196 88 795KB
German Pages 200 Year 2015
Ji Young Kang Die allgemeine Glückseligkeit
Kantstudien-Ergänzungshefte
Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme
Band 184
Ji Young Kang
Die allgemeine Glückseligkeit Zur systematischen Stellung und Funktionen der Glückseligkeit bei Kant
ISBN 978-3-11-042716-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042326-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042336-5 ISSN 0340-6059 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Jahr 2014 von der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Meinem Doktorvater Prof. Dr. Günter Zöller möchte ich besonderen Dank aussprechen für seine Unterstützung und die engagierte Betreuung, mit der er mich von der ersten Themenbesprechung bis zur Abfertigung einer vollständigen Fassung des Manuskripts bedacht hat. Seine Lehre und der wissenschaftliche Austausch mit ihm haben meine Forschung tief geprägt und mir ermöglicht, diese Untersuchung durchzuführen. Sein Vertrauen in mich und in meine Arbeit bleibt unübertroffen. Ein besonders herzlicher Dank gebührt meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Dr. von Manz für zahlreche Anregungen, die für die Weiterentwicklung meines Manuskripts essentiell waren. Danken möchte ich ganz herzlich auch Prof. Dr. Jan Rohls, der sich kurzfristig dazu bereit erklärt hat, als Prüfer für die Disputation zu fungieren. Die Disputation habe ich als intensiven, umfassenden und bereichernden Gedankenaustausch in guter Erinnerung. Prof. Dr. Chong-Hyun Paek, bei dem ich in Südkorea studierte, bin ich ganz herzlich dafür dankbar, dass er mich während meines Forschungsaufenthalts in Deutschland durch Rat und Tat unterstützt hat. Bei Miguel de la Riva bedanke ich mich von ganzem Herzen für sein gründliches und geduldiges Korrekturlesen des Manuskripts sowie für einige instruktive Verbesserungsvorschläge. Ohne seine Hilfbereitschaft und Freundschaft hätte ich die letzte Phase meiner Promotion nicht abschließen können. Anja Pichl hat das fünfte Kapitel Korrektur gelesen. Für Ihre Bemühungen und wertvollen Anregungen zur Überarbeitung des Manuskripts bin ich ihr herzlich dankbar. Mein Dank gilt auch der Konrad-Adenauer-Stiftung, die meine Forschung drei Jahre lang finanziell gefördert hat. Die finanzielle Unterstützung der Stiftung hat dazu beigetragen, dass ich Zeit und Energie zum Schreiben der Dissertation gefunden habe. Zu Dank verpflichtet bin ich auch allen, die mir beim Zustandekommen der Publikation geholfen haben. Bei Frau Dr. Gertrud Grünkorn bedanke ich mich herzlich für ihre freundliche Betreuung. Mein herzlicher Dank gebührt den Mitarbeitern des Verlags De Gruyter Johanna Wange und Johannes Parche für ihre kompetente und freundliche Hilfe. Meine Abwesenheit war nicht immer leicht für meine Eltern, denen ich ganz herzlich für ihre Unterstützung aus der Nähe und aus der Ferne danke.
Inhalt Einleitung
1
Teil I: Kants Konzeption der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
Einleitung
Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen 14 Werkperiode Kants Unterscheidung zwischen physischer und moralischer 14 Glückseligkeit 15 Physische Glückseligkeit Die hedonistische Betrachtungsweise der physischen 15 Glückseligkeit Vom idealen bzw. ideellen Charakter des Begriffs der 19 Glückseligkeit Die zweckorientierte Betrachtungsweise der physischen 24 Glückseligkeit 27 Moralische Glückseligkeit 27 Probleme des Konzepts der moralischen Glückseligkeit 29 Glückseligkeit als Seligkeit Kants Konzeption von Glückseligkeit in der vorkritischen 31 Werkperiode 31 Fragestellung und drei Thesen 33 Drei Thesen 40 „Intellektuelle Glückseligkeit“ 43 Die durch Freiheit gestiftete allgemeine Glückseligkeit
. .. ... ... ... .. ... ... . .. .. .. .
13
Teil II: Die „Imperative der Klugheit“ in Kants praktischer Philosophie
Fragestellung und Vorgehensweise
47
VIII
. . .. .. . .
Inhalt
Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Determiniertheit der 50 menschlichen Natur im Streben nach Glückseligkeit 50 Glückseligkeit als ein natürlicher Zweck 52 Grundzüge einer kantischen Handlungstheorie Wille als ein Vermögen, „nach der Vorstellung der Gesetze“ (GMS IV: 52 412) zu handeln 56 Dreiteilung der praktischen Grundsätze 63 Geltungsgründe pragmatischer Imperative Die im Glückseligkeitsstreben zum Einsatz kommende praktische 66 Vernunft Der Ort pragmatischer Imperative in der Philosophie
70
Teil III: Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit in Kants praktischer Philosophie
Fragestellung
Kant über das Prinzip der eigenen Glückseligkeit als Prinzip des 80 nichtmoralischen Handelns 80 Der erste und der zweite Lehrsatz in der KpV 83 Kants neutrale Auffassung von Lust Die Rolle der praktischen Vernunft im Prinzip der eigenen 85 Glückseligkeit
. . .
. .. .. . .. ..
77
Kritische Diskussion bisheriger Interpretationen des zweiten 91 Lehrsatzes Vertritt Kant einen psychologischen Hedonismus in Hinblick auf das 91 nichtmoralische Handeln? 92 Reaths Deutung des zweiten Lehrsatzes der KpV 94 Höwings Deutung des zweiten Lehrsatzes 96 Zurechenbarkeit des nichtmoralischen Handelns Verknüpfung der Interpretation Reaths mit der „Incorporation Thesis“ 96 von Allison 99 „arbitrium liberum“ in der IT
IX
Inhalt
. . .
Ist Kants handlungspsychologische Auffassung des nichtmoralischen 102 Handelns hedonistisch? Das Glücksstreben als Streben nach der Maximierung der 102 Lustempfindung Die durch das Prinzip der eigenen Glückseligkeit gestiftet technische 103 Einheit 105 Sinnliche Lust am Angenehm als „Empfindung der Angenehm“
Teil IV: Glückseligkeit im System der Tugendpflichten . . . . .
Ein „leerer Formalismus“? 111 Ableitbarkeit des „obersten Prinzips der Tugendlehre“ (MS VI: 395) 113 aus dem „obersten Grundsatz der Sittenlehre“ (MS VI: 225) „Die Menschheit in der Person eines jeden“ als Zweck an sich 114 Selbst 117 Struktur dieses Kapitels Obligatorische Zwecke im Sittengesetz 119 Notwendigkeit des Begriffs des obligatorischen Zwecks in der 119 Ethik Das Problem der Selbstbestimmung: Das eigentliche Selbst
125
. .
Glückseligkeit anderer als oberste Tugendpflicht 130 130 Warum es Pflicht ist, die Glückseligkeit anderer zu befördern Zwei Einwände gegen Kants Konzeption der fremden Glückseligkeit 133 als oberster Tugendpflicht
Das Verhältnis zwischen den zwei obersten Tugendpflichten und 138 Kants Lehre des höchsten Guts
Teil V: Einheit von Moralität und Glückseligkeit. Glückseligkeit in Kants Lehre des höchsten Guts
Verhältnis von Moralität und Glückseligkeit
143
X
. . .
. . .
Inhalt
Gründe für den notwendigen Einschluss der Glückseligkeit in das 148 Konzept des höchsten Guts 148 Heteronomie bei der Willensbestimmung? Das höchste Gut als „unbedingte Totalität des Gegenstandes der 149 reinen praktischen Vernunft“ Das höchste Gut als „Besondere[r] Beziehungspunkt der Vereinigung 152 aller Zwecke“ Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts 158 158 Das höchste Gut als ein gemeinschaftliches Gut 159 Der Ort der Verwirklichung des höchsten Guts Der Gegenstand der berechtigten Hoffnung der menschlichen 168 Vernunft
Teil VI: Zusammenfassung
Stellung und Funktionen der Glückseligkeit in Kants 175 Moralphilosophie
. .
Intrasubjektive Ebene: das eigentliche Selbst 177 177 Leitfragen Die durch das Prinzip der eigenen Glückseligkeit hergestellte 178 technische Einheit der Maximen
. .
Intersubjektive Ebene: die allgemeine Glückseligkeit 181 Leitfragen Die durch das Moralprinzip gestiftete allgemeine 181 Glückseligkeit
Literaturverzeichnis 184 Texte 184 Literatur Personenregister
184
190
181
Einleitung Seit der kantischen Kritik am Eudämonismus scheint es, als könne man die Geltendmachung des Strebens nach Glückseligkeit¹ nicht mehr in der Ethik behandeln. Kants Auseinandersetzung mit dem Eudämonismus zieht vielmehr die Konsequenz nach sich, dass die Frage nach Glückseligkeit kein Gegenstand der philosophischen Untersuchung mit ihren apriorischen Methoden ist. Denn es handele sich dabei um eine psychologische Frage, die mit empirischen Mitteln untersucht werden müsse: Glückseligkeit bestehe grundsätzlich im Gefühl der Lust, das von der psychologischen Anlage des Menschen abhängt. Für die Beantwortung der Frage, worin die Glückseligkeit besteht und was sie ausmacht, ist daher die empirische Psychologie zuständig. Dementsprechend dürfte die Glückseligkeit in der praktischen Philosophie im eigentlichen Sinne, nämlich die, die sich ausschließlich mit der moralischen Freiheit beschäftigt, nur eine marginale Rolle spielen.
Nach der Begriffsklärung des Glücks in Grimms Deutsches Wörterbuch ist das Wort „Glückseligkeit“ in der umgangssprachlichen Verwendung des 18. Jahrhunderts gleichbedeutend mit dem „Glück“ wie in heutiger Verwendungsweise (vgl. Grimms Deutsches Wörterbuch Bd. 4; 1,5 s.v. „Glück“). Das Wort „Glückseligkeit“ wird so verwendet, dass es einen vorteilhaften Zufall wie auch den angenehmen inneren Zustand umfasst. Jedoch unterscheidet Kant im Anschluss an seinen Vorgänger Ch.Wolff das Glück streng von der Glückseligkeit. Es gibt allerdings den entscheidenden Unterschied zwischen der Glückseligkeitsauffassung von Wolff und der von Kant. In seinem Buch Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen. Zur Beförderung ihrer Glückseligkeit kontrastiert Wolff das Glück mit der Glückseligkeit (vgl. Wolff 1736, S. 42– 3). Glück sei mit dem Zustand des momentanen Vergnügens, das aufgrund der Erfüllung „einer heftigen Begierde“ entstehe, gleichzusetzen. Im Grunde stehe die Erlangung zum Glück nicht in unserer Kraft. Glückseligkeit sei dagegen etwas Dauerhaftes und im Prinzip einem jeden zugänglich, da sie durch „Befolgung des Naturgesetzes“ erreicht werden könne. Streben nach dem augenblicklichen sinnlichen Vergnügen, das von Wolff als das Streben nach Glück verstanden wird, werde immer zum Scheitern verurteilt. Denn es führe dem Subjekt nur zur Erweckung und Vermehrung der zu befriedigenden Begierde. Glückseligkeit werde dagegen im Kampf gegen eigene momentane, wechselseitige Begierde errungen. In diesem Sinne sei die Glückseligkeit ein Zustand der negativen Freiheit von Begierden, welcher der „Gemütsruhe“ entspräche. Kants Begriff „Glückseligkeit“ scheint eher dem wolffischen „Glück“ zu entsprechend, während die Wolff’ische Glückseligkeit mit der kantischen Selbstzufriedenheit gleichzusetzen wäre. Der Begriff des Glücks steht für Kant in erster Linie für die Gunst des Schicksals. Charakteristisch für das Glück sind das Moment des Episodischen und das des Zufälligen. Eindeutig versteht Kant unter Glückseligkeit keine Wolff’ische moralische Glückseligkeit, die der durch die tugendhafte Gesinnung erreichten Gemütsruhe entspricht, sondern das sinnliche Wohlsein. Die Begriffsklärung der kantischen Glückseligkeit wird im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit eingehend geklärt.
