines unbewussten Wissens niemals bewusst wird, dies aber dafür andere Figuren wissen, oder aber auch, dass niemand innerhalb der dargestellten Welt davon weiß, es aber die Erzählinstanz weiß und entsprechend artikuliert – demzufolge ließe sich das textuelle Wissen über das Unbewusste zum einen in ein intra- und ein extradiegetisches Wissen, zum anderen in ein eigen- und fremdpsychisches Wissen unterscheiden. Gemeinsam ist den genannten Fällen, dass sich dieses Wissen jeweils einem Subjekt – Figur oder Erzählinstanz – zuordnen lässt und es somit ein personales Wissen darstellt. Es gibt aber darüber hinaus weitere Fälle, wo sich dieses Wissen keiner intradiegetischen oder extradiegetischen figuralen oder personalen Instanz zuordnen lässt, gleichwohl ‚im Text‘ vorhanden ist. Dies ist der Fall in der Vorgeschichte des literarischen Unbewussten im vorfreudianischen 19. Jahrhundert. Um diese Formen einer spezifischen Positivität des Wissens über ein psychisches Unbewusstes soll es im Folgenden gehen. Meine Überlegungen zu einer Archäologie des literarischen Unbewussten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unternehmen den Versuch, anhand eines notgedrungen stark selektiven Textcorpus von sowohl elaborierter als auch populärer Erzählliteratur zwischen ca. 1800 bis 1850 qualitativ unterschiedliche Etappen im literarhistorischen Prozess der Ge4

5

Stellvertretend sei Arthur Schnitzlers Drama Paracelsus (1898) angeführt, das eine posthypnotische Suggestion gemäß Hippolyte Bernheim als experimentellen Nachweis für die Existenz eines Unbewussten inszeniert. Siehe hierzu Lukas, Wolfgang, Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers, München 1996. Vgl. u. a. Dessoir, Max, Das Doppel-Ich, Leipzig 2. verm. Aufl. 1896; Moritz, Benedikt, „Second Life. Das Seelen-Binnenleben des gesunden und kranken Menschen“, in: Wiener Klinik. Vorträge aus der gesammten praktischen Heilkunde 20, v/1894, S. 127–138.

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nese eines Unbewussten zu isolieren.6 Meine Fragestellung versteht sich dabei nicht als psychoanalytische, sondern als literatursemiotische. Eine zentrale Prämisse betrifft also die Unterscheidung – und prinzipielle Unterscheidbarkeit – von textinternem, aus dem Text ableitbarem, und textexternem, nicht aus ihm ableitbarem Wissen. Nur auf dieser Basis macht meine Fragestellung überhaupt Sinn, wohingegen sie für eine bestimmte Richtung von psychoanalytischer Literaturinterpretation, die letztlich auf die Psyche des Autors zielt und psychoanalytische Theoreme, u. a. solche über ein Unbewusstes, in ahistorischer Weise auf die Texte projiziert, logischerweise völlig irrelevant ist.7

I.

Der Ausgangspunkt: Die symbolische Repräsentation eines Unbewussten in der fantastischen Literatur der Goethezeit

Die denkgeschichtlichen Wurzeln der Herausbildung eines modernen individuenspezifischen Unbewussten liegen zweifellos in der Aufklärung und der sich in ihrem Rahmen vollziehenden ‚Wende zur Anthropologie‘ ab ca. der Jahrhundertmitte.8 Diese führt bekanntlich zu einer Neukonzeption des Individuums als einer dynamischen Größe, die einen Entwicklungsprozess durchläuft, der bestimmten anthropologischen Gesetzmäßigkeiten in biologischer wie psychologischer Hinsicht folgt. Parallel und in Korrelation hiermit bildet sich die Konzeption von je eigenständigen Lebensphasen bzw. Altersklassen aus, die sich um 1800 als viergliedriges System: Kindheit – Jugend – Mannesalter – Greisenalter durchsetzt. Seinen Niederschlag findet dies in der Literatur in Gestalt neuer narrativer Modelle – wie dem der Ini-

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Sie gehen zurück auf ein zwischen 1994–1997 gemeinsam mit Michael Titzmann und Marianne Wünsch durchgeführtes Forschungsprojekt zum „Wandel der Konzeption der ‚Person‘ und ihrer Psyche in der Erzählliteratur von der Goethezeit zum Realismus“. Eine Monographie ist derzeit noch in Vorbereitung. Stellvertretend für dieses Paradigma s. jüngst: Oberlin, Gerhard, Goethe, Schiller und das Unbewusste. Eine literaturpsychologische Studie, Gießen 2007. Zur Problematik s. grundlegend Wünsch, Marianne, „Zur Kritik der psychoanalytischen Textanalyse“, in: Wolfgang Klein (Hrsg.), Methoden der Textanalyse, Heidelberg 1977, S. 45–60. Siehe hierzu etwa Zelle, Carsten (Hrsg.), „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001.

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tiationsgeschichte9 – und neuer Gattungen – so insbesondere der des Bildungsromans. Der Jüngling, d. h. der junge Mann, der sich in der Transitionsphase auf dem Weg zum erwachsenen Mannesalter befindet, in einem afamilialen Zwischenstadium zwischen biologischer Herkunftsfamilie (von der er sich gelöst hat) und eigener Zielfamilie (die zu gründen ihm auferlegt ist), avanciert zur neuen anthropologischen Leitfigur dieser literarischen Epoche. Mit ihm rückt die Jugend als zentrale Lebensphase in den Mittelpunkt des literarischen Interesses. Sie wird als prolongierte Adoleszenz und als psychosoziales Moratorium konzipiert, nötig für eine optimale Individuation und Entwicklung zum autonomen Selbst, wie es die moderne funktional ausdifferenzierte Gesellschaft nun erfordert, in der der Lebenslauf nicht mehr wie in der alteuropäischen Ständegesellschaft statisch vorgegeben ist, sondern in der dem Individuum Selbstfindung aufgetragen ist.10 Die um 1800 stattfindende Neubegründung der Erzählliteratur (Novellistik wie Romanliteratur) im Zeichen der Anthropologie untersucht u. a. die Bedingungen, unter denen die Zielposition – die Selbstfindung und Autonomie der ‚Person‘, einhergehend mit der definitiven Partner- und Berufswahl sowie der Gründung einer eigenen Fortpflanzungsfamilie – erreicht oder verfehlt wird, wobei das Hauptinteresse zumindest der elaborierten Literatur freilich weniger den bürgerlich-normkonformen als vielmehr den abweichenden Lebensläufen und der sozialen wie anthropologischen Devianz gilt.11 Die romantische Initiationsnovelle, vornehmlich in ihrer fantastischen Ausprägung als „Märchennovelle“, hat sich auf die Thematisierung der erotischen Gefahren spezialisiert, die dem Jüngling in seinem Entwicklungsprozess der optimalen Mannwerdung drohen können. In den zahlreichen so genannten „Venuskult“-Novellen von Tieck, E. T. A. Hoffmann, Fouqué, Eichendorff u. a., die das Scheitern der Initiation aufgrund der Verführung durch „Venus9

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Titzmann, Michael, „Die ‚Bildungs‘-/Initiationsgeschichte der Goethe-Zeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche“, in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 7–64 (auch in: Ders., Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte, Wolfgang Lukas und Claus-Michael Ort (Hrsg.), Tübingen 2011, S. 223–287). Stanitzek, Georg, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen 1989, S. 71–82, und Ewers, Hans-Heino, „Jugend – ein romantisches Konzept? Die zweifache Bedeutung der Romantik in der Geschichte moderner Jugendentwürfe“, in: Günter Oesterle (Hrsg.), Jugend – Ein romantisches Konzept?, Würzburg 1997, S. 45–60. Siehe Hoffmann, Volker, „Künstliche Zeugung und Zeugung von Kunst im Erzählwerk Achim von Arnims“, in: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft, 46/1986, S. 158–167.

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frauen“ bzw. durch magische Liebeszauberpraktiken erzählen, wird die psychosexuelle Dimension der Mannwerdung am deutlichsten greifbar. Die (proto)psychoanalytische Dimension dieser Geschichten ist bekannt und von der Forschung wiederholt herausgearbeitet worden.12 Es ist privilegiert die männliche Initiationsgeschichte, in der während der Goethezeit ein individuelles psychisches Unbewusstes thematisch wird. Allerdings existiert es nur in einem ganz spezifischen, rein symbolischen Modus. Dies sei im Folgenden am Beispiel eines der prominentesten Texte, Hoffmanns Sandmann, einer Venuskult-Novelle (mit der Puppe Olimpia als Variante der „Venusfrau“), ganz kurz skizziert. Das Ende des Helden Nathanael in Wahnsinn und Tod wird bekanntlich als Geschichte einer nicht erfolgten Überwindung des Ödipuskomplexes lesbar, der im Text sowohl in seiner ‚positiven‘ (der Vater als Rivale) als auch ‚negativen‘ Seite (der Held als quasi-feminines Liebesobjekt des Vaters) greifbar wird. Das Verharren in einer Vaterfixierung, die mit der Aufspaltung des Vaters in verschiedene, gute und böse Vaterimagines (Vater vs. Coppelius/Coppola/Spalanzani) sowie mit Kastrationsangst, symbolisch abgebildet durch den drohenden Verlust der Augen, einhergeht, führt zum Verfehlen der Entwicklungsstufe der erwachsenen heterosexuellen genitalen Objektliebe. An ihre Stelle tritt die narzisstisch-autoerotische – und somit per se unfruchtbare – Liebe zu einer imaginären Frau, die im Text nur zu deutlich als Projektion des Selbst fungiert. Die entwicklungsgeschichtliche Dimension wird in den beiden traumatischen Ereignissen – des Knaben mit Coppelius/dem Vater und des Jünglings mit Coppola/Spalanzani – deutlich, wenn die Bewusstlosigkeit und anschließende Krankheitsphase von Hoffmann jeweils als regelrechte Regression in den Kindstatus modelliert werden. Mit dem Verfehlen der erwachsenen genitalen Position misslingt schließlich auch die Integration von (positiven) aggressiven Anteilen der männlichen Sexualität: Dem Vorbild, das Tieck in Liebeszauber entwarf, folgend, lässt Hoffmann am Ende des Tex12

Böhme, Hartmut, „Geheime Macht im Schoß der Erde. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie“, in: Ders., Natur und Subjekt, Frankfurt am Main 1988, S. 67–144, bes. S. 115–135; Ders., „Romantische Adoleszenzkrisen. Zur Psychodynamik der Venuskult-Novellen von Tieck, Eichendorff und E. T. A. Hoffmann“, in: Klaus Bohnen u. a. (Hrsg.), Literatur und Psychoanalyse. Vorträge des Kolloquiums am 6. und 7. Oktober 1980 (= Text & Kontext, Sonderreihe, Bd. 10). München u. a. 1981, S. 133–176; Kittler, Friedrich A., „ ‚Das Phantom unseres Ichs‘ und die Literaturpsychologie: E.T.A. Hoffmann – Freud – Lacan“, in: Ders./Horst Turk (Hrsg.), Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt am Main 1977, S. 139–166; Ders., Dichter – Mutter – Kind, München 1991.

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tes die Eheschließung (und damit die bevorstehende Sexualität) und den Mord(versuch) an der Partnerin – der hier, im Unterschied zum Liebeszauber, gerade noch verhindert werden kann – annähernd zusammenfallen. So weit in schlagwortartiger Kürze einige wesentliche Aspekte der implizierten individualpsychologischen und psychoanalytischen Dimension dieses (und anderer vergleichbarer) Texte.13 All die genannten Phänomene verlangen zu ihrer befriedigenden Erklärung notwendigerweise die Annahme eines psychischen Unbewussten. Doch wie steht es nun damit in diesem Text? Um die Spezifität der goethezeitlich-romantischen Repräsentation eines Unbewussten erfassen zu können, müssen die folgenden zwei Fragen deutlich unterschieden werden: 1. stellen Texte psychische Phänomene dar, die nach unserem modernen Wissen (d. h. unseren Annahmen) nur unter Zuhilfenahme der Kategorie eines Unbewussten erklärbar sind? und 2. besitzen sie selbst ein – wie auch immer geartetes, explizites oder implizites – Konzept bzw. Wissen von der Existenz und Wirkungsweise eines solchen psychischen Unbewussten? Es gilt also deutlich zu unterscheiden zwischen bloßen textuellen Phänomenen einerseits und einem textuellen Erklärungsangebot andererseits, wobei dieses seinerseits explizit oder auch nur implizit gegeben sein kann. Eine solche Unterscheidung ist auch äquivalent mit der zwischen historischer und moderner Anthropologie. Denn die erste der beiden Fragen ist für die Romantik ebenso deutlich zu bejahen, wie die zweite zu verneinen ist.14 Im Sandmann wird dies exemplarisch greifbar. Es seien hier die bekannten Textstellen aus Claras Brief an Nathanael zitiert, in denen wie in kaum einem zweiten Text der Epoche eine Psychologie des Unbewussten angelegt scheint: Geradeheraus will ich es Dir nur gestehen, daß, wie ich meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon Du sprichst, nur in Deinem Innern vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte. […] Gibt es eine dunkle Macht, die so recht feindlich und verräterisch einen Faden in unser Inneres legt, woran sie uns dann festpackt und fortzieht auf einem gefahrvollen verderblichen Wege, den wir sonst nicht betreten haben würden – gibt es eine solche Macht, so muß sie in uns sich, wie wir selbst gestalten, ja unser Selbst werden; denn nur so glauben wir an sie und räumen ihr den Platz ein, dessen sie bedarf, um jenes geheime Werk zu vollbringen. […] Es ist auch gewiß […], daß die dunkle psychische Macht, haben wir uns durch uns selbst ihr hingegeben, oft 13 14

Vgl. Kittler, ‚Das Phantom meines Ichs‘, und Böhme, Geheime Macht, S. 115–122. Eine Frage, die auch Lütkehaus in der von ihm herausgegebenen Anthologie zu stellen versäumt: Lütkehaus, Ludger (Hrsg.), „Dieses wahre innere Afrika“. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud, Frankfurt am Main 1989.

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fremde Gestalten, die die Außenwelt uns in den Weg wirft, in unser Inneres hineinzieht, so, daß wir selbst nur den Geist entzünden, der, wie wir in wunderlicher Täuschung glauben, aus jener Gestalt spricht. Es ist das Phantom unseres eigenen Ichs, […].15

Entscheidend ist nicht zuletzt, dass Hoffmann diese psychologische Position nicht etwa durch eine auktoriale Erzählinstanz, sondern nur durch eine Figur und in Gestalt des eingebetteten Briefes vertreten lässt – auf Handlungsebene hingegen wird die okkultistische Position des Protagonisten bestätigt und Clara widerlegt: Denn Spalanzani und Coppola/Coppelius sind eben keinesfalls als „Phantome unseres eigenen Ichs“ ‚weginterpretierbar‘, sondern sie existieren real und handeln unleugbar als böse, feindliche Manipulatorfiguren, die den jugendlichen Helden durch Verführung am Erreichen des Selbstfindungsziels einer autonomen und erwachsenen Männlichkeit hindern wollen. In ganz analoger Weise wird denn auch die Wahrnehmung der Olimpia durch Nathanael einerseits sehr deutlich (und ironisch) als projektive Uminterpretation der Realität und somit als psychologischer Sachverhalt gekennzeichnet – und wird andererseits doch zugleich überhaupt erst durch technische Manipulation in Gestalt der magischen Gläser erzeugt. Die Frage nach der Motivation dieser feindlichen Figuren für ihr Handeln führt natürlich wieder zur (Individual-)Psychologie bzw. zur Psyche des Helden, die aber eine nicht gefüllte Leerstelle repräsentiert, die als solche zudem im Text unmarkiert bleibt. Nicht zufällig kommt es im Zuge der literarischen Neurezeption romantischer Stoffe um 1900 dann typischerweise zu psychologisierenden Transformationen und Reinterpretationen, wodurch die Leerstellen der individuellen Figurenmotivation aufgefüllt werden.16 Die bösen Figuren und ihr Handeln besitzen also einen Doppelstatus als subjektexterne Setzungen und subjektinterne Größen. Intrapsychische Realität wird gleichsam ‚exteriorisiert‘ und existiert zugleich als extrapsychische Realität, als eine Gegebenheit der Weltstruktur. Der psychologisierende Begriff der ‚Exteriorisierung‘ ist hier als Metapher für ein semiotisches Verfah15

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Hoffmann, E. T. A., Der Sandmann, in: Ders., Fantasie- und Nachtstücke, Walter Müller-Seidel (Hrsg.), Darmstadt 1979, S. 331–363, hier S. 339–341 (Hervorhebungen W. L.). Vgl. etwa Hugo von Hofmannsthals Falun-Drama (1899), wo die Motivation für das Scheitern der angestrebten Eheschließung mit unbewussten homosexuellen Strebungen des Helden aufgefüllt wird, oder Hanns Heinz Ewers’ bearbeitende Nachdichtung der Abenteuer in der Silvesternacht im Drehbuch des ersten deutschen Kunstfilms Der Student von Prag (1913), wo der Doppelgänger die Bedeutung eines sich verselbständigenden Unbewussten des Helden erhält – in den beiden Hoffmann’schen Prätexten ist eine solche Interpretation jeweils nicht möglich.

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ren des Textes zu verstehen. Um Missverständnisse zu vermeiden, könnte man besser formulieren, dass hier das individuelle Innerpsychische immer schon und a priori als überindividuelles Außerpsychisches existiert. Übernatürliche Phänomene der Außenwelt wie u. a. das Auftreten von Manipulatorgestalten, Doppelgängern, Venusfrauen etc. sind somit zweifellos auch interpretierbar als Ausdruck der psychischen Probleme des Helden, gehen aber niemals darin auf. Die Subjekt- und Personkonzeption der Epoche kennt also noch keine eindeutige Grenze zwischen Innen und Außen und somit auch keinen autonomen psychischen Innenraum, geschweige denn Teilbezirke in diesem. Extra- und Intrapsychisches sind in (harmonischer) Korrespondenz miteinander verbunden – Basis für bekannte Phänomene wie u. a. die romantischen ‚Korrespondenzlandschaften‘ oder auch die in der Epoche beliebte (etwa bei Eichendorff geradezu exzessiv praktizierte) Ineinssetzung von Gedachtem/Geträumtem mit Realem bzw. die ‚Realisierung‘ von ersterem: Figuren z. B., die zuerst nur zeichenhaft präsent sind – als Bild, als geträumte oder besprochene Größe –, sind in der Folge immer auch real präsent, treten gern unmittelbar nach einem Traum- oder Sprechakt real auf, etc. Die Korrespondenz von Intra- und Extrapsychischem ruht also auf einer grundsätzlichen epistemologischen Struktur auf, der zufolge jedwede semiotische Repräsentation von Realität – sei sie sprachlicher, mentaler oder ikonischer Art – und diese selbst tendenziell zusammenfallen.17 Innerhalb dieser epistemologischen Basisstruktur kann keine (moderne) Individualpsychologie mit einem Unbewussten gedacht werden. Und genau in diesem Maße schwanken die Texte in charakteristischer Weise denn auch zwischen Psychologie und Okkultismus, die in Phänomenen wie Liebeszauber oder Magnetismus eine exemplarische Konjunktion eingehen. Analog wird denn auch das Fluidum des animalischen Magnetismus – der oft vorschnell und in teleologischer Perspektive auf die moderne Psychologie um 1900 als unmittelbare Vorgeschichte der Hypnose vereinnahmt wird18 – ähnlich ambivalent definiert als sowohl immaterielle als auch materialisierte extracorporale (wenngleich unsichtbare) Substanz. 17

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Siehe hierzu Titzmann, Michael, „Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen“, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hrsg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen, Stuttgart 1984, S. 100–120 (auch in: Titzmann, Anthropologie der Goethezeit, S. 173–193) sowie Ders., Strukturwandel der philosophischen Ästhetik 1800–1880. Der Symbolbegriff als Paradigma, München 1978. So etwa bei Ellenberger, Henry F., Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Bern 21985 (New York 11970). u. a., S. 89–176.

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Der Okkultismus repräsentiert also eine Art Existenzbedingung für die angelegte Psychologie des Unbewussten.19 Oder anders formuliert, gerade weil die Epoche noch keine moderne Psychologie des Unbewussten besitzt, ist die Literatur gezwungen, dies in Gestalt des Märchenhaften bzw. Fantastischen zeichenhaft zu repräsentieren. Die okkultistische Dimension, über die eine feindliche Macht und damit die Bedrohung durch die Heteronomie eingeführt wird, leistet zugleich freilich nichts Geringeres als die Rettung der grundsätzlichen Autonomie der Person durch Verlagerung nach außen. Eine moderne Psychologie des Unbewussten hingegen kollidiert mit dem goethezeitlichen Autonomie-Postulat und wäre äquivalent mit der Erfahrung von fundamentaler Heteronomie, die Freud in das bekannte Diktum gekleidet hat, dass das Ich nicht mehr „Herr im eigenen Hause“ sei, und die er als eine der drei „narzisstischen Kränkungen“ des modernen Subjekts bezeichnet hat. Eine entscheidende Ermöglichungsbedingung für das Denken eines psychischen Unbewussten beruht also in einer historisch neuen Heteronomieerfahrung des Subjekts, wie sie erst im Ausgang der Goethezeit in der Literatur greifbar wird. Das Fazit zur romantischen Ausgangslage lautet also: Wenngleich es zweifellos signifikant ist, dass es in der Goethezeit – und zwar vorzugsweise in einigen fantastischen romantischen Initiationsgeschichten – zu einer Häufung von Textphänomenen kommt, zu deren Erklärung ein individuelles Unbewusstes nötig wäre, besitzt die Literatur selbst noch kein solches Konzept. Ein entscheidender Wandel in Richtung auf eine moderne Figurenpsychologie, die ein individuenspezifisches, dynamisches Unbewusstes kennt, erfolgt erst postromantisch.

II.

Die Genese eines dynamischen psychischen Unbewussten in der postromantischen Literatur

Erste Anzeichen für einen tiefgreifenden Wandel finden sich in der Erzählliteratur ab ca. Mitte der 1820er Jahre. Im Folgenden seien nur einige wenige Aspekte, die insbesondere für den Zeitraum zwischen ca. 1825 bis ca. 1850 als besonders typisch gelten können, herausgegriffen und kurz skizziert. 19

Wenngleich auch in der fantastischen Literatur der Frühen Moderne Probleme eines individuellen psychischen Unbewussten bekanntlich eine große Rolle spielen können (vgl. hierzu Wünsch, Marianne, Die fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition, denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen, München 21998), besitzt die Fantastik dort nicht diesen spezifischen epistemologischen Status im Hinblick auf eine Psychologie des Unbewussten.

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II.1.

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Die textinterne Konstruktion eines psychologischen Erklärungsbedarfs

II.1.1. Das Fremdpsychische als Rätsel Bereits die Romantik entwirft und inszeniert die Psyche als eine komplexe Größe, doch tut sie dies, wie gezeigt, zum einen primär in einem ‚unpsychologisch‘-fantastischen und zeichenhaften Modus, zum anderen überwiegend anhand von problematischen, abweichenden und exzeptionellen Subjekten wie dem Künstler, Wahnsinnigen, Verbrecher, Sonderling etc. Demgegenüber konstruiert die nachromantische Literatur eine neue Dunkelheit und Opazität der Psyche am Beispiel des ‚Normalsubjekts‘ und vorzugsweise in der sozialen Alltags-Interaktion. Indem die Texte stärker perspektivisch erzählen – mithilfe von interner und externer Fokalisierung und deren Kombination – und das Figurenensemble dergestalt wiederholt (und u. U. in wechselnden Konstellationen) in beobachtende perspektivtragende vs. beobachtete ‚fremde‘ Figuren aufspalten,20 gelingt es ihnen, gezielt ein NichtWissen der Beobachterfigur (und potenziell auch des Lesers) in Bezug auf das Fremdpsychische zu konstruieren: Wie ist das – auffällige – Verhalten der betreffenden Figur zu interpretieren? Was mag sie bewegen, in einer gegebenen Situation genau so zu handeln bzw. in einem Gespräch genau so zu reagieren, etc.? Das Fremdpsychische wird somit als Geheimnis eingeführt, als Leerstelle und doch als eigener Raum, eine Setzung ex negativo: etwas, zu dem man keinen Zutritt hat, dessen Existenz gleichwohl postuliert werden muss. Zwei Beispiele: In Hauffs Novelle Die letzten Ritter von Marienburg (1828) rivalisieren zwei extrem kontrastiv angelegte junge Männer um eine Frau: der fremdländische Palvi, der (wörtlich-physiognomisch und metaphorisch-psychosoziale) ‚Dunkle‘, eine romantische Künstlerfigur, die leidenschaftlich-unglücklich liebt und im dargestellten sozialen Raum als Rätsel auftritt – und der harm20

Die goethezeitliche Erzählliteratur entwirft eine typische discours-Struktur, in der zwar dem „Fokus“ einer Protagonistenfigur gefolgt wird (sensu Titzmann, Michael: „Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik“, in: Roland Posner/Klaus Robering/Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur/Semiotics. A Handbook on the Sign-Theoretic Foundations of Nature and Culture, Bd. III, Berlin 2003, S. 3073f.), zugleich aber „nullfokalisiert“ (sensu Genette, Gérard, Figures III, Paris 1972, S. 206–211; vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael, Einführung in die Erzähltheorie, München 32002, S. 63–67) bzw. „aperspektivisch“ (sensu Link, Jürgen, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis, München 41990, S. 299–310) erzählt wird. Zu diesen discours-Strategien s. näher Titzmann, Bildungsgeschichte/‚Initiationsgeschichte‘.

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lose, als „prosaisches Herz“21 eingeführte und bürgerlich integrierte ‚helle‘ Stallmeister Julius von Rempen. Die umworbene Elise Wilkow liebt eindeutig den ersteren, was dieser aber nicht weiß und nie erfährt, was indes sein Rivale folgendermaßen erschließt: Palvi durfte wagen, sie mit „Elise“ anzureden, sie behauptete, ihn ganz zu kennen, sie sprach so heftig ihre Gefühle aus, daß ihren Haß notwendig Liebe geboren haben mußte!22

In Adolph Müllners gleichzeitig erschienener Kriminal- und Detektivgeschichte Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten rivalisieren ebenfalls zwei junge Männer – Brüder – um eine Frau. Nachdem einer von beiden, nämlich derjenige, dessen Liebe nicht erwidert wird, plötzlich umgebracht wird, fällt der Verdacht auf den Bruder, der sich denn auch schnell – allzu schnell – des Mordes bezichtigt. Der als Ich-Erzähler fungierende Untersuchungsrichter wird damit mit einem Verhalten konfrontiert, das einen Deutungsbedarf aufwirft: Das Eingeständniß eines solchen Gedankens fiel mir auf. Dieser Grad von Verzweiflung schien dem Falle nicht angemessen.23

Der Ich-Erzähler befindet sich in der doppelten (bzw. dreifachen) Rolle sowohl des Kriminalbeamten bzw. Detektivs und des Psychologen bzw. gar Psychotherapeuten (sowie schließlich implizit in der Rolle des Dichters). Die Rekonstruktion der Wahrheit – ein komplexer Fall von Schuldwahn und Sexualabwehr – leistet ein Doppeltes, nämlich die Lösung des kriminalistischen Falls und zugleich die Heilung des Protagonisten, dessen Heirat mit der Geliebten am Ende nichts mehr im Wege steht. So unbedeutend diese beiden kurzen Szenen sein mögen, so signifikant scheinen sie mir doch zu sein. Die Texte konstruieren fiktionsimmanent einen psychologischen Deutungsbedarf, indem sie ein Figurenverhalten darstellen, das in einer gegebenen Situation als sozial auffällig gilt, und indem sie die Perspektive an eine beobachtende Person aus der dargestellten Welt (Figur oder homodiegetischer Ich-Erzähler) delegieren, die in die Notwendigkeit versetzt wird, dieses Verhalten deuten zu müssen. Der soziale Inter-

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22 23

Hauff, Wilhelm, Die letzten Ritter von Marienburg, in: Sämtliche Werke in drei Bänden. Nach den Originaldrucken und Handschriften. Textredaktion und Anmerkungen von Sibylle von Steinsdorff. Bd. II: Märchen. Novellen, München 1970, S. 584–639, Zitat S. 593. Ebd., S. 608. Müllner, A. G. Adolph, Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten, in: Müllner’s Novellen. Erster Theil, Leipzig 1829, S. 21 (Hervorhebungen W. L.).

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aktionspartner und Perspektivträger – und mit ihm der Leser – wird dergestalt zum ‚Detektiv‘, der eine verborgene fremdpsychische Realität gleichsam rekonstruieren muss. Beide Beispiele weisen auch eine typische inhaltliche Besetzung auf: Erotik/Sexualität und Kriminalität, gerne auch in Kombination, sind privilegierte Bereiche, die in der Literatur einen solchen Deutungsbedarf aufwerfen. Neu ist nicht etwa die – bereits in der Spätaufklärung grundgelegte – Verknüpfung von kriminalistischen Strukturen mit einer Problematisierung der menschlichen Psyche,24 sondern der dezidierte Perspektivismus und die fiktionsimmanente Inszenierung eines Problems der Deutung und Dekodierung.25 Diese neue – psycho- wie soziosemiotische – Thematik manifestiert sich nicht zuletzt auch im Phänomen der Fehlinterpretation, das in der postromantischen Literatur speziell der 1830er Jahre eine enorme Relevanz erhält.26 Zwischen dem wahrnehmbaren Äußeren einer Figur – ihren Handlungen, Äußerungen, Gesten – und deren verborgenem Inneren – ihren Motivationen, Gefühlen etc. – gibt es keine ein(ein)deutige Entsprechung. Ein- und dieselbe Handlung bzw. Äußerung kann potentiell verschiedene Bedeutungen haben, und die richtige zu finden, ist nicht mehr selbstverständlich. Mit Vorliebe wird ein solcher Deutungskonflikt wiederum im Bereich von Kriminalität und/oder Erotik vorgeführt. Aufgrund eines bestimmten (non)verbalen Verhaltens wird fälschlich auf erotische Bereitschaft oder umgekehrt ebenso fälschlich auf mangelnde Liebe geschlossen. Mörike inszeniert in Maler Nolten eine ganze Serie solcher Fehldeutungen, jeweils mit durchaus gravierenden schicksalhaften Folgen für die Figuren. Als ein Beispiel sei die folgende Szene zwischen Constanze und dem sie begehrenden, von ihr aber nicht geliebten Herzog zitiert, in der die erstere, kurz nachdem sie fälschlich Noltens Liebesbetrug annimmt, ihrerseits Objekt einer erotischen Fehldeutung wird:

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Siehe Schönert, Jörg, „Zur Ausdifferenzierung des Genres ‚Kriminalgeschichten‘ in der deutschen Literatur vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts“, in: Ders. (Hrsg. unter Mitarbeit von Joachim Linder), Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens in England, Frankreich und Deutschland – 1849–1880. Interdisziplinäres Kolloquium der Forschergruppe „Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770–1980“, München 1981, S. 33–46. Vgl. exemplarisch in dieser Hinsicht auch Karl Müchlers Kriminalgeschichten. Ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde, 4 Bde., Berlin 1828–1833. Warum die bei Kleist so beliebten Fehldeutungen noch nicht in dieses Modell gehören, müsste eigens dargelegt werden, was an dieser Stelle aber nicht geleistet werden kann.

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Jetzt stößt sie den Herzog heftig weg, jetzt gibt sie sich seiner Kühnheit unerhört willig hin, dem bängsten Seufzer, dem heißesten Gusse von Tränen folgt plötzlich ein Lachen, dessen kindische Lieblichkeit, dessen herzlicher Klang unter jeden anderen Umständen hätte bezaubernd sein müssen. Der Herzog sah in alle diesem nur den unbeschreiblich rührenden Ausdruck einer bis jetzt verhüllten Leidenschaft für ihn, welche sich endlich verraten […]. Wie ganz anders sah es im Busen von Constanze aus!27

In Hauffs Kriminalnovelle Die Sängerin wird die Deutungsproblematik anhand der Suche nach dem Mörder explizit thematisiert: So, geradeso, hatte sich dieser den Chevalier de Planto gedacht, dieses tückische graue Auge, diese unheilverkündenden Züge, diese dürre, gespensterhafte Figur […]. Doch er besann sich, kam er denn nicht jetzt eben von der Verhaftung jenes Chevaliers? Konnte nicht ein anderer Mann auch graue Augen haben? war es zu verwundern, daß ein Kranker abgefallen und bleich war?28

Dergleichen Fehldeutungen sind nun meist alles andere als harmlos, sondern entfalten in der Regel negative schicksalsdeterminierende Wirkung in Bezug auf den Helden, dessen Liebesglück, psychische Gesundheit oder gar biologisches Leben sie mittelbar bedrohen können.29 Im Gegensatz zum traditionellen goethezeitlichen Erzählen, wie es Eichendorff etwa noch im Taugenichts praktiziert, sind dergleichen Fehldeutungen nicht mehr von einer prinzipiell waltenden Teleologie aufgefangen, innerhalb deren sie a posteriori als notwendige und ‚richtige‘, weil zum Ziel der Partner- wie auch Selbstfindung führende Handlungen gelten können. Sie sind vielmehr krisenhafter Ausdruck einer negativen, pessimistischen bis latent tragischen Weltstruktur, in der die traditionelle Teleologie aufgelöst ist. II.1.2. Die Struktur der doppelten Motivation Eine weitere außerordentlich beliebte Struktur, die eine Problematisierung der psychischen Motivation leistet, ist die der doppelten Motivation: Für ein und dieselbe Handlung einer Figur existieren eine offizielle, manifeste und eine inoffizielle, latente Motivation, die miteinander konkurrieren. Erstere ist in aller 27

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Mörike, Eduard, Maler Nolten. Novelle in zwei Teilen, Heide Eilert (Hrsg.), Stuttgart 1987, S. 172f. (Hervorhebungen W. L.). Hauff, Wilhelm, Die Sängerin, in: Sämtliche Werke in drei Bänden. Nach den Originaldrucken und Handschriften. Textredaktion und Anmerkungen von Sibylle von Steinsdorff. Bd. II: Märchen. Novellen, München 1970, S. 539–583, hier S. 576. Vgl. als hübsches Beispiel in Immermanns Epigonen (1836) die vom Helden gemachte fälschliche Annahme des vollzogenen Geschwisterinzests, die ihn in temporären Wahnsinn versetzt und beinahe zum Scheitern seines Bildungs- und Initiationsprozesses führt.

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Regel eine sozial normadäquate und akzeptable – gern eine moralisch positive und altruistische – Motivation, letztere hingegen eine sozial inakzeptable, egoistische bis illegitime Motivation, die nicht nur der Außenwelt gezielt verborgen wird, sondern der betreffenden Figur sogar selbst mehr oder weniger unbekannt und somit unbewusst sein kann. Das Phänomen kann also nicht nur anhand einer fremden, extern fokalisierten, sondern auch anhand einer perspektivtragenden, intern fokalisierten Figur abgehandelt werden. Vorzugsweise wird dieses Motivationsproblem wiederum am Beispiel von erotischen Rivalitätsgeschichten inszeniert. In schöner Explizitheit finden wir dies z. B. in dem populären Roman von Emerentius Scävola (= Julius von der Heyden) Learosa, die Männerfeindin (1835). Die Titelheldin und ihre jüngere Schwester rivalisieren um denselben Mann, doch offiziell bekannt ist nur die Liebe der letzteren; Learosas Liebe ist weder der Schwester bekannt noch zu Anfang ihr selbst voll bewusst. Die Konstellation ist nun dergestalt, dass Learosa als die Ältere in der Rolle der Helferin der Schwester agiert und dieser verspricht, den Geliebten zu suchen und herbeizuführen. Doch nicht das uneigennützige Motiv, sondern, wie sie sich schließlich gestehen muss, ihre eigene erotische Sehnsucht treibt sie dazu an, wie das folgende Zitat (im Übrigen auch ein schönes frühes Beispiel einer erlebten Rede) belegt: Aber war jener Zweck der einzige, den sie verfolgt hatte? Hielt nicht ein zweiter sich verborgen unter seiner Hülle? – Ein zweiter, den sie sich nicht mehr zu nennen gewagt hatte, seit ihre Gewissensangst sie geschieden hatte von ihren geheimen, verbrecherischen Wünschen?30

Wie der Heldin ihre eigene psychische Motivation problematisch wird, so wird ihr auch die Deutung fremder Handlungen zum Problem. Mit unverkennbar maliziöser Lust produziert der Roman eine unendliche Serie von Missverständnissen und Fehldeutungen, die die Heldin zur Männerhasserin wider Willen werden und schließlich tödlich scheitern lassen. Diese Fehldeutungen werden einerseits plausibel gemacht, denn Learosa ist tatsächlich das Ziel einer Vielzahl böser männlicher Intrigen; andererseits jedoch, so zeigt der Roman, fungiert dies allenfalls als notwendige, nicht jedoch als hinreichende Bedingung für die Fehldeutungen, die somit von der Figur selbst verantwortet werden.31 Der nachromantische Text vollführt somit im Vergleich zum 30

31

Scävola, Emerentius, Learosa, die Männerfeindin. 3 Theile, Leipzig 1835, 3. Teil, S. 197. Vgl. hierzu auch Lukas, Wolfgang „‚Zeit‘ und ‚Psyche‘: zwei problematisierte Größen in der Erzählliteratur zwischen Goethezeit und Realismus“, in: Kodikas/Code, 19/1996, 3, „Zeiterfahrung und Lebenslaufmodelle in Literatur und Medien“, Michael Titzmann (Hrsg.), S. 165–182.

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romantischen Text die konträre Bewegung: Legte dieser, z. B. Hoffmanns Sandmann, eine Psychologisierung an, um seinen Helden dann schließlich doch als Opfer fremder okkulter Machenschaften scheitern zu lassen, so ist das nachromantische Subjekt zwar durchaus zunächst auch Objekt fremder Intrigen, scheitert jedoch in letzter Instanz an sich selbst: Die eigene Psyche erweist sich damit als schicksalsrelevante Größe. Die akzidentelle, subjektextern bedingte Heteronomie des romantischen Subjekts weicht einer tief in der Person gründenden subjektintern bedingten Heteronomie des nachromantischen Subjekts. Als ein vermutlich bekannteres Beispiel ließe sich Eichendorffs späte Novelle Das Schloß Dürande (1837) anführen, die die tödlich endende DoppelInitiationsgeschichte des verwaisten Förstergeschwisterpaars Renold und Gabriele in den historischen Rahmen der Französischen Revolution einbettet. Das Handeln des Bruders, der die sich anbahnende Beziehung seiner Schwester mit dem jungen Grafen Hippolyte um jeden Preis verhindern will, ist hochgradig ambivalent. Einerseits hat ihn der Vater auf dem Sterbebett auf den Schutz der Schwester verpflichtet, und der Graf erscheint tatsächlich eine Zeitlang als zweideutiger adliger Verführer, so dass Renolds aggressives Verhalten vordergründig motiviert erscheint; doch faktisch liebt der Graf Gabriele aufrichtig und wird von ihr wiedergeliebt, was zu erkennen möglich gewesen wäre, hätte der Bruder es nur wissen wollen. Die extreme emotionale Reaktion des Bruders erscheint im Text von Anfang an als übertrieben und auffällig, somit keineswegs als alternativlos-notwendig, wodurch der Text einen psychologischen Erklärungsbedarf konstruiert, den er zugleich – zumindest implizit – befriedigt. Denn unter dem offiziellen altruistischen Motiv der Rettung der Schwester vor dem adligen Verführer verbirgt sich als inoffizielles egoistisches Motiv die erotische Rivalität, das latente inzestuöse Begehren und der Wunsch nach Konservierung bzw. ‚Restauration‘ der asexuellen harmonischen Kindheitsidylle.32 Dieses Motiv bleibt dem am Ende in Wahnsinn versinkenden Helden letztlich unbewusst. Damit entwirft Eichendorff ein figurales psychisches Unbewusstes sowie einen neuen Typ von Inzest, den die Goethezeit so noch nicht kannte: An die Stelle des in der 32

Vgl. Lukas, Wolfgang, „Abschied von der Romantik. Inszenierungen des Epochenwandels bei Tieck, Eichendorff und Büchner“, in: Recherches germaniques, 31/2001, S. 49–83, sowie Ders., „ ‚Anthropologische Restauration‘. Adalbert Stifters Der Hochwald im Kontext der Biedermeiernovellistik“, in: Michael Minden/ Martin Swales/Godela Weiss-Sussex (Hrsg.), History, Text, Value: Essays on Adalbert Stifter, Linz 2006 (= Publications of the Institute of Germanic Studies, Bd. 88; zugleich Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich, 11/2004), S. 105–125.

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Regel wörtlichen und ungewussten (sei es faktisch vollzogenen, sei es nur potenziell drohenden) Inzests33 tritt nun der metaphorisch-psychische Inzest in Gestalt der mehr oder weniger unbewussten psychischen und emotionalen Bindung an die Schwester bzw. den Bruder. II.2.

Eine neue pessimistische Anthropologie: Entdeckung und Verdrängung der menschlichen Triebnatur

Eine zentrale denkgeschichtliche Voraussetzung für die Problematisierung der menschlichen Psyche und der psychischen Motivationen ist in der epochalen Wende hin zu einer pessimistischen Anthropologie zu erblicken, die sich mit dem Ausgang der Goethezeit zeitgleich vollzieht. Die spätaufklärerische, rousseauistisch beeinflusste optimistische Anthropologie des ‚ganzen Menschen‘, die eine harmonische Integration des ‚Tierischen‘ und ‚Geistigen‘ zumindest postulierte, weicht einer Anthropologie, die den Menschen als antagonistisch gespalten konzipiert zwischen soziokulturellen und moralischen Strebungen einerseits und kulturfeindlichen und ästhetisch hässlichen ‚Naturtrieben‘ andererseits. Odo Marquard hat diesen Prozess auf die Formel einer epochalen „Wachablösung der Romantiknatur durch Triebnatur“ gebracht,34 mit der im Übrigen auch eine verstärkte Hinwendung von Literatur und Philosophie zur Leiblichkeit einhergeht – bekannte Kronzeugen dieser Entwicklung wären u. a. Schopenhauer und Büchner. Unter den Bedingungen der optimistischen Goethezeit-Anthropologie, so könnte man sagen, wirft die psychische Motivation von Handlungen, so abweichend oder pathologisch sie auch sein mag, letztlich kein Problem auf, weshalb sie als Thema von der Literatur auch nicht entdeckt wird; dies ist erst ab Mitte der 1820er Jahre der Fall, wenn menschliches soziales Handeln im Zeichen einer prinzipiellen Doppelbödigkeit erscheint, die einen Deutungsbedarf erzeugt. Als eine zentrale Struktur lässt sich nun in der Literatur die einer desillusionierenden Entzauberung dingfest machen, die in der Aufdeckung einer hässlichen Triebnatur unter der Oberfläche des Zivilisierten und Kulturkonfor33

34

Siehe Titzmann, Michael, „Literarische Strukturen und kulturelles Wissen: Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihrer Funktionen im Denksystem der Epoche“, in: Jörg Schönert (Hrsg. in Zusammenarbeit mit Konstantin Imm und Joachim Linder), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1910. Tübingen 1990, S. 229–281 (auch in: Titzmann, Anthropologie der Goethezeit, S. 373–431). Marquard, Odo, Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987, S. 178 und passim.

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men besteht – eine Entdeckung, die zugleich als fundamentale Krise erfahren wird. In den Worten des Titelhelden von Tiecks Der Alte vom Berge: Alle unsere Gefühle […], die besten, redlichsten, weichsten und beglückendsten, ruhen auf diesem Giftboden. […] Und alles, alles, was man achten, für vernünftig halten möchte, geht in diesem Strudel unter, der mit Gräuel, Tollheit, wildem Gefühl, thierischer Begier und Abgeschmacktheit zusammenfluthet! […] Ich erschrak vor dieser Lüge meiner Seele […].35

Sexualität insbesondere wird dämonisiert und – in Extremform bei Stifter – als zwar natürlicher, doch zugleich ‚egoistischer‘, kulturfeindlicher Trieb verurteilt. So geht das oben zitierte Beispiel eines Schuldwahns in der Kriminalgeschichte Müllners denn auch mit einer bemerkenswerten Negativierung von Sexualität einher. Die Bewusstwerdung, dass er die Geliebte auch körperlich begehre, wird vom Helden geradezu traumatisch erfahren: Bin ich noch ein Mensch, ein Wesen mit Vernunft begabt, seit ich sie gesehen? Wie ein Thier komm’ ich mir vor, wie ein gemeines, lüsternes, unzüchtiges Thier, das sie sich schämen muß zu lieben, schämen, dessen stumme Sprache zu verstehen.36

Diese Prozesse sind hinlänglich bekannt und sollen hier nur im Zusammenhang mit der Diskussion über das ‚Unbewusste‘ in Erinnerung gerufen werden. Denn Marquard hat plausibel argumentiert, dass, solange eine Dominanz des romantisch-ästhetischen Blicks auf die menschliche Triebnatur bestehe, keine ‚Verdrängung‘ gedacht werden könne, die ihrerseits wiederum konstitutiv für eine Konzeption des Unbewussten ist (bzw. historisch war – s. die frühe Theoretisierung des Unbewussten im Rahmen der ersten Freud’schen Topik).37 Die postromantische Literatur ist jedenfalls reich an Formen der Reduktion, Tilgung bzw. Verdrängung von Sexualität als Varianten eines notwendigen Akts der kulturellen Zähmung eines Wilden und Tierischen, das der Mensch in sich trägt.38 Die literarische Genese eines individuellen Unbewussten lässt sich somit bevorzugt im Zusammenhang mit dem Phänomen der Abwehr einer – negativierten und dämonisierten – Sexualität greifen. 35

36 37 38

Tieck, Ludwig, Der Alte vom Berge, in: Ludwig Tieck’s Schriften, 24. Bd.: Ludwig Tieck’s gesammelte Novellen. Vollständige, auf ’s Neue durchgesehene Ausgabe, 8. Bd., Berlin 1853, S. 145–262, hier S. 171. Müllner, Der Kaliber, S. 97 (Hervorhebungen W. L.). Marquard, Transzendentaler Idealismus, S. 159, S. 228–243. Vgl. hierzu näher Lukas, Wolfgang, „ ‚Gezähmte Wildheit‘. Zur Rekonstruktion der literarischen Anthropologie des ‚Bürgers‘ um die Mitte des 19. Jahrhunderts“, in: Achim Barsch/Peter M. Hejl (Hrsg.), Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850–1914), Frankfurt am Main 2000, S. 335–375.

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Die Literatur entwirft im Bereich der Liebesproblematik das bislang unbekannte Phänomen, dass ein jugendliches Liebespaar, dessen beidseitige Liebe außer Frage steht und dessen Verbindung durch keine sozialen paarexternen Gründe – allenfalls durch scheinbare, letztlich aber überwindbare – behindert wird, dennoch scheitert. Die Motive dafür müssen somit bei den Partnern selbst, primär beim männlichen Partner und Helden gesucht werden. Dieser wird als hochgradig ambivalent gezeichnet: Die angestrebte Beziehung mit der geliebten Frau zerstört er selbst, wobei sich verschiedene narrative Varianten isolieren lassen: die Flucht vor der Partnerin (so u. a. in Schefers Die Deportirten, in Stifters Feldblumen und Condor), die ‚Abtretung‘ der Partnerin an einen – seinerseits emotional hochbesetzten – männlichen Freund (so u. a. in J. Schreyvogels Wie es geschah, daß ich ein Hagestolz ward, in Tiecks Dichterleben oder in Mörikes Maler Nolten) oder die männliche Aggression, die, im Unterschied zu den wörtlichen Tötungsakten bzw. -versuchen in romantischen Texten (vgl. u. a. Tiecks Tannenhäuser und Liebeszauber, Hoffmanns Sandmann), sich als indirekte und metaphorische psychische ‚Tötungen‘ der Partnerin durch den Helden, wenngleich mit faktischem Ergebnis, interpretieren lassen (u. a. Stifters Die Narrenburg,39 T. Vischers Jugendnovelle Cordelia, Gaudys „Venetianische Novelle“ Das Modell). Diese und andere Modelle, die sich in den zahllosen epochentypischen Entsagungsgeschichten finden,40 repräsentieren Varianten der Verhinderung der Liebe durch die (männliche) Abwehr von bzw. Angst vor Sexualität, die der Figur selbst unbewusst ist. Diese Deutung zwingt der Text dem Leser dadurch auf, dass er gezielt eine Diskrepanz zwischen dem Verhalten des Helden einerseits und seiner offiziellen und bewussten Motivation andererseits, derzufolge er die Beziehung jeweils ganz fraglos anstrebt, erzeugt und dergestalt einen psychologischen Erklärungsbedarf konstruiert. Entscheidend ist also, dass nicht nur für den heutigen Leser, sondern fiktionsimmanent für die darge-

39

40

Hierzu Titzmann, Michael, „Text und Kryptotext: zur Interpretation von Stifters Die Narrenburg“, in: Hartmut Laufhütte/K. Möseneder (Hrsg.): Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann, Tübingen 1996, S. 335–373. Siehe auch am Beispiel von Mörikes Maler Nolten: Wünsch, Marianne, „Eine neue Psychologie im literatur- und denkgeschichtlichen Kontext: Zur Interpretation von Mörikes Maler Nolten“, in: Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann (Hrsg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, Stuttgart 1997, S. 185–232. Siehe auch Lukas, Wolfgang, „ ‚Entsagung‘. Konstanz und Wandel eines Motivs in der Erzählliteratur von der späten Goethezeit zum frühen Realismus“, in: Michael Titzmann (Hrsg.), Zwischen Goethezeit und Realismus – Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, Tübingen 2002, S. 113–149.

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stellte soziale Umwelt das Verhalten als abweichend und erklärungsbedürftig gesetzt wird.41 Als ein Beispiel unter vielen sei stellvertretend Tiecks Künstlernovelle über Shakespeare, Dichterleben, zitiert, wo das zeitgenössische biographische ‚Wissen‘ von Shakespeares Homosexualität in Gestalt eines raffinierten Beziehungsdreiecks inszeniert wird. Nachdem der Held zunächst eine Beziehung mit einer dominanten älteren Frau geführt hat, die ihm mehr Mutter denn Partnerin ist, findet er in der jungen Rosaline die ideale Frau – um diese schließlich an den jungen Freund Southampton zu verlieren, dem er sie abtritt, ja geradezu aufdrängt, obwohl er sie, zumindest bewusst, keineswegs verlieren will. Der Text versäumt nicht, das forcierte Arrangement eines Treffens zwischen Rosaline und Southampton als abweichendes und erklärungsbedürftiges Verhalten zu markieren. Nachdem es, wie erwartbar, zur leidenschaftlichen Paarbildung zwischen Southampton und Rosaline gekommen ist, werden Erklärungsversuche angestellt, und die empörte Familie Southamptons kommt zu dem Schluss, daß man die Verirrung des Grafen, seine plötzliche Abreise mit einer Frau, die nicht im besten Rufe stände, hauptsächlich ihm [Shakespeare] zuschriebe, weil er, fast mit Gewalt, den Jüngling zuerst zu Rosalinen geführt habe. Die Mutter des Grafen, sowie die übrigen Mitglieder der Familie, seien deshalb über ihn erzürnt, weil man sich keine verständige Ursache eines solchen Benehmens denken könne.42

Die Setzung eines psychologischen Erklärungsbedarfs ist wiederum einer Aufforderung an den Leser zur Suche nach dem wahren Motiv äquivalent. Ein solches Erklärungsangebot wird nun vom Text indirekt über die unzweideutig homoerotische Besetzung des Freundes Southampton gemacht. So wirft die Geliebte Shakespeare bereits zu einem früheren Zeitpunkt vor: „Die Gedichte an deinen kindischen Freund lauten viel süßer und inniger, und ich muß fast fürchten, daß du mir die schönsten noch gar nicht gezeigt hast. So verdreht oder verkehrt bist du in manchen Dingen, denn die Geliebte müßte dir doch höher stehn, als der Freund.“43

41

42

43

Zum Problem der fiktionalen Konstruktion von Figurenpsychen allgemein s. auch Eder, Jens, Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008, insbes. Teil III, Kap. 6.4 „Psyche: Innenleben und Persönlichkeit“, S. 281–306 und Teil V, Kap. 9 „Motivation und Handlung“, S. 428–463, sowie Jannidis, Fotis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin 2004, insbes. Kap. 5.5 „Die Tiefenpsychologie der Figur“, S. 169–172, und Kap. 6.3 „Motivierung“, S. 221–229. Tieck, Ludwig, Dichterleben (Zweiter Teil), in: Werke in vier Bänden, Marianne Thalmann (Hrsg.), Bd. III: Novellen, München 1965, S. 421–549, hier S. 545 (Hervorhebung W. L.). Ebd., S. 525 (Hervorhebung W. L.).

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In all den genannten Fällen wird die Psyche des männlichen Helden zum Schauplatz zweier konfligierender Strebungen: Die bewusste (heterosexuelle) Liebe wird konterkariert und überlagert durch eine ihm selbst unbewusste gegenteilige Strebung – im Falle Shakespeares die homoerotische Liebe zu Southampton. Jeweils besitzen die auffälligen Verhaltensweisen der Helden tendenziell den Status von Handlungen, die Freud später als „Fehlleistungen“ bezeichnen wird und die somit als neurotische Symptome interpretierbar sind. II.3.

‚Unbewusstes Wissen‘ und textuelle Leerstelle: Zur Isomorphie zwischen Text und Figur

Bislang wurden primär Textstrukturen auf der Ebene der histoire betrachtet. Im Folgenden soll es, anhand eines Textes von Stifter, um spezifische Phänomene des Erzähl-discours gehen, die im Zusammenhang mit der Genese eines figuralen psychischen Unbewussten auftreten. In der von der Forschung relativ wenig beachteten, gleichwohl zu den großen Erzählungen Stifters gehörenden Novelle Der Waldgänger (1847) wird ein singuläres Modell des Scheiterns einer Liebes- und Ehebeziehung entworfen. Georg und Corona weisen das gemeinsame Merkmal einer abweichenden Kindheit und Sozialisation auf: Er wächst in sozialer Isolation auf und erhält dadurch „etwas scheues“ und „wildes“44, was ihn nicht zuletzt zur Laufbahn eines Künstlers – in Gestalt eines erfolgreichen Architekten und Baumeisters – prädestiniert; sie wird durch den frühen Tod der Mutter Halbwaise und verlässt danach den Vater, der ihr seine Geliebte, die Haushälterin, mit der er noch zu Lebzeiten der Mutter den Ehebruch vollzogen hat, als Stiefmutter aufzwingen will. Über das gemeinsame Merkmal des Rückzugs aus der Gesellschaft finden sie einander. Ihre Einsamkeit vereint das Paar in einer Ehe, die zunächst als glücklich gilt, jedoch kinderlos bleibt. Nach dreizehn Jahren trennt sich das Paar auf Coronas Initiative hin wegen seiner Kinderlosigkeit: Jeder soll mit einem anderen Partner die Chance erhalten, das normativ gesetzte Ziel der Fortpflanzung zu erreichen. Mit der Vereinbarung, „dass sie sich nie sehen, einander nie schreiben wollen, daß sie für einander nicht mehr da sind“ (WG 192), kommt die Trennung einer gegenseitigen Tilgung gleich. Für die soziale Umwelt, die die Ursache hierfür nicht 44

Stifter, Adalbert, Der Waldgänger, in: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Alfred Doppler (Hrsg.), Wolfgang Frühwald und Hartmut Laufhütte, Bd. 3.1: Erzählungen I, Sybille von Steinsdorff und Johannes John (Hrsg.), Stuttgart 2002, S. 93–201, hier 151. Im Folgenden zitiert mit Sigle WG und Seitenzahl.

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kennt, wirft die „seltsame That“ ein entsprechendes Rätsel auf: „Die Leute wunderten sich […] und erschöpften sich in Ergrüblung des Dinges, das da vorgefallen sein müsse“ (WG 193f.). Nach abermals dreizehn Jahren trifft sich das Paar durch Zufall erneut und zieht Bilanz: Während Georg erneut geheiratet und zwei Söhne gezeugt hat, die namenlos bleiben, hat Corona auf eine erneute Heirat verzichtet. Nach dieser kurzen Begegnung bricht Georg weinend zusammen und vollzieht eine Umwertung: Nicht das Festhalten an der ihren biologischen Zweck verfehlenden Ehe, sondern der Partnerwechsel erscheint ihm nun als „Sünde“ (WG 190, 199). Sobald die Söhne erwachsen und seine Gattin gestorben ist, vollzieht er einen jener faszinierenden Lebenswechsel, wie wir sie auch aus anderen Erzählungen Stifters kennen (etwa Abdias in den Studien, Turmalin und Kalkstein in den Bunten Steinen), indem er zum solitären sonderlingshaften Waldgänger wird, der als Nomade die böhmischen Wälder durchstreift und sich ganz der Aufgabe der sozialen Vaterschaft gegenüber dem Sohn eines Hegers widmet. Die Kinderlosigkeit des Paars wird in der Binnengeschichte als das große Rätsel gesetzt und beschworen, auf das es scheinbar keine Antwort gibt. Halten wir zunächst fest, dass eine biologische Ursache – die theoretisch zumindest bei der Partnerin ja denkbar wäre – allein aufgrund des literarhistorischen Kontextes nicht in Frage kommt. Die Frage der (Un-)Fruchtbarkeit wird in der Goethezeit traditionellerweise nicht als biologisches, sondern als psychisches Problem behandelt und fungiert potenziell auch als zeichenhafter Träger für ideologische Probleme. Als ein Beispiel sei Tiecks später Bildungsroman Der junge Tischlermeister (1836) angeführt, wo der Held zu Textbeginn bereits mit der Zielpartnerin ehelich verbunden ist, aufgrund einer missglückten Transitionsphase aber eine defizitäre Mannwerdung aufweist. Zeichenhaft hierfür steht die Kinderlosigkeit des Paars, das statt eines eigenen ein Adoptivkind aufzieht. Indem Tieck seinem Helden eine zweite Transitionsphase und Bildungsreise zugesteht, in der er genau jene einst verpasste voreheliche Liebesbeziehung nun als außereheliche nachholen darf, gelingt die optimale Initiation in das Mannesalter. Mit der vollendeten psychosexuellen Mannwerdung geht zugleich auch die prompte Fruchtbarkeit der Ehe einher. Während Stifters Text die aufgeworfene Frage nach den Ursachen der Kinderlosigkeit offiziell unbeantwortet lässt, gibt er gleichwohl versteckte Hinweise, die zu ihrer Beantwortung beitragen können. Ein erster ist das auffällige Problem der Namensnennung. Die Ehefrau trägt drei Vornamen: Eleonore Elisabeth Corona, nach drei verschiedenen Namensgeberinnen: der Großmutter väterlicherseits, der biologischen Mutter und der Patin. Zwischen den Namen der beiden letzteren besteht nun eine Art Konkurrenz:

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So lebten die zwei Menschen fort, Georg freute sich immer, wenn er mehrere Tage nacheinander zu Hause bleiben konnte, um das Wohlthuende des eigenen Herdes zu empfinden. Er hatte sich da angewöhnt, seine Gattin bei ihrem zweiten Namen Elisabeth zu nennen: er that dies immer, wenn er besonders traulich und freundlich war, weil ihm dieser Name häuslicher und wirthlicher vorkam. Er wolle nicht immer, sagte er scherzhaft, auf die Krone erinnert werden, die ihm eher wie seine Beherrscherin, als wie seine Gattin erschiene. Nur eins fehlte dem Ehepaare zu seinem völligen Glücke: sie hatten keine Kinder. (WG 172f.)

Die Semantik der Vornamen wird relativ explizit gemacht: Der mütterliche Name „Elisabeth“ steht für die häusliche und tendenziell entsexualisierte Identität der Partnerin; in der goethezeitlichen Literatur ist er (ähnlich wie „Christine“, „Bianca“ etc.) auch als betont christlich-bürgerlicher Frauenname eingeführt und steht in Opposition zu den sexualisierten ‚Venusfrauen‘, die dem männlichen Helden ein Leben in hemmungsloser Lust verheißen (vgl. etwa Tiecks Runenberg).45 Georg nimmt also eine Art Domestizierung und Desexualisierung seiner Frau als auch seiner selbst vor: „besonders traulich und freundlich“ sind nicht die Attribute, die einen Mann in der Rolle eines leidenschaftlich-sinnlich Begehrenden schildern; im Stifter’schen ‚Wörterbuch‘ figurieren sie als Synonyme der berüchtigten desexualisierten „Sanftheit“. Der von der Patin (und ‚sozialen Mutter‘) erhaltene Name „Corona“ hingegen steht offenbar für jene leidenschaftlich-sinnliche Identität, die er an ihr abwehrt und die hier bedrohlich erscheint, weil sie eine Art phallische Qualität besitzt. Dabei scheint es allerdings weniger um eine Machtproblematik im engeren Sinn zu gehen, wie die Stelle suggerieren könnte, sondern um eine prinzipielle Unfähigkeit, mit der Partnerin in eine lebendige, leidenschaftliche und dynamische Beziehung einzutreten, in der auch aggressive Anteile ihren Platz erhalten können. So hat Georg sich auch in der Jugend vom Studium der Rechts- und Staatswissenschaften abgewandt, weil diese eine Geselligkeit und einen Zusammenstoß von Menschen voraussezen, die in lebendiger Leidenschaft, in Gunst und Abgunst auf einander wirken, die es für ihn nicht gab. Darum zog sich sein Herz zur Natur, gleichsam zu Dingen, die schon an und für sich da sind, die ihm nichts wollen. […]. Darum zog es ihn zur Baukunst, deren Denkmale von Todten aufgeführt, gleichsam in ihren Eigenschaften ebenfalls selbstständig da stehen, schöne Merkmale zeigen, die als ein Bleibendes auf die Gefühle der Seele des Menschen wirken […]. (WG 151, Hervorhebung W. L.)

Der behauptete Zusammenhang wird bestätigt bei der Wiederbegegnung, wo es zu einem bezeichnenden Anredewechsel kommt: In großer emotio45

Vgl. auch noch Storms Immensee (1850)!

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naler Bewegung spricht Georg seine Ex-Frau zunächst und geradezu penetrant, insgesamt viermal in Folge, mit „Corona“ an – um sodann beim Abschied, der ein definitiver ist und das Ende der Beziehung unwiderruflich besiegelt, resignativ und gleichsam in einem Akt der sprachlichen Mortifikation zu „Elisabeth“ überzugehen.46 Im Text fällt unmittelbar im Zusammenhang mit dem Namensproblem, beinah unmotiviert, der Satz vom fehlenden Glück der Kinder – doch wird in der zitierten Passage weder die Hintergründigkeit der Namensnennungspraxis noch eine etwaige Verknüpfung mit dem Problem der Kinderlosigkeit deutlich. Einige Seiten weiter unten lesen wir indes folgenden Satz: Immer mehr ordnete sich das Haus, immer mehr saßen sie in ihrem Besizthum in Fülle, und sahen auf die wunderschöne Welt hinaus. Aber ein Wunsch ging nicht in Erfüllung, der allem Anderen die Krone aufgesezt hätte, oder der sie alle entbehrlich gemacht hätte: sie hatten noch immer keine Kinder. (WG 179, Hervorhebung W. L.)

Über das Lexem „Krone“ werden beide Stellen in Bezug zueinander gesetzt, und der Leser wird gezwungen, eine Kausalbeziehung zwischen der Praxis der Namensnennung und dem Schicksal der Kinderlosigkeit anzunehmen. Diese Korrelation lässt sich an weiteren Textdaten nun bestätigen. Denn die „Krone“, die metaphorisch sowohl für die angstbesetzte leidenschaftlichsinnliche Identität der Frau als auch für das Maximum des erhofften Eheglücks steht, ist wörtlich ein Schmuckstück – Schmuckstücke spielen nun ihrerseits eine große Rolle für das Paar: Die Habe mehrte sich, selbst allerlei Kunstwerke kamen ins Haus […]. […] und was zwischen kinderlosen Eheleuten so oft der Fall ist, wenn er nach Hause kam, da er länger abwesend gewesen war, […], brachte er ihr Geschenke nach Hause, sei es ein kostbares Tuch, ein Schmuckgegenstand, ein Silbergefäß, sei es ein künstlich gefertigtes Einrichtungsstück, bis sie von einer Menge Gegenständen und Spielereien umringt war, daß sie oft nicht wußte, wie sie dieselben nur unterbringen oder aufstellen sollte. (Ebd., Hervorhebung W. L.)

Der Mangel an Kindern wird verdeckt und gleichsam kompensiert durch eine Überfülle an ästhetisch-künstlichen Objekten. Anstelle eines Kindes schenkt Georg seiner Partnerin Schmuckgegenstände. Deren Bedeutung als Substitut für nicht gezeugte Kinder erhellt deutlich, wenn es zugleich heißt, Kinder seien „ein anderer kostbarer Schmuck“ (WG 181, Hervorhebung 46

Ebd., S. 197f. Die Namensproblematik ist damit noch keineswegs erschöpfend interpretiert. Sie spielt auch in der Rahmengeschichte im Zusammenhang mit sozialer Vaterschaft, der sich der Held in seinem zweiten Leben widmet, eine enorme Rolle.

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W. L.) – die „Krone“, die ein Kind metaphorisch bedeutet hätte, ist ihrerseits im wörtlichen Sinne ein solch besonders kostbarer Schmuck. Im Gegenzug, gleichsam als Gegengabe für diese exzessive Beschenkung, praktiziert Corona bzw. Elisabeth eine exzessive Reinigung des Hauses: Dafür empfing sie ihn immer, wenn er von seinen Reisen zurückkam, mit einer Reinlichkeit seines Hauses […]. Kein Stäubchen, kein Flecken, kein Hauch einer Unordnung war durch alle Zimmer zu sehen. Sie ordnete immer, und die schönen Geräthe oder Kunstsachen wie etwa Geschirre, Gemälde, und dergleichen reinigte sie stets selbst; denn sie hegte zum Beispiele ihre Tische so, daß die Schönheit der Platte auch nicht einmal durch die kleinste Rizung geschändet werden durfte. (WG 179f., Hervorhebung W. L.)

Mehrmals ist vom Haus als „Tempel, wo sie gerne wirtschaftete“, und als „Tempel der Reinlichkeit“ die Rede (WG 177, 170), in dem die Gattin gleich einer Vestalin waltet. Schmutz geht nun bekanntlich im Zuge der Durchsetzung des modernen bürgerlichen Wertsystems im Symbolhaushalt der Epoche eine innige Verknüpfung mit Erotik und Sinnlichkeit ein – Kampf gegen Schmutz kann symbolisch als Abwehr gegen Sexualität stehen, wie exemplarisch etwa zeitgleich Grillparzers Der arme Spielmann vorführt. Die Wortwahl der „Schändung“ ist ihrerseits bezeichnend, weil sie, ursprünglich aus einem sexuellen Kontext stammend, hier metaphorisch auf Verunreinigung bezogen wird, gleichwohl aber die sexuelle Bedeutung einer (gewaltsamen) Defloration behält. Mit anderen Worten: Das Paar befleißigt sich gleichermaßen (und in geschlechtsspezifischer Weise) asexueller Ersatzbefriedigungen für die von beiden verdrängte und abgewehrte Sexualität, die offenbar jeweils stark mit negativ konnotierter Aggression gekoppelt wird („Beherrscherin“ bzw. „Schändung“). Die emphatische Hinwendung zur dinghaften ‚toten‘ Objektwelt, exzessives Schenken und obsessives Reinigen werden als neurotische Symptome deutbar, die im Sinne einer „Gegenbesetzung“ funktionieren, indem sie von den Figuren quasi erotisch besetzt werden und die Funktion erhalten, die Verdrängung aufrecht zu erhalten.47 Ob die Partner nun faktisch physisch asexuell sind, spielt keine Rolle und ist auch nicht thematisch – psychisch jedenfalls, und das ist allein maßgebend, sind sie es im Sinne einer nicht erreichten erwachsenen ‚genitalen Position‘. Die Analyse könnte und müsste noch weiter getrieben werden, unter Einbezug u. a. der jeweiligen Informationen über die Herkunftsfamilie und Kindheit der Protagonisten sowie der Rahmenhandlung. Ich breche hier 47

Vgl. analog das obsessive Bauen von Dämmen gegen die Wasserfluten in Stifters Kalkstein.

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aber ab, weil für meine Zwecke alle wichtigen Daten versammelt sind. Beide Partner verdrängen also mit dem sexuellen Begehren zugleich das Wissen über die Ursache der als zunehmend „schmerzlicher“ erfahrenen „Entbehrung“ (WG 180). Was sie bewusst nicht wissen, wissen sie unbewusst freilich sehr wohl, wobei die Unbewusstheit zugleich jene neuartige Heteronomieerfahrung bedeutet, die die romantischen Texte noch nicht kannten. Doch, so muss gefragt werden, woher können wir das eigentlich wissen – und damit die Behauptung aufstellen, hier gebe es ein psychisches Unbewusstes –, wenn es die Figuren nicht wissen und auch der Erzähler offenbar nicht weiß, der an keiner Stelle diese Zusammenhänge erläutert? Sofern wir dieses Wissen nicht als textexternes extrapolierend und somit methodisch unzulässig einführen wollen, können wir dies tatsächlich nur über die beschriebene Gestaltung des discours wissen. Über das Lexem „Krone“ werden das Problem der Kinderlosigkeit und auffällige Verhaltenspraktiken des Mannes wie Anrede und Schenkungen so korreliert, dass der Leser eine Kausalbeziehung annehmen muss. Wenn nun aber der Erzähler bzw. die Erzählinstanz selbst dieses Wissen einerseits nicht zu besitzen scheint, es andererseits jedoch in dem von ihr verantworteten discours auf indirekte Weise transportiert, dann verhält sie (bzw. der ‚Text‘: der Unterschied spielt hier keine Rolle) sich letztlich wie ihre Figuren: Was bei diesen ein psychisches Unbewusstes konstituiert, das ergibt auf Textebene eine große Leerstelle. Bereits in seinen frühen Erzählungen finden wir bei Stifter den Aufbau von homologen Strukturen der Latenz auf Figuren- und Textebene, was nicht zuletzt den großartigen und eigentümlichen ästhetischen Reiz dieser Texte ausmacht (vgl. exemplarisch: Das Haidedorf). Die spezifische sprachlich-tropische Gestaltung des discours lässt sich ihrerseits somit fassen als eine Art ‚Wiederkehr des Verdrängten‘ und als homologes Phänomen zum neurotischen Symptom der Figur, bzw. genauer formuliert: die rhetorische und semiotische Operation des Textes verhält sich isomorph zur Verdrängung als psychischer Operation der Figur. Die auf der Ebene der histoire praktizierte Aussparung/Verdrängung schlägt sich, als eine Art Kompensationsmechanismus, in Spuren auf der discours-Ebene nieder und schreibt sich dem ‚Textkörper‘ als ästhetisches Phänomen ein: „Corona“ und das, wofür dieser Name metaphorisch steht, wird verdrängt und taucht im Gegenzug auf der sprachlichen Darstellungsebene wieder als „Krone“ auf – gleichsam unwillentlich, als würde es dem Erzähler ‚unterlaufen‘ – und verweist dort metonymisch-indexikalisch auf den stattgehabten semiotischen ‚Verdrängungsprozess‘. In analoger Weise wissen wir auch von der unbewussten sexuellen Bedeutung der männlichen Schenkungs- und weiblichen Reinigungspraktiken ausschließlich über die ästhetisch-rhetorische

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Verfasstheit des Erzähldiscours: So werden die kostbaren Geschenke sprachlich mit Kindern gleichgesetzt, und so taucht in der Wortwahl „Schändung“ die auf Handlungsebene abgewehrte Sexualität als Metapher für die Verunreinigung wieder auf und indiziert zugleich metonymisch die von der Erzählinstanz in homologer Weise praktizierte Aussparung der sexuellen Problematik. Was die Figuren nicht wissen, ist somit über komplexe semiotische Verfahren als Wissen gleichwohl im Text aufgehoben, wobei dieses ‚Wissen des Textes‘ aufgrund der bestehenden Homologie bzw. Isomorphie als quasi ‚personales Wissen‘ reformulierbar ist.48 Wenn wir abschließend diese postromantische Praxis mit der romantischen in Bezug auf eine Psychologie des Unbewussten vergleichen, so können wir also zusammenfassend sagen: Jeweils werden komplexe individualpsychologische Sachverhalte dargestellt, die zu ihrer Erklärung die Annahme eines psychischen Unbewussten erfordern würden. Doch erst der postromantische Text besitzt und entwickelt ein solches, und zwar in dem Maße, wie er einen psychologischen Erklärungsbedarf in Gestalt einer augenscheinlichen Motivationslücke fiktionsimmanent konstruiert. Die Geschichte des literarischen Unbewussten im engeren, psychoanalytischen bzw. psychoanalysenahen Sinn beginnt mit dieser Leerstelle, die als solche textintern bewusst gemacht wird, mit einer Setzung ex negativo. In beiden Paradigmen stehen allerdings Text und Figur jeweils parallel zueinander, und es besteht eine prinzipielle Isomorphie zwischen figuraler psychischer und textueller semiotischer Operation: Denn gleich dem romantischen Psychotiker, dem im Wahnsinn die Grenze zwischen Innen und Außen abhanden kommt, ‚exteriorisiert‘ der romantische Text Intrapsychisches zu realen Gestalten der Außenwelt; gleich dem postromantischen Neurotiker ‚verdrängt‘ er bestimmte – privilegiert sexuelle – Inhalte und gewährt ihnen nur indirekte zeichenhafte Präsenz auf der Ebene der Sprache. Erst die psychologische Problematik der Verdrängung konstituiert bzw. generiert damit – im postromantischen Text – eine ganz spezifische ästhetische Qualität der erzählerischen Sprache; diese wird umgekehrt in qualitativ neuartiger Weise ‚transparent‘ auf die von ihr erzählte und repräsentierte psychische Realität, dergestalt, dass bestimmte Merkmale des discours nun in isomorpher Abbildrelation zu den figuralen psy48

Zur Unterscheidung von personalem vs. impersonalem Wissen im Kontext der Diskussion über das ‚Wissen‘ der ‚Literatur‘ bzw. der ‚Texte‘ vgl. jetzt zusammenfassend Ort, Claus-Michael, „Das ‚Wissen‘ der Literatur. Probleme einer Wissenssoziologie literarischer Semantik“, in: Tilmann Köppe (Hrsg.), Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin, New York 2010, S. 164–191.

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chischen Sachverhalten stehen. Genau damit – und auch erst damit – baut die Literatur eine metasemiotische Dimension auf, in der sie sich und ihre ästhetischen Verfahren in qualitativ neuartiger ‚moderner‘ Weise selbst thematisiert und reflektiert49 – während das goethezeitlich-romantische Paradigma mit dem Prinzip der Korrespondenz von psychischer Innen- und realer Außenwelt ebenso wenig eine autonome Dimension des Psychischen kennt, wie sie, mit dem Prinzip der Koextension von Zeichen und Realem, eine autonome Dimension des Semiotischen kennt. (Figuren-)Psychologie und Semiotik stehen historisch gesehen also jeweils in notwendiger Beziehung zueinander. So spezifisch das geschilderte Verfahren einerseits für Stifter ist und so sehr es zweifellos seine ästhetische Singularität mitkonstituiert, so allgemeingültig ist es andererseits doch als abstrakter semiotischer Mechanismus in der postromantischen Literatur. Die textinterne Konstruktion eines psychologischen Erklärungsbedarfs qua Motivationslücken und Leerstellen sowie deren kompensatorische Auffüllung mittels spezifischer zeichenhafter discours-Gestaltung bezeichnet ein typisches Verfahren auch der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach 1850, dies kann an dieser Stelle lediglich angedeutet werden, markiert u. a. eine ‚Verräumlichung‘ eine weitere Etappe in der Herausbildung des Unbewussten als eines autonomen innerpsychischen Teilraums. Das Unbewusste wird nun räumlich jenseits einer ‚Oberfläche‘ situiert: in einem topographischen Tiefen- und/oder Außenraum. Damit entwickeln die literarischen Texte eine spezifische ‚Sprache‘ der räumlichen Relationen, d. h. eine Raumsemantik, wobei insbesondere der ‚Tiefenraum‘ eine neue Bedeutung erhält, die mit der romantischen Bergwerks- und Höhlensemantik nichts mehr gemein hat.50 49

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Im Waldgänger wird diese auch in der Rahmengeschichte greifbar: vgl. hierzu Schößler, Franziska, „Wilde Semiotik und das Testamentarische der Schrift: Kontradiktorische Zeichenmodelle in Stifters Erzählungen Granit und Der Waldgänger“, in: Henriette Herwig (Hrsg.), Zeichenkörper und Körperzeichen im Wandel von Literatur- und Sprachgeschichte, Freiburg 2005, S. 99–114. Zur metasemiotischen Dimension Stifters siehe auch Begemann, Christian, Die Welt der Zeichen. StifterLektüren, Stuttgart 1995. Siehe Meyer, Friederike, Gefährliche Psyche. Figurenpsychologie in der Erzählliteratur des Realismus, Bern u. a. 1992; Ort, Claus-Michael, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen 1998, sowie die einschlägigen Einzelfallstudien von Marianne Wünsch: „Die Erfahrung des Fremden im Selbst. Der Kampf mit dem ‚Unbewußten‘ in der Literatur zwischen Goethezeit und Jahrhundertwende“, in: Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, Eijiro Iwasaki (Hrsg.), Bd. 11. München 1991, S. 169–176; „Experimente Storms an den Grenzen des Realismus: neue Realitäten in Schweigen und Ein Bekenntnis“, in: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft,

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Indem sie ein Phänomen einführt, für das es noch keinen Namen gibt und das zumal der zeitgenössische Leser qua alltagspsychologischem Wissen noch nicht identifizieren kann, generiert die postromantische Literatur des 19. Jahrhunderts damit ein – wenn auch implizites – exklusives Wissen, das erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts Objekt wissenschaftlicher Theoretisierung und Explikation im Rahmen von Fachdiskursen werden wird.

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Figurationen der Leidenschaft

Michael Scheffel (Wuppertal)

Figurationen der Leidenschaft Die erzählte Gesellschaft des Honoré de Balzac

Ich lehre nicht, ich erzähle. Michel de Montaigne

In Honoré de Balzacs 1831 erschienenem Roman La Peau de chagrin wird die Hauptfigur der erzählten Geschichte, Raphaël de Valentin, in einer bemerkenswerten Szene eingeführt. So beginnt die Handlung des Romans in medias res wie folgt: Vers la fin du mois d’octobre dernier, un jeune homme entra dans le Palais-Royal au moment où les maisons de jeu s’ouvraient, conformément à la loi qui protège une passion essentiellement imposable. Sans trop hésiter, il monta l’escalier du tripot désigné sous le nom de numéro 36. „Monsieur, votre chapeau, s’il vous plaît?“ lui cria d’une voix sèche et grondeuse un petit vieillard blême accroupi dans l’ombre, protégé par une barricade, et qui se leva soudain en montrant une figure moulée sur un type ignoble. […] L’étonnement manifesté par le jeune homme en recevant une fiche numérotée en échange de son chapeau […] indiquait assez une âme encore innocente; aussi le petit vieillard, qui sans doute avait croupi dès son jeune âge dans les bouillants plaisirs de la vie des joueurs, lui jeta-t-il un coup d’œil terne et sans chaleur, dans lequel un philosophe aurait vu les misères de l’hôpital, les vagabondages des gens ruinés, les procès-verbaux d’une foule d’asphyxies, les travaux forcés à perpétuité, les expatriations au Guazacoalco. Cet homme, dont la longue face blanche n’était plus nourrie que par les soupes gélatineuses de d’Arcet, présentait la pâle image de la passion réduite à son terme le plus simple. Dans ses rides il y avait trace de vieilles tortures, il devait jouer ses maigres appointements le jour même où il les recevait. Semblable aux rosses sur qui les coups de fouet n’ont plus de prise, rien ne le faisait tressaillir; les sourds gémissements des joueurs qui sortaient ruinés, leurs muettes imprécations, leurs regards hébétés, le trouvaient toujours insensible. C’était le jeu incarné.1 1

Balzac, Honoré de, La Peau de chagrin, in: La Comédie humaine. Édition publiée sous la direction de Pierre-Georges Castex, Bd. X: Études philosophiques, Paris 1979, S. 57–294, hier S. 57f. – „Ende Oktober 1829 betrat ein junger Mann das PalaisRoyal in dem Augenblick, da die Spielhäuser öffneten, in Übereinstimmung mit dem Gesetz, das eine grundsätzlich steuerpflichtige Leidenschaft schützt. Ohne lange zu zögern, stieg er die Treppe zu dem unter der Nummer 36 angezeigten Spielsaal hinauf. ‚Monsieur, Ihren Hut bitte!‘ rief mit trockener, mürrischer Stimme ein kleiner bleicher Greis, der in der Finsternis eines Verschlages gekauert

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Im Rahmen einer Form von Erzählung, die im Wesentlichen aus der Außensicht erfolgt, zeigt Balzac seinen Protagonisten hier in Gestalt eines Unbekannten an einem bekannten Ort des zeitgenössischen Lebens. Ohne weitere Figureninformationen als „ein junger Mann“ vorgestellt, schickt er sich an, einen Spielsaal im Pariser Palais Royal zu besuchen. Bevor er den entsprechenden Raum betritt, um dort, wie wir wenig später erfahren, sein allerletztes Geld zu verspielen, wird er von einer Art Pförtner angesprochen. Seine erstaunte Reaktion auf die von diesem geforderte Abgabe seines Hutes offenbart, dass er die zu dem entsprechenden rite de passage gehörenden Gepflogenheiten offensichtlich nicht kennt. Sieht man von dieser „impliziten Charakterisierung“2 durch sein aus der Außenperspektive dargestelltes Verhalten ab, so wird der Protagonist des Romans also ohne jeden Hinweis auf seine Identität oder auch nur eine nähere Beschreibung seines Äußeren eingeführt; sein erster Gesprächspartner, der in der Rolle eines Wächters auftretende „kleine, bleiche Greis“, wird dagegen in Form einer „explizit-auktorialen Charakterisierung“3 vergleichsweise detailliert porträtiert und als ein langjähriges Opfer der Leidenschaft des Spiels vorgestellt. Auf diese Weise entwerfen die ersten Sätze von Balzacs Roman eine Szene, in der sich gesichtslose Unschuld und verkörperte Leidenschaft in Gestalt von zwei mit Hilfe unterschiedlicher Charakterisierungstechniken eingeführten Figuren begegnen. Dabei stellt die zitierte Szene auch im buchstäblichen Sinne eine Eingangsszene dar, die den ersten Auftritt des Protagonisten mit einer zielgerichteten räumlichen Bewegung, dem durch eine andere Figur bewirkten

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hatte, sich nun aber plötzlich erhob und in seinem Gesicht die Züge eines gemeinen Menschen zu erkennen gab. […] Das Erstaunen des jungen Mannes, als er im Austausch für seinen Hut […] einen nummerierten Zettel bekam, ließ deutlich eine noch unschuldige Seele erkennen; der kleine Greis, der wohl von früher Jugend an durch die hitzigen Freuden des Spielerlebens abgebrüht war, warf ihm daher einen stumpfen teilnahmslosen Blick zu, in dem ein Philosoph das Elend des Spitals gelesen hätte, das Vagabundendasein der Zugrundegerichteten, die Spuren unzähliger Erstickungsanfälle, lebenslängliches Zuchthaus und Verbannung an den Guazacoalco. Dieser Mann, dessen langes weißes Gesicht nur noch durch Darcets Gallertsuppen genährt wurde, verkörperte das bleiche Bild der auf ihren einfachsten Begriff gebrachten Leidenschaft. In seinen Runzeln fanden sich die Spuren langjähriger Martern, er musste seinen Lohn noch am gleichen Tag verspielen, da er ihn bekam; die stillen Seufzer der Spieler, die ruiniert davongingen, ihre stummen Flüche, ihr trüber Blick fanden ihn stets gleichgültig. Er war die Inkarnation des Spiels.“ (Balzac, Honoré de, Das Chagrinleder, hrsg. und übers. von Michael Scheffel, Stuttgart 1991, S. 7f.) Zur Begrifflichkeit vgl. Pfister, Manfred, Das Drama, 5. durchgesehene und ergänzte Auflage, München 1988, S. 257. Vgl. ebd., S. 262.

Figurationen der Leidenschaft

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Halt an einer Grenze und einem Moment des Übergangs in einen besonderen sozialen Raum verbindet. Was hier im Kern zu beobachten ist, nämlich eine spezifische Art sowohl der Konzeption und Charakterisierung als auch der Konfiguration und Entwicklung von Figuren, das, so bleibt zu zeigen, ist typisch für das Prinzip der Figurendarstellung von Honoré de Balzac. Mit ihm verbindet sich eine Form der Narrativierung von Wissen, deren allgemeine Voraussetzungen ich zunächst erläutern möchte. Auf ihre Folgen für die Ausgestaltung der Figuren und das Prinzip ihres Handelns in La Peau de chagrin komme ich später zurück. Zur Erinnerung: Aus literaturhistorischer Perspektive bedeutet der Roman La Peau de chagrin in gewisser Hinsicht die Geburt des Schriftstellers Balzac.4 Vor 1831 hatte sich der 1799 geborene und ab 1814 in Paris lebende Balzac in erster Linie als Journalist betätigt und eine Reihe großteils unter Pseudonym veröffentlichter Trivialromane verfasst. Ein Ehehandbuch im Stil der seinerzeit populären Salonliteratur, Physiologie du mariage, macht ihn ab 1829 über die Grenzen von Paris hinaus berühmt, und der von ihm selbst u. a. durch bestellte Rezensionen sorgfältig vorbereitete Erfolg seines ersten wichtigen Romans verhilft ihm dann endgültig zu der so lang ersehnten ernsthaften Anerkennung durch das Publikum seiner Zeit. La Peau de chagrin markiert aber nicht nur den eigentlichen Beginn von Balzacs gewaltigem Lebenswerk, das ab 1842 unter dem sprechenden, in Abwandlung von Dantes Divina commedia gebildeten Titel La Comédie humaine erscheint. Tatsächlich bildet dieser Roman ein gedankliches Zentrum, eine Art Brennpunkt im Innern der Comédie humaine, in dem sich konzentriert, was das Werk als Ganzes bestimmt. Um das herauszuarbeiten, sei nun in einem ersten Schritt, mit Paul Ricœur gesprochen, die Ebene der ‚Préfiguration‘5 des Balzac’schen Erzählens betrachtet, d. h. sein pränarrativer Kontext in Form der Wissensbestände und der theoretischen Überlegungen, die zur Gestaltung der Balzac’schen Figuren gehören. In seiner Eigenschaft als Journalist hat sich Balzac schon zu Beginn seiner publizistischen Laufbahn mit zahlreichen Themen des zeitgenössischen Le4

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Detailliert zu den entsprechenden Hintergründen z. B. Scheffel, Michael, „Nachwort“, in: Balzac, Chagrinleder, S. 329–340. Zur entsprechenden Begrifflichkeit und zu Ricœurs Konzept einer dreifachen „Mimesis“ auf den Ebenen von ‚Préfiguration‘, ‚Configuration‘ und ‚Refiguration‘ von Geschehen vgl. Ricœur, Paul, Zeit und Erzählung. 3 Bde., München 1988–1991. Vgl. bes. Bd. I, Zeit und historische Erzählung, hier bes. S. 87–136. Informativ zu Ricœurs Entwurf einer „narrativen Hermeneutik“ z. B. Meuter, Norbert, „PräNarrativität. Ein Organisationsprinzip unseres Handelns“, in: Studia Culturologica 1994, S. 119–140.

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bens befasst. In seinem Frühwerk finden sich so z. B. neben den anschaulichen Beschreibungen verschiedener Orte von Paris Abhandlungen über einen Pariser Sonntag, die Pariser Jugend, das elegante Leben und die soziale Bedeutung des Handschuhs oder auch der Krawatte sowie eine Théorie de la démarche.6 Aber nicht nur das. Balzac hat auch die rasanten naturwissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit mit großer Faszination verfolgt, und er hat ursprünglich selbst als Wissenschaftler zu Ruhm gelangen wollen. Wie er die Erkenntnismöglichkeiten und den Fortschritt der Wissenschaften beurteilt, hat er denn auch deutlich zur Sprache gebracht. Balzac lehnt ab, was sich mit dem analytischen Ansatz der Philosophie der Aufklärung verbindet. In Physiologie du mariage heißt es dementsprechend: „[…] [L]eur philosophie, basée sur le sensualisme, n’est pas allée plus loin que l’épiderme humain. Ils n’ont considéré que l’univers extérieur […]“7, und an anderer Stelle ergänzt Balzac: „Locke et Condillac ont alors retardé de cinquante ans l’immense progrès que font en ce moment les sciences naturelles sous la pensée d’unité due au grand Geoffroy Saint-Hilaire.“8 Tatsächlich erweist sich Balzac hier und in anderen Äußerungen als ein Kind des von Michel Foucault diagnostizierten epistemologischen Wandels in der Zeit um 1800. Zu ihm gehört bekanntlich die Ablösung des Konzepts einer natürlichen Ordnung mit statischem Charakter durch das der Geschichte. Infolge dieser Historisierung des Wissens steht nun nicht mehr die Sicherung des Sichtbaren und des im Modus der Repräsentation gegebenen Wissens im Vordergrund. Stattdessen gewinnt eine Form des Denkens an Bedeutung, welche ein Verstehen der Welt als bloße Summe von Erscheinungen konsequent zu überschreiten 6

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Zu den entsprechenden Belegen vgl. Stierle, Karlheinz, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München u. a. 1993, S. 349–364. Balzac, Honoré de, Physiologie du mariage, in: La Comédie humaine, Bd. XI: Études philosophiques. Études analytiques, Paris 1980, S. 903–1205, hier S. 1171 – „[…] [I]hre auf dem Sensualismus beruhende Philosophie ist nicht einmal unter die menschliche Haut gedrungen. Sie haben nur die äußere Welt in Betracht gezogen […].“ (Balzac, Honoré de, Physiologie der Ehe, in: Die menschliche Komödie. Gesamtausgabe in zwölf Bänden mit Anmerkungen und biographischen Notizen über die Romangestalten. Ernst Sander [Hrsg.]. Bd. 12: Philosophische Studien, Analytische Studien, Berlin u. a. 1974, S. 763–1130, hier S. 1074). Balzac, Honoré de, Ursule Mirouët, in: La Comédie humaine, Bd. III: Études de mœurs: Scènes de la vie privée. Scènes de la vie de province, Paris 1976, S. 769–988, hier S. 822f. – „Locke und Condillac haben damals um ein halbes Jahrhundert den ungeheuren Fortschritt verzögert, den die großen Naturwissenschaften gegenwärtig unter dem Einheitsgedanken machen, den wir dem großen Geoffroy Saint-Hilaire verdanken.“ (Balzac, Honoré de, Ursule Mirouët, in: Die menschliche Komödie. Bd. 3: Sittenstudien. Szenen aus dem Privatleben, Szenen aus dem Provinzleben, S. 1003–1272, hier S. 1064).

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sucht. Mit welchen poetologischen Konsequenzen aber haben die so genannten „Metaphysiken der ‚Tiefen‘ “,9 die nach Foucault die Basis der modernen Episteme bilden, Balzacs Denken und Schreiben geprägt? Das zeigt sich, wenn man die programmatische „Vorrede“ betrachtet, die Balzac 1842 verfasst und der ersten Ausgabe seiner Comédie humaine vorangestellt hat. Der Gedankengang, mit dessen Hilfe Balzac in diesem Zusammenhang eine Brücke vom Naturwissenschaftler zum Dichter schlägt, sei hier in groben Zügen rekonstruiert. Am Ursprung des Projekts der Comédie humaine steht die Prämisse, dass sich Menschen- und Tierreich im Ansatz vergleichen lassen und dass die Erkenntnisse der neueren zoologischen Forschung insofern auch für das Bild des Menschen von Bedeutung sind. Unter dieser Voraussetzung knüpft Balzac an den berühmten, 1830 ausgefochtenen so genannten Pariser Akademiestreit an, der die Positionen der Naturforscher Georges Cuvier und Étienne Geoffroy Saint-Hilaire konfrontierte: Auf der einen Seite Cuvier als der, wie ihn Goethe in seiner ausführlichen Darstellung des Streites nannte, „unermüdlich (…) Unterscheidende“10 und Vertreter der These von einer Konstanz der Arten, auf der anderen Geoffroy Saint-Hilaire, der als ein früher Vertreter der Evolutionstheorie in erster Linie nicht die Vielfalt der Natur beschreiben, ordnen und erklären wollte, sondern sich vielmehr für die „Einheit der Komposition“ („unité de composition“ oder auch „unité de plan“), d. h. die Analogien der Geschöpfe und ihre „geheimnisvolle Verwandtschaft“ interessierte.11 Balzac ergreift die Partei von Geoffroy SaintHilaire12, rückt dessen Position in eine historische Tradition, indem er durch9

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Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1974, S. 302. Goethe, Johann Wolfgang von, „Principes de Philosophie Zoologique I“, in: Goethes Werke, Naturwissenschaftliche Schriften, II. Abteilung, Bd. 7, hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1892, S. 167–180, hier S. 168. Für eine differenzierte Rekonstruktion der Positionen von Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire vgl. Appel, Toby Anita, The Cuvier-Geoffroy Debate. French Biology in the Decades before Darwin, Oxford 1987, bes. S. 143–174. Zur wissenschaftshistorischen Bedeutung des Pariser Akademiestreits vgl. auch Asma, Stephen T., Following Form and Function. A Philosophical Archaeology of Life Science, Evanston (IL) 1996. Im Ansatz gilt das auch für Goethe, der in einem Gespräch mit Frédéric-Jean Soret am 2. August 1830 kommentierte: „Das Beste aber ist, das die von Geoffroy in Frankreich eingeführte synthetische Behandlungsweise der Natur jetzt nicht mehr rückgängig zu machen ist.“ Goethe, Johann Wolfgang von, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Bd. 12, Christoph Michel (Hrsg.) unter Mitwirkung von Hans Grüters, Frankfurt am Main 1999, S. 727.

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aus verschiedene Ansätze zu einem im Einzelnen sehr heterogenen Korpus von erklärten Vorbildern verbindet, und entwickelt daraus die theoretischen Grundlagen für sein eigenes Schreiben. „Ce serait une erreur de croire“, so erläutert Balzac zu Beginn seines Avant-propos, que la grande querelle qui, dans ces derniers temps, s’est émue entre Cuvier et Geoffroy Saint-Hilaire, reposait sur une innovation scientifique. L’unité de composition occupait déjà sous d’autres termes les plus grands esprits des deux siècles précédents. En relisant les œuvres si extraordinaires des écrivains mystiques qui se sont occupés des sciences dans leurs relations avec l’infini, tels que Swedenborg, SaintMartin, etc., et les écrits des plus beaux génies en histoire naturelle, tels que Leibniz, Buffon, Charles Bonnet, etc., on trouve dans les monades de Leibniz, dans les molécules organiques de Buffon, dans la force végétatrice de Needham, dans l’emboîtement des parties similaires de Charles Bonnet, […]; on trouve, dis-je, les rudiments de la belle loi du soi pour soi sur laquelle repose l’unité de composition. Il n’y a qu’un animal. Le créateur ne s’est servi que d’un seul et même patron pour tous les êtres organisés. L’animal est un principe qui prend sa forme extérieure, ou, pour parler plus exactement, les différences de sa forme, dans les milieux où il est appelé à se développer.13

Und mit Blick auf den Menschen und seine Gesellschaft stellt Balzac im Anschluss an seinen zentralen Gedanken von einem einheitlichen Bauprinzip, das allen Lebewesen zugrunde liegt, die rhetorische Frage: La Société ne fait-elle pas de l’homme, suivant les milieux où son action se déploie, autant d’hommes différents qu’il y a de variétés en zoologie? Les différences entre un soldat, un ouvrier, un administrateur, un avocat, un oisif, un savant, un homme 13

Balzac, Honoré de, „Avant-propos [de ‚La Comédie humaine‘]“, in: La Comédie humaine, Bd. I: Études de mœurs: Scènes de la vie privée, Paris 1976, S. 7–20, hier S. 7f. – „Man soll nicht glauben, daß der große Streit, den Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire in der letzten Zeit ausgetragen haben, auf einer neuen wissenschaftlichen Entdeckung beruht […]. Die ‚Einheit der Komposition‘, die ‚Einheit in der Mannigfaltigkeit‘ hat, unter andern Namen, bereits die größten Geister der beiden letzten Jahrhunderte beschäftigt. Liest man noch einmal die so ungewöhnlichen Werke der mystischen Schriftsteller, die sich mit den Wissenschaften in ihren Beziehungen zum Unendlichen befaßt haben, wie etwa Swedenborg, Saint-Martin usw., die Schriften der leuchtendsten Genies der Naturwissenschaft wie etwa Leibniz, Buffon, Charles Bonnet usw., so findet man in Leibniz’ Monaden, in Buffons organischen Molekülen, Needhams vegetativer Kraft […], so findet man dort, sage ich, die Rudimente des schönen Gesetzes vom ‚Soi pour Soi‘, auf dem die ‚Einheit der Komposition‘ beruht. Es gibt nur ein Tier. Für alle organischen Wesen hat sich der Schöpfer immer nur eines Modells bedient. Das Tier ist ein Prinzip, das seine äußere Gestalt, oder genauer: seine Spezifikationen in der Umwelt, in dem Milieu annimmt, in dem es sich zu entwickeln hat.“ (Balzac, Honoré de, „Vorrede zur Menschlichen Komödie“, übers. von Claudia Schmölders, in: Schmölders, Claudia [Hrsg.], Über Balzac, Zürich 1977, S. 255–269, hier S. 255f.).

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d’État, un commerçant, un marin, un poète, un pauvre, un prêtre, sont, quoique plus difficiles à saisir, aussi considérables que celles qui distinguent le loup, le lion, l’âne, le corbeau, le requin, le veau marin, la brebis, etc.14

Trotz dieser offensichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen den individuellen Ausformungen von Tier und Mensch gibt es nach Balzac allerdings auch einen grundlegenden Unterschied. Denn anders als im Fall des Tieres, dem ein jeweils fester Platz innerhalb der natürlichen Welt zukommt, kann die soziale Stellung des Menschen bis zu einem gewissen Grade zufällig sein oder sich auch plötzlich verändern. Mit den Worten Balzacs: Mais la Nature a posé, pour les variétés animales, des bornes entre lesquelles la Société ne devait pas se tenir. […] L’État Social a des hasards que ne se permet pas la Nature, car il est la Nature plus la Société. […] Si quelques savants n’admettent pas encore que l’Animalité se transborde dans l’Humanité par un immense courant de vie, l’épicier devient certainement pair de France, et le noble descend parfois au dernier rang social.15

Im Unterschied zu den einzelnen Spezies der Tiere sind die Menschen also weniger fest an ein bestimmtes Milieu gebunden, und in einem erheblich größeren Ausmaß als das Reich der Natur befindet sich die menschliche Gesellschaft in einem steten Wandel. Mit anderen Worten: In kürzeren Zeiträumen und mit einer sehr viel größeren Dynamik als die Natur ist die Gesellschaft der Schauplatz von grundlegenden Veränderungen, von Dramen und Verwirrungen. Unabhängig von diesem Wandel und jenseits der einzelnen Individuen und ihrer Geschichten gibt es nach Balzac aber auch im Fall der mensch14

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Balzac, „Avant-propos [de ‚La Comédie humaine‘]“, S. 8. – „Formt nicht auch die Gesellschaft aus dem Menschen je nach der Umwelt, nach den Milieus, in denen er sich handelnd entfaltet, ebenso viele verschiedenartige Menschen wie es in der Zoologie Spezies gibt? Die Unterschiede zwischen einem Soldaten, einem Arbeiter, einem Bürokraten, einem Advokaten, einem Müßiggänger, einem Gelehrten, einem Staatsmann, einem Kaufmann, einem Seemann, einem Dichter, einem armen Teufel, einem Priester sind zwar schwieriger zu erfassen, aber genauso beträchtlich wie die zwischen dem Wolf, dem Löwen, dem Esel, dem Raben, dem Hai, der Seekuh, dem Lamm usw.“ (Balzac, „Vorrede zur Menschlichen Komödie“, S. 256). Balzac, „Avant-propos [de ‚La Comédie humaine‘]“, S. 8f. – „Die Natur hat für die tierischen Varianten Grenzen gesetzt, in denen die Gesellschaft sich nicht hält. […] Die soziale Stellung hat Zufälle, die die Natur sich nicht herausnimmt; denn die soziale Stellung ist Natur plus Gesellschaft. […] Wenn auch einige Gelehrte noch immer nicht zugeben, daß das Tierische durch einen gewaltigen Lebensstrom ins Menschliche übergeht – feststeht, daß der Krämer gelegentlich Pair von Frankreich wird und der Adlige manchmal auf die unterste soziale Stufe steigt“ (Balzac, „Vorrede zur Menschlichen Komödie“, S. 256f.).

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lichen Gesellschaft gewisse Konstanten. Balzac sieht sie auf der Ebene von Charakteren, von Situationen und von Modellen des Handelns. „Non seulement les hommes“, so erläutert er, „mais encore les événements principaux de la vie, se formulent par des types. Il y a des situations qui se représentent dans toutes les existences, des phases typiques, et c’est là l’une des exactitudes que j’ai le plus cherchées.“16 Geoffroy Saint-Hilaires im Blick auf den Körperbau der Tiere entwickelte Idee von der Einheit in der Vielfalt, verbunden mit der Bedeutung des Milieus für die Ausprägung der Arten, sowie das im Avant-propos vergleichsweise knapp entfaltete Konzept von der Typenhaftigkeit des sozialen Seins – das sind wichtige Voraussetzungen für Balzacs Vorhaben, Erkenntnisse der Naturwissenschaft für seine Arbeit als Schriftsteller zu nutzen und die Totalität des menschlichen Lebens am Beispiel eines bestimmten historischen Ausschnitts zu erfassen. Als Gegenstand für einen solchen Ausschnitt wählt er die ihm als Zeitgenosse und vor allem Gesellschaftsreporter avant la lettre wohl vertraute französische Gesellschaft der Gegenwart, verstanden als die Zeit zwischen 1789 und 1850. Das Medium für deren Darstellung wiederum findet er in dem noch jungen literarischen Genre des historischen Romans. Dieses Genre, das zu Beginn des Jahrhunderts in ganz Europa durch die Werke von Sir Walter Scott populär geworden ist, greift Balzac auf und entwickelt es – wohl auch unter dem Einfluss des in den zwanziger Jahren in Paris lebenden James Fenimore Cooper – zur neuen Form des Zeitromans, der per definitionem reale Orte des zeitgenössischen Lebens mit fiktiven Figuren und Geschichten besiedelt. Dabei gehört zu den konzeptionellen Grundlagen der Comédie humaine, dass Balzac die unter diesem Titel versammelten rund einhundert Romane und Erzählungen wie die Kapitel eines Werkes anlegt und über das Prinzip der wiederkehrenden Figuren untereinander verknüpft. Das auf diese Weise in einer Fülle von rund dreitausend, als typisch zu verstehenden Einzelschicksalen zur Anschauung gebrachte Bild der menschlichen Gesellschaft soll alle möglichen Charaktere, aber auch alle sozialen Milieus und Situationen umschließen und ist zu diesem Zweck nach Themen unterteilt: Neben den „Szenen aus dem Pariser Leben“ stehen „Szenen aus dem Privatleben“, „Szenen aus dem Provinzleben“, Szenen aus

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Balzac, „Avant-propos [de ‚La Comédie humaine‘]“, S. 18. – „Nicht nur die Menschen, auch die Hauptereignisse des Lebens formalisieren sich nach Typen. Es gibt Situationen, die in allen Existenzen wiederkehren, typische Phasen, und gerade darin habe ich besonders genau sein wollen.“ (Balzac, „Vorrede zur Menschlichen Komödie“, S. 267).

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dem „politischen“, dem „militärischen“ und dem „Landleben“ sowie „analytische“ und „philosophische Studien“. Der vorgestellte Hintergrund erklärt nun auch die Art und Weise, in der Balzac viele seiner Figuren konzipiert und charakterisiert. Das Konzept der Typisierung bedingt das Prinzip von „Figurenmodellen“ im Sinne einer jeweils „typisierten Konfiguration von Figureninformationen“,17 und es führt im Einzelfall dazu, dass eine Figur im Kontext der erzählten Welt nicht einmal ansatzweise mit individuellen Zügen ausgestattet, sondern gleich unter einem bestimmten Etikett als Typus eingeführt und im Modus der „explizit-auktorialen Charakterisierung“18 z. B. – wie eingangs zitiert – als „das Bild der auf ihren einfachsten Begriff gebrachten Leidenschaft“ bezeichnet wird. Besser verständlich wird aber auch, warum Balzac geradezu systematisch einen Grenzbereich zwischen implizit-figuraler und explizit-auktorialer Charakterisierung nutzt und das Profil und den Typus seiner Figuren in aller Regel aus einem sowohl sozial als auch räumlich bestimmten Milieu heraus entwickelt. Denn was wir in der zitierten Eingangsszene von La Peau de chagrin gewissermaßen in nuce gestaltet finden, nämlich die Zusammengehörigkeit von Mensch und Raum – in diesem Fall gehört zum Typus des heruntergekommenen, von der Leidenschaft des Spiels gezeichneten Menschen die Finsternis eines Verschlages –, diese Zusammengehörigkeit wird in zahlreichen Romanen Balzacs wortreich gestaltet. In diesem Sinne beginnen viele Romane Balzacs mit einer ausführlichen Beschreibung der Gebäude, in denen die Figuren der Handlung leben. So erfolgt, um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen, am Anfang von Eugénie Grandet eine seitenlange Schilderung des Wohnhauses von Monsieur Grandet in Saumur, und zum Beginn von Le Père Goriot gehört die berühmte Beschreibung der Pariser Pension, in der neben dem Vater Goriot einer der Protagonisten der Comédie humaine, der junge Eugène de Rastignac, wohnt. Dabei verknüpft Balzac hier wie dort Raum- und Figurencharakterisierung. Im Fall von Le Père Goriot führt er so z. B. die Besitzerin der Pension, die Witwe Vauquer, im Kontext ihres Hauses ein und lässt seinen Erzähler erläutern: Sa face vieillotte, grassouillette, du milieu de laquelle sort un nez à bec de perroquet, ses petites mains potelées, sa personne dodue comme un rat d’église, son corsage trop plein et qui flotte, sont en harmonie avec cette salle où suinte le malheur, où s’est blottie la spéculation, et dont Mme Vauquer respire l’air chaudement 17

18

Zur Begrifflichkeit vgl. Jannidis, Fotis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin, New York 2004, z. B. S. 253. Pfister, Drama, S. 262.

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fétide sans en être écœurée. Sa figure fraîche comme une première gelée d’automne, ses yeux ridés, dont l’expression passe du sourire prescrit aux danseuses à l’amer renfrognement de l’escompteur, enfin toute sa personne explique la pension, comme la pension implique sa personne.19

Madame Vauquer, das zeigt schon der zitierte Beginn einer längeren Beschreibung ihrer Person, ist also in ihrer Pension so fest verwurzelt wie eine Schnecke in ihrem Haus. Zwischen der Figur und ihrem Lebensraum herrscht wie bei zahlreichen Figuren der Comédie humaine eine Art symbiotische Beziehung. Eben diese, so die viel zitierte Wendung von Erich Auerbach, „Milieueinheit“20 fehlt aber bei vielen anderen Figuren. Im Fall der Pension Vauquer und ihrer Bewohner gilt das in erster Linie für die beiden Protagonisten des Romans, für den Vater Goriot und Eugène de Rastignac. Mit welchen Konsequenzen die Diskrepanz von Figur und Milieu in der erzählten Welt von Balzacs Romanen topographisch, d. h. durch eine Bewegung im geographischen, in der Regel städtischen Raum veranschaulicht und für die Handlung der erzählten Geschichte fruchtbar gemacht wird, habe ich an anderer Stelle ausgeführt.21 Hier möchte ich nur noch auf einen weiteren Umstand verweisen, den man zuweilen übersieht, wenn man den in Balzacs Romanen inszenierten Zusammenhang von Milieu und Figur behandelt. Nämlich die Tatsache, dass Balzac als ein Kind des eingangs benannten epistemologischen Wandels auch in der Praxis seines Schreibens ganz im Sinne seiner These von den steten Veränderungen in der Gesellschaft verfährt.

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Balzac, Le Père Goriot, in: La Comédie humaine, Bd. III: Études de mœurs: Scènes de la vie privée. Scènes de la vie de province, Paris 1976, S. 49–290, hier S. 54. – „Ihr ältliches, schwammiges Gesicht, in dessen Mitte eine Papageiennase hervorspringt; ihre kleinen, fetten Hände; ihre Gestalt, die vollgefressen wie eine Pfarrhausratte ist; ihr allzusehr gefülltes, wogendes Mieder passen vollauf zu diesem Raum, in den das Elend hineinsickert, in dem die Gewinnsucht kauert und dessen warme, abgestandene Luft Madame Vauquer atmet, ohne den mindesten Ekel zu empfinden. Ihr Gesicht, das kühl ist wie ein erster Herbstfrost, ihre verkniffenen Augen, deren Ausdruck vom vorschriftsmäßigen Balletteusenlächeln bis zur schauerlichen Miene eines Finanzbeamten wechselt, ihr ganzes Äußere mit einem Wort – das alles ist Ausdruck der Pension, wie die Pension Ausdruck ihrer selbst ist.“ (Balzac, Honoré de, Vater Goriot, in: Die menschliche Komödie, Bd. 3: Sittenstudien. Szenen aus dem Privatleben, Szenen aus dem Provinzleben, S. 285–573, hier S. 292). Vgl. Auerbach, Erich, „Im Hôtel de la Mole“, in: Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, [1946] 7. Auflage, Bern 1982, S. 422–459, hier S. 439. Vgl. Scheffel, Michael, „Balzacs Paris“, in: Werner Frick (Hrsg.), Orte der Literatur, Göttingen 2002, S. 150–169.

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Konsequenterweise finden sich in seinen Romanen neben der Schilderung von Dingen wie z. B. der Einrichtung eines Wohnraums oder des Äußeren, d. h. von Körper, Kleidung und Physiognomie der Figuren, immer auch Reflexionen über das nicht mehr sichtbare Gewordensein des Sichtbaren, d. h. die historische Bedingtheit der Figuren und ihres Milieus. Das Haus, der Reichtum und der Geiz von Monsieur Grandet werden so z. B. als das Produkt einer Reihe von historischen Umwälzungen in der neueren französischen Geschichte nach 1789 präsentiert, d. h., zur Eingangsszenerie der im November 1819 einsetzenden Handlung des Romans Eugénie Grandet gehört, dass der Erzähler nicht nur ein Haus und seine Bewohner beschreibt, sondern einleitend zu seiner im Folgenden szenisch dargestellten Geschichte zunächst die historisch präzise mit den Wirren der Revolutionsjahre, dem Empire und der Restauration verknüpfte Vorgeschichte vom sagenhaften Aufstieg des ehemaligen Böttchers ‚Papa Grandet‘ zu einem der reichsten Männer der Provinz erzählt.22 Die hier gestaltete Allgegenwart eines dynamischen Wandels prägt den sozialen Kontext, in dem die Balzac’schen Figuren agieren, und das Prinzip der ständigen Bewegung in Gestalt eines Auf- oder Abstiegs bestimmt die Geschichte ihres persönlichen Lebens. Was aber steht hinter diesem Wandel, was erklärt all die Dramen und Verwicklungen, von denen Balzacs Romane erzählen? Schauen wir noch einmal auf das Vorwort zur Comédie humaine, in dem Balzac genau diese Frage in mehreren Passagen reflektiert. Der Ansatz und das Ergebnis seiner Überlegungen lassen sich dabei wie folgt resümieren: Infolge des erklärten Willens, „die menschliche Haut“ und „die äußere Welt“ zu überschreiten, und ganz im Geiste des zitierten ‚Einheitsdenkens‘ eines Geoffroy Saint-Hilaire sucht Balzac nach einem gemeinsamen Ursprung aller sozialen Bewegungen, nach dem, wie er sagt, „sozialen Motor“ („moteur social“).23 Diesen „Motor“ findet er schließlich in der Leidenschaft („passion“), wobei Balzac diesen Begriff mit einer vergleichsweise weiten Extension verwendet und im Wesentlichen synonym zu den Ausdrücken „Denken“ („pensée“) und „Willen“ („volonté“) gebraucht. Die also auch das Denken und den Willen umfassende „Leidenschaft“ ist für Balzac die Grundenergie des Menschen, sie ist „das ganze Menschliche“ („toute l’hu-

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Vgl. Balzac, Eugénie Grandet, in: La Comédie humaine, Bd. III: Études de mœurs: Scènes de la vie privée. Scènes de la vie de province, Paris 1976, S. 1027–1199, hier S. 1027–1036. – Balzac, Honoré de, Eugénie Grandet, hrsg. und übers. von Michael Scheffel, Stuttgart 1987, S. 10–21. Vgl. Balzac, „Avant-propos [de ‚La Comédie humaine‘]“, S. 11. – Balzac, „Vorrede zur Menschlichen Komödie“, S. 260.

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manité“)24, „das aufbauende, aber eben deshalb auch das zerstörerische Element des Sozialen“25. Versucht man, Balzacs Form der Reformulierung des alten Gedankens von einem Grundprinzip allen menschlichen Lebens historisch zu kontextualisieren, so scheinen mir vor allem zwei Aspekte von Bedeutung zu sein: Nämlich erstens, dass Balzac eine bei Geoffroy Saint Hilaire bereits angelegte Tendenz radikalisiert. So löst er die bei dem Naturforscher entlehnte These von einem einheitlichen Bauprinzip aller Lebewesen konsequent von ihrem ursprünglichen Bezugspunkt, der Anatomie der Körper, und überträgt sie im Sinne der oben genannten „Metaphysiken der ‚Tiefen‘ “ auf einen, jedenfalls prima facie, materiell nicht fassbaren Gegenstand, indem er sie als ein substantielles Prinzip zu fassen versucht. Und zweitens, dass Balzac sich – wie Wolfgang Matzat in seiner Diskursgeschichte der Leidenschaft im Detail herausgearbeitet hat26 – von einer Auffassung von Leidenschaft entfernt, wie wir sie im historisch unmittelbar benachbarten Kontext der Romantik bis hin zu Stendhals Le Rouge et le noir (1830) in prominenter Form gestaltet finden. Zu dieser Auffassung gehören wesentlich die Figur des Außenseiters und der Gedanke, dass die Affektivität des empfindsamen, in der Regel als Künstler oder Liebender konzipierten Subjekts und die Strukturen der modernen bürgerlichen Gesellschaft zwei Größen sind, die einander unversöhnlich gegenüberstehen. Wenn z. B. Theodor W. Adorno in seiner berühmten „Balzac-Lektüre“ formuliert: „Der Balzacsche Roman lebt von der Spannung zwischen den Leidenschaften der Menschen und einer Verfassung der Welt, die tendenziell Leidenschaft, als Störung des Betriebs bereits nicht mehr toleriert“27, dann liest er Balzac in eben dieser Tradition. Tatsächlich aber verkürzt das den Ansatz Balzacs, der ja gerade auf der Idee eines gemeinsamen energetischen Grundprinzips von Individuum und Gesellschaft beruht und der besagt, dass auch die so ge24

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Balzac, „Avant-propos [de ‚La Comédie humaine‘]“, S. 16. – Balzac, „Vorrede zur Menschlichen Komödie“, S. 264. Balzac, „Vorrede zur Menschlichen Komödie“, S. 261. – Der Satz im Original lautet: „En lisant attentivement le tableau de la Société, […] il en résulte cet enseignement que si la pensée, ou la passion, qui comprend la pensée et le sentiment, est l’élément social, elle en est aussi l’élément destructeur.“ (Balzac, „Avant-propos [de ‚La Comédie humaine‘]“, S. 12). Vgl. Matzat, Wolfgang, Diskursgeschichte der Leidenschaft: Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac, Tübingen 1990, bes. S. 185–242. Vgl. Adorno, Theodor W., „Balzac-Lektüre“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Noten zur Literatur, Bd. 11, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt am Main 1974, S. 139–157, hier S. 145.

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nannte „Verfassung der Welt“ als ein Ergebnis der Wirkungen von Leidenschaften zu verstehen ist. So gesehen zeigt Balzac zum Beispiel in der Comédie humaine, wie sich unterschiedliche Formen der Leidenschaft auf das Geld und den Besitz als Objekte des Begehrens richten und wie diese damit zu den Heiligtümern der modernen säkularisierten Gesellschaft avancieren. Berücksichtigt man Balzacs hier nur skizzenhaft dargestellte EnergetikTheorie28, dann lassen sich die Figuren dieses, wie Rilke ihn nannte, „Gründers von Generationen, Verschwenders von Schicksalen“ schließlich als ein Versuch verstehen, dem in der „passion“ identifizierten Prinzip des Lebens in allen beobacht-, aber auch denkbaren Formen Gestalt zu verleihen und auf diese Weise einen möglichst vollständigen Katalog von Figurationen der Leidenschaft zu entwerfen. Im Einzelnen gewinnen diese Figurationen allerdings auf ganz verschiedene Weise ihr Profil. Die schlichteste Variante haben wir im Rahmen der zitierten Eingangsszene von La Peau de chagrin bereits kennen gelernt. Zur Konzeption der aus einem dunklen Verschlag ins Licht der erzählten Geschichte tretenden Figur des kleinen Greises gehört, dass eine bestimmte Art der Leidenschaft, in diesem Fall die Leidenschaft des Spiels, durchgehend ihr Gesicht, ihren Körper und ihr Leben bestimmt. Im Ansatz vergleichbare, im Detail allerdings unterschiedlich komplex gestaltete Verkörperungen einzelner Ausprägungen von Leidenschaft finden wir in zahlreichen anderen Figuren der Comédie humaine, die etwa dem Geiz (z. B. Félix Grandet in Eugénie Grandet), der sexuellen Gier (z. B. Baron Frédéric de Nucingen u. a. in Splendeurs et misères des courtisanes), der reinen Liebe (z. B. Eugénie Grandet in Eugénie Grandet), der väterlichen Liebe (z. B. Jean-Joachim Goriot in Le Père Goriot), dem Streben nach politischer Macht (z. B. Clément Chardin des Lupeaulx u. a. in La muse du departement und Les Employés), der Habsucht (z. B. Jean-Esther Gobseck u. a. in Gobseck und Splendeurs et misères des courtisanes) oder der Besessenheit des Sammlers (z. B. Sylvain Pons in Le Cousin Pons ou les deux musiciens) Gestalt verleihen. Bei weitem nicht alle Figuren der Comédie humaine sind allerdings als mehr oder minder typisierte Ausgestaltungen einer bestimmten Form von Leidenschaft konzipiert. Zur Figurenkonfiguration der Eingangsszene von La Peau de chagrin gehört es denn auch, dass dem in der Gestalt des Greises verkörperten „Bild der auf ihren einfachsten Begriff gebrachten Leidenschaft“ eine Figur begegnet, die der Erzähler ohne Beschreibung von Körper, Kleidung oder Gesicht als einen jungen Mann mit noch unschuldiger Seele präsentiert. Anders als im Fall des Greises oder auch der Madame Vauquer fehlt bei die28

Grundlegend dazu schon: Curtius, Ernst Robert, „Energie“, in: Ders., Balzac, Bonn 1923, S. 73–106.

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ser Art von Einführung in die erzählte Geschichte die in Balzacs Romanen so oft zu findende explizit-auktoriale Charakterisierung von Figur, Milieu und Vorgeschichte, und wir können im Verlauf der weiteren Narration die Geburt einer mehrdimensional konzipierten Figur verfolgen, die ihr facettenreiches Profil nunmehr in actu im Rahmen einer Folge von Ereignissen und im Austausch mit einem breiten Repertoire von Figurationen der Leidenschaft erlangt. Anders gewendet: In diesem zu den „Philosophischen Studien“ zählenden Roman werden wir Zeuge, wie der zunächst gesichtsund geschichtslose Protagonist dadurch an Gestalt und letztlich Individualität gewinnt, dass sein Autor ihn handelnd mit ganz unterschiedlichen Formen der Leidenschaft, aber auch Haltungen gegenüber dem Grundprinzip des Lebens konfrontiert. Anders als z. B. die in dieser Hinsicht statisch konzipierten Figuren Félix Grandet oder Jean-Joachim Goriot gehört Raphaël de Valentin also zu den Figuren der Comédie humaine, die – ähnlich wie z. B. der in mehreren Romanen auftretende Eugène de Rastignac – im Verlauf der Erzählung eine grundlegende Entwicklung durchlaufen und die im Blick auf ihr Verhältnis zur Leidenschaft sowohl offen als auch dynamisch angelegt sind. Für den besonderen Fall von Raphaël de Valentin werde ich das Profil dieser Art von erzählter, d. h. konsequent über die Geschichte einer Figur entwickelter Philosophie der Leidenschaft nun nicht mehr im Einzelnen verfolgen können. Gleichwohl möchte ich noch auf Folgendes hinweisen: Zu den vielen Eigenheiten dieses faszinierenden Romans zählt, dass sich der so genannte Realist Balzac den Kunstgriff erlaubt, die Gestalt seines Protagonisten nicht allein durch den Kontakt mit anderen Figuren in einer mit realen Objekten der zeitgenössischen Lebenswirklichkeit bevölkerten erzählten Welt zu entwickeln. Zumindest die Grundzüge einer auch im buchstäblichen Sinn wundervollen Geschichte, die es ihrem Autor erlaubt, sowohl sein anthropologisches Modell von Mensch und Gesellschaft als auch dessen Verhältnis zum naturwissenschaftlichen Wissen seiner Zeit erzählend zu reflektieren, seien hier zum Abschluss noch kurz skizziert. Raphaël de Valentin, so zeigt sich kurz nach der oben zitierten Eingangsszene, ist von der unerwiderten Liebe zu einer Frau enttäuscht und restlos verarmt. Er verspielt sein letztes Geld und will sich nun in der Seine ertränken. Auf dem Weg dahin besucht er – um sich ein letztes Mal zu zerstreuen – einen Antiquitätenladen. Nachdem er die mit allen Schätzen dieser Erde gefüllten Lagerräume des offenbar riesigen, jedes normale Maß sprengenden Ladens durchlaufen hat, bekommt er von dem Antiquitätenhändler, der die verzweifelte Lage Raphaëls durchschaut, eine besondere Art von Geschenk angeboten: ein Chagrinleder, das seinem Besitzer eine wunderbare, wenn

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auch durchaus ambivalente Macht verleiht. Akzeptiert Raphaël das Geschenk, so erläutert ihm der seltsame, über hundert Jahre alte Mann, erfüllt ihm das Leder einerseits jeden denkbaren Wunsch, andererseits aber ist die Dauer seines Lebens fortan unwiderruflich an den Fortbestand des Leders geknüpft, das sich mit jedem seiner Wünsche merklich verkleinert. Erkennbar verkörpert das Chagrinleder, was Balzac als die natürliche, in einem paradoxen Sinn gleichermaßen „aufbauende“ wie „zerstörerische“ Grundenergie von Mensch und Gesellschaft begreift.29 Zugleich versinnbildlicht seine Existenz die ebenfalls im Avant-propos der Comédie humaine vermerkte gewisse Unabhängigkeit des Menschen von der Natur, da dieser sich und seine Umwelt in einem ganz anderen Ausmaß als das Tier verändern kann und sich konsequenterweise seinerseits in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft von Menschen bewegt. Berücksichtigt man, wie eng die Figuren, die Dinge und die Orte der erzählten Welt von La Peau de chagrin auf die zeitgenössische Lebenswirklichkeit bezogen sind, so folgt aus dem Vorhandensein der phantastischen, jenseits von allen realen Möglichkeiten angesiedelten Macht des Leders schließlich noch ein weiterer wichtiger Aspekt. „Cette vision“, so kommentiert der Erzähler den mysteriösen Auftritt des ursprünglichen Besitzers des Chagrinleders, „avait lieu dans Paris, sur le quai Voltaire, au dix-neuvième siècle, temps et lieux où la magie devait être impossible.“30 Da die folgenden Ereignisse bestätigen, was der Antiquitätenhändler erläutert hat, verletzt die in La Peau de chagrin erzählte Geschichte also nicht zuletzt auch die Gesetze eines einfachen literarischen Realismus.31 Tatsächlich wird die in diesem Roman entworfene Welt von zwei Ordnungen der erzählten Wirklichkeit bestimmt. Hier die zeitgenössische, auf ein naturwissenschaftliches Weltbild gegründete und auf die zunehmende Beherrschung von Mensch und Natur ausgerichtete Wissensordnung des neunzehnten Jahrhunderts, dort das Wunderbare, in dieser Ordnung nicht zu Erfassende, das sich in der rätselhaften Macht des Chagrinleders und dem Schicksal seines Eigentümers verkörpert. 29

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Für einen knappen Überblick über die zahlreichen, z. T. durchaus eigenwilligen Deutungen der Symbolik des Chagrinleders (u. a. als „Kastrationssymbol“ oder „Allegorie der semiotischen Differenz“) vgl. Matzat, Diskursgeschichte, S. 201. Balzac, La Peau de chagrin, S. 79. – „Diese Vision hatte sich in Paris ereignet, auf dem Quai Voltaire, im 19. Jahrhundert, zu einer Zeit und an einem Ort, wo Zauberei gar nicht möglich sein dürfte.“ (Balzac, Chagrinleder, S. 34f.). Vgl. dazu auch Scheffel, Michael, „Was ist Phantastik? Überlegungen zur Bestimmung eines literarischen Genres“, in: Manuel Baumbach/Nicola Hömke (Hrsg.), Fremde Wirklichkeiten. Literarische Phantastik und antike Literatur, Heidelberg 2006, S. 1–18, bes. S. 5f.

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Das Schockmoment, das entsteht, weil diese beiden Ordnungen miteinander nicht vereinbar sind, illustriert Balzac in einer denkwürdigen Szene. Raphaël hat das Geschenk des Händlers angenommen und sich mit dessen Hilfe vordergründig aus seiner verzweifelten Lage befreit. Da der Talisman infolge seiner Wünsche jedoch bald so gefährlich schrumpft, dass er sein Ende kommen sieht, versucht Raphaël mit allen Mitteln, die ursprüngliche Größe des Leders wiederherzustellen. Zu diesem Zweck nutzt er alle verfügbaren Hilfen seiner technisch-aufgeklärten Zeit. So konsultiert er die führenden Naturwissenschaftler der Epoche und konfrontiert das Leder unter anderem mit dem, wie mit allen technischen Details erläutert wird, Spitzenprodukt der zeitgenössischen Mechanik, einer gewaltigen hydraulischen Presse von unermesslicher Kraft.32 Buchstäblich prallen in dieser Szene mit dem Leder auf der einen und den Platten der Presse auf der anderen Seite die Macht des Wunderbaren und die in der Maschine materialisierte Ordnung des neuesten wissenschaftlichen Wissens zusammen. Ein Vorgang, in dessen Folge ein Teil der gewaltigen Maschine explodiert, während das Leder vollkommen unversehrt ihren gewaltigen Druck übersteht und mit den weiteren Wünschen seines Eigentümers unvermindert weiter schrumpft. Am Ende des Romans stirbt Raphaël, der sich vergeblich in die soziale Isolation zu retten und allen Wünschen und Leidenschaften zu entsagen versucht. Er stirbt, weil ihn ein letzter Anfall von Begehren in die Arme einer geliebten, über lange Zeit hinweg verstoßenen Frau treibt. Mit diesem Ende und seiner Vorgeschichte entwickelt Balzac in der Form der Narration also ein – im Vergleich zu dem, was er in seinem Avant-propos begrifflich formuliert – sehr viel komplexeres und facettenreicheres anthropologisches Modell, das er in den Figuren und Geschichten seiner Comédie humaine dann in zahlreichen Formen variiert (wobei die in diesem Fall aus den Geschichten von knapp einhundert Romanen zusammengesetzte erzählte Welt zugleich belegt, dass eine solche Welt ein auch aus formaler Sicht breites Spektrum von Figuren zu versammeln vermag: Figuren, die mit Hilfe ganz unterschiedlicher Charakterisierungstechniken Gestalt annehmen und die im Einzelfall verschieden konzipiert, d. h. im Sinne der von Manfred Pfister entwickelten Merkmale z. B. entweder ‚statisch‘ oder ‚dynamisch‘, ‚offen‘ oder ‚geschlossen‘ oder auch als ‚Personifikationen‘, ‚Typen‘ oder ‚Individuen‘ an-

32

Vgl. die Vorbereitung der entsprechenden Szene durch die ebenso detaillierte wie anschauliche Erklärung des Prinzips der Hydraulik: Balzac, La Peau de chagrin, S. 245–247. – Balzac, Chagrinleder, S. 252–255.

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gelegt sind33). Zu den besonderen Qualitäten dieses narrativ entfalteten anthropologischen Modells gehört, dass es das diskursiv geordnete Wissen seiner Zeit überschreitet. So führt die in La Peau de chagrin erzählte Geschichte des Protagonisten vor, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das sich in einem Spannungsfeld von eigenem und fremdem Denken, Wollen und Begehren bewegt, wobei der einzelne Mensch nur über einen gewissen Vorrat an Lebenskraft verfügt und in seinen persönlichen Handlungen einerseits in gewissem Maße frei, andererseits aber, wie u. a. Friedrich Engels, Karl Marx und Sigmund Freud ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen von theoretischen Systemen begrifflich ausformulieren, sowohl den Zwängen der herrschenden sozio-ökonomischen Verhältnisse als auch seiner eigenen Triebwelt unterworfen ist. Im Blick auf das Verhältnis von Figur und Wissen präsentiert Balzacs Roman schließlich einen noch in anderer Hinsicht bemerkenswerten Fall. Berücksichtigt man das im Verlauf des gesamten Romans entwickelte ‚Sujet‘34 von La Peau de chagrin, so ist dieses den „Metaphysiken der ‚Tiefen‘ “ in besonderer Weise verpflichtete Werk nicht zuletzt ein Beispiel dafür, in welchem Ausmaß die Konzeption, die Charakterisierung und die Konfiguration von Figuren einer erzählten Welt unmittelbar von den wissenschaftlichen Erkenntnissen einer Epoche geprägt werden können – und wie sich die Geschichte einer Figur dieser Welt gleichwohl so erzählen lässt, dass sie sowohl die Reichweite als auch den Wert von geltendem Wissen letztlich grundlegend in Frage stellt.

Literaturverzeichnis Quellen Balzac, Honoré de, La Comédie humaine. Édition publiée sous la direction de PierreGeorges Castex. 12 Bde. Paris 1976–1989 (Bibliothèque de la Pléiade). Balzac, Honoré de, Die menschliche Komödie. Gesamtausgabe in zwölf Bänden mit Anmerkungen und biographischen Notizen über die Romangestalten, Ernst Sander (Hrsg.), Berlin, Darmstadt, Wien 1971.

33 34

Vgl. Pfister, Drama, bes. S. 240–250. ‚Sujet‘ sei hier mit Zaal Andronikashvili als „eine Ordnung ‚narrativer Inhalte‘ “ verstanden, die „aus den Elementen Geschehen (Handlungen, Ereignisse und Situationen), Figur(en), dargestellte Welt und Zeit besteht“. Vgl. Andronikashvili, Zaal, Die Erzeugung des dramatischen Textes. Ein Beitrag zur Theorie des Sujets, Berlin 2009, S. 34.

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Daraus: – Physiologie der Ehe, in: Ebd., Bd. 12, S. 763–1130. – Ursule Mirouët, in: Ebd., Bd. 3, S. 1003–1272. – Vater Goriot, in: Ebd., Bd. 3, S. 285–573. Balzac, Honoré de, Eugénie Grandet, hrsg. und übers. von Michael Scheffel, Stuttgart 1987. Balzac, Honoré de, Das Chagrinleder, hrsg. und übers. von Michael Scheffel, Stuttgart 1991. Balzac, Honoré de, „Vorrede zur Menschlichen Komödie“, übers. von Claudia Schmölders, in: Schmölders, Claudia (Hrsg.), Über Balzac, Zürich 1977, S. 255–269. Goethe, Johann Wolfgang von, „Principes de Philosophie Zoologique I“, in: Goethes Werke, Naturwissenschaftliche Schriften, II. Abteilung, Bd. 7, hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1892, S. 167–180. Goethe, Johann Wolfgang von, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Bd. 12, Christoph Michel (Hrsg.) unter Mitwirkung von Hans Grüters, Frankfurt am Main 1999.

Forschung Adorno, Theodor W., „Balzac-Lektüre“, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Noten zur Literatur, Bd. 11, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt am Main 1974, S. 139–157. Andronikashvili, Zaal, Die Erzeugung des dramatischen Textes. Ein Beitrag zur Theorie des Sujets, Berlin 2009. Appel, Toby Anita, The Cuvier-Geoffroy Debate. French Biology in the Decades before Darwin, Oxford 1987. Asma, Stephen T., Following Form and Function. A Philosophical Archaeology of Life Science, Evanston (IL) 1996. Auerbach, Erich, „Im Hôtel de la Mole“, in: Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946], 7. Auflage, Bern 1982, S. 422–459. Curtius, Ernst Robert, „Energie“, in: Ernst Robert Curtius, Balzac, Bonn 1923, S. 73–106. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1974. Jannidis, Fotis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin, New York 2004. Matzat, Wolfgang, Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac, Tübingen 1990. Meuter, Norbert, „Prä-Narrativität. Ein Organisationsprinzip unseres Handelns“, in: Studia Culturologica, 1994, S. 119–140. Pfister, Manfred, Das Drama, 5. durchgesehene und ergänzte Auflage, München 1988. Ricœur, Paul, Zeit und Erzählung. 3 Bde., München 1988–1991. Scheffel, Michael, „Nachwort“, in: Balzac, Honoré de, Das Chagrinleder, hrsg. und übers. von Michael Scheffel, Stuttgart 1991, S. 329–340.

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Dorothee Birke

Dorothee Birke (Freiburg i. Br.)