2
Einleitung
Vor diesem Hintergrund scheint Kants Antwort auf die Frage nach der Stellung der Glückseligkeit nur negativ formuliert zu werden: Das oberste Moralprinzip dürfte sich nicht auf die Glückseligkeit gründen. Das Prinzip der Sittlichkeit stehe in Kants Ethik dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit direkt gegenüber. Obwohl diese Positionen in der Literatur weit verbreitet sind, kann man die Frage nach der Glückseligkeit nicht eindeutig in Kants Moralphilosophie verorten, da Kants Argumentation mehrere Schlussfolgerungen zulässt. Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, die systematische Stellung und die Funktionen der Glückseligkeit in Kants Moralphilosophie der kritischen Periode zu untersuchen. Hierdurch lässt sich die formale wie inhaltliche Vermittlung von Moralität und Glückseligkeit im Gesamtsystem der kantischen Moralphilosophie strukturell beschreiben. Zu diesem Zweck setze ich mich zum einen mit Kants Kritik am Eudämonismus auseinander und arbeite zum anderen Kants Rekurs auf Glückseligkeit heraus. Im Rahmen der „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (GMS IV: 392) setzt sich Kants Position aus zwei Gründen explizit von der eudämonistischen ab: Zum einen befasst sich Kants Kritik am Eudämonismus mit der Frage, was das moralische Gut an sich ist. Denn beim Versuch des Eudämonismus, ein objektives Prinzip der Willensbestimmung im faktischen Verlangen des Menschen nach Glückseligkeit zu finden, bleibt immer die Frage offen, ob und inwiefern das Gute der Glückseligkeit auch das Gute im Allgemeinen ist: Aus der Beobachtung, dass das Glückseligkeitsstreben dem Menschen in seine Naturanlage gelegt ist, soll notwendig abgeleitet werden, dass die eigene Glückseligkeit das Ziel ist, an dem sich unser Handeln orientieren soll? Zum anderen beruht Kants Vorwurf gegen den Eudämonismus auf der Beobachtung, dass die Vorschriften über den Weg zur Glückseligkeit nicht den Anspruch des Sittengesetzes auf Allgemeingültigkeit erfüllen können. Es ist nicht möglich, aus der Glückseligkeit als Ziel moralischen Handelns, ein allgemeines Sittengesetz abzuleiten. Denn alles, was sich über die Glückseligkeit sagen lässt, hängt von Erfahrungen ab. Daher ist es nicht möglich, a priori zu bestimmen, was zum Erreichen der Glückseligkeit beiträgt. Darüber hinaus ist der Begriff der Glückseligkeit so unbestimmt, dass jeder seine eigene Vorstellung von dem hat, was ihn glücklich machen kann (vgl. GMS IV: 418²). Aus diesen Gründen
Seitenzahlen beziehen sich auf Kants gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin: Walter de Gruyter, 1902 ff.). Römische Ziffern stehen für den Band, arabische Ziffern für die Seitenangaben. Ich verwende folgende Abkürzungen: GMS = Grundlegung der Metaphysik der Sitten, KrV = Kritik der reinen Vernunft, KpV = Kritik der praktischen Vernunft, KU = Kritik der Urteilskraft, RGV = Religion innerhalb der
Einleitung
3
kann die Glückseligkeit keinen einheitlichen und gleichbleibenden Bestimmungsgrund für alle vernünftigen Wesen zur Verfügung stellen. Aus Kants Kritik am Eudämonismus lässt sich jedoch nicht zwangsläufig folgern, dass seine Moralphilosophie auf eine prinzipielle Ausschaltung des in der menschlichen Natur verankerten Glückseligkeitsstrebens besteht (vgl. KpV V: 35, 93; MS VI: 366): Das Streben nach Glückseligkeit wird in Kants Moralphilosophie nicht nur als einem unabdingbaren Tatbestand des Menschen Rechnung getragen, der auf „unverwerflichen natürlichen Neigungen“ beruht, (vgl. RGV VI: 45 Fn.) Diese Sichtweise Kants wird in folgendem Zitat gut ersichtlich: Aber diese Unterscheidung des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit, ist darum nicht sofort Entgegensetzung beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben sondern nur, sobald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen. (KpV V: 93; meine Herv.)
An dieser Stelle wird gezeigt, dass die reine praktische Vernunft, die ausschließlich mit dem Sittengesetz zu tun hat, dem Anspruch auf die Glückseligkeit des Menschen nicht widerspricht. Dies bedeutet, dass man Glückseligkeit und Sittlichkeit beim Glückseligkeitsstreben gedanklich nicht absolut voneinander trennen muss. Dieses Ergebnis lässt sich weiterhin dadurch unterstützen, dass die Sorge um seine eigene Glückseligkeit von Kant als eine „indirekte Pflicht“ bezeichnet wird (vgl. GMS IV: 399; MS VI: 388). Das Streben nach Glückseligkeit basiere überdies auf natürlichen Neigungen, die weder gut noch böse sind und sogar „unverwerflich“ sind (vgl. RGV VI: 45 Fn.). Neben dieser indirekten Anerkennung des moralischen Stellenwertes der Glückseligkeit wird die Glückseligkeit, wenn man sie in einem engen Zusammenhang mit der moralischen Pflicht betrachtet, zu etwas Positivem. Zunächst wird die Glückseligkeit als der Bestandteil des höchsten Guts betrachtet, das sich als das ultimative Ziel menschlichen Bestrebens erweist. Darüber hinaus wird der Glückseligkeit anderer der Status der obersten Tugendpflicht zugewiesen, aus der alle übrigen Tugendpflichten abgeleitet werden. Dann stellt sich die Frage, wie Kant zur Überzeugung kommt, dass die Glückseligkeit, obwohl aus ihr kein allgemeines Sittengesetz begründet werden kann, in den zwei uns durch das Sit-
Grenze der bloßen Vernunft, MS = Metaphysik der Sitten, Geminspruch = Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Ausnahmen hiervon sind die Kritik der reinen Vernunft und Kants Reflexionen. Die Kritik der reinen Vernunft wird mittels der A- und B- Seitenzählung für die erste und zweite Auflage zitiert. Reflexionen werden durch ›R‹ und Nummer genannt und die Seite der Akademie-Ausgabe ergänzt: R7202 XX: 267.
4
Einleitung
tengesetz auferlegten Zwecken (d. h. die oberste Tugendpflicht und das höchste Gut) integriert werden muss. Damit hängen zwei weitere Fragen zusammen, nämlich was solche objektiven Zwecke sachlich besagen und welchen Status sie im Kontext der kantischen Handlungstheorie haben. Um diese Frage zu beantworten, sollen die verschiedenen Perspektiven Kants über die Glückseligkeit eingehend erläutert werden. Zu diesem Zweck lässt sich die vorliegende Arbeit zunächst in zwei große Teile gliedern, in denen es einerseits um Kants kritische Behandlung des Eudämonismus und andererseits um die positive Berücksichtigung der Glückseligkeit geht. Da die Glückseligkeit im Rahmen der Aufstellung eines obersten Moralprinzips lediglich als ein möglicher Bestimmungsgrund des Willens abgelehnt wird, ist es zu fragen, ob es eine Möglichkeit gibt, Moral und Glückseligkeit außerhalb des Kontextes der moralphilosophischen Begründung zueinander in Verbindung zu bringen. Ein Lösungsansatz zur Klärung der Frage, in welchem Verhältnis Moralität und Glückseligkeit bei Kant zueinander stehen, lässt sich zunächst aus der Kritik an den Epikureern und Stoikern entnehmen. Kants Kritik an beiden Standpunkten geht davon aus, dass beide die Moralität und die Glückseligkeit im Verhältnis der analytischen Identität stehen sehen. Kant zufolge hat weder die epikureische These, dass Streben nach eigener Glückseligkeit mit dem Streben nach Sittlichkeit identisch ist, noch die These der Stoiker, dass das Streben nach Tugend mit dem Streben nach Glückseligkeit gleichbedeutend ist, Geltung. Aus dieser Beobachtung würde folgen, dass Kant das Verhältnis zwischen der Glückseligkeit und der Moral als ein synthetisches versteht. Zumindest bleibt bei Kant die Möglichkeit, dass die Glückseligkeit aus der Befolgung des Sittengesetzes als eine Folge bzw. Wirkung hervorgeht. Ein weiterer Ansatz liegt in Kants Erörterung der Sittlichkeit als „Würdigkeit, glücklich zu sein“ (KrV B834=A806, KpV V: 130, RGV VI: 44, Gemeinspruch VIII: 278 Fn.)³. Diese Kennzeichnung manifestiert sich einerseits daran, dass wir unserer moralischen Bestrebung entsprechend an der Glückseligkeit sollten teilhaben können. Andererseits deutet sie an, dass es keinen tatsächlichen kausalen Zusammenhang zwischen beiden gibt, obwohl beide aufgrund des „Bedürfnisses“ des vernunftbegabten Wesens (vgl. RGV VI: 5, 6; KU V: 447; Gemeinspruch VIII: 279 Fn.) sowie des „Urteils einer unparteiischen Vernunft“ (KpV V: 110, vgl. KrV B841=A813) notwendig in einer Beziehung stehen sollten: Aus der Pflichterfüllung ergibt sich im Prinzip nur die Würdigkeit, glücklich zu sein. Wer aus Pflicht Bemerkenswert ist nun, dass der Gedanke, die Sittlichkeit verschaffe uns Würdigkeit, glücklich zu sein, bereits in den Reflexionen, die nach Adickes Angaben in der frühen 70er Jahren erstellt wurden, auftaucht. Kant verfolgt diesen Gedanken bis in sein Spätwerk und dies erweckt damit den Eindruck, als hätte er ihn nie in Zweifel gezogen.