Zur Rezeption und Funktion von „Typen“ Figurenkonzeption bei Charles Dickens

Wenn es einen englischen Romanautor des 19. Jahrhunderts gibt, dessen Figuren bei den Zeitgenossen so bekannt und beliebt waren, dass der Begriff „Kultstatus“ angemessen erscheint, dann ist das wohl Charles Dickens. Wie lebendig das Figurenpersonal der insgesamt zwanzig zwischen 1836 und 1870 veröffentlichten Romane der Leserschaft erschien, illustriert beispielsweise eine Passage aus der Autobiographie von Dickens’ Schriftstellerkollegen Anthony Trollope: „Mrs. Gamp, Micawber, Pecksniff, [einige von Dickens’ Romanfiguren] and others have become household words in every house, as though they were human beings.“1 Dickens’ spezifische Art der Figurencharakterisierung wurde sowohl in zeitgenössischen Kritiken als auch in späteren literaturwissenschaftlichen Analysen oft als eines der hervorstechenden Merkmale seiner Werke gesehen, gleichzeitig aber wurde er gerade dafür auch immer wieder angegriffen. Trollope etwa fährt so fort: [B]ut to my judgement they [Mrs. Gamp, Micawber and Pecksniff] are not human beings, nor are any of the characters human which Dickens has portrayed. It has been the peculiarity and the marvel of this man’s power, that he has invested his puppets with a charm that has enabled him to dispense with human nature.2

Für Trollope ist dies ein Grund, Dickens in einer Rangliste der Romanautoren seiner Zeit nach George Eliot und William Makepeace Thackeray nur den dritten Platz zuzuerkennen. Noch härter geht Henry James mit seinem Kollegen ins Gericht: „It is hardly too much to say that every character here put before us is a mere bundle of eccentricities, animated by no principle of nature whatever“,3 schreibt er in einer Rezension über Dickens’ vorletzten Roman Our Mutual Friend (1865) und fügt hinzu: „It were, in our opinion, an offence against humanity to place Mr Dickens among the greatest novelists. For, to repeat what we have already intimated, he has created nothing but figure. He has added nothing to our understanding of human character.“4 1 2 3

4

Trollope, Anthony, An Autobiography, London u. a. 1950 [1883], S. 248. Ebd. James, Henry, „Our Mutual Friend“ [Rezension], in: The Nation, vom 21. 12. 1865, S. 787. Ebd.

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Kritik wie die von Trollope und James bezieht sich offensichtlich auf Dickens’ Vorliebe für eine Technik der Figurenbeschreibung, die die Charaktere gleichsam als „visuelle Karikaturen“ präsentiert.5 Die Romane wimmeln von schillernden Gestalten, die nicht aufgrund ihrer Komplexität oder psychologischen Glaubwürdigkeit im Gedächtnis haften bleiben, sondern, wie es scheint, auf eine charakteristische Geste, einen Ausspruch oder eine körperliche Eigenschaft reduziert werden können, auf die in den Texten immer wieder hingewiesen wird.6 Wenn diese Figuren einmal eingeführt sind, ist für die Leser schnell auch klar, welche Verhaltensweisen von ihnen zu erwarten sind: So wissen wir zum Beispiel bald, dass Mr. Micawber in David Copperfield andauernd große Pläne schmiedet, um seine wirtschaftliche Lage zu verbessern, diese aber nie in die Tat umsetzt. Nach den Maßstäben einer Poetik, die psychologische Vielschichtigkeit einzelner Figuren zu einem zentralen Bewertungskriterium für die Qualität eines Erzähltextes macht, mag eine Art der Figurendarstellung, die man als „flach“ oder „typisiert“ statt als „individualisiert“ beschreiben könnte, als ein Manko erscheinen. Diese normative Sichtweise verstellt aber den Blick auf die komplexen Funktionen, die solche Typen in einem literarischen Text erfüllen können.7 Dieser Aspekt rückt dann ins Blickfeld, wenn literarische Figuren nicht an einem vermeintlich universalen Maßstab gemessen, sondern dezidiert als unterschiedlich konzipiert verstanden werden. Dann erscheinen sie als je verschiedene Ausprägungen eines „historisch und typologisch variable[n] Satz[es] von Konventionen“, die die ebenfalls wandelbaren anthropologischen Modelle bestimmter Zeiten und Gesellschaften in der Literatur auf ganz unterschiedliche Art und Weise und mit verschiedenen Ansprüchen realisieren oder auch in Frage stellen.8 Im Folgenden möchte ich nach einigen Vorbemerkungen zur Theorie der Figurenkonzeption das rezeptionstheoretische Modell von Ralf Schneider vorstellen, das – allerdings in modifizierter Form – dabei helfen soll, am Beispiel zweier exempla5 6

7

8

Vgl. Goetsch, Paul, Dickens. Eine Einführung, München, Zürich 1986, S. 15. Vgl. Maack, Annegret, Charles Dickens. Epoche – Werk – Wirkung, München 1991, S. 92. Ich werde im Folgenden den Begriff „Typ“ als Gegenbegriff zu „Individuum“ auf einer Skala von mehr oder weniger komplex, individuell und psychologisch glaubwürdig ausgestalteten Figuren verwenden, um einen handhabbaren Überbegriff für ein Bündel an Eigenschaften zu haben. Dabei sollte man jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass es sich bei Komplexität, Individualität und psychologischer Glaubwürdigkeit um verschiedene Aspekte der Figurenkonzeption handelt, die zwar oft, aber keineswegs immer korrelieren. Vgl. Pfister, Manfred, Das Drama. Theorie und Analyse, München 2001 [1977], S. 241.

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rischer Fälle aus David Copperfield die Besonderheiten der Charaktere in Dickens’ Romanen genauer zu bestimmen. Zum anderen soll an diesen Beispielen herausgearbeitet werden, wie groß die Spannbreite der Funktionen von literarischen Typen sein kann. Der Erste, der Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten von Figurenkonzeption erzähltheoretisch zu bestimmen versuchte, war der englische Autor E. M. Forster. Forster weist in seiner inzwischen kanonischen Studie Aspects of the Novel (1927) darauf hin, dass es eine wichtige Eigenschaft von Figuren als textuellen Konstrukten ist, dass sie mehr oder weniger komplex angelegt sein können. Unterschieden werden bei Forster so genannte „flat characters“, die eindimensional erscheinen, weil sie nur wenige Eigenschaften aufweisen und sich nicht entwickeln, und „round characters“, die eine Vielzahl verschiedener Eigenschaften haben, die nicht einfach auf einen Nenner zu bringen sind, und deren Verhalten im Lauf der Handlung weit weniger vorhersagbar ist als das der „flat characters“. Interessanterweise stellt gerade Dickens für Forster einerseits zwar einen prototypischen Fall, andererseits aber auch ein Problem dar: Nearly everyone [in Dickens’s novels] can be summed up in one sentence, and yet there is this wonderful feeling of human depth. Probably the immense vitality of Dickens causes his characters to vibrate a little, so that they borrow his life and appear to lead one of their own. […] Part of the genius of Dickens is that he does use types and caricatures, people whom we recognize the instant they re-enter, and yet achieves effects that are not mechanical and a vision of humanity that is not shallow. Those who dislike Dickens have an excellent case. He ought to be bad.9

Einerseits fungieren die Dickens’schen Figuren für Forster als Paradebeispiele für „flat characters“, die, wie implizit deutlich wird, schon allein deswegen als weniger große literarische Leistung zu bewerten wären; andererseits hat er aber selbst den Eindruck, dass diese Wertung den Figuren nicht gerecht wird. Eine wirklich nachvollziehbare Begründung für diesen scheinbaren Widerspruch liefert er allerdings nicht.10 Das mag zum einen darauf hinweisen, dass die pauschale Abwertung der „flat characters“ schlicht zu 9 10

Forster, Edward M., Aspects of the Novel, New York 1954 [1927], S. 71f. Sehr evokativ, aber in analytischer Hinsicht wenig hilfreich ist v. a. eine Passage, in der Forster seinen Eindruck der Darstellung von „flat characters“ bei H. G. Wells und Dickens schildert: „[H]is [Wells’s] people seldom pulsate by their own strength. It is the deft and powerful hands of their maker that shake them and trick the reader into a sense of depth. Good but imperfect novelists, like Wells and Dickens, are very clever at transmitting force. The part of their novel that is alive galvanizes the part that is not, and causes the characters to jump about and speak in a convincing way.“ (Forster, Aspects, S. 72).

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kurz greift.11 Zum anderen liegt es aber auch daran, dass Forsters Kriterien zur Beschreibung der verschiedenen Arten von Figurenkonzeption für eine detailliertere Analyse zu grobmaschig sind und dass die „effects“ der Figurendarstellung erst dann genauer bestimmbar werden, wenn man auch den Prozess der Rezeption in die Überlegungen mit einbezieht. Forsters Unterscheidung der „round“ und „flat characters“ ist im Laufe des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Terminologien aufgegriffen und in verschiedenen Typologien verfeinert worden.12 Erzähltheoretiker nach Forster betonen vor allem, dass es sich bei den verschiedenen Formen der Figurenkonzeption um Pole eines Kontinuums handelt, zwischen denen die verschiedensten Abstufungen möglich sind (auch Forster selbst versteht seine Begriffe übrigens nicht als starre Dichotomie, wie ihm zum Teil vorgeworfen wurde). Dadurch, dass in neueren Forschungen zur Figurenkonzeption immer stärker die Frage nach dem Lektüreprozess und der Rezeption in den Vordergrund gerückt ist, ist außerdem der Blick dafür geschärft worden, welche Rolle neben Informationen aus dem Text selbst die bereits vorhandenen Wissensstrukturen von Lesern für das Verstehen literarischer Figuren spielen.13 In einem Modell, das verdeutlichen soll, wie Leser Eindrücke von einer literarischen Figur aufbauen, modifizieren und ggf. revidieren, unterscheidet der Anglist Ralf Schneider verschiedene Arten von Vorwissen, die bei der Lektüre angewendet werden. Das Vorwissen kann „vor allem aus den in der Sozialisation erworbenen sozialen Kategorien und Persönlichkeitstheorien“ aus der Lebenswelt stammen14 – ein Leser hat z. B. ein bestimmtes Verständnis davon, wie ein Richter oder eine Prostituierte nach vorherrschender Meinung typischerweise aussieht und sich verhält, und kann diese Kategorien zum Verständnis literarischer Figuren heranziehen, wenn im Text entsprechende Attribute auftauchen. Auf diese Weise können schon einige wenige textuelle Informationen über eine Figur den Leser dazu veranlassen, Erwartungen und Wertungen in Bezug auf deren Verhalten aufzubauen. Schneider nennt dies „soziale Kategorisierung“. Davon unterscheidet er den Prozess der „literarischen Kategorisierung“, bei dem Einordnung und Beurteilung der Figuren aufgrund literaturspezifischen Wissens etwa über genretypische 11

12

13

14

Vgl. Forster, Aspects, S. 73: „For we must admit that flat people are not in themselves as big achievements as round ones“. Vgl. v. a. Pfister, Das Drama, S. 241–250, und Hochman, Baruch, Character in Literature, Ithaca, London 1985, S. 86–140. Vgl. Schneider, Ralf, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans, Tübingen 2000, S. 142. Ebd., S. 144.

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Figuren vorgenommen werden: Wenn z. B. in einem Krimi ein Detektiv mit einem Vergrößerungsglas auftaucht, könnten wir uns aufgerufen fühlen, eine Sherlock-Holmes-artige Figur zu erwarten. Als dritte Form der Kategorisierung nennt Schneider die „textspezifische“, bei der Leser zwar keine bereits bekannten Muster (oder „Schemata“) wiedererkennen, die Informationen über eine Figur aber so konfiguriert sind, dass man sich autorisiert fühlt, „zu einem frühen Zeitpunkt [nach Einführung der Figur im Verlauf des Textes] starre Verhaltenserwartungen an eine Figur [zu] richten und nachfolgend geschildertes Verhalten auf Grundlage dieser Einschätzungen [zu] erklären.“15 Den umgekehrten Fall, dass nämlich im Text Informationen zur Figur auftauchen, die nicht in ein Muster passen und den Leser dazu anregen, eine bereits vorgenommene Einordnung in eine Kategorie zu modifizieren, bezeichnet Schneider als „Individualisierung“. Davon wiederum zu unterscheiden ist der Prozess der „Personalisierung“, der vollzogen wird, wenn die textuellen Informationen über eine Figur so beschaffen sind, dass sie nicht eine schnelle Einordnung der Figur in eine soziale oder literarische Kategorie anregen, sondern „ein umfassendes Verständnis der Figur, wozu oft aufwendig nach Erklärungen gesucht werden muß“.16 Grob gesprochen beschreibt das Modell also zwei gegenläufige Wege der Informationsverarbeitung: Entweder werden Informationen zunächst gespeichert und erst nach und nach zu einem stimmigen Gesamtbild zusammengefügt (bottom-up), oder die ersten Informationen sind so beschaffen, dass sie gleich dazu ermutigen, eine bereits bekannte Kategorie aufzurufen, in die dann auch weitere Informationen aus dem Text im Folgenden eingeordnet werden können (top-down).17 „Typen“ im Sinne meines Artikels wären Figuren, die so beschrieben sind, dass Leser in besonders hohem Maße zu einem oder mehreren der genannten top-down-Kategorisierungsprozesse angeregt werden: „Das Prinzip der Typisierung heißt ‚wenig sehen – viel wissen.‘ Der Anteil des explizit über die Figur Mitgeteilten kann relativ klein sein, weil das Wesentliche leicht erschlossen werden kann.“18 Genau das scheint eine herausragende Eigenschaft vieler der Dickens’schen Figuren zu sein: Man hat schnell den Eindruck, dass man ihre wesentlichen Merkmale erfasst hat, auch wenn sie gerade erst eingeführt wurden. Gerade die soziale Kategorisierung, die man hauptsächlich mit der 15 16 17 18

Ebd., S. 148. Ebd., S. 156. Siehe hierzu ebd., S. 37–39. Eder, Jens, Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008, S. 375.

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Vorstellung von Typen als Figuren, die „sozialen Stereotypen entsprechen, also vereinfachenden, übergeneralisierenden, kollektiv verbreiteten Vorstellungskomplexen über die Eigenschaftskonstellationen von Mitgliedern bestimmter Gruppen“,19 in Verbindung bringen würde, spielt aber bei vielen dieser Figuren keine so herausragende Rolle, wie man zunächst meinen könnte. Entscheidend für die Wirkung der in diesem Artikel vorgestellten Art von Figuren ist vielmehr die Kombination von literarischer und sozialer Kategorisierung. Eine weitere Eigenschaft, die bei vielen der Figuren auffällt, ist, dass sie zwar als wenig individualisiert, aber dennoch originell erscheinen. Statt davon auszugehen, dass diese Originalität auch eine Art von Individualisierung darstellt, sucht Schneiders Modell solche Fälle mit dem Konzept der textspezifischen Kategorisierung zu beschreiben, das ja von Kategorien ausgeht, die nicht vorher bereits bekannt sind, sondern direkt aus den textuellen Informationen extrapoliert werden. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit es sinnvoll ist, in solchen Fällen noch von „Kategorie“ oder „Schema“ zu sprechen (die Figur wäre dann gleichzeitig ihr eigenes Schema?). Anhand zweier konkreter Beispiele aus Dickens’ Roman David Copperfield werde ich im Folgenden ausprobieren, inwieweit das Schneider’sche Modell dabei hilft, Eigenheiten der Figurenkonzeption zu erklären und ihre Funktionen zu beschreiben, ohne dabei das in meinen Augen eher unklare Konzept der „textspezifischen Kategorisierung“ zu bemühen. Bei der ersten Beispielfigur handelt es sich um eine Nebenfigur, die für den Roman keine sehr signifikante oder komplexe Rolle spielt – das soll es einfacher machen, zunächst einmal grundsätzliche Punkte herauszuarbeiten. In einem zweiten Schritt werden die in der ersten Beispielanalyse erarbeiteten Tendenzen dann an einer zweiten Figur aus dem gleichen Roman erprobt, die zwar ebenfalls stark typisiert ist, aber dennoch – wie ich zeigen möchte – zu sehr komplexen Interpretationen einlädt. David Copperfield ist nicht nur einer der bekanntesten und meistgelesenen Romane aus Dickens’ Gesamtwerk, sondern wird in der Literaturgeschichte auch oft als Beispiel einer mittleren Schaffensphase gesehen, die ein Scharnier zwischen einer frühen und einer späten Phase darstellt.20 Wie viele der 19 20

Ebd., S. 379. Vgl. Tambling, Jeremy, „Introduction“, in: Charles Dickens, David Copperfield, London 2004 [1996], S. xi: Grob unterschieden wird dabei zwischen den frühen Romanen wie Pickwick Papers (1836–37), Oliver Twist (1837–39) und Dombey and Son (1846–48), die eher episodisch aufgebaut sind und in denen eine große Anzahl an komischen Figuren auftreten, und späteren Werken wie Hard Times (1854) oder Great Expectations (1860–61), die eher eine zusammenhängende Handlung mit in-

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anderen Romane weist David Copperfield ein großes Spektrum an verschieden konzipierten Figuren auf – von der psychologisch komplex ausgeleuchteten Hauptfigur David bis hin zu stark karikaturhaft gezeichneten Nebenfiguren. Das Leben des Protagonisten David Copperfield wird in dieser fiktionalen Autobiographie aus der Rückschau geschildert. Der Ich-Erzähler stellt dar, wie er es nach einer unglücklichen Kindheit und dem Verlust beider Eltern geschafft hat, in der viktorianischen Gesellschaft durch disziplinierte Arbeit zu einem geachteten Schriftsteller zu werden und nach vielen Wirrungen schließlich die Frau seiner Träume zu heiraten. Der Roman ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden: Während die einen ihn als verklärende middle-class-Fantasie verstehen, weisen die anderen darauf hin, dass Davids „Aufstieg“ eben gerade nicht als geradlinige Erfolgsgeschichte präsentiert wird, sondern vor allem die Probleme, Fehler, Gefahren und Kompromisse im Mittelpunkt stehen, die seinen Weg säumen. Wie die Romanhandlung letztlich einzuordnen ist, ist für meine Argumentation allerdings gar nicht so entscheidend. Wichtig für die folgenden Überlegungen ist aber, dass das Gefühl, in einer prekären Lage zu sein, in der der soziale Auf- oder Abstieg von vielen, nur zum Teil vom Individuum selbst steuerbaren Faktoren abhängt, im Werk eine große Rolle spielt. Wie es für einen Roman, der einen Prozess der sozialen Integration beschreibt, nicht anders zu erwarten ist, tauchen in David Copperfield eine ganze Anzahl an Figuren auf, die man als Repräsentanten bestimmter Gesellschaftsschichten, Einstellungen und Berufe lesen kann – Figuren also, von denen man erwarten könnte, dass sie in besonderem Maße zu sozialer Kategorisierung einladen. Die erste Figur, die ich etwas näher betrachten will, entspricht in der Tat einem bekannten Muster: Mr. Creakle, Davids erster Lehrer, kann als geradezu paradigmatisches Negativbeispiel für den „Lehrer als Kinderquäler“ gelten. Er erscheint als stark typisiert; der Leser entwickelt nach kurzer Zeit klare Urteile und Verhaltenserwartungen, die auch im Laufe der Handlung nicht weiter modifiziert werden müssen. Eine explizite Zusammenfassung von Creakles Eigenschaften und der Art und Weise, wie sie zu beurteilen sind, wird kurz nach dem ersten Auftreten der Figur gegeben und fasst die an der Schule vorherrschende Meinung über ihn zusammen: dividualisierteren Figuren aufweisen und als düsterer und kritischer gelten. Allerdings erhebt mein Artikel nicht den Anspruch, allgemeingültige Aussagen über sämtliche von Dickens’ Figuren zu machen – bei den hier konstatierten typischen Merkmalen handelt es sich vielmehr um Tendenzen. Zudem können die hier angebotenen Beispielanalysen natürlich keinen diachronen Überblick ersetzen, der Entwicklungen innerhalb des Dickens’schen Werkes darstellen könnte.

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I heard that [he] was the sternest and most severe of masters; that he laid about him, right and left, every day of his life, charging in among the boys like a trooper, and slashing away, unmercifully. That he knew nothing himself, but the art of slashing, being more ignorant […] than the lowest boy in the school; that he had been, a good many years ago, a small hop-dealer in the Borough, and had taken to the schooling business after being bankrupt in hops, and making away with Mrs Creakle’s money.21

Auch im Folgenden weicht die Beschreibung der wesentlichen Merkmale Creakles von diesem Muster niemals ab: Er erscheint als sadistisch, unkontrolliert („slashing away“) und dümmer als seine eigenen Schüler. Der Hinweis auf Creakles Bankrott hat nicht den Effekt, uns einen Einblick in seine individuelle Geschichte und Motivationen zu geben, indem wir auf vergangene Enttäuschungen und innere Verletzungen hingewiesen werden. Vielmehr rundet er das Negativbild vom bösen Schulmeister ab und zeichnet ihn als typisches Produkt einer profitorientierten Gesellschaft, in der ein skrupelloser und habgieriger Mensch ohne jede Qualifikation eine Schule führen und Macht über junge Menschen ausüben darf. Auffällig ist allerdings auch, welch große Rolle die bildhaften Beschreibungen körperlicher Merkmale und Tics spielen, die die Figur jenseits ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe eine unverwechselbare Gestalt gewinnen lassen. Bei der ersten Begegnung mit David wird Creakle als visuelle Karikatur eingeführt: Mr Creakle’s face was fiery, and his eyes were small, and deep in his head; he had thick veins in his forehead, a little nose, and a large chin. […] But the fact about him that impressed me most, was, that he had no voice, but spoke in a whisper. The exertion this cost him, or the consciousness of talking in that feeble way, made his angry face so much more angry; and his thick veins so much thicker, when he spoke, that I am not surprised, on looking back, at this peculiarity striking me as his chief one. (DC 93)

Mr. Creakles Gesicht wird nicht nur detailliert beschreiben, sondern Teile seiner Physiognomie werden auch gleich gedeutet: das Gesicht ist „fiery“, die Adern dick, weil er zum Jähzorn neigt. Die Wiederholungsstruktur im dritten Satz („made his angry face so much more angry“) zementiert zum einen die interpretierende Beschreibung und unterstreicht zum anderen die kindliche Perspektive des erlebenden Ich, aus der Mr. Creakle formidabel erscheint, durch die er aber wegen der besonders markierten Aufmerksamkeit auf einige Details zugleich auch karikaturhaft verzerrt und etwas lächerlich 21

Dickens, Charles, David Copperfield, hrsg. von Jeremy Tambling, London 2004 [1850], S. 97. Zitate aus dieser Ausgabe (Kürzel: DC) werden im Folgenden direkt im Fließtext belegt.

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wirkt. Die implizit negative Wertung, die bereits aus der Charakterisierung Mr. Creakles als grundlos zornig spricht, wird auch im folgenden Dialog weiter bestätigt. Creakle brüstet sich mit seiner Neigung zu Gewaltausbrüchen und entlarvt sich gleichzeitig durch seine Redeweise als aufgeblasen, aber im Grunde einfältig. Zu den Merkmalen, die zu einer sozialen Kategorisierung Creakles über seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe anregen, kommt also eine detailreiche Betonung äußerer Attribute und Verhaltensweisen. Diese sind nicht rein deskriptiv, sondern werden explizit als Hinweise auf innere Dispositionen gedeutet, so dass alles, was wir über die Figur erfahren, sich in ein relativ einfaches Charaktermodell einordnen lässt. Auch das kann man insofern als eine Art der sozialen Kategorisierung verstehen, als sich in der obigen Passage in Ansätzen der Einfluss des physiognomischen Diskurses im 19. Jahrhundert zeigt, der von einer eindeutigen Korrelation äußerer und innerer Eigenschaften ausging.22 Wie Michael Hollington gezeigt hat, spielen physiognomische Konzepte in Dickens’ Werken (wie überhaupt im englischen Roman des 19. Jahrhunderts) eine große Rolle – in diesem Fall etwa wird der Rezipient dazu eingeladen, die physiognomische Interpretation Creakles, die die Figur David anbietet, zu übernehmen.23 An anderen 22

23

„Physiognomy is a once prestigious, now deliquescent (except in such echoes as the concept of ‚body language‘) epistemological system concerned with reading the signs of external appearance, and expecially [sic] of faces, to gain a knowledge of supposed inner essences. […] At a general level the system contends that beauty – conceived in terms of features with regular forms and correct proportions, and of harmonious relations between them – expresses moral goodness, and ugliness, disproportion and deformity reflect moral depravity, but it also embraces much more detailed and specific correspondences between the contours of individual features and precise moral qualities.“ Hollington, Michael, „Dickens, ‚Phiz‘ and Physiognomy“, in: Joachim Möller (Hrsg.), Imagination on a Long Rein: English Literature Illustrated, Marburg 1988, S. 125–135, hier S. 125. Der sehr interessanten Frage nach dem Verhältnis zwischen physiognomischem Diskurs und literarischer Typisierung kann in diesem Artikel leider nicht ausführlich nachgegangen werden. Das liegt v. a. auch daran, dass es keine einfache Korrelation gibt, wie man vielleicht auf den ersten Blick vermuten könnte: Physiognomische Beschreibungen von Figuren tragen nicht unbedingt immer zu klaren Kategorisierungen bei, wie etwa die sehr stark individualisierten Portraits in den Romanen von George Eliot oder Charlotte Brontë zeigen. Eine hilfreiche diachrone Betrachtung des Verhältnisses zwischen der Entwicklung des physiognomischen Diskurses der Zeit und Tendenzen in der Literatur, über die Korrelation innerer und äußerer Merkmale bestimmte Interpretationsweisen nahezulegen, bietet Wolf, Werner, „Gesichter in der Erzählkunst: Zur Wahrnehmung von Physiognomien und Metawahrnehmung von Physiognomiebeschreibungen aus theo-

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Stellen des Romans allerdings werden solche klaren Korrelationen zwischen Innen und Außen auch in Frage gestellt, wie auch das zweite hier diskutierte Beispiel zeigen wird. Die Beschreibung der Figur lädt also zu einer klaren moralischen Bewertung ein: Creakle hat keine Grautöne, sondern ist, zum Teil durch die Rückgriffe auf das soziale Stereotyp vom sadistischen Lehrer, vollkommen negativ gezeichnet.24 Zudem fungieren auch die Bezüge auf Parallelen zwischen äußerer Erscheinung und Charaktereigenschaften in Anlehnung an den physiognomischen Diskurs als „a means of securing the reader’s participation and assent to the moral judgements that the novels promote“.25 Darüber hinaus aber gibt es noch ein weiteres wichtiges Darstellungsmittel, das zu einer klaren und einfachen Bewertung der Figur beiträgt: Immer wieder werden Märchen evoziert, etwa wenn Creakle als „like a giant in a story-book surveying his captives“ (DC 99) beschrieben wird. Damit ist ein weiterer Aspekt der Figurenkonzeption genannt, der für Dickens typisch ist: Es gibt immer wieder Anklänge an Figuren aus Genres wie dem Märchen oder dem Melodrama, die durch eine klare Bewertung (gut/böse) gekennzeichnet sind. Die Art der Kategorisierung, die damit angeregt wird, müsste man nach Schneiders Modell als „literarisch“ bezeichnen – ein Beispiel dafür, dass die „literarische Kategorisierung“ keineswegs immer Lesern vorbehalten ist, die über breite und spezialisierte Textkenntnisse verfügen,26 sondern auch auf

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retischer und historischer Sicht am Beispiel englischsprachiger Texte des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: Sprachkunst, 33/2002, S. 301–325. Man könnte allerdings auch fragen, inwieweit das genannte Stereotyp tatsächlich zum lebensweltlichen Wissen gehört und inwieweit es bereits das Resultat literarischer Lektüre ist – das bedeutet: Greift ein Leser tatsächlich auf Annahmen über Lehrer in der wirklichen Welt zurück oder eher auf Wissen darüber, wie sich Lehrerfiguren in der Literatur üblicherweise verhalten? Schneider (Grundriß, S. 146) weist selbst ebenfalls darauf hin, dass soziale und literarische Kategorisierung sich überschneiden können: „So kann ein Rezipient, in dessen sozialem und kulturellem Wissen die Kategorie ‚curate‘ nicht gespeichert ist […], trotzdem aus der Lektüre mehrerer viktorianischer Romane eine Figurenkonzeption ‚curate‘ ableiten, da diese Figuren in zahlreichen Romanen auftreten und des öfteren zumindest einige ähnliche Handlungen ausführen.“ Ich vermute, dass das bei genauem Hinsehen auf sehr viele Fälle zutrifft, die man zunächst als „soziale Kategorisierung“ bezeichnen würde, ganz besonders im Fall von Lesern, die keine Zeitgenossen des Autors sind. Hollington, „Dickens, ‚Phiz‘ and Physiognomy“, S. 127. „Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Kategorisierungsarten ist, dass die Wissensstrukturen, die man für literarische Kategorisierung aktivieren muß, bereits einen relativ hohen Grad an literarischer Bildung voraussetzen und daher

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ganz basales Wissen über Geschichten zurückgreifen kann. Selbst bei einer für die Gesamtarchitektur des Romans relativ unbedeutenden Nebenfigur wie Mr. Creakle ist die typisierte Darstellung also nicht das Resultat einfacher Bezüge auf ein Stereotyp, sondern verschiedener, auf komplexe Art und Weise miteinander verschränkter Kategorisierungsprozesse. Während es sich bei Mr. Creakle um eine Nebenfigur handelt, die nur in einem kleinen Teil des Romans vorkommt, gibt es in David Copperfield auch eine ganze Reihe an Figuren, die zwar für die Handlung des Romans eine weit größere Rolle spielen, deren Darstellung aber ebenso stark zu Kategorisierung anregt wie die Creakles. Im Folgenden soll mit Uriah Heep, einem der bekanntesten Dickens’schen Bösewichte, eine Figur betrachtet werden, deren Funktionen wesentlich komplexer sind, auch wenn – oder vielleicht sogar gerade weil – sie nicht als stärker individualisiert erscheint. Dieses Beispiel soll verdeutlichen, dass das Potential einer Figur, interessante Fragen über Menschen und menschliches Verhalten aufzuwerfen, nicht an eine komplexe oder ‚realistische‘ Figurenkonzeption geknüpft ist. Uriah Heep taucht erst gegen Ende des ersten Drittels des Romans auf und wird im Lauf der Zeit allmählich zu einem der beiden wichtigsten Gegenspieler des Protagonisten.27 Er ist nur wenige Jahre älter als David und arbeitet als Angestellter in der Anwaltskanzlei von Mr. Wickfield, der eine Art väterlicher Mentor für David ist. Uriah stammt aus bescheidenen Verhältnissen und erscheint von Anfang an als unsympathischer Heuchler, der darauf aus ist, Geld und Einfluss zu erlangen, indem er die Schwächen anderer ausnutzt. Auf diese Weise bringt er es im Lauf der Geschichte zur Partnerschaft in Wickfields Kanzlei. Wie sich herausstellt, plant er zudem, Wickfield so unter Druck zu setzen, dass dieser in die Heirat Uriahs mit seiner Tochter Agnes einwilligt. Gegen Ende des Romans fliegen Uriahs Betrügereien und Manipulationen auf; er ist gezwungen, die Kanzlei zu verlassen, und landet schließlich im Gefängnis. Ähnlich wie bei Creakle lädt die Darstellung Uriahs von Anfang an zur Kategorisierung ein. Charakterisiert wird er im Wesentlichen durch eine kleine Anzahl von Merkmalen, die in vielen Passagen wiederholt werden. Auch bei ihm spielt die Beschreibung des Äußeren, das durch einige sehr auffällige Kennzeichen bestimmt ist, eine große Rolle: Er ist rothaarig, kno-

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bei kleineren Leserkreisen zu erwarten sind als soziale Wissensbestände.“ (Schneider, Grundriß, S. 345). Der andere ist Davids Schulfreund Steerforth, der sich erst im Laufe der Handlung als Schurke entpuppt, auch wenn die positive Haltung des erlebenden Ich ihm gegenüber von Anfang an als naiv dargestellt wird.

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chig und ausgemergelt, hat unheimliche Augen, die nie zu blinzeln scheinen, und hat die Angewohnheit, sich andauernd zu winden und seine Hände zu reiben. In der Figurenrede wiederholt er immer wieder einen Satz, mit dem er sich selbst beschreibt: „I’m so very umble“. Mit diesem Satz weist er nicht nur auf seine bescheidene Herkunft hin, sondern möchte v. a. auch den Eindruck von Genügsamkeit erzeugen.28 Zudem ändert sich Uriah im Verlauf der Handlung nicht; selbst seine Entlarvung als Betrüger führt zu keiner Veränderung. Auch bei Uriah kann schnell ein direkter Zusammenhang zwischen äußeren und inneren Eigenschaften hergestellt werden: Sein unheimliches und unattraktives Aussehen verweist auf seinen Unbehagen erregenden Charakter. Sein sprachliches Verhalten scheint zwar zunächst einmal einen Gegensatz herauszustellen, denn während Uriah in seinen expliziten Äußerungen zu seiner „umbleness“ seine Bescheidenheit und Demut betont, lässt schon die exzessive Wiederholung diese Aussage als unglaubwürdig erscheinen. Gerade der Gegensatz, der sich zwischen der sprachlich markierten Servilität und Uriahs tatsächlicher Motivation, dem Streben nach Macht, auftut, drückt sich aber auch von Anfang an über äußere Eigenschaften aus, nämlich Uriahs Körpersprache: Dass er sich andauernd windet und die Hände reibt, ist äußerlicher Hinweis auf Heuchelei. Insofern sind es gerade die oberflächlichen Widersprüche, die ein stimmiges Gesamtbild ergeben: Uriah verkörpert den Typus des heuchlerischen und skrupellosen Emporkömmlings. Für die Rezeption dieser ganz offensichtlich als sehr stark typisiert konzipierten Figur spielen sowohl soziale als auch literarische Stereotype eine Rolle. Zum einen erinnert die Figur des heuchlerischen Bösewichtes an Charaktere aus dem Roman des 18. Jahrhunderts,29 zum anderen werden auch zeitgenössische Vorstellungen über social climbers angesprochen. Besonders auffällig sind jedoch die Textpassagen, die zu einer ähnlichen Art von literarischer Kategorisierung anregen, wie sie bereits bei Mr. Creakle eine Rolle spielte: nicht die Bezüge auf Stereotype, die nur einer literarisch gebildeten Leserschaft bekannt sein dürften, sondern die Anspielungen auf sehr viel grundlegendere Muster. Beispielsweise wird Uriah häufig mit dem Teufel verglichen, etwa durch den Hinweis auf „his crafty face, with the appropriately 28

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Zudem verweist das explizit als Abweichung von der Standardsprache markierte „dropped aitch“ in „umble“ natürlich auf Uriahs niedrigen sozialen Status – auf die komplexen Zusammenhänge zwischen der typisierten Darstellung Uriahs und sozialen Stereotypen gehe ich unten noch ein. Zum Beispiel die Figur des Blifil aus Henry Fieldings Tom Jones; vgl. Fludernik, Monika, „The Eighteenth-Century Legacy“, in: David Paroissien (Hrsg.), A Companion to Charles Dickens, Malden (MA) 2008, S. 65–80, hierzu S. 69.

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red light of the fire upon it“ (DC 388, meine Hervorhebung). Diese Art der literarischen Kategorisierung lädt, wie bereits bei Mr. Creakle, zu einer klaren Bewertung der Figur ein und steht, wie im Folgenden gezeigt werden soll, in einem Spannungsverhältnis zu Möglichkeiten der sozialen Kategorisierung. Kompliziert wird unsere Wahrnehmung von Uriah als Figur zunächst einmal vor allem dadurch, dass seine Darstellung ganz deutlich von der subjektiven Wahrnehmung des Ich-Erzählers David geprägt ist. Im Großen und Ganzen erscheint Davids Perspektive zwar als eine quasi-auktoriale Sicht der Dinge, deren moralische und kognitive Einsichten wir als LeserInnen übernehmen (so z. B. im Fall der Darstellung Mr. Creakles).30 Vor allem in den Kindheitskapiteln erscheint die Perspektive des erlebenden Ich aber häufig auch subjektiv verzerrt. Der junge David kommt immer wieder zu Fehleinschätzungen von Informationen oder Menschen, etwa weil er zu naiv ist, um die Intentionen der Menschen um ihn herum zu durchschauen, oder weil er sich von seinen Emotionen leiten lässt. Dadurch, dass es einige Szenen gibt, in denen solche Missverständnisse ausführlich ausgebreitet werden, ist der Leser durchaus darauf vorbereitet, das Urteil des erlebenden Ich in Einzelfällen in Frage zu stellen. Eine solche Abweichung zwischen Davids Darstellung und dem Urteil, das dem Rezipienten naheliegend erscheint, lässt sich für die Szene feststellen, in der Uriah Heep und David sich das erste Mal begegnen, wie ich nun an einer etwas ausführlicheren Interpretation einer Einzelpassage zeigen möchte. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Beschreibung des setting, das einen Bezugsrahmen für die ganze Szene bildet. Sie spielt im Teil 5 des Romans: Der junge David wird von seiner Tante zu Mr. Wickfield gebracht und schildert seinen Eindruck von dessen Haus folgendermaßen: At length we stopped before a very old house bulging out over the road; a house with long low lattice windows bulging out still farther, and beams with carved heads on the ends bulging out too, so that I fancied the whole house was leaning forward, trying to see who was passing on the narrow pavement below. The two stone steps descending to the door were as white as if they had been covered with fair linen; and all the angles and corners, and carvings and mouldings, and quaint little panes of glass, and quainter little windows, though as old as the hills, were as pure as any snow that ever fell upon the hills. (DC 228, meine Hervorhebungen) 30

Zur quasi-auktorialen Wirkung der Ich-Erzählsituation aufgrund der Erzähldistanz in David Copperfield vgl. Case, Alison, „Gender and History in Narrative Theory: The Problem of Retrospective Distance in David Copperfield and Bleak House“, in: James Phelan/Peter J. Rabinowitz (Hrsg.), A Companion to Narrative Theory, Malden (MA), Oxford 2005, S. 312–321.

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Hier wird die kindliche Sichtweise des erlebenden Ich, des jungen David, deutlich, den das Haus zum Fantasieren anregt. Die subjektive Färbung setzt sich in dem Märchenton fort, in dem das Haus weiterhin beschrieben wird: „old as the hills“ etc. Der erste Bewohner dieses Märchenhauses, der auftritt, ist nun kein anderer als Uriah: When the pony-chaise stopped at the door […] I saw a cadaverous face appear at a small window on the ground floor […] and quickly disappear. The low arched door then opened, and the face came out. […] It belonged to a red-haired person – a youth of fifteen, as I take it now, but looking much older – […] who had hardly any eyebrows, and no eyelashes, and eyes of a red-brown; so unsheltered, that I remembered wondering how he went to sleep. He […] had a long, lank skeleton hand, which particularly attracted my attention, as he stood at the pony’s head, rubbing his chin with it. […] […] I caught a glimpse, as I went in, of Uriah Heep breathing into the pony’s nostrils, and immediately covering them with his hand, as if he were putting some spell upon him. (DC 228f.)

Uriah erscheint zunächst einmal als dem von der Fantasie des erlebenden Ich erzeugten Märchenkontext angemessen unheimlich; im letzten Satz werden ihm sogar übernatürliche Fähigkeiten zugesprochen. Diese Sichtweise wird jedoch gerade durch diesen letzten Satz übertrieben und ironisiert, weil dort deutlich wird, dass sie der lebhaften Fantasie des leicht zu beeindruckenden jungen David entsprungen ist. Die literarische Kategorisierung Uriahs als eine Art Märchen-Bösewicht wird also mit einem deutlichen Fragezeichen versehen. Zudem ist David mit seiner ersten sozialen Einordnung klar im Irrtum; er hält Uriah für einen Teil der Familie, während dem Leser aus der Beschreibung seines Verhaltens (und des Verhaltens der anderen Figuren) sofort klar wird, dass es sich um einen Angestellten handelt. Die soziale Einordnung Uriahs durch den Leser wird durch die falschen Interpretationen des erlebenden Ich nicht behindert; es entsteht aber ein Spannungsfeld zwischen der literarischen Kategorisierung, durch die Uriah unheimliche Macht zugeschrieben wird, und Tendenzen einer sozialen Kategorisierung, die auf seiner Zugehörigkeit zur working class beruht.31 Die Einführung der Figur Uriahs ist somit verknüpft mit Unsicherheiten, was die Interpretationskom31

Andere Fehleinschätzungen Davids betreffen sowohl Figuren, die er nur kurz trifft (beispielsweise einen Kellner in einem Lokal, von dem er sich übers Ohr hauen lässt), als auch langjährige Bekannte wie Steerforth. In seinen Artikeln über Physiognomie bei Dickens weist auch Hollington darauf hin, dass das Problem, andere Menschen adäquat zu beurteilen, sich durch viele der Romane zieht: „[They] continually compare and contrast good and bad interpreters of gesture and appearance, invoking as a distant absolute measure of insight a divine knowledge of human character (God of course is the ultimate physiognomist)“ (Hollington, „Dickens, ‚Phiz‘ and Physiognomy“, S. 127).

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petenz des erlebenden Ich betrifft. Weitere Szenen, in denen David Alpträume von Uriah hat (den er bis dahin kaum kennt), laden sogar zu einer psychologischen Lesart ein: David scheint sich von Uriah in seinem Status bedroht zu fühlen, was über kindliche Naivität hinausgeht und eher auf ein Konkurrenzdenken verweist. Diese Fragezeichen in der Bewertung Uriahs werden freilich nie zu einer dominanten Lesart der Figur ausgebaut. Das erzählende Ich, das immer die Deutungshoheit behält, übernimmt auf lange Sicht die negative Sichtweise des erlebenden Ich auf Uriah, und im Verlauf der Handlung wird die ursprüngliche Einschätzung Davids immer mehr bestätigt: Uriah entpuppt sich als übler Schurke. Die negative Sicht auf Uriah wird immer stärker betont, wozu vor allem eine Vermischung von Signalen, die zu einer sozialen, und solchen, die zu einer literarischen Kategorisierung einladen, beiträgt. Gerade diese Vermischung aber ist es, die einen aufmerksamen Rezipienten dazu einladen könnte, die allzu klare Bewertung Uriahs weiterhin mit Vorsicht zu betrachten. Besonders gut lässt sich dies an der Art und Weise, wie Uriahs Körper beschrieben wird, zeigen: I found Uriah Heep reading a great fat book, with such demonstrative attention, that his lank fore-finger followed up every line as he read, and made clammy tracks along the page […] like a snail. […] [H]e frequently ground [his] palms against each other as if to squeeze them dry and warm, besides often wiping them, in a stealthy way, on his pocket-handkerchief. […] He had a way of writhing when he wanted to express enthusiasm, which was very ugly; and which diverted my attention […] to the snaky twistings of his body. (DC 243–245)

Die ständigen Körperbewegungen der Figur werden über bildhafte Vergleiche mit Tieren (Schnecke, Schlange) und wertende Adjektive („stealthy“) deutlich negativ belegt; Uriahs Körper erscheint als raumgreifend, aufdringlich und auch ekelerregend.32 Sein ständiges Überschreiten von Körpergrenzen, das sich v. a. auch in dem feuchten Händedruck ausdrückt, den David immer wieder als äußerst unangenehm empfindet, kann als ein als unzulässig empfundenes Überschreiten sozialer Grenzen gelesen werden. Der Hän32

Davids Ekel vor Uriahs „undiszipliniertem“ Körper kann auch als Unbehagen in Bezug auf seine eigene Sexualität gelesen werden – dies erscheint v. a. im Licht der Szenen, in denen es um Uriahs Wunsch geht, Agnes zu heiraten, sehr einleuchtend, denn Agnes ist die Frau, die ganz offensichtlich für David bestimmt ist und die er am Ende des Romans schließlich auch heiratet. Zum Zusammenhang zwischen der Darstellung Uriahs und sexuellen Ängsten vgl. Macdonald, Tara „ ‚Redheaded animal‘: Race, Sexuality and Dickens’s Uriah Heep“, in: Critical Survey, 17/2005, S. 48–62.

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dedruck impliziert eine soziale Gleichstellung,33 die Uriah (zunächst insgeheim) anstrebt und die für David ganz offensichtlich ein großes Problem ist. Das hängt zum einen damit zusammen, dass er Uriah verachtet, liegt zum anderen aber auch an seinem eigenen prekären Status, denn schließlich ist Davids eigene Biographie, wie Uriah bei der Konfrontation am Ende des Romans scharfsichtig bemerkt, auch nicht über jeden Zweifel erhaben. „You’ve always been an upstart, Copperfield“ (DC 764), erklärt Uriah, als er sich schließlich in die Enge getrieben sieht. Was David in seiner eigenen Biographie als positives „Hocharbeiten“ wertet, erscheint in der Figur des Uriah Heep als grenzüberschreitend und bedrohlich. Damit wird Uriah zur Projektionsfläche für Davids eigene Ängste.34 Durch die starke literarische Kategorisierung der Figur wird dieser Zusammenhang verschleiert, weil durch sie metaphysische Kategorien von Gut und Böse aufgerufen werden. Es gibt jedoch drei Faktoren, die ein aufmerksamer Leser als Aufforderung dazu verstehen könnte, die Dämonisierung der Figur Uriahs zu hinterfragen. Der erste ist die oben beschriebene Einführung Uriahs, bei der die literarische Kategorisierung klar an die übersprudelnde Fantasiewelt des jungen David gekoppelt ist und somit fragwürdig erscheint. Der zweite Faktor ist der intertextuelle Bezug auf die biblische Geschichte von König David und Urias, den die Namensgebung herstellt: Auch in dieser Geschichte geht es um die Rivalität zweier Männer, die die gleiche Frau begehren; allerdings ist es dort Urias, der zum Opfer einer Intrige des Nebenbuhlers wird. Dieser Bezug ist also dazu geeignet, Fragen nach der Rollenverteilung in Gut und Böse aufzuwerfen. Der dritte Faktor ist der komplexeste: Die oben bereits angesprochene Tiermetaphorik führt nicht nur zu einer literarischen Kategorisierung, die auf eine negative Bewertung und stellenweise sogar auf eine Dämonisierung der Figur hinausläuft, sondern lässt sich auch als Teil eines konventionalisierten Diskurses lesen, in dem sich Klassenstereotype niederschlagen, und kann somit auch eine soziale Kategorisierung nahelegen. Besonders deutlich ist dies etwa an einer Stelle, an der Uriah mit einem Affen verglichen wird: „If I had seen an Ape taking command of a Man, I should hardly have thought it a more degrading spectacle“, bemerkt der Erzähler in Bezug auf eine Szene, in der Uriah seine Macht über Mr. Wickfield ausspielt (DC 521). 33

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Zur Körpersprache als Ausdruck von Hierarchien vgl. Hollington, Michael, „Physiognomy in Hard Times“, in: Dickens Quarterly, 9/1992, 2, S. 58–66, hierzu S. 59f. Ausführlicher zur Projektion sozialer Ängste in David Copperfield vgl. Jordan, John O., „The Social Subtext of David Copperfield“, in: Dickens Studies Annual, 14/1985, S. 61–92.

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In einer anderen Passage bezieht sich der Vergleich auf einen Straßenköter: „To inquire what he might have done, if he had had any boldness, would be like inquiring what a mongrel cur might do, if it had the spirit of a tiger“, heißt es in der Szene gegen Ende des Romans, als Uriah Heep von David und seinen Freunden entlarvt wird (DC 764). Über solche Vergleiche werden gängige Stereotype über die working class aufgerufen. Deren Wirkung wird allerdings dadurch kompliziert, dass an anderen Stellen des Romans gerade solche Stereotype in Frage gestellt werden. Das herausragendste Beispiel dafür ist eine Szene, in der David bei seinem Schulfreund Steerforth zu Gast ist: Dessen Cousine Rosa Dartle bringt die Frage nach der Einschätzung von „that sort of people“ zur Sprache: „Are they really animals and clods, and beings of another order? I want to know so much.“ (DC 302) In Steerforths Antwort werden die Angehörigen der working class in sozialdarwinistischer Manier als Wesen niederer Ordnung dargestellt: „Why, there’s a pretty wide separation between them and us […] They are not to be expected to be as sensitive as we are […] and they may be thankful that, like their coarse rough skins, they are not easily wounded.“ (DC 303) Dass die dargestellte Einstellung kritisiert wird, wird durch den Erzählerkommentar deutlich („I believed that Steerforth had said what he had, in jest“, DC 303), vor allem aber auch dadurch, dass mit „that sort of people“ hier konkret die Peggottys gemeint sind, die David sehr nahe stehen, im Roman äußerst positiv gezeichnet sind und deren Familienglück später durch Steerforth für immer zerstört wird. Wenn die gleiche Rhetorik im Folgenden vom Erzähler zur Beschreibung Uriahs herangezogen wird, kann dies also als innerer Widerspruch verstanden werden. Die deutlichen Aufforderungen zur literarischen wie auch sozialen Kategorisierung Uriahs wirken insofern als Kippfigur: Aus der einen Perspektive tragen sie zu einem negativen Eindruck von Uriah als Figur bei, aus der anderen scheinen sie mehr über die Perspektive Davids, seine unausgesprochenen Ängste und seine Vorurteile auszusagen. Interessanterweise wird auch diese Ambiguität – die Frage, wer jeweils das Objekt der Beobachtung und Beurteilung ist – in der Art und Weise gespiegelt, wie Uriah dargestellt ist. Die Schlüsselrolle dabei spielen die verschiedenen Hinweise auf Uriahs Augen, die, wie oben schon gezeigt wurde, zu seinen auffallenden körperlichen Kennzeichen gehören und auf eine Art und Weise beschrieben werden, die zur literarischen Kategorisierung beiträgt: Sie sind „red“ (DC 751), „cunning“ (DC 751) bzw. „every shade of colour that could make eyes ugly“ (DC 626). Uriahs Augen sind aber nicht nur deswegen unheimlich, weil sie äußere Hinweise auf unattraktive und bedrohliche innere Eigenschaften sind, sondern auch deswegen, weil sie David beobachten:

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Uriah […] was at work at the desk in this room, which had a brass frame on the top to hang papers upon […]. Though his face was towards me, I thought, for some time, the writing being between us, that he could not see me; but looking that way more attentively, it made me uncomfortable to observe that, every now and then, his sleepless eyes would come below the writing, like two red suns, and stealthily stare at me for I dare say a whole minute at a time, during which his pen went, or pretended to go, as cleverly as ever. […] [W]henever I looked at those two red suns, I was sure to find them, either just rising or just setting. (DC 231)

Über die Beschreibung der Unbehagen erregenden Augen und der verschiedenen Blicke wird deutlich, dass das Problem ist, dass Uriah eben nicht nur (von David) angesehen und klassifiziert wird, sondern dass er zurückschaut. Die Bedeutung des Auges für soziale Interaktion und gegenseitige Einordnung wird besonders schön von dem Soziologen Georg Simmel auf den Punkt gebracht, der in seinem Essay „Soziologie der Sinne“ von 1907 die „völlig einzigartige soziologische Leistung“ des Auges, die eine „völlig neue und unvergleichliche Beziehung“ zwischen Menschen schaffe, hervorhebt: Die Enge dieser Beziehung wird durch die merkwürdige Tatsache getragen, dass der auf den andern gerichtete, ihn wahrnehmende Blick selbst ausdrucksvoll ist, und zwar gerade durch die Art, wie man den andern ansieht. In dem Blick, der den andern in sich aufnimmt, offenbart man sich selbst; mit demselben Akt, in dem das Subjekt sein Objekt zu erkennen sucht, gibt es sich hier dem Objekte preis. Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben. Das Auge entschleiert dem andern die Seele, die ihn zu entschleiern sucht.35

Diese Reziprozität des Blickes wird, wie wir gerade gesehen haben, in Hinblick auf Uriah immer wieder herausgestellt – Uriahs Augen sind somit nicht nur typisierendes Attribut, sondern spielen auch eine Rolle in einem komplexen Wechselverhältnis von Selbst- und Fremdwahrnehmung. Auch hiermit wird wieder das Unbehagen des Erzähler-Protagonisten David angesichts seiner eigenen prekären sozialen Position deutlich. So trägt die Art und Weise, wie die Figur des Uriah Heep als Typ dargestellt ist, dazu bei, eine Klassenproblematik zu inszenieren, die vom Erzähler selbst kaum explizit thematisiert wird.36 35

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Simmel, Georg, „Soziologie der Sinne“, in: Ders., Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen, Frankfurt am Main 2008 [1873], S. 279. Eine Frage, die sich hier stellen mag, ist, inwieweit man davon sprechen könnte, dass Dickens selbst Davids widersprüchliche Haltung bewusst kritisieren wollte – oder ob nur eine Lesart „gegen den Strich“ blinde Flecken im Klassenbewusstsein der Zeit und auch des Autors aufzeigen kann. Ich glaube nicht, dass diese Frage sich abschließend klären lässt, finde aber John O. Jordans Sichtweise einleuchtend: „The evasions and distortions of reality in the novel belong to the narrator, not the author, and it is thus David rather than Dickens on whom I wish to focus. The

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Lebensweltliche Stereotype werden in der Darstellung von Uriah Heep also einerseits inszeniert und damit affirmiert, andererseits aber auch auf subtile Weise in Frage gestellt. Der Rezipient, der für die impliziten Widersprüche empfänglich ist, oszilliert dabei zwischen verschiedenen Rezeptionshaltungen und Bewertungen. Interessant ist dabei, dass dieses Oszillieren an keiner Stelle damit zusammenhängt, dass man die Figur des Uriah als stärker individualisiert wahrnehmen würde. Die Kategorisierung Uriahs wird von den Lesern zwar (zumindest potentiell) als Konstruktion des erlebenden Ich erkannt, gleichzeitig aber auch mit vollzogen und vom autoritativen erzählenden Ich letztendlich bestätigt. Besonders interessant ist die Frage nach dem Verhältnis von inneren und äußeren Eigenschaften: Diese bleiben direkt aufeinander bezogen; was aber eingeführt wird, ist eine weitere Ebene, die zur Reflexion einlädt, da demonstriert wird, wie auf der Figurenebene Kategorisierung und subjektive Verzerrung ineinander spielen. Die Thematik von Selbst- und Fremdwahrnehmung, die mit Hilfe der typisierten Figur verhandelt wird, ist natürlich besonders zentral für einen Roman, in dem es um die Frage geht, wie ein Mensch mit dem von Urbanisierung und Industrialisierung beschleunigten Zerfall befestigter traditioneller sozialer Strukturen zurande kommt. Das ist aber nur eine von verschiedenen möglichen thematischen Funktionen von Typisierung – würde man sich weitere Figuren anschauen, wie z. B. den ebenfalls geradezu unvergesslichen Typ Mr. Micawber, würde man auf andere Themenkomplexe kommen – in dessen Fall z. B. die Frage nach der Rolle unserer Vorstellungen von „Entwicklung“ für unser Menschenbild.37

37

extent to which Dickens is also implicated in these evasions is a question I find difficult to answer. There is evidence external to the text of Copperfield that Dickens shared David’s anxieties about social class. I believe, however, that Dickens was more open in his writings to the contradictions that they produce, and therefore that he was able to expose the limitations and self-deceptions of David’s perspective.“ (Jordan, John O., „The Social Subtext of David Copperfield“, in: Dickens Studies Annual, 14/1985, 61–92, hier S. 64). Indizien, die für eine kritische Autorintention sprechen, sind etwa die deutliche alter-ego-Struktur, die oben bereits erwähnten intertextuellen Bezüge auf die Bibel über die Namensgebung sowie die explizite Diskurskritik in der Steerforth-Dartle-Passage. Eine weitere These zur Funktion von typisierter Figurendarstellung bei Dickens ist, dass die Reduktion von Personen auf einige wenige relevante Merkmale eine neue Art der Wahrnehmung inszeniert, die mit der Urbanisierung zusammenhängt: In der Großstadt, in der man ständig mit neuen Menschen interagieren muss, ist man gezwungen, Informationen sehr viel schneller und effektiver zu verarbeiten (vgl. Williams, Raymond, The English Novel from Dickens to Lawrence, London 1970, S. 32f.). Für die Analyse von David Copperfield scheint mir diese These allerdings nicht so zentral zu sein, weil die Wahrnehmung der Großstadt als eines

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Mit der ausführlichen Analyse der Darstellung des Uriah Heep wollte ich zum einen zeigen, wie komplex die Funktionen einer stark typisierten Figur bei Dickens – und sicherlich auch bei anderen Autoren – sein können: Sie beschränken sich nicht auf komische Effekte oder narrative Ökonomie durch leichte Wiedererkennung, sondern sie können LeserInnen etwa dazu animieren, sich mit Fragen wie der nach der Architektur und Wirkung sozialer Stereotype oder nach dem Verhältnis von Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinanderzusetzen. Genauso gut möglich ist es allerdings, solche Feinheiten auszublenden, Uriah Heep einfach als melodramatischen Schurken zu lesen und sich über das Finale zu freuen, in dem er genüsslich entlarvt wird. Das Modell von Ralf Schneider hilft dabei, genauer zu beleuchten, warum solch vielschichtige Lesarten möglich sind: Das hängt vor allem damit zusammen, wie der Text zu einer Vermischung von sozialen und literarischen Kategorisierungen anregt. Besonders der literarischen Kategorisierung kommt in Dickens’ Texten eine Schlüsselrolle zu, weil sie einerseits dazu beiträgt, dass wir soziale Stereotype und Bewertungen naturalisieren, andererseits aber – an den Stellen, an denen Widersprüche auftreten – auch gerade diese Naturalisierungen wieder in Frage stellt. Literarische Kategorisierung ist dabei keineswegs abhängig von bildungsbürgerlichem Spezialwissen, sondern wird in Dickens’ Texten oft durch Bezüge auf ganz grundlegende Textkompetenzen wie Kenntnisse über Schwarz-weiß-Zeichnungen in Märchen oder im Melodrama bedingt.

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unübersichtlichen Lebensraums darin keine so wichtige Rolle spielt. Weiterreichend und gerade für diachrone Analysen sehr hilfreich scheint mir in diesem Zusammenhang aber Lauster, Martina, „Physiognomy, Zoology, and Physiology as Paradigms in Social Sketches of the 1830s and 40s“, in: Melissa Percival/Graeme Tytler (Hrsg.), Physiognomy in Profile: Lavater’s Impact on European Culture, Newark 2005, S. 161–179. Lauster zeigt, wie sich im 19. Jahrhundert physiognomische, soziologische und anatomische Diskurse überlappen, um den Zeitgenossen die Orientierung in einer stark veränderten Lebenswelt zu erleichtern.

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Forschung Case, Alison, „Gender and History in Narrative Theory: The Problem of Retrospective Distance in David Copperfield and Bleak House“, in: James Phelan/Peter J. Rabinowitz (Hrsg.), A Companion to Narrative Theory, Malden (MA), Oxford 2005, S. 312–321. Eder, Jens, Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008. Fludernik, Monika, „The Eighteenth-Century Legacy“, in: David Paroissien (Hrsg.), A Companion to Charles Dickens, Malden (MA) 2008, S. 65–80. Forster, Edward M., Aspects of the Novel, New York 1954 [1927]. Goetsch, Paul, Dickens. Eine Einführung, München, Zürich 1986. Hochman, Baruch, Character in Literature, Ithaca, London 1985. Hollington, Michael, „Dickens, ‚Phiz‘ and Physiognomy“, in: Joachim Möller (Hrsg.), Imagination on a Long Rein: English Literature Illustrated, Marburg 1988, S. 125–135. Hollington, Michael, „Physiognomy in Hard Times“, in: Dickens Quarterly, 9/1992, 2, S. 58–66. Jordan, John O., „The Social Subtext of David Copperfield“, in: Dickens Studies Annual, 14/1985, S. 61–92. Lauster, Martina, „Physiognomy, Zoology, and Physiology as Paradigms in Social Sketches of the 1830s and 40s“, in: Melissa Percival/Graeme Tytler (Hrsg.), Physiognomy in Profile: Lavater’s Impact on European Culture, Newark 2005, S. 161–179. Maack, Annegret, Charles Dickens. Epoche – Werk – Wirkung, München 1991. Macdonald, Tara „ ‚Red-headed animal‘: Race, Sexuality and Dickens’s Uriah Heep“, in: Critical Survey, 17/2005, 2, S. 48–62. Pfister, Manfred, Das Drama. Theorie und Analyse, München 2001 [1977]. Schneider, Ralf, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans, Tübingen 2000. Simmel, Georg, „Soziologie der Sinne“, in: Ders., Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen, Frankfurt 2008 [1873], S. 275–289. Tambling, Jeremy, „Introduction“, in: Charles Dickens, David Copperfield, London 2004 [1996], S. xi-xli. Williams, Raymond, The English Novel from Dickens to Lawrence, London 1970. Wolf, Werner, „Gesichter in der Erzählkunst: Zur Wahrnehmung von Physiognomien und Metawahrnehmung von Physiognomiebeschreibungen aus theoretischer und historischer Sicht am Beispiel englischsprachiger Texte des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: Sprachkunst, 33/2002, S. 301–325.

Ideenträger und Ideenzerstörer

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Friederike Carl (Freiburg i. Br.)

Ideenträger und Ideenzerstörer Figuren in Dostoevskijs Besy (Böse Geister )1

I.

Entstehung und Intentionen

Im Mittelpunkt von Dostoevskijs Roman Böse Geister steht eines der zentralen Themen der russischen Literatur und Philosophie schlechthin, nämlich die bis heute brisante Frage nach dem Verhältnis Russlands zu Westeuropa. Im Unterschied zu Schriftstellern wie Ivan Turgenev, die erklärte Anhänger westlicher Ideen sind, wendet sich Dostoevskij in mehreren Texten der 1860er und 1870er Jahre explizit gegen westliches Gedankengut. In seinen Augen ist Russland durch die verschiedenen aus Westeuropa stammenden atheistisch-sozialistischen Ideologien geschwächt worden; es läuft Gefahr, endgültig zerstört zu werden. Dostoevskij sieht diese These durch ein reales Ereignis bestätigt: Im Jahre 1869 wird ein junger Student, der einer revolutionären Gruppierung angehört, von den Mitgliedern dieses Kreises ermordet. Den Auftrag zu dieser Bluttat erteilt der Anführer, ein Mann namens Neˇcaev, der nicht zulassen will, dass sich der Student von seiner Bewegung lossagt. Der Fall wird in vielen Zeitungen in allen Einzelheiten geschildert; während des Prozesses kommt schließlich auch ein terroristisches Manifest 1

Wie die deutsche Rezeption zeigt, ist der russische Titel Besy schwer zu übersetzen. Übertragungen wie Die Dämonen, Die Teufel, Die Besessenen oder Böse Geister geben die semantische Vielschichtigkeit des russischen Substantivs besy nur unzureichend wieder, denn dieses umfasst tatsächlich „ein ganzes Wortfeld“: Gemeint sind „düster-‚dämonische‘ Gewalten und unheimliche Kräfte, die andere in ihren Bann schlagen und zu (selbst)zerstörerischen Handlungen verleiten, kleine ‚Teufel‘, ‚böse‘ Geister, die Krankheiten bringen und Menschen quälen an Leib und Seele“; besy sind aber auch „die pfiffig-frechen Figuren der russischen Volksmythologie, kleine Kobolde und Naturbürschchen, die verwirren und verschrecken und tolldreisten Schabernack treiben […] – unheimlich, aber harmlos“. (Schult, Maike, „Die Dämonen“, in: Birgit Harreß (Hrsg.), Dostoevskijs Romane, Stuttgart 2005, S. 64–90, hier S. 66; vgl. auch Braun, Maximilian, Dostojewskij. Das Gesamtwerk als Vielfalt und Einheit, Göttingen 1976, S. 185f.) Die Übersetzung Böse Geister, die Swetlana Geier für ihre Neuübertragung des Romans gewählt hat (Fjodor Dostojewskij, Böse Geister, übersetzt von Swetlana Geier, Frankfurt am Main 2000), gibt das russische Wort besy am genauesten wieder, daher werde ich im Folgenden entweder ihre Übersetzung oder den Originaltitel anführen.

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zu Tage, welches an den frühsozialistischen Schriften Fouriers orientiert ist. Dieses Ereignis gibt Dostoevskij den entscheidenden Anstoß, sein Romanprojekt zu verwirklichen. Er verarbeitet teilweise die politischen Programme und Ziele der Gruppe; der Drahtzieher des Kreises Neˇcaev findet seine literarische Umsetzung in der Gestalt des Petr Verchovenskij, der als politischer Agitator die Handlung vorantreibt.2 Das Vorhaben, einen Roman über die terroristischen und revolutionären Gruppen im zeitgenössischen Russland zu schreiben, tritt im Laufe der Arbeit jedoch immer stärker in den Hintergrund. Bereits Jahre zuvor hatte Dostoevskij mit dem Gedanken gespielt, einen religiös-philosophischen Roman mit dem Titel Das Leben eines großen Sünders zu schreiben.3 Nach dem Necˇ aev-Prozess entwirft er nun in einem Brief an Apollon Majkov vom 21. Oktober 1870 in groben Zügen eine erste Skizze des Romans, in der er diese metaphysisch-geistige Thematik mit den zeitgenössischen politischen Ereignissen verknüpft: Bes« v«Пli iz russkogo љeloveka i voПli v stado svine“, to estц v Neљaev«h, v Serno-Solovцeviљe“ i proљ. Te potonuli ili potonut naverno, a iscelivПi“sѕ љelovek, iz kotorogo v«Пli bes«, sidit u nog Iisusov«h. Tak i dolхno b«lo b«tц. Rossiѕ v«blevala von Њtu pakostц, kotoroї ee okormili, i, uх koneљno v Њtih v«blevann«h merzavcah ne ostalosц niљego russkogo. […]. Nu, esli hotite znatц, – vot Њta-to i estц tema moego romana. On naz«vaetsѕ „Bes«“, i Њto opisanie togo, kak Њti bes« voПli v stado svine“.4

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3

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Zum Einfluss des Neˇcaev-Falls auf Dostoevskijs Roman vgl. Braunsperger, Gudrun, Sergej Neˇcaev und Dostoevskijs Dämonen. Die Geburt des Romans aus dem Geist des Terrorismus, Frankfurt am Main u. a. 2002. Zur Entstehungsgeschichte des Romans vgl. z. B. Fuchs, Ina, Die Herausforderung des Nihilismus. Philosophische Analysen zu F. M. Dostojewskijs Werk „Die Dämonen“, München 1987, S. 19–26; Kluge, Rolf-Dieter, „ ‚Die Dämonen‘ der Revolution“, in: Heinz Setzer/Ludolf Müller/Rolf-Dieter Kluge (Hrsg.), Fjodor Michailowitsch Dostojewski – Dichter, Denker, Visionär, Tübingen 1998, S. 89–110, hier S. 90–92. „Die Bösen Geister sind aus den Russen in eine Herde Säue gefahren, d. h. in Neˇcaevs, Serno-Solov’eviˇcs und andere, diese sind ersoffen oder werden bestimmt ersaufen, der Geheilte aber, den die Teufel verlassen haben, sitzt zu Füßen Jesu. So musste es auch kommen. Russland hat diesen Unflat, mit dem man es überfüttert hat, ausgespieen, und in diesen ausgespieenen Schurken ist natürlich nichts Russisches übrig geblieben. […] Nun, wenn Sie es wissen wollen – das ist das Thema meines Romans. Er heißt Böse Geister und stellt dar, wie diese Geister in eine Herde Säue fahren.“ (Dostoevskij, F. M., „A. N. Majkovu“, 21. oktjabrja 1870. [„Brief an A. N. Majkov. 21. Oktober 1870.“], in: Polnoe sobranie soˇcinenij, Bd. 29, Vasilij G. Bazanov u. a. [Hrsg.], Leningrad 1986, S. 144–147, hier S. 145. Die Übersetzung stammt von mir, F. C.).

Ideenträger und Ideenzerstörer

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In seinem Brief greift Dostoevskij eine bekannte Stelle aus dem Neuen Testament auf: die Erzählung von den bösen Geistern, die von Jesus ausgetrieben werden und in eine Herde Säue fahren (Lukas 8, 32–36). Eben diesen Text wird er dem Roman später auch als Motto voranstellen. Der Rekurs auf das Bibelzitat lässt erkennen, wie eng Religion und Politik bei Dostoevskij verwoben sind. Beide Ebenen können, wie im Folgenden genauer gezeigt werden soll, auch in der Figurenkonzeption des Romans beobachtet werden.

II.

Inhalt und Figurenkonstellation

Ähnlich wie Turgenevs 1862 erschienener Roman Otcy i deti (Väter und Söhne) handelt auch Besy von einem Generationenkonflikt. Die Geschichte des politischen Mordes verknüpft Dostoevskij mit den Söhnen, d. h. mit Petr Verchovenskij und seinen Anhängern, während er die Väter in der Figur des Stepan Trofimoviˇc Verchovenskij repräsentiert. Dieser ist Idealist, Ästhet und Verehrer der deutschen Philosophie; er verbringt sein Leben in einer Provinzstadt im Haus der reichen Generalswitwe Varvara Stavrogina, deren Sohn Nikolaj Stavrogin er erzogen hat. Diese westliche Prägung macht Dostoevskij für die Entwicklung Stavrogins zu einem gleichgültigen und indifferenten Menschen verantwortlich. Zu Beginn der Romanhandlung, die sich in einem Zeitraum von drei Wochen abspielt, taucht Stavrogin überraschend in seiner Heimatstadt auf; zur selben Zeit tritt auch der Sohn Stepan Trofimoviˇcs, Petr Verchovenskij, in Erscheinung, der Stavrogin für seine revolutionären Ziele, nämlich den Umsturz der alten Ordnung, gewinnen will. Stavrogin, der Petr bereits aus Sankt Petersburg kennt und dort mit ihm revolutionäre Ideen diskutiert hat, ist daran jedoch nicht interessiert. Trotz seines passiven Verhaltens – er hält sich meist von den anderen Figuren und dem jeweiligen Geschehen fern – ist er der Mittelpunkt der Handlung. Dabei ist er von vier Männern und vier Frauen umgeben. Einige dieser männlichen Figuren, die als Träger bestimmter gegensätzlicher Ideen betrachtet werden können, werden später noch genauer analysiert. Vorerst sollen kurz die Frauen in Stavrogins Umfeld genannt werden: das kleine Mädchen, das er zugrunde richtet; die hinkende Geisteskranke, die er aus Lust an der Grenzüberschreitung geheiratet hat; die Adelige Liza, die ihn leidenschaftlich liebt und die von einer aufgebrachten Menge umgebracht wird, sowie Daˇsa, die ihn bis zu seinem Selbstmord durch ihre mütterliche Liebe an sich bindet. All diese weiblichen Figuren dienen dazu, Stavrogins ‚wahres‘ Wesen zu entlarven. Der dramatische Höhepunkt des Romans ist das Fest bei der Gouverneurin Julija von Lembke, das durch Petr Verchovenskijs Intrigen zu einer

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Orgie ausartet; als darüber hinaus auch noch die Nachricht eines Brandes in der Stadt überbracht wird, gerät alles durcheinander. Im Folgenden werden die Tode sämtlicher Figuren erzählt: Marja Lebedkina, Stavrogins legitime Ehefrau, wird zusammen mit ihrem Bruder von Petr Verchovenskij ermordet, der auch den Revolutionär Satov erschießt; Kirillov, ein weiterer Revolutionär, begeht Selbstmord; Stepan Trofimoviˇc stirbt bei dem Versuch, aus Varvara Stavroginas Haus zu fliehen. Der Roman endet mit dem Tod Stavrogins, der sich im Haus seiner Mutter erhängt.

III.

Figuren als Ideenträger und Ideenzerstörer

Dass Dostoevskij seine Figuren als Träger verschiedener zeitgenössischer Ideologien und Weltanschauungen konzipiert, ist vor dem Hintergrund der scharfen Zensur des zaristischen Russlands im späten 19. Jahrhundert zu betrachten, die durch ihre Repressionen gegen öffentliche Publikationsorgane die Intellektuellen daran hinderte, philosophisch-weltanschauliche Fragen öffentlich zu diskutieren. Aus diesem Grund wurden Auseinandersetzungen mit westlichem Gedankengut in dieser Zeit überwiegend im Medium der fiktionalen Literatur ausgetragen; d. h., man bediente sich komplexer literarischer Verfahren, um auf diese Weise gleichsam verschlüsselt verschiedene von der Zensur verbotene Themen zu behandeln. Dies ist unter anderem auch ein Grund dafür, dass sich in Dostoevskijs kunstvoll erzähltem Roman ein ausgesprochen breites Spektrum an Figuren findet, die bestimmte Ideen verkörpern: Es treten nicht nur Nihilisten auf, sondern auch Atheisten, Sozialisten, Fourieristen, Slavophile und Westler. Der Schriftsteller verbindet, wie Bachtin in seiner großen Dostoevskij-Studie treffend formuliert, „Ideen und Weltanschauungen, die in der Wirklichkeit völlig isoliert und taub für einander [sind], und [zwingt] sie, miteinander zu streiten.“5 Die Ideenträger sind bei Dostoevskij jedoch nicht klar konturiert, sie wirken geradezu desorientiert, da sie einerseits bis zur Selbstaufgabe irgendwelche Pläne und Vorhaben verfolgen, andererseits aber nicht eins sind mit sich selbst und den Ideen, die sie verkörpern; vielmehr stehen sie häufig zu diesen im Widerspruch und fechten deshalb große innere Kämpfe aus.6 Mit anderen Worten: Die Figuren bemühen sich vergeblich, Wissen zu repräsentieren und dieses als gültig und unverbrüchlich zu behaupten. Sie sind weniger 5

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Bachtin, Michail, Probleme der Poetik Dostoevskijs, übersetzt von Adelheid Schramm, München 1971, S. 102. Vgl. Schult, „Die Dämonen“, S. 76.

Ideenträger und Ideenzerstörer

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Helden als Experimentatoren, und zwar deshalb, weil sie nicht an eine teleologische Vorbestimmtheit der menschlichen Existenz glauben und dementsprechend gezwungen sind, sich selbst immer wieder neu zu ‚erfinden‘. So wird ideologisches und anthropologisches Wissen in Dostoevskijs Roman nicht nur theoretisch reflektiert, sondern darüber hinaus dem Leser quasi in den Figuren ‚vorgelebt‘. Im Folgenden sollen diese Verfahren der Figurenmodellierung anhand der Gestalten Nikolaj Stavrogin, Satov, Kirillov und Petr Verchovenskij genauer betrachtet und hierauf in Bezug zu Dostoevskijs eigenen Anschauungen gesetzt werden. Diese Figuren wurden gewählt, weil sich an ihnen besonders anschaulich die literarischen Techniken des Autors aufzeigen lassen; außerdem verkörpern diese Gestalten zwei zentrale Themen des Romans: So stehen Stavrogin und dessen Anhänger Kirillov und Satov für das Ideelle und Metaphysische, während Petr Verchovenskij das Politische und Diesseitige symbolisiert. III.1. Stavrogin – ideelles und kompositorisches Zentrum des Romans Im Figurengeflecht des Romans ist der junge Adelige Nikolaj Stavrogin der Mittelpunkt, um den herum sich Menschen, Dinge und Situationen entwickeln. Stavrogin wird von Anfang an als widersprüchlich und gespalten dargestellt: Er ist auf der einen Seite mit positiven Anlagen ausgestattet: intelligent, mutig, schön und fähig, die Figuren des Romans von seinen Ideen zu überzeugen und für diese zu begeistern. Besonders drastisch wird diese Ergebenheit gegenüber Stavrogin von Petr Verchovenskij, dem Drahtzieher der revolutionären „Fünfergruppe“, beschrieben: „V« naљalцnik, v« sila; ѕ u vas tolцko sobaku budu, sekretarem.“ (S. 298)7 „V« imenno takogo nado, kak v«. ® nikogo, krome vas, ne znaї. V« predvoditelц, v« solnce, a ѕ vaП љervѕk …“ (S. 324)8 7

8

Die den russischen Zitaten nachgestellten Seitenangaben beziehen sich hier und im Folgenden stets auf diese Ausgabe: Dostoevskij, Besy, in: Polnoe sobranie soˇcinenij, Vasilij G. Bazanov u. a. (Hrsg.), Bd. 10, Leningrad 1974. „ ‚Sie sind der Führer, Sie sind die Kraft; ich werde nur Ihr Hund sein, Ihr Sekretär.‘ “ – „ ‚Sie, Sie brauche ich, ohne Sie bin ich ein Niemand. Sie sind der Erfinder, Sie sind die Sonne, und ich bin der Wurm …‘ “ (Wenn nicht anders vermerkt, folgen die deutschen Übertragungen des Romans der Neuübersetzung von Swetlana Geier: Fjodor Dostojewskij, Böse Geister, Frankfurt am Main 2000; die den deutschen Zitaten nachgestellten Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. Die gerade angeführten Passagen wurden allerdings von mir wortgetreu übersetzt, da die Übertragung von Swetlana Geier [vgl. ebd., S. 508, 552] hier für meine Zwecke zu frei ist.).

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Bereits hier wird deutlich, dass auf Stavrogin metaphysische und pseudo-religiöse Konzepte bezogen werden, während Petr Verchovenskij sich selbst als identitätslos darstellt, als Mensch, dessen Handeln von Stavrogins geistiger Größe ganz und gar abhängig ist. Auf der anderen Seite aber ist Stavrogin selbst von einer solchen inneren Indifferenz gekennzeichnet, dass alle Ideen, die er propagiert, für ihn zu Leerformeln werden. Um sich für kurze Zeit Befriedigung zu schaffen, überschreitet er alle moralischen Grenzen, indem er kaltblütig mordet und ein Kind sexuell missbraucht und in den Selbstmord treibt. Dabei beobachtet er sein Handeln ohne jede innere Beteiligung; er begeht seine schrecklichen Verbrechen bei vollem Bewusstsein und mit nüchterner Präzision, so als führe er ein wissenschaftliches Experiment durch. Am Anfang des Romans jedoch wird die Figur des Stavrogin zunächst eher positiv gezeichnet. In seinem Auftreten, wie der Erzähler es schildert, liegt nichts Niederträchtiges, auch nicht in seinen Reden und in seinem Verhalten: Ѓto b«l oљenц krasiv«“ molodo“ љelovek, let dvadcati pѕti, i priznaїsц, porazil menѕ. ® хdal vstretitц kakogo-nibudц grѕznogo oborvanca, ispitogo ot razvrata i otdaїНego vodko“. Naprotiv, Њto b«l sam«“ izѕНn«“ dхentlцmen iz vseh, kotor«h mne kogda-libo prihodilosц videtц, љrezv«љa“no horoПo odet«“, derхavПi“ sebѕ tak, kak mog derхatц sebѕ tolцko gospodin, priv«kПi“ k samomu utonљennomu blagoobraziї. […] vse u nas, љutц ne s pervogo dnѕ, naПli ego љrezv«љa“no rassuditelцn«m љelovekom. On b«l ne oљenц razgovorљiv, izѕНen bez iz«skannosti, udivitelцno skromen i v to хe vremѕ smel i samouveren, kak u nas nikto. […] Porazilo menѕ toхe ego lico: volos« ego b«li љto-to uх oљenц љern«, svetl«e glaza ego љto-to uх oљenц spoko“n« i ѕsn«, cvet lica љto-to uх oљenц neхen i bel, rumѕnec љto-to uх sliПkom ѕrok i љist, zub« kak хemљuхin«, gub« kak korallov«e, – kazalosц b«, pisan«“ krasavec, a v to хe vremѕ kak budto i otvratitelen. Govorili, љto lico ego napominaet masku; vproљem, mnogie govorili, meхdu proљim, i o љrezv«љa“no“ telesno“ ego sile. (S. 37)9 9

„Er war ein sehr schöner junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, und wie ich zugeben muß, er überraschte mich. Ich hatte einen schmutzigen Landstreicher erwartet, infolge seines lasterhaften Lebenswandels verfallen und nach Wodka riechend. Ganz im Gegenteil, er war der eleganteste Gentleman, der mir je vor Augen gekommen ist, vorzüglich gekleidet und mit einer Haltung, wie sie nur ein an feinsten Anstand gewöhnter Herr zeigen kann. […] Fast vom ersten Tag an befanden bei uns alle, daß er ein außerordentlich vernünftiger Mensch sei. Er war nicht sonderlich gesprächig, elegant ohne Affektation, erstaunlich bescheiden, dabei ungezwungen und selbstbewußt wie sonst niemand bei uns. […] Auch sein Gesicht überraschte mich: Sein Haar war gar zu schwarz, seine hellen Augen gar zu ruhig und klar, der Teint gar zu zart und weiß, das Rot der Wangen gar zu stark und rein, Zähne wie Perlen, Lippen wie Korallen – man sollte meinen, er war ein

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Der überwiegend positive Eindruck von Stavrogin – der gleichzeitig durch den Kommentar des Erzählers, der Sohn der Generalswitwe sei allzu ‚perfekt‘ und dadurch abstoßend, zurückgenommen wird – wird auch durch den einleitenden Bericht Petr Verchovenskijs verstärkt, der beim ersten Zusammentreffen aller Figuren die nur als Gerüchte kursierenden Ausschweifungen Stavrogins als „ritterliche Taten“ bezeichnet und damit das Misstrauen abschwächt, das dem jungen Mann in der Provinzstadt entgegenschlägt. Auch der Erzähler trägt durch seine Kommentare zu Stavrogin immer wieder dazu bei, dass dessen andere, verborgene Seite zunächst verschleiert wird. Bis zu seiner „Beichte“, die er vor dem Bischof Tichon ablegt, bleiben Stavrogins Verbrechen im Dunkeln. Diese Beichte (Bei Tichon, Teil 2, Kapitel 9), wurde von der Zensur verboten und erst 1922 publiziert. Die zentrale Figur des Romans wird in der Urfassung in ein völlig neues Licht gerückt. In einer eingeschobenen Ich-Erzählung werden hier die wahren Verbrechen Stavrogins in klarer und unmissverständlicher Form präsentiert; sie heben sich deutlich von dem verschleiernden und verwirrenden Stil des Erzählers ab. Dieser versucht jedoch, Stavrogins Bericht herabzusetzen, indem er auf die zahlreichen orthographischen Fehler des Manuskripts hinweist und sich beim Leser für den unliterarischen Stil des Dokuments entschuldigt.10 Wie dieses von der Zensur verbotene Kapitel deutlich macht, verfügt Stavrogin über eine große Begabung, zum Guten genauso wie zum Bösen. Einerseits sagt er dem Bischof Tichon, dass er davon überzeugt sei, das ganze Leben als Mönch leben zu können; auf der anderen Seite gibt er deutlich zu verstehen, dass er an das Teuflische im Menschen glaubt.11

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Bild von einem Mann, aber gleichzeitig irgendwie abstoßend. Man sagte, sein Gesicht erinnere an eine Maske, übrigens wurde damals vieles gesagt, unter anderem über seine ungewöhnlichen Körperkräfte.“ (S. 57f.). So äußert sich der Erzähler über Stavrogins „Beichte“ folgendermaßen: „® pozvolil sebe liПц ispravitц orfografiљeskie oПibki, dovolцno mnogoљislenn«e i daхe neskolцko menѕ udivivПie, tak kak avtor vse-taki b«l љelovekom obrazovann«m i daхe naљitann«m (koneљno, sudѕ otnositelцno). V sloge хe izmeneni“ ne sdelal nikakih, nesmotrѕ na nepravilцnosti i daхe neѕsnosti. Vo vsѕkom sluљae ѕvno, љto avtor preхde vsego ne literator.“ (Dostoevskij, „Besy. Glava ‚U Tichona‘ “, in: Polnoe sobranie soˇcinenij, Vasilij G. Bazanov u. a. [Hrsg.], Bd. 11, Leningrad 1974, S. 12; „Ich habe mir erlaubt, lediglich die orthographischen Fehler zu verbessern, die ziemlich zahlreich waren und mich sogar einigermaßen in Verwunderung setzten, da der Autor immerhin als gebildet und sogar belesen (natürlich relativ) gelten konnte. Am Stil habe ich nichts verändert, ungeachtet aller Regelwidrigkeiten und sogar Unklarheiten. Jedenfalls ist es offenkundig, daß der Verfasser keineswegs ein Literat war.“ S. 570). Vgl. Dostoevskij, „Besy. Glava ‚U Tichona‘ “, in: Polnoe sobranie soˇcinenij, Bd. 11, S. 9f.

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Im Gespräch mit Tichon wird dementsprechend deutlich, dass Stavrogin sich mit klarem Bewusstsein für das Böse und Unsittliche, für den „Frevel an Gott“ und an seiner Schöpfung, dem Menschen, entscheidet. Dostoevskij deutet die Auseinandersetzung Stavrogins mit der Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz Gottes und seine ständige Rebellion gegen christliche Werte bereits in seinem Namen an; Stavros bedeutet im Griechischen „Kreuz“. Betrachtet man die Figur vor dem Hintergrund von Dostoevskijs Auffassung von Russland als dem Gottesträgervolk, dem Volk, das durch seine Verwurzelung im Boden seine Reinheit bewahrt habe und daher zum Retter aller Nationen auserkoren sei, so eröffnet sich eine weitere Interpretationsmöglichkeit: Auf einer symbolischen Ebene des Romans erscheint Stavrogin als der Träger des Kreuzes, das Russland zu tragen hat. Dieses Kreuz ist der westliche Einfluss,12 den das russische Volk erdulden muss, bis es diesen schließlich „ausspeit“ und vernichtet. Nicht ohne Grund stellt Dostoevskij also seinem Roman das Bibelzitat aus dem Lukasevangelium voran, in dem die bösen Geister in die Schweine fahren und alle ertrinken. Die Faszination, die Stavrogin auf beinahe alle Figuren des Romans ausübt, symbolisiert in dieser Perspektive die grundsätzliche Bereitschaft Russlands, Gedanken aus dem Westen aufzunehmen. Stavrogin ist also nicht nur Träger philosophischer Ideen, er steht auch für das historische Schicksal Russlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. An ihm versucht Dostoevskij den zerstörerischen Prozess zu demonstrieren, der – in seiner Sicht – mit dem Eindringen westlicher Ideen und Philosophien in Russland begonnen hat. Die Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz Gottes, die Stavrogin beschäftigt, hat Dostoevskij in zwei weiteren Figuren ausführlicher entfaltet: in dem Studenten Satov und in dem Ingenieur Kirillov. III.2. Satov und Kirillov – zwei ‚Jünger‘ Stavrogins Satov vertritt slavophiles Gedankengut; er glaubt an eine Volksreligion und ist davon überzeugt, dass Russland das Gottesträgervolk sei, während der Bauingenieur Kirillov ein Vertreter des extremen Atheismus und Theoretiker des „Menschgottes“ ist und somit Gedanken Nietzsches vorweg12

Auf Stavrogins „verwestlichtes“ Wesen verweist auch der Schlusskommentar des Erzählers nach dessen Selbstmord; hier wird ausdrücklich seine nichtrussische Staatsangehörigkeit hervorgehoben: „Graхdanin kantona Uri visel tut хe za dverce“.“ (S. 515. – „Der Bürger des Kanton Uri hing unmittelbar hinter der kleinen Tür“; S. 931).

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nimmt.13 Die gegensätzlichen Lehren stammen beide von Stavrogin; sowohl Satov als auch Kirillov entwickelten ihre Überzeugungen in Gesprächen mit ihm, die jedoch bezeichnenderweise nicht in Russland, sondern in dem Land stattfanden, das Dostoevskij am negativsten bewertet und in dem sich alle hier besprochenen männlichen Figuren eine Zeit lang aufgehalten haben: Amerika.14 Satovs Lehre, dass Russland als Gottesträgervolk dazu bestimmt sei, im Namen eines neuen Gottes die Welt zu erlösen, wird besonders im Gespräch mit Stavrogin sichtbar. So erklärt er ihm gegenüber: „[…] Naprotiv, narod voznoПu do boga. […] Narod – Њto telo boхie. Vsѕki“ narod do teh tolцko por i narod, poka imeet svoego boga osobogo, a vseh ostalцn«h na svete bogov isklїљaet bezo vsѕkogo primireniѕ; poka veruet v to, љto svoim bogom pobedit i izgonit iz mira vseh ostalцn«h bogov. […]“ (S. 199)15

Auf den Einwand Stavrogins, Satov habe seine Lehre abgewandelt und Gott zu einem bloßen Element des Volkes reduziert, erwidert dieser, er habe im Gegenteil das Volk zu Gott erhoben. Die Suche nach „seinem“ Gott sei das innerste Wesen eines jeden Volkes. Diese Überzeugung ist jedoch unvereinbar mit dem Glauben an die Existenz des einen persönlichen Gottes. Dass es Satov nicht gelingt, an einen persönlichen Gott zu glauben, obwohl er dies leidenschaftlich wünscht, wird ebenfalls im Gespräch mit Stavrogin erkennbar: [Stavrogin zu Satov] „Veruete v« sami v boga ili net?“ / „Veruї v Rossiї, ѕ veruї v ee pravoslavie … ® veruї v telo Hristovo … ® veruї …“, zalepetal v isstuplenii Оatov. / „A v boga? V boga? ® … ѕ budu verovatц v boga.“ (S. 200f.)16 13

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16

Ausführlicher zu den Bezügen zu Nietzsche vgl. Fuchs, Die Herausforderung des Nihilismus, S. 197–237. Seine kritischen Ansichten formuliert Dostoevskij zum Beispiel in folgenden Abschnitten im Tagebuch eines Schriftstellers: „Vom ‚mächtigen, selbstbewussten und gleichzeitig kranken Jahrhundert‘. Betrachtungen über Westeuropa“; „ ‚Auf die Gesundung der Wurzeln konzentrieren‘: Asien ist unser Amerika“, in: Dostojewskij, Fjodor: Tagebuch eines Schriftstellers 1873 und 1876–1881. Eine Auswahl, aus dem Russischen von Günther Dalitz und Margit Bräuer. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Michael Wegner, Berlin 2003, S. 189–315, 371–420. „ ‚[…] Ich hebe das Volk zu Gott empor. […] Das Volk ist der Körper Gottes. Jedes Volk bleibt so lange ein Volk, wie es seinen besonderen Gott besitzt und alle anderen Götter auf der ganzen Welt gnadenlos ausschließt; solange es glaubt, mit seinem Gott zu siegen und alle anderen Götter aus der Welt zu vertreiben. […]‘ “ (S. 331). „ ‚[…] Glauben Sie selbst an Gott oder nicht?‘ / ‚Ich glaube an Rußland, ich glaube an seine Rechtgläubigkeit, ich glaube an den Leib Christi … Ich glaube, daß die

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Dostoevskij zeigt hier deutlich, dass der Student theoretisch von der Existenz Gottes überzeugt ist; gleichzeitig gibt er aber auch mit Hilfe seines Namens (Satov = Der Unsichere) zu verstehen, dass er in seinem Glauben schwankt. Vor dem Hintergrund von Dostoevskijs Weltbild, in dem der Glaube an Gott etwas ist, das jenseits jeglicher Rationalität existiert, erscheint Satov durch seine Äußerung eher als religiöser Eiferer, der unbedingt glauben will und sich einredet, dass er glauben kann, tatsächlich aber nicht dazu in der Lage ist: Die Figur ist nicht eins mit sich selbst und ihrer Idee. In Kirillovs Ideologie geht es nicht mehr um die Frage, ob es einen Gott gibt oder nicht; für ihn steht fest, dass Gott nicht existiert und dass die Gottesvorstellung lediglich ein Produkt der Angst des Menschen vor dem Tod ist. Wenn der Mensch diese Angst überwinde, könne er selbst Gott sein: „Фiznц estц bolц, хiznц estц strah, i љelovek nesљasten. Teperц vse bolц i strah. Teperц љelovek хiznц ne lїbit, potomu љto bolц i strah lїbit. I tak sdelali. […] Teperц љelovek eНe ne tot љelovek. Budet nov«“ љelovek, sљastliv«“ i gord«“. Komu budet vse ravno, хitц ili ne хitц, tot budet nov«“ љelovek. Kto pobedit bolц i strah, tot sam bog budet. A tot bog ne budet.“ (S. 93)17

Indem er, Kirillov, sich selbst erschießen werde, werde er als erster Mensch in der Geschichte die Angst vor dem Tod überwinden und dadurch beweisen, dass es keinen Gott gibt, sondern dass der Mensch selbst Gott ist. Während die beiden Figuren Satov und Kirillov bestimmte Ideen verkörpern, ist Petr Verchovenskij eine Art Vollstrecker der revolutionären Bewegung; das heißt, er besitzt keinerlei metaphysische Dimension.18 Diese Gestalt ist vielmehr diejenige, die Ideen zu Handlungen macht, skrupellos Morde begeht und dabei die anderen Figuren gegeneinander ausspielt. Er er-

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Wiederkunft Christi in Rußland geschehen wird … Ich glaube …‘, stotterte Schatow wie außer sich. / ‚Aber an Gott? An Gott?‘ / ‚Ich … Ich werde an Gott glauben.‘ “ (S. 333). „ ‚Leben ist Schmerz, Leben ist Angst, und der Mensch ist unglücklich. Jetzt ist alles Schmerz und Angst. Jetzt liebt der Mensch das Leben, weil er den Schmerz und die Angst liebt. So wurde es eingerichtet. […] Jetzt ist der Mensch noch nicht der richtige Mensch. Es wird ein neuer Mensch sein, glücklich und stolz. Wem es ganz egal sein wird, leben oder nicht leben, der ist der neue Mensch. Wer Schmerz und Angst überwindet, der wird selbst Gott sein. Und der andere Gott wird nicht sein.‘ “ (S. 151f.). Vgl. Petr Verchovenskijs oben bereits zitierte Selbstcharakterisierung gegenüber Stavrogin: „ ‚Sie sind der Führer, Sie sind die Kraft; ich werde nur Ihr Hund sein, Ihr Sekretär.‘ “ – „ ‚Sie, Sie brauche ich, ohne Sie bin ich ein Niemand. Sie sind der Erfinder, Sie sind die Sonne, und ich bin der Wurm …‘ “ (die Übersetzung stammt von mir, F. C.).

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schießt den Studenten Satov, zwingt jedoch den Theoretiker des Atheismus Kirillov, sich dieses Mordes schuldig zu bekennen und danach Selbstmord zu begehen. Die wahren Ursachen werden zwar durch das Geständnis eines Gruppenmitglieds aufgedeckt; doch ist Petr Verchovenskij bereits ins westliche Ausland geflohen.

IV.

Die Figuren vor dem Hintergrund von Dostoevskijs Menschen- und Russlandbild

Dostoevskijs Figurenkonzeption ist ohne sein religiöses Verständnis, sein Menschen- und Russlandbild kaum zu entschlüsseln. Nach seiner Rückkehr aus der sibirischen Festungshaft wandelt sich der Schriftsteller im Laufe der fünfziger Jahre vom christlich-utopischen Sozialrevolutionär zum bibelgläubigen, orthodoxen Christen und Monarchisten. Im Mittelpunkt seiner Weltanschauung steht dabei das russische einfache Volk.19 Ihm schreibt Dostoevskij herausragende Eigenschaften zu wie „Treuherzigkeit, Ehrlichkeit und einen weiten, für alles aufgeschlossenen Verstand“, „Reinheit und Sanftmut“.20 In der Annäherung von Intelligencija und Volk sieht der Schriftsteller die Lösung aller Probleme. So ruft er alle isolierten russischen Intellektuellen auf, zum Boden (poˇcva) und zum Volk ihres Heimatlandes zurückzukehren. Die geistige Elite des Landes solle in die Kollektivseele des Volkes eintauchen, um in diesem irrationalen Bereich eine neue, einende Macht zu finden. Dostoevskij ist davon überzeugt, dass der Sündenfall des Menschen 19

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Vgl. Neuhäuser, Rudolf, F. M. Dostojevskij: Die grossen Romane und Erzählungen. Interpretation und Analysen, Wien u. a. 1993, S. 21. In der jüngsten russischen Forschung wird darauf hingewiesen, dass der Schriftsteller bereits in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren im Petraˇsevskij-Kreis, in dem man vor allem frühsozialistische Theorien diskutierte, die Idee eines russischen Allmenschentums und einer besonderen Auserwähltheit des russischen Volks entwickelte; diese Anschauungen rücken jedoch erst in seinen späteren Werken in den Vordergrund. Vgl. Viktoroviˇc, V. A., „Slavjanskij proekt F. M. Dostoevskogo“, in: Rossija i slavjanskoj mir: Istorija, jazyk, kul’tura. Sbornik nauˇcnich trudov, Sergej Mituriˇc (Hrsg.), Moskva 2008, S. 11–41, S. 13f. Vgl. des Weiteren auch Neuhäuser, Dostojevskij, S. 21. „Oni sroslisц s duПo“ ego iskoni i nagradili ee naveki prostoduПiem i љestnostцї, iskrennostiї i Пirokim vseotkr«t«m umom […]“. (Dostoewskij, „O ljubvi k narodu. Neobchodimyj kontrakt s narodom“ („Über die Liebe zum Volk. Ein notwendiger Vertrag mit dem Volk“), in: Dostoewskij, Polnoe sobranie soˇcinenij, Bd. 22, S. 42–45, S. 43). Vgl. dazu auch Lavrin, Janko, Fjodor M. Dostojevskij, 25. Auflage, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 89.

252

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in der Loslösung vom Ganzen bestehe: in der Tendenz also, das eigene, persönliche Ich auf Kosten der Einheit zu bestätigen. Diese verlorene Einheit könne nur im Kollektiv zurückgewonnen, bewahrt und gestärkt werden. Das Kollektiv des russischen Volkes ist für Dostoevskij eng mit der russischen Orthodoxie und dem Konzept der sobornost’ verbunden, der christlichen Gemeinschaft, deren oberstes Prinzip die Nächstenliebe ist. Dieses russische Prinzip stellt Dostoevskij dem Westen gegenüber, wobei er den materialistischen Rationalismus als den typischsten Zug der westlichen Mentalität betrachtet. Die Phänomene Sozialismus, Atheismus und Nihilismus sind für ihn die schlimmsten Übel, die Westeuropa hervorgebracht hat.21 Figuren wie Stavrogin, Satov und Kirillov kommunizieren in Besy deutlich und unmissverständlich Dostoevskijs Anschauungen über die Eigenschaften des russischen Volkes und den verderblichen westlichen Einfluss. Ohne Zweifel handelt es sich dabei um eine sehr aggressive Auseinandersetzung mit der westeuropäischen Kultur und mit westeuropäischem Gedankengut. Alle Figuren des Romans sind von diesem westlichen Denken ‚infiziert‘. Denn trotz ihrer unterschiedlichen Ideen und Ideologien haben sie eines gemeinsam: ihr Streben nach Macht und Selbstbestimmung ihres Lebens. Dostoevskij stellt sie als Unglückliche dar, als Suchende, denen es nicht möglich ist, glücklich zu sein, da sie ihre eigene Individualität über alles stellen und in ihrem gnadenlosen Egoismus andere ins Verderben stürzen. Ihnen fehlt die „Verwurzelung im Boden“, der Bezug zum einfachen Volk und zu dessen unreflektiertem Glauben. Daher ist es nur konsequent, dass Dostoevskij seine nach Selbstverwirklichung strebenden Figuren sterben lässt oder dass sie dazu gezwungen werden, das „heilige Russland“ für immer zu verlassen. Dostoevskij gibt jedoch seinen Figuren immer wieder auch die Chance, aus ihrer Ichbezogenheit auszubrechen: So repräsentiert Bischof Tichon ein Wissen, das sich von den Ideologien der anderen Figuren fundamental unterscheidet, ein (in Dostoevskijs Augen) ‚echtes‘ und intuitives Wissen, das nicht rational angeeignet oder angefochten werden kann; im Gespräch mit ihm erhält auch Stavrogin die Möglichkeit, sich für den ‚richtigen‘ Weg, nämlich ein Leben in der christlich-orthodoxen Gemeinschaft, zu entscheiden. Stavrogin ist jedoch so in sich selbst eingeschlossen und in seinem Egoismus gefangen, dass er den Ausweg ablehnt, der ihm von Tichon vorgeschlagen wird. Ähnliches ist auch bei Kirillov zu beobachten: Auch er hat seine Wurzeln im Boden, seinen Kontakt zum russischen Volk, verloren und sein Denken der Idee unterworfen, selbst Gott zu werden. Die Verwirklichung des 21

Vgl. Dostoevskij, „Meˇcty o Evrope“ („Träume von Europa“), in: Polnoe sobranie soˇcinenij, Bd. 22, Vasilij G. Bazanov u. a. (Hrsg.), Leningrad 1981, S. 83–87.

Ideenträger und Ideenzerstörer

253

Menschgottes erweist sich nach Dostoevskij nicht als Triumph des Menschen, sondern als Zerstörung seiner Persönlichkeit. Und auch Satov, die Figur, deren Ideologie zumindest auf den ersten Blick mit Dostoevskijs Anschauungen von der Auserwähltheit des russischen Volkes am ehesten übereinstimmt, erweist sich als ganz und gar gefangen in den eigenen theoretischen Anschauungen; er wird als Eiferer entlarvt, der zwar an Gott glauben will, dazu aber nicht wirklich in der Lage ist. Dostoevskij zeichnet seine Figuren nicht ohne die Hoffnung, dass sie auf den ‚richtigen‘ Weg gelangen können. Daher fechten die Figuren des Romans große Kämpfe mit den Ideologien aus, die sie verkörpern, und stehen häufig – so wie ihr Initiator Stavrogin – zu ihnen in Widerspruch. Dies zeigt sich auch in der Art, wie sie präsentiert werden, in ihren Handlungen, ihrer Physiognomie, ihrer Sprache und ihren Gebärden. So gerät der zurückhaltende und schüchterne Satov, wenn es um seine Idee des russischen Volkes als Gottesträger geht, völlig außer sich, weshalb man ihn „zuerst an den Händen und Füßen fesseln und dann erst mit ihm diskutieren“ sollte.22 Auch Kirillovs Verhalten widerspricht seiner Ideologie: Er liebt Kinder, schätzt das Leben und nennt die Geburt eines Kindes ein Mysterium. Auch hat man bei Kirillov den Eindruck, dass das, was er in seiner Lehre verkündet, gewaltsam, gegen seinen Willen geschieht; denn er spricht von seinen Überzeugungen in einer Art, die „schroff und angewidert“ wirkt23 (S. 492); er „blickt[ ] unverwandt in eine Ecke“, während er redet (S. 493),24 und verwendet elliptische Sätze – alles Hinweise, die auf die Unsicherheit der Figur hinsichtlich ihrer Überzeugungen deuten. Wie die Betrachtung der einzelnen Charaktere zeigt, ist Dostoevskijs Roman durch eine ausgeprägte ‚Polyphonie der Ideen‘ gekennzeichnet, eine Polyphonie, die insofern von den Figuren gespiegelt wird, als diese sich häufig im Konflikt mit ihren eigenen Auffassungen befinden. Dostoevskijs eigene ideologische Positionen sind dabei freilich stets klar und deutlich zu erkennen; anders, als es Bachtin in seiner epochalen Untersuchung suggeriert,25 lassen sie sich beinahe in jeder Zeile des Romans identifizieren. Die verschiedenen Stimmen werden in Besy folglich keineswegs als gleichberechtigt und gleichwertig präsentiert; vielmehr werden bestimmte Positionen bzw. bestimmte Figuren entweder privilegiert oder aber unverhohlen kritisiert. 22

23

24 25

„Оatova nado snaљala svѕzatц, a potom uх s nim rassuхdatц“ (S. 27); so äußert sich Stepan Trofimoviˇc über Satov. So der Kommentar des Erzählers: „Kirillov obчѕsnѕlsѕ rezko i brezglivo“ (S. 290). „Kirillov […] opѕtц upersѕ glazami v ugol.“ (S. 290). Vgl. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, vor allem S. 103.

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V.

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Die Figur des Erzählers

Die klare Intention Dostoevskijs, die sich hinter seiner Figurenkonzeption verbirgt, steht indessen in schroffem Widerspruch zu der Art und Weise, wie die Ereignisse vermittelt werden. Das Geschehen wird in Besy von einem unzuverlässigen Ich-Erzähler26 präsentiert, der zwar Teil der Welt ist, über die er berichtet, über den der Leser jedoch nur sehr spärliche Informationen erhält.27 Zu Beginn gibt der Erzähler-Chronist namens Anton Lavren’teviˇc vor, eng mit Stepan Trofimoviˇc, dem Vertreter der liberalen, westlich orientierten Vätergeneration, befreundet und Mitglied seines Kreises zu sein. Von Anfang an allerdings wirkt diese Freundschaft wegen der ironischen Kommentare des Erzählers unglaubwürdig. So spottet er beispielsweise über die wissenschaftlichen Fähigkeiten seines Freundes: A meхdu tem Њto b«l vedц љelovek umne“Пi“ i darovite“Пi“, љelovek, tak skazatц, daхe nauki, hotѕ, vproљem, v nauke … nu, odnim slovom, v nauke on sdelal ne tak mnogo i, kaхetsѕ, sovsem niљego. No vedц s lїdцmi nauki u nas na Rusi Њto sploПц da rѕdom sluљaetsѕ. (S. 8)28

Inkonsequent ist auch die gesamte Erzählweise. Anton Lavrent’eviˇc berichtet nicht chronologisch; Vorausgriffe, Rückblenden und Exkurse wechseln sich ständig ab,29 Handlungsebenen werden verschachtelt und Handlungsfäden unterbrochen, so dass der Leser den Eindruck gewinnt, als wollte der Erzähler etwas verheimlichen und die kausalen Verhältnisse – sofern es diese überhaupt gibt – vertuschen.30 All diese Verfahren passen nicht zu der beflis26

27

28

29

30

Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept des „unzuverlässigen Erzählens“ vgl. Nünning, Ansgar (Hrsg.), Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 1998. Meine Analyse des Erzählers trifft sich in mehreren Punkten mit der bei Schult, „Die Dämonen“, S. 79–84. „Dabei war er wirklich ein außerordentlich kluger und begabter Mann, sogar ein Mann der Wissenschaft sozusagen, obwohl er übrigens in der Wissenschaft … Nun, in der Wissenschaft hatte er, kurz gesagt, nicht besonders viel oder, wie es scheint, gar nichts geleistet. Aber bei uns in Rußland ist das bei den Männern der Wissenschaft oft der Fall.“ (S. 11). Beispielsweise beginnt die „Chronik“, von der am Anfang des Romans die Rede ist, erst in der Mitte des ersten Teils: „Pristuplї teperц k opisaniї togo zabavnogo sluљaѕ, s kotorogo, po-nastoѕНemu, i naљinaetsѕ moѕ hronika.“ (S. 65; „Nun wende ich mich der Schilderung jener zum Teil amüsanten Begebenheit zu, mit der meine Chronik ihren eigentlichen Anfang nimmt.“ S. 84). Vgl. Schult, „Die Dämonen“, S. 80. Ein Beispiel für diese Taktik ist eine Passage aus dem zweiten Teil, in der der Erzähler über die Meuterei der Fabrikarbeiter be-

Ideenträger und Ideenzerstörer

255

senen und altklugen Art, die der Erzähler immer dann an den Tag legt, wenn er sein enzyklopädisches Wissen in den Erzählvorgang einflicht und dabei versucht, aus verschiedenen Versatzstücken den Hergang des verworrenen Geschehens zu rekonstruieren. Über einige Ereignisse scheint er offenkundig nicht Bescheid zu wissen, doch stellt er verschiedene, oft gewagte Hypothesen auf, um Licht ins Dunkel zu bringen.31 Verbirgt sich hinter der Fassade der Unfähigkeit nicht auch ein gewisses Maß an kalkulierter Irreführung? Dieser Verdacht, dass der Erzähler seine eigene Verstrickung vertuschen will, drängt sich vor allem durch den Umstand auf, dass Anton Lavren’teviˇc im Verlauf des Romans sich von seinem altliberalen Freund Stepan Trofimoviˇc zusehends distanziert und ein immer engeres Verhältnis zur jüngeren Generation, und damit auch zu den Mitgliedern der revolutionären Gruppe, entwickelt. So führt er ein langes Gespräch mit dem Nihilisten Ki-

31

richtet (vgl. das Kapitel „Flibustцer«. Rokovoe utro“, S. 335–353 / „Die Flibustier. Der verhängnisvolle Vormittag“, S. 615–645). Stepan Trofimoviˇcs Flucht am Ende des Romans kommentiert er wie folgt: „Predstavlѕlsѕ mne ne raz i eНe vopros: poљemu on imenno beхal, to estц beхal nogami, v bukvalцnom sm«sle, a ne prosto uehal na loПadѕh? ® snaљala obчѕsnѕl Њto pѕtidesѕtiletneї nepraktiљnostцї i fantastiљeskim ukloneniem ide“ pod vliѕniem silцnogo љuvstva. Mne kazalosц, љto m«slц o podoroхno“ i loПadѕh (hotѕ b« i s kolokolцљikom) dolхna b«la predstavlѕtцsѕ emu sliПkom prostoї i prozaiљnoї; naprotiv, piligrimstvo, hotѕ b« i s zontikom, gorazdo bolee krasiv«m i mstitelцno-lїbovn«m. No n«ne, kogda vse uхe konљilosц, ѕ polagaї, љto vse Њto togda soverПilosц gorazdo proНe: vo-perv«h, on poboѕlsѕ bratц loПade“, potomu љto Varvara Petrovna mogla provedatц i zaderхatц ego silo“, љto naverno i ispolnila b«, a on naverno b« podљinilsѕ i – proНa“ togda velikaѕ ideѕ naveki. Vo-vtor«h, љtob« vzѕtц podoroхnuї, nado b«lo po kra“ne“ mere znatц, kuda edeПц.“ (S. 480; „Öfters habe ich mir eine weitere

Frage gestellt: Warum mußte er unbedingt weglaufen, im buchstäblichen Sinne, das heißt zu Fuß gehen, und nicht ganz einfach in einer Kutsche wegfahren? Anfangs hatte ich mir dies durch seine fünfzigjährige Weltfremdheit und durch die phantastische Verwirrung seiner Ideen unter dem Einfluß eines heftigen Gefühls erklärt. Ich hatte geglaubt, der Gedanke an eine Podoroschna und Pferde (selbst mit Glöckchen) wäre ihm viel zu alltäglich und prosaisch vorgekommen; die Pilgerschaft dagegen, und sei es mit einem Regenschirm, wesentlich schöner und einer Rache aus Liebe gemäßer. Heute jedoch, da alles bereits zu Ende ist, ziehe ich eine wesentlich einfachere Lösung vor: Erstens hatte er sich nicht getraut, Postpferde zu nehmen, weil Warwara Petrowna es hätte erfahren und ihn mit Gewalt zurückhalten können, worauf er sich ihr bestimmt gefügt und – und der großen Idee auf ewig adieu gesagt hätte. Zweitens mußte man, wenn man sich eine Podoroschna ausstellen ließ, zum mindesten wissen, wohin die Reise gehen sollte.“ S. 873).

256

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rillov32 und scheint sich dem Kreis der jungen Adeligen um Liza Drozdova angeschlossen zu haben.33 Eines wird jedenfalls aus der Art und Weise, wie die Geschehnisse wiedergegeben werden, deutlich: Der Erzähler in Dostoevskijs Roman gibt nicht einmal in Ansätzen einen objektiven Bericht; seine Schilderung der Ereignisse ist vielmehr stets offenkundig subjektiv. An manchen Stellen entsteht der Eindruck, als wüsste er mehr, als er vorgibt zu wissen; häufig sagt er aber auch Dinge, die er gar nicht wissen kann, etwa wenn er Gespräche wiedergibt, die unter vier Augen stattgefunden haben.34 Diese unzuverlässige Art des Erzählens deutet darauf hin, dass der Leser skeptisch gestimmt werden soll gegenüber den Informationen dieses Chronisten. Wie aber lässt sich Dostoevskijs klare Intention, die in seiner Figurendarstellung erkennbar ist, mit dieser Gestaltung der Erzählerfigur vereinbaren? Eine mögliche Antwort ist, dass der Schriftsteller gerade durch die Figur des unzuverlässigen Erzählers die aus den Fugen geratene Welt im Russland der sechziger Jahre beschreiben wollte, eine Welt, in der nichts fest stand, alles schwankte und keiner mit Sicherheit sagen konnte, was gut und was böse sei. Anders gesagt: Mit seinem fragwürdigen Erzähler trug Dostoevskij seiner ursprünglichen Intention Rechnung, einen Roman über die politischen terroristischen Ereignisse seiner Zeit zu schreiben; und eben dieses Konzept einer offenen, subversiven, destabilisierenden, ja geradezu terroristisch anmutenden Schreibweise untergrub das Konzept eines eindeutigen, klar strukturierten Romans, in dem die Figuren Ideen wie starre Allegorien verkörpern sollten. Nicht nur die dargestellte Welt der Erzählung wurde auf diese Weise von „Bösen Geistern“ ergriffen, von unheimlichen Kräften, die verwirrten und verschreckten, sondern auch das Erzählen und das Lesen selbst. Man kann Besy dementsprechend als einen Thesenroman betrachten, der sich selbst zerstört.

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33

34

Vgl. das Kapitel „…uхie grehi“, VIII, S. 91–95 / „Fremde Sünden“, VIII, S. 147–156. Vgl. das Kapitel „Pred prazdnikom“, II, S. 254–261 / „Vor dem Fest“, II, S. 429–441. Beispielsweise die Gespräche zwischen Kirillov und Stavrogin („Noљц“, V, S. 184–190 / „Die Nacht“, V, S. 306–315), zwischen Satov und Stavrogin („Noљц“, VI, S. 190–203 / „Die Nacht“, VI, S. 315–338) oder Stavrogin und dem Landstreicher Fedja („Noљц (prodolхenie)“, I, S. 203–206 / „Die Nacht (Fortsetzung)“, I, S. 339–343).

Ideenträger und Ideenzerstörer

VI.

257

Literaturverzeichnis

Quellen Dostoevskij, F. M., Polnoe sobranie soˇcinenij, 30 Bde., Vasilij G. Bazanov u. a. (Hrsg.), Leningrad 1972–1990. Dostoevskij, F. M., Besy, in: Polnoe sobranie soˇcinenij, Vasilij G. Bazanov u. a. (Hrsg.), Bd. 10, Leningrad 1974. Dostojewskij, Fjodor, Böse Geister, übersetzt von Swetlana Geier, Frankfurt am Main 2000. Dostojewskij, Fjodor, Tagebuch eines Schriftstellers 1873 und 1876–1881. Eine Auswahl, aus dem Russischen von Günther Dalitz und Margit Bräuer. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Michael Wegner, Berlin 2003.

Forschung Bachtin, Michail, Probleme der Poetik Dostoevskijs, übersetzt von Adelheid Schramm, München 1971. Braun, Maximilian, Dostojewskij. Das Gesamtwerk als Vielfalt und Einheit, Göttingen 1976. Braunsperger, Gudrun, Sergej Neˇcaev und Dostoevskijs Dämonen. Die Geburt des Romans aus dem Geist des Terrorismus, Frankfurt am Main u. a. 2002. Fuchs, Ina, Die Herausforderung des Nihilismus. Philosophische Analysen zu F. M. Dostojewskijs Werk „Die Dämonen“, München 1987. Kluge, Rolf-Dieter, „ ‚Die Dämonen‘ der Revolution“, in: Heinz Setzer/Ludolf Müller/Rolf-Dieter Kluge (Hrsg.), Fjodor Michailowitsch Dostojewski – Dichter, Denker, Visionär, Tübingen 1998, S. 89–110. Lavrin, Janko, Fjodor M. Dostojevskij (25. Auflage), Reinbek bei Hamburg 1998. Neuhäuser, Rudolf, F. M. Dostojevskij: Die grossen Romane und Erzählungen. Interpretation und Analysen, Wien, Köln, Weimar 1993. Nünning, Ansgar (Hrsg.), Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 1998. Schult, Maike, „Die Dämonen“, in: Birgit Harreß (Hrsg.), Dostoevskijs Romane, Stuttgart 2005, S. 64–90. Viktoroviˇc, V. A., „Slavjanskij proekt F. M. Dostoevskogo“, in: Rossija i slavjanskoj mir: Istorija, jazyk, kul’tura. Sbornik nauˇcnich trudov, Sergej Mituriˇc (Hrsg.), Moskva 2008.

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Katharina Grätz

Katharina Grätz (Freiburg i. Br.)

‚Nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum‘ Figuren in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen

„Also Realismus! Auf der Bühne gewiß, aber auch weitergehend in der Kunst überhaupt. Welche Lust, ein französisches Schlachtenbild zu sehen, auf dem die Säbel nicht angeklebt sind, sondern wirklich geschwungen werden. Elan auch da, Leben und Wirklichkeit. Und nun gar erst der Roman!“ „Ah, Sue; Balzac.“ „Überholt.“ „Flaubert?“ „Überholt.“ „Nun, wer denn?“ „Eine neue Größe. Zola. Emile Zola.“ […] „Und was will er?“ „Ja, das ist schwer zu sagen, meine Gnädigste, weil er sehr vieles will und dies viele zu gleicher Zeit. Er hat jedenfalls seine ‚Wahlverwandtschaften‘ gelesen und sieht in dem, was wir das Seelische zu nennen gewohnt sind, also zu meinem lebhaften Bedauern auch in der ganzen Machtsphäre der Liebe, nur sehr äußerliche, sehr natürliche Prozesse. Die Blutmischung spielt eine Rolle von Bedeutung und natürlich auch die Nerven. Aber das ist nicht die Hauptsache. Bis jetzt war es, wenn ich mich nicht irre, das Auge, was in dem bekannten und entscheidenden großen Romanmomente den Ausschlag zu geben hatte; der neue Romancier mit dem italienischen Namen aber geht weit, weit darüber hinaus und zieht nicht mehr und nicht weniger als die Gesamtheit aller Sinne heran. Gambettistische Levée en masse, wenn Sie wollen. Es hat unleugbar manches für sich, und ich breche nur ab, so gern ich fortführe, weil das Thema zu delikat und voll ganz besonderer Schwierigkeiten ist. Einer seiner Romane heißt beispielsweise ‚Der Bauch von Paris‘.“1

Die Dialogpartie aus Fontanes Roman Graf Petöfy (1883) hebt sich vom Gesprächszusammenhang ab, da es sich um eine metafiktionale Passage handelt, die sich auf den französischen realistischen Roman bezieht und Zolas Figurenkonzeption reflektiert. Indem Fontane seine Romanfigur Adam Petöfy in spielerisch-ironischer Weise ein poetologisches Thema anschneiden lässt, wirft er die Frage nach dem eigenen Realismusverständnis und der 1

Fontane, Theodor, Graf Petöfy, in: HFA 1.1, S. 685–866, hier S. 734. Fontanes Werke werden zitiert nach: Fontane, Theodor, Werke, Schriften und Briefe, Walter Keitel und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), München 1962–1997 [= Hanser-Fontane-Ausgabe]; Nachweise in der Form: HFA Abteilung. Band, Seite.

‚Nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum‘

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eigenen Figurenkonzeption auf. Der Hinweis auf Goethes der zeitgenössischen Chemie entlehnten Romantitel Die Wahlverwandtschaften schlägt die Brücke zu Zolas 1880 veröffentlichtem Manifest Le roman expérimental. Mit ihm suchte Zola der Literatur Anschluss an die positivistische Naturwissenschaft zu verschaffen, indem er die Tätigkeit des Schriftstellers mit der eines Chemikers analogisierte: Wie der Chemiker mit Substanzen experimentiere, so der Schriftsteller mit Charakteren – und in beiden Fällen folgten die Reaktionen bestimmten Gesetzen. Die deutschen Naturalisten griffen das auf. Vier Jahre nach Erscheinen von Graf Petöfy ist in Wilhelm Bölsches naturalistischer Programmschrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887) zu lesen, der Schriftsteller habe zwar „Menschen vor sich, keine Chemikalien“, doch fielen diese Menschen auch „in’s Gebiet der Naturwissenschaften“, denn: „Ihre Leidenschaften, ihr Reagieren gegen äussere Umstaende, das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen, die der Forscher ergründet hat und die der Dichter bei dem freien Experimente so gut zu beachten hat wie der Chemiker“.2 Auch Fontanes Roman Graf Petöfy gleicht einer Versuchsanordnung, allerdings gelangt er zu anderen Ergebnissen. Denn der Protagonistin Franziska gelingt es, ihr triebgesteuertes Handeln zu überwinden und einen eigenen Entscheidungsspielraum zu behaupten. Damit erweisen sich die seelischen Vorgänge nur teilweise durch „sehr äußerliche, sehr natürliche Prozesse“ bestimmt, sie sind nicht vollends biologisch determiniert. Graf Petöfy stellt, so kann man sagen, ein Experiment mit Zolas Experimentalroman vor. Die Ergebnisse dieses Experiments widerlegen das anthropologische Konzept menschlicher Determiniertheit, das für Zola und die deutschen Naturalisten leitend ist. Das ist ein Beleg dafür, dass Fontane sein eigenes Realismuskonzept unter wacher Beobachtung und in kritischer Abgrenzung von aktuellen literarischen Tendenzen ausbildet, die sich an naturwissenschaftlich-medizinischen Erkenntnissen orientieren. In Opposition zum ‚naturalistischen Realismus‘, dem er vorwirft, „Misere mit Realismus“3 zu verwechseln, kultiviert Fontane eine Spielart des Gesellschaftsromans, die drastische Sozialkritik vermeidet und den Leser nicht mit großstädtischem Proletarierelend konfrontiert. Fontanes Romane sind Romane der ‚guten Gesellschaft‘, überwiegend angesiedelt in der Sphäre der Oberschicht. Fast alle seine Hauptfiguren entstammen dem Adel, dem Bil2

3

Bölsche, Wilhelm, Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik, Johannes J. Braakenburg (Hrsg.), München 1976, S. 7f. Fontane, Theodor, „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848“, in: HFA 3.1, S. 236–260, hier S. 240.

260

Katharina Grätz

dungs- und Besitzbürgertum. ‚Gesellschaftsromane‘ sind sie in einem doppelten Sinn: Weil sie einen repräsentativen Ausschnitt der Gesellschaft in den Blick nehmen und weil sie den Menschen stärker als in früheren Epochen in seiner sozialen Bedingtheit wahrnehmen. Das Anthropologische erscheint bei Fontane unauflösbar gebunden an soziale Interaktion und gesellschaftlich vorgezeichnete Rollen; die Forschung hat von einem „sozialen Erzählen“4, einer „sozialen Romankunst“5 gesprochen. Der Gesellschaftsroman bildet das Gegenmodell zum Individual- und Bildungsroman. Auf inhaltlicher Ebene zeigt sich das in der Abkehr von der Geschichte eines einzelnen Individuums und auf struktureller Ebene in der Abkehr von einem linearen Handlungsverlauf. An die Stelle chronologischer Ereignisfolge setzt der Gesellschaftsroman ein zeitliches Nebeneinander mehrerer Handlungsstränge, er zeigt mehrere Protagonisten, entfaltet eine breite Gesellschafts- und Milieuschilderung. Karl Gutzkow prägte hierfür den Begriff „Roman des Nebeneinander“6, Fontane selbst sprach vom „Vielheits-Roman“7, der sich von der Entwicklung eines Einzelhelden verabschiedet und ein aktuelles Zeitbild entwirft. Fontanes Gesellschaftsromane stellen folglich nicht isolierte, auf sich selbst fixierte Individuen vor, sondern entwerfen ihre Figuren als Teil eines in sich abgestuften gesellschaftlichen Ganzen. Die Figuren bewegen sich innerhalb des sozialen Rahmens der Wilhelminischen Gesellschaft und sind durch ihn weitgehend definiert8, aber nicht vollends determiniert. „Der Gesellschaftsdenker Fontane“, so formuliert Müller-Seidel, „war nicht bereit, ausschließlich gesellschaftlich zu denken.“9 Für Fontanes Figurendarstellung ergibt sich daraus die Ablehnung aller Extreme. Seine Figuren sind weder Idealfiguren, noch handeln sie vollstän4 5

6

7 8

9

Aust, Hugo, Theodor Fontane. Ein Studienbuch, Tübingen 1998, S. 25. Müller-Seidel, Walter, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 10. Gutzkow, Karl, „Vorwort zu ‚Die Ritter vom Geiste‘ “, in: Hartmut Steinecke (Hrsg.), Romanpoetik in Deutschland: von Hegel bis Fontane, Tübingen 1984, S. 113– 115. Brief an Paul Heyse vom 9. Dezember 1878, in: HFA 4.2, S. 639–641, hier S. 639. Für die Figurendarstellung im narrativen Text gilt das Gleiche, was Pfister für die dramatische Figur gesagt hat: „im Gegensatz zu einer realen Person, die zwar von ihrem Kontext mitgeprägt wird, jedoch als Gewordene eine von ihrem Kontext analytisch isolierbare, reale Kategorie darstellt, ist eine dramatische Figur von ihrem Kontext überhaupt nicht ablösbar, da sie ja nur in diesem Kontext existiert, sie erst in der Summe der Relationen zu diesem Kontext konstituiert wird“ (Pfister, Manfred, Das Drama. Theorie und Analyse, München 1988, S. 221). Müller-Seidel, Theodor Fontane, S. 9.

‚Nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum‘

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dig triebgelenkt; sie sind weder moralisch vorbildlich noch schlecht10; weder erlangen sie Autonomie, noch erscheinen sie gänzlich von den gesellschaftlichen Umständen bestimmt. Vielmehr schlägt Fontane einen Mittelweg ein, seine Figurendarstellung vereint widerstreitende Aspekte. Mit meinen Überlegungen möchte ich zeigen, dass die Figuren dem Bemühen um einen Ausgleich ihre besonderen Darstellungs- und Wirkungsmöglichkeiten verdanken. Ich beginne mit einem Blick auf die poetologischen Äußerungen Fontanes zu Darstellung und Funktion literarischer Figuren, danach wende ich mich seiner eigenen Figurenkonzeption zu und den zentralen narrativen Darstellungstechniken (Polyperspektivismus und Dialog), zuletzt beschäftige ich mich mit dem Verhältnis von dialogischer Figurenpräsentation und Figurenwissen.

I.

Poetologische Äußerungen Fontanes: Bausteine zu einer realistischen Figurenkonzeption

Welch zentrale Bedeutung Fontane der Figurendarstellung zuerkennt, lässt sich an seinen Literaturkritiken ermessen, in denen die Frage nach Figurenkonzeption und -gestaltung Priorität erhält und die entscheidenden Bewertungsmaßstäbe liefert. Grundlegend ist das Kriterium der inneren Plausibilität der literarisch präsentierten Welt und ihrer Figuren. Unter diesem Gesichtspunkt bewertet Fontane sowohl aktuelle Veröffentlichungen als auch ältere Werke wie Goethes Lehrjahre und unterzieht sie teilweise scharfer Kritik. Gustav Freytags historischem Romanzyklus Die Ahnen wirft er eine anachronistische Anlage der Figuren vor: Freytag verwandle historische Figuren in „moderne Reflexionsmenschen“ und raube der Darstellung damit alle Glaubwürdigkeit; seine Figuren „fallen um und sind tot“.11 Auch Paul Lindau scheitert in Fontanes Augen an der Schilderung plastischer Men10

11

„Es geht Fontane nicht um Hypostasierung der Protagonisten, sondern um die Gestaltung ‚mittlerer‘ Helden, die in ein Bedingungsgeflecht eingebunden und sich ihrer ‚Durchschnittlichkeit‘ meist bewußt sind“ (Liebrand, Claudia, Das Ich und die andern. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder, Freiburg i. Br. 1990, S. 10). Damit ergibt sich eine Nähe zum dramatischen Konzept des mittleren Helden, das schon Aristoteles als illusions- und identifikationsfördernd erkannte. „Jede Dichtung […] ist freilich eine Welt des schönen Scheins, die schließlich schwindet, aber so lange wir unter den liebgewordenen Gestalten weilen, dürfen wir aus dieser Scheinwelt nicht gerissen werden. Daß dies beständig geschieht, ist das Verdrießliche und Verwerfliche“ (Fontane, Theodor, „Gustav Freytag. Die Ahnen“, in: HFA 3.1, S. 308–325, hier S. 324).

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schen. In seinen Romanen agierten „Mannequins in Theatergarderobe oder Maskeradenleute“, die ihren literarischen Konstruktcharakter nicht vergessen machen können: „Sie tun nach Fleisch und Blut […], aber sie haben nicht Fleisch und Blut.“12 Und selbst die Männerfiguren der Lehrjahre rechnet Fontane zur Schar blutleerer literarischer Entwürfe; sie sind ihm „Richtungen und Prinzipien vertretende Schatten“, dürre „Begriffe, die Rock und Hose tragen“13. Alle diese Urteile kreisen um einen gemeinsamen Punkt: um den Vorwurf mangelhafter Realitätsillusion der Figurendarstellung. Fontane kritisiert, dass Figuren als artifizielle Konstrukte erkennbar bleiben, dass sie als Marionetten des Autors handeln, planvoll entworfen und zweckgerichtet eingesetzt. Solche intentionalen Konstrukte lehnt er ab und verlangt stattdessen Figuren, die Eigenständigkeit erhalten, die selbständig zu handeln scheinen und sich vom Autor emanzipieren. Dem Leser sollen lebensechte, körperlich-sinnlich präsente Gestalten begegnen, bei denen er vermeint, „die Knöpfe des Rockes und die Venen der Hand zählen zu können“14. Fontane stellt dem Autor damit die paradoxe Aufgabe, seine Figuren so zu konstruieren, dass sie die Spuren ihrer Konstruktion verwischen und die Erinnerung an den Konstrukteur, den Autor, tilgen. Die literarischen Figuren, artifizielle Gebilde, die nicht Fleisch und Blut, sondern sprachlichen Zeichen ihre Existenz verdanken, sollen sich über ihren fiktionalen Charakter hinwegsetzen und dem Leser entgegentreten, als seien sie aus Fleisch und Blut. Fontanes Forderungen scheinen in erster Linie von rezeptionsästhetischen Erwägungen bestimmt. Er sieht in den Romanfiguren eine Brücke zum Leser, den der Eindruck der Ähnlichkeit dazu veranlassen soll, die fiktive Welt so zu erleben, als wäre sie real: Aufgabe des modernen Romans scheint mir die zu sein, ein Leben, eine Gesellschaft, einen Kreis von Menschen zu schildern, der ein unverzerrtes Wiederspiel des Lebens ist, das wir führen. Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so daß wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren, ähnlich wie manche Träume sich unserer mit gleicher Gewalt bemächtigen, wie die Wirklichkeit. Also noch einmal: darauf kommt es an, daß wir in den Stunden, die wir einem Buche widmen, das Gefühl haben, unser wirkliches Leben fortzusetzen […].15 12

13 14 15

Fontane, Theodor, „Paul Lindau. Der Zug nach dem Westen“ [Nachlassfassung], in: HFA 3.1, S. 568–570, hier S. 569. Ders., „Johann Wolfgang Goethe“, in: HFA 3.1, S. 462–472, hier S. 467. Ebd. Fontane, „Paul Lindau. Der Zug nach dem Westen“ [Nachlassfassung], in: HFA 3.1, S. 568.

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Fontane spricht sich hier für ein Mimesiskonzept aus, das auf die Nachahmung von gesellschaftlicher Realität und Menschen zielt. Im Idealfall kommt das im Roman dargestellte Leben dem tatsächlichen so täuschend gleich, dass der qualitative Unterschied zwischen Realität und Fiktion im Rezeptionsakt bedeutungslos wird und die literarische Welt sich bruchlos in die Erfahrungsrealität des Lesers einfügt. Es darf demnach kein Bauplan sichtbar werden, kein anthropologisches Modell, auf dem die Figurendarstellung beruht, keine Persönlichkeitstheorie, an der sich der Autor orientiert. Vielmehr sollen die Figuren den Anschein von Authentizität und Autonomie erwecken.16 Fontane fordert die perfekte Illusion, die die Grenzen zwischen Realität und Fiktion auflöst und dafür sorgt, dass die fiktiven Gestalten in der Vorstellung des Lesers den gleichen Status einnehmen wie reale Menschen. Freilich lässt sich am Sinn eines solch strengen Mimesiskonzepts zweifeln. Vor allem drängt sich die Frage auf, ob eine Aufhebung der ontologischen Trennung von Kunst und Wirklichkeit tatsächlich erstrebenswert sein kann. Mit den Worten Friedrich Theodor Vischers: „Wäre übrigens eine absolute Kopie der Natur auch möglich, so ist nicht abzusehen, zu welchem Zweck man sich die Mühe geben soll, zu machen, dass die Dinge doppelt da sind, eigentlich und im Nachdruck.“17 Man täte Fontane jedoch Unrecht, wollte man die Intention seiner Figurendarstellung ausschließlich auf Realitätsillusion festlegen. Der Fortgang des oben angeführten Zitats zeigt das: [D]arauf kommt es an, daß wir in den Stunden, die wir einem Buche widmen, das Gefühl haben, unser wirkliches Leben fortzusetzen, und daß zwischen dem erlebten und dem erdichteten Leben kein Unterschied ist, als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung […].18

Fontanes Argumentation weist hier einen Sprung auf: War es ihm bislang um die Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion zu tun, so setzt er nun einen qualitativen „Unterschied“ zwischen Realität und literarischem Entwurf voraus. Das erdichtete Leben, schreibt er, ist dem wirklichen in Hinblick auf „Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung“ überlegen. Dieser argumentative Sprung ist bezeichnend für die eigentümliche Ambivalenz 16

17

18

Natürlich liegt auch dem ein anthropologisches Konzept zugrunde. Gerade die Zurückweisung schematisierender und modellhafter Vorstellungen ist für das anthropologische Denken im Realismus bezeichnend. Vischer, Friedrich Theodor, „Die Kunst überhaupt und ihre Theilung in Künste“, in: Ders., Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen, Bd. 3: Die Kunstlehre. Robert Vischer (Hrsg.), München 1922, S. 99f. Fontane, „Paul Lindau. Der Zug nach dem Westen“ [Nachlassfassung], in: HFA 3.1, S. 568f.

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der realistischen Programmatik, die aus einer doppelten Abgrenzung resultiert, nämlich gegen idealistische Strömungen auf der einen Seite und gegen naturalistische Tendenzen auf der andern. In seiner realistischen Programmschrift Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853) verpflichtet Fontane die Literatur zwar auf die Nachahmung von Wirklichkeit, will darunter aber ausdrücklich nicht „das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens“19 verstanden wissen, sondern hält an der Auffassung von der Höherwertigkeit des Künstlerisch-Literarischen fest. Die fiktionale Welt erscheint in seinen Augen der realen überlegen, ja sie verhilft ihr durch Intensivierung und ein erhöhtes Maß an Ordnung erst zu adäquatem Ausdruck. Fontanes Romane zielen, so Hubert Ohl, „auf die nichtkontingente Darstellung einer kontingenten Welt“20. Die Figurendarstellung ist demnach Teil eines Literaturkonzepts, das zwei gegensätzliche Bestrebungen zu verknüpfen sucht, und es ist zu erwarten, dass sich dies als Spannung in der Figurenkonzeption bemerkbar macht. Fontane verlangt von literarischen Figuren, dass sie realen Menschen so täuschend ähneln, dass der Leser sie als authentisch erlebt. Gleichzeitig schreibt er dem fiktionalen Sinngefüge, deren Komponenten sie darstellen, einen der außerliterarischen Realität übergeordneten Status zu – zur Paradoxie zugespitzt bedeutet das: Sie sollen real scheinen und müssen der Realität überlegen sein. Es passt zu diesem widersprüchlichen Zwitterstatus, wenn Fontane in einem Brief an den Völkerkundler Moritz Lazarus erklärt: Ich persönlich bin sehr für Gestalten in der Kunst, die nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum sind, aber sonderbarerweise haben die größte Berühmtheit in Kunst und Literatur fast immer die Schöpfungen errungen, die die schön und echt menschliche Mittelstufe nicht einnehmen, sonderbare Gebilde, die einerseits gar nicht typisch (und menschlich nun schon gewiß nicht) und andrerseits wie im Widerspruch dazu wiederum nur typisch sind. „Nur typisch“ insoweit, als sie eine bestimmte, aller Menschheit eigene Charakterseite zum Ausdruck bringen und weiter nichts als das.21

19

20

21

„Das Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie schlummern darin, aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar und nur durch seine Hand zu erwecken.“ „Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das blos Handgreifliche, aber er will das Wahre.“ (Fontane, Theodor, „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848“, in: HFA 3.1, S. 241). Ohl, Hubert, „Zwischen Tradition und Moderne. Der Künstler Theodor Fontane am Beispiel von ‚Unwiederbringlich‘ “, in: Alan Bance/Helen Chambers/ Charlotte Jolles (Hrsg.), Theodor Fontane. The London Symposium, Stuttgart 1995, S. 232–252, hier S. 236. Brief an Moritz Lazarus vom 12. September 1891, in: HFA 4.4, S. 155f., hier S. 156.