Einleitung
5
handelt, kann zwar glücklich werden. Diese Glückseligkeit ist aber nur eine mit der moralischen Handlung kontingenterweise verbundene Nebenfolge. Kants Ethik scheint insofern nur die zufällige, nachträgliche Vereinbarkeit zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit zu vertreten. Diese Unterstellung ist allerdings nicht sofort festzuhalten, weil Kant das höchste Gut menschlichen Handelns ausdrücklich als die der Sittlichkeit proportionierte Glückseligkeit konzipiert und somit die innere systematische Verbundenheit zwischen der Moralität und der Glückseligkeit demonstriert. Hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis zwischen der Glückseligkeit und der Moralität finden sich in der Forschungsliteratur zwei Interpretationsansätze. Einem einflussreichen Ansatz nach wird Kants Verständnis der Glückseligkeit auf die Erfüllung von sinnlichen Bedürfnissen beschränkt (vgl. Beck 1963; Albrecht 1979; Rosen 2001; Hauke 2006). Damit ist die Erlangung der Glückseligkeit grundsätzlich auf zufällige empirische Zustände angewiesen. Die praktische Vernunft spiele beim Glückseligkeitsstreben nur eine reine instrumentale Rolle, weil sie hier dafür zuständig ist, möglichst effektive Wege zur Befriedigung der aufdrängenden Neigungen zu finden. Diese offizielle Deutung trifft zwar auf die kantische Auffassung der Glückseligkeit insofern zu, als dass die Glückseligkeit bei Kant ohne ihren Rückbezug auf die sinnliche Lust nicht gedacht werden kann. Bei dieser Deutung wird allerdings der Totalitätscharakter des Begriffs der Glückseligkeit vernachlässigt: Die Glückseligkeit wird von Kant nicht bloß im Sinne eines aufgrund einer momentanen Bedürfnisbefriedigung ausgelösten Lustzustands konzipiert. Es geht vielmehr um Befriedigung aller Neigungen, jeweils im höchsten Intensitätsgrad und auf Dauer, und somit um ein übergeordnetes Ziel des Handelns. Gegen die oben erwähnte Deutung ist folgendes einzuwenden: Kant betrachtet zwar die Glückseligkeit eindeutig im Zusammenhang mit der empirischen zufälligen Neigungsbefriedigung des Menschen, fügt allerdings zugleich hinzu, dass es hier um die größtmögliche Neigungsbefriedigung eines vernünftigen Wesens geht (vgl. KpV V: 22, 25, 124; MS VI: 480). Diese Beobachtung weist darauf hin, dass Kants Ethik die positive Rolle der praktischen Vernunft beim Glückseligkeitsstreben nicht ausschließt. Ein anderer Ansatz, der sich in der Forschungsliteratur findet, beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Glückseligkeit und Vernunft. Dieser Ansatz lässt sich wiederum in zwei Klassen einteilen: Einige Forscher plädieren für die Auffassung, dass die subjektive Reflexion auf den Zustand erfüllter Bedürfnisse bereits einen notwendigen Zusammenhang zwischen Vernunft und Glückseligkeit herstellt (vgl. Düsing 1971; Langthaler 1991; Römpp: 1991). Diese Interpretation lässt sich dadurch untermauern, dass die Glückseligkeit von Kant mehrfach eindeutig im Rekurs auf die subjektive Beurteilung der Umstände bestimmt wird.
6
Einleitung
Diese Deutung lässt zwar die Möglichkeit zu, das Glückseligkeitsstreben mit der Vernunft in Verbindung zu bringen. Sie behält jedoch die eigene Leistung der praktischen Vernunft beim Glückseligkeitsstreben nicht ausreichend im Blick, da hier die Vernunft nur als ein theoretisches Reflexionsvermögen betrachtet wird. Darüber hinaus legt diese Auffassung m. E. die Annahme nahe, dass Kants Konzeption der Glückseligkeit eine intellektuelle ist. Wie im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit gezeigt wird, wird die intellektuelle Konzeption der Glückseligkeit jedoch dem Textbestand nicht gerecht, da Kant zufolge die Glückseligkeit grundsätzlich in der größtmöglichen Neigungsbefriedigung besteht⁴. Die sogenannte intellektuelle bzw. moralische Glückseligkeit, die von der deutschen Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts überwiegend vertreten wird, wird von Kant nicht als eine bestimmte Art der Glückseligkeit sondern als „(Selbst‐)Zufriedenheit“ angesehen. Die Differenzierung von Glückseligkeit und (Selbst‐)Zufriedenheit ist in methodischer Hinsicht von Bedeutung, weil Kant den beiden Konzepten primär funktionalen Status zuschreibt und sie mittels des Kontrastes operieren lässt. In letzter Zeit etabliert sich nun eine andere Auffassung, der zufolge diejenige Neigungsbefriedigung, die den Anspruch des Vernunftgesetzes erfüllen kann, bereits als relevant für die Glückseligkeit angesehen werden kann. Die diesen Ansatz vertretenden Forscher arbeiten die grundlegende Struktur des moralischneutralen Handelns bei Kant heraus. Darin schlussfolgern sie, dass sich Sinnlichkeit und Vernunft im vernünftigen Handeln bereits auf der Ebene des Handlungsgrundes vereinbaren lassen (vgl. Allison: 1996, Himmelmann: 2003, Reath: 2006): Denn ein vernunftbegabter Handelnder kann die Neigungsbefriedigung Das Spezifische der kantischen Glückseligkeitsauffassung als sinnliche Konzeption der Glückseligkeit lässt sich durch den Kontrast zur Glückseligkeitsauffassung in der damaligen deutschen Schulphilosophie zeigen. M. Mori überblickt in seinem einleuchtenden Aufsatz systematisch die Glückseligkeitsauffassung in der deutschen Aufklärung (Mori 1993). In diesem Aufsatz bemüht sich Mori darum, die von Leibniz ausgehende Intellektualisierung des Glückseligkeitsverständnisses in der deutschen Aufklärung hervorzuheben: Die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts sieht die Glückseligkeit als Äquivalent von Vollkommenheit und Tugend, die auf dem Bewusstsein einer mit der Moralität konvergierenden geistigen Lust beruht. Leibniz führt z. B. die Glückseligkeit auf die Vollkommenheit zurück. Die Glückseligkeit sei nichts anderes als das Gefühl der Freude, die in einem Subjekt ausgelöst wird, wenn das Subjekt die Übereinstimmung bzw. Vollkommenheit an sich oder an anderen wahrnimmt. In der Durchsetzung dieser Tendenz verwendet Ch. Wolff die Begriffe Vollkommenheit und Glückseligkeit alternativ bzw. synonym, indem die Vollkommenheit als Instrument zum Erreichen der Glückseligkeit betrachtet wird. Die Vollkommenheit wird – ihm zufolge – als letztes Ziel menschlichen Handelns angesetzt, deren Erlangung notwendig Glückseligkeit zur Folge hat (vgl. Mori 1993, S. 30 – 33). Im Vergleich zu seinen rationalistischen Vorgängern ließ Kant der Glückseligkeit keinen intellektuellen sondern einen durchaus sinnlichen Charakter zukommen.
Einleitung
7
nur insofern für vernünftig halten, als dass er die fragliche Befriedigung durch die praktischen Prinzipien begründet sieht. Diese Auffassung wird von H. E. Allison unter Berufung auf eine Textstelle aus der RGV (vgl. RGV VI: 23 f.⁵) thesenartig formuliert: Wenn beim Glücksstreben irgendeine bestimmte Neigungsbefriedigung in Frage kommt, wird diese Neigung lediglich unter der Bedingung erfüllt, dass sie vom Subjekt in die Maxime aufgenommen („incorporated“) werden kann. Durch diese Deutung lässt sich klären, auf welche Weise die praktische Vernunft beim Glückseligkeitsstreben zum Einsatz kommt. Die praktische Vernunft hat nicht mit der einzelnen Handlung, sondern mit dem Handlungsprinzip zu tun und leitet die Wahl der geeigneten Maxime, die den Anspruch der Allgemeingültigkeit erfüllen kann. Die Leistung dieses Ansatzes würde vor allem darin liegen, dass durch ihn der ideelle Charakter der Glückseligkeit eingehend erläutert wird. Die Studie von B. Himmelmann beschäftigt sich z. B. mit Kants begrifflicher Fassung der Glückseligkeit in der Idee der Glückseligkeit. Die Idee der Glückseligkeit als die Idee eines Ganzen der Bedürfniserfüllung ist – nach Himmelmann – leitend bei der Ausbalancierung von noch zu befriedigenden und bereits erfüllten Bedürfnissen. Damit könnte eine einzelne kurzfristige Bedürfniserfüllung nicht als (ein Teil der) Glückseligkeit erfahren werden, wenn die Vernunft eine vereinigende Funktion hätte, die die einzelnen Lusterlebnisse unter die Perspektive der gesamten Lebensführung bringt. Trotz dieser Leistung bleibt bei dieser Auffassung der Grund für den Konflikt zwischen sinnlichen und vernünftigen Handlungsgründen bzw. Prinzipien nicht ausreichend geklärt. Wenn Sinnlichkeit und Vernunft bereits auf der Ebene des Beweggrundes miteinander in Einklang gebracht würden, wobei die Vernunft den Vorrang einnehmen müsste, ist es schwer zu verstehen, warum Kant mehrmals die Sinnlichkeit und die Vernunft als zwei gegenüberstehende Handlungsquellen bezeichnet. Anders formuliert: Wird angenommen, dass „die sinnlichen Triebfedern“ im vernünftigen Handeln durch die praktische Vernunft in ein Handlungsprinzip aufgenommen werden können, ist unklar, warum Kant die Sinnlichkeit oft als die wichtigste Quelle der Verletzung der moralischen Pflicht betrachtet. Ebenso wenig wird klar, aus welchen Gründen die sinnlichen Antriebe bei Kant unbedingt dem Anspruch der Moralität unterworfen werden müssen.
Die entsprechende Textstelle lautet wie folgt: „Die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, dass sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, a l s n u r s o f e r n d e r M e n s c h s i e i n s e i n e M a x i m e a u f g e n o m m e n h a t (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen. Allein das moralische Gesetz ist für sich selbst im Urteil der Vernunft Triebfeder, und wer es zu seiner Maxime macht, ist moralisch gut“ (RGV VI: 23 – 4; Herv. im Original).
8
Einleitung
Die vorliegende Untersuchung lässt sich zwar in wesentlicher Hinsicht an den letzten Standpunkt anschließen. Ich setze mich jedoch kritisch mit dem letzten Interpretationsansatz auseinander, um die oben skizzierte Schwäche dieses Ansatzes durch die eingehende Untersuchung zur Verhältnisbestimmung von Moral und Glückseligkeit bei Kant zu überwinden. In dieser Untersuchung wird Kants eigene Sichtweise möglichst immanent entfaltet, so dass ihre unhintergehbaren Voraussetzungen hinsichtlich des vernünftig Handelnden gezeigt werden. In der Forschungsliteratur wird unterstellt, dass Kants Argumentationen für die Untauglichkeit des Glückseligkeitsprinzips als Moralprinzip als solche leicht zu verstehen sind: Die wesentliche Schwäche jeglicher Glückseligkeitslehre bestehe in der Unbestimmtheit bzw. Vagheit des Glückseligkeitsbegriffs. Glückseligkeit sei ein „unbestimmter Begriff“ (GMS IV: 418) und eine „schwankende Idee“ (GMS IV: 399), so dass jeder Mensch „niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, war er eigentlich wünsche und wolle“ (GMS IV: 418). Die Frage, aus welchen Gründen das Prinzip der eigenen Glückseligkeit einen beständigen Kontrapunkt zu Kants eigener Position darstellt, lässt sich, allein mit dieser Argumentation, nicht ausreichend beantworten. Diese Fragestellung scheint m. E. allerdings in der Literatur bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren zu haben. Um diese Frage beantworten zu können, habe ich mich auch mit den Fragen in diesem Zitat auseinandergesetzt: Er [‐Der Mensch] hängt aber doch auch, vermöge seiner gleichfalls schuldlosen Naturanlage, an den Triebfedern der Sinnlichkeit und nimmt sie (nach dem subjektiven Prinzip der eigenen Glückseligkeit) auch in seine Maxime auf. Wenn er diese [die Triebfeder der Sinnlichkeit] aber, a l s f ü r s i c h a l l e i n h i n r e i c h e n d zur Bestimmung der Willkür, in seine Maxime aufnähme, ohne sich ans moralische Gesetz zu kehren, so würde er moralisch böse sein. […] Also muss der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschied der Triebfedern, […] sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: Welche von beiden [das Prinzip der Sittlichkeit und das Prinzip der Selbstliebe] er zur Bedingung der anderen macht, […], da er [der Mensch] aber inne wird, dass eins neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eins dem andern, a l s s e i n e r o b e r s t e n B e d i n g u n g untergeordnet werden müsse (RGV VI: 36; meine Herv.).