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Bemerkenswert ist, dass Fontane mit ‚Typ‘ und ‚Individuum‘ ein Begriffspaar benutzt, das für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit literarischen Figuren bestimmend wurde und bis heute ein zentrales Kriterium der Figurenklassifikation abgibt: „Der Typ ist eine flache und statische, das Individuum ist eine runde, dynamische Figur“, definiert etwa Thomas Koch.22 Der ‚Typ‘ ist durch wenige konsistente Eigenschaften bestimmt, so dass er als Repräsentant einer Kategorie von Menschen gelten kann. Das ‚Individuum‘ hingegen entzieht sich durch gesteigerte Komplexität solch repräsentativer Funktion.23 Fontanes Überlegungen kommen dem bereits sehr nahe. Wenn er von Figuren spricht, die „nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum“ sind, denkt er an die Vermittlung von repräsentativ-allgemeiner und individuell-besonderer Bedeutung. Diese angestrebte Vermittlungsfunktion der Figuren wirft freilich Fragen auf, die, indem sie den Realitätsbezug des literarischen Textes und den ontologischen Status der Figuren betreffen, ins Zentrum realistischer Poetik führen: Wie lässt sich die Relation von literarischen Figuren und außerliterarischer Realität angemessen erfassen, muss hier von Mimesis gesprochen werden oder sollte der Konstruktcharakter der literarischen Figur betont werden? In welchem Verhältnis stehen Fakten und Fiktion bei der Figurendarstellung? Gibt es einen ‚Mehrwert‘ der literarischen Figuren in dem Sinne, dass die künstlerische Repräsentation die außerliterarische Realität an Sinn und Bedeutung übersteigt?

II.

Figuren zwischen Typ und Individuum

Den Kriterien, die Fontane an die literarische Figurengestaltung anlegte, scheinen seine Figuren vorbildlich zu entsprechen. Jedenfalls haben Leser und Kritiker ihnen immer wieder Lebensechtheit und authentische Wirkung bescheinigt. Die Figuren der späten Romane, schreibt etwa Walter Killy, „bringen sich in Erinnerung wie lebendige“24. So mag es nicht erstaunen, dass diese Gestalten bis heute die Leser zu fesseln vermögen und die Aufmerksamkeit der literaturwissenschaftlichen Forschung auf sich ziehen. 22

23 24

Koch, Thomas, Literarische Menschendarstellung, Tübingen 1991, S. 136. Die Begriffe ‚flat character‘ und ‚round character‘ prägte E. M. (Edward Morgan) Forster in Aspects of the novel (1927). Vgl. ebd. Killy, Walther, „Abschied vom Jahrhundert. Fontane: ‚Irrungen, Wirrungen‘ “, in: Ders., Wirklichkeit und Kunstcharakter. Neun Romane des 19. Jahrhunderts, München 1963, S. 193–211, hier S. 193.

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Frappant ist aber doch die Fülle und Vielfalt der Interpretationen, mit der einzelne Protagonisten bedacht werden. Sie scheinen sich als vielschichtiger und widerständiger zu erweisen, als dies Fontanes poetologische Überlegungen erwarten lassen. Wenn ich jetzt Fontanes Figurenkonzeption und -gestaltung genauer betrachte, so wird sich zeigen, dass sie zwar mit den Maßstäben harmoniert, die er in seinen Literaturkritiken entwickelt, aber doch auch weit über das hinausgeht, was er dort formuliert. Fontanes Figurengestaltung, so viel vorweg, zeichnet sich durch die Kombination gegenläufiger Strategien aus. Die Komplexität der Figuren verdankt sich einem spannungsvollen Zugleich von außerliterarischen und innerliterarischen Bezügen, von Typisierung und Individualisierung. Der Gattung des Gesellschaftsromans entsprechend rückt der Aktantenstatus der Figuren bei Fontane in den Hintergrund. Bedeutsam sind sie weniger als Träger ereignisreicher Handlung denn als Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppierungen und Befindlichkeiten. Fontane stattet die Figuren mit Zügen aus, die sie sozial charakterisieren: Geert von Innstetten erhält das Arbeitsethos und die Loyalität des aufstrebenden Beamten, Botho von Rienäcker die krisenhafte Identität eines Offiziers, der an der Funktionslosigkeit seines Standes leidet, Ezechiel van der Straaten das – der guten Gesellschaft suspekte – Selbstbewusstsein eines reichen jüdischen Bankiers, der alles für käuflich hält, Dubslav von Stechlin die abgeklärte Überlegenheit eines Adligen, der den Untergang seines Standes als besiegelt erkennt, und Frau Kommerzienrätin Jenny Treibel, geborene Bürstenbinder, die romantisch verbrämte Rücksichtslosigkeit einer sozialen Aufsteigerin – sie verkörpert laut Wilibald Schmidt den „Typus einer Bourgeoise“.25 Fontane entwirft also gesellschaftlich repräsentative und typisierte Figuren. Wie verträgt sich das aber nun mit dem realistischen Anspruch seiner Romane? Im Hinblick auf den realistischen Gesellschaftsroman ist Typisierung zwiespältig einzustufen: Einerseits ermöglicht sie, dass Figuren als Vertreter bestimmter gesellschaftlicher Gruppierungen oder Schichten erscheinen, gewährleistet also die Anbindung der Figuren an die gesellschaftliche Realität, andererseits gefährdet sie die realistische Wirkung, denn Typisierung bedeutet ja Reduktion und erzeugt flache Figuren26. Fontanes Romane weisen eine Vielzahl von Strategien auf, die der Typisierung entgegenwirken 25 26

Fontane, Theodor, Frau Jenny Treibel, in: HFA 1.4, S. 297–478, hier S. 368. Hinzu kommt, dass Fontane das Typische und Stereotype als ungeeignet ansieht, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu erregen: „Das bloße Allgemeine, die Rubrik, die Inhaltsangabe fesseln so gut wie nie; alles Interesse steckt im Detail; das Individuelle […] ist der Träger unserer Teilnahme; das Typische ist langweilig“ (Fontane, Theodor, „Willibald Alexis“, in: HFA 3.1, S. 407–462, hier S. 430).

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267

und dafür sorgen, dass die Figuren nicht vollständig in einem sozialen Typus aufgehen, sondern allgemeine und besondere Züge verbinden – und also, mit Fontanes Worten, „nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum“ sind.27 Entscheidend befördert werden Realitätsillusion und Individualisierung durch die Orientierung an realen gesellschaftlichen Ereignissen. Charakteristisch für Fontanes literarische Produktionsweise ist bekanntlich, dass er gesellschaftliche Skandalgeschichten als Quellen benutzt. Zeitgenossen glaubten in seinen Romanen reale Personen wieder zu erkennen, und noch heute begeben Literaturwissenschaftler sich auf biographische Spurensuche, indem sie nach den Vorbildern, den ‚lebensechten‘ Modellen zu Figuren wie Effi Briest oder van der Straaten forschen.28 Es ist also festzuhalten, dass Fontane den Konstruktcharakter seiner literarischen Figuren verschleiert, indem er reales Baumaterial für sie verwendet.29 Das gilt nicht allein für die Figurendarstellung, auch die Welt, in der sie agieren, ist durch eine Mischung von Fakten und Fiktion bestimmt. Vielfältige Bezüge auf die außertextuelle Realität – Referenzen auf Orte und Straßen, auf Personen des öffentlichen Lebens, auf politische und kulturelle Ereignisse – evozieren den Eindruck realitätsgetreuer Abbildung. Durch diesen „faktophile[n] Realismus“30 wird der fiktionale Entwurf in der dem zeitgenössischen Leser vertrauten Realität situiert, er wird ihr sozusagen eingelagert und erscheint damit als ein Teil von ihr.31 Nun trifft ein Roman allerdings keine Realitätsaussagen, sondern etabliert, mag er auch noch so realistisch scheinen, eine eigene fiktionale Welt. 27

28

29

30

31

Das von ihm geforderte Nebeneinander individueller und kollektiver Züge kennzeichnet die realistische Literatur insgesamt (Müller-Seidel, Theodor Fontane, S. 9). Sofern das nicht als naives Aufweisen von Entsprechungen oder Identität betrieben wird, handelt es sich um ein legitimes und sinnvolles Vorgehen, das Einblick in Fontanes Arbeitsweise gewähren kann. Von besonderem Interesse sind die Abweichungen von Vorlagen und Quellen, weil sie Auskunft geben über Maß und Intention der fiktionalen Aus- und Umgestaltung. In seinem Goethe-Aufsatz spricht Fontane von „realistischen Details, die eine Gestalt beleben und ihr Rundung geben“ (Fontane, „Johann Wolfgang Goethe“, in: HFA 3.1, S. 467). Brinkmann, Richard, „Der angehaltene Moment. Requisiten – Genre – Tableau bei Fontane“, in: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift für Charlotte Jolles, Nottingham 1979, S. 360–380, hier S. 378. Searle sieht darin eine verbreitete Strategie realistischer Literatur: „Im Falle realistischer oder naturalistischer fiktionaler Werke nimmt der Autor auf wirkliche Orte und Ereignisse Bezug, vermischt diese Bezugnahmen mit fiktionalen Bezugnahmen, und macht es so möglich, die fiktionale Geschichte als eine Erweiterung unseres vorhandenen Wissens zu behandeln.“ Searle, John R., „Der logische Status fiktionaler Rede“, in: Maria E. Reicher (Hrsg.): Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie, Paderborn 2007, S. 21–36, hier S. 34f.

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Jedes aufgerufene Detail trägt zu ihrer Konstitution bei. Das Einzelne steht nicht um seiner selbst willen, sondern es ist ein integraler Bestandteil des innerliterarischen Bedeutungsgefüges. Es referiert also nicht nur auf außerliterarische Realität, besitzt nicht nur mimetische Funktion, sondern entfaltet Funktion und Bedeutung im Textzusammenhang. Beispielhaft hierfür ist der kunstvolle Erzählanfang von Effi Briest, der scheinbar bloß detailliert äußere Realität abschildert, dabei aber unter der Hand das Bezugssystem etabliert, innerhalb dessen sich das Romangeschehen abspielt. Die vorgestellten Details und Realien – Sonnenuhr, Heliotrop, wilder Wein und natürlich vor allem die Schaukel –, die zunächst lediglich mimetische Qualität zu besitzen scheinen, erhalten im Verlauf der Handlung eine zeichenhafte Bedeutung, sie werden kenntlich als Leitmotive, die Effis Geschichte begleiten, spiegeln und deuten – und erhalten somit entscheidende Funktion für die Figurendarstellung. Mithilfe einer elaborierten Beschreibungskunst, die Äußeres für Inneres einstehen lässt, bindet Fontane die Figuren in ein innerliterarisches Verweisungsgeflecht ein, das aus Leitmotiven, literarischen Allusionen, dem Verweis auf Bilder, aus mythologischen Folien besteht. Das macht die Figuren zu Knotenpunkten des innerliterarischen Bedeutungsgefüges; sie lassen sich nicht einfach von ihrer Umgebung lösen, sondern werden durch deren Beschreibung konstituiert.

III.

Narrative Techniken der Figurendarstellung

Die hervorstechende narrative Strategie der Figurenpräsentation in Fontanes Romanen bildet die Polyperspektivität. Die Texte vermitteln kein geschlossenes Bild ihrer Figuren, sondern bieten ein narratives Nebeneinander verschiedener Sichtweisen, unterschiedlicher perspektivischer Wahrnehmungen und Deutungen der Figuren, die sich wechselseitig beleuchten. Mittel der direkten und indirekten Figurencharakterisierung (z. B. Erzählerkommentar, Figurenrede und -handeln, Selbst- und Fremdbeschreibung) treten in ein komplexes, manchmal ergänzendes, manchmal kontrastierendes Verhältnis zueinander, so dass die Figuren, wie Bettina Plett vermerkt, „in vielfältigen Brechungen und Spiegelungen mit dem Erzählkontext und Handlungsnexus des gesamten Romans verbunden“32 sind. Drei grundsätzliche textinterne Ebenen der Figurenpräsentation lassen sich unterscheiden: 32

Plett, Bettina, „L’Adultera. ‚ … kunstgemäß (Pardon) …‘ – Typisierung und Individualität“, in: Christian Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1991, S. 65–91, hier S. 67.

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– Die Perspektive des Erzählers: Der Erzähler vermittelt Handlungen von Figuren, gibt autorisierte Kommentare und Wertungen zu Figuren ab. – Die Perspektive der Figur: Figuren präsentieren sich in Dialogen, Monologen und Briefen selbst. – Die Perspektiven anderer Figuren: Figuren beleuchten sich wechselseitig, konstituieren sich in perspektivisch gebundenen Wahrnehmungen und Wertungen. Das Gesamtbild einer Figur entsteht durch das Zusammenspiel dieser drei Ebenen. Für Fontanes Romane ist charakteristisch, dass die vermittelnden bzw. intentionalen Funktionen (Erzähler und impliziter Autor) in den Hintergrund rücken. Stattdessen erhalten Figurenperspektive und vor allem Figurenrede das Übergewicht. Der Erzähler beschränkt sich weitgehend auf die Rolle eines Berichterstatters sowie auf die Präsentation von Figurenrede, Selbstbetrachtungen und Dokumenten (bedeutsam sind Briefe).33 Er fungiert also mehr als Arrangeur denn als deutende Instanz und bringt eine Pluralität unterschiedlicher Sichtweisen und Haltungen zur Geltung. Häufig führt nicht der Erzähler wichtige Personen ein, sondern sie werden in Gesprächen vorgestellt, gewinnen also aus der Sicht anderer Figuren Gestalt. Solche figurengebundenen Urteile und Wertungen besitzen doppelte Aussagekraft: Sie charakterisieren nicht nur den anderen, sondern auch den Sprecher und befördern durch die Kombination von Selbst- und Fremdeinschätzung die Komplexität der Figuren. Auf die Figurenwahrnehmung durch den Rezipienten hat die polyperspektivische Darstellung entscheidende Auswirkung. Sie dürfte wesentlich zum Eindruck der Lebendigkeit und Authentizität beitragen, die man Fontanes Figuren so häufig attestiert hat. Das polyperspektivische Erzählen zwingt den Leser beständig dazu, neue perspektivisch gebundene Informationen zu verarbeiten und in sein Konzept der Figur zu integrieren. Die Figurendarstellung ist deshalb nie ganz abgerundet, sondern bleibt ‚in Bewegung‘. Diese Offenheit fordert einen aktiven Leser, der bereit ist, immer neue Aspekte in sein Figurenbild zu integrieren.

33

Charakteristisch für den Erzähler Fontane ist, dass er keinem ‚erzählperspektivischen Purismus‘ huldigt, sondern Perspektiven und Erzählweisen innerhalb der Texte flexibel einsetzt. Immer wieder lässt er auch den Erzähler in kommentierender Funktion hervortreten, doch erweisen sich auch diese Kommentare als einseitig und korrekturbedürftig. Selbst dann, wenn der Erzähler eine Figur vor ihrem ersten Auftreten charakterisierend vorstellt, kann dieses Porträt nachfolgend relativiert werden. Plett verweist hier auf das Beispiel von L’Adultera (Plett, „L’Adultera. ‚ … kunstgemäß (Pardon) …‘ – Typisierung und Individualität“, S. 68).

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Bei Fontane bildet der Dialog die wichtigste Säule der polyperspektivischen Figurenpräsentation. Das dialogische und szenische Erzählen, das den Gesellschaftsroman grundsätzlich charakterisiert, erscheint in manchen seiner Romane auf die Spitze getrieben (für die Poggenpuhls hat Eberhart Lämmert einen Dialoganteil von fast 60 % ermittelt34). Daraus resultieren ereignisarme Romane, die einen Spannungsbogen bewusst verweigern und in denen „das ‚Wie‘ für das ‚Was‘ eintreten“35 muss. Im Dialog löst eine Pluralität von Sprechern die Erzählerrede ab, was für den literarischen Realitätsentwurf und die Figurenkonzeption entscheidende Konsequenzen hat: Eine Mehrzahl von Sprechern ist gleichbedeutend mit einer Mehrzahl von Perspektiven auf Wirklichkeit, denn dialogische Äußerungen sind immer situativ und personenperspektivisch gebunden. Dialoge vermitteln deshalb subjektive Realitätssichten und tendieren dazu, die Vorstellung absoluter Wahrheit aufzulösen. Mit der Vorherrschaft von Dialogen geht notwendig eine Schwächung der vermittelnden Erzählinstanz einher. Im Dialog befreien die Figuren sich von der Vormacht des Erzählers und erlangen Autonomie. Sie äußern sich ungebrochen und werden als Redende gegenwärtig. Die dadurch erzeugte Unmittelbarkeit scheint auf einen Mangel an künstlerischer Gestaltung zu deuten. Fontane verstärkt den Eindruck von Kontingenz und Belanglosigkeit durch die extensive Schilderung von geselliger Konversation, oberflächlicher Plauderei und Causerie. Gerade die scheinbare Irrelevanz der im Dialog gelieferten Daten verstärkt die Realitätsillusion (für die Roland Barthes den Ausdruck des „effet de réel“ prägte), weil sie vergessen lässt, dass die Menge und Art von Informationen, die ein Dialog vermittelt, notwendig begrenzt ist und auf der Selektion des Autors beruht.36 Für die scheinbar sprachmimetischen Dialoge gilt jedoch das Gleiche wie für die detaillierten Raumdarstellungen: Die realistische Oberfläche weist bei eingehender Analyse ein dicht geknüpftes motivisches Verweisungs- und Symbolgeflecht auf. Der Anlehnung an die dialogische Struktur des Dramas korrespondiert ein weitgehender Verzicht auf die Dimension der Figurendarstellung, in der sich der narrative Text als dem Drama überlegen erweist: In Fontanes Romanen tritt die Darstellung von Gedanken und Empfindungen, die Einblick gewährt in den Innenraum des Bewusstseins, in den Hintergrund.37 Das deutliche 34 35

36 37

Lämmert, Eberhard, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955, S. 226. So Fontane über seinen Roman Die Poggenpuhls (Brief an S. Schott vom 14. Februar 1897, in: HFA 4.4, S. 635). Vgl. Pfister, Das Drama, S. 221. „Darstellung der Innenwelt findet bei Fontane nicht statt“, formuliert Glaser apodiktisch und verkürzend (Glaser, Horst Albert, „Theodor Fontane: ‚Effi Briest‘

‚Nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum‘

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Übergewicht liegt auf der Darstellung redender, und das bedeutet sprachlich interagierender Figuren. Das Ausdrucksmedium ‚Sprache‘ ist bei Fontane in betonter Weise sozial kodiert und schichtspezifisch gebunden (so sprechen Angehörige der Unterschicht fast immer Dialekt). Doch auch in der Figurensprache schlägt sich die Spannung zwischen Typischem und Individuellem nieder. So unterscheidet sich etwa Lene in Irrungen, Wirrungen durch ihre von Redensarten und dialektaler Färbung freie Sprache deutlich von ihrem Herkunftsmilieu. Der Sprachhabitus bildet ein entscheidendes Mittel der Figurencharakterisierung zwischen Individualisierung und Typisierung.38 Sprachliche Kommunikation erscheint in Fontanes Romanen unmittelbar als soziale Interaktion. Die Figurenrede ist bestimmt durch die unterschiedlichen Konstellationen, in denen sie sich entfaltet, sie hängt ab von der Rolle, die dem Sprecher in der jeweiligen Situation zukommt. Die Figuren sprechen anders und artikulieren anderes, je nachdem, ob sie sich im öffentlichen Rahmen bewegen, im engeren gesellschaftlichen Umfeld, im Freundeskreis oder in der Familie.39 Zu keiner Zeit aber, auch nicht in den Selbstgesprächen, die sie bisweilen führen,40 vermögen sie gesellschaftliches Rollenverhalten und Rollenbewusstsein ganz abzustreifen. Noch im Aufbegehren gegen die Schranken und Deformationen der Gesellschaft bleiben sie dem Rollendenken verhaftet, greifen vorgeformte Vorstellungsmuster und Klischees auf. So vermag Botho von Rienäcker sich keine echte Alternative zu seiner Offiziersexistenz zu denken, sondern ruft sich lediglich die stereotypen antibürgerlichen Rollen „Kunstreiter, Oberkellner und Croupier“41 ins Bewusstsein.

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(1894). Im Hinblick auf Emma Bovary und andere“, in: Horst Denkler (Hrsg.), Romane und Erzählungen des bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, Stuttgart 1980, S. 362–377, hier S. 371). Wölfel vermutet die ‚Sprachidentität‘ als Fundament der Figurenkonzeption: „Mag bei anderen Erzählern eine sinnliche Gestalt, eine Gebärde oder Lage, ein Problem oder Schicksal am Anfang der schaffenden Tätigkeit der Einbildungskraft stehen, bei Fontane ist es eine Redeweise, die sich durch das Hinzutreten einer Person als deren Träger, zur Figur entfaltet“ (Wölfel, Kurt, „ ‚Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch‘. Zum Figurenentwurf in Fontanes Gesellschaftsromanen“ [1963], in: Wolfgang Preisendanz (Hrsg.), Theodor Fontane, Darmstadt 1973 [Wege der Forschung, Bd. 381], S. 329–353, hier S. 335). Dieser abgestuften sozialen Einbindung der Dialoge tragen die differenzierten Gesprächs- und Mitteilungsformen Rechnung, die in Fontanes Romanen begegnen, etwa die gesellschaftliche Konversation, das Tischgespräch, die vertraute Unterhaltung, der Brief oder auch das adressatenlose Selbstgespräch. Das Alleinsein ist die Ausnahmesituation; Einsamkeit grenzt schon ans Pathologische. Fontane, Theodor, Irrungen, Wirrungen, in: HFA 1.2, S. 319–475, hier S. 403.

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Charakteristisch für Fontanes Gesellschaftsromane ist die Aufweichung der den Bildungsroman bestimmenden Fronten zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Grenze wird fließend, weil gesellschaftliche Normen und Rollenerwartungen so stark internalisiert scheinen, dass sich das Individuelle davon nicht mehr trennen lässt. Schon Kurt Wölfel wies darauf hin, dass der Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft „nicht als Konflikt zweier autonomer Größen ausgetragen wird“42, da die Konventionen und Normen der Gesellschaft konstituierende Elemente des Figurenbewusstseins bilden.43 Rainer Kolk schließt daran an, indem er Fontanes Romane als Dokumente eines Strukturwandels menschlicher Subjektivität liest, die ein „Wissen über Phänomene wie Ausgrenzung der Sinnlichkeit, Deformation von Individuation, Verdinglichung kommunikativer Beziehungen“44 vermitteln.

IV.

Figurenwissen

Gustav Freytag hat seinem Roman Soll und Haben das von Julian Schmidt entlehnte Motto vorangestellt: „Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit.“ Fontanes Romane sparen Erwerbsleben und Arbeit geradezu systematisch aus. Zwar bestimmt die berufliche Stellung – als Industrielle, Bankiers, Professoren und Verwaltungsbeamte – das Selbstbewusstsein und den sozialen Status seiner Figuren, sie werden aber dennoch nie in Ausübung ihres Berufs gezeigt. Vielmehr sucht Fontane Freiräume auf, Situationen, in denen die Figuren vom Arbeitsalltag entlastet scheinen und nicht funktional auf ihre Rolle im Erwerbsleben festgelegt sind: Theaterbesuche, Landpartien, festliche Diners schaffen ihm Gelegenheiten, seiner Vorliebe für den Dialog freien Lauf zu lassen. Wenn ich nun abschließend den Dialog auf seine Leistung für das Verhältnis von Figur und Wissen befrage, möchte ich ein Untersuchungsfeld skiz42 43

44

Wölfel, „ ‚Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch‘ “, S. 332. Ähnlich stellt Claudia Liebrand fest, „daß die Protagonisten Außenperspektiven internalisieren, ihre Selbstdefinition nolens volens auf Fremdvorgaben abstellen. Im Fontaneschen Œuvre wird kein monadisches Subjekt einer zum Gegenüber hypostasierten Gesellschaft konfrontiert, sondern Gestalten, deren Ich sich nicht als ‚authentisches‘, sondern bereits als Resultat sozialer Prozesse präsentiert, suchen nach Wegen der Selbstkonstitution.“ (Liebrand, Das Ich und die andern, S. 12). Kolk, Rainer, Beschädigte Individualität. Untersuchungen zu den Romanen Theodor Fontanes, Heidelberg 1986, S. 21.

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zieren, das von der Forschung noch längst nicht erschöpfend behandelt wurde. Meine Überlegungen entwickle ich an dem konkreten Beispiel einer Dialogpartie des Stechlin; es handelt sich um die zu Beginn des Romans geschilderte Abendgesellschaft (Kap. 3). Das Tischgespräch berührt ganz unterschiedliche Wissensfelder: technisches Wissen (Telegraphie, Elektrizität), historisch-politisches Wissen (Sozialdemokratie, Revolution), biologisches Wissen (Fischzucht), geographisches Wissen (der Stechlin-See). Dennoch stellt der Dialog natürlich kein Medium der Wissensvermittlung dar. Ein Leser, der sich tatsächlich für Revolution, Telegraphie oder Fischzucht interessiert, erfährt hier nichts, was seine Kenntnisse erweitern könnte. Das liegt an der sprunghaften Art der Konversation. Die Gesprächspartner erörtern ihre Gegenstände nicht, sondern verknüpfen – wie es den Erwartungen an gesellschaftliche Konversation entspricht – bedenkenlos alles mit allem, den Mooskarpfen mit der Revolution und dem Kaiser von China. Und dann wird das Gesagte auch noch relativiert: „Was ich da gesagt habe“, so Dubslav, „[w]enn ich das Gegenteil gesagt hätte, wäre es ebenso richtig“45. Ist daraus nun aber zu schließen, dass Figurenrede, die sich im Rahmen gesellschaftlicher Konversation vollzieht, für das Verhältnis von Wissen und Figur unergiebig ist? Die Antwort hängt entscheidend von dem Wissensbegriff ab, den man zugrunde legt. Sofern man allein auf das faktische Wissen schaut, bleibt gesellschaftliche Konversation tatsächlich unbefriedigend. Wenn man aber berücksichtigt, in welchem sozialen Zusammenhang welches Wissen aufgegriffen und wie es kommuniziert wird, dann entpuppen Fontanes Dialoge sich als ein reichhaltiger sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Fundus. Die literarische Schilderung der Abendgesellschaft vermittelt ein differenziertes Wissen über die Praxis der gesellschaftlichen Konversation sowie über das sprachliche und soziale Regelsystem, auf dem diese Praxis beruht. Unverkennbar folgt die Abendgesellschaft einem stark ritualisierten Ablauf, zu ihm gehören die förmliche Vorstellung der Gäste mit Namen und Titel, eine Kleiderordnung und eine feste Tischordnung. Abweichungen von der Norm werden sehr genau registriert. Aus der Kleidung Frau Gundermanns, die „in geblümtem Atlas mit Marabufächer“46 erscheint, wird beispielsweise auf ihre Herkunft aus einer Berliner Vorstadt geschlossen. Das zeigt, dass die ganze Szene ein detailliertes Wissen über sozial gebundene Verhaltensweisen transportiert. Zudem gewährt die Konversation Einblick in den Bildungshorizont von Adel und Bürgertum. Sie vermittelt also, so könnte man 45 46

Fontane, Theodor, Der Stechlin, in: HFA 1.5, S. 27. Ebd., S. 25.

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sagen, Wissen über das Wissen der Sprechenden – und dabei werden dann gerade auch die Grenzen des Wissens interessant, an denen Halbbildung und Ignoranz ablesbar werden. Die Gesprächsthemen selbst geben Aufschluss darüber, welches Wissen zu Fontanes Zeit kulturell relevant ist, öffentlich thematisiert und reflektiert wird. Bezeichnend scheint mir der Umgang mit der ‚Telegraphie‘ zu sein, ich zitiere den Hausherrn Dubslav von Stechlin: „Schließlich ist es doch was Großes, diese Naturwissenschaften, dieser elektrische Strom, tipp, tipp, tipp, und wenn uns daran läge (aber uns liegt nichts daran), so könnten wir den Kaiser von China wissen lassen, daß wir hier versammelt sind und seiner gedacht haben. Und dabei diese merkwürdigen Verschiebungen in Zeit und Stunde. Beinahe komisch. Als anno siebzig die Pariser Septemberrevolution ausbrach, wußte man’s in Amerika drüben um ein paar Stunden früher, als die Revolution überhaupt da war.“47

Der alte Stechlin reflektiert die weltumspannende Technik der Telegraphie als Globalisierungsphänomen, das bedrohlich erscheint, weil es die gewohnte Ordnung von Raum und Zeit außer Kraft setzt. Er verweist auf die Verteufelung der neuen Technik, doch er nimmt ihr das Bedrohliche: „Der Teufel is nich so schwarz wie er gemalt wird“48. Dubslav selbst geht in spielerischer Weise mit den kollektiven Ängsten um. Er kehrt die übliche Perspektive um, indem er die neue Technik nicht als etwas beschreibt, dem man ohnmächtig ausgeliefert ist, sondern im Gegenteil als eine Möglichkeit, über die ganze Welt zu verfügen, wenn man nur wollte. An solchen Stellen ermöglicht der literarische Text – als ein „Echoraum für die verschiedensten Stimmen aus der geschichtlich-sozialen Welt“49 – Zugriff auf kollektive Mentalitäten, die als kognitive und affektive Dispositionen auf einer schwer zugänglichen Ebene zwischen sozialen Strukturen einerseits und dem Handeln der Menschen andererseits angesiedelt sind. Der heutige Leser kann Fontanes Konversationen auf der Basis genauer Analyse ein sozial- und mentalitätsgeschichtliches Wissen abgewinnen, das ihm andere historische Quellen nicht vermitteln können. Freilich ist der historische Quellenstatus, den man den Texten durch eine solche Herangehensweise zuschreibt, prekär. Denn wir haben es ja nicht tatsächlich mit dem O-Ton der Zeit, sondern mit einem narrativ-fiktionalen Text zu tun: und also mit einem künstlichen Dialog, der überdies in sehr bewusster, ja artisti47 48 49

Ebd., S. 27. Ebd., S. 27. Mecklenburg, Norbert, Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit, Frankfurt am Main 1998, S. 21.

‚Nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum‘

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scher Weise in den Roman integriert und motivisch mit ihm vernetzt ist (die scheinbar belanglose Gesprächspassage enthält in großer Dichte zentrale Themen und Leitmotive des gesamten Romans: Sozialdemokratie, Revolution, das Verhältnis von alt und neu). So ist einerseits in Rechnung zu ziehen, dass der Autor nicht bloß einen Schnittpunkt zeitgenössischer Diskurse vorstellt, sondern als steuernde und selektierende Instanz über das bestimmt, was gesprochen wird. Und andererseits ist zu beachten, dass die Aussagen der Figuren auch der Selbstcharakterisierung und individuellen Profilierung dienen. Am Beispiel der Telegraphie lässt sich erkennen, wie Dubslav auf kollektive Erfahrungen und Ängste Bezug nimmt, aber in individuell-souveräner Weise mit ihnen umgeht. Damit glaube ich immerhin angedeutet zu haben, dass Fontanes Dialoge eine Fülle von Wissen speichern: kollektives Wissen, standesgebundenes oder schichtspezifisches Wissen und schließlich ein unmittelbar an die Figur gebundenes, individuelles Wissen – vielleicht müsste man besser von einer individuellen Form der Wissensaktualisierung sprechen. Nicht zuletzt vermitteln Fontanes fiktive Dialoge ein Wissen über die Schwierigkeit, zwischen diesen verschiedenen Formen des Wissens sichere Grenzen zu ziehen.

V.

Schluss

Im Mittelpunkt von Fontanes Literaturkritiken und dem eigenen literarischen Schaffen steht die Darstellung des Menschen – gemäß seinem Motto: „Nur Menschen wecken unser Interesse“50. Seine realistische Figurenkonzeption resultiert aus der doppelten Frontstellung gegen den Idealismus und gegen den französischen Realismus als einen ‚naturalistischen Realismus‘. Das bedeutet die Ablehnung sowohl idealisierender, idealtypischer Figurenentwürfe als auch die Ablehnung einer rein biologistischen und deterministischen Figurenkonzeption. Fontane ist bestrebt, den Konstruktcharakter seiner Figuren zu verdecken und sie von vorgängigen theoretischen Konzepten und Überlegungen möglichst frei zu halten. Seine Figuren erscheinen nicht als Träger eines faktischen Wissens oder spezifischer Erkenntnisse, sondern transportieren ein zeitgebundenes Erfahrungswissen. Leitend für die Figurengestaltung ist die Vorstellung vom sozialen Wesen des Menschen, dessen Bewusstsein von kollektiven Denkmustern, Werten und Normen durchdrungen ist. Das macht eine klare Grenzziehung zwischen Individuellem und Typischem unmöglich. Eine, und wahrscheinlich 50

Fontane, „Willibald Alexis“, in: HFA 3.1, S. 459.

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sogar die wesentliche Leistung von Fontanes Figurendarstellung liegt darin, den Grenzbereich zwischen dem bloß Typischen und dem bloß Individuellen auszuloten. Dabei geht es nicht um klare Grenzziehung, sondern es werden im Gegenteil Verschränkungen aufgewiesen: Im GesellschaftlichTypischen zeigt sich Individuelles; vermeintlich individuelle Handlungen hingegen werden nicht selten als typisches Rollenverhalten verständlich.51 Die literarische Figurendarstellung wird so zu einem Sondierungsinstrument, dessen spezifische Leistungsfähigkeit darin gründet, dass es nicht analytisch verfährt wie die Wissenschaften. Weil die Literatur ‚bloß‘ darstellt, ohne zu erklären, ist sie in der Lage, das komplexe Wechselspiel von Gesellschaftlichem und Individuellem zu erkunden. Indem Fontanes Figurendarstellung die Grenze zwischen Individuum und Gesellschaft umkreist, ohne sie exakt zu markieren, erzeugt sie ein sozial fundiertes psychologisches und anthropologisches Wissen. Es gibt Aufschluss über die paradoxe Situation des Individuums am Ende des 19. Jahrhunderts, das selbst im Versuch, das Gesellschaftliche zu negieren, noch der Gesellschaft verhaftet bleibt. Statt seine Figuren in sterile Versuchsanordnungen zu stellen, bettet Fontane sie in ein Geflecht von Motiven, Beziehungen und Spiegelungen ein, das eine Vielfalt von Bedeutungen generiert, die über die Autorintention hinausgeht.52 Fontanes Romane ermöglichen Einblicke in das Triebwerk menschlichen Handelns, sie erheben aber nicht den Anspruch, dieses Triebwerk vollends durchsichtig zu machen. Seine Romane verhalten sich noch skeptischer gegenüber der Idee des „Glasmenschen“ als Graf Petöfy im Gespräch mit seiner Schwester: „Nun denn, im Hospitale zu Charenton, so berichtet hier die ‚Augsburgerin‘, ist hundertunddrei Jahre alt ein Mensch gestorben, den man allgemein den Glasmenschen nannte.“ „Sonderbar. Ein l’homme de fer ist mir auf meinen Weltfahrten irgendwo vorgestellt worden, ich glaub in Straßburg. Aber ein l’homme de verre ist mir neu. Warum hieß er so?“ 51

52

Der Ehebruch oder das außereheliche Verhältnis stellt sich aus Sicht der Beteiligten natürlich als etwas Persönliches dar – in den Texten aber wird ihm durch Spiegelungen und Parallelstellen häufig die Besonderheit abgesprochen. Melanie in L’Adultera nimmt die Parallelgeschichte des Ehepaars Vernezobre zum Anlass, den Anspruch auf Individualität zu erklären: „Ich bin doch anders. Und wenn ich’s nicht bin, so bild’ ich es mir wenigstens ein.“ (Fontane, Theodor, L’Adultera, in: HFA 1.2, S. 7–140, hier S. 95). Ähnlich auch Norbert Mecklenburg: „In ihrer erzählstrukturellen Vielstimmigkeit gründet es, dass Fontanes Romane unvergleichlich offen sind für die Widersprüche des wirklichen Lebens von Menschen in Gesellschaft“ (Mecklenburg, Theodor Fontane, S. 21).

‚Nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum‘

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„Weil er sich selber einbildete, von Glas zu sein.“ „Also durchsichtig?“ „Ja.“ „Sagt die Notiz nichts weiter? Du bist so einsilbig, Judith. Ich möchte mehr wissen. Wie verbracht’ er sein Leben?“ „Er lebte korrekt.“ „Nur in der Ordnung. Wer von Glas ist, hat die Verpflichtung, korrekt zu leben; er kann ja jeden Augenblick in seinem Triebwerk kontrolliert werden. Was meinst du, Franziska?“ Diese senkte den Blick, überwand sich aber und sagte: „Die Seele, mein ich, bleibt unsichtbar.“ „Ja, die Seele. Aber es wäre schon immer was, das Herz arbeiten zu sehen.“ „Es ist das so nötig nicht“, sagte Judith. „Alles hat seinen Widerschein, und auch das Herz spiegelt sich. Wir sind alle viel mehr Glasmenschen, als du glaubst, Bruder. Und es ist schließlich auch ein Glück, daß es so ist.“ „Aber ein größeres noch, daß es als Regel nicht so ist. Nur der Irrtum ist das Leben.“53

Siglenverzeichnis HFA = Fontane, Theodor, Werke, Schriften und Briefe, Walter Keitel und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), München 1962–1997 [Angaben nach dem Muster: HFA Abt. Bd., S.].

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Fontane, Graf Petöfy, in: HFA 1.1, S. 845f.

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Forschung Aust, Hugo, Theodor Fontane. Ein Studienbuch, Tübingen 1998. Brinkmann, Richard, „Der angehaltene Moment. Requisiten – Genre – Tableau bei Fontane“, in: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift für Charlotte Jolles, Nottingham 1979, S. 360–380. Glaser, Horst Albert, „Theodor Fontane: ‚Effi Briest‘ (1894). Im Hinblick auf Emma Bovary und andere“, in: Horst Denkler (Hrsg.), Romane und Erzählungen des bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, Stuttgart 1980, S. 362–377. Killy, Walther, „Abschied vom Jahrhundert. Fontane: ‚Irrungen, Wirrungen‘ “, in: Ders., Wirklichkeit und Kunstcharakter. Neun Romane des 19. Jahrhunderts, München 1963, S. 193–211. Koch, Thomas, Literarische Menschendarstellung, Tübingen 1991. Kolk, Rainer, Beschädigte Individualität. Untersuchungen zu den Romanen Theodor Fontanes, Heidelberg 1986. Lämmert, Eberhard, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955. Liebrand, Claudia, Das Ich und die andern. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder, Freiburg i. Br. 1990. Mecklenburg, Norbert, Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit, Frankfurt am Main 1998. Müller-Seidel, Walter, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975. Ohl, Hubert, „Zwischen Tradition und Moderne. Der Künstler Theodor Fontane am Beispiel von ‚Unwiederbringlich‘ “, in: Alan Bance/Helen Chambers/Charlotte Jolles (Hrsg.), Theodor Fontane. The London Symposium, Stuttgart 1995, S. 232–252. Pfister, Manfred, Das Drama. Theorie und Analyse, München 1988. Plett, Bettina, „L’Adultera. ‚ … kunstgemäß (Pardon) …‘ – Typisierung und Individualität“, in: Christian Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1991, S. 65–91. Searle, John R., „Der logische Status fiktionaler Rede“, in: Maria E. Reicher (Hrsg.): Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie, Paderborn 2007, S. 21–36. Wölfel, Kurt, „ ‚Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch‘. Zum Figurenentwurf in Fontanes Gesellschaftsromanen“ [1963], in: Wolfgang Preisendanz (Hrsg.), Theodor Fontane, Darmstadt 1973 (Wege der Forschung, Bd. 381), S. 329–353.

Figur und Figuration

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Figur und Figuration Perspektivierung sterblicher Zeit in Wilhelm Raabes Altershausen

Zwar können wir „wissen, daß wir werden und vergehen, uns verändern, aber wir erleben es nicht“.1 So umreißt Hans Blumenberg im Rahmen der phänomenologischen Schrift Lebenszeit und Weltzeit das kulturhistorische Problem, dass der Mensch aufgrund der Enge seiner Präsenzzeit den Prozess seines Lebens nur mittelbar erfahren könne. Zu den vorzüglichsten Medien dieser vermittelten Erfahrung gehören, so Blumenberg, Erinnerung und Erwartung – die eigene wie die der anderen – ebenso wie eine „Welt von Bildern“, über die das Werden und Vergehen in der Zeit vergleichend erschlossen werden kann. Dabei sind sowohl die rekonstruierende Erinnerung als auch die projektive Erwartung insofern narrativ strukturiert, als sie zeitlich, das heißt grundsätzlich vergleichend organisiert sind und eine oder mehrere Veränderungen in der Geschehensfolge vorstellen. So vermag Erzählung, handele sie von der Vergangenheit oder von der Zukunft, Zeiterleben zu simulieren. Auch wenn die fiktive Zeiterfahrung in einer literarischen Erzählung kategorial von der lebendigen Erfahrung des Lesers getrennt ist, weist sie funktionale Analogien auf, in denen die Zeitstruktur der Erzählung mit der „gewöhnlichen Handlungserfahrung“ zumindest teilweise zur Deckung kommt.2 In seinen Studien zum Verhältnis der literarischen Erzählung zur Zeit führt Paul Ricœur weiter aus, dass insbesondere in solchen Texten der Klassischen Moderne – wie etwa in Virginia Woolfs Mrs. Dalloway –, in denen die „Zeiterfahrung selbst der Gegenstand“ des Erzählens ist, die unterschiedlichen Zeitkonzepte, von der Lebenszeit über die Geschichts- und Naturzeit bis zur Ewigkeit, in Spannung geraten. Diese Spannung, so Ricœur, schlägt auf die narrative Komposition, vor allem aber auch auf die „lebendige Erfahrung der Gestalten der Erzählung“ durch.3 In der literarischen Figur wird 1 2

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Blumenberg, Hans, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt am Main 1986, S. 288. Vgl. Ricœur, Paul, Zeit und Erzählung. Bd. 2: Zeit und literarische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, München 1989 (Übergänge 18/II), S. 170–259, hier S. 170f. Ebd., S. 171f.

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mit Beginn der Moderne das anwachsende Missverhältnis einer als immer kürzer empfundenen Lebenszeit, die subjektiv als „sterbliche Zeit“4 erfahren wird, gegenüber einer in Vergangenheit und Zukunft offenen Weltzeit ausgetragen. Mehr noch als die Abkehr vom geozentrischen Weltbild führte die Verzeitlichung der Welt, von der kosmologischen Zeit bis zur Entstehung der Arten, wie Blumenberg nachgezeichnet hat, zur Marginalisierung der menschlichen Lebensspanne.5 Inwieweit die narrativ inszenierte Zeiterfahrung und die Wahrnehmung des Spannungsverhältnisses unterschiedlicher Zeitkonzepte insbesondere auch mit dem Lebensalter der Figuren korreliert und altersspezifisch differenziert ist, soll im Folgenden anhand von Wilhelm Raabes Fragment gebliebenem Roman Altershausen (1899–1902) gezeigt werden. Aus der Perspektive des siebzigjährigen Protagonisten Friedrich Feyerabend erzählt Raabe eine von ihrem Ende her bedingte menschliche Zeiterfahrung, die

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Paul Ricœur spricht in diesem Zusammenhang von „le temps mortel“, der etwa in Mrs. Dalloway mit dem „temps monumental“ interferiert. Vgl. Ricœur, Paul, Temps et récit. Bd. 2, Paris 1984, S. 152. Die narrative Gestaltung der sterblichen Zeit im englischen Roman der beginnenden Moderne untersucht Middeke, Martin, „Zur Poetologie gelebter Zeit im spätviktorianischen Roman“, in: Ders. (Hrsg.), Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, S. 161–195. Zeitsymbolik und Altersbewusstsein stehen dabei in einem engen Verhältnis zueinander. Das Substantiv Zeit bezeichnet zwar nichts Gegenständliches, wie Norbert Elias darlegt, es verweist seinem Ursprung nach vielmehr auf eine Tätigkeit, nämlich die des Zeitnehmens, des messenden Vergleichens von nicht gleichzeitig stattfindenden Ereignissen, allerdings neige der Sprachgebrauch dazu, hoch synthetisierte Symbole wiederum zu verdinglichen. Zeit ist aber trotz dieser Verdinglichung zweiten Grades nach ihrer sozialen Funktionalität ausdifferenziert und historisch bedingt, da jeder Zeitmessung ein perspektivischer Vergleich zugrunde liegt, der den Bedingungen des zu Messenden angepasst ist. So bemessen sich Tages- und Lebenszeit nach den relativen Konstanten der Bewegung von Himmelskörpern, während diese wiederum dem zeitlichen Wandel des Universums unterworfen sind und mit der Lichtgeschwindigkeit einer anderen Konstante bedürfen. Das verdinglichte Symbol Zeit suggeriert aber die prinzipielle Vergleichbarkeit unterschiedlicher Wandlungsprozesse, so dass mit dem anwachsenden Archiv historischen, kulturellen und wissenschaftlichen Wissens der Eindruck entsteht, dass das Leben des Einzelnen verglichen mit den historisch-sozialen oder biologischevolutionären Zeitläufen immer kürzer werde. Diese Erfahrung ist Ergebnis einer erhöhten „individuelle[n] Sensibilität in Bezug auf die Zeit“, die mit einer differenzierten Selbstregulierung des Individuums nach der Zeit in modernen Gesellschaften einhergeht. Vgl. Elias, Norbert, Über die Zeit, Frankfurt am Main 1988, S. XXXf. und vor allem S. 32–44.

Figur und Figuration

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zugleich narrativ simuliert wie kommentiert wird. Während der Feierlichkeiten zu seinem siebzigsten Geburtstag erinnert sich der Medizinprofessor und Psychiater Friedrich Feyerabend unwillkürlich an seinen Schulfreund Ludchen Bock. Seine Kindheit und Schulzeit treten ihm so plastisch vor Augen, dass er eingedenk der Jugendstreiche die Rolle des würdigen Jubilars kaum angemessen auszufüllen vermag. Ihn bestürmen die Erinnerungen so sehr, dass seine Ansprache an die Festgemeinde verworren klingt. Die plötzlich vergegenwärtigte Kindheit lässt den Greis, der nach dem Tod seines einzigen Kindes und seiner Frau alleine mit seiner Schwester lebt, auch Tage nach seiner Jubelfeier nicht mehr los. Kurzerhand entschließt er sich, inkognito in die Stadt seiner Kindheit, nach Altershausen, zu reisen. Seine Geburtsstadt hat der weit gereiste Arzt und Gelehrte seit seinem zwölften Lebensjahr nicht mehr besucht. Was ihn so unvermittelt zu diesem Entschluss bewegt und was er sich eigentlich von dieser Reise verspricht, vermag er selbst nicht recht zu erklären. Nach einer verschlafenen Fahrt im „Blitzzug“ begegnet er am Bahnhof auf Anhieb seinem Jugendfreund Ludchen, der sich ihm als Kofferträger anbietet. Ludchen, nur äußerlich gealtert, ist aufgrund eines Unfalls geistig wie emotional auf dem Stand eines zwölfjährigen Knaben zurückgeblieben. Inspiriert durch den genius loci und konfrontiert mit dem Kind gebliebenen Jugendfreund, wird für Feyerabend der Aufenthalt zu einer assoziativen Zeitreise, deren Medien abwechselnd schlafwandlerische Spaziergänge und Träume sind. Im Dialog mit Minchen, der gemeinsamen Schulfreundin von Fritz und Ludchen, die sich seit dessen Unfall wie eine Schwester um ihn kümmert, wird das Selbstgespräch, das Feyerabend seit seinem Geburtstag führt, aus dem subjektiven Erleben in intersubjektive Erinnerung überführt. Als schließlich auch Minchen anhebt, von sich zu erzählen, um die Zeitlücke zu schließen, die sich zwischen der gemeinsamen Vergangenheit und der Gegenwart auftut, und der monologische Roman sich erstmals zum Dialog zu öffnen scheint, bricht der Text ab. Erzählt wird nur die Alterserfahrung Feyerabends, dessen Blickwinkel perspektivisch in ein erlebendes, erinnerndes und erzählendes Ich aufgefächert ist. Die plakativ sprechenden Namen betonen den experimentalen Charakter des Textes, der mit der Selbstvergewisserung des Pensionärs eingeleitet wird. In zwei zentralen Träumen, dem so genannten Geschichtstraum und dem Nussknackertraum, überlagern sich die sterbliche Zeit des individuellen Lebens mit den übergeordneten Zeitmodellen einer historischen Äraskala und der symbolischen Repräsentation von Zyklik und Fortschritt. Neben und im Wechsel mit der organisierenden Erzählerinstanz repräsentieren die zeitlich differenzierten Aspekte der Hauptfigur das Wissen um

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die perspektivische Struktur der sterblichen Zeit.6 In der Figur Feyerabends wird das Wissen um eine Zeitperspektive des Alters literarisch gestaltet und simulativ erprobt, lange bevor Mitte des 20. Jahrhunderts die Zeitperspektive des Alters von der Psychologie empirisch erforscht wurde.7 Ein frühes Beispiel für eine solche literarisch simulierte Zeitperspektive des Alters ist Theodor Storms Erzählung Marthe und ihre Uhr von 1848, in der die alte Uhr, deren Schlagwerk diskontinuierlich abläuft, insofern richtig geht, als sie auf die erinnerte Zeit der alternden Jungfrau abgestimmt ist. Die Uhr schlägt nach dem Takt der von Marthe empfundenen Dauer und nicht nach der verstrichenen Zeit. In solchen Texten, in denen die Zeiterfahrung selbst thematisiert wird, stößt die erzähllogische Vereinheitlichung der Ereignisfolge, die Ricœur als „dissonante Konsonanz“ bezeichnet,8 an ihre Grenzen. So kommt es zu „imaginativen Variationen, welche die hierarchischen Ebe-

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Bereits Dieter Kafitz weist in seiner Studie zu Romanen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darauf hin, dass sich das Wissen der Figuren nur im Zusammenhang ihrer Konstellation zueinander beschreiben lässt (Kafitz, Dieter, Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitsauffassung, Kronberg/Ts. 1978, S. 8f.). Kafitz geht abschließend auch knapp auf Altershausen ein und deutet das Fragment als Problematisierung der von Raabe in den Braunschweiger Romanen favorisierten „bipolaren Struktur“ von Romanheld und bürgerlichem Chronisten, die im letzten Werk an beiden Polen brüchig geworden sei (ebd., S. 224–227). Mit der „Bezogenheit von Heldengestalt und Erzählerfigur“ bietet Kafitz ein Analysekriterium, das die Figurenkonstellation für den Fall homodiegetischen Erzählens auch auf eine innere Figuration anwendbar erscheinen lässt. Der Begriff Zeitperspektive wird erstmals in der Sozialphilosophie von Lawrence K. Frank eingeführt (Frank, Lawrence K., „Time Perspectives“, in: Journal of Social Philosophy, 4/1939, S. 293–312) und von Lewin im Kontext der empirischen Feldtheorie definiert als „die Gesamtheit der Ansichten eines Individuums über seine psychologische Zukunft und seine psychologische Vergangenheit, die zu einer gegebenen Zeit existieren“ (Lewin, Kurt, Werkausgabe, Bd. 4: Feldtheorie, hrsg. von Carl Friedrich Graumann, Bern 1982, S. 173). Im Anschluss daran entstanden erste empirische Untersuchungen zur Zeitperspektive im Alter, vgl. etwa Schreiner, Manfred, Zur zukunftsbezogenen Zeitperspektive älterer Menschen, Diss. Bonn 1969. Dieser Ansatz aus der Feldforschung wurde auch in neueren empirischen Studien weitergeführt und differenziert. Modifizierte Ergebnisse stellen Schneider, Wolfgang-Friedrich, Zukunftsbezogene Zeitperspektive von Hochbetagten, Regensburg 1989, und Thomae, Hans, „Veränderungen der Zeitperspektive im höheren Alter“, in: Zeitschrift für Gerontologie, 22/1989, S. 58–66 vor. Einen Überblick über neuere gerontologische und psychologische Studien zur Zeitperspektive im Alter und ihre Praxisanwendung bietet Burzan, Nicole, Zeitgestaltung im Alltag älterer Menschen. Eine Untersuchung im Zusammenhang mit Biographie und sozialer Ungleichheit, Opladen 2002, S. 80–88. Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 75.

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nen“9 der sequentiellen Zeitmessung in ihrer Tiefenstruktur ergründen und die linearen Zeitmaße mit der diskontinuierlichen Zeiterfahrung konfrontieren. In Raabes Roman wird diskontinuierliche Zeiterfahrung, wie im Folgenden gezeigt werden soll, dadurch abgebildet, dass die Hauptfigur in ein autoreflexiv schreibendes Ich und eine dritte Person aufgefächert wird, von der das Ich als von einer anderen erzählt.10 Diese Verschränkung von autodiegetischem und heterodiegetischem Erzählen verleiht dem Protagonisten Feyerabend perspektivisch distinkte Stimmen, die dem alten Schreiber/Erzähler, dem sich erinnernden Jubilar sowie dem erinnerten Kind Fritz zugeordnet werden können.11 So handelt es sich bei Feyerabend zwar um eine Person, im Erzählprozess wird diese Einheit allerdings in perspektivische Aspekte aufgebrochen und die Einzelfigur in eine Figuration verschiedener Stimmen transformiert.12 Das dialogische Wechselspiel der Stimmen in Altershausen lässt sich mit dem Modell narrativer Perspektiven und Interferenzen von Wolf Schmid als Neben- und Gegeneinander verschiedener Wissenshorizonte beschreiben, über welche der Protagonist vom Standpunkt eines langen Lebens verfügt.13 9 10

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Ebd., Bd. 2, S. 172. Die narrative Grundstruktur des Textes, in dem das Erzähler-Ich im Laufe der Erzählung mit einem Der konfrontiert wird, thematisiert die grundlegende zeitliche Differenz innerhalb der homodiegetischen Erzählsituation. Dies wurde erstmals gezeigt von Oehlschläger, Eckart, „Erzählverfahren und Zeiterfahrung. Überlegungen zu Wilhelm Raabes ‚Altershausen‘ “, in: Leo A. Lensing/Hans-Werner Peter (Hrsg.), Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Aus Anlaß des 150. Geburtstags (1831–1981), Braunschweig 1981, S. 381–404, hier S. 388f. Zur Erinnerungsstruktur des Erzählens in Altershausen siehe auch Drummer, Almut, Verstellte Sicht. Erinnerndes Erzählen als Konstruktion von Ablenkung in späten Schriften Wilhelm Raabes, Würzburg 2005 (Epistemata 533), S. 194–245. Der Begriff Figuration, wie er im Folgenden verwendet wird, schließt damit einerseits an den von Norbert Elias eingeführten sozialwissenschaftlichen Begriff zur Beschreibung von Interdependenzgeflechten an (vgl. Elias, Norbert, Was ist Soziologie?, Weinheim 2004, S. 139–145), die in diesem Fall auf die eine, in verschiedene Figurenperspektiven aufgebrochene, Identität übertragen werden, andererseits meint Figuration in einer kulturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs auch die Prozessualität und performative Dynamik, mit der eine vorübergehende Einheit der Person in der Vielheit ihrer Perspektiven bezeichnet wird (vgl. die Einführung in Atsuko Onuki/Thomas Pekar [Hrsg.], Figuration – Defiguration. Beiträge zur transkulturellen Forschung, München 2006, S. 7–16, und den Tagungsband Böhm, Gottfried [Hrsg.], Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, Paderborn 2007). Vgl. Schmid, Wolf, Elemente der Narratologie. 2. verbesserte Aufl., Berlin, New York 2008. Zum Interferenz-Modell vgl. auch Schmid, Wolf, „Erzähltextanalyse“, in:

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In Anlehnung an Bachtins Theorie einer dialogischen Konkurrenz von Erzähler- und Figurenrede im einzelnen Wort kann aus der Interferenz der drei zeitlichen, räumlichen und sozial unterschiedenen Stimmen in Raabes Text eine instabile Konkurrenz von Selbstdeutungen herausgearbeitet werden, durch die eine differenzierte Beschreibung der Zeitperspektive des Alters am Beispiel des alten Feyerabend ermöglicht wird.14 Dass das letzte Werk Altershausen für Raabe auch ein autoreflexives Schreibexperiment war, welches sich durch die hybride Struktur interferierender Perspektiven auszeichnet, zeigt ein Blick auf die Entstehungsgeschichte.15 Bei keinem anderen Projekt hatte Raabe seine Schwierigkeiten so offen gelegt und Freunden einen vergleichsweise tiefen Einblick in seine Schreibwerkstatt gewährt wie bei seinem letz-

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Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2: Methoden und Theorien. Stuttgart, Weimar 2007, S. 98–120. Während Bachtin Monologizität und Dialogizität in der erzählenden Literatur mit stabilen oder im Umbruch befindlichen Gesellschaften und Sprachgemeinschaften korreliert (vgl. Bachtin, Michail M., Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Alexander Kaempfe, München 1969, hier S. 7–14), kann analog zum Zusammenhang von Sprache/Literatur und Gesellschaft auch eine Entsprechung von Sprache und Persönlichkeit angenommen werden. Bachtin zeigt dies etwa am Beispiel der Heldenpersönlichkeit in Dostojewskis polyphonen Romanen (ebd., S. 86–100). Die Vielfalt von sozialen Standpunkten und Weltanschauungen, wie sie in Zeiten sozialen und kulturellen Umbruchs, etwa in der Renaissance oder der Frühmoderne, aufeinander trafen, fanden ihre ästhetische Entsprechung in der Form des polyphonen Romans (zur Unterscheidung von dialogischen und monologischen Romanformen in der europäischen Literaturgeschichte vgl. Bachtin, Michail M., Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. und aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel/Sabine Reese, Frankfurt am Main 1979, S. 215–300). Mit solchen Umbrüchen lässt sich, so die Annahme der folgenden Untersuchung, die Identitätskrise einer Person vergleichen. Dissonante Selbstbilder, die in einer Lebenskrise in Konkurrenz zueinander treten, würden demnach in einer polyphonen Rede über sich selbst gespiegelt, die sich als Interferenz von autodiegetischem Erzähler- und verschiedenen zeitlich differenzierten Figurentexten analysieren lässt. Zu den Merkmalen der Interferenz auf den Ebenen der Grammatik, Syntax, Lexik und Stilistik, auf denen jeweils der Bewusstseinshorizont des Erzählers und der Figuren interferieren können, vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 181–229. Zur Entstehung des Fragments und der für Raabe untypischen Selbstkommentierung, die Eckart Oehlschläger als „selbstironisch-lapidare Altersdrastik“ charakterisiert (Oehlschläger, Eckart, „Erzählverfahren und Zeiterfahrung“, S. 381), vgl. neben dem Kommentar von Karl Hoppe in Raabe, Wilhelm, Sämtliche Werke. Bd. 20: Hastenbeck – Altershausen – Gedichte. Hrsg. von Karl Hoppe, Göttingen 22001, S. 475–499 (im Folgenden zitiert als BA 20) auch den Beitrag von Hoppe, Karl, „Entstehung und Veröffentlichung von ‚Altershausen‘ “, in: Jahrbuch der Wilhelm Raabe Gesellschaft 1967, S. 72–79.

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ten Roman. Dies mag daran gelegen haben, dass sich Raabe, nachdem er Hastenbeck 1898 abgeschlossen hatte, zutiefst erschöpft fühlte.16 Die Arbeit am Roman verlief entsprechend schleppend, bis Raabe schließlich 1902 mitten im 16. Kapitel die Feder endgültig zur Seite legte. Alle Versuche, ihn zu einer Fortsetzung des Romans zu bewegen, scheiterten. Wiederholt macht Raabe sein hohes Alter dafür verantwortlich, dass er nicht mehr in der Lage sei, das Projekt seinen Ansprüchen gemäß zu beenden. Als sein Freund Fritz Hartmann ihn mit der Aussicht auf einen späten Bestseller zum Weiterschreiben ermutigen wollte, wiegelte Raabe ab: Ach, glauben Sie das doch nicht. Noch nicht einmal verstanden würde es. Ich habe mich ausgeschrieben und als Schriftsteller des 19. Jahrhunderts dem zwanzigsten gar nichts mehr zu sagen. Seit dem 8. September 1901 ist meine Muse tot. Nach dem siebzigsten Geburtstag sollte überhaupt keiner mehr literarisch glänzen wollen. Da kommt nichts bei heraus. Es bleibt immer besser, wenn die Leute sagen: „Warum schreibt denn der nicht mehr?“, als wenn sie räsonnierten: „Der alte Kerl hätte auch gescheiter aufgehört“.17

Raabe proklamierte seinen 70. Geburtstag am 8. September 1901 rückblickend zum kritischen Datum. Auch wenn dies nicht ganz stimmt, da er nachweislich noch bis Mitte 1902 an Altershausen gearbeitet hat,18 scheint in der Selbststilisierung der Gedanke auf, dass sich Raabe selbst in den Ruhestand entlassen habe.19 Mehr noch als die Inszenierung der künstlerischen Altersschwäche nach dem siebzigsten Geburtstag haben Aussagen Raabes, welche die strukturelle Unabschließbarkeit des Textes andeuten, die Forschung beschäftigt.20 Hatte sich die Literaturkritik und Forschung der zwanziger und dreißiger Jahre vor 16

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An seinen Freund Wilhelm Jensen schrieb er am 13. Februar 1899: „Geistig, das ist: litterarisch, bin ich seit Hastenbeck ausgebeutelt wie noch nie und noch nie mir so wie ein leerer Sack vorgekommen“. Zitiert nach: BA 20, S. 475. Zitiert nach Hoppe, „Entstehung und Veröffentlichung von ‚Altershausen‘ “, S. 75. Vgl. BA, Bd. 20, S. 476. Gegenüber dem Publizisten und Wagnerianer Hans von Wolzogen schließt er endgültig eine Vollendung von Altershausen aus: „Das so betitelte Ding wird nicht mehr als ein Ganzes in die Erscheinung treten. Über das Fragment mag man sich später einmal wundern: es ist melancholisch-drollig genug. Im Übrigen ist es nunmehr im 78sten Lebensjahr mir lieber, daß die Leute sagen: ‚Schade, daß er aufgehört hat‘, als wenn sie sagen müssten: ‚Endlich sollte er doch aufhören‘.“ Vgl. ‚In alles geduldig‘. Briefe Wilhelm Raabes (1842–1910). Im Auftrag der Familie Raabe hrsg. von Wilhelm Fehse, Berlin 1940, S. 389. So etwa die brieflich überlieferte Bemerkung, dass Altershausen Fragment bleiben müsse „und als solches […] freilich einmal seinen Wert haben“ werde (vgl. ebd., Bd. 1, Berlin 1940, S. 252).