Aus dem Zitat lassen sich folgende Leitfragen für die Ausführung des ersten Teils der vorliegenden Arbeit entnehmen: a. Warum erscheint die Triebfeder der Sinnlichkeit, der das Prinzip der eigenen Glückseligkeit zugrunde liegt, dem Handelnden auf den ersten Blick als „für sich allein hinreichend zur Bestimmung der Willkür“? b. Aus welchen Gründen können sowohl das Prinzip der Sittlichkeit als auch das der eigenen Glückseligkeit jeweils als „oberste Maxime“ dargestellt werden, auf die sich übliche konkrete Maximen ausrichten können bzw. sollen?
Einleitung
9
c.
Worin besteht der nähere Unterschied zwischen den beiden Prinzipien, durch welchen sie nicht nebeneinander bestehen können, so dass eines dem anderen untergeordnet werden muss? d. Aus welchen Gründen muss dem Prinzip der Moralität der höhere Status zukommen? In der vorliegenden Arbeit soll gezeigt werden, aus welchen Gründen die Glückseligkeit bei den endlichen Vernunftwesen als das höchste Ziel menschlichen Handelns zu gelten und warum das Prinzip der eigenen Glückseligkeit somit ein entscheidender Kandidat für das Prinzip der Sittlichkeit zu sein scheint. Damit ist die weitere Frage verknüpft, mit welchen Argumenten Kant die Auffassung aufrechterhält, dass das Prinzip der eigenen Glückseligkeit – allem Anschein entgegen – nicht als oberstes Prinzip der Sittlichkeit taugt, welches seinerseits in allen Fällen und für jedes vernünftige Wesen als verbindlich erachtet werden muss. Vor der eingehenden Auseinandersetzung mit Kants Position lassen sich vorgreifend für Kants Konzept der Glückseligkeit folgende entscheidende Punkte festhalten: a. Es ist deutlich, dass in Kants Ethik die Tugend gegenüber der Glückseligkeit stets eine vorranginge Stellung einnimmt. Kant erkennt das natürliche Glückseligkeitsstreben des Menschen zwar als wichtige Triebfeder der Lebensführung an, verwehrt aber der Glückseligkeit ihre Geltung, das letzte Ziel des Lebens zu sein. b. Im Grunde kann die Glückseligkeit bei Kant nicht als bloße Bedürfnisbefriedigung verstanden werden, selbst wenn er das Streben nach Glückseligkeit immer wieder in die Nähe des Selbsterhaltungstriebs rückt. Vielmehr bezeichnet Kant den gemeinten Zustand der Glückseligkeit als ein Maximum bzw. die Totalität an Wohlbefinden. Die Bezeichnung deutet an, dass die Glückseligkeit das Konzept eines bestmöglichen physischen Zustands ist, der nicht nur ein Individuum sondern auch die ganze Menschheit umfassen kann. Ob das moralisch handelnde Individuum diesen erreicht, ist aber nicht nur von ihm allein abhängig. Das liegt daran, dass ein Mensch mit anderen Menschen in einer vielfältigen Dynamik steht – ein Umstand, den man berücksichtigen muss. Er wirft die Frage auf, wie sich das Verständnis von Glückseligkeit als der größtmöglichen Bedürfnisbefriedigung eines Menschen mit dem der angestrebten Totalität der Bedürfnisbefriedigungen der gesamten Menschheit verhält. Denn die einzelnen konkreten Bedürfnisbefriedigungen zielen nicht auf das Ganze. Wenn jeder nach seinem eigenen bestmöglichen Zustand strebt, hätte dies nämlich nicht unbedingt ein Maximum an Wohl-
10
Einleitung
befinden zur Folge. Wie im zweiten Teil dieser Untersuchung gezeigt wird, ist das höchste Gut bei Kant als „die allgemeine Glückseligkeit“ (KrV B837=A809, B879=A851; KU V: 451 Fn., 453; R6867 XIX: 186; R6989 XIX: 221) zu verstehen. Kant vertritt die Einschätzung, das höchste Gut sei das höchstmögliche Wohlergehen der ganzen Menschheit und kein Widerstreit entstehe dort zwischen dem kollektiven und dem individuellen Wohl. Der grundlegende Gedanke Kants ist, dass es zum Erreichen dieser allgemeinen Glückseligkeit eines Prinzips bedarf, das jede einzelne Handlung sowohl in der intrasubjektiven als auch in der intersubjektiven Ebene mit dem letzten Zweck aller Handlungen widerspruchlos verbinden kann. c. Die Grundannahme der Glückseligkeit Kants besteht in einem engeren Zusammenhang zwischen dem Selbstverhältnis des Menschen und der Glückseligkeit. Das richtige Selbstverhältnis wird bei Kant meiner Einschätzung nach daraus gewonnen, dass das Subjekt seine Zwecke mit Hilfe seines Vernunftvermögens selbst setzt. Ein vernünftig Handelnder könne erst dann glücklich im echten Sinne sein, wenn er seine günstigen Umstände nicht als die Wirkung der Natur, die ihm als ein bloßer Zufall vorkommt, sondern als sein eigenes Werk ansehen kann. Dementsprechend wichtig ist das Moment der Selbstbestimmung in der Glückseligkeit für diese Argumentation. d. Das mögliche Verhältnis zwischen der Moralität und der Glückseligkeit lässt sich in zwei Varianten ausdrücken. Entweder werden wir durch Erfüllung der Pflicht glücklich sein. Oder Pflicht und Glückseligkeit schließen sich voneinander kategorisch aus. Es ist allerdings nicht möglich, Kants Position einer dieser Varianten zuzuordnen. Kants Überlegungen nach werden wir durch die Befolgung des Sittengesetzes „würdig, glücklich zu sein“.
Teil I: Kants Konzeption der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
1 Einleitung Im vorliegenden Kapitel setze ich mich mit Kants Ausführungen zur Glückseligkeit auseinander. Die Arbeit fokussiert zwar Kants Moralphilosophie der kritischen Werkperiode, es erscheint jedoch angebracht auch sein Spätwerk zu berücksichtigen. Denn Kants Rekurs auf Glückseligkeit wird in seinem Spätwerk genauer unter der Perspektive der Tugendpflicht deutlich. Der kurze Überblick über die vorkritischen Reflexionen, die nach der Angabe Adickes in den siebziger und frühen achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts erstellt wurden, hilft auch die grundlegende Sichtweise Kants zu erhellen. Um den Glückseligkeitsbegriff bei Kant systematisch zu klären, übernehme ich Kants Unterscheidung zwischen physischer und moralischer Glückseligkeit in modifizierter Weise, indem ich den entscheidenden Unterschied zwischen beiden deutlich mache. In Kants Werken tritt diese Unterscheidung nur an wenigen Stellen (vgl. RGV VI: 67– 8, 75 Fn.; MS VI: 377– 8, 387– 8) zutage¹, sie scheint allerdings aus zwei Gründen als Grundlage zur Begriffsklärung geeignet: Erstens können die verschiedenen Beschreibungsformen der Glückseligkeit in diese zwei Klassen erschöpfend eingeordnet werden. Zweitens kann die Tragweite der bisherigen Forschungen anhand dieser Unterscheidung leicht erwogen werden. Denn in letzter Zeit hat sich ein bestimmter Interpretationsansatz aufgrund der einflussreichen Studie von K. Düsing etabliert, dem zufolge sich in Kants Werken zumindest zwei spezifisch verschiedene Bestimmungen der Glückseligkeit finden, nämlich der moralischen bzw. intellektuellen und der physischen bzw. empirischen (Düsing 1971). Insoweit wird die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung diesen beiden Arten von Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode zukommt.Vorgreifend lässt sich diese Frage wie folgt beantworten: Bereits die Häufigkeit der sinnlichen Auffassung von Glückseligkeit weist bei Kant auf die besondere Bedeutung der physischen Glückseligkeit hin (Albrecht 1974, S. 263– 7). Im weiteren Verlauf der Arbeit zeigt sich, aus welchen Gründen Kant zwar von Anfang an die moralische Glückseligkeit als eine Art der Glückseligkeit konzipiert, später aber eine terminologische Unterscheidung treffen muss, wonach die moralische Glückseligkeit nicht mehr die Glückseligkeit, sondern die Selbstzufriedenheit betrifft.
Die physische Glückseligkeit wird in der RGV als „die Versicherung eines immerwährenden Besitzes der Zufriedenheit mit seinem physischen Zustand (Befreiung von Übeln und Genuss immer wachsender Vergnügen)“ (RGV VI: 67) betrachtet. Die moralische Glückseligkeit besteht dagegen in der „Wirklichkeit und Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden Gesinnung“ (RGV VI: 67)
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode 2.1 Kants Unterscheidung zwischen physischer und moralischer Glückseligkeit Die physische Glückseligkeit wird von Kant oftmals als Befriedigung von Neigungen bzw. Bedürfnissen bezeichnet, die erreicht wird, indem man Übel vermeidet und so lange wie möglich dauernde Vergnügung erstrebt. Bemerkenswert ist nun, dass nicht nur die Befriedigung der am Körper gebundenen, sondern auch die der sog. „geistigen“ Neigungen bzw. Bedürfnisse, die „immerhin im Verstand ihren Sitz und Ursprung [zu] haben“ (KpV V: 23) scheinen, zur physischen Glückseligkeit gerechnet werden. Die andere Art der Glückseligkeit ist die moralische Glückseligkeit, die als die Zufriedenheit eines Subjekts an seinem moralischen Vollzug gedacht wird. Die moralische Glückseligkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass sie „eine moralische Lust“ darstellt, „vor welche das Gesetz hingehen muss, damit sie empfunden werde“ (MS VI: 378). Auf die nähere Klärung der moralischen Glückseligkeit geht Kant zwar nicht ein. Dennoch kann man den Eindruck haben, dass sie ein Gefühlszustand ist, der sich erst dann einstellt, wenn man nach dem moralischen Gesetz handelt. In dieser Hinsicht ist die moralische Glückseligkeit manchmal mit dem durch die Vernunft erweckten Zustand der (Selbst‐)Zufriedenheit zu identifizieren, „in welchem die Tugend ihr eigener Lohn ist“ (MS VI: 377; vgl. MS VI: 389). Sie scheint von der Selbstzufriedenheit sowie von der Seligkeit, die „ein Bewusstsein seiner unabhängigen Selbstgenügsamkeit voraussetzen würde“ (KpV V: 125), entscheidend geprägt zu sein. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden liegt darin, dass die moralische Glückseligkeit in der Zufriedenheit mit der eigenen Person (vgl. MS VI: 387) besteht, während die physische in der Zufriedenheit mit den äußeren Umstände besteht. Zum Erreichen der moralischen Glückseligkeit ist ein Handelnder im Prinzip autark. Im Gegensatz dazu ergibt sich die physische Glückseligkeit aus dem, was von der Natur (in uns sowie außer uns) abhängig ist (vgl. KU V: 430). Sie ist daher auf den Naturlauf angewiesen und stellt somit manchmal eine „fremde Gabe“ (MS VI: 387) dar. Für ein eingeschränkt vernünftiges Wesen ist es daher nicht immer möglich, die physische Glückseligkeit zu erreichen. Darüber hinaus spielt die praktische Vernunft je nach der Art von Glückseligkeit eine andere Rolle. Bei der moralischen Glückseligkeit kommt es auf die Autonomie der reinen praktischen Vernunft an. Für die Erlangung der physischen Glückseligkeit
2.1 Kants Unterscheidung zwischen physischer und moralischer Glückseligkeit
15
benötigen wir dagegen die Klugheit (also die bloße praktische Vernunft), damit wir die richtigen Mittel wählen und diese umsetzen können.