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allem mit dem weltanschaulichen Gehalt des Bruchstücks beschäftigt und in Raabes Nachlasswerk ein Selbstbekenntnis des Dichters erkannt,21 wandte man sich nach 1945 vermehrt der ungewöhnlichen Form zu und fragte nach der erzähltechnischen und thematischen Modernität des Fragments.22 Die Einschätzung, dass es in Altershausen vornehmlich um die Schilderung einer Reise in die Kindheit und Jugendzeit gehe, blieb davon jedoch unberührt. Ob in einer zeitgenössischen Rezension mit dem Titel Eine Traumfahrt nach Jugendhausen oder in Manfred Dierks kulturgeschichtlichem Vergleich mit Sigmund Freuds Verfahren der Psychoanalyse, die meisten Ansätze konzentrieren sich auf die „Traumfahrt ins Jugendland“.23 Der Blick auf das hohe 21

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Altershausen sei „eine große Konfession, die uns den herrlichen Menschen lieben“ lehre. So Robert Lange im Grenzboten vom 21. 6. 1911, zitiert nach BA, Bd. 20, S. 479. Einen Überblick über die Diskussion zum Status des Fragments bietet Sammons, Jeffrey L., Wilhelm Raabe. The Fiction of the Alternative Community, Princeton/NJ 1987, S. 316–330. Die Bewertung des Fragments folgt bis heute in der Forschung weitgehend einer teleologischen Einordnung der ästhetischen und narrativen Innovation und reicht von Theo Bucks Betonung der Modernität, die sich vor allem im ersten Teil als kongeniale Umsetzung von Arthur Schnitzlers Technik des inneren Monologs zeigt (Buck, Theo, „Am Rande des Inneren Monologs. Zur Erzählkonstruktion von Raabes ‚Altershausen‘ “, in: Jahrbuch der Wilhelm Raabe Gesellschaft, 1987, S. 24–45) bis zu Dirk Göttsche, der eher die Persistenz realistischen Erzählens im Fragment nachzeichnet. Er stellt weniger die strukturelle Unabschließbarkeit des Werks in den Vordergrund als vielmehr die Unstimmigkeiten des Entwurfs, so dass Altershausen als unfertiges Werk erscheint, das jedoch als „experimentelle Überschreitung eigener Voraussetzungen […] den Gestus des Aufbruchs, der die gleichzeitigen literarischen Neuansätze in Berlin, München und Wien charakterisiert“, teilt (Göttsche, Dirk, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg 2000, S. 153–171, hier S. 171). Vgl. Dierks, Manfred, „Reisen in die eigene Tiefe – nach Kessin, Altershausen und Pompeji“, in: Thomas-Mann-Studien, 18/1997, S. 169–186, und nochmals mit dem Blick auf Kindheit als Suche nach der verlorenen Identität Dierks, Manfred, „ ‚Das Kind noch dabei‘. Raabe, Freud und Jensen in Altershausen“, in: Jahrbuch der Wilhelm Raabe Gesellschaft 2000, S. 16–30. Die im Roman entworfene harmonische Kindheitswelt wird auch von Dieter Kafitz, der Raabes letzten Roman ebenfalls als Heimreise in die Kindheit liest, als eigentliches Erzählziel gedeutet, von dem er allerdings, anders als Siegfried Hajek, Ludchen Bock ausgeschlossen sieht (vgl. Kafitz, Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung, S. 224–227 sowie 287, und dagegen Hajek, Siegfried, „Die Freiheit des Gebundenen. Bemerkungen zu Raabes ‚Altershausen‘ “, in: Jahrbuch der Wilhelm Raabe Gesellschaft, 1974, S. 24–40). Diese Apotheose der Kindheit wurde schon von den Rezensenten der Erstausgabe von 1911 nahe gelegt und von Fritz Martini in einer der ersten umfassenden Interpretation wieder aufgegriffen, wenn Martini davon spricht, dass Altershausen sich insoweit in das Gesamtwerk Raabes einfüge, als auch hier das Grundmotiv

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Alter des siebzigjährigen Protagonisten und damit auf den Ausgangspunkt der Reise wurde demgegenüber in der Forschung marginalisiert.24 Weniger die glückliche Vergegenwärtigung des Lebensanfangs als das Lebensende spricht aber aus dem Ortsnamen „Altershausen“. Der Titel erscheint umso sprechender, als die autobiographische Anspielung auf Raabes Geburtsstadt Eschershausen noch durchscheint. Die Ersetzung von ‚Eschers-‘ durch ‚Alters-‘ streicht heraus, dass der Roman auch von der spezifischen Erfahrungswelt des alten Menschen handelt, der nicht nur einen Sonderfall für die erzählte Identitätskrise in der Moderne darstellt.25 Wenn auch die Erinnerung an die Kindheit in ganz besonderer Weise mit der Wahrnehmung des Alters verbunden ist, verdeckt die wortspielerische Umwidmung von „Altershausen“ in „Jugendhausen“, welche Kurt Arnold Findeisen in einer zeitgenössischen Kritik im Literaturblatt Eckart vornimmt,26 die zentrale Bedeutung der Zeitperspektive des Alters im Roman.27

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der „Suche nach der verlorenen Zeit in der Ursprungswelt der Kindheit“ aufgerufen werde (Martini, Fritz, „Wilhelm Raabes ‚Altershausen‘ “, in: Jahrbuch der Wilhelm Raabe Gesellschaft, 1964, S. 78–105, hier S. 87). Zwar wurde das von Theodor Heuss eingebrachte Diktum von Altershausen als „Abschiedswort des Greises“ immer wieder aufgegriffen, um das Fragment als bekenntnishaftes Spät- und Alterswerk zu lesen, der Zusammenhang zwischen dem alten Protagonisten Feyerabend und der spezifischen Zeitperspektive des Textes wurde jedoch nur angedeutet, wenn etwa Martini auf den Zusammenhang von Altersperspektive und Programmatik realistischen Erzählens verweist, denn das „Verhältnis des Alters zum Leben entspricht in vielen Zügen dem Verhältnis des ‚realistisch‘ erzählenden Künstlers zum Stoff der Welt, den er aus dem Disparaten und Partikularen, dem Gebrochenen der Wirklichkeit in eine innere Erfahrung und Einheit des Sinnesbezugs zu verwandeln bemüht ist“ (Martini, „Wilhelm Raabes ‚Altershausen‘ “, S. 80). Trotz der divergierenden Bewertungen, die von konsequenter realistischer Verklärung bei Hajek bis zur unlösbaren Katastrophe reichen, als die Pascal das Fragment deutet, ist sich die Forschung dahingehend einig, dass Raabes Fragment vornehmlich die Krise der Identität verhandelt, die zum Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn der Moderne zwischen Autonomieanspruch und tatsächlicher Heteronomie des Subjekts sowohl in den Künsten als auch in den Humanwissenschaften aufbrach. So etwa Adolphs, Ulrich, „Schreibakt als Suche nach Identität. Wilhelm Raabes ‚Altershausen‘ “, in: Jahrbuch der Wilhelm Raabe Gesellschaft, 1985, S. 92–106, und zusammenfassend Thomé, Horst, Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus. Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993, S. 151–168. Findeisen, Kurt Arnold, Traumfahrt nach Jugendhausen, in: Eckart, 6/1911/ 1912, S. 62–65. Die in der Literaturkritik vorgenommene einseitige Perspektivverschiebung auf die Kindheit wurde von der Forschung lange Zeit übernommen. Zwar haben Oehlschläger und Göttsche die leere Formel von der ‚Aufhebung der Zeit‘ in Raa-

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Bereits der Romananfang führt in die Problemstellung einer zeitlich perspektivierten Identität ein, wenn der Name der Hauptfigur, das sprachliche Zeichen seiner Identität,28 zunächst ausgespart bleibt und der Protagonist nur in einer Situationsperiphrase eingeführt wird: „Überstanden!“ Der das sagte, lag in seinem Bette, und nach dem Licht auf dem Fenstervorhang zu urteilen, mußte die Sonne eines neuen Tages bereits ziemlich hoch am Himmel stehen.29

Da der Ort der Handlung – das Bett – und über den Sonnenstand annähernd auch die Handlungszeit – später Vormittag – trotz des In-medias-res-Eingangs traditionell exponiert werden, ist die Namenslücke, die das Pronomen hinterlässt, deutlich markiert. Die Aufmerksamkeit wird so auf die unbekannte, da nicht benannte Figur gelenkt. Die vermeintliche Distanz zwischen Erzähler und Figur wird indes im gleichen Absatz durch die Interferenz zwischen Erzähler- und Figurentext unterlaufen: Es war dem befreienden Seufzerwort ein längeres Zusammensuchen, erst der körperlichen Gliedmaßen, sodann der noch vorhandenen geistigen Fähigkeiten voraufgegangen. Beides nicht, ohne daß es, wie die Kinder sagen: wehe getan hatte. Das Alter spricht oft der Kindheit ein Wort nach, weil es von Natur kein besseres weiß und, wenn es im Laufe der Jahre danach gesucht haben sollte, keins gefunden hat. Man braucht sich nicht immer an einer Tischecke gestoßen haben, es kann einem auch sein siebenzigster Geburtstag freundschaftlichst, ehrenvollfeierlichst begangen worden sein.30

Wenn der Erzähler sich des Vergleichs mit der Kindersprache bedient und den Ausdruck „wehe getan“ wählt, um die Stimmung des Greises nach seinem Geburtstagsfest zu beschreiben, und anschließend diese Wahl mit der

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bes späten Romanen zurückgewiesen und die Raabe-Forschung dahingehend korrigiert, dass die narrative Faktur von Altershausen die Zeitreflexion selbst inszeniere; dass es sich um die spezifische Zeitwahrnehmung eines alten Menschen handelt, wurde indes nur am Rande beachtet, auch wenn in der älteren Forschung bereits darauf hingewiesen wurde, dass Raabes Text nicht in den Motiven einer konventionellen Altersidylle aufgeht (etwa Martini, „Wilhelm Raabes ‚Altershausen‘ “, S. 86f.). In diesem Sinn deutet auch Hans-Georg Pott Altershausen als einen Text, der, als Lebenshilfe gelesen, dem alten Menschen eine radikale Erinnerungsperspektive zubilligt (vgl. Pott, Hans-Georg, Eigensinn des Alters. Literarische Erkundungen, München 2008, S. 113–126). Zur Bedeutung des Namens für das Erkennen einer literarischen Figur vgl. Jannidis, Fotis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin, New York 2004 (Narratologia 3), S. 120–130. BA 20, S. 203. Ebd.

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allgemeinen Neigung des Alters zur Kindersprache erklärt, so liegt nahe, dass der Erzähler ebenfalls alt ist. Die Passage exponiert zugleich das durchgängige Verfahren, mit der in der Figur Feyerabend zeitlich distinkte Bewusstseinshorizonte stilistisch und lexikalisch verschränkt werden. Das Ereignis, sich an einer Tischecke zu stoßen, wird mit dem Gefühl, als siebzigjähriger Jubilar gefeiert zu werden, einerseits gleichgesetzt, stilistisch aber kontrastiert: Dem schlichten onomatopoetischen Klageausdruck „wehe tun“, der dem Sprachvermögen des Kindes entstammt, stehen die Superlativkomposita „freundschaftlichst, ehrenvollfeierlichst“ aus dem Vokabular des distanzierten alten Schreibers gegenüber. Es wird so schon zu Beginn deutlich, dass es sich nicht um einen altersbedingt regressiven, sondern vielmehr um einen manieriert sprachmächtigen Erzähler handelt, der im Rückblick auf ein langes Leben über zeitlich distinkte, sich überlagernde Ausdrucksstile verfügt. Die nur vordergründig verhüllte Nähe des Erzählers zu seiner Figur trügt nicht. Am Ende des ersten Abschnitts wird die Verrätselung des Protagonisten aufgelöst, indem sich der Erzähler selbst als die Hauptfigur zu erkennen gibt, von der er berichtet. Der vermeintlich heterodiegetische Erzähler erweist sich als autodiegetischer, wenn er bekennt: Es roch um den Jubelgreis nach Kuchen – Geburtstagskuchen, Hochzeitskuchen, Begräbniskuchen – nach dem Kuchen aller Erdenfestlichkeiten! und der Jubelgreis mit den mühsam wieder zusammengesuchten Körper- und Geisteskräften bin Ich, nun der Schreiber dieser

Blätter.31

Dieser innovative Erzähleingang wird in der Forschung vor allem deswegen kontrovers diskutiert, weil er zu Beginn des zweiten Kapitels wieder zurückgenommen wird.32 Das folgende Kapitel setzt nochmals mit der Exposition der Hauptfigur ein. Diesmal allerdings in traditioneller Form mit der Namensnennung, die in ihrer Ausführlichkeit allerdings perspektivisch offen und nullfokalisiert ausfällt:

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Ebd., S. 204. Zur Konstruktion des Anfangs und zum Verhältnis zu den nachfolgenden Kapiteln vgl. Buck, „Am Rande des Inneren Monologs“, S. 37–41, der im Wechsel von der Introspektion der Ich-Erzählung zur Er-Erzählung einen nicht zu heilenden Bruch mit der Grundanlage des Textes erkennt, den er unter anderem auch für den Abbruch der Erzählung verantwortlich macht.

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Sein Name war Feyerabend. Fritz nannte ihn seine Schwester Karoline, Onkel Friedrich eine etwas entfernte Nichten- und Neffenschaft, Wirklicher Geheimer Rat die Welt.33

Weder können die beiden Eingänge gegeneinander ausgetauscht werden, noch lässt sich kritisch entscheiden, ob dem vermeintlich „experimentelle[n] Auftakt“34 oder dem konventionellen Anfang der Vorzug zu geben wäre,35 da es sich nicht um eine alternative, sondern um eine ergänzende Lesart des Romananfangs handelt. Wie bereits Oehlschläger gezeigt hat, spricht der Erzähler von sich als einem anderen. Und mehr noch, der Leser gewinnt den Eindruck, dass Feyerabend von sich als einem Fremden spricht, je weiter er sich auf das Experiment der Zeitreise einlässt. Inwieweit die unvermittelte Rückkehr zum Erzählen in der dritten Person Ausdruck des strukturellen Scheiterns an der Unvereinbarkeit subjektivierten und realistischen Erzählens darstellt – wie es Theo Buck vermutet – oder aber als eine erzählerisch inszenierte Selbstdistanzierung des Ich-Erzählers aufzufassen sei, muss aufgrund der fragmentarischen Form letztlich offen bleiben. Ungeachtet der literarischen Wertung erzählt der doppelte Anfang von der Introspektion des alten Feyerabend und inszeniert diese sogleich in der Gegenüberstellung von schreibendem Ich und erzähltem Er. Die subjektive Sichtweise des „Jubelgreis[es]“,36 mit welcher der Roman einsetzt, wird durch die autodiegetische, aber in der dritten Person distanzierte Erzählperspektive des zweiten Anfangs veräußerlicht. Dass der Text von der Instabilität des perspektivischen Standpunkts handelt, wird im gesamten Roman in zahlreichen Interferenzen deutlich, in denen der Erzählertext und die Texte des erinnernden und erinnerten Ichs verschränkt sind. Bereits während der Verabschiedungsfeierlichkeit, dem rite de passage aus der Zeitökonomie des Berufslebens in die Restzeit des Lebens, verschmel-

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BA 20, S. 208. Buck, „Am Rande des Inneren Monologs“, S. 39. Bereits Heinrich Detering deutet Altershausen als ein „Schreibexperiment“, das der Identitätssuche dient und schließlich im Verstummen des Erzählens enden muss (vgl. Detering, Heinrich, Theodizee und Erzählverfahren, Göttingen 1990, S. 245–258). Zur Diskussion der These von Buck und zum Problem der funktionalen Ähnlichkeit vgl. Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S. 155f. BA 20, S. 204. Inwiefern es sich auch bei dem Kompositum ‚Jubelgreis‘ um eine der zahlreichen intertextuellen Anspielungen handelt, indem auf Jean Pauls Erzählung Der Jubelsenior verwiesen wird, ist in der Forschung umstritten, weisen beide Texte doch bis auf das Kompositum nur wenige Parallelen auf. Vgl. hierzu Zeller, Christoph, Allegorien des Erzählens. Wilhelm Raabes Jean-Paul-Lektüre, Stuttgart 1999, S. 315–355, und Buck, Am Rande des Inneren Monologs, S. 28.

Figur und Figuration

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zen Gegenwart und Vergangenheit. Den „ ‚gemischten Gefühlen‘ “,37 die sich bei Feyerabend einstellen, begegnet der Mediziner zunächst mit gewohnter Routine, indem er sie pathologisiert. Mit der Aufforderung „Arzt, hilf dir selber!“ will Feyerabend der Irritation seiner Gefühlslage begegnen. Das nachgesetzte Fragezeichen der nächsten Zeile bildet aber typographisch die Offenheit des Schreibprozesses ab, welcher der nachfolgenden Erzählung zugrunde liegt. Eine Offenheit, die der der Schreiber mit den Worten kommentiert: „Im folgenden mag es sich denn ablagern, wie das Fragezeichen beantwortet worden ist. Lasset euer Brod über Wasser fahren! heißt es in der Heiligen Schrift.“38 Die ersten therapeutischen Schritte, denen er sich unterzieht, scheitern jedoch. Das Bewusstsein der sozialen Desintegration, nicht mehr dazuzugehören, Frau und Sohn nicht mehr an seiner Seite zu wissen, steht im Gegensatz zur Einsicht, selber „noch dabei“ zu sein, wie die leitmotivische Formel lautet, mit der Feyerabend sich seiner Präsenz immer wieder versichert. Die temporalen Adverbien ‚nicht mehr‘ und ‚noch dabei‘ flankieren das Hier und Jetzt, welches zwischen Vergangenheit und Zukunft eingezwängt ist. Der Roman entwickelt dabei eine altersspezifische Zeitperspektive, wie sie von der Psychologie seit den 1950er Jahren auch empirisch erforscht wird.39 So verweist die mehrfach gebrauchte und somit leitmotivisch verwendete For37 38 39

BA 20, S. 207. Ebd., S. 208. Bereits in den 1930er Jahren gab es erste Ansätze zu einer Alterspsychologie, die auf den russischen Psychologen Nikolaj A. Rybnikov zurückgeht, der 1929 den Begriff der Gerontologie eingeführt hat und eine nach Lebensaltern differenzierte Psychologie entwickelte (vgl. Rybnikov, Nikolaj A., „[Das Problem der Psychologie des Alterns, russisch]“, in: Zhurnal Psikologii Psikotekniki, 2/1929, S. 16–32; in Deutschland wurden die Thesen vorgestellt in Ders., „Das Problem einer vergleichenden Psychologie der Altersstufen“, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie, 34/1930, S. 102–104). In den 1950er Jahren wurden diese Überlegungen vor allem mit Blick auf den Wandel der Zukunftsperspektive im Lebensverlauf diskutiert und seit den 1960er Jahren auch empirisch überprüft (vgl. hierzu den Forschungsüberblick bei Schreiner, Manfred, Zur zukunftsbezogenen Zeitperspektive älterer Menschen, S. 49–62). Auch wenn die neuere Forschung die lange vorherrschende Annahme, dass im Alter die Zukunftsperspektive zugunsten der Vergangenheit zunehmend an Tiefe verliere, als Stereotyp zurückweist und im Rahmen empirischer Studien zum Ergebnis einer auch noch im Alter zu differenzierenden Zeitperspektive kommt, bleibt das Ergebnis einer mit dem Alter korrelierbaren Zeitperspektive unbestritten (vgl. Mönks, Franz J./Bouffard, Léandre/Lens Willy, „Zeitperspektive im Alter“, in: Andreas Kruse/Reinhard Schmitz-Scherzer (Hrsg.): Psychologie der Lebensalter, Darmstadt 1995, S. 271–281, und Burzan, Nicole: Zeitgestaltung im Alltag älterer Menschen, S. 71–89).

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mel „noch dabei“ auf eine Zeiterfahrung, die von ihrem Ende her gedacht ist. Dies stimmt auch mit Erkenntnissen der Gerontologie überein, wonach die kognitive Vorstellung von dem, was Zukunft sei, im Alter erheblich modifiziert wird. Die Zeitperspektive wird so umstrukturiert, dass Zukunft mehr und mehr in ihrer Finalität wahrgenommen wird und als unmittelbar bevorstehend schließlich ganz mit der Gegenwart verschmilzt. Diese Gegenwart wird im Roman aber selbst wiederholt unter die Perspektive des Verlusts von Zukunft gestellt, wenn mit dem temporalen Adverb ‚noch‘ der Augenblick bereits aus der Perspektive seines nahen Endes in einer simulierten Retrospektion aufgerufen wird. Feyerabend, der sich wiederholt als jemand begreift, der „noch dabei“ ist und selbst den Verstorbenen zuruft: „Noch dabei, ihr Toten! …“,40 findet in der banalen Rede vom ‚schönen Wetter‘, die den gesamten Roman durchzieht, eine Formel für die Evidenz des Augenblicks. In der Wahrnehmung des schönen Wetters erfährt Feyerabend seine eigene Präsenz bestätigt, die allerdings immer bereits unter dem Vorbehalt der Endzeitlichkeit steht. Ein Vorbehalt, der auch durch die Handlungszeit während einiger nachsommerlicher Herbsttage markiert ist.41 Sei es nach der ersten Begegnung mit Ludchen Bock: „So schönes Wetter, und – beide alte Kinder von Altershausen noch dabei!“42 oder wenn er sich auf den Weg zum Maienborn macht, wo er seine alte Klassenkameradin Minchen treffen wird: „So schönes Wetter und er noch dabei! …“43 Allein in der trivialen meteorologischen Angabe kommt die innere und äußere Zeit noch zur Deckung, wird Gegenwart erfahren. Die leitmotivisch wiederholte Formel macht deutlich, dass die Selbstvergewisserung der Figur in der Erzählgegenwart von erinnerter Vergangenheit und geschlossener Zukunft zunehmend bedrängt wird. Zweimal spaziert Feyerabend durch Alterhausen, einmal nachts zur Geisterstunde unmittelbar nach seiner Ankunft und das andere Mal am hellen 40 41

42 43

BA 20, S. 207. Vgl. ebd., S. 217 und 223. Die mehrfach markierte Jahreszeit eines nachsommerlich heiteren Herbstes könnte, insbesondere mit Blick auf weitere intertextuelle Verweise (siehe Anm. 49 und 63) auf Schopenhauers Schrift Vom Unterschied der Lebensalter hindeuten, da darin der gebräuchliche Vergleich der Lebensalter mit den Jahreszeiten ebenfalls in ungewöhnlicher Weise mit dem altersabhängigen Zeitempfinden konnotiert wird: „Sogar werden, wie im Frühling des Jahres, so auch in dem des Lebens, die Tage zuletzt von einer lästigen Länge. Im Herbste beider werden sie kurz, aber heiter und beständiger“ (Schopenhauer, Arthur, „Vom Unterschiede der Lebensalter“, in: Ders., Aphorismen zur Lebensweisheit, Stuttgart 1963, S. 234–263, hier S. 243f.). BA 20, S. 235. Ebd., S. 267.

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Sonnentag. Nur vordergründig geht es bei diesen Spaziergängen um ein Wiedererkennen und Wiederfinden seiner Kindheit.44 Die Assoziationen, die sich auf seinen Spaziergängen einstellen, führen außerdem vor, wie die vermeintlich unveränderten Äußerlichkeiten, Marktplatz, Elternhaus und Misthaufen, projektiv so überformt werden, dass Vergangenheit und Gegenwart in der Zeitperspektive Feyerabends verschmelzen. Der Besuch in Altershausen dient dazu, das Experiment der Selbsterkundung, das so plötzlich auf seinem siebzigsten Geburtstag begann, unter neuen, besseren Bedingungen fortzusetzen. Die Fahrt in die Stadt seiner Kindheit verräumlicht im Sinn des Chronotopos von der Heimfahrt die kalendarisch-lineare Zeitwahrnehmung des siebzigjährigen Jubilars. Im nur geringfügig veränderten Prospekt der Stadt und der Gleichförmigkeit des Sonnenlaufs scheint die verstrichene Zeit aufgehoben zu sein. Allerdings wird das moderne Altershausen, von dem der Schreiber noch berichtet, in der Perspektive des erinnernden Feyerabend ausgeblendet.45 So interferiert die Schilderung von Feyerabends Wahrnehmung im Folgenden zwischen dem Erzählertext und dem Text des erinnernden Ichs:

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Wiederfinden und Wiedererkennen bestimmen im Sinn der aristotelischen Anagnorisis den gesamten Roman, wie Eva Geulen sowohl auf der Ebene der Erzählung als auch auf der des Erzählens nachzeichnet. Allerdings sei dieser Prozess der Anagnorisis durch eine andauernde „Disjunktion zwischen Wiedererkanntem und Wiedererkennendem“ verkompliziert und stelle daher eine zeittypische Antwort auf die problematische Bestimmung der Identität dar. Vgl. Geulen, Eva, „Anagnorisis statt Identifikation (Raabes ‚Altershausen‘)“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 82/2008, S. 424–447, hier S. 437. Der Weg, den Feyerabend in das Stadtzentrum nimmt, wird vom Erzähler als Gang zurück durch die Baugeschichte beschrieben: „Der eine hinter dem andern überschritten die zwei Freunde vom Bahnhofe her die Landstraße, ließen das Bahnhofshotel, von dessen Schwelle aus ein etwas kurios aussehender Portier dem Stadtsimpel Ludchen eine Faust wies, zur Linken und von der Brücke an das, was seit sechzig Jahren an Baulichkeiten zu Altershausen hinzugekommen war, im Rücken. Wie wenn ein Theatervorhang mit griechischem Tempel und der dazu gehörigen Staffage drauf emporrollt und dahinter auf der Bühne Wilhelms Schreibstube aus den Geschwistern erscheint, so war das! … Von dem leise hinsickernden Bach, der doch zur Rechten der Brücke den dreieckigen Teich bildete, bis zu den Resten der mittelaltrigen Stadtmauer das Wiesental entlang und den grauen Dächern drüber und dem stumpfen Turm der Stadtkirche – von den Wäldern und Berggipfeln im Halbkreis rundum gar nicht zu reden – alles, alles, wie es war vor sechzig Jahren, alles, wie Fritze Feyerabend es hier gelassen hatte, mit seines Schicksals Faust am Kragen, auf seinen Lebensweg hingedreht und fürdergestoßen“ (BA 20, S. 234f.).

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Da lehnte er in der warmen Abenddämmerung am Fenster, alle seine Kinderspielplätze unter und um sich! Da der Torbogen mit dem letzten Turm der alten Stadtummauerung – über den Hausdächern die grünen, doch schon in der ersten Herbst-Abenddämmerung versinkenden Berggipfel! Die Stadtbewohner und -bewohnerinnen vor den Haustüren, die Mägde am Brunnen, die Kinder im letzten Spiel vor dem Schlafengehen – alles, wie es gewesen war vor zwei Menschenaltern, wohlerhalten wie Vineta unter dem Wasser – daß der greise Herr des Messers, der Sägen und Zangen, des Blutes und des Eiters das alles durch Tränen gesehen habe, soll hiermit nicht gesagt sein. – „Du da, bin auch da! Auch du da?“ Wer war’s, der so fragte? Die Glocke vom Turm der Stadtkirche, die acht schlug. Aus welcher Zeit kam grade jetzt die klagende Stimme wieder her: „O, das schöne Wetter, und mein Kind nicht mehr dabei!“ –? Doch mit ihr das hohe Wort: „Was ich besitze, seh ich wie im Weiten, Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.“46

Die wiederholten lokalen und temporalen Deiktika – „da“ und „gerade jetzt“ – gehören ebenso wie die verkürzte Frage „Wer war’s“ und die elliptischen Sätze der Perspektive des erinnernden Ichs an. Diese wird vom Text des schreibenden Erzählers überlagert. Ihm ist der mythopoetische Vergleich der Stadt mit Vineta ebenso zuzurechnen wie die amplifizierte Antinomie des Arztberufes und die ironische Präteritio des sentimentalen Gefühls. Beide Figurenstimmen führen in der Textinterferenz eine Art inneren Dialog, der die perspektivische Schichtung der Figur wiedergibt. In diesen Dialog der verschiedenen Figurentexte sind auch intertextuelle Stimmen, wie am Ende des Zitats die Schlussverse aus der „Zueignung“ zu Goethes Faust, eingebunden.47 Der Intertext resümiert schließlich mit einer fremden, aber angeeigneten Stimme, die der Ebene des schreibenden Erzählers zugeordnet ist, die Zeitperspektive des Alters als Inversion der Zeitabstände. Neben dem Verlust der Zukunftsperspektive erscheint auch die Vergangenheit aus der Sicht des alten Protagonisten perspektivisch verkürzt. Bereits Arthur Schopenhauer, den Raabe in seinen letzten Romanen wiederholt rezipiert,48 hat in den Aphorismen zur Lebensweisheit die Lebensalter unter anderem nach ihrem Verhältnis zur Zeit unterschieden und ausgeführt, dass Er-

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Ebd., S. 240. Goethe, Johann Wolfgang, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung, Bd. 7/1: Faust. Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne, Frankfurt am Main 1994, S. 11. Vgl. die umfassende Studie von Fauth, Søren R., Der metaphysische Realist. Zur Schopenhauer-Rezeption in Wilhelm Raabes Spätwerk, Göttingen 2007.

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innerung mehr sinnlich selektiv als abstrakt kontinuierlich strukturiert sei. So komme es, daß bisweilen Erinnerung und Phantasie uns eine längst vergangene Szene unsers Lebens so lebhaft vergegenwärtigen, wie den gestrigen Tag; wodurch sie dann ganz nahe an uns herantritt. Dies entsteht dadurch, daß es unmöglich ist, die lange zwischen jetzt und damals verstrichene Zeit uns ebenso zu vergegenwärtigen; indem sie sich nicht so in einem Bilde überschauen läßt, und überdies auch die Vorgänge in derselben größtenteils vergessen sind, und bloß eine allgemeine Erkenntnis in abstracto von ihr übriggeblieben ist, ein bloßer Begriff, keine Anschauung. Daher nun also erscheint das längst Vergangene im einzelnen uns so nahe, als wäre es erst gestern geschehen, die dazwischenliegende Zeit aber verschwindet und das ganze Leben stellt sich als unbegreiflich kurz dar. Sogar kann bisweilen im Alter die lange Vergangenheit, die wir hinter uns haben, und damit unser eigenes Alter, im Augenblick uns beinahe fabelhaft vorkommen; welches hauptsächlich dadurch entsteht, daß wir zunächst noch immer dieselbe, stehende Gegenwart vor uns sehn. Dergleichen innere Vorgänge beruhen aber zuletzt darauf, daß nicht unser Wesen an sich selbst, sondern nur die Erscheinung desselben in der Zeit liegt, und daß die Gegenwart der Berührungspunkt zwischen Objekt und Subjekt ist.49

Diese Vermischung der Zeiten in der Gegenwart, wie sie Schopenhauer in einer knappen Psychologisierung der Zeitperspektive des Alters aufreißt und die Raabe im Goethe-Zitat aus der „Zueignung“ verdichtet aufruft, wird auch vom Erzähler angesprochen. Etwa, wenn er das Gespräch zwischen Feyerabend und Minchen mit den Worten zusammenfasst: „Nun vermischten sich den beiden die Zeiten mehr und mehr.“50 Aber auch der objektivierende Erzählbericht ist anfällig für die Vermischung der Zeiten in der Interferenz der verschiedenen Benennungen. Während „Wirklicher Geheimrat Professor Dr. Feyerabend“51 der großen Welt der Wissenschaft und Gesellschaft angehört, leben Fritz, Fritzchen und Fritze Feyerabend nicht nur an einem anderen Ort, nämlich in Altershausen, sondern gehören auch einer nderen Zeit an. Der Erzähler, von dem wir wissen, dass es Feyerabend selbst ist, vermengt die Namensformen immer dann, wenn die erinnerte Vergangenheit mit der Gegenwart konfrontiert wird, wenn die Stimme des erinnernden mit der des erinnerten kindlichen Ichs interferiert. So steigt zwar der Protagonist noch als „Geheimrat Feyerabend“ aus dem „Blitzzug“,52 als er aber auf dem Bahnsteig erfährt, dass der Knabe gebliebene Greis, der ihm den Koffer tragen will, sein Schulfreund Ludchen ist, wechselt die Namensform: „ ‚Ich bin ja Ludchen!‘ greinte das Gespenst, und Fritze Feyerabend 49 50 51 52

Schopenhauer, „Vom Unterschiede der Lebensalter“, S. 245. BA 20, S. 282. Ebd., S. 260. Ebd., S. 232.

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aus Altershausen […] fuhr zusammen und trat drei Schritte zurück […]“.53 Der Schrecken schlägt bis in die Aufzeichnungen des Schreibers durch, der sich nun selbst Fritze nennt, wie früher sein bester Freund. Das Spiel mit den Namen leitet auch die erste Zeitreise ein, die Feyerabend auf dem nächtlichen Spaziergang durch Altershausen unternimmt. Auf dem Weg vom Hotelzimmer hinab in die Stadt lässt er alle Titel, die Zeichen seiner erworbenen Identität, in einem distanzlosen inneren Monolog zurück. Auf den Gassen der Stadt angekommen, bleibt so schließlich allein die Koseform seines Rufnamens, „Fritze“, übrig: Nicht stolpern auf den unter den alten Füßen redenden Steinen, Herr Wirklicher Geheimer Medizinalrat! Langsam, langsam und mit Bedacht durch die Gegenwart gewordene Vergangenheit, Herr Doktor! Das Kind noch dabei Fritze!54

Die Eigennamen sind zwar die auffälligsten, aber nicht die einzigen Anzeichen dafür, dass in der Interferenz der verschiedenen Figurentexte Zeitstufen akkumuliert werden. Allem voran sind es die Gerüche, die mit der Vergangenheit assoziiert sind und den blinden Nachtwanderer vergessen machen, dass seit seiner Kindheit „zwei Menschenalter“55 verstrichen sind. Raabes Beschreibung antizipiert die neurologische Einsicht, dass Gerüche zwar nicht vorstellbar sind, aber umso intensivere Erinnerungen hervorrufen. Der nächtliche Spaziergang setzt erzählerisch Schopenhauers Gedanken um, dass sich in der Gegenwart das Objektive, hier der olfaktorische Eindruck, mit dem Subjektiven, den Vorstellungen der Vergangenheit, berühre und verschmelze. Die evokative Präsenz der Gerüche spiegelt sich auch in der elliptischen Syntax wider. Mitten in den unvollendeten Satz drängt mit einer Exclamatio der vertraute, aber vergessene Geruch: Aber je bekannter dem am Ort Fremdgewordenen die Wege unter den Füßen wurden – immer wieder der Geruch! Wahrhaftig sind es nicht die Sinne des Sehens, Hörens, Schmeckens und Fühlens, was einem den Ortssinn und das Heimatgefühl schärft: die Nase ist, die da sagt: Ja, geh du nur mir nach! so roch es hier, und so wird’s hier riechen.56

Sowohl die Deixis ‚hier‘, die den Erzähler, dem die antonomastische Benennung „dem am Ort Fremdgewordenen“ zuzurechnen ist, in der Mitsicht des erinnernden Feyerabend in die Welt von Altershausen platziert, als auch der elliptische Satz, mit dem der Geruch zwischen Präteritum und Futur schwe-

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Ebd., S. 233. Ebd., S. 242. Ebd., S. 221. Ebd., S. 252.

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bend vergegenwärtigt wird, heben die raumzeitliche Ordnung auf. Insbesondere dort, wo die Vergangenheit nicht über Bilder und Klänge, sondern über Gerüche evoziert wird, kippt die Wortwahl des Erinnernden in die des erinnerten Knaben. Vor einem Misthaufen, den Feyerabends Nase als den Misthaufen seiner Kindheit wiedererkennt, erinnert er sich der zahlreichen Raufereien, die er dort mit Ludchen ausgetragen hat: Vor zwei Menschenaltern war er nicht bloß mit der Nase, sondern mit der ganzen Visage, ganz abgesehen davon, was er sonst dabei abkriegte, hineingedrückt worden von seinem Freunde Ludchen […].57

Im Geruch wird die Erinnerung so unmittelbar, dass der Erzähler mit „Visage“ und „abkriegen“ Ausdrücke wählt, die aus dem Jargon seiner Kindheit stammen. Dieser Stilwechsel markiert die sprachliche Assimilation des Erzählers an das erinnerte Ich seiner Kindheit. In der Interferenz des Erzählertextes mit den beiden zeitlich differenzierten Figurentexten wird anschaulich, wie sich die Selbstbilder in der Retrospektive des Alters überlagern, ohne dass sie sich in eine klare Abfolge bringen ließen. Wie sich diese Interferenz der Texte und Zeitstufen auf die Zeitvorstellung auswirkt, zeigen insbesondere zwei Träume, die Feyerabend in Altershausen hat. Alternierend zu den beiden Spaziergängen fällt er zweimal in einen leichten Schlaf. Die komplementäre Komposition zwischen Spaziergang und Traum weist darauf hin, dass es sich jeweils um ergänzende Medien der Selbsterkundung handelt. Im ersten, dem so genannten Geschichtstraum, verknüpft der Träumer welthistorische mit biographischen Ereignissen und setzt sie auch syntaktisch in eins. Im halbwachen Zustand wird die geträumte Zeit vom Schlag der Stadtuhr gegliedert, während Uhrzeit, Weltzeit und Lebenszeit zu einer dissonanten Einheit verschmelzen: Welch eine wunderliche Uhr, die Stadtuhr von Altershausen! Eben hatte sie achtundvierzig geschlagen, nun schlug sie dem Geheimrat in seinem Bett im Ratskeller vierundfünfzig. Russen, Türken, Engländer und Franzosen rauften sich an der Donau und in der Krim um die Schlüssel zum Heiligen Grabe, und studiosus medicinae Feyerabend sah im Anatomiesaale zu Heidelberg zum erstenmal seinen Professor das Skalpell einem, wie er sich ausdrückte, „vorzüglichen Objekt“, das heißt einem schönen, reinlichen menschlichen Leichnam, in den Brustkasten stoßen, wobei das Messer in sich mitfühlte und sich doch an den Platz des sich schaudernd abwendenden Kommilitonen schob, um genauer zu sehen und zu hören und später selber da womöglich besser Bescheid zu wissen als der gegenwärtige Meister! Und neunundfünfzig schlug die Glocke vom Altershausener Kirchenturm. Nach Zeitberechnung wacher Menschen beanspruchte nun der Traum vielleicht 57

Ebd., S. 243f.

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kaum den zehnten Teil der Zeitdauer einer Sekunde: dem Geheimrat im Ratskeller währte er länger. An einem wolkenlosen Junitag stieg der Studierende der Medizin zu Wien aus der kühlen, dunkeln Tiefe des Esterhazykellers in den heißen, blendenden Mittag im Haarhof hinauf, von dem bepelzten Mann am Schenktisch, dem Pfiff Süßen und dem Pfiff Herben in diese glühenden Gassen voll Sonnenlicht, in Hast aufgerissener Fenster bis zu den höchsten Stockwerken, voll aufgeregter, angstvoller, zorniger Menschengesichter: „Magenta!“ Aber ist das nicht schon achtzehnhundertvierundsechzig, was die Glocke von Altershausen schlägt? Ja, die Zeit geht rasch hin und nicht bloß im Traum. Jetzt schneit es dem Alten hinein, und der junge Privatdozent Dr. med. Feyerabend in Kiel hört durch das Gestöber Kanonendonner, diesmal aus Norden her: in seinem Traum weiß er wieder nicht, was er zu dem gegenwärtigen Minister des Auswärtigen in Berlin sagen und wie er sich gegen ihn als politisches, jetzt selber den Finger auf die Weltkarte setzendes Tier verhalten soll. Sechsundsechzig muß es auf dem Altershausener Kirchturm schlagen und Geheimrat Feyerabend wach im Bett im Ratskeller sich aufrechtsetzen, um es sich von neuem zurechtzulegen, mit wem der Herr von Bismarck damals Krieg führte, ob mit den Dänen oder dem Durchlauchtigsten Deutschen Bunde und Seiner Apostolischen Majestät von Ungarn und Österreich. Er tat es, aber höchst verdrießlich und mit der Frage an sich selber: „Zum Henker, was ist denn dies? Habe ich meine alten Knochen deshalb zum Besuch von Ludchen Bock hierher getragen, um im Altershausener Ratskeller im Traum deutsche Geschichte zu treiben?“ Und mit einem mürrischen „Dummes Zeug!“ ließ er sein Haupt wieder auf das Kopfkissen zurückfallen und verschlief die Zahl siebenzig vom Altershausener Kirchturm völlig. – – –58

Chronologisch schreitet Feyerabend die Geschichte der Welt und seines Lebens von 1837 bis 1870 ab. In der Gegenüberstellung der historischen Äraskala, die durch Kontinuitätsbrüche von den Göttinger Sieben über die Revolution von 1848 bis zur Schleswig-Holstein-Krise und zu der letztlich vom Träumer verschlafenen Reichsgründung bestimmt wird, scheint das Leben entwicklungslogisch und kontinuierlich zu verlaufen. Die Bedeutsamkeit der Weltgeschichte steht so in Dissonanz zu den Zäsuren des eigenen Lebens, da sich Kriege und medizinische Ausbildung aufgrund der kontingenten Gleichzeitigkeit bestenfalls auf der Ebene der sprachlichen Angleichung aufeinander beziehen lassen. Dies geschieht etwa dort, wo die Brutalität des Krimkriegs in die Erinnerung an die erste anatomische Sektion hinüberreicht und der Professor mit dem Skalpell wie mit einem Bajonett den Brustkasten des Leichnams durchstößt. Der Traum, der in seiner Verschränkung von Lebens- und Geschichtszeit an die Zeitreihe in Johann Peter Hebels Kalendergeschichte Unverhofftes Wiedersehen erinnert, zeigt jedoch in seiner assoziativen sprachlichen Vermengung von Traumkommentar, Lebenserinne58

Ebd., S. 257–259.

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rung und Geschichte, dass sich die Rekonstruktion des eigenen Lebens nicht auf eine chronologische Reihe von Ärazahlen reduzieren lässt, da diese sich lediglich assoziativ und nicht von ihrer Bedeutung mit den erinnerten Lebensabschnitten verbinden lassen. Anders, aber doch komplementär fällt die Zeiterfahrung im zweiten, dem so genannten Nussknackertraum aus. Wieder ist Feyerabend um die Mittagszeit in seinem Quartier im Ratskeller eingenickt, doch diesmal träumt er sich nicht in die Weltgeschichte und seine Bildungsstationen zurück, sondern findet sich unversehens als eine hölzerne Nussknackerfigur der letzten Weihnacht in seinem Elternhaus wieder: Das war die blaue Stube! Da hatte eben noch seiner Mutter helles, liebes Lachen geklungen und Linchen, die neue Puppe im Arm, vom Arm des Vaters nach der höchsten Zuckerpuppe an der Lichtertanne gegriffen, als er – nicht Fritzchen Feyerabend – mit zur Familie und zur Blauen Stube gehörend, sich als der Nussknacker vom vorigen Jahr seinem – Nachfolger gegenüber fand! …59

Die Nachfolge ist das tertium comparationis, das die Traumvision des Nussknackers der vergangenen Weihnacht mit der Erfahrung des pensionierten Professors bis zur Identifikation verschränkt. Die „Nachfolger im Amte, auf dem Lehrstuhl, in der Wissenschaft, in den Glanzsälen der Wonneburgen der Walchen und im Verehrungsbedürfnis der Menschen“ erscheinen im neuen Nussknacker „[f]risch aus gegenwärtigen Kulturentwickelung“, der elegant die Reichs- und Nationalfarben trägt, repräsentiert.60 Im Gespräch zwischen Vorgänger und Nachfolger gelangt der Nussknacker Feyerabend schließlich zu der Einsicht, dass das Bemühen, die „Welträtselnuß“ zu knacken, kein Ende nimmt. Nur die ‚Knacker‘ selbst lösen einander ab: „Ich gehe, und sie kommen – wir werden nicht alle!“, ruft er seinem Nachfolger zu und ermutigt ihn, „alle durch mich [Feyerabend] getäuschten Erwartungen zu erfüllen“.61 Die endliche und lineare Lebenszeit wird im Nussknackertraum mit jener offenen, zyklischen Zeitvorstellung konfrontiert, die im Geschichtstraum ausgespart blieb. Im Kreislauf der Zeit, der bis zum jüngsten Tag ewig wiederkehrt und unverändert bleibt, werden die erreichten Qualifikationen, Verdienste und Ehrungen des Einzelnen bedeutungslos, da sie entindividualisiert erscheinen. Der Bezug des Nussknackertraums auf Schopenhauers „Vom Unterschiede der Lebensalter“ belegt einerseits Raabes Rezeption der pessimis-

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Ebd., S. 292. Ebd., S. 293. Ebd., S. 296f.

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tischen Erkenntniskritik auch für seinen letzten Roman,62 darüber hinaus zeigt er aber auch, dass Raabe mit Rückgriff auf Schopenhauer in der Figurenperspektive Feyerabends die Einsicht einer nach dem Lebensalter perspektivierten Wahrnehmung von Welt und Zeit gestaltet. Die Begegnung des alten Geheimrats mit seinem kindlichen Ich in Altershausen erscheint vor dem Hintergrund von Schopenhauers Schrift als eine Konfrontation gegensätzlicher Haltungen zur Welt, die aber so aufeinander bezogen sind, dass sie beide Glück – wenn auch ganz verschiedener Art – verheißen. Denn „[…] die Jugend ist die Zeit der Unruhe; das Alter die der Ruhe: schon hieraus ließe sich auf ihr beiderseitiges Wohlbehagen schließen.“63 Schopenhauer billigt aber nur den Alten eine Einsicht in die Wahnhaftigkeit der Welt zu und löst sich von der traditionellen Altersdeutung durch den Stoizismus, wenn er behauptet, dass jeder ungeachtet seines Verhaltens allein aufgrund seines Alters zu dieser Einsicht zu gelangen vermag. Die Enttäuschung ist für Schopenhauer die eigentliche Heuristik des Alters, welchem dadurch nach seiner Deutung ein besonderer Erkenntnisgewinn beschieden ist: Der Grundcharakterzug des höheren Alters ist das Enttäuschtsein: die Illusionen sind verschwunden, welche bis dahin dem Leben seinen Reiz und der Tätigkeit Sporen verliehen; man hat das Nichtige und Leere aller Herrlichkeiten der Welt, zumal des Prunkes, Glanzes und Hoheitsscheins, erkannt; man hat erfahren, daß hinter den meisten gewünschten Dingen und ersehnten Genüssen gar wenig steckt und ist so allmählich zu der Einsicht in die große Armut und Leere unseres ganzen Daseins gelangt. Erst im siebenzigsten Jahre versteht man ganz den ersten Vers des Koheleth. Dies ist es aber auch, was dem Alter einen gewissen grämlichen Anstrich gibt. –64

Schopenhauer übersetzt den Vers Kohelets „Es ist alles eitel“, von dem der alte Mensch aus Erfahrung durchdrungen sei, in das Bild, „daß alle Nüsse hohl sind, wie sehr sie auch vergoldet sein mögen.“65 Diese hohlen vergoldeten Nüsse sind es, die auch Feyerabend und dann seine Nachfolger im zweiten Traum knacken, auch wenn die vergoldete Nuss dort einen Kern hat. Dieser erweist sich allerdings für den alten Feyerabend als eine Enttäuschung im Sinn Schopenhauers:

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63 64 65

Dass in Raabes letzten Romanen Schopenhauers Willensmetaphysik nachwirkt und insbesondere auch die Zeit- und Raumstruktur von Altershausen erklären kann, zeigt Fauth, Der metaphysische Realist, hier S. 439–468. Schopenhauer, „Vom Unterschiede der Lebensalter“, S. 256. Ebd., S. 257f. Ebd., S. 257.

Figur und Figuration

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Den Kern der eben geknackten vergoldeten Nuß in der Hand, sagte der Alte lächelnd: „Die Welträtselnuß war es noch nicht, die durch Ihre Vermittlung ihr Innerstes herausgab, lieber Kollege. Das Resultat ist diesmal recht gut. Knacken Sie ruhig weiter, es gibt immer noch Besseres, und – wenn Sie sich müde gekaut und geknackt haben und ernüchtert vor dem Schalenhaufen stehen‚ dann machen Sie’s wie ich: ärgern und grämen Sie sich nicht!“66

Da sich die Einsicht des Alters, wie Schopenhauer es darlegt, nur erfahren und nicht vermitteln lässt, kann der Nussknacker der diesjährigen Weihnacht auch nur schluchzend antworten: „ ‚Es wird weitergeknackt!‘ “.67 So zeigt Raabe im Dialog der beiden Nussknacker, dass das Wissen um die Vergeblichkeit innerweltlichen Strebens zwar mitgeteilt werden kann, als Haltung vermag diese Perspektive der Enttäuschung jedoch erst im Alter eingenommen zu werden.68 Raabes erzählerisches Experiment einer altersspezifischen Zeitwahrnehmung, die durch eine diskontinuierliche Überlagerung verschiedener Zeitstufen und die Austauschbarkeit von Erinnerung und Gegenwart bestimmt wird, bildet mit ihrem Rückgriff auf Schopenhauer eine Brücke zwischen dem Pessimismus des 19. und 20. Jahrhunderts auf der einen Seite und der modernen Alterspsychologie auf der anderen. So hat etwa Jean Améry in seinen Essays Über das Altern ein Paradox beschrieben, das sich mit den „Daseinsnotizen“69 Feyerabends in bemerkenswerter Weise deckt. Die gängige Vorstellung, dass die Jugend viel Zeit habe, weil sie noch das ganze Leben vor sich sehe, sei, so Améry ganz im Sinn Schopenhauers, falsch, weil der Sprachgebrauch den eigentlichen Unterschied von Raum und Zeit verdecke: „Der junge Mensch sagt von sich, er habe Zeit vor sich. Aber was wirklich vor ihm liegt, ist die Welt, die er in sich aufnimmt […]; der Alte, so heißt es, habe Leben hinter sich, doch dieses Leben, das ja nicht mehr rea66 67 68

69

BA 20, S. 297. Ebd. Von dieser Unvermittelbarkeit der Zeitperspektive des Alters, das Zeit weniger als kalendarische, historische oder physikalische denn vielmehr als zyklisch strukturierte sterbliche Zeit wahrnimmt, handelt auch Raabes kleine Gelegenheitserzählung Auf dem Altenteil, in der, obgleich noch im Genre der Altersidylle, bereits die Zeitperspektive des Alters als Moment der Desintegration aufscheint. Vgl. Fitzon, Thorsten, „Zwischen Familiarisierung und Desintegration. Hohes Alter in Wilhelm Raabes ‚Auf dem Altenteil‘ “, in: Thomas Martinec/Claudia Nitschke (Hrsg.): Familie und Identität in der deutschen Literatur. Frankfurt am Main, Berlin, Bern u. a. 2009 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft 95), S. 127–139. BA 20, S. 296.

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liter gelebt wird, ist nichts als aufgesammelte Zeit […]“.70 Deshalb kommt Améry zu dem paradox anmutenden Schluss: „Je weniger Zeit wir vor uns zu haben glauben, da unser Körper und die Statistik es uns so enthehlen, desto mehr Zeit ist in uns.“71 Umgekehrt heißt dies aber auch, dass nicht nur die Zeit im Gefäß der Erinnerung angesammelt wird, sondern der Raum schwindet. In der Assoziationstechnik wie in der Dichte der Intertextualität, die Raabe in Altershausen verwendet, ist dieser Raumverlust des Alters eingespiegelt. Erinnerung im Sinne Amérys, also gelebte Zeit,72 lässt die Räume des Protagonisten zusammenschrumpfen. Je mehr Feyerabend sich auf seine assoziativen, sei es über Namen oder Gerüche ausgelösten Erinnerungen einlässt, desto kleiner und unbedeutender wird ihm die Welt, die leitmotivisch als ‚Wonneburgen der Walchen‘73 aufgerufen wird. Dies gilt auch für die Intertexte aus der klassischen und modernen Weltliteratur, deren universale Reichweite bis zum Effekt komischer Familiarisierung auf den engen Erfahrungsraum von Altershausen reduziert werden, wenn etwa der Erzähler Feyerabends Ankunft am Bahnhof intertextuell mit der Landung des Odysseus in Phorkys’ Bucht auf Ithaka parallelisiert.74 Dieser Raumverlust geht so weit, dass im zweiten Traum die Welt auf die Größe einer goldenen Weihnachtsnuss schrumpft und leidenschaftslos an den nachfolgenden Nussknacker weitergereicht wird. Das dem englischen Reislied des ‚Widsith‘, also des ‚Weitfahrers‘ entnommene Zitat der „Wonneburgen“ symbolisiert deshalb nicht nur eine Gegenwelt zu dem provinziellen Städtchen Altershausen, sondern es steht für die Welt, also die Weite des Raumes selbst. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das Missverständnis erklären, das am Ende des Fragments zwischen Minchen und dem greisen Fritz aufscheint, als dieser sie auffordert, von ihrer Lebensgeschichte zu erzählen: „Erzähle mir doch davon, Minchen. Jetzt sitze ich nur dessentwegen hier. Und nimm dir Zeit. Die haben wir beide jetzt.“

70 71 72

73

74

Améry, Jean: Über das Altern. Revolte und Resignation, Stuttgart 82004, S. 25. Ebd. Améry definiert Alter und Altern ganz aus dem sich ändernden Verhältnis zur Zeit, das den alten Menschen von der Jugend unumkehrbar trennt: „Alt sein oder auch nur altern sich spüren, heißt: Zeit haben im Körper und in dem, was man so Seele nennen mag, der Kürze halber. Jung sein, das ist: den Körper hinauswerfen in die Zeit, die keine Zeit ist, sondern Leben, Welt und Raum“ (ebd., S. 26). Dieser Intertext markiert mehrfach im Text die Welt des weit gereisten Gelehrten, vgl. beispielsweise BA 20, S. 227 und 250. Vgl. BA 20, S. 232f.

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„Ich wohl! Aber du auch?“ meinte Minchen Ahrens, ihren Strickstrumpf niederlegend. „Mehr als du“, sagte der weltgelehrte und -berühmte Mann, und Minchen nahm den Strickstrumpf wieder auf.75

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die überlagerte Zeitperspektive, die in den Figuren des erzählenden, erinnernden und erinnerten Feyerabend komplementär fokalisiert ist, als eine spezifische Erfahrung des Alters vorgestellt wird. So hat der „weltgelehrte und berühmte Mann“ nur deshalb mehr Zeit als Minchen, weil Zeit im Roman mit den Worten Jean Amérys als „aufgesammelte […], gelebte, abgelebte“76 beschrieben wird. In der Strategie der Erzählung wird diese Akkumulation der Zeit in der perspektivischen Interferenz verschiedener Figurentexte isomorph repräsentiert, da Zeiterfahrung im Alter sich weniger an die sequentielle Struktur des Zeitmessens anlehnt als vielmehr in der Überlagerung erinnerter Zeitschichten diskontinuierlich und simultan strukturiert ist. Die so vorgestellte Zeitperspektive des Alters korrespondiert mit der Erfahrung des späten 19. Jahrhunderts, nach der das strukturell dominante Zeitmodell eines aus der Geschichte linear in die Zukunft verlängerbaren Fortschritts für den Einzelnen ebenso fragwürdig wurde, wie sich aus der Retrospektive eines langen Lebens die Konsistenz persönlicher Identität angesichts eines zeitperspektivisch aufgefächerten Ichs aufzulösen drohte. Insofern weist Raabes Erzählexperiment auf die Zeitreflexion der Moderne voraus, da es Lebenszeit als sterbliche Zeit im Medium der literarischen Figur narrativ perspektiviert und mit übergeordneten Zeitvorstellungen probeweise konfrontiert.

Siglenverzeichnis BA 20 = Raabe, Wilhelm, Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweiger Wissenschaftlichen Gesellschaft nach dem Tode von Karl Hoppe besorgt von Jost Schillemeit. Braunschweiger Ausgabe. Bd. 20: Hastenbeck – Altershausen – Gedichte. 2., überarb. Aufl., besorgt von Dieter Prinzing, Göttingen 2001.

75 76

Ebd., S. 312. Améry, Über das Altern, S. 25.

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Literaturverzeichnis Quellen Raabe, Wilhelm, Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweiger Wissenschaftlichen Gesellschaft nach dem Tode von Karl Hoppe besorgt von Jost Schillemeit. Braunschweiger Ausgabe. Bd. 20: Hastenbeck – Altershausen – Gedichte. 2., überarb. Aufl., besorgt von Dieter Prinzing, Göttingen 2001. Raabe, Wilhelm, ‚In alles geduldig‘. Briefe Wilhelm Raabes (1842–1910). Im Auftrag der Familie Raabe hrsg. von Wilhelm Fehse, Berlin 1940. Schopenhauer, Arthur, „Vom Unterschiede der Lebensalter“, in: Ders., Aphorismen zur Lebensweisheit, Stuttgart 1963, S. 234–263.

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Was Leser mit Figuren lernen

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Michael Butter (Freiburg i. Br.)

Was Leser mit Figuren lernen Henry James’ „The Real Thing“ (1892) und Stephen Cranes „An Experiment in Misery“ (1894)

Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen mit Henry James’ „The Real Thing“ (1892) und Stephen Cranes „An Experiment in Misery“ (1894) zwei Kurzgeschichten aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, die, obwohl sie fast zeitgleich veröffentlicht wurden, zwei unterschiedlichen Literaturströmungen zuzuordnen sind. James’ Geschichte von einem Maler und seinen Modellen im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist ein paradigmatischer Text des amerikanischen Realismus und ist oft sogar als programmatische Formulierung der realistischen Ästhetik gelesen worden; Cranes Erzählung von einem jungen Mann, der die Zustände in den New Yorker Slums kennen lernen will, gilt dagegen als ein naturalistischer Text.1 Da in „The Real Thing“ und „An Experiment in Misery“ die unterschiedlichen Menschenbilder von Realismus und Naturalismus, die verschiedene Figurenkonzeptionen und Erzählhaltungen bedingen, in ihrem Verhältnis zueinander sichtbar werden, sollen die beiden Kurzgeschichten hier dazu dienen, diese literarischen Bewegungen synekdochisch zu repräsentieren. Allerdings ist dabei sofort eine Einschränkung angebracht, die in den Spezifika der amerikanischen Ausformungen von Realismus und Naturalismus begründet ist. Über den amerikanischen Realismus besteht in der Forschung ein gewisser Konsens; er wird meist auf den Zeitraum von 1865 bis 1900, das so genannte „Gilded Age“, datiert. Den Texten seiner Hauptvertreter, zu denen neben Henry James noch William Dean Howells und Mark Twain zählen, liegen trotz gewisser Unterschiede ein gemeinsames Programm und ein bestimmtes Menschenbild zugrunde. Für den amerikanischen Naturalismus, dessen wichtigste Autoren Stephen Crane, Frank Norris, Theodore Dreiser 1

Zur jeweiligen literaturgeschichtlichen Verortung der Texte vgl. exemplarisch Lainoff, Seymour, „A Note on Henry James’ ‘The Real Thing’ “, in: Modern Language Notes, 71/1956, 3, S. 192–193; Swan, Michael, „Introduction“, in: Henry James, Selected Short Stories, New York 1978, S. 1–15; Nagel, James, „Structure and Theme in Crane’s ‘An Experiment in Misery’ “, in: Studies in Short Fiction, 10/1973, S. 169–174, und Trachtenberg, Alan, „Experiments in Another Country: Stephen Crane’s City Sketches“, in: The Southern Review, 10/1974, S. 265–285.

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Michael Butter

und Jack London sind, gibt es dagegen weder ein explizit formuliertes Programm, noch lässt sich aus den Texten selbst ein implizit vorhandenes rekonstruieren. Auch hinsichtlich des Menschenbildes gibt es unter den Naturalisten trotz wichtiger Gemeinsamkeiten große Unterschiede. Während bei Stephen Crane die Determination durch die Umgebung im Vordergrund steht, sind es bei Frank Norris vor allem biologische Faktoren, die das Verhalten bestimmen. Zudem ist es schwierig, den Naturalismus von Strömungen wie Impressionismus oder Symbolismus abzugrenzen, wie sich insbesondere an den Texten Cranes zeigt, wo die Milieuschilderung immer auch einen symbolisch aufgeladenen Stimmungsraum erzeugt. Daher kann kein einzelner Text den amerikanischen Naturalismus und dessen Menschenbild und Figurenkonzeption adäquat repräsentieren. Der Naturalismus, den ich im Folgenden skizziere, ist somit vor allem derjenige Cranes – wenn auch viele Beobachtungen für die gesamte Strömung gelten. Bei allen Unterschieden zwischen Realismus und Naturalismus erfüllen James’ „The Real Thing“ und Cranes „An Experiment in Misery“ jedoch, so meine These hier, für ihre Leser eine ähnliche Funktion: Die Texte ermöglichen es ihren Lesern, über die Auseinandersetzung mit dem und Teilnahme am fiktionalen Geschehen, Erfahrungen zu machen. Bei James ist dies die Erfahrung der Wichtigkeit von Erfahrung an sich; bei Crane eine bestimmte Milieuerfahrung, die in der Wirklichkeit mit fatalen Folgen und schmerzhaften Konsequenzen verbunden sein könnte. Beide Kurzgeschichten erschließen somit einen Raum, in dem neue Erkenntnisse gewonnen werden können.

I.

Die Wichtigkeit von Erfahrung: James’ „The Real Thing“

Mit dem Übergang von der Romantik zum Realismus ändert sich die kulturelle Funktion der amerikanischen Erzählliteratur grundlegend: „Die Literatur soll nicht länger als Verhaltensmodell fungieren, sondern als Modell eines Erfahrungs- und Verstehensprozesses“.2 Die realistische Figurenkonzeption unterscheidet sich daher grundlegend von der vorheriger Epochen. Die bis zum amerikanischen Bürgerkrieg entstandenen Romane handeln meist von idealtypischen Charakteren wie Hester Prynne (aus Hawthornes The Scarlet 2

Fluck, Winfried, Inszenierte Wirklichkeit. Der amerikanische Realismus 1865–1900, München 1992, S. 33. Meine Überlegungen hier wären ohne Winfried Flucks umfassende und noch immer maßgebliche Studie nicht möglich. Sie sind zudem nachhaltig von Susanne Rohrs Überlegungen beeinflusst.

Was Leser mit Figuren lernen

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Letter) oder Uncle Tom (aus Stowes Uncle Tom’s Cabin), mit denen sich die Leserschaft identifizieren und deren Verhalten sie imitieren soll. In den realistischen Texten stehen dagegen stärker individualisierte und weniger vorbildhafte Figuren im Mittelpunkt, die sich in einer enorm komplex gewordenen und sich ständig verändernden Welt zurechtfinden müssen. Die Leserschaft, der das Geschehen nicht mehr von einer auktorialen Erzählinstanz gedeutet wird, nimmt dabei an den Versuchen der Protagonisten teil, ihre Umwelt und insbesondere ihre Mitmenschen richtig einzuschätzen. Wie die Figuren bilden die Leserinnen und Leser beständig Hypothesen und revidieren diese, wenn nötig, um so zu einem adäquaten Verständnis der Realität zu gelangen. Der realistische Roman positioniert somit seine Leser als „gleichberechtigte[ ] Gesprächspartner[ ]“,3 die mit dem Text in einen Dialog über die Natur der Wirklichkeit treten. Die Ursache für diese Neuausrichtung der erzählenden Literatur ist der Versuch, „ein neues Wirklichkeitsverständnis zu etablieren und dabei ‚Erfahrung‘ im empirisch-positivistischen Sinne zum entscheidenden Erkenntniskriterium aufzuwerten“.4 In einer Zeit des historischen Umbruchs, in der traditionelle, beispielsweise auf Religion beruhende Deutungsmuster ihre Gültigkeit verloren haben, erzählen die realistischen Romane beständig von Figuren, deren „Wahrnehmung durch kulturelle Konventionen und – nicht zuletzt – durch Bücher verstellt ist“ und die deshalb „mit den schmerzlichen Konsequenzen ihres eigenen mangelhaften Wirklichkeitsverständnisses konfrontiert werden“, bevor sie lernen, „ihrer eigenen Erfahrung als der einzig verläßlichen Erkenntnisinstanz zu vertrauen“.5 Den Leserinnen und Lesern bieten die Texte dabei über die imaginäre Teilnahme an den Fehlern und Erfolgen der Figuren die Möglichkeit, den angebrachten Umgang mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu „trainieren“, wie Susanne Rohr dies präg-

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5

Ebd., S. 36. Ebd., S. 10. Die von Fluck ebenfalls hervorgehobene zivilisatorische Funktion des realistischen Romans – die Texte sollten „die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft im Medium der Fiktion modellhaft […] beeinflussen“ (ebd., S. 16) –, für die die Dialoge auf der Handlungsebene sowie derjenige zwischen Text und Leser von entscheidender Bedeutung sind, vernachlässige ich hier, da bei Henry James eindeutig die Erkenntnisthematik im Vordergrund steht. Ebd., S. 21. Da die richtige Einschätzung potenzieller Ehepartner eine der größten Herausforderungen war, geht es in vielen Romanen der Zeit – beispielsweise in James’ The Portrait of a Lady (1881) oder Howells’ The Rise of Silas Lepham (1885) – genau um dieses Thema. Flucks Theorie vermag somit die Prominenz des courtship & marriage-Motiv im realistischen Roman zu erklären, ohne dieses als ein Überbleibsel aus ‚vorrealistischen‘ Zeiten zu verstehen.

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nant formuliert.6 Für Leser und Figuren geht es darum, das Primat der Erfahrung anzuerkennen und zu lernen, die entsprechenden Erfahrungen richtig zu bewerten und die korrekten Schlüsse zu ziehen. Die didaktische Funktion der realistischen Literatur ist daher in einer noch ganz dem Zukunftsoptimismus des Viktorianismus verpflichteten positiven Anthropologie begründet, die davon ausgeht, dass der Mensch generell fähig ist, Wissen über die Welt zu erwerben, aus seinen Fehlern zu lernen und letztendlich ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Nur vor dieser Folie werden die im realistischen Roman beständig inszenierten Lernprozesse verständlich und sinnvoll. Isabel Archers Erkenntnis in James’ The Portrait of a Lady (1881), dass sie sich in ihrem Ehemann, Gilbert Osmond, getäuscht hat, ist in dieser Hinsicht paradigmatisch. Sie ist überhaupt nur möglich, weil Isabel prinzipiell in der Lage ist, die Wirklichkeit korrekt zu interpretieren, und schließlich lernt, dies auch zu tun. Da diese Selbsterkenntnis auch beinhaltet, dass Isabel ihre eigene Verantwortung für die fehlgeschlagene Ehe anerkennt, kehrt sie am Ende des Romans zu Osmond zurück. Der Leserin dagegen, die an Isabels Erkenntnisprozess teilhat und mit ihr die schmerzvolle Erfahrung macht, dass Osmond nicht der Traummann ist, als der er vermutlich beiden zunächst erscheint, bleibt solch ein Schritt unter Umständen erspart, da sie früher als Isabel lernt, bei der Wahl des Partners nur ihrer eigenen Erfahrung zu vertrauen. Während James’ Protagonisten der 1880er Jahre so am Ende der Handlung immer zu einem angemessenen Verständnis der Realität gelangen, drückt sich in späteren Texten die zunehmende Skepsis aus, ob es überhaupt möglich ist, Wirklichkeit adäquat zu verstehen, beziehungsweise, ob es möglich ist, diese Fähigkeit zu vermitteln oder zu erlernen. Vor diesem Hintergrund lässt sich das große Interesse des späten James an Geistergeschichten erklären, die wie „The Turn of the Screw“ (1898) den Realitätsstatus des vermeintlich Übernatürlichen bis zum Schluss in der Schwebe lassen und so bis heute als Musterbeispiele dienen, um Tzvetan Todorovs Definition des Fantastischen zu illustrieren. In „The Turn of the Screw“ und verwandten Texten steht am Ende eben keine eindeutige Erkenntnis; es bleibt unklar, ob es Geister gibt oder nicht. Eine ähnliche Eintrübung der an sich positiven realistischen Anthropologie lässt sich auch an „The Real Thing“ beobachten, das aus derselben Schaffensperiode stammt wie James’ Geistergeschichten. Allerdings stellt die Geschichte, wie ich zeigen werde, den Erkenntnisopti-

6

Siehe Rohr, Susanne, Die Wahrheit der Täuschung. Wirklichkeitskonstitution im amerikanischen Roman 1889–1989, München 2004, S. 81.

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mismus der vorherigen Dekade auf andere Weise in Frage – und dies nicht komplett, sondern nur teilweise. „The Real Thing“ handelt von einem Londoner Maler, der als Portraitist ernst genommen werden möchte, sein Dasein aber als Illustrator für Romane fristet. Als ihn eines Tages ein äußerst vornehm aussehendes älteres Ehepaar, die Monarchs, in seinem Atelier aufsucht, glaubt er, dass dieses sich von ihm portraitieren lassen möchte. Dann jedoch stellt sich heraus, dass das Ehepaar verarmt ist und ihn nicht für ein Portrait bezahlen kann, sondern selbst dafür bezahlt werden will, dass es für seine Illustrationen Modell steht. Mehr aus Mitleid als aus Überzeugung beschäftigt der Maler die beiden einige Male. Mit den Bildern, die er nach ihnen malt, ist er jedoch alles andere als zufrieden. Während es ihm bei seinen übrigen, aus der working class stammenden Modellen leicht gelingt, diese als Fürsten oder Prinzessinnen abzubilden, kann er das Paar aus der upper class nicht in die Charaktere der Geschichten verwandeln, die er illustriert. Frustriert stellt er über Mrs. Monarch daher einmal fest: „She was the real thing, but always the same thing“.7 Entsprechend trennt er sich am Ende der Geschichte wieder von seinen Modellen. „The Real Thing“ ist zumeist als ein poetologischer Text gelesen worden, als programmatische Verhandlung des Realismusverständnisses von James und Howells. Der Maler beharrt darauf, dass Abbilden für seine Arbeit wichtig sei, sich diese aber keineswegs im Kopieren von Wirklichkeit erschöpfe, sondern vielmehr im künstlerischen Akt etwas Neues geschaffen werde. Er teilt somit das ästhetische Selbstverständnis der amerikanischen Realisten, die in teilweise expliziter Abgrenzung zur Fotografie Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern aktiv gestalten wollten: „The artist does not simply copy what he sees before him, but transforms it“.8 Die für die Geschichte gleichermaßen zentrale Erkenntnisproblematik ist dagegen in der Forschung noch nicht näher erörtert worden, obwohl sie vom ersten Absatz an verhandelt wird: When the porter’s wife, who used to answer the house-bell, announced “A gentleman and a lady, sir,” I had, as I often had in these days – the wish being father to the thought – an immediate vision of sitters. Sitters my visitors in this case proved 7

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James, Henry, „The Real Thing“, in: Leon Edel (Hrsg.), The Complete Tales of Henry James. Vol. 8: 1891–1892, London 1963, S. 244. Seitenangaben im Folgenden in Klammern im Haupttext. Whitsitt, Sam, „A Lesson in Reading: Henry James’ ‘The Real Thing’ “, in: Henry James Review, 16/1995, 3, S. 305. Whitsitt paraphrasiert hier den etablierten Forschungskonsens, um sich dann von ihm abzugrenzen und für eine komplexere und weniger eindeutig poetologische Interpretation der Kurzgeschichte zu argumentieren.