2.1.1 Physische Glückseligkeit 2.1.1.1 Die hedonistische Betrachtungsweise der physischen Glückseligkeit In der kritischen Werkperiode finden sich zahlreiche Stellen, in denen die Glückseligkeit als das auf Sinnlichkeit Bezogene betrachtet wird. Die Beschreibungsformen der physischen Glückseligkeit lassen sich zunächst in zweifacher Hinsicht einteilen: die physische Glückseligkeit wird einerseits anhand der sinnlichen Lust als ein Maximum der Annehmlichkeit charakterisiert (vgl. KrV B834=A806; KpV V: 73; GMS IV: 399; KpV V: 22; KU V: 208) und andererseits unter der Bezugnahme auf den Willen als einen Handlungszweck gekennzeichnet (vgl. MS VI: 366, 367, GMS IV: 415). Dementsprechend lassen sich die verschiedenen Auffassungen der physischen Glückseligkeit als die hedonistische und als die zweckorientierte auffassen. Die hedonistische Auffassung lässt sich wiederum in drei Klassen unterteilen, auch wenn Kant keine scharfe Unterscheidung zu beabsichtigen scheint und die verschiedenen Bestimmungen z.T. parallel verwendet²: das Maximum bzw. die größtmögliche Summe der Lust (vgl. GMS IV: 393, 395; KpV V: 28, 151; KU V: 434 Fn., 442; MS VI: 480), die Zufriedenheit mit dem eigenem (sinnlichen, physischen) Zustand (vgl. GMS IV: 393,481; KpV V: 25, 61; MS VI: 385, 387, 480; RGV VI: 67) und
Es wurde bereits von einigen Kant-Interpreten auf die verschiedenen Beschreibungsformen der Glückseligkeit verwiesen. M. Gregor erwähnt die zwei Bestimmungen der Glückseligkeit bei Kant: 1) maximum amount of pleasure 2) systematic integration of (particular) ends over one’s entire life. H.J. Patons Einschätzung nach finden sich zwei verschiedene Erörterungen des Begriffs der Glückseligkeit in der GMS sowie in der KpV: Zum einen wird die Glückseligkeit mit der größtmöglichen Summe der Lust bzw. der Annehmlichkeit identifiziert, die einen Handelnden in ununterbrochener, kontinuierlicher Weise in seinem ganzen Leben begleitet. Zum anderen wird die Glückseligkeit als die ganze Befriedigung von Neigungen bzw. Bedürfnissen verstanden. Diese unterschiedlichen Begriffsklärungen wirken für Paton im Zusammenhang mit der Tugend irritierend. Denn nach der ersten Bestimmung gelten Tugenden wie Einsicht, Reichtum, Gesundheit usw. als die Mittel zum Erreichen der Glückseligkeit, aber der zweiten Bestimmung zufolge stellen die Tugenden integrale Elemente der Glückseligkeit dar. Auf diese Problematik, also auf das Verhältnis zwischen Tugend und Glückseligkeit, möchte ich hier nicht eingehen.
16
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
die Befriedigung von Neigungen bzw. Bedürfnissen (vgl. KrV B828=A800, B834=A806; GMS IV: 405, 424, 427; KpV V: 51, 73, 146; KU V: 431, 434; MS VI: 212)³. Die erwähnten Passagen haben hinsichtlich der Grundausrichtung gemeinsam, dass die Glückseligkeit durchaus als physisches Wohlbefinden bzw. Wohlergehen verstanden wird, das durch die Vermeidung von Übeln und durch beständig andauerndes Vergnügen erreicht wird. In Kants Ausführungen zur physischen Glückseligkeit soll auf zwei Momente aufmerksam gemacht werden: Die Glückseligkeit wird erstens als das Bewusstsein bzw. als die subjektive Zufriedenheit mit den Umständen betrachtet. Zweitens wird sie nicht mit einem akuten Gefühlszustand, sondern mit der Vorstellung eines ganzen Lebens, in dem für das Subjekt alles gut geht, assoziiert⁴ (vgl. KpV V: 124; MS VI: 480). Aus dem Beurteilungskriterium der Glückseligkeit als dem subjektiven Bewusstsein ergibt sich allerdings die Frage: Kann ein Handelnder, der sich in einem für ihn vorteilhaften Zustand befindet, glücklich sein, auch wenn er mit seinem eigenen Zustand nicht zufrieden ist? Oder meint Kant, dass die Glückseligkeit sowohl den günstigen physischen Zustand als auch die Zufriedenheit mit diesem Zustand beinhalten soll? Kants Antwort auf diese Frage wäre wahrscheinlich, dass Glückseligkeit ohne subjektive positive Beurteilung undenkbar ist. Dass dies Kants Antwort gewesen wäre, lässt sich durch die Beobachtung unterstützen, dass im Rahmen seiner Auffassung der Glückseligkeit die subjektive Wahrnehmung sowie die ihr entsprechende subjektive Bewertung das Wesentliche zum Ausdruck bringt.Vor allem soll darauf verwiesen werden, dass die Lust, die als „Empfindung des Angenehmen“ (KpV V: 25) unmittelbar mit der subjektiven Reflexion ver-
Diese Einteilung muss ergänzt werden, indem zwei weitere Charakteristika der Glückseligkeit, nämlich die Glückseligkeit als Idee bzw. Ideal und Glückseligkeit als „Endzweck“, hinzugefügt werden. Diese Auffassung lässt sich an folgender Textstelle ausweisen: „G l ü c k s e l i g k e i t ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, a l l e s n a c h Wu n s c h u n d W i l l e n g e h t , und beruht also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens“ (KpV V: 124; vgl. MS VI: 480). Der Ausdruck „im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht“ ist allerdings schwer zu erschließen. Es gäbe zwei Möglichkeiten: 1) Glückseligkeit stelle sich nur angesichts eines auch in allen Details gelingenden, niemals auch nur von kleinen Missgeschicken oder Scheiternserlebnissen geprägten Lebens. 2) Glückseligkeit mit der Vorstellung eines ganzen Lebens, das insgesamt gelungen ist, assoziiert wird. Auf diese Problematik werde ich im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit auseinandergesetzt ein.
2.1 Kants Unterscheidung zwischen physischer und moralischer Glückseligkeit
17
bunden ist, in Kants Ausführungen zur Glückseligkeit eine zentrale Stellung einnimmt⁵. In der angelsächsischen Literatur⁶ wird nun die Bestimmung der Glückseligkeit als größtmögliche Neigungsbefriedigung für problematisch gehalten, da Kant auf eine zweifache Weise von der Befriedigung sinnlicher Neigungen spricht: Sie bezieht sich auf eine Befriedigung aller Neigungen (vgl. KrV B834=A806; GMS IV: 399, 405; KU V: 208, 434 Fn.) einerseits und auf die Befriedigung von Neigungen in einem System oder auf die systematisch organisierte Befriedigung (vgl. GMS IV: 418; KpV V: 73; RGV VI: 58) andererseits. Zu beachten ist, dass das Pronomen „alle“ bei der ersten nicht wörtlich genommen werden darf: Hätte Kant mit diesem Ausdruck die Befriedigung aller Neigungen – sowohl der jetzt im Subjekt vorhandenen als auch der möglicherweise später zu erweckenden- gemeint, hätte er nicht zugestanden, dass ein Subjekt widersprüchliche Neigungen bzw. Bedürfnisse haben kann. Das ist aber nicht der Fall, weil Kant „das Widersinnische der Naturanlagen in ihm [dem Menschen]“ (KU V: 430) als den wichtigsten Aspekt des menschlichen Glückseligkeitsstrebens betrachtet⁷. Der glückliche Zustand vermag durch die Erfüllung aller Neigungen einer Person herbeigeführt zu werden, wobei die Bedingung erfüllt sein soll, dass diese Neigungen zumindest miteinander verträglich sind. Das Wort „alle“ soll daher als die größtmögliche Summe der Neigungsbefriedigung verstanden werden. Würde die erste Leseart so revidiert, dann scheint auf den ersten Blick kein großer Unterschied zwischen beiden Formulierungen zu bestehen. Der Unterschied liegt m. E. darin, dass in der ersten Leseart – im Gegensatz zur zweiten – keine hierarchisierende Bewertung der Neigungen unternommen wird. Aus philologischer Perspektive lässt sich die erste Variante schwer am Text belegen, da selbst von Kant oftmals erwähnt wird, dass einige Neigungen dem Glückseligkeitsstreben „großen Abbruch“ (GMS IV: 399) tun. Am Beispiel des
Diese Problemstellung erinnert uns an den Unterschied zwischen der antiken und der modernen Glücksvorstellung. Für die Antiken hängt das Erreichen der Glückseligkeit nicht nur von den inneren Tugenden, sondern auch von den äußeren Umständen ab. Dagegen legt die Moderne großen Wert auf die subjektive Beurteilung derselben durch den einzelnen. Die moderne Vorstellung der Glückseligkeit, dass ein Mensch mit keinen großen Reichtum wie Ehre auch glücklich sein kann, ist bei den Antiken undenkbar. Vgl. H.J.Paton (Paton 1962, S. 93 – 4), L.W. Beck (Beck 1974, S. 99 – 101), V.S.Wike (Wike 1994, S. 5 – 9) verweisen auf das Problem. Ein weiteres Indiz dafür lässt sich zudem in einer Reflexion der 70er Jahre finden: [S]ie [die Vernunft] ist es aber, die alle Zwecke ohne Unterschied so einschränkt, daß sie unter einer einzigen gemeinschaftlichen Regel stehen. Sie allein bestimmt die Bedingungen, unter denen sie freie Willkür unter einer selbstständigen Regel steht. Denn die Triebe, der Geschmack, die Neigungen haben keine Einstimmungen und bedürfen einer Regel, (R 7029 XIX: 230; meine Herv.)
18
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
„Podagrists“ (vgl. GMS IV: 399) lässt sich die Sichtweise Kants bildhaft verdeutlichen: Der Kranke steht vor der Wahl, entweder seine vorhandene Neigung nach gewissen Speisen zu befriedigen oder für seine Gesundheit darauf zu verzichten. Um seine eigene Glückseligkeit zu befördern, müsste er sich gegen seine aufdrängende Neigung entscheiden. Nach dieser Deutung lässt sich die Glückseligkeit schwer mit der summierten Befriedigung der Neigungen gleichsetzen. Die zweite Leseart der systematischen Neigungsbefriedigung lässt sich durch die weitere Bestimmung der Glückseligkeit untermauern. Überwiegend wird die Glückseligkeit als das Ganze bzw. die Totalität der befriedigten Neigungen (vgl. GMS IV: 418; KU V: 430) gekennzeichnet⁸, die von der Vernunft oder von der Einbildungskraft gestiftet wird. Diese Interpretation der Rede von der größtmöglichen Neigungsbefriedigung erlaubt uns, Kant so zu verstehen: dass der Handelnde den Inhalt der Glückseligkeit durch die eigene Zwecksetzung selbst gestaltet, indem er aus seinen Neigungen einige zur Befriedigung auswählt und auf andere verzichtet. Bei der Anwendung von Imperativen der Klugheit kann ein Subjekt bestimmen, welche Neigungen bzw. Bedürfnisse es als wesentliche Bestandteile seines Glückseligkeitskonzepts ansehen will.Wenn sich ein Handelnder vorstellt, worin seine eigene Glückseligkeit besteht, muss er nicht nur die Bedeutung verschiedener Neigungen und Wünsche, sondern auch das Resultat ihrer innerweltlichen Umsetzung abwägen. In diesem Sinne ist die Idee der Glückseligkeit bei jedem Menschen als ein vernünftig überlegter Lebensentwurf zu betrachten, der das Leben als ein Ganzes in den Blick nimmt. Diese Sichtweise lässt sich durch folgendes Zitat unterstützen: Natürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet, gut, d.i. unverwerflich. […] [M]an muss sie [‐natürliche Neigungen] vielmehr nur bezähmen, damit sie sich untereinander nicht selbst aufreiben, sondern zur Zusammenstimmung in einem Ganzen, Glückseligkeit genannt, gebracht werden können. Die Vernunft aber, die dieses ausrichtet, heißt Klugheit. (RGV VI: 45 Fn.; meine Herv.)