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to be; but not in the sense I should have preferred. There was nothing at first however to indicate that they mightn’t have come for a portrait. The gentleman, a man of fifty, very high and very straight, with a moustache slightly grizzled and a dark grey walking-coat admirably fitted, both of which I noted professionally – I don’t mean as a barber or yet as a tailor – would have struck me as a celebrity if celebrities often were striking. It was a truth of which I had for some time been conscious that a figure with a good deal of frontage was, as one might say, almost never a public institution. A glance at the lady helped to remind me of this paradoxical law: she also looked too distinguished to be a “personality.” Moreover one would scarcely come across two variations together. (229)

James’ namenloser Ich-Erzähler beginnt bereits im ersten Satz, und bevor er seine Besucher überhaupt gesehen hat, mit der für die realistische Literatur so typischen Hypothesenbildung auf Grundlage der vorhandenen Informationen. Die Ankündigung „A gentleman and a lady“ – die etablierte Bezeichnung für Mitglieder der Oberschicht – lässt ihn schließen, dass nun endlich seine Karriere als Portraitmaler beginnt, denn Mitglieder der upper class, so denkt er, würden ihn nur aufsuchen, um sich von ihm malen zu lassen. Der nächste Satz – „Sitters my visitors in this case proved to be; but not in the sense I should have preferred“ – bringt allerdings sofort das Eingeständnis, dass es sich bei dieser Vermutung um einen Fehlschluss handelt. Zugleich aber erzeugt diese Bemerkung weitere Spannung, da sie keinen konkreten Hinweis gibt, was es wirklich mit den Besuchern auf sich hat. Dennoch handelt es sich hier um einen der wenigen Momente der Geschichte, die von der retrospektiven Perspektive des erzählenden Ichs dominiert werden. Dieses bleibt ansonsten außen vor, damit der Leser am Prozess der Hypothesenbildung des erlebenden Ichs partizipieren und dabei nicht auf zusätzliche Informationen zurückgreifen kann. Das erzählende Ich dominiert auch noch den nächsten Satz, in dem der Erzähler zusammenfassend seinen Schnellschuss zu erklären versucht: „There was nothing at first however to indicate that they mightn’t have come for a portrait“. Diese Aussage jedoch ist weniger eine gelungene Rechtfertigung als ein Hinweis auf das Grundproblem des Erzählers, das dieser weder im Verlauf der erzählten Ereignisse noch im Akt der Narration überwinden kann. Der Erzähler weiß im Prinzip, wie er zu einem angemessenen Verständnis der Wirklichkeit gelangen kann, vermag diesen Weg aber nie konsequent zu beschreiten, da er sich nicht vollständig von den traditionellen Denkmustern lösen kann, die ihm den Blick auf die wahren Verhältnisse verstellen. So hat er einerseits bereits zu Beginn der Geschichte aus eigener Erfahrung gelernt – „a truth of which I had for some time been conscious“ –, dass das äußere Erscheinungsbild kein sicherer Indikator für das gesellschaftliche Ansehen oder die Persönlichkeit ist. „[C]elebrities“, so weiß er,

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sehen meist nicht aus wie Berühmtheiten – insbesondere nicht, wenn sie zu zweit auftreten. Andererseits geht seine Skepsis gegenüber Äußerlichkeiten aber nicht weit genug. Er hält seine Besucher zwar nicht für Berühmtheiten, ist aber aufgrund ihres Auftretens und Aussehens fälschlicherweise vollkommen davon überzeugt, dass es sich um wohlhabende Menschen handelt, die sich von ihm portraitieren lassen möchten. Dass sie, wenn dies denn zuträfe, dafür wohl kaum einen Illustrator wie ihn, sondern einen etablierten Portraitmaler aufsuchen würden, kommt ihm nicht in den Sinn, da sein Wunsch, in diesem Metier zu reüssieren, seinen Blick auf die Wirklichkeit trübt. Die ersten Zeilen von „The Real Thing“ inszenieren somit eines der zentralen Probleme, mit denen sich die realistische Literatur auseinander setzt. Anders als in der typisierenden Figurendarstellung des sentimentalen Romans, des Melodramas oder auch in manchen Texten der American Renaissance, wo Kleidung und Physiognomie zumeist ein sicherer Indikator für Charakter und gesellschaftliche Stellung sind, gehören Außen und Innen oder Zeichen und Referent in der realistischen Literatur nicht länger zwangsläufig zusammen. Die Zeichenbeziehungen sind komplexer und ambivalenter geworden; sie stellen Figuren und Leser gleichermaßen vor die Aufgabe, „zu lernen, eine sich fortlaufend erneuernde, scheinbar kontingente Vielzahl von Zeichen zu einem kohärenten und kausal geordneten Zusammenhang zu fügen“.9 Die Herstellung dieses Zusammenhangs erfordert beträchtlichen kognitiven Aufwand – und das Vermeiden von interpretatorischen Schnellschüssen. Einen solchen leistet sich aber der Erzähler, weil er das wichtige Detail übersieht, dass er nicht der erste Ansprechpartner für Reiche wäre, die sich malen lassen möchten. Da er sich von dieser Fehleinschätzung zunächst nicht lösen kann, schlagen während der ersten Minuten des Gesprächs all seine Versuche fehl, sich das Verhalten seiner Besucher zu erklären. So entdeckt er an dem eigentlich verarmten Paar „an indefinable air of prosperous thrift – they evidently got a good deal for their money“ und versucht das anfängliche Schweigen seiner Besucher, denen es peinlich ist, um Arbeit zu bitten, durch eine Reihe von Vermutungen zu erklären: „Perhaps they weren’t husband and wife – this naturally would make the matter more delicate. Perhaps they wished to be done together“ (230). Der Erzähler handelt somit im 9

Fluck, Inszenierte Wirklichkeit, S. 81. Flucks Ansatz hat den Vorteil, dass er die große Detailfülle realistischer Texte nicht darauf reduziert, einen effet de réel im Sinne Roland Barthes’ hervorzurufen, sondern sie als Herausforderungen an das Bewusstsein sowohl der Figuren als auch der Leser versteht. Denn es sind genau diese Details, die gedeutet und zu einem Zusammenhang gefügt werden müssen.

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Grunde so, wie es die realistische Literatur als Muster etablieren möchte: Er bildet auf der Grundlage seiner Beobachtungen Hypothesen, testet diese und revidiert sie, wenn sie sich als unzutreffend erweisen. Als „wahrnehmende[s] Subjekt“ wird er dabei in für James typischer Manier „im Prozeß der endlosen Reflexion seiner realitätskonstituierenden Verflechtungen von Vorwissen-Überraschung-Erklären-Überzeugung-Überraschung etc. präsentiert“.10 Während allerdings in James’ späten Romanen wie The Golden Bowl (1904) dieser Prozess potenziell unabschließbar ist, weil sich die „Wirklichkeit [immer] deutlicher in ihrem Charakter als Rätsel preis[gibt]“11 und nur subjektiv mit Sinn aufgeladen werden kann, hält „The Real Thing“ noch an einer intersubjektiv erreichbaren Wirklichkeit fest. Dahin, wie die Dinge ‚wirklich‘ liegen, gelangt der Erzähler aber nicht allein, sondern erst, als seine Besucher ihre Schüchternheit überwinden und erklären, warum sie gekommen sind: „We mean for the illustrations“ (231). Seine Fehleinschätzung führt den Erzähler freilich nicht dazu, seine Verstehensversuche einzustellen. Vielmehr wird die erhaltene Information zum Ausgangspunkt neuer Hypothesen. Allerdings übersteigen die ungewöhnlichen Lebensumstände seiner Besucher und späteren Modelle weiterhin meist seine interpretatorischen Fähigkeiten. Das auf den ersten zwei Seiten etablierte Muster von Beobachtung, Vermutung und Korrektur (oder in seltenen Fällen: Bestätigung) wiederholt sich daher im Verlauf der Geschichte beständig. Entsprechend wimmelt es im Text von Sätzen, die auf diese Hypothesenbildung verweisen und von denen einige exemplarisch aufgeführt werden sollen: „They were visibly shy“ (229); „It was odd how quickly I felt sure of everything“ (235); „I could see“ (235, 236, 240); „I could evoke“ (236); „I could feel“ (236); „It was sufficiently clear“ (242); „I soon saw there was nothing in it“ (242); „I judged, rightly“ (242). Besonders prominent ist dabei die Formel „I saw“, die in verschiedenen Formulierungen immer wieder auftritt. Im Wahrnehmungs- und Interpretationsprozess des Erzählers verschmelzen dabei beständig die beiden Bedeutungen des englischen „to see“, das sowohl „sehen“ als auch „verstehen“ bedeutet. Der Weg zum Verstehen, suggeriert die Geschichte auf diese Weise, führt über das Sehen; Hypothesenbildung muss auf Erfahrung der empirisch wahrnehmbaren Welt beruhen. Diese Privilegierung der visuellen Perzeption ist nicht nur für Henry James, sondern für die realistischen Autoren insgesamt typisch. Sie weist, wie Emily Fourmy Cutrer in ihrer Analyse von William Dean Howells’ A Hazard of New Fortune (1890) gezeigt hat, unübersehbare Parallelen zur pragmatisti10 11

Rohr, Wahrheit der Täuschung, S. 120. Ebd.

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schen Wahrnehmungstheorie auf, die William James, der Bruder von Henry, zeitgleich in The Principles of Psychology (1890) formulierte.12 Sowohl in William James’ Theorie als auch in Howells’ Roman, so Cutrer, erscheint die visuelle Wahrnehmung dabei nicht als statisch und objektiv, sondern als subjektiv und kontingent – als ein gleichermaßen notwendiges wie potenziell irreführendes Element der Weltaneignung, dessen Beherrschung dem Subjekt nicht natürlich gegeben ist, sondern von ihm mühsam erlernt werden muss. In A Hazard of New Fortune entwickelt sich die männliche Hauptfigur, Basil March, allmählich zu einem „pragmatic seer“,13 indem sie lernt, aus der Fülle der Zeichen, mit denen sie konfrontiert wird, den kohärenten Zusammenhang herzustellen, von dem Fluck spricht. Gleiches gilt für James’ Haupfiguren aus den Texten der 1880er Jahre, die wie seine späteren Werke ebenfalls den „pragmatic mode of seeing“ propagieren, den Cutrer bei William James und Howells identifiziert.14 In „The Real Thing“ allerdings durchläuft der Erzähler keinen derartigen Lern- und Reifeprozess; er lernt weder, sich vollständig von den traditionellen Denkmuster zu lösen, die ihm den Blick verstellen, indem sie bestimmte Erwartungen an aristokratisch wirkende Besucher vorgeben, noch das Gesehene korrekt zu interpretieren. Dementsprechend endet die Geschichte mit einer Szene, in der sich der oben diskutierte erste Besuch des Paares spiegelt. Drei Tage nachdem der Erzähler seinen Modellen gekündigt hat, weil sie seinen Ansprüchen nicht genügen, suchen diese ihn ein letztes Mal auf. Und wie zu Beginn der Geschichte missversteht der Erzähler die Motive für diesen Besuch zunächst völlig. Im Verlauf der Handlung hat er immer noch nicht gelernt, die Monarchs richtig einzuschätzen und ihre Lage zu verstehen. Er denkt, „that they had come, forgivingly, decorously, to take a last leave“ (256), und ignoriert sie zunächst, da er gerade mitten in der Arbeit mit anderen Modellen ist. Erst als Mrs. Monarch dem Modell die Haare richtet und ihr Mann beginnt abzuwaschen, dämmert es dem Erzähler, dass die beiden sich ihm als Personal antragen wollen. Der Grund für ihren Besuch ist somit gerade nicht die Aufrechterhaltung eines aristokratischen Habitus, der die Abstattung eines Abschiedsbesuchs verlangt, sondern gerade die komplette Aufgabe eines 12

13 14

Siehe Cutrer, Emily Fourmy, „A Pragmatic Mode of Seeing. James, Howells, and the Politics of Vision“, in: David C. Miller (Hrsg.), American Iconology, New Haven, London 1993, S. 259–275. Den Hinweis auf Cutrers Aufsatz verdanke ich Rohr, Wahrheit der Täuschung, S. 100. Die vielfältigen weiteren Parallelen zwischen Pragmatismus und Realismus erörtert Ludwig, Sämi, Pragmatist Realism. The Cognitive Paradigm in American Realist Fiction, Madison (WI) 2002. Cutrer, „Pragmatic Mode“, S. 265. Ebd., S. 261.

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adeligen Lebensstils. Insofern liegt der Erzähler auch mit seiner letzten Folgerung – „They had accepted their failure, but they couldn’t accept their fate“ (258) – daneben. Während die Monarchs somit die an sich logische Konsequenz aus ihrer Situation ziehen und sich den neuen Gegebenheiten anpassen, bleibt dieser Weg dem Erzähler verwehrt. Er weiß zwar prinzipiell, wie er die Welt um sich herum lesen muss, versagt dabei aber ebenso wie bei dem Versuch, sich vom Illustrator zum Portraitmaler zu entwickeln. Anders als die Monarchs ist er nicht in der Lage, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Er kann weder mit ihnen als Modellen arbeiten noch sie als Diener in seiner Umgebung ertragen, weshalb er ihr Angebot ablehnt. Auch das erneute Durchleben der Ereignisse im Akt des Erzählens führt hier zu keiner Veränderung; auch das erzählende Ich bleibt einem Verständnis von Welt verpflichtet, das seine eigene Geschichte implizit als antiquiert entlarvt. Das Scheitern des Erzählers an den Herausforderungen der komplexen Realität, das in „The Real Thing“ inszeniert wird, bedeutet eine Abschwächung des in James’ Texte der 1880er eingeschriebenen Optimismus, der Figuren wie Isabel Archer trotz schmerzhafter Erfahrungen letztendlich immer zur Selbsterkenntnis und Einsicht in das notwendige Primat der eigenen Erfahrung gelangen lässt, und signalisiert so erste Zweifel an der generellen Lernfähigkeit des Menschen. Diese gewinnen allerdings in der Geschichte noch nicht vollständig die Oberhand, da einerseits der Erzähler prinzipiell ja auf dem richtigen Weg ist, diesen nur nicht konsequent genug beschreitet, und andererseits die Leser die Möglichkeit haben, aus den Fehlern des Erzählers zu lernen. Sie teilen während der gesamten Geschichte die Perspektive des erlebenden Ichs, bilden mit ihm Hypothesen und lernen, indem sie Zeugen von dessen Fehleinschätzungen werden, sich von (Erzähl-)Instanzen jeder Art zu emanzipieren und nur der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung zu vertrauen.15 Insofern wendet sich die positive, von der Lernfähigkeit der Menschen überzeugte Anthropologie, von der die Realisten ursprünglich ausgingen, nicht völlig ins Negative. Dies geschieht jedoch im sich zeitgleich entwickelnden Naturalismus. 15

Die hier skizzierte didaktische Funktion der Geschichte würde noch verstärkt und nicht in Frage gestellt, wenn man, wie dies einige Lektüren tun, den Erzähler als unzuverlässig erachtet. Den Lesern obläge es in diesem Fall, eine weitere Diskrepanz von Schein und Sein zu bewältigen und den Erzähler „durchschauen“ zu lernen. Auf die Möglichkeit, den Erzähler als unzuverlässig zu erachten, wurde erstmals hingewiesen in Toor, David, „Narrative Irony in Henry James’ ‘The Real Thing’ “, in: University Review, 34/1967, 4, S. 95–99. Sie wird weiterentwickelt in Ludwig, Pragmatist Realism, S. 171–174.

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II.

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Die Gefährlichkeit bestimmter Erfahrungen: Cranes „An Experiment in Misery“

Das Verhältnis des amerikanischen Naturalismus zum Realismus ist in der Forschung umstritten. Während der Naturalismus oft als eine Intensivierung des Realismus begriffen wird, bei der diejenigen Bereiche der Gesellschaft ausgelotet werden, die der Realismus außen vor lässt, insistiert Winfried Fluck auf den signifikanten Unterschieden zwischen beiden Strömungen.16 Er versteht den Naturalismus als den Versuch, ein „neues Wirklichkeitsverständnis“ zu etablieren, das auf der Annahme beruht, dass das menschliche Subjekt prinzipiell fremdbestimmt ist. Da der Naturalismus im Vergleich zum Realismus somit nicht von einem graduell anderen, sondern von einem diametral entgegengesetzten Bild des Menschen ausgeht, kann er laut Fluck nicht lediglich als dessen Intensivierung gesehen werden, sondern muss als Absage an dessen „viktorianischen Fortschrittsglauben“ verstanden werden.17 Während in realistischen Texten immer ein zu einem gewissen Grade selbstbestimmtes Subjekt im Zentrum steht, für das die Realität zumindest potenziell rational erfahr- und somit auch kontrollierbar ist, ist der Mensch in naturalistischen Texten Vererbung und Umgebung ausgeliefert, wobei das genaue Wirken dieser Kräfte letztendlich unerklärlich bleibt.18 Lee Clark Mitchell fasst die Unterschiede in den Realismus und Naturalismus zugrunde liegenden Anthropologien daher so zusammen: „Simply put, realism assumes that individuals are responsible for their lives, while naturalism offers up characters who are no more than events in the world“.19 Und Richard Chase kommt aufgrund der Determination durch biologische und/oder soziale Faktoren, durch Kräfte also, die außerhalb der Kontrolle des Subjekts liegen, in einer mittlerweile klassischen Studie zum amerikanischen Roman zu dem pointierten Schluss, die Figuren der naturalistischen Texte hätten „no self“.20 16

17 18

19

20

Siehe hierzu Flucks Ausführungen in „Der amerikanische Naturalismus“, in: Hubert Zapf (Hrsg.), Amerikanische Literaturgeschichte, Stuttgart, Weimar 1996, S. 207–217. Ebd., S. 207, 208. Zu den zeitgenössischen Diskussionen um den Determinismus und zu dessen verschiedenartigen Inszenierungen in den Texten siehe das hervorragende Kapitel „Forms of Determinism“ in Link, Eric Carl, The Vast and Terrible Drama. American Literary Naturalism in the Late Nineteenth Century, Tuscoloosa (AL) 2004, S. 100–140. Mitchell, Lee Clark, Determined Fictions. American Literary Naturalism, New York 1989, S. 3. Chase, Richard, The American Novel and Its Tradition, Garden City (NY) 1957, S. 199.

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Um die Einflüsse von Vererbung und sozialem Umfeld auszuloten, versetzt der Naturalismus seine Protagonisten in Extremsituation, in denen die habits, die mühsam erlernten Konventionen, die in bekannten Situationen Verhaltensmuster vorgeben und somit im alltäglichen Leben die Illusion von Kontrolle und Selbstbestimmtheit aufrechterhalten, nicht mehr greifen.21 Die Texte beginnen meist mit einem außergewöhnlichen Ereignis, das ein Fallen aus der etablierten Ordnung bewirkt, und inszenieren anschließend dessen Folgen. In Frank Norris’ McTeague (1899), in dessen Mittelpunkt ein sadistischer Zahnarzt steht, handelt es sich dabei um die Erbschaft der Hauptfigur, in Jack Londons The Sea Wolf (1904) ist es ein Schiffsunglück, das den Schriftsteller Van Weyden in eine existenziell bedrohliche Situation zwingt. „An Experiment in Misery“, das erstmals im April 1894 in der Tageszeitung New York Press und später ohne seine Rahmenhandlung in einer Sammlung von Kurzgeschichten veröffentlicht wurde, variiert diese Handlungsstruktur. Der Protagonist der Kurzgeschichte, der in einer kalten Nacht durch die Slums New Yorks wandert, ist, das wird dem Leser selbst ohne die Rahmenhandlung, in der dies ganz explizit gemacht wird, recht schnell klar, nicht wirklich arm. Er ist nicht durch einen Schicksalsschlag sozial abgestiegen, sondern führt, wie der Titel bereits andeutet, ein Experiment durch. Er sucht bewusst die Erfahrung am unteren Rand der Gesellschaft samt Armenspeisung und Übernachtung in einer Unterkunft für Obdachlose. Der Teil der Rahmenhandlung, der dem Experiment vorangeht und in dem der Protagonist einen Obdachlosen beobachtet und beschließt, einen Tag wie dieser zu leben, um zu erfahren, „how he feels“,22 hat daher keinen signifikanten Einfluss auf die Deutung der Geschichte. Anders verhält es sich mit dem Teil des Erzählrahmens, der auf die eigentliche Handlung folgt. Wie ich hier zeigen werde, verändern die abschließenden Zeilen, wenn man sie einbezieht, die Interpretation der Geschichte grundlegend, da sie die im Hauptteil inszenierten Effekte der sozialen Determination weitgehend aushebeln. 21

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Zu dieser Illusion von Autonomie trägt bei, dass die Figuren in naturalistischen Texten, ganz ähnlich denjenigen in realistischen Texten, beständig Entscheidungen treffen müssen und dies auch tun. Tatsächlich handelt es sich hierbei jedoch lediglich um die Simulation einer Wahl, da die Figuren sich immer so entscheiden, „as their strongest desires dictate, their choice [thus] always seems predictable and outside their control“ (Mitchell, Determined Fictions, S. 7). Crane, Stephen, „An Experiment in Misery“, in: Fredson Bowers (Hrsg.), The Works of Stephen Crane, Vol. VIII: Tales, Sketches, and Reports, Charlottesville (VA) 1976, S. 862. Seitenangaben im Folgenden in Klammern im Haupttext.

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Bevor ich dies weiter ausführe, erscheinen jedoch einige Ausführungen zur Figurenkonzeption und Erzählhaltung in naturalistischen Texten angebracht. Diese lassen sich anhand der Szene erörtern, in der der namenlose Protagonist der Figur begegnet, die sein Begleiter auf seinem Streifzug durch das Armenviertel werden wird. Kurz nach dem Besuch einer Kneipe, wo zum billigen Bier kostenlos Suppe ausgegeben wird, nähert sich der Hauptfigur auf der Straße eine Gestalt, die noch heruntergekommener wirkt als dieser: His head was a fuddle of bushy hair and whiskers, from which his eyes peered with a guilty slant. In a close scrutiny it was possible to distinguish the cruel lines of a mouth which looked as if the lips had just closed with satisfaction over some tender and piteous morsel. He appeared like an assassin steeped in crimes performed awkwardly. (285)

Anders als im Realismus, dessen komplexes Realitätsverständnis eine Enttypisierung bedingt, reichen im Naturalismus meist wenige signifikante Details, um eine Figur zu charakterisieren. Während James’ „The Real Thing“ vorführt, dass vom Äußeren eben nicht auf das Innere geschlossen werden kann, setzt die Beschreibung bei Crane eine solche Korrespondenz voraus. Haar und Backenbart des Obdachlosen evozieren die stereotypische Schurkenfigur des Melodramas. Dieser Eindruck wird direkt danach über das Attribut „cruel“ für den Mund und den Vergleich mit einem Attentäter – „assassin“ – noch verstärkt. Die Physiognomie wird hier also wieder als ein sicherer Indikator für den Charakter einer Figur eingeführt, und das auf ihr aufbauende Urteil wird im Verlauf der Geschichte weder hinterfragt noch revidiert. Im Gegenteil: So wie der Erzähler die Hauptfigur durchweg als „youth“ bezeichnet (z. B. 283, 291), dient der zunächst nur zum Vergleich herangezogene Ausdruck „assassin“ fortan als ‚Name‘ für dessen Begleiter. Die Einschätzung des Protagonisten, aus dessen Perspektive wir die sich nähernde Gestalt zunächst sehen, wird also von der auktorialen Erzählerfigur geteilt. Diese ist in „An Experiment in Misery“ in für den Naturalismus typischer Manier viel stärker präsent als bei James, wo die Inszenierung der beständigen Hypothesenbildung eine Dominanz von Ich-Erzählern oder personalen Erzählsituationen bedingt. Die Vorliebe der Naturalisten für einen beständigen Wechsel von Figuren- und Erzählerperspektive liegt, wie Fluck ausführt, darin begründet, dass deren Figuren meist zu einer adäquaten Einschätzung ihrer Situation gar nicht in der Lage sind.23 Es bedarf also einer unabhängigen Instanz, die dem Lesepublikum die Geschehnisse von Zeit zu Zeit deu23

Siehe hierzu Fluck, „Der amerikanische Naturalismus“, S. 210.

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tet. In der vorliegenden Geschichte aber ist der Fall zunächst einmal etwas anders gelagert, da der junge Mann sicherlich über den Bildungsgrad verfügt, seine Erfahrungen zu artikulieren. Die Distanz, die durch die beobachtende Außenperspektive des Erzählers immer wieder zur Figur aufgebaut wird, dient anfangs vor allem der Spannungserzeugung für Leser, die die Geschichte in der Version ohne Rahmenhandlung rezipieren. Da die Gedanken des Protagonisten nicht durchgängig zugänglich sind, bemerken die Leser erst nach und nach, dass es sich bei dem „youth“ um jemand handelt, der sich freiwillig in die Slums begeben hat. Allerdings verschiebt sich die Funktion des fortlaufenden Wechsels von Figuren- und Erzählerperspektive im Verlauf der Geschichte zunehmend in Richtung der für den Naturalismus charakteristischen. Denn der junge Mann wird von seinen Erlebnissen an der Seite des „assassin“, mit dem er die Nacht in einem Obdachlosenasyl und auch den nächsten Morgen verbringt, dergestalt beeinflusst, dass er sich diesem zunehmend anpasst. Sieht er den „assassin“ kurz nach dem Zusammentreffen noch „coldly“ an (286), leiht er ihm am nächsten Morgen Geld für ein Frühstück, weil er sich nicht mehr von ihm trennen will. Auch sprachlich gleicht er sich dem „assassin“ in diesem Zeitraum, wie Alan R. Slotkin gezeigt hat, zunehmend an.24 Spricht er zunächst noch Standardenglisch („Oh, that’s all right“ [286]), ist seine ‚Einladung‘ schließlich dialektal so eingefärbt, dass sie von den Äußerungen seines Begleiters nicht mehr zu unterscheiden ist: „Look-a-here, if yeh wanta git some breakfas’ I’ll lend yeh three cents t’ do it with“ (291). Dieser Prozess der Assimilation an seine Umgebung kulminiert schließlich in den letzten Sätzen der Geschichte. Neben dem „assassin“ auf einer Bank sitzend, blickt der junge Mann auf den City Hall Park, wo er sein Experiment begonnen hat. Die Mitglieder der Mittelklasse, die achtlos an ihnen vorbeischlendern, machen ihm plötzlich „his infinite distance from all that he valued“ bewusst: „He confessed himself an outcast, and his eyes from under the lowered rim of his hat began to glance guiltily, wearing the criminal expression that comes with certain convictions“ (293). Mit diesem Satz endet die Geschichte in derjenigen Version, die Crane in eine Sammlung von Kurzgeschichten aufgenommen hat und in der sie seitdem meistens wieder abgedruckt worden ist. Der junge Mann, so suggeriert der symbolisch überladene Schluss, ist Opfer seines eigenen Experiments geworden, das er fälschlicherweise kontrollieren zu können glaubte. Eine Nacht am unteren Rand der Gesellschaft sowie die Art und Weise, wie er von 24

Siehe Slotkin, Alan R., „Dialect Manipulation in ‘An Experiment in Misery’ “, in: American Literary Realism, 14/1981, 2, S. 273–276.

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denen behandelt wird, denen er eigentlich gleichgestellt ist, sind genug, damit ihm die Distanz zu der sozialen Klasse, zu der er gestern noch gehörte, unendlich erscheint und er sich in Verhalten und Physiognomie seiner neuen Klasse anpasst. In dieser Version spielt die Geschichte nicht nur mit der „possibility [that] he might descend into the ranks of the destitute“, wie Scott Penney meint,25 sondern projiziert diesen permanenten Abstieg als ein Faktum. Wie es für Cranes Naturalismus typisch ist, erweisen sich dabei soziale Faktoren als wirkmächtiger als biologische. Nicht nur ist es das Milieu, das ihn gefangen hält, auch die Veränderung seines Ausdrucks ist Resultat der Umwelteinflüsse, denen er nur für eine Nacht ausgesetzt war. „An Experiment in Misery“ handelt somit schließlich doch vom für die naturalistische Literatur charakteristischen Fallen aus der Ordnung. Die Leser jedoch werden aus der Welt der Geschichte wieder in ihre Welt entlassen; den sozialen Abstieg müssen sie nicht fürchten. Die Geschichte ermöglicht ihnen somit, an dem Experiment teilzunehmen und eine Erfahrung zu machen, die für den Protagonisten, dessen Perspektive sie immer wieder teilen, fatale Folgen hat. Anders als im Realismus ist es dabei nicht die Wahrnehmung als solche, die problematisch ist und trainiert werden muss, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Mit der richtigen Einschätzung der Figuren und der Realität an sich hat die Geschichte kein Problem. „An Experiment in Misery“ suggeriert vielmehr, dass bestimmte Erfahrungen, die wichtig sind, um zu einem angemessenen Verständnis der gesamten gesellschaftlichen Realität zu gelangen, außerhalb der Literatur nur unter großen Gefahren gemacht werden können, da die sozialen Umstände leicht die Oberhand über das Individuum gewinnen können. Der Leser lernt mit der Figur, was es heißt, ein „outcast“ zu sein, erleidet aber nicht ihr Schicksal. Bezieht man jedoch die Rahmenhandlung mit ein, ändert sich die Bedeutung der Geschichte grundlegend. In der Originalversion der Geschichte folgen auf die gerade besprochenen Zeilen noch zwei weitere Sätze, in denen der Protagonist nach der Rückkehr aus dem Armenviertel von einem älteren Freund nach seinen Erfahrungen befragt wird: “Well,” said the friend, “did you discover his point of view?” “I don’t know that I did,” replied the young man; “but at any rate I think mine has undergone a considerable alteration.” (863)

So wesentlich sich die Einstellung des Protagonisten zu Obdachlosen auch geändert haben mag, so ist doch der Effekt seines Experiments auf ihn selbst 25

Penney, Scott, „The Veracious Narrative of ‘An Experiment in Misery’: Cranes Park Row and Bowery“, in: Stephen Crane Studies, 3/1994, S. 2.

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in dieser Version merklich abgeschwächt. Auch wenn nicht erzählt wird, wie dies geschieht, findet der junge Mann hier doch den Weg zurück in sein eigentliches Leben. Die ärmliche Umgebung, die er erkundet hat, hat seine Identität innerhalb einer Nacht nicht für immer verändert. Da er in der Lage ist, äußeren Einflüssen zu widerstehen, verfügt der Protagonist – im klaren Widerspruch zum eigentlichen naturalistischen Credo – offensichtlich über ein Selbst. Die Geschichte projiziert folglich mit dem Rahmen ein radikal anderes Menschenbild als ohne. Den der Mittelklasse angehörenden Lesern der New York Press wird in der Version mit Rahmen somit ganz in der Manier realistischer Literatur der Glaube an ein rationales Subjekt bestätigt, das sich auf der Grundlage selbst gemachter Erfahrungen die Welt erschließen kann und soll. Allerdings handelt „An Experiment in Misery“ von Erfahrungen, die die meisten Zeitungsleser vermutlich nicht selbst machen wollten. Die Fiktion ermöglicht somit eine Erfahrung, die in der Realität vielleicht ohne größere Gefahren möglich, aber unerwünscht wäre. Literaturgeschichtlich nimmt diese Version des Textes deshalb eine Mittelposition zwischen Realismus und Naturalismus ein. Sie propagiert einerseits ganz explizit das Primat der eigenen Erfahrung: „You can tell nothing of it unless you are in that condition yourself“, sagt der ältere Freund zu Beginn zum Protagonisten, der sich fragt, wie sich der Obdachlose fühlt, und bewegt ihn so zu seinem Experiment (862). Andererseits verschafft sie den Lesern jedoch bereits genau diese Erfahrung: Das Erlesen tritt an die Stelle des Erlebens. Diese Komponente dominiert dann, wie oben gezeigt, in der Version ohne die Rahmenhandlung, wo sie sich notwendig aus dem dort impliziten, die Fremdbestimmung betonenden Menschenbild ergibt. Somit macht erst das Weglassen des Rahmens die Geschichte zu einer typisch naturalistischen.

Literaturverzeichnis Quellen Crane, Stephen, „An Experiment in Misery“, in: Fredson Bowers (Hrsg.), The Works of Stephen Crane, Vol. VIII: Tales, Sketches, and Reports, Charlottesville (VA) 1973, S. 283–293 und S. 861–864. James, Henry, „The Real Thing“, in: Leon Edel (Hrsg.), The Complete Tales of Henry James, Vol. 8: 1891–1892, London 1963, S. 229–258.

Was Leser mit Figuren lernen

323

Forschung Chase, Richard, The American Novel and Its Tradition, Garden City (NY) 1957. Cutrer, Emily Fourmy, „A Pragmatic Mode of Seeing. James, Howells, and the Politics of Vision“, in: David C. Miller (Hrsg.), American Iconology, New Haven, London 1993, S. 259–275. Fluck, Winfried, „Der amerikanische Naturalismus“, in: Hubert Zapf (Hrsg.), Amerikanische Literaturgeschichte, Stuttgart, Weimar 1996, S. 207–217. Fluck, Winfried: Inszenierte Wirklichkeit. Der amerikanische Realismus 1865–1900, München 1992. Lainoff, Seymour, „A Note on Henry James’ ‘The Real Thing’ “, in: Modern Language Notes, 71/1956, 3, S. 192–193. Link, Eric Carl, The Vast and Terrible Drama. American Literary Naturalism in the Late Nineteenth Century, Tuscoloosa (AL) 2004. Ludwig, Sämi, Pragmatist Realism. The Cognitive Paradigm in American Realist Fiction, Madison (WI) 2002. Mitchell, Lee Clark, Determined Fictions. American Literary Naturalism, New York 1989. Nagel, James, „Structure and Theme in Crane’s ‘An Experiment in Misery’ “, in: Studies in Short Fiction, 10/1973, S. 169–174. Penney, Scott, „The Veracious Narrative of ‘An Experiment in Misery’: Cranes Park Row and Bowery“, in: Stephen Crane Studies, 3/1994, S. 2–10. Rohr, Susanne, Die Wahrheit der Täuschung. Wirklichkeitskonstitution im amerikanischen Roman 1889–1989, München 2004. Slotkin, Alan R., „Dialect Manipulation in ‘An Experiment in Misery’ “, in: American Literary Realism, 14/1981, 2, S. 273–276. Swan, Michael, „Introduction“, in: Henry James: Selected Short Stories, New York 1978, S. 1–15. Toor, David, „Narrative Irony in Henry James’ ‘The Real Thing’ “, in: University Review, 34/1967, 4, S. 95–99. Trachtenberg, Alan, „Experiments in Another Country: Stephen Crane’s City Sketches“, in: The Southern Review, 10/1974, S. 265–285. Whitsitt, Sam, „A Lesson in Reading: Henry James’ ‘The Real Thing’ “, in: Henry James Review, 16/1995, 3, S. 304–314.

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Maximilian Bergengruen

Maximilian Bergengruen (Genf)

Moosbruggers Welt Zur Figuration von Strafrecht und Forensik in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften

Einleitung In diesem Aufsatz soll das Material gesichtet werden, dessen sich Robert Musil bedient, um die Figur des Frauenmörders Christian Moosbrugger im Mann ohne Eigenschaften zu entwickeln. Bekanntlich stützt er sich dabei, ähnlich wie Georg Büchner im Woyzeck, bis in die einzelne Formulierung hinein auf die Berichte über einen historischen Fall. Die Rede ist von der Ermordung der Prostituierten Josefine Peer durch den Zimmermann Christian Voigt im Jahre 1910. Um dem genannten Fall eine theoretische Zuspitzung zu geben, greift Musil bei der literarischen Figuration Moosbruggers, wie ich argumentieren werde, auf die in Österreich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert virulente juristische Debatte über die Unzurechnungsfähigkeit zurück. Die ihr zugrunde liegende Dichotomie von psychischer Gesundheit und Krankheit wird im Roman an der Figur Moosbruggers exemplarisch diskutiert und von verschiedenen Instanzen als unterkomplex abgelehnt [I.]. Darüber hinaus möchte ich eruieren, warum Musil der Epilepsie und Schizophrenie Moosbruggers eine so große Aufmerksamkeit schenkt, obwohl insbesondere letztere im Fall Christian Voigt lediglich eine marginale Rolle spielt. Wie anhand von bisher noch nicht ausgewertetem historischen Material gezeigt werden soll, bieten ihm genau diese Krankheiten die Möglichkeit, die Alternative Zu- vs. Unzurechnungsfähigkeit auf der Ebene der Sprache zu überwinden [II.]. Zuletzt möchte ich das Ziel dieser Überwindung analysieren: Erst Moosbruggers Zustand jenseits der Zurechnungsfähigkeit macht ihn, so mein Argument, zu einem Zwillingsbruder Ulrichs und damit zu einem Mystiker der körperlichen Gewalt [III.].

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I.

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Unzurechnungsfähigkeit

Werfen wir einen Blick auf das zu Musils Zeit gültige österreichische Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen von 1852: §. 1. / Böser Vorsatz. / Zu einem Verbrechen wird böser Vorsatz erfordert […]. / §. 2. / Gründe, die den bösen Vorsatz ausschließen. / Daher wird die Handlung oder Unterlassung nicht als Verbrechen zugerechnet: / a) wenn der Thäter des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt ist; / b) wenn die That bei abwechselnder Sinnenverrückung zu der Zeit, da die Verrückung dauerte […], begangen worden ist.1

Was hier formuliert wird, ist die klassische, aus dem Naturrecht stammende Imputationslehre, also der Versuch, Schuld im Strafrecht nicht mehr allein von der Tat, sondern stärker vom Täter her zu denken, mit dem Ergebnis, dass genau zwischen Zu- und Unzurechnungsfähigkeit dieses Täters zum Zeitpunkt der Tat unterschieden werden muss:2 Ein Mensch ist nur dann für seine Handlungen zu belangen, wenn er bei deren Begehen bei Bewusstsein war, also z. B. nicht an einer psychischen Krankheit litt (d. h. „der Vernunft ganz beraubt“ oder von einer temporären „Sinnenverrückung“ ergriffen war). Um 1800 war das (z. B. im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 oder auch im österreichischen Strafgesetzbuch von 1803) rechtstheoretisch State of the Art.3 Im frühen 20. Jahrhundert – nicht mehr. Die Unzufriedenheit ob einer solchen Rückständigkeit im österreichischen Strafrecht lässt sich an einem, wohlgemerkt: gescheiterten, Novellierungsentwurf aus dem Jahre 1912 ablesen. In der Einleitung heißt es: Die Hauptquelle des geltenden Rechtes, das Strafgesetz vom 27. Mai 1852 beruht auf dem Strafgesetze vom Jahre 1803, ja in seinem ersten, von dem Verbrechen handelnden Teile geht es sogar auf das westgalizische Strafgesetzbuch vom Jahre 1

2

3

Frühwald, W. Th., Handbuch des österreichischen Strafgesetzes über Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen und der Preßordnung vom 27. Mai 1852 […], in: Handbuch des österreichischen Strafrechtes, Erster Theil, 3. umgearbeitete und vermehrte Auflage, Wien 1855, S. 27–31. Vgl. hierzu Gschwend, Lukas, Zur Geschichte der Lehre von der Zurechnungsfähigkeit. Ein Beitrag insbesondere zur Regelung im Schweizerischen Strafrecht, Zürich 1996, S. 135ff. Vgl. zur Debatte über Unzurechnungsfähigkeit in der Literatur um 1800 Reuchlein, Georg, Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E.T.A. Hoffmann und Georg Büchner. Zum Verhältnis von Literatur, Psychiatrie und Justiz im frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt 1985, sowie Bergengruen, Maximilian, „Tollwut, Werwolf, Wilde Jagd. Wie das Gebiss des Jägers Jürge Brentanos ‚Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl‘ verzahnt“, in: Ders. et al. (Hrsg.), Sexualität, Recht, Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, München 2005, S. 263–293.

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1796 zurück. Es ist demnach das älteste Strafgesetz, das in irgendeinem Staate des europäischen Kontinents gilt.4

Halten wir fest, dass im Österreich des frühen 20. Jahrhunderts nach einem Strafgesetz geurteilt wird, das längst verjährt ist.5 Ein Zustand, der im Übrigen bis zum Jahre 1975 anhalten wird. Einer der Kritikpunkte an der veralteten Gesetzeslage betrifft, um ins frühe 20. Jahrhundert zurückzukehren, die oben angesprochene Bestimmung der Unzurechnungsfähigkeit. Franz von Liszt, der Begründer des Präventionsstrafrechts, hatte schon im 19. Jahrhundert Zweifel an der Bestimmung der Unzurechnungsfähigkeit angemeldet. Zwar betont er, dass der „Gegensatz zwischen Verbrechen und Wahnsinn“ durch nichts anderes als den „technisch-juristischen Begriff der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit“ bestimmt werden könne, d. h. durch die Frage, ob „Willensfreiheit“, intellektuelle Befähigung zur „Einsicht“ und nachvollziehbare „Motive“ des Handelns vorliegen. Gleichzeitig führt er jedoch aus – und das ist für meinen Zusammenhang entscheidend –, dass „die Erscheinungen des Lebens“ angesichts der „ungezählten […] nicht abgrenzbaren Übergänge“ zwischen Wahnsinn und Gesundheit diesen „begrifflichen Fesseln“ nichts anderes als „spotten“.6 4

5

6

Aus der Regierungsvorlage zum „Strafgesetzbuch für Österreich“ aus der XXI. Session 1912. Zitiert nach Ferk, Janko, Recht ist ein ‚Prozeß‘. Über Kafkas Rechtsphilosophie, Wien 1999, S. 32. Vgl. auch die Ausführungen ebd. Vgl. zur Entwicklung des österreichischen Strafrechts die nach wie vor konkurrenzlose Studie von Ogris, Werner, „Die Entwicklung von Gerichtsverfassung, Strafrecht und Strafprozeßrecht 1848–1918“, in: Ders./Gábor Máthé (Hrsg.), Die Entwicklung der österreichisch-ungarischen Strafrechtskodifikation im XIX–XX. Jahrhundert, Budapest 1996, S. 55–75, hier S. 64ff. Liszt, Franz von, „Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit. Vortrag, gehalten am 4. August 1896 auf dem III. Internationalen Psychologen-Kongreß“, in: Ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 2 Bde., Berlin 1905, Bd. II, S. 214–229, hier S. 215; S. 218; S. 222. Ulrichs Vater scheint im Übrigen ein Anhänger des Präventionstheoretikers Liszt zu sein. Er schreibt: „Die soziale Auffassung sagt uns, daß der verbrecherisch ‚Entartete‘ überhaupt nicht moralisierend, sondern nur nach seiner Schädlichkeit für die menschliche Gesellschaft zu beurteilen sei“ (MoE 538). Zur verminderten Zurechnungsfähigkeit bei Liszt und Musil vgl. MüllerDietz, Heinz, „Moosbrugger, ein Mann mit Eigenschaften oder Strafrecht und Psychiatrie in Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ “, in: Ders., Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein. Gesammelte Aufsätze, Baden-Baden 1999, S. 117–145, hier S. 132ff., und Ders., „Strafrecht und Psychiatrie im Werk Robert Musils“, in: Ders., Grenzüberschreitungen. Beiträge zur Beziehung zwischen Literatur und Recht, Baden-Baden 1990, S. 430–455, hier S. 442. Zitate aus dem Mann ohne Eigenschaften werden unter der Sigle ‚MoE‘ nach der Ausgabe: Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften. Aus dem Nachlaß. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe, hrsg. von Adolf Frisé, 2 Bde., Hamburg 132006, wiedergegeben.

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Theoretisch wird die starre Unterteilung in Zu- und Unzurechnungsfähigkeit also durchaus kritisiert. Doch die praktische Anwendung des Strafrechts im Österreich des frühen 20. Jahrhunderts fällt, wie der Erzähler des Mannes ohne Eigenschaften unmissverständlich deutlich macht, weit hinter diesen Argumentationsstand zurück: „Es gibt für Juristen keine halbverrückten Menschen“ (MoE 534). Auf Moosbrugger bezogen, heißt das: Was über ihn „von Rechts wegen zu sagen war, das hätte man in einem Satz vorbringen können. Moosbrugger war einer jener Grenzfälle, die aus der Jurisprudenz und Gerichtsmedizin auch den Laien als die Fälle der verminderten Zurechnungsfähigkeit bekannt sind“. Der Erzähler macht also deutlich, dass die österreichische Justiz aus dem Rahmen des „non datur tertium sive medium inter duo contradictoria“ (MoE 242), also des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten, nicht hinauskommt.7 Und dies, obwohl man spätestens seit Liszt sehr genau weiß, „daß die Übergänge von der Gesundheit zur Krankheit in der Natur gleitend sind“ (MoE 534). Im Kapitel 18 wird der Fall selbst erörtert: Bei Moosbrugger handelt es sich um einen Zimmermann, der „eine Frauensperson, eine Prostituierte niedersten Ranges, in grauenerregender Weise getötet“ hat (MoE 68). Genauer gesagt: Die Berichterstatter hatten genau eine vom Kehlkopf bis zum Genick reichende Halswunde, ebenso die zwei Stichwunden in der Brust, welche das Herz durchbohrten, die zwei in der linken Seite des Rückens und das Abschneiden der Brüste beschrieben, die man fast abheben konnte; sie hatten ihren Abscheu davor ausgedrückt, aber sie hörten nicht auf, bevor sie fünfunddreißig Stiche im Bauch gezählt und die fast vom Nabel bis zum Kreuzbein reichende Schnittwunde erklärt hatten, die sich in einer Unzahl kleinerer den Rücken hinauf fortsetzte, während der Hals Würgespuren trug (MoE 68).

Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, erfährt von diesen gerichtsmedizinischen Details, weil er Prozessbeobachter zweiter Ordnung ist, d. h. weil er die Prozessberichte in der Zeitung studiert.8 Und dabei bemerkt er ziemlich schnell, dass der Richter Moosbruggers Tat aus der Schublade eins, der Unzurechnungsfähigkeit, in die Schublade zwei, nämlich die der Zurechnungs7

8

Zur juristischen Diskussion im deutschsprachigen Raum des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts um das hier angesprochene Problem der verminderten Zurechnungsfähigkeit, also den, nicht zuletzt auf Liszt zurückgehenden, Versuch, zwischen Zu- und Unzurechnungsfähigkeit eine oder mehrere Zwischengröße(n) zu etablieren, vgl. ausführlich Gschwend, Zur Geschichte, S. 326ff. Vgl. hierzu auch Bernauer, Hermann, Zeitungslektüre im ‚Mann ohne Eigenschaften‘, München 2007, S. 33ff.

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fähigkeit, stecken möchte (und mehr Schubladen auch nicht kennt).9 Da er zwischen fehlender Verstandestätigkeit und Wahnsinn keinen Unterschied macht, bemerkt er vor allem die „bemerkenswerte Intelligenz“ (MoE 72) des Angeklagten. Von ihr schließt er, wie es im Kapitel 60 heißt, darauf, dass Moosbruggers „Geistes- und Verstandeskräfte […] soweit unbeschädigt“ sind, „daß bei ihrer Anwendung die Tat ebensogut unausgeführt hätte bleiben können“ (MoE 243). Da die bisher vorliegenden psychiatrischen Gutachten, die ein solches Urteil nicht zulassen, widersprüchlich sind, zieht der Richter, was ihm aufgrund der geltenden Strafprozessordnung möglich ist, die Medizinische Fakultät hinzu, die ein neues „Gutachten“ erstellt, „das ihn [d. i. Moosbrugger] als verantwortlich erklärte“. Mit der Konsequenz, dass es bei der späteren Verurteilung – vorläufig zumindest – zum „Todesurteil“ (MoE 76) kommt. Das Interessante an diesem Prozess ist, dass Moosbrugger die Winkelzüge des Gerichts – mit der ihm unterstellten „bemerkenswerten Intelligenz“ – erkennt, ja sogar unterstützt: Moosbrugger ließ sich keine dieser Gelegenheiten entgehn, um in öffentlicher Verhandlung seine Überlegenheit über die Psychiater zu beweisen und sie als aufgeblasene Tröpfe und Schwindler zu entlarven, die ganz unwissend seien und ihn, wenn er simuliere, ins Irrenhaus aufnehmen müßten, statt ihn ins Zuchthaus zu schicken, wohin er gehöre (MoE 72).

An dieser Stelle erklärt sich Moosbrugger also für zurechnungsfähig, ja sogar für so zurechnungsfähig, dass er die Unzurechnungsfähigkeit als eine rationale Strategie bedienen (und entlarven) kann. Später behauptet er genau das Gegenteil. Als ihm sein Todesurteil vorgelesen wird, antwortet er: „Ich bin damit zufrieden, wenn ich Ihnen auch gestehen muß, daß Sie einen Irrsinnigen verurteilt haben“ (MoE 76).10 Hier erklärt sich Moosbrugger nun – mit der Attitüde eines vernünftigen und damit zurechnungsfähigen Psychiaters – selbst für unzurechnungsfähig. Durch widersprüchliche Aussagen wie diese, so möchte ich im Folgenden zeigen, wird im Moosbrugger-Komplex eine Grauzone innerhalb des „Problem[s] der Zurechnungsfähigkeit“ (MoE 1946) eröffnet, die für den gesamten Roman von entscheidender Bedeutung ist: Am Scheitern des Gerichtes in Bezug auf die psychische, moralische und rechtliche Erfassung des Se9

10

Vgl. die frühen Notizen zum Spion-Projekt: „Ist die Lade vergesellschaftungsunfähig, so kommt der Delinquent ins Irrenhaus. Ist sie es nicht, so wird nach juridischen Gesichtspunkten geurteilt“ (MoE 1946; Hervorhebung MB ). Zur Herkunft dieses Satzes vgl. Corino, Karl, Robert Musil. Eine Biographie, Hamburg 2003, S. 889f.

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xualmörders Christian Moosbrugger wird eine Position deutlich, die jenseits der Dichotomie ‚verrückt‘ vs. ‚gesund‘, ja jenseits irgendwelcher Dichotomien liegt.

II.

Epileptische und schizophrene Sprache

Das Plädoyer des Erzählers, Moosbrugger außerhalb der Antinomie von Zuund Unzurechnungsfähigkeit zu positionieren, impliziert nicht, dass Moosbruggers psychische Krankheit geleugnet würde. Ganz im Gegenteil: Schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt wird hervorgehoben, dass der Frauenmörder sogar „ersichtlich krank“ (MoE 71) sei. Und auch um welche Krankheiten es sich handelt, wird erwähnt – allerdings erst in den Kapiteln, die nach dem Prozess spielen (also zur Zeit, da Moosbrugger im Gefängnis sitzt). Während der Beschreibung der Gerichtsverhandlungen spricht der Erzähler nämlich eher verächtlich davon, dass Moosbrugger bereits „als Paralytiker, Paranoiker, Epileptiker und zirkulär Irrer gegolten“ habe, „ehe ihm in der letzten Verhandlung zwei besonders gewissenhafte Gerichtsärzte seine Gesundheit wieder zurückgaben“ (MoE 243). Die Intention dieser ironischen Bemerkung ist offensichtlich: So lange sich die Psychiater im Rahmen der juristischen Dichotomie von Zu- oder Unzurechnungsfähigkeit bewegen, ist jede Diagnose, egal, ob sie Moosbrugger be- oder entlastet, gleich sinnlos. Anders nach dem Prozess: Im Kapitel 59, „Moosbrugger denkt nach“, wird, freilich durch den Erzähler (also nicht durch die Psychiater) und darüber hinaus nur implizit, nun doch eine Diagnose gestellt: Die hier geschilderten psychischen Zustände Moosbruggers sind, wie in der Forschung nachgewiesen wurde, unzweifelhaft nach Eugen Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin 1916, gemodelt – und zwar genauer gesagt nach dessen Konzept der Epilepsie11 und Schizophrenie.12 11

Vgl. hierzu Büren, Erhard von, Zur Bedeutung der Psychologie im Werk Robert Musils, Zürich u. a. 1970, S. 121, sowie, ihm folgend: Payne, Philip, „Musil erforscht den Geist eines anderen Menschen. Zum Porträt Moosbruggers im ‚Mann ohne Eigenschaften‘ “, in: Literatur und Kritik, 11/1976, S. 389–404, hier S. 401ff., und Howald, Stefan, Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik. Untersuchungen zum Romanwerk Robert Musils, München 1984, S. 211f., sowie Ostermann, Eberhard, „Das wildgewordene Subjekt. Christian Moosbrugger und die Imagination des Wilden in Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ “, in Neophilologus, 89/2005, S. 605–623, hier S. 609. Vgl. weiterhin, wenn auch aus einer eher immanenten Perspektive: Braun, Wilhelm, „Moosbrugger Dances“, in: Germanic Review, 35/1960, S. 214–230, hier S. 220ff. Büren entnehme ich das folgende Beispiel zur Epilepsie.

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Beginnen wir, um dies zu verdeutlichen, mit der Epilepsie und damit mit Moosbruggers weitreichenden ‚etymologischen Reflexionen‘ über das Dialektwort „Eichkatzel“ in Unterscheidung zum hochdeutschen Wort „Eichhörnchen“: Und da taten die Psychiater wunder wie neugierig, wenn sie Moosbrugger das gemalte Bild eines Eichhörnchens zeigten, und er darauf antwortete: „Das ist halt ein Fuchs oder vielleicht ist es ein Hase; es kann auch eine Katz sein oder so.“ Sie fragten ihn dann jedes Mal recht schnell: „Wieviel ist vierzehn mehr vierzehn?“ Und er antwortete ihnen bedächtig: „So ungefähr achtundzwanzig bis vierzig.“ Dieses „Ungefähr“ bereitete ihnen Schwierigkeiten, über die Moosbrugger schmunzelte. (MoE 240)

An diesem Zitat ist kaum etwas erfunden: Alle Tiernamen, die AdditionsFrage sowie das hervorgehobene „ungefähr“ gehen auf Bleulers Lehrbuch zurück: „Ein Eichhorn ‚ist jetzt ein Hase oder eine Katze oder ein Fuchs‘. Sogar in der Mathematik ist 16+16 ‚so ungefähr 32 bis 34‘ “.13 Auch bei der Schizophrenie nimmt Musil keine großen Änderungen gegenüber seinem psychiatrischen Bezugstext vor. In besagtem Kapitel 59 heißt es, dass Moosbrugger sich vergegenwärtigt, wie er „Stimmen oder Mu12

13

Vgl. hierzu Lönker, Fred, „Der Fall Moosbrugger. Zum Verhältnis von Psychopathologie und Anthropologie in Robert Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ “, in: Schiller-Jahrbuch, 47/2003, S. 280–302, hier S. 283ff. Auf die von Bleuler abhängige Schizophrenie-Lehre bei Musil hat bereits Heydebrand, Renate von, Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken, Münster 1966, S. 125f., hingewiesen. Vgl. hierzu auch Ostermann, Das wildgewordene Subjekt, S. 609. Die beiden folgenden Schizophrenie-Beispiele entnehme ich Lönker. Bleuler, Lehrbuch, S. 334. Erst in einem unveröffentlichten Kapitel, wohl aus den 1930er Jahren, das das Verhältnis Moosbrugger/Clarisse zum Thema hat, wird die Epilepsie ausdrücklich genannt. Hier heißt es: „ ‚Sehen Sie‘, meinte Friedenthal, ‚meiner Ansicht nach ist Moosbrugger ja wohl Epileptiker. Er weist aber auch Züge von Paraphrenia systematica und vielleicht von Dementia paranoides auf. Er ist eben in jeder Hinsicht ein Grenzfall. Seine Anfälle, bei denen qualvoll beängstigende Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen gewiß eine Rolle spielen, können Minuten bis Wochen dauern […]‘ “ (MoE 1368; erste Entwürfe hierzu schon in den 1920er Jahren: „Clarisse nimmt sich seiner an“; „Die Ausrede, daß Moosbr. dem Skat zugezogen wird“; MoE 1944; 1948). Vgl. hierzu auch MüllerDietz, Strafrecht, S. 444ff., sowie Beard, Philipp H., „Clarisse und Moosbrugger vs. Ulrich/Agathe: Der ‚Andere Zustand‘ aus neuer Sicht“, in: Modern Austrian Literature, 9/1975, 3/4, S. 114–130, hier S. 125ff. Ein, freilich sehr versteckter, Hinweis auf die Epilepsie Moosbruggers findet sich auch in MoE 533: „Einige Psychiater führten einen Fachstreit über die Abgrenzung bloß psychopathischer Veranlagung von bestimmten Fällen der Epilepsie und ihrer Vermischung mit anderen Krankheitsbildern“.

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sik oder ein Wehen und Summen, auch Sausen und Rasseln oder Schießen, Donnern, Lachen, Rufen, Sprechen und Flüstern“ (MoE 239), hört. Eine ganz ähnliche Formulierung findet sich im Lehrbuch: „Die Patienten hören Wehen, Sausen, Summen, Rasseln, Schießen, Donnern, Musizieren, Weinen und Lachen, vor allem aber Flüstern, Sprechen, Rufen“.14 Aussagekräftig ist auch ein weiteres Zitat aus dem Mann ohne Eigenschaften: „Wenn er [Moosbrugger] arbeitete, so sprachen die Stimmen meist in sehr abgerissenen Worten und kurzen Sätzen auf ihn ein, […] und wenn er etwas dachte, so sprachen sie es aus, ehe er selbst dazu kam, oder sagten boshaft das Gegenteil von dem, was er wollte“ (MoE 239). Auch hier zeigt der Vergleich it dem Lehrbuch, dass sich Musil beinahe wörtlich an Bleuler orientiert: „Die Stimmen reden meist in abgerissenen Worten und kurzen Sätzen […]. Sie beschimpfen, drohen, trösten, sie kritisieren als ‚Gewissensstimmen‘ oder sagen auch das Gegenteil von dem, was der Kranke eben will oder denkt“.15 So weit der von der literaturwissenschaftlichen Forschung rekonstruierte Abgleich von Musil und Bleuler. Ich möchte nun wissen, welchen Zweck Musil mit seinem Rekurs auf die Epilepsie- und Schizophrenie-Lehre Bleulers verfolgt. Dass ihm als Kenner der zeitgenössischen Psychologie das Wissen über diese Krankheitsformen nicht unbekannt war, steht außer Frage. Unklar ist jedoch, warum er genau diese beiden Krankheiten für Moosbrugger auswählt. Ich muss zur Beantwortung dieser Frage etwas ausholen: Karl Corino hat in einem Aufsatz aus dem Jahre 198416 darauf hingewiesen, dass sich die Moosbrugger-Geschichte einem realen Fall verdankt, nämlich dem Gerichtsprozess gegen den Frauenmörder Christian Voigt. Dieser bringt – nachdem er im Jahre 1902 schon einmal eine Frau bzw. ein Mädchen, die 17-jährige Ella Protovsky, ermordet hatte – in den frühen Morgenstunden des 14. August 1910 die Prostituierte Josefine Peer auf bestialische Weise auf einem Sportplatz um. Der genannte Fall wird in der Österreichischen Presse, insbesondere in der Illustrierten Kronen- und in der Arbeiter-Zeitung, zwischen dem 16. August 1910 und dem 28. Februar 1912 ausführlich behandelt. Musil hat nun, wie Corino zeigen kann, diese Berichte zur Kenntnis genommen und als – teil14 15 16

Bleuler, Eugen, Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin 1916, S. 289. Ebd. Corino, Karl, „Zerstückt und durchdunkelt. Der Sexualmörder Moosbrugger im ‚Mann ohne Eigenschaften‘ und sein Modell“, in: Musil-Forum, 10/1984, S. 105–169. Vgl. auch Ders., Robert Musil, S. 880–891.

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weise wörtliche – Grundlage seines Romans verwendet. Der Autor des Manns ohne Eigenschaften geht also nicht anders vor als sein Romanheld Ulrich, der seine Informationen zu Moosbrugger ebenfalls „bloß in der Zeitung“ findet (MoE 69). Doch die Zeitungsartikel sind nicht der einzige Bezugstext. Im Jahre 1913, also drei Jahre nach der Tat und ein Jahr nach Ende der Presseberichterstattung, erscheint im 55. Band des von Hans Gross herausgegebenen Archivs für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik der Aufsatz eines Dr. Siegfried Türkel: „Der Lustmörder Christian Voigt. Ein kriminalistisch-psychiatrischer Beitrag zur Lehre vom Lustmorde“.17 Dieser Aufsatz versucht eine psychiatrisch-forensische Diagnose Voigts, zeichnet sich jedoch auch dadurch aus, dass er die wichtigsten Unterlagen der zwei Frauenmordprozesse abdruckt: die schriftlichen Selbstaussagen Voigts, die Gerichtsprotokolle seiner mündlichen Aussagen und vor allem die psychiatrischen Gutachten. Diese Quellen sind noch nicht ausgewertet worden,18 obwohl sie für den Mann ohne Eigenschaften und seine Abhängigkeit von der zeitgenössischen Psychiatrie eine entscheidende Rolle spielen: Sie berichten nicht nur vom Tathergang, sondern ermöglichen dessen psychiatrische Einordnung. Hier liegt also die Antwort auf die oben gestellte Frage, warum Moosbrugger im Kapitel 59 gerade epileptische und schizophrene Züge zugesprochen bekommt. Doch der Reihe nach: Rein von der Beschreibung des Tatverlaufs her ist es weitgehend ununterscheidbar, ob sich Musil nur an den Zeitungsberichten oder auch an Türkels Aufsatz und den dort veröffentlichten Prozessakten orientiert. Ich beginne mit Musils Version: Nach Aussagen Moosbruggers verfolgt ihn das „davongelaufene[ ] Dienstmädchen“ (MoE 73), das er später umbringen wird, in der Mordnacht bereits eine geraume Zeit. Moosbrugger will sie, eigenen Angaben zufolge, abschütteln. Da „verfiel“ er […] mit einer geradezu überirdischen Anstrengung seiner Moral auf noch einen Ausweg. Hinter der Planke, längs der jetzt der Weg führte, lag ein Sportplatz; da war man ganz ungesehen, und er bog ein. In dem engen Kassenhäuschen legte er sich nieder und drängte den Kopf in die Ecke, wo es am dunkelsten war; das wei17

18

Türkel, Siegfried, „Der Lustmörder Christian Voigt. Ein kriminalistisch-psychiatrischer Beitrag zur Lehre vom Lustmorde“, in: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik, 55/1913, S. 47–97. Der Artikel findet in der Forschung bisweilen Erwähnung (Müller-Dietz, Ein Mann mit Eigenschaften, S. 129; ders., „[Ich-]Identität und Verbrechen. Zur literarischen Rekonstruktion psychiatrischen und juristischen Wissens von der Zurechnungsfähigkeit“, in: Manfred Pfister [Hrsg.], Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, Passau 1989, S. 240–253, hier S. 250). Er ist jedoch, soweit ich sehe, nie ausgewertet worden.

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che verfluchte zweite Ich legte sich neben ihn. Er tat deshalb so, als ob er gleich einschliefe, um später davonschleichen zu können. Aber als er leise, mit den Füßen voran, hinauskroch, war es wieder da und schlang die Arme um seinen Hals. Da fühlte er etwas Hartes in ihrer oder seiner Tasche; er zerrte es hervor. Er wußte nicht recht, war es eine Schere oder ein Messer; er stach damit zu. Sie hatte behauptet, es sei nur eine Schere, aber es war sein Messer. Sie fiel mit dem Kopf in das Häuschen; er schleppte sie ein Stück heraus, auf die weiche Erde, und stach so lange auf sie ein, bis er sie ganz von sich losgetrennt hatte. (MoE 74)

Vergleichen wir diese Passage nun mit den beiden möglichen Bezugstexten: In einem Bericht aus der Illustrierten Kronenzeitung wird das „Kassenhäuschen“ erwähnt, in das Moosbrugger geht, desgleichen das gemeinsame Hinlegen der beiden – „ich ließ mich überreden und legte mich neben ihr beim Kassenhäuschen nieder“ – sowie der Gedanke des Einschlafens und des Davonschleichens: „Nach einer Stunde glaubte ich sie eingeschlafen. Ich stand vorsichtig auf und wollte mich entfernen“. Gleiches gilt für das Scheitern dieses Unternehmens: „Aber die dumme Person sprang auf, blitzartig“. Und auch des Messers, mit dem Moosbrugger zusticht, wird Erwähnung getan („dabei verletzte ich mich an der rechten Hand an einem Gegenstand. Es war ein Messer“). Selbst der Tötungsvorgang wird, wenn auch wesentlich zurückhaltender als bei Musil, erwähnt: „Da habe ich aus Wut […] auf sie losgestochen“.19 In der Arbeiter-Zeitung wird schließlich die für Musil zentrale Messer/Scheren-Verwechslung erwähnt. Angeblich soll Voigt ausgesagt haben: „Ich rang mit ihr, Körper an Körper. Bei diesem Gedränge verletzte ich mich an der rechten Hand. Ich frage sie, was sie habe. Sie sagte: ‚Eine Schere!‘ Ich antworte: ‚Canaille, das ist keine Schere, das ist ein Messer!‘ “.20 All diese Elemente, vom Kassenhäuschen einmal abgesehen, finden sich jedoch nicht nur in besagtem Zeitungsbericht, sondern auch in Türkels Referat des Geständnisses Voigts gegenüber dem Untersuchungsrichter und seinem psychiatrischen Gutachter: Um sie wieder los zu werden […], habe er zu einer List seine Zuflucht genommen. Er flüchtete rasch in den nahen Kricketplatz. Die Peer […] sei ihm aber nachgekommen. Nun habe er den Kricketplatz verlassen wollen. Sie aber lamentierte, redete vom ‚Hinlegen‘, habe ihm den Kopf verdreht […]. Sie legte sich alsdann auf den Boden. Er habe das gleiche getan in der Hoffnung, sie werde einschlafen und er könne dann das Weite suchen. Tatsächlich habe er nach etwa 10 Minuten weggehen wollen. Sie aber habe noch nicht geschlafen und sprang gleich in die Höhe […].21 19

20 21

Illustrierte Kronen-Zeitung, 21. 10. 1911, S. 3, zitiert nach nach Corino, Zerstückt, S. 111; Ders., Musil, S. 887. Arbeiter-Zeitung, 21. 10. 1911, S. 8. Zitiert nach Corino, Musil, S. 887. Türkel, „Der Lustmörder“, S. 73.

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Und auch bei Türkel findet die Messer-Scheren-Geschichte ausführliche Erwähnung: Während er sie umarmte, habe er an ihrer Seite einen harten Gegenstand getastet. Er habe sie nun gefragt, was das für ein Gegenstand sei. Sie antwortete, dies sei eine Schere. Er habe ihr in die Tasche gegriffen und den Gegenstand herausgezogen, da habe er erkannt, daß es ein zirka 12 cm langes Messer in einer Holzschale war. […] Er sagte ihr, er werde sie stechen, wenn sie ihn nicht sofort loslasse, und, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, habe er sie von rückwärts gestochen. Lautlos sei sie umgefallen, mit dem Oberkörper in das Kassahäuschen hinein.

Dann habe er „blindlings auf die, wie er meinte, vielleicht noch röchelnde Person etwa durch ein paar Minuten losgestochen“.22 Bis jetzt sind zwei Ergebnisse festzuhalten: Bei der Erarbeitung des genauen Tathergangs hält sich Musil in Sachen Moosbrugger, ähnlich wie Georg Büchner im Woyzeck, bis in die unscheinbarsten Details hinein an einen historischen Fall, die Causa Voigt, und deren mediale Aufarbeitung. Freilich ist nicht festzustellen, ob er sich lediglich an der journalistischen Berichterstattung oder auch an der wissenschaftlichen Aufarbeitung, dem erwähnten Aufsatz Türkels, orientiert. Eine irreduzible Rolle spielt Türkels Aufsatz hingegen für die im Mann ohne Eigenschaften vorgenommene psychiatrische Einordnung des Tathergangs. Nur über ihn wird erklärbar, warum Musil gerade die Elemente der epileptischen Sprachverwirrung und der schizophrenen Halluzinationen bei Bleuler entleiht. Er benötigt diese Elemente, wie ich zeigen möchte, um eine Art von Reflex auf die bei Türkel minutiös rekonstruierte forensische Sichtweise auf den Frauenmörder zu formulieren – und um damit zugleich die Basis seiner eigenen Sprachphilosophie zu legen. Besonders deutlich wird dies an der Schizophrenie. Eine diesbezügliche Erkrankung wird im Fall Voigt diskutiert, spielt allerdings in den Zeitungsberichten kaum eine Rolle.23 In den Gutachten wird eine solche Diagnose 22 23

Ebd. Lediglich in einem Artikel aus dem Jahr 1911 wird beiläufig einer Bemerkung Moosbruggers Erwähnung getan, die dieser in der „Verantwortung“ seiner Tat (dem ersten Frauenmord) fallengelassen hatte: „Er gab an, er werde stets von Geistern verfolgt, die ihn bei Tag und Nacht rufen. Sie werfen ihn aus dem Bett, wenn er schläft, und stören ihn bei der Arbeit. Bei Nacht höre er sie sprechen und streiten miteinander, so dass er alle Augenblicke aufwache“ (Neues Wiener Journal, 22. 10. 1911, S. 15, zitiert nach Corino, Zerstückt, S. 109; Ders., Musil, S. 884). Diese Stelle nimmt Musil beinahe wörtlich auf: „Man könnte also verstehn, daß Moosbrugger schon nach dem ersten Mädchenmord sich damit verantwortete, daß er stets von Geistern verfolgt werde, die ihn bei Tag und Nacht riefen. Sie warfen ihn aus dem Bett, wenn er schlief, und störten ihn bei der Arbeit“ (MoE

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immerhin erwogen, aber – und das ist für meine Fragestellung entscheidend – qua Simulationsunterstellung recht schnell wieder verworfen. Es handelt sich also um eine Art blinden Fleck in der psychiatrischen Sichtweise auf Voigt, der im Mann ohne Eigenschaften wieder sichtbar gemacht wird. Gehen wir in die Details und beginnen bei Türkel selbst: Zwar erwähnt dieser eine Äußerung Voigts, die auf Schizophrenie schließen lässt („manchmal schien es, als ob Voigt unter dem Einflusse von Gehörstäuschungen stünde“),24 zwar räumt er ein, dass Voigt anlässlich der Verhaftung nach seinem ersten Frauenmord (dem Mädchen aus Lauscha) „von Geistern, die ihn quälten“, gesprochen habe,25 zwar diagnostiziert er dies als schizophrene „Gehörstäuschungen“,26 aber er schränkt seine Diagnose zugleich wieder ein, wenn er betont, dass Voigt selbst sich der Simulation dieser Vorgänge bezichtigt habe. Darauf muss schon der erste Gutachter im ersten Frauenmordprozess hingewiesen haben. Binswanger habe, so Türkel, „in Erfahrung gebracht“, dass Voigt in dieser Hinsicht „zu simulieren“ verstehe.27 In Binswangers offiziellem Gutachten zum ersten Frauenmord steht, soweit es bei Türkel abgedruckt ist, bezüglich Voigts Simulationstendenz nichts. Der Psychiater muss jedoch seine Beobachtung an anderer Stelle hinterlegt haben. Die medizinische Fakultät, die – wie im Mann ohne Eigenschaften – für die Urteilsfindung in Voigts zweitem Frauenmord-Prozess für eine abschließende Gutachtertätigkeit herangezogen wird, nimmt nämlich, mit explizitem Bezug auf die frühen Untersuchungen, die Simulationsthese auf und schreibt über Voigts Schizophrenie: Von einer anders gearteten Geistesstörung, gar von einer periodisch auftretenden zu reden, fehlt jeder Anhaltspunkt. Nur in der Zeit der Untersuchung in Meiningen [d. i. nach dem ersten Frauenmord, während der Untersuchung bei Binswanger] und in … der kurz daran anschließenden Zeit hat Voigt Wahnbildungen, Sinnestäuschungen […] von sensu stricto psychotischer Höhe gezeigt, die aber nach dem früher Gesagten simuliert scheinen.28

Warum die Eilfertigkeit der Psychiater, die schizoiden Störungen Voigts als Simulation abzuwerten? Forensisch gibt es dafür einen eindeutigen Grund: Schizophrenen, so Bleuler in einem Anhang seines bereits erwähnten Lehr-

24 25 26 27 28

69f.). Auch hier drängt sich ein Rekurs auf Bleulers Theorie der schizophrenen „Sinnestäuschungen“, und zwar bevorzugt „Gehörstäuschungen in Form von Worten (Stimmen)“, auf (Bleuler, Lehrbuch, S. 289). Türkel, „Der Lustmörder“, S. 51. Ebd., S. 53. Ebd., S. 51. Ebd., S. 53. Ebd., S. 92.

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buches, oder auch „Paranoikern kann man selbstverständlich Verbrechen nicht anrechnen“.29 Voigt als Schizophrener wäre also unzweifelhaft unzurechnungsfähig. Es ist jedoch nicht so, dass die Psychiater die Unzurechnungsfähigkeit Voigts von vorneherein ausschlössen. Vielmehr haben Sie schon eine solche Diagnose: nämlich – und damit erklärt sich Musils zweiter Rekurs auf Bleuler – die Epilepsie bzw. den sich an den epileptischen Anfall anschließenden „Dämmerzustand“.30 Hätte Voigt in diesem Zustand gemordet, dann wäre er, um noch einmal Bleuler zu zitieren, ebenfalls „ein schwer Geisteskranker“ und damit wiederum nicht schuldfähig.31 Diese epileptische Diagnose wägen die Psychiater mit einer zweiten ab, nämlich der, dass Voigt ein „von Hause aus degeneriertes, vorwiegend ethisch defektes Individuum mit einer besonderen Neigung zu Gewalttätigkeiten“ sei. Gemeint ist damit, dass er aus „sadistische[n] Impulse[n]“ heraus gehandelt habe.32 Wäre dem so, dann wäre die Tat ein klassischer „ ‚Lustmord‘ “ im Sinne von Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis. In diesem Falle handelte es sich um eine Steigerung des Sadismus bis zur „Tödtung des Opfers der Lüste“.33 Dies implizierte, dass keine „über den Rahmen der Degeneration hinausgehende psychische Anomalie“ vorläge34 und Voigt damit durchaus zurechnungsfähig wäre. Von den ersten Gutachten an sind die Psychiater damit beschäftigt, sich bei Voigt mit der genannten Alternative, also Epilepsie vs. Lustmord, herumzuschlagen. Der Grund liegt auf der Hand: Diese psychiatrische Dichotomie spiegelt die rechtliche von Zu- und Unzurechnungsfähigkeit vollständig wider und zwängt somit die medizinische Untersuchung in das gewünschte juristische Korsett. Die Schizophrenie, so muss es zumindest Musil als Prozessgutachter zweiter Ordnung scheinen, hat darin keinen Platz und wird dementsprechend mittels Simulationsunterstellung ausgegliedert. Wie im Roman kommt es auch im Fall Voigt zu einem Umschwung in der Frage der Zurechnungsfähigkeit. Während der Gutachter Binswanger im ersten Frauenmord-Prozess noch für Epilepsie und damit für Unzurechnungsfähigkeit plädiert und die Gutachter im zweiten Frauenmord nicht einheitlich votieren, entscheidet sich die Medizinische Fakultät im zweiten 29 30 31 32 33

34

Bleuler, Lehrbuch, S. 506. Türkel, „Der Lustmörder“, S. 95. Bleuler, Lehrbuch, S. 504. Türkel, „Der Lustmörder“, S. 96. Krafft-Ebing, Richard von, Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung […], Stuttgart 121903 (Ausgabe letzter Hand), S. 44. Türkel, „Der Lustmörder“, S. 97.

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Frauenmord-Prozess schließlich für „Lustmord[]“35 und damit für Zurechnungsfähigkeit. Kurze Schwierigkeit bereitet den Wiener Ordinarien die Tatsache, dass Moosbrugger weder sein erstes noch sein zweites Opfer sexuell missbraucht hat. Man erklärt sich dies jedoch durch die (ebenfalls auf Krafft-Ebing zurückgehende)36 Theorie, dass beim „Sadisten […] die Vollführung der Grausamkeiten an sich den Geschlechtsakt ganz ersetzt“ oder zumindest ersetzen kann.37 Obwohl Moosbrugger seinen Gutachtern in vielen Punkten entgegenkommt, so wehrt er sich doch entschieden dagegen, als ein „Lustmörder“ (MoE 71) abqualifiziert zu werden. Er betont, dass ein Lustmörder ohne Lust eine in sich widersprüchliche Konstruktion sei, und weist darauf hin, „daß er kein Lustmörder sein könne, weil ihn immer nur Gefühle der Abneigung gegen diese Frauenspersonen beseelt hätten“ (MoE 71). Sein Anwalt bringt dieses Argument auf den Punkt: „Von Lust konnte überhaupt nicht gesprochen werden, sondern nur von Ekel und Verachtung“ (MoE 75). Da der Erzähler diesen Ausführungen außergewöhnlich viel Raum zumisst, liegt der Verdacht nahe, dass auch er den Frauenmord Moosbruggers ganz anders beurteilt als die herangezogenen Psychiater den Fall Voigt: Auch für ihn handelt es sich keinesfalls um einen Lustmord und mithin bei Moosbrugger um keinen zurechnungsfähigen Täter. Gleichzeitig kann er sich jedoch nicht einfach für Epilepsie (und damit für Unzurechnungsfähigkeit) aussprechen. Damit würde er seinerseits – nur von der anderen Seite aus gesehen – die Dichotomie von Zu- und Unzurechnungsfähigkeit bedienen, die er zuvor selbst als überholt gekennzeichnet hatte. Wenn sich der Erzähler also aus Gründen, die noch zu erörtern sind, im Kapitel 59 für Epilepsie als Diagnose Moosbruggers entscheidet, dann nicht, ohne zugleich auch für Schizophrenie zu votieren. Denn diese dritte Krankheitshypothese war, wie oben ausgeführt, von den Medizinern und Juristen qua Simulationsargument ausgeschlossen worden, weil sie nicht in die Dichotomie von Zu- und Unzurechnungsfähigkeit passte. Dieses Ordnungsmuster wird mit der im Mann ohne Eigenschaften vorgenommenen zwiefachen Krankheitszuschreibung endgültig gesprengt. Es gibt jedoch noch einen zweiten, eher inhaltlichen, Grund, Moosbrugger epileptische und schizophrene Elemente zuzuordnen: Beide Krankheiten 35 36

37

Ebd., S. 79. Krafft-Ebing, Psychopathia, S. 44, entwickelt die Theorie von der sadistischen Handlung als vollständigem „Aequivalent des Coitus“. Türkel, „Der Lustmörder“, S. 80.

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bergen für den Erzähler gleichermaßen das Potenzial, auch auf sprachlicher Ebene – genauer gesagt: auf der sprachlichen Ebene Moosbruggers – über die Logik des ausgeschlossenen Dritten hinauszukommen. Bei Moosbruggers oben ausgeführter epileptischer oder metonymischer Unschärfe in der Benennung von Gegenständen liegt dies auf der Hand: Für Musils Sexualstraftäter gilt eben gerade nicht, dass ein klar gezeichnetes Tierbild entweder auf ein Eichhörnchen oder ein anderes Tier referieren muss. In seiner Welt ist durchaus ein Drittes möglich: ein Begriff, der anscheinend Eichhörnchen, Katzen und weitere Tiere in sich fasst. Dies gilt a fortiori für die schizophrenen Halluzinationen: Man muss sich vergegenwärtigen, dass das Kapitel 59 Moosbruggers Schizophrenie aus dessen eigener Perspektive beschreibt, die im Übrigen nicht nur die eines Kranken ist. Zu berücksichtigen ist dabei, dass sich Moosbruggers Vorbild Voigt ab dem Herbst 1902 (also nach dem ersten Frauenmord) in „Autodaxie“ gebildet hat: Durch den Zugang zu der „Privatbibliothek“ eines Anstaltsleiters kennt er verschiedene „Auszüge“ aus psychiatrischen Texten.38 Und das scheint für Moosbrugger genauso zu gelten, z. B. wenn er sich mit der ihm gestellten Diagnose des „Halluzinieren[s]“ vollkommen „einverstanden“ erklärt und auch ansonsten die psychiatrische Klaviatur meisterhaft zu bedienen weiß: „Und wenn ihm der Aufenthalt in den Irrenanstalten zu unangenehm wurde, so behauptete er ohne weiteres, daß er nur schwindle“ (MoE 239). Musil nimmt also ebenfalls die Simulationsthese aus den Gutachten auf, aber auf vollkommen andere Weise als die Fakultätsgutachter: Für ihn ist die Simulation kein billiger Trick, sondern der Aufweis der – oben bereits ausgeführten – intellektuellen Überlegenheit Moosbruggers über seine Gutachter. Bei genauerem Hinsehen stellen die Simulationsselbstbezichtigungen Moosbruggers – im letzten Zitat besonders deutlich („daß er nur schwindle“) – einen Rekurs auf das Lügner-Paradoxon dar.39 Wenn der ihm vom Erzähler unterstellte Satz ‚Ich schwindle‘ wahr ist, dann muss er auch auf sich selbst angewendet werden können – und damit muss der Satz ‚Ich schwindle‘ selbst als geschwindelt gelten. Wenn er aber falsch ist, dann bedeutet das, dass Moosbrugger nicht schwindelt – und das wiederum steht in Widerspruch zur Ausgangsbehauptung.

38 39

Türkel, „Der Lustmörder“, S. 64. Vgl. hierzu Sainsbury, Richard M., Paradoxes, Cambridge 1988, S. 109–140. Zu den antiken Quellen vgl. Rüdiger, Horst, Sokrates ist nicht Sokrates. Der Kampf mit dem gesunden Menschenverstand, Zürich, München 1975, S. 57–63.

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In gewissem Sinne ist in dieses Lügner-Paradoxon ein zweites eingeschachtelt. Denn das ‚Schwindeln‘ oder ‚Simulieren‘ bezieht sich ja auf die schizophrenen Halluzinationen. Und auch für diese lässt sich, sozusagen in der pathologischen Variante, ein Lügner konstruieren oder zumindest nicht ausschließen: Denn wenn Moosbruggers Satz ‚Ich habe Halluzinationen‘ wahr ist, dann ist es durchaus nahe liegend, dass er auch jetzt gerade halluzinierend über sich spricht, was zum Selbstwiderspruch führte. Wenn der Satz aber falsch ist, dann vielleicht ja nur deswegen, weil ihn ein Halluzinierender ausgesprochen hat – und das würde ihn wieder wahr machen. Um beide Paradoxa zusammenzunehmen: Es ist nicht auszuschließen, dass ein Mensch, der sich der Simulation schizophrener Halluzinationen bezichtigt, gerade mit dieser Aussage seiner größten schizophrenen Halluzination Ausdruck verleiht. Schließlich sind Halluzinationen nichts anderes als psychische Simulationen von Stimmen oder Gesichtseindrücken. Die in sich gedoppelte paradoxale Anlage von Moosbruggers Sprechsituation wird, um zu einem Resümee zu kommen, deswegen möglich, weil Musil, trotz der sonstigen Faktentreue, drei Dinge gegenüber den Gutachten verändert: Erstens wird die Schizophrenie- bzw. Halluzinationszuschreibung für Moosbrugger aus der Peripherie ins Zentrum, zweitens aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt (Moosbrugger ist zum Jetztzeitpunkt des Romans und nicht nur vor dem ersten Frauenmord schizophren), drittens wird das Augenmerk des Lesers darauf gelenkt, dass es Moosbrugger selbst ist, der die Simulations- und Halluzinationstheorie ausspricht. Nur durch diese drei Veränderungen werden Moosbruggers Aussagen paradox und oszillieren zwischen wahr und falsch, zwischen krank und gesund, zwischen zu- und unzurechnungsfähig. – Eine Logik, die vom Erzähler als komplexer und angemessener gekennzeichnet wird als das „Tertium non datur“ der Mediziner und Juristen.

III.

Moosbrugger und Ulrich

Welchen Zweck, so möchte ich abschließend fragen, verfolgt Musil mit Blick auf das Romanganze, wenn er mit seiner Figur Moosbrugger den Fall Voigt von seinem blinden Fleck, nämlich der Epilepsie und vor allem von der Schizophrenie, umschreibt und dabei eine Logik jenseits des Tertium non datur aufscheinen lässt? Die Antwort ist eine doppelte: Erstens erweist sich Moosbruggers epileptische und schizophrene Sprachverwirrung in Verbindung mit der Simulationsbehauptung als eine Mystik-affine Krankheit. Zweitens erklärt diese Krankheit, warum Moosbrugger (von den ersten Entwürfen im

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Spion-Projekt an; dort sogar noch viel stärker)40 als Doppelgänger Ulrichs figurieren kann – und damit als Mystiker im Gewande der äußersten körperlichen Gewalt.41 Ich beginne mit dem ersten Punkt. Aus einer mystischen Perspektive – genauer gesagt: aus der um 1900 topischen Perspektive einer ‚Mystik der Nerven‘42 – ist festzuhalten, dass Moosbrugger durch seine epileptisch-unscharfe und halluzinationsbasierte Sprache nicht von jeder Erkenntnis ferngehalten wird, sondern nur von einer rationalen, mit Ulrich müsste man sagen: von einer ratioiden.43 Aus eben dieser mystischen Perspektive ist dies jedoch alles andere als ein Nachtteil: Mit Ps.-Dionysius-Areopagita – zitiert nach Martin Bubers Ekstatischen Konfessionen – gilt bekanntlich: Mir scheint […]: dass die Ursache aller Dinge […] weder Rede noch Denken besitzt, da sie über alles Seiende überwesentlich hinausliegt und allein denen unverhüllt und wahrhaft erscheint, die über alle Schuld und Unschuld hinausschreiten, […] wo, wie die Schrift sagt, der wahrhaftig ist, der jenseits von allem ist.44 40

41

42

43

44

Man denke z. B. an die frühe Notiz aus dem Spion-Projekt: „Da die Moos-br. geschichte nicht Anlaß genug bietet um alle Menschen aufmarschieren zu lassen, die ich anfangs brauche, eine zweite Geschichte parallel schalten“ (MoE 1948). Auch auf poetologischer Ebene gibt es also eine Parallelaktion; aus dem Kaiser ist jedoch ein Frauenmörder geworden. Vgl. zum engen Verhältnis Ulrich/Moosbrugger in den frühen Entwürfen des Spion-Projektes: Fanta, Walter, Die Entstehungsgeschichte des ‚Mann ohne Eigenschaften‘ von Robert Musil, Wien u. a. 2000, S. 141ff. Vgl. hierzu auch Ulrichs Ausführungen in Kapitel 116: „Die beiden Bäume des Lebens […]“: „ ‚[…] Die Schöpfung‘ dachte er ‚ist nicht einer Theorie zuliebe entstanden, sondern‘ und er wollte sagen aus Gewalt, doch da sprang ein anderes Wort ein, als er erwartet hatte, und sein Gedanke ging so zu Ende: ‚sondern sie entsteht aus Gewalt und Liebe, und die übliche Verbindung zwischen diesen beiden ist falsch!‘ “ (MoE 591). Aufbauend auf diesem Gedanken entwickelt Ulrich im Folgenden nicht nur das Konzept einer Liebes-, sondern auch einer Gewaltmystik. Vgl. zu diesem Begriff Bergengruen, Maximilian, Mystik der Nerven. Hugo von Hofmannsthals literarische Epistemologie des Nicht-mehr-Ich, Freiburg u. a. 2010. Musil führt diesen Begriff in der „Skizze der Erkenntnis des Dichters“ von 1918 aus: „Man kann sagen, das ratioïde Gebiet ist beherrscht vom Begriff des Festen und der nicht in Betracht kommenden Abweichung; vom Begriff des Festen als einer fictio cum fundamento in re. Zuunterst schwankt auch hier der Boden, die tiefsten Grundlagen der Mathematik sind logisch ungesichert, die Gesetze der Physik gelten nur angenähert […]. Aber man hofft – nicht ohne Grund – das alles noch in Ordnung zu bringen“ (Musil, Robert, Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, hrsg. von Adolf Frisé, Hamburg 1955, S. 782). Buber, Martin (Hrsg.), Ekstatische Konfessionen, Leipzig 1921, S. 189f.: „Aus den Dionysios dem Areopagiten zugeschriebenen Schriften“. Die Übersetzung ist sehr frei. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um die Stelle: Ps.-Dionysius Areopagita, Corpus dionysiacum, hg. von Günter Heil, Adolf Martin Ritter und Beate Regina Suchla, 2 Bde., Berlin u. a. 1990f., Bd. II, S. 142.

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Moosbrugger als jemand, der „ersichtlich krank“ ist (s. o.), geht also aus mystischer Perspektive einen Weg der Erkenntnis, der jenseits der „Rede“ und des „Denken[s]“ liegt, und kann so in Bereiche vorstoßen, die dem – aus mystischer Sicht eingeschränkten – Verstand nicht offenstehen. Dazu gehört auch Moosbruggers Ausbruch aus der Dichotomie von Zu- und Unzurechnungsfähigkeit und damit des Tertium non datur. Wenn man nämlich, wie der Erzähler und Ulrich oder, im historischen Diskurs, Fritz Mauthner, zeigen möchte, „wie wenig sich wirkliches Denken oder Sprechen um dieses logische Grundgesetz kümmere“,45 dann deswegen, weil erst hinter dichotomischen Ordnungen wie ‚Schuld‘/‚Unschuld‘ eine Erfahrung möglich ist, die „jenseits von allem“ liegt. Man denke in diesem Zusammenhang, um nur ein Beispiel zu nennen, an Moosbruggers mystisches Einheitserlebnis in seiner Zelle: „Der Tisch war Moosbrugger. / Der Stuhl war Moosbrugger. / Das vergitterte Fenster und die verschlossene Tür war er selbst“ (MoE 395). Auffallend ist nun – und das ist mein zweiter Punkt – das Interesse des Mystikers Ulrich am Mystiker Moosbrugger. Es ist sicher nicht übertrieben zu behaupten, dass Ulrichs bekannte Theorie, dass „die moralischen Werte nicht absolute Größen, sondern Funktionsbegriffe seien“ (MoE 748), am Beispiel Moosbruggers gebildet ist. Dementsprechend wären nicht nur die von Agathe genannten Einordnungen „gut oder bös“ zu funktionalisieren, sondern eben auch die Kategorien, die es in rechtlicher Hinsicht überhaupt erst möglich machen, von gut oder böse zu sprechen: also die Begriffe der Zu- und Unzurechnungsfähigkeit. Ulrichs Meinung zufolge ist die Moral lediglich die „Auskristallisation einer inneren Bewegung, die von ihr völlig verschieden ist“ (MoE 748). Will man nun dieser inneren Bewegung jenseits ihrer verhärteten Formen habhaft werden, muss man sich ihr so weit als möglich annähern.46 In Ulrichs Fall heißt das: in Moosbruggers Innenleben vollständig eintauchen. Dies geschieht z. B. in Kapitel 30, „Ulrich hört Stimmen“, ein Kapitel, in dem der Mann ohne Eigenschaften den Prozess vor seinem inneren Auge bzw. Ohr Revue passieren lässt und gerade dadurch, wie die Überschrift andeutet, an Moosbruggers schizophrenen Halluzinationen teilhat. Es handelt sich dabei um eben jene Schizophrenie, die, wie gezeigt, die Gutachten der Psychiater vom Kopf auf die Füße stellt. 45

46

Mauthner, Fritz, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3 Bde., Hildesheim 1969 (= ND der Ausgabe Leipzig 31923), Bd. III, S. 368. Vgl. hierzu auch Neymeyr, Barbara, Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘, Heidelberg 2005, S. 249f.

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Umgekehrt hat auch Moosbrugger an Ulrichs Einheitsfantasien Teil. Hier ist ebenfalls ein Zitat aus den ‚Heiligen Gesprächen‘ aufschlussreich, in diesem Falle das Gespräch von Agathe und Ulrich über die mystische Einheitserfahrung: „ ‚Und plötzlich zerreißt das Papier!‘ fiel Agathe ein“ (MoE 762) – und Ulrich antwortet: Ja. Das heißt: irgendeine gewohnheitsmäßige Verwebung in uns zerreißt. […] Ich möchte sagen: die Einzelheiten besitzen nicht mehr ihren Egoismus, durch den sie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sondern sie sind geschwisterlich und im wörtlichen Sinn ‚innig‘ untereinander verbunden. Und natürlich ist auch keine ‚Bildfläche‘ mehr da, sondern irgendwie geht alles grenzenlos in dich über. (MoE 762)

Auch bei Moosbrugger geht alles „grenzenlos“ in ihn „über“. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Zerreißen der Oberfläche bei ihm nicht lediglich einen Tabubruch (wie den Inzest der beiden Geschwister) beschreibt, sondern ein wortwörtliches Zerreißen des Frauenkörpers, der ihm gegenübersteht: „Das Leben bildet eine Oberfläche“, heißt es im Kapitel 59, „die so tut, als ob sie sein müßte, wie sie ist, aber unter ihrer Haut treiben und drängen die Dinge. Moosbrugger stand immer mit den Beinen auf zwei Schollen und hielt sie zusammen, vernünftig bemüht, alles zu vermeiden, was ihn verwirren konnte“ (MoE 241). Aber bisweilen scheint Moosbrugger die drängende Wahrheit im Untergrund und deren Ein- und Reinhaltung wichtiger als die der Oberfläche. „Gewöhnlich wendete er eben seine ganze Riesenkraft an, um die Welt zusammenzuhalten“ – aber manchmal, so der Erzähler, nimmt er mit einem „Messer“ (MoE 240f.) Teil an ihrer mystischen Zerstörung.

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Mauthner, Fritz, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3 Bde., Hildesheim 1969 (= ND der Ausgabe Leipzig 31923). Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften. Aus dem Nachlaß. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe, hrsg. von Adolf Frisé, 2 Bde., Hamburg 132006. Ps.-Dionysius Areopagita, Corpus dionysiacum, hrsg. von Günter Heil, Adolf Martin Ritter und Beate Regina Suchla, 2 Bde., Berlin u. a. 1990f. Türkel, Siegfried, „Der Lustmörder Christian Voigt. Ein kriminalistisch-psychiatrischer Beitrag zur Lehre vom Lustmorde“, in: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik, 55/1913, S. 47–97.

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Maximilian Bergengruen

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Anja Stukenbrock (Freiburg i. Br.)

Zur Beredsamkeit des Körpers Figurendarstellung und Figurenwissen als multimodale Alltagsinszenierung

I.

Einleitung

Die folgende Untersuchung ist als linguistischer Beitrag zu einer interdisziplinären Auseinandersetzung mit dem literaturtheoretischen Konzept des Figurenwissens zu begreifen, das in diesem Kontext nicht das Wissen über sprachliche Stilmittel wie Wort-, Satz-, Gedanken- oder Klangfiguren bezeichnet, sondern ein Wissen meint, das auf in literarischen Texten – insbesondere in der Epik und der Dramatik – auftretende Figuren im Sinne von fiktiven Personen bzw. Charakteren bezogen ist.1 Die Vorstellung von Figurenwissen als ein rezipientenseitig aufgebautes Wissen über literarische Figuren stellt jedoch nur eine Lesart des Begriffs des Figurenwissens dar. Sie rekurriert auf eine Deutung des Determinativkompositums, die eine genitivus objectivus-Relation zwischen dem Determinans {Figuren} und dem Determinatum {Wissen} herstellt. Ausgehend vom morphologischen Konstruktionsprinzip dieses Kompositums ist eine zweite Lesart möglich, die eine genitivus subjectivus-Relation zwischen den durch Determinans und Determinatum bezeichneten Begriffen annimmt. In diesem Fall handelt es sich um Figurenwissen im Sinne eines den Figuren selbst zuzuschreibenden Wissens, das im Hinblick auf seine Komplexität bzw. Fragmentarisierung, das Interagieren oder Konfligieren mit dem Wissen anderer Figuren und dem des Erzählers betrachtet werden kann. Zusammengefasst handelt es sich bei der zweiten Lesart um ein Wissen der Figuren, während es bei der ersten Lesart um ein den Rezipienten zuzuschreibendes Wissen über Figuren geht. Letzteres kann sowohl im Sinne 1

Laut Jannidis (Jannidis, Fotis, „ ‚Individuum est ineffabile‘. Veränderung der Individualitätssemantik im 18. Jahrhundert und ihre Auswirkung auf die Figurenkonzeption im Roman“, in: Aufklärung, 9/1996, 2, S. 77–110) handelt es sich beim Figurenwissen um das vom Leser im Leseprozess sukzessive aufgebaute Wissen über literarische Figuren, das durch explizite und implizite Kohärenzmuster hergestellt wird, die sowohl in der synchronen als auch in der diachronen Dimension eines literarischen Textes operieren.

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eines auf einem Einzeltext basierenden bzw. im Lektüreprozess selbst generierten Wissens als auch im Sinne eines globalen, auf Weltwissen basierenden schematischen oder stereotypen Figurenwissens (Figur des Helden, des Mörders, des Vicarios etc.) verstanden werden, das ebenfalls während der Lektüre aktiviert wird und mit dem konkreten, auf eine literarische Einzelgestalt bezogenen Figurenwissen in Wechselwirkung tritt. Von den beiden Lesarten, dem Wissen über Figuren und dem Wissen der Figuren, wird im Folgenden vor allem die erste Bedeutung analytisch relevant. Gegenstand meiner interaktionslinguistischen Analyse ist eine in der face-toface-Kommunikation erzählte Alltagsgeschichte, bei deren Vermittlung Erzähler und Rezipienten kopräsent sind und einen reziproken audio-visuellen Zugang zueinander haben. Der Beitrag verfolgt ein Verständnis von Figurenwissen als jeweils im Bewusstsein des Erzählers und seiner Rezipienten situiertes, also zunächst intrasubjektiv zu begreifendes Phänomen, das analytisch dadurch zugänglich wird, dass es von den Beteiligten in der Interaktion relevant gesetzt wird. Theoretische Grundlage für diese Auffassung bildet ein ethnomethodologischer Wissensbegriff, der es ermöglicht, Figurenwissen als ein auf Ethnokategorien, das heißt auf den Alltagskategorien der Teilnehmer beruhendes, in der Interaktion abrufbares, aushandelbares, kontextualisierbares Wissen über Figuren zu konzeptualisieren. Dieses ist auf unterschiedliche epistemische Domänen bzw. auf unterschiedliche soziale Räume bezogen und wird in seiner narrativen Vorgängigkeit vom Erzähler und von seinen Rezipienten in mehr oder minder starkem Grad geteilt. Als vorgängiger common ground interagiert es mit dem im Narrationsprozess selbst sukzessiv hergestellten Wissen, dessen kontextuelle Ressource es darstellt. Die analytische Aufgabe besteht mithin darin, aus der Beteiligtenperspektive zu rekonstruieren, wie in der face-to-face-Interaktion im Rekurs auf soziale Kategorien bzw. Stereotype2 ein Wissen über Figuren narrativ gestaltet wird. Anders als literarische Texte werden mündliche Erzählungen nicht in der zerdehnten Zeit produziert und rezipiert. Die Tatsache, dass Produktionsund Rezeptionszeit in der Regel zusammenfallen, ermöglicht ein methodisch anders zu modellierendes Verhältnis zwischen dem Erzähler und den Adressaten einer Erzählung, den von ihnen in den Verstehensprozess einge2

Der Begriff des Stereotyps hat sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in der Linguistik eine lange Tradition, die an dieser Stelle nicht im Detail erörtert werden kann. Vgl. dazu ausführlich Konerding, Klaus-Peter, „Sprache im Alltag und kognitive Linguistik: Stereotype und schematisiertes Wissen“, in: Andrea Lehr/Matthias Kammerer/Klaus-Peter Konerding/Angelika Storrer/Caja Thimm/Werner Wolski (Hrsg.), Sprache im Alltag. Beiträge zu neuen Perspektiven in der Linguistik, Berlin, New York 2001, S. 151–172.

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brachten Ressourcen einerseits und dem Verhältnis zwischen dem Untersuchungsgegenstand (narrative-in-interaction3) und dem zu Untersuchenden andererseits. So lassen sich zum einen die Rückkoppelungsprozesse zwischen dem Figurenwissen des Erzählers und dem von den Rezipienten sukzessiv aufgebauten Figurenwissen im narrativen Gestaltungs- und Vermittlungsprozess online4 verfolgen. Zum anderen entsteht Intersubjektivität nicht nur für die Beteiligten, sondern auch für den vollzugsrekonstruktiv arbeitenden Interaktionsanalytiker dadurch, dass „sich die emergente soziale Situation reflexiv selbst strukturiert und somit erklärt“.5 Aufgrund der reflexiven Strukturiertheit von Interaktionen und der beobachtbaren displays,6 mit denen Interagierende sich fortlaufend über ihr Tun verständigen, kann mit der Methode der Sequenzanalyse bzw. genauer mit dem konversationsanalytischen Verfahren der next turn proof procedure7 empirisch nachvollzogen werden, wie in jedem Augenblick des Verstehensprozesses das Verstehende als zu Verstehendes und das Verstandene als Verstandenes kollaborativ hergestellt, bearbeitet, ratifiziert und gegebenenfalls repariert,8 mit anderen Worten also fortlaufend interaktiv produziert wird. Das methodische Privileg linguistischer Analysen von in der face-to-faceKommunikation konstruierten Erzählungen liegt folglich darin, dass der Zugang zu den Momenten des Verstehensprozesses nicht durch Introspektion erlangt wird, sondern im Interaktionsverlauf anhand der displays der Beteiligten empirisch beobachtbar ist. Diese displays machen analytisch zugänglich, was dem Literaturwissenschaftler u. a. medial bedingt mehr Kopfzerbrechen macht: die Zusammenführung produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektiven im interaktiven Vollzug zwischen den Beteiligten. Für eine solche interaktive, emergenzbezogene Perspektive ist die Modellierung des Rezipienten als eines aktiven, verbal und/oder nonverbal respondierenden Teil3

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Bamberg, Michael, „Narrative Discourse and Identities“, in: Jan Christoph Meister (Hrsg.), Narratology beyond Literary Criticism, Berlin, New York 2004, S. 213–237. Auer, Peter, „Online-Syntax – oder: was es bedeuten könnte, die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen“, in: Sprache und Literatur, 85/2000, S. 177–188. Auer, Peter, Sprachliche Interaktion. Eine Einführung anhand von 22 Klassikern, Tübingen 1999, S. 138. Schegloff, Emanuel/Sacks, Harvey, „Opening up closings“, in: Semiotica, 8/1973, S. 289–327, hier S. 290. Hutchby, Ian/Wooffitt, Robin, Conversation Analysis. Principles, Practices and Applications, Cambridge 2005, S. 15. Vgl. zum konversationsanalytischen Begriff der Reparatur Schegloff, Emanuel A./Jefferson, Gail/Sacks, Harvey, „The Preference for Self-Correction in the Organization of Repair in Conversation“, in: Language, 53/1977, 2, S. 361–382.

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nehmers, wie dies in Bakhtins Begriff der utterance9 sowie in Goffmans Konzept des participation framework10 angelegt ist, von entscheidender Bedeutung. Zu den interaktiven Praxen narrativer Figurendarstellung gehört in der face-to-face-Kommunikation nicht nur die Verwendung linguistischer Ausdrucksmittel (Eigennamen, Nomen, Pronomen, sozial typisierende Ausdrücke bzw. so genannte membership categorization devices11), sondern ganz entscheidend auch der Einsatz körperlich-visueller Verfahren. Diese bislang weitgehend vernachlässigten multimodalen Ausdrucksressourcen bilden den analytischen Fokus meines Beitrags. Ziel ist es, anhand eines speziellen kommunikativen Genres,12 der informellen Alltagserzählung oder so genannten small story,13 darzustellen, wie der Sprecher ein vergangenes Erlebnis narrativ rekonstruiert und dabei einerseits die Äußerungen einer erzählten Figur animiert und andererseits deren körperliche Verhaltensweisen als ‚kleines Drama‘ reinszeniert. In der Reinszenierung wird nicht nur mittels Redewiedergabe ein polyphoner Text erzeugt, in dem sich die Stimme des Erzählers und die der animierten Figur überlagern, sondern über das Verbale hinaus werden an markanten Punkten der Erzählung körperlich-gestische Performanzverfahren zur Figurenstilisierung eingesetzt.

II.

Theoretische und methodische Konzepte

Die vorliegende Untersuchung ist an der Schnittstelle unterschiedlicher theoretischer und methodischer Paradigmen angesiedelt, die im Folgenden erläutert und gegenstandsadäquat zusammengeführt werden sollen. Es han9

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Bakhtin, Michael, „The Problem of Speech Genres“, in: Caryl Emerson/Michael Holquist (Hrsg.), Speech Genres and Other Late Essays. M. M. Bakhtin, Austin 1986, S. 60–102, hier S. 71; vgl. zu Bakhtin Abschnitt II.1 der vorliegenden Untersuchung. Goffman, Erving, Forms of talk, Philadelphia 1981, S. 124ff.; vgl. zu Goffman Abschnitt II.2 der vorliegenden Untersuchung. Sacks, Harvey, „On the Analyzability of Stories by Children“, in: John J. Gumperz/Dell Hymes (Hrsg.), Directions in Sociolinguistics. The Ethnography of Communication, New York 1972, S. 325–345. Vgl. dazu Bakhtin, „Speech Genres“; Luckmann, Thomas, „Ende der Literatur? Kommunikative Gattungen im kommunikativen ‚Haushalt‘ einer Gesellschaft“, in: Gisela Smolka-Koerdt/Peter M. Spangenberg/Dagmar Tillmann-Bartylla (Hrsg.), Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650, München 1988, S. 279–288; eine ausführlichere Darstellung erfolgt in Abschnitt II.1. Bamberg, „Narrative Discourse and Identities“, S. 214.

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delt sich um Bakhtins Konzept der speech genres, Goffmans footing-Begriff, das Forschungsparadigma der Multimodalität und die in der soziologischen, psychologischen und linguistischen Erzählforschung prominente Positionierungstheorie. II.1.

Speech Genres und kommunikative Gattungen

Das Konzept der speech genres geht auf Bakhtin zurück und ist zusammen mit den Konzepten der Polyphonie und der Intertextualität sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Linguistik rezipiert und ausgebaut worden. In der deutschsprachigen Linguistik führt die Rezeptionslinie der speech genres über Thomas Luckmanns Konzept der kommunikativen Gattungen weiter zu empirischen Untersuchungen von Jörg Bergmann und Susanne Günthner.14 Bakhtins Definition der speech genres ist untrennbar mit seiner Kritik am Satzbegriff und dessen Ersetzung durch den Begriff der Äußerung („utterance“) verbunden: „Each separate utterance is individual, of course, but each sphere in which language is used develops its own relative stable types of these utterances. These we may call speech genres.“15 Speech genres stellen demnach relativ stabile Äußerungstypen dar. Äußerungen kommen unumgänglich und ausschließlich in Gattungen16 vor. Diese sind als Sedimentie14

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Luckmann, Thomas, „Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattungen“, in: Friedhelm Neidhardt/M. Rainer Lepsius/ Johannes Weiß (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft, Sonderheft 27/1986 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1986, S. 191–211; Ders., „Ende der Literatur? Kommunikative Gattungen im kommunikativen ‚Haushalt‘ einer Gesellschaft“, in: Smolka-Koerdt/Spangenberg/Tillmann-Bartylla (Hrsg.), Der Ursprung von Literatur, S. 279–288; Ders., „Der kommunikative Aufbau der sozialen Welt und die Sozialwissenschaften“, in: Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch, 11/1995, I–II, S. 45–71; Keppler, Angela/Luckmann, Thomas, „ ‚Teaching‘. Conversational Transmission of Knowlegde“, in: Ivana Marková/Klaus Foppa (Hrsg.), Asymmetries in Dialogue, Hertfordshire 1991, S. 143–165; Dies., „Lebensweisheiten im Gespräch“, in: Hilarion G. Petzhold/Rolf Kühn (Hrsg.), Psychotherapie und Philosophie – Philosophie als Psychotherapie? Paderborn 1992, S. 201–222; Bergmann, Jörg, Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion, Berlin, New York 1987; zusammenfassend auch Auer, Sprachliche Interaktion, sowie Günthner, Susanne/Knoblauch, Hubert, „ ‚Forms are the Food of Faith‘ – Gattungen als Muster kommunikativen Handelns“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46/1994, 4, S. 693–723. Bakhtin, „Speech Genres“, S. 60. Auer, Sprachliche Interaktion, S. 226, weist auf die Exhaustivität und größere Extension des Bakhtin’schen Gattungsbegriffs im Unterschied zu Luckmann hin.

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rungen der kommunikativen Praxen sozialer Gemeinschaften (communities of practice) aufzufassen und stellen als soziale Sprachprodukte das Bindeglied zwischen der Mikroeinheit der individuellen Einzeläußerung und der Makroeinheit der gesellschaftlichen Struktur dar. Bakhtins Überlegungen zum Begriff der Äußerung als realer Grundeinheit der Kommunikation („real unit of speech communication“)17 im Gegensatz zum abstrakten, systemlinguistisch verankerten Satzbegriff („sentence“) spielen eine zentrale Rolle für linguistische Theorien, die gesprochene Sprache als situativ emergierenden talk-in-interaction betrachten. Die Ablösung systemlinguistischer Grammatiktheorien durch eine auf die kommunikative Praxis bezogene Perspektive hat weitreichende Folgen für die linguistische Theoriebildung und Methodik, denn mit diesem Perspektivwechsel verändern sich auf grundlegende Weise auch die linguistischen Gegenstände selbst.18 Dies betrifft die Frage nach den Einheiten der linguistischen Analyse, nach ihrer Größe, ihrer Begrenztheit, ihrer kontextuellen Einbettung, ihren Funktionen und Eigenschaften. So sprengt Bakhtins Postulat der variablen Länge einer Äußerung, die nicht grammatisch, sondern interaktional durch den Sprecherwechsel19 begrenzt wird, den Satz als Bezugsgröße sowohl nach innen als auch nach außen. Relevante Konstitutionseinheiten können kleinere (z. B. Einzelwörter wie Grußformen etc.) oder größere Sprachprodukte (ein ganzer turn/Redezug) sein. Entscheidend ist die innere, semantisch-pragmatische Abgeschlossenheit20 des Geäußerten, die die Voraussetzung bildet für eine weitere Eigenschaft von Äußerungen: der Responsivität21 als Möglichkeit, auf die abgeschlossene Äußerung eines Sprechers etwas erwidern zu können. Darüber hinaus sind sprachliche Äußerungen durch Adressiertheit oder Adressivität, die in der Konversationsanalyse als recipient design konzeptuali-

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Bakhtin, „Speech Genres“, S. 71. Vgl. dazu ausführlich Hanks, William F., Language and Communicative Practices, Boulder 1996. Bakhtin, „Speech Genres“, S. 71: „boundaries determined by a change of speaking subjects“. Das Konzept des Sprecherwechsels ist von der Konversationsanalyse als so genanntes turn taking-System zum theoretisch-methodischen Schlüsselkonzept ausgearbeitet worden. Vgl. dazu die berühmte Systematik von Sacks, Harvey/Schegloff, Emanuel A./Jefferson, Gail, „A Simplest Systematics for the Organization of Turn-Taking for Conversation“, in: Language, 50/1974, 4, S. 696–735. Bakhtin, „Speech Genres“, S. 76: „finalization [as] the inner side of the change of speaking subjects“. Ebd., S. 76: „the possibility of responding to it“.

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siert wird, und durch Expressivität im Sinne der subjektiven Einstellung des Sprechers zu seinem Äußerungsgegenstand gekennzeichnet, die Bakhtin vor allem auf der Ebene der Intonation ansiedelt. Zuletzt schließlich steht jede Äußerung in Beziehung zu einer komplex organisierten Kette anderer Äußerungen,22 wobei sich diese Intertextualität auf unterschiedlichen Ebenen manifestiert: auf der sehr allgemeinen Ebene des Diskurses, auf der Gattungsebene, insofern bestimmte Äußerungen nur in ganz bestimmten Gattungen vorkommen können und sich damit auf andere Äußerungen derselben Gattung beziehen, sowie auf der Ebene unmittelbar vorausgehender und erwarteter nachfolgender Äußerungen, das heißt auf der Ebene der doppelten – retrospektiven und prospektiven – Gerichtetheit, die die Äußerung selbst strukturiert. Explizite intertextuelle Bezugnahmen auf vorherige Äußerungen liegen z. B. bei der indirekten Rede sowie bei der Redewiedergabe vor. In der Redewiedergabe manifestiert sich die Polyphonie (layering of voices23) darin, dass die Stimme des Autors bzw. Erzählers mit der Stimme der animierten Sprecherfigur interagiert, so dass durch die Stimme der Figur die sich damit überlagernde, evaluierende, stilisierende, parodierende Stimme des Autors bzw. Erzählers mitgehört werden kann. Dieser vor allem prosodisch zu untersuchende Aspekt wird zusammen mit den vom Erzähler eingesetzten körperlich-visuellen Mitteln der Figurenanimation eine Schlüsselrolle für die im dritten Abschnitt durchgeführte narrative Analyse spielen. II.2.

Footing

Von Bahktins Überlegungen zur Polyphonie der Alltagssprache lässt sich die theoretische Linie weiterziehen zu dem Soziologen Erving Goffman und dessen footing-Konzept. Unter footing („Gangart“) versteht Goffman etwas opak die Ausrichtung, Einstellung oder Haltung eines Sprechers zu seiner 22

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Ebd., S. 69: „Any utterance is a link in a very complexly organized chain of other utterances.“ Vgl. dazu die einschlägigen Untersuchungen von Susanne Günthner: „Stimmenvielfalt im Diskurs: Formen der Stilisierung und Ästhetisierung in der Redewiedergabe“, in: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 3/2002, S. 59–80; Dies., „The construction of otherness in reported dialogues as resource for identity work“, in: Peter Auer (Hrsg.): Style and social identities. Alternative approaches to linguistic heterogeneity, Berlin, New York 2007, S. 419–443; Dies., „Ansätze zu einer Erforschung der ‚kommunikativen Praxis‘: Redewiedergabe in der Alltagskommunikation“, in: Vilmos Ágel/Mathilde Hennig (Hrsg.), Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache, Tübingen 2007, S. 73–98.

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Äußerung,24 die sich im Gesprächsverlauf ständig verändert. Durch den Wechsel in der „Gangart“ bzw. in der Kontextualisierung der Interaktion kann eine Äußerung z. B. ironisiert, mit fremder Autorität unterfüttert, kollektiviert oder als die eines anderen markiert werden. Paradebeispiel für ein solches change of footing stellt die Redewiedergabe oder animierte Rede dar, die in kommunikativen Alltagsgenres wie den so genannten small stories, Beschwerde-Erzählungen,25 Klatsch26 etc. ein häufig eingesetztes Stilmittel bildet. Goffmans footing-Konzept ist daher insbesondere für linguistische Untersuchungen zu kommunikativen Gattungen von großem Nutzen, in denen die Redewiedergabe und damit wechselnde Produktionsformate eine konstitutive Funktion besitzen. Für die vorliegende Untersuchung liegt die Relevanz dieses Konzepts darin, dass die Goffman’sche Ausdifferenzierung der sich ständig verändernden Sprecher- und Hörerrollen es ermöglicht, bestimmte Augenblicke im narrativen Geschehen interaktionslinguistisch im Hinblick auf ihr footing zu analysieren. Um den footing-Mechanismus offenzulegen, dekonstruiert Goffman die monolithischen Konzepte von Sprecher und Hörer, wie sie im klassischen kybernetischen Kommunikationsmodell konzipiert sind, in verschiedene Rollen, die er jedoch nicht als soziale Rollen, sondern als funktionale Knoten im Kommunikationssystem („functional nodes in a communication system“) begreift.27 Folgende drei Sprecherollen werden differenziert: erstens die talking machine bzw. sounding box, zweitens der author und drittens der principal.28 Die drei Sprecherrollen koinzidieren nicht immer miteinander. So kann ein Sprecher lediglich als talking machine oder sounding box des Gesagten fungieren: Er tritt zwar als Animator des Gesprochenen auf, bewegt seine Lippen und produziert Sprachlaute, ist jedoch nicht selbst Urheber der entsprechenden Worte.29 Dies gilt z. B. für einen Nachrichtensprecher, der 24

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Goffman, Forms of talk, S. 128: „alignment, or set, or stance, or posture, or projected self“. Vgl. zur Ambiguität des Konzepts auch Levinson, Stephen C., „Putting Linguistics on a Proper Footing: Explorations in Goffman’s Concepts of Participation“, in: Paul Drew/Anthony Wootton (Hrsg.), Erving Goffman. Exploring the Interaction Order, Cambridge 1988. Günthner, Susanne, „Beschwerdeerzählungen als narrative Hyperbeln“, in: Jörg R. Bergmann/Thomas Luckmann (Hrsg.): Kommunikative Konstruktion von Moral, Opladen 1999, S. 174–205. Bergmann, Klatsch. Goffman, Forms of talk, S. 144. Ebd., S. 144f. Ebd., S. 144: „In short, he is the talking machine, a body engaged in acoustic activity, or, if you will, an individual active in the role of utterance production. He is functioning as ‚animator‘.“

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einen fremden Text möglichst neutral vorliest und allein die artikulatorische Verantwortung für das Gesagte trägt.30 Davon ist zweitens die Rolle des Sprechers als author (Autor) zu unterscheiden, dessen Funktion sich dadurch auszeichnet, dass er die Worte und die darin zum Ausdruck gebrachten Gefühle, Einstellungen, Gedanken und Bewertungen selbst wählt und dafür die linguistische Verantwortung übernimmt.31 Als Drittes schließlich postuliert Goffman die funktionale Rolle des principal im Sinne eines Auftraggebers des Gesprochenen, der für das Gesagte und die dadurch vollbrachte Handlung die soziale, moralische und ggf. juristische Verantwortung trägt.32 Aus der Dekonstruktion des Sprecherkonzepts folgt, dass alle drei funktionalen Rollen zwar in einer Person zusammenfallen, aber ebenso gut auch auf zwei oder drei verschiedene Personen bzw. Institutionen (im Fall der Rolle des principals) distribuiert sein können. Es ergeben sich mithin verschiedene Kombinationen der von Goffman ausdifferenzierten funktionalen Rollen, die auf komplizierte Weise ineinander verschachtelt sein können und in ihren jeweiligen Konfigurationen das so genannte production format (Produktionsformat) einer Äußerung konstituieren.33 Meines Erachtens lassen sich Goffmans Überlegungen zum linguistischen production format einer Äußerung auch auf visuell wahrnehmbare Kontextualisierungshinweise und gestalthafte Verkörperungen (embodiments) übertragen. Im Unterschied zu bisherigen Untersuchungen gehe ich für die Zwecke meiner Analyse daher davon aus, dass ein Sprecher erstens als gesturing machine, das heißt als Animateur von Gestik und Mimik, zweitens als author und drittens schließlich als principal situativ aufgeführter, in Szene gesetzter, auf die Bühne gebrachter körperlicher Displays fungieren kann. In der face-to-face-Kommunikation wird das Produktionsformat als Ganzes folglich nicht allein durch verbale und vokale Mittel konstituiert, sondern stellt sich als Resultat eines multimodalen Zusammenspiels unterschiedlicher Ausdrucksressourcen dar, die es systematisch im Hinblick auf ihre jeweilige Funktion bei der Konstituierung, Auflösung, Rekonstituierung und Trans30 31

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Vgl. Auer, Sprachliche Interaktion, S. 161. Goffman, Forms of talk, S. 144: „[…] here is an ‚author‘ of the words that are heard, that is, someone who has selected the sentiments that are being expressed and the words in which they are encoded.“ Ebd., S. 144: „a ‚principal‘ (in the legalistic sense) is involved, that is, someone whose position is established by the words that are spoken, someone whose beliefs have been told, someone who is committed to what the words say.“ Ebd., S. 145: „The notions of animator, author, and principal, taken together, can be said to tell us about the ‚production format‘ of an utterance.“

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formation bestimmter Produktionsformate zu untersuchen gilt. Den methodischen Rahmen dazu bildet das Forschungsparadigma der Multimodalität, das im Folgenden kurz skizziert werden soll. II.3.

Multimodalität

Mit dem Konzept der Multimodalität wird derzeit im Kontext der Interaktionalen Linguistik ein Forschungsparadigma begründet, das neben dem Verbalen den nonverbalen oder visuellen Ausdrucksressourcen (Blickausrichtung, Mimik, Gestik, Körperorientierung, Proxemik etc.) einen theoretisch gleichrangigen Stellenwert in der face-to-face-Kommunikation zuerkennt.34 Das Sprachkonzept der Interaktionalen Linguistik unterscheidet sich von Sprachkonzepten anderer linguistischer Schulen dadurch, dass Sprache und Handeln als untrennbar verbunden gelten. Konstitution und Interpretation von Handlungen sind das Resultat der Art und Weise, wie bestimmte linguistische Verfahren in bestimmten sequentiellen Kontexten gebraucht werden. Die Interaktionale Linguistik35 geht davon aus, dass Sprachstrukturen keine individuellen, sondern interaktionale Produkte darstellen und daher als flexibel und anpassungsfähig zu betrachten sind. Sie sind auf die Organisation der Interaktion zugeschnitten und können nicht ohne Bezug auf ihren sequentiellen Gebrauchskontext beschrieben werden. Sprachstrukturen werden demnach als interaktive Ressourcen ihrer Benutzer konzeptualisiert und auf unterschiedlichen Ebenen (Phonetik/Phonologie, Prosodie, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik) als Produkte der sozialen Interaktion untersucht. Dabei nimmt die Interaktionale Linguistik einen wechselseitigen Konstitutionszusammenhang zwischen Sprachstrukturen und sequentiellem Interaktionskontext an: Sprachstrukturen werden von der Interaktions-

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Vgl. z. B. Schmitt, Reinhold, „Bericht über das 1. Arbeitstreffen zu Fragen der ‚Multimodalität‘ am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim“, in: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 5/2004, S. 1–5; Ders., „Zur multimodalen Struktur von turn-taking“, in: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 6/2005, S. 17–61; Deppermann, Arnulf/Schmitt, Reinhold, „Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes“, in: Reinhold Schmitt (Hrsg.), Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion, Tübingen 2007, S. 15–54; Stivers, Tanya/Sidnell, Jack, „Introduction: Multimodal interaction“, in: Semiotica, 156/2005, 4, S. 1–20. Die Darstellung ist eine Kurzusammenfassung des von Selting, Margret/CouperKuhlen, Elizabeth, „Argumente für die Entwicklung einer ‚interaktionalen Linguistik‘ “, in: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 1/2000, S. 76–95, ausführlich dargelegten Forschungsprogramms.

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struktur geprägt, so wie sie umgekehrt zur Herstellung einer ganz bestimmten Interaktionsstruktur beitragen. Die multimodale Erweiterung des skizzierten Forschungsprogramms besteht in der Konzeptualisierung von gesprochener Sprache als multi-channel communication system.36 Eine gegenstandsadäquate Behandlung von talk-in-interaction verlangt nicht nur die Abkehr von einem abstrakten systemimmanenten Sprachbegriff, sondern mit der Hinwendung zur Prozessualität des Gesprochen-Gehörten auch eine Integration des Gezeigt-Gesehenen37 in die Theorie und Methodik. Dies erfordert zugleich eine Neufassung linguistischer Temporalitätskonzepte, da über die Sequentialität des Verbalen hinaus die Simultaneität unterschiedlicher Ausdrucksressourcen auf den Ebenen der intrapersonellen und der interpersonellen Koordination38 entscheidend wird.39 Die verschiedenen Ausdrucksressourcen können ko-expressiv sein, einander widersprechen, verstärken, kommentieren oder ergänzen. Im Hinblick auf das Thema der narrativen Figurendarstellung kann die unterschiedliche Beziehbarkeit multimodaler Ausdrucksmittel aufeinander vom Erzähler als Ressource eingesetzt werden, um durch entsprechende multimodale footing-Wechsel eine Figur auf vielschichtige Weise zu gestalten, indem er ihre Selbstpositionierung inszeniert, diese simultan einer Fremdpositionierung unterwirft und sich als Erzähler obendrein selbst dazu positioniert. II.4.

Positionierungstheorie

Wie Günthner in ihren Untersuchungen zu Stilisierungs- und Inszenierungsverfahren bei der Wiedergabe fremder Rede festgestellt hat, kommt dabei nicht nur die Stimme und Perspektive der zitierten Figur, sondern zugleich auch die bewertende, affektiv involvierte Stimme des Sprechers zum

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Stivers/Sidnell, „Introduction: Multimodal interaction“. Hausendorf, Heiko, „Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der linguistischen Gesprächsforschung“, in: Ders. (Hrsg.), Gespräch als Prozess. Linguistische Aspekte der Zeitlichkeit verbaler Interaktion, Tübingen 2007, S. 11–32, hier S. 12. Vgl. zum Begriff der Koordination Schmitt, Koordination. Analysen; Deppermann/ Schmitt, „Koordination“. Vgl. zu den komplexen Herausforderungen, die dadurch für die wissenschaftliche Transkription, Analyse und Darstellung multimodaler Daten entstehen, Stukenbrock, Anja, „Herausforderungen der multimodalen Transkription: Methodische und theoretische Überlegungen aus der wissenschaftlichen Praxis“, in: Karin Birkner/Anja Stukenbrock (Hrsg.), Die Arbeit mit Transkripten in der Praxis. Forschung, Lehre und Fortbildung, Verlag für Gesprächsforschung 2009, S. 144–169.

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Ausdruck: „The staging of past utterances and interactions is an ideal device with which to stylize social characters and position oneself by indicating one’s affiliation with or disaffiliation from these characters and their way of (mis)behaving.“40 Für die Frage nach der narrativen Konstruktion eigener und fremder Identität, die mit der verbalen und nonverbalen Darstellung des eigenen Selbst als Figur in sozialen Interaktionen mit anderen Figuren einhergeht, greife ich auf die Positionierungstheorie (positioning theory) zurück. Sie wurde ursprünglich im Rahmen der discursive psychology entwickelt und für die narrative Analyse insbesondere von Michael Bamberg sowie im deutschsprachigen Raum von Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann ausgebaut.41 In theoretischem und methodischem Einklang mit dem konversationsanalytischen Konzept von Sprache als talk-in-interaction betrachte ich Erzählungen als narratives-in-interaction im Sinne Bambergs. Bamberg versteht seine Theorie als Kontrast- und Komplementärprogramm zu einem gegenwärtigen Trend narratologischer Theoriebildung, den er polemisch als „cognition-über-alles“-Position bezeichnet42 und selbst durch einen praxeologischen Ansatz hinter sich gelassen hat, der sich durch eine dynamische, interaktions- und performanzbezogene Perspektive auszeichnet und Kognition als Produkt diskursiver, narrativer Praxen begreift: This approach focuses more strongly on the action orientation of language in ‚communities of practice‘. With this orientation, we decidedly analyze what people do when they tell stories. Starting with practical talk-in-interaction and narratives as embedded in such talk, presents the attempt to break free from the constraints 40

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Günthner, „The construction of otherness“, S. 420; vgl. auch Dies., „Stimmenvielfalt im Diskurs“; Dies., „Ansätze zu einer Erforschung der ‚kommunikativen Praxis‘ “. Harré, Rom/Langrove, Luk van (Hrsg.), Positioning Theory, Oxford 1999; Davies, Bronwyn/Harré, Rom, „Positioning: The discursive production of selves“, in: Journal for the Theory of Social Behaviour, 20/1990, S. 43–63; Bamberg, Michael, „Positioning Between Structure and Performance“, in: Journal of Narrative and Life History, 7/1997, 1–4, S. 335–342; Ders., „Positioning with David Hogan. Stories, tellings, and identities“, in: Collette Daiute/Cynthia Lightfoot (Hrsg.), Narrative Analysis: Studying the Development in Society, London 2003, S. 135–157; Bamberg, „Narrative Discourse and Identities“; Lucius-Hoene, Gabriele/Deppermann, Arnulf, Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews, Opladen 2002 u. Dies., „Narrative Identität und Positionierung“, in: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 5/2004, S. 166–183. Bamberg, „Narrative Discourse and Identities“, S. 313: „This trend, which I – admittedly somewhat polemically – have called the ‚cognition-über-alles‘ position, is on the verge of becoming the dominant attempt to lend to narratology a seemingly more scientific habitus.“

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of the ‚cognition-über-alles‘ position with its inherent costs. […] In other words, the approach to narratives as discourse and performance […] does not explain cognition ‚away‘, but knocks it off its hegemonic ‚über-alles-position‘ and puts it from its head onto its feet, where cognition can become a product of discursive, story-telling practices.43

Bambergs im Hinblick auf Alltagserzählungen entworfene Positionierungstheorie stellt einen performanzorientierten, pragmatischen Ansatz dar, der den Fokus darauf richtet, was die Erzählung als sozialer Instantiierungsakt in einer bestimmten Situation für den Erzähler und seine Adressaten bedeutet.44 Laut Bamberg wird in Narrativen, gerade auch in so genannten small stories, stets auch Selbst- und Fremdpositionierung betrieben: „By offering and telling a narrative, the speaker lodges a claim for him/herself in terms of who he/she is.“45 Zugleich lädt er mit der narrativen Selbst- und Fremdpositionierung auch seine Adressaten zu entsprechenden Positionierungsaktivitäten (positive oder negative, gleichlaufende oder abweichende Bewertungen der erzählten Figuren und ihrer Handlungen, Affiliation und Disaffiliation mit bestimmten Positionen und Sichtweisen) ein. Positionierungstheoretisch ergeben sich daraus komplexe Beziehungen zwischen dem Erzähler, den narrativ gestalteten Figuren und den Adressaten einer Erzählung. Rückgebunden an die vorangehenden Theoriekapitel erfordert ein Blick auf narratives-in-interaction, dass – im Sinne der bereits dargestellten Kritik von Bakhtin und Goffman – die monolithischen Kategorien von Sprecher und Hörer aufgegeben werden zugunsten einer Betrachtung des gesamten Interaktionsensembles als dynamisches interaktives Feld (dynamic interactive field), in welchem Erzähler und Adressaten sich durch ihre interaktiven Praxen fortwährend wechselseitig konstituieren (speaker and hearer as interactive processes).46 Damit lässt sich die Relevanz der dargestellten Konzepte abschließend wie folgt zusammenführen: Die Verbindung von Bakhtin und Goffman ermöglicht einen Begriff von Dialogizität, der die interaktive Bedeutungskonstitution durch Sprecherwechsel erfasst und dabei zugleich das Konzept des Sprechers als einheitlicher, monolithischer Größe dergestalt dekonstruiert, dass die Polyphonie der Alltagssprache einerseits als in den Sedimentierungen der Gattungen zu Buche schlagende Mitrede und andererseits als vom Sprecher im Äußerungsakt selbst vollzogenes change of footing begriffen wer-

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Ebd., S. 215. Bamberg, „Positioning Between Structure and Performance“, S. 335. Bamberg, „Narrative Discourse and Identities“, S. 223f. So lautet der Vorschlag Goodwins in seinem Plenarvortrag auf dem 17. Sociolinguistics Symposium (April 2008 in Amsterdam).

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den kann. Die Positionierungstheorie schließlich ermöglicht es, die Art und Weise, wie soziale Identitäten in narrativen Genres verhandelt werden, auf dynamische, emergenzbezogene Dialogizität sowohl im Sinne von Dialoghaftigkeit (Sprecherwechsel) als auch im Sinne von Polyphonie (Bakhtins layering of voices bzw. Goffmans change of footing) zu analysieren. Ihre Flexibilität gestattet es, die körperlich-visuelle Figurenanimation, die ich als layering of bodies bezeichne, mit in die Analyse einzubeziehen und dadurch der multimodalen Konstituiertheit von face-to-face-Interaktionen Rechnung zu tragen.

III.

Analyse der Alltagserzählung „Krankenhaus“

Im Folgenden werde ich anhand eines speziellen kommunikativen Genres, der informellen Alltagserzählung oder so genannten small story,47 darstellen, wie der Sprecher eine vergangene Interaktion narrativ rekonstruiert und dabei nicht nur Äußerungen einer erzählten Figur animiert, sondern darüber hinaus dessen körperliche Verhaltensweisen als ‚kleines Drama‘ reinszeniert. In der Reinszenierung wird nicht nur mittels Redewiedergabe ein polyphoner Text erzeugt, in dem sich die Stimme des Erzählers und die der animierten Figur überlagern, sondern über das Verbale hinaus werden als zentrale Mittel der Figurenstilisierung körperlich-gestische Verfahren eingesetzt. Datengrundlage meiner Analyse bilden Videoaufzeichnungen der ersten Big Brother-Staffel, die im Jahr 2000 von RTL ausgestrahlt wurde. In der ausgewählten Alltagserzählung „Krankenhaus“ treten vier Figuren auf, die vom Erzähler in unterschiedlichem Explizitheitsgrad eingeführt und ausgestaltet werden. Das Hauptaugenmerk meiner Sequenzanalyse liegt auf der narrativen Darstellung der Figur des „Typen“, auf der verbalen und körperlichen Animation dieser Figur sowie auf der interaktiven online-Emergenz der Erzählung. Zusammengefasst besteht die sequenzanalytische Methode der Konversationsanalyse darin, Schritt für Schritt die Konstitutionslogik des Interaktionsgeschehens herauszuarbeiten und aus der Beteiligtenperspektive nachvollziehbar zu machen. Figurenwissen wird dabei als interaktiv relevant gesetztes Wissen über soziale Kategorien und Stereotype analysierbar, das anhand einer konkreten Figur erarbeitet und dadurch narrativ vergemeinschaftet wird.

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Bamberg, „Narrative Discourse and Identities“, S. 214.

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Verbal-Transkript48 „Krankenhaus“ 1 Jrg: im krAnkenhaus geWEsen, 2 (-) 3 entBINdung, 4 ne s=KLAR, .hh 5 und da wAr noch ne ANdere frau; 6 (--) 7 mIt auf=n zimmer NE? 8 (1.5) 9 aus gAnz (.) mErkwürdigen (-) .h ver(h)HÄLTnissen; 10 (-) -------------------------------------------------------------------11 der TYP, 12 wenn der die (.) beSUchen kam, 13 (--) 14 jetz’ OHne scheiß; 15 (--) 16 sO:=ne LEderjacke, 17 totAl verRANZT, .hhh 18 äh die !BO!dyhosen- (-) 19 KUNterbunt; 20 [kEnnst=e ] DIE? ((lacht)) 21 Adr: [