An dieser Stelle ist die Glückseligkeit als beständiges Wohlergehen und als die durch Klugheit geführte „Zusammenstimmung der natürlichen Neigungen in ei-
Weitere Belegstellen dafür sind die Folgenden: „das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustand“ (GMS IV: 393), „deren (seiner Bedürfnissen und Neigungen) ganze Befriedigung“(GMS IV: 405), „Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein“ (KpV V: 25), „Zustand eines vernünftigen Wesen in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht“ (KpV V: 124), „Bewusstsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochenen sein ganzes Dasein begleitet“ (KpV V: 22), „der Zustand, in dem es alles und immer nach Wunsch und Willen geht“(MS VI: 480), „das beständige Wohlergehen, vergnügtes Leben, völlige Zufriedenheit mit seinem Zustand“ (MS VI:480)
2.1 Kants Unterscheidung zwischen physischer und moralischer Glückseligkeit
19
nem Ganzen“ (RGV VI: 45 Fn.; meine Herv.) zu betrachten. Dieser Befund rückt eine notwendige Bedingung für das Glückseligkeitsstreben in den Vordergrund, nämlich, dass das Verlangen mehrerer Subjekte nach Glückseligkeit miteinander – sowohl auf der intrasubjektiven als auch auf der intersubjektiven Ebene – verträglich sein muss. Das Ergebnis macht ferner darauf aufmerksam, dass die Idee der Glückseligkeit, nach der der Mensch aufgrund seiner Natur strebt, eine vorund außermoralische Beschränkung der natürlichen Neigungen durch die technisch-praktische Vernunft (Klugheit) auf die Bedingungen ihrer Vereinbarkeit erfordert. Die Glückseligkeit wird von Kant nicht als Bedürfnislosigkeit oder Zufriedenheit unter allen möglicherweise gegebenen Umständen verstanden, sondern als die systematische Befriedigung aller Bedürfnisse eines Menschen, sofern sie sich auf die Bedingungen eines solchen Systems im obigen Sinne beschränkt. Die Befriedigung von Bedürfnissen gewinnt erst dann eine moralische Qualität, wenn sie auf die Bedingungen der systematischen Befriedigung der Bedürfnisse aller in einem Handlungszusammenhang stehender Menschen eingeschränkt ist. Freilich kann ein menschlicher Handelnder als ein eingeschränkt vernünftiges Wesen diesen Zusammenhang unmöglich vollständig einsehen, sodass für einen solchen Handelnden diese Einschränkung nur bedingt gelten kann.
2.1.1.2 Vom idealen bzw. ideellen Charakter des Begriffs der Glückseligkeit Die Glückseligkeit ist bei Kant mit einem beständigen Wohlergehen im ganzen Leben verbunden. In diesem Zusammenhang tritt ein besonderer Aspekt der Glückseligkeit zutage und zwar als einer Idee bzw. eines Ideals. Dieser Problematik nähere ich mich durch eine kurze Auseinandersetzung mit A. Woods Auffassung des kantischen Glückseligkeitskonzepts an. Denn Woods Auffassungscheint den wichtigen Aspekt der Glückseligkeit als einer von Vernunft gestifteten Idee oder eines auf der Einbildungskraft basierten Ideals nicht genügend zu beachten. Laut Wood kann die Frage, warum es beim Glücksstreben auf die Totalität der Neigungsbefriedigung ankommt, ausschließlich unter Berufung auf die anthropologischen Überlegungen Kants beantwortet werden⁹. Im Folgenden will ich
An dieser Stelle möchte ich gegen Woods Annahme über die der menschlichen Natur zugrunde liegende Tendenz zur „ungeselligen Geselligkeit“ kurz etwas einwenden. Wood ist der Ansicht, dass Kants verschiedene Formulierungen des kategorischen Imperativs sämtlich als Antworten auf das Problem der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen anzusehen sind (vgl. Wood 1991, S. 337). Man kann dieser Einschätzung insofern zustimmen, als das Sittengesetz der Beantwortung eines solchen Problems dienen soll. Das heißt allerdings – anders als von Wood unterstellt wird –
20
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
zeigen, dass die von Wood aufgeworfene Probleme sich im Rahmen der bereits in der kritischen Periode auffindbaren Überlegungen Kants ausreichend klären lassen¹⁰. Die von Wood zur Diskussion gestellte Frage lässt sich folgendermaßen skizzieren: Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit werde deshalb in Betracht gezogen, weil ein eingeschränkt vernünftiges Wesen aufgrund seiner Bedürfnisnatur unbedingt seine Neigungen befriedigen wollen muss. Diese Erörterung Kants wirke auf den ersten Blick nicht ganz überzeugend. Denn aus der Tatsache, dass wir die zu befriedigenden Bedürfnisse haben, folgt nicht zwingend, dass wir die maximale Befriedigung aller Neigungen erstreben. Die Frage, warum die Menschen dazu tendieren, die Befriedigung der Neigungen zu maximieren und diese Summe als Glückseligkeit aufzufassen, bleibe immer offen. Damit hängt noch eine weitere Frage zusammen: Warum müsste für das Verlangen nach Glückseligkeit unbedingt die praktische Vernunft zum Einsatz kommen, selbst wenn das Glückseligkeitsstreben grundsätzlich auf der natürlichen Bedürftigkeit basiert¹¹?
nicht, dass das Sittengesetz dadurch begründet ist. Daran lässt sich seine weitere Behauptung anschließen, dass Kants ethische Prinzipien an sich nicht apriori gültig sind, sondern auf anthropologischen sowie geschichtsphilosophischen Annahmen über die menschliche Natur basieren: „There is nothing ahistorical about Kantian ethics. It has a historically suited understanding of itself and is addressed to specific cultural needs of its own age“(Wood 1991, S. 336). Zum Gegenargument soll zunächst darauf hingewiesen werden, dass Kant das Sittengesetz von Anfang an als dasjenige konzipiert, das für alle vernunftbegabten Wesen Geltung hat. Im Zusammenhang mit den Menschen ist das Sittengesetz zwar in Form eines Imperativs formuliert. Jedoch gründet es sich nicht auf anthropologische Annahmen. Woods Standpunkt ist vielleicht z.T. auf seine methodische Herangehensweise zurückzuführen, da er Kants Ethik gegen den Formalität-Vorwurf verteidigen will. Er versucht vermittels der anthropologischen Überlegungen Kants zu zeigen, dass in Kants Ethik nicht nur der gebietende Charakter der Moral, sondern auch die sinnliche, soziale Seite des Menschen in den Blick genommen wird. Im Anschluss daran legt Wood eine wichtige Problematik dar: Es wird unklar, warum das Prinzip der eigenen Glückseligkeit für Kant dem Prinzip der Sittlichkeit direkt gegenübersteht, wenn ein eingeschränkt vernünftiges Wesen aufgrund seiner unabdingbaren Naturanlage Glückseligkeit erstreben muss. Diese Problematik behandle ich zwar im nächsten Kapitel eingehend, möchte jedoch meine Antwort darauf kurz angeben: Es sei zu beachten, dass das Streben nach eigenem Wohlergehen von Kant nicht von vornherein im Widerstreit zur Moralität gesehen wird. Kants Verständnis des Verhältnisses des Prinzips der Sittlichkeit und zur (eigenen) Glückseligkeit wird insbesondere aus folgendem Zitat ersichtlich: „Aber diese Unterscheidung des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht sofort Entgegensetzung beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, sobald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen. Es kann sogar in gewissem Betracht Pflicht sein, für seine Glückseligkeit zu sorgen“ (KpV V: 93; vgl. KpV: 61;
2.1 Kants Unterscheidung zwischen physischer und moralischer Glückseligkeit
21
Zur Klärung dieser Problematik bezieht Wood die anthropologischen Ansätze wie „die ungesellige Geselligkeit“ und „die vergleichende Selbstliebe“ ein. Kants anthropologischen Überlegungen nach sind Menschen so beschaffen, dass sie sich „nur im Vergleich mit anderen als glücklich oder unglücklich“ (RGV VI: 27) beurteilen können. Zur Befriedigung der „vergleichenden Selbstliebe“, d. h., um seine eigenen Umständen mit den Umständen anderer zu vergleichen und sie dadurch als gut zu bewerten, ist die praktische Vernunft erforderlich. Dieser Ansatz könne ferner verständlich machen, warum das Glückseligkeitsstreben bei Kant oft als etwas zur Moralität im Widerstreit stehendes dargestellt wird: Zur Erfüllung der eigenen Glückseligkeit bzw. der Selbstliebe würden die anderen Menschen nicht als Selbstzwecke, sondern als bloße Mittel zum Erreichen der Glückseligkeit behandelt. Die freundliche Behandlung anderer könne z. B. nur eine Strategie sein, die dazu beiträgt, seine eigene Absichten bzw. Plänen effektiv zu verwirklichen. Aus diesem Grund sieht Wood das Prinzip der eigenen Glückseligkeit als dasjenige an, was dem moralischen Gesetz entgegengesetzt wird¹². Im weiteren Verlauf möchte ich die von Wood skizzierte Problemlage anhand von Kants moralphilosophischen Überlegungen der kritischen Periode aus einer anderen Perspektive klären. Dadurch lässt sich zeigen, dass die von Wood gestellten Fragen durch die Ansätze der kritischen Periode noch systematischer beantwortet werden können. Zur Verdeutlichung dieser Problemlage sei Woods Fragestellung durch folgende drei Fragen wiedergegeben: Warum strebt ein vernünftiger Handelnder beim Glückseligkeitsstreben notwendig nach der Totalität aller Neigungsbefriedigung? Aus welchen Gründen wird das Glückseligkeitsstreben als der „nicht abzulehnende Auftrag der Vernunft“ (KpV V:61) bezeichnet, auch wenn es grundsätzlich aufgrund der sinnlichen Natur des Menschen gilt? Aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen sieht Kant das Prinzip der eigenen Glücksseligkeit dem Prinzip der Sittlichkeit entgegenstehend? Die zweite und die dritte Frage werden im zweiten sowie im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit behandelt. An dieser Stelle befasse ich mich mit der ersten Frage, indem ich den ideellen wie idealen Charakter der Glückseligkeit eingehend erörtere. Hierdurch lässt sich zeigen, dass die erste Frage ohne Rekurs auf Kants
RGV VI: 28, 34– 5, 44, 58 Fn.). Im Rahmen seiner Überlegungen wird niemals dem Streben nach Glückseligkeit eine Absage erteilt. Wichtig ist, welches Prinzip das oberste ist. Woods Interpretation wird leider nicht dem Textbestand gerecht: Denn nach der Aufführung aller Anlagen im Menschen wird ausdrücklich angemerkt, dass diese Anlagen der Menschen nicht dem moralischen Gesetz widerstreiten (vgl. RGV VI: 28). Diese Anlagen gelten für Kant sogar als „Anlagen zum Guten“, weil sie befördern, das moralische Gesetz zu befolgen.
22
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
Überlegungen zur Glückseligkeit in der kritischen Periode nicht ausreichend beantwortet werden kann. Zur Klärung der ersten Frage lässt sich ein Anhaltspunkt in folgendem Zitat auffinden, in dem die Glückseligkeit als eine Idee sowie ein Ideal zum Ausdruck kommt: Allein es ist ein Unglück, dass der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, dass obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt […] sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: dass alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d.i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, dass gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganzes, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustand erforderlich ist. […] Hieraus folgt, daß die Imperative der Klugheit, genau zu reden, gar nicht gebieten, […], weil Glückseligkeit nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft ist, was bloß auf empirischen Gründen beruht, von denen man vergeblich erwartet, dass sie eine Handlung bestimmen sollten, dadurch die Totalität einer in der Tat unendlichen Reihe von Folgen erreicht würde (GMS IV: 418 – 9; meine Herv.).
Zunächst gehe ich dem ideellen Charakter der Glückseligkeit nach. An dieser Stelle wird die Vorstellung der Glückseligkeit deshalb als eine Art der Idee bestimmt,weil man sie sich dazu als „ein absolutes Ganzes, ein Maximum“ vorstellt¹³. An einer anderen Stelle der GMS sieht Kant alle Neigungen in der Idee der Glückseligkeit „in einer Summe“ vereinigt (vgl. GMS IV: 399). Wie schon in der Einleitung zur Dialektik der KrV dargelegt ist, sind alle Ideen Begriffe von unbedingter Totalität oder Begriffe von einem Maximum, die niemals „in concreto dargestellt werden“ (KrV B595=A567) können. Diese Totalitätsbegriffe sind zugleich Vernunftbegriffe im strengen Sinne, weil die Totalität (das unbedingte Ganze) dasjenige ist, worauf niemals der Verstand mit seiner synthetisierende Funktion der Anschauungen, sondern nur die Vernunft allein „in ihren Schlüssen führt“ (KrV B367=A310). Vereinfacht formuliert: das Ganze ist nicht auf eine bloße Summe der einzelnen Teile zurückzuführen. Die Begriffe von einem Ganzen stellen die durch die Ver-
Die besondere Funktion der Ideen liegt darin, dass sie einen Einheitsgesichtspunkt abgeben, unter dem die Zusammengehörigkeit gewisser Erkenntnisse vorgestellt wird. Die transzendentalen Ideen können eine regulative Funktion für die Wissenschaft ausüben, insofern sie die Vorstellung eines abgeschlossenes Ganzen oder einer Totalität von Erkenntnissen sind. So gibt die Idee der Welt uns den Gesichtspunkt für die Einheit eines Zusammenhanges all dessen, was uns in unseren Erfahrungen gegeben wird (KrV B700=A672). Faktisch ist so ein Ganzes nie adäquat repräsentierbar. Die Idee der Welt ist ein focus imaginarius, und unsere systematische Erforschung der Natur ist ein prinzipiell unabgeschlossener Prozess. Jede solche Einheit von Naturordnung ist anfänglich nur eine „projektierte Einheit“ (KrV B675=A647). Wir können dennoch versuchen, die Naturphänomen unter Einheitsgesichtspunkten zusammenfassen und sie in ihrer Vielfalt zu begreifen.
2.1 Kants Unterscheidung zwischen physischer und moralischer Glückseligkeit
23
nunft gedachte systematisch-vollständige Einheit dar, welche ein endliches vernünftiges Wesen nur annähernd zu erreichen suchen kann. Kants Überlegungen nach beruht „Ideen zu bilden“ auf der wesentlichen Eigenschaft der Vernunft, vom Bedingten auf das Ganze bzw. das Unbedingte zu gehen. Ein vernunftbegabter Handelnder bildet demnach den Begriff der Glückseligkeit als eine Totalität der befriedigten Neigungen, die in sich „die Empfindung des Angenehmen“ (KpV V: 23) im Großen und Ganzen bewahrt hat. Das heißt: Beim Glückseligkeitsstreben ist jedes vernunftbegabte Wesen dazu geneigt, etwas Bedingtes (nämlich die Befriedigung der bestimmten Bedürfnisse) zu einem Unbedingten zu verlängern. Daraus ergibt sich das übergreifende Ziel eines höchstmöglichen umfassenden und dauerhaften Wohlergehens in unserem ganzen Dasein als Horizont unseres Handelns. Die Idee der Glückseligkeit ist allerdings empirisch, weil der Summierungsprozess in der Erfahrung und durch die Erfahrung seine Grenze an der möglichen Vielfalt von Neigungen hat. Diese Idee ist so groß, dass eine bloße empirische Summe nie ein endgültiges Resultat ausmachen könnte und immer offen für weitere Hinzufügung der zu befriedigenden Neigungen ist. Dies ändert jedoch nichts daran, dass diese ganzheitliche Vorstellung der Glückseligkeit handlungsrelevant ist. Denn Kants Auffassung des Glücksbegriffs räumt die Möglichkeit ein, dass die Glückseligkeitsvorstellung jedes Einzelnen auf verträgliche Weise variieren. Dieser Gedanke ist in einer Definition der Glückseligkeit auffindbar, in der die Glückseligkeit als die Befriedigung aller Neigungen bestimmt, welche „in ein erträgliches System gebracht werden“ (KpV V: 73). Der Ausdruck „ein erträgliches System“ deutet darauf hin, dass die befriedigten Neigungen, die insgesamt den Inhalt der Glückseligkeit ausmachen, innerlich und begrifflich zusammenhängen können. Auf der Basis dieser Sachlage hat die Vernunft beim Glückseligkeitsstreben die Aufgabe der Kontrolle, Ordnung und Begründung der Neigungen. Neben der Kennzeichnung der Glückseligkeit als einer empirischen Idee findet sich eine weitere Kennzeichnung der Glückseligkeit als „Ideal der Einbildungskraft“ (GMS IV: 417; vgl. KU V: 431). Glückseligkeit ist nicht nur eine Idee der vollständigen, abgeschlossenen Summe aller Neigungen. Vielmehr ist sie ein Zweck, welcher der Idee der Glückseligkeit korrespondiert und ist somit als ein Ideal zu verstehen. Um die Frage zu beantworten, aus welchen Gründen die Glückseligkeit als das „Ideal der Einbildungskraft“ zu konzipieren ist, erscheint zunächst angebracht, zusammen zu fassen, was Kant unter einem Ideal versteht. Unter einem Ideal versteht Kant „ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding“ (KrV B596=A568; meine Herv.) bzw. „die Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens“ (KU V: 232; meine Herv.). Das Verhältnis von Idee und Ideal lässt sich so beschreiben: Tugend und „die
24
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
menschliche Weisheit in ihrer ganzen Reinigkeit“ (KrV B597=A569) sind z. B. Ideen. Der Weise, d. h. ein Mensch, der der Idee der Weisheit völlig entspricht, ist dagegen ein Ideal (vgl. KrV B597=A569). Das Ideal der Vernunft beruht jederzeit auf dem bestimmten Begriff und muss zur Regel für die Befolgung und die Bewertung dienen, indem dieser Begriff uns „ein unentbehrliches Richtmaß der Vernunft“ (KrV B597=A569) abgibt.Wenn eine Idee „nicht durch Begriffe, sondern nur in einzelner Darstellung […] vorgestellt werden“ (KU V: 232; meine Herv.) kann, ist sie das Ideal der Einbildungskraft, weil die Einbildungskraft nichts anderes als „das Vermögen der Darstellung“ (KU V: 232) ist. Das Ideal der Einbildungskraft wird nun als „Ideal der Sinnlichkeit“ (KrV B598=A570) bzw. „ästhetisches Ideal“ (XXV: 99) charakterisiert. Das Ideal der Sinnlichkeit fungiert zwar als „das nicht erreichbare Muster möglicher empirischer Anschauungen“ (KrV B598=A570), kann jedoch „keine der Erklärung und Prüfung fähige Regel abgeben“ (KrV B599=A571). Die oben gestellte Frage, warum die Glückseligkeit als das Ideal der Einbildungskraft bezeichnet wird, lässt sich auf der Basis dieser Darstellung so beantworten: Aufgrund der Unbestimmtheit des Glückseligkeitsbegriffs (vgl. GMS IV: 416, 417; KpV V: 25; KU V: 172; XX: 200 Fn.) kann sich das Ideal der Glückseligkeit nicht auf einen bestimmten Begriff der Glückseligkeit gründen. Als „das nicht erreichbare Muster“ (KrV B598=A570) ist sie nur in einer einzelnen Darstellung vorzustellen. Die Rolle der Einbildungskraft hierfür lässt sich wie folgt beschreiben: Durch die Zusammenfassung der vielen verschiedenen Vorstellungen von angenehmen Gegenständen, die nur durch Erfahrungen identifiziert werden können, stellt sich die Einbildungskraft die Glückseligkeit in Gestalt eines einzelnen Dinges vor, in dem sich alle Neigungen zu einer Summe vereinigen¹⁴.
2.1.1.3 Die zweckorientierte Betrachtungsweise der physischen Glückseligkeit In Kants Werken der kritischen Periode finden sich nun zahlreiche Stellen, die sich auf die zweckorientierte Auffassung von Glückseligkeit beziehen. Die Glückseligkeit stellt zum einen „einen natürlichen Zweck“ dar, auf den sich jedes Handeln des Menschen richtet (vgl. GMS IV: 415 Fn.; KpV V: 25, 34 Fn., 64; RGV VI: 4, 6; MS VI: 388, 451). Für ein vernunftbegabtes und zugleich sinnlich affizierbares Wesen wird die Glückseligkeit für einen aufgrund dessen natürlicher Anlagen erstrebten Zweck gehalten. Zum anderen wird sie als sein „eigene[r] letzte[r] Naturzweck“ (KU
Die Rolle der Einbildungskraft im Glückseligkeitsstreben wird in den nächsten Kapiteln näher geklärt.
2.1 Kants Unterscheidung zwischen physischer und moralischer Glückseligkeit
25
V: 430) bzw. dessen „letzte[r] subjektive[r] Zweck“ (KU V: 436 Fn.)¹⁵ bezeichnet. Da es hier nicht um irgendeinen gewöhnlichen Zweck, sondern um eine besondere Art von Zweck, nämlich einen letzten Zweck, geht, gilt es zunächst als angebracht darzustellen, was unter einem letzten Zweck zu verstehen ist und in welchem Sinne die Glückseligkeit einen derartigen Zweck darstellt. Kants Ausführungen nach ist ein letzter Zweck derjenige Zweck, der in einer Hierarchie von Zwecken den höchsten Rang einnimmt. Alle übrigen Dinge in der Natur können z. B. ein System von Zwecken ausmachen, indem sie in einem hierarchischen Bezug mit einem letzten Zweck der Natur stehen¹⁶. Dies allein reicht allerdings nicht aus, um zu klären, warum die Glückseligkeit ein derartiger Zweck sein kann. Um diese Problematik zu bewältigen, wende ich mich im Folgenden den Paragraphen 82– 83 der KU zu, wobei die Glückseligkeit zunächst als Kandidat für den letzten Zweck der Natur betrachtet wird und sich letztlich als kein derartiger erweist.
Die zitierte Textstelle ist mit Vorsicht zu genießen, weil Kant seine Argumentation hier im Konjunktiv formuliert hat. Die betreffende Textstelle lautet: „Es wäre möglich, dass Glückseligkeit der vernünftigen Wesen in der Welt ein Zweck der Natur wäre, und alsdenn wäre sie auch ihr letzter Zweck“ (KU V: 436 Fn., meine Herv.). In der GMS findet sich nun ein teleologisches Argument für die Behauptung, dass Glückseligkeit nicht „der eigentliche Zweck der Natur“ des Menschen sein könne (vgl. GMS IV: 395 f). Denn der Mensch verfüge weder über genügend Instinkt noch über hinreichend Verstand, wodurch er sich über den konkreten Gehalt seiner Glückseligkeit und über die dazu führenden Mittel Klarheit verschaffen kann. Es lässt sich allerdings fragen, wie sehr man diese teleologische Argumentation im ersten Abschnitt der GMS ernst nehmen soll. Interessanterweise unterscheidet Kant einen letzten Zweck von einem Endzweck. Diese Unterscheidung wirkt auf den ersten Blick irritierend, weil beide ins Lateinische gleich als finis ultimus übersetzt werden. Streng genommen können sich beide allerdings voneinander unterscheiden: Im Vergleich zu einem letzten Zweck sind für ein Endzweck noch weitere Qualifikationen benötigt. Ein Endzweck ist erstens „unbedingt“ (KU V: 435), „unabhängig von der Natur sich selbst genug“ (KU V: 431). In diesem Sinne darf er weder als ein später zu bewirkender, noch als ein nicht von einer anderen Ursache hervorzubringender Zweck angenommen werden. Er soll deshalb derjenige Zweck sein, dessen Dasein allein der höchste Zweck ist, dem die ganze Natur unterworfen werden kann. Damit hängt die zweite Qualifikation zusammen: es bedarf zur Realisierung eines Endzwecks nichts anderem als der Idee des entsprechenden Zwecks (vgl. KU V: 434 f). Drittens kann ein System von Zwecken erst durch die Verknüpfung mit dem Endzweck vollständig werden, da „ohne diesen die Kette der einander untergeordneten Zwecke nicht vollständig gegründet wäre“ (KU V: 435). Zusammenfassend ist der Befund: Ein letzter Zweck kann erst dann ein Endzweck sein, wenn man die Existenz des entsprechenden Zwecks nur als Zweck an sich selbst, niemals als Mittel für anderen Zweck denken kann. Der Endzweck ist derjenige Zweck, der von der naturkausalen Determination unabhängig ist. Durch die Vorstellung eines Endzwecks der Natur gewinnen wir den Standpunkt, in dem die ganze Natur nicht bloß als ein Aggregat,, sondern als ein System betrachtet werden kann.
26
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
Im Paragraph 82 der KU wird argumentiert, dass der Mensch der letzte Zweck der Natur ist, weil er das einzige Wesen auf der Erde ist, das durch seine Vernunft ein bloßes Aggregat von Dingen, die an sich zwar zweckmäßig gebildet sind, zu einem System der Zwecke machen kann (vgl. KU V: 427). Es bleibt jedoch ungeklärt, in welcher konkreten Eigenschaft des Menschen man ihn als den letzten Zweck der Natur setzen kann. Ausgehend von dieser Problemlage schlägt Kant im Paragraph 83 der KU vor, zu fragen, ob man „im Mensch selber“ (KU V: 430) einen Zweck finden kann, der durch die (innerliche sowie äußerliche) Natur zu befördern ist.Wenn es etwas solches gäbe, ließe sich ein solcher Zweck als der „letzte Zweck der Natur“ kennzeichnen. Für einen derartigen Zweck kommen zwei Möglichkeiten in Betracht. Die erste ist derjenige Zweck, den die Natur (sowohl in uns als auch außer uns) unmittelbar befördert. Der von der Natur beförderte Zweck wäre der Inbegriff aller durch Natur möglicher Zwecke, den Kant „die Glückseligkeit auf der Erde“ nennt¹⁷. Bei der zweiten handelt es sich um einen Zweck, der von irgendeinem konkreten Zweck abstrahiert und sich lediglich auf die formale Bedingung zur Zwecksetzung und Zweckverfolgung bezieht. Solche „Tauglichkeit und Geschicklichkeit zu allerlei Zwecken“ (KU V: 430) nennt Kant die Kultur, im Sinne der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes, nämlich der Entwicklung dessen, was zunächst bloß Potential ist¹⁸. Kants Überlegungen nach taugt die Glückseligkeit nicht zum letzten Zweck der Natur, der durch die Verknüpfung des Menschen mit der Natur zu befördern ist. Denn die Glückseligkeit ist in der Tat kein von der Natur erreichbares Ziel. Die Unmöglichkeit, die Glückseligkeit autark zu erreichen, wird bereits in der GMS sowie in der KpV erwähnt. Dort wird betont, dass ein endliches Vernunftwesen die Bedingungen zur Verwirklichung der Glückseligkeit nicht erfüllt. Sowohl der Inhalt der Glückseligkeit als auch die Wege zu ihrer Erreichung sind auf den Na-
Für diese Auffassung der Glückseligkeit lassen sich viele Belegstellen in Kants Aufsatz Gemeinspruch ausmachen: „Summe aller Zwecke, deren Erreichung Glückseligkeit genannt wird (Gemeinspruch VIII: 282)“, „ihre Summe [Summe der Zwecke], die Glückseligkeit (Gemeinspruch VIII: 283)“, „Glückseligkeit enthält alles (und auch nichts mehr als) was uns die Natur verschaffen. Tugend aber das, was niemand als der Mensch selbst sich geben und nehmen kann“ (Gemeinspruch VIII: 283 Fn.). Glückseligkeit und Kultur lassen sich durch zwei verschiedene Gesichtspunkte kontrastieren. Der erste Gesichtspunkt beruht auf der Unterscheidung zwischen Form und Materie. Die Glückseligkeit gilt für einen Menschen als die „Materie aller seiner Zwecke auf Erden“ und die Kultur dagegen als die „formale, subjektive Bedingung von allen seinen Zwecken“. Zweitens kontrastieren sich beide aus dem Blickwinkel der Unabhängigkeit von der Natur. Die Möglichkeit der Glückseligkeit darf man allein von der Natur erwarten (vgl. KU V: 431). Im Gegensatz dazu ist die Möglichkeit der Kultur unabhängig davon, wie sich die Natur verhält.
2.1 Kants Unterscheidung zwischen physischer und moralischer Glückseligkeit
27
turverlauf angewiesen, der außer unserer Kontrolle steht. Darüber hinaus ist es für uns unmöglich, vor der Erfahrung im Detail anzugeben, was unter den Begriff der Glückseligkeit fällt, da die zu befriedigenden Bedürfnisse nur nachträglich durch das Auftreten der verschiedenen und wechselhaften Neigungen erkannt werden können. Die Argumentation von der Unmöglichkeit des autarken Erreichens der Glückseligkeit geht im Paragraph 83 grundsätzlich in die gleiche Richtung. Allerdings wird ein weiteres auffälliges Argument hinzugefügt und zwar mit der Voraussetzung, dass die Natur außer uns sich uns immer wohltätig verhält (vgl. KU V: 431): „Selbst bei der wohltätigsten Natur außer uns“ (KU V: 431) ist die Glückseligkeit für einen Mensch in ihrer Vollständigkeit nicht erreichbar, weil die menschliche Naturanlage nicht so beschaffen ist, dass sie irgendwann im Genießen sowie Besitzen aufhört. Vielmehr ist für die menschliche Gattung die Glückseligkeit nicht erreichbar, weil der Mensch selbst „an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet“ (KU V: 431). Daraus folgt, dass ein Mensch bzw. die Menschheit als Gattung im Hinblick auf die Glückseligkeit nur ein Glied in der Kette der Zwecke innerhalb der Natur ist. Bislang wurde geklärt, dass die Glückseligkeit zum letzten Zweck der Natur nicht tauglich ist, sie nimmt jedoch im Zusammenhang mit dem Endzweck, dessen Beförderung von uns vom Sittengesetz gefordert wird, einen wichtigen Platz ein. Für ein endliches, dem Gesetz der Natur unterworfenes Wesen macht zunächst die Glückseligkeit „die subjektive Bedingung [aus], unter welcher der Mensch […] sich unter dem obigen Gesetz [‐dem Sittengesetz] einen Endzweck setzen kann“ (KU V: 450). Die physische Glückseligkeit macht in dieser Betrachtung die Materie des höchsten Guts aus, indem sie durch das moralische Gesetz qualifiziert wird¹⁹. Auf diese Problematik wird nun im letzten Kapitel eingegangen.
2.1.2 Moralische Glückseligkeit 2.1.2.1 Probleme des Konzepts der moralischen Glückseligkeit Das Konzept der moralischen Glückseligkeit führt auf das Problem, inwiefern die moralische Glückseligkeit als eine Art der Glückseligkeit begriffen werden kann. Zuerst findet sich keine Textstelle,wo die moralische Glückseligkeit im Sinne eines
Ein Weiteres Indiz dafür ist die folgende Stelle: „die Bedingung, welcher die Vernunft des Menschen selbst seinen innigsten Wunsch der Glückseligkeit unterwirft (nämlich die Übereinstimmung mit seiner eigenen inneren moralischen Gesetzgebung) […] was aber seinen Zustand [‐den Zustand des Menschen als moralisches Wesens] betrifft, Glückseligkeit [sei] nur als Folge, nach Maßgabe der Übereinstimmung mit jenem Zwecke, als dem Zwecke seines Daseins, in Verbindung stehe“ (KU V: 436).
28
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
bestimmten Typs von Glückseligkeit aufgefasst wird. Die moralische Glückseligkeit bezeichnet immer mit Vorbehalt z. B. eine „gewisse“ Glückseligkeit, die man „gar wohl Glückseligkeit nennen kann“ (MS VI: 377). Die Selbstzufriedenheit, die gemäß deren Definition der moralischen Glückseligkeit zuzurechnen ist, bezeichnet Kant als „ein Analogon der Glückseligkeit“ (KpV V: 117). Zweitens wird die moralische Glückseligkeit eindeutig als ein „sich selbst widersprechendes Unding“ (MS VI: 378) gekennzeichnet. Die Tatsache, dass das entscheidendes Argument für diese Kennzeichnung in der „nicht auf empirischer Ursache beruh [enden]“ (MS VI: 378) Eigenschaft der moralischen Glückseligkeit besteht, weist darauf hin, dass die Glückseligkeit ohne ihren Bezug auf sinnliche Lust als ihr wesentlicher Bestandteil undenkbar ist. Anhand dieses Ergebnisses kommt man zu der Überzeugung, dass das Konzept der moralischen Glückseligkeit schwer das genuin Kantische Glückseligkeitsverständnis sein kann. In einigen der in den Jahren 1776 – 78 angestellten Reflexionen scheint allerdings von moralischer Glückseligkeit gesprochen zu werden (vgl. R6831, R6894, R6837, R6838, R6842). Es sei jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass dort die moralische Glückseligkeit stets im Rahmen von Einwänden gegen diesen Ausdruck erwähnt wird. Die moralische Glückseligkeit findet sich nämlich entweder im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit der stoischen Gleichsetzung von Sittlichkeit und Glückseligkeit oder bei der Erörterung des Unterschieds zwischen physischer Glückseligkeit und moralischer Zufriedenheit. Daran schließt sich eine deutliche Belegstelle an, die nach Adickes Angabe im Jahr 1769 oder 1770 erstellt wurde, in der die Vielfalt verschiedener Arten von Zufriedenheit erörtert wird, indem Wohlfahrt, Glückseligkeit, Selbstzufriedenheit und Seligkeit voneinander unterschieden werden: Die Zufriedenheit aus der Befreiung von Schmerz ist die Wohlfahrt. Die Zufriedenheit aus der Befriedigung der Neigungen Glückseligkeit. Die Zufriedenheit aus einem Besitz des Wohlbefinden, der von äußeren Dingen unabhängig ist, ist Selbstzufriedenheit. Die Selbstzufriedenheit, zu der die Welt keinen äußeren Zusatz enthält, Seligkeit (R 6616 XIX: 111).
Bevor ich mich mit Kants Auffassung der moralischen Glückseligkeit auseinandersetze, gehe ich im Folgenden der Frage nach, worin der Grund dafür liegt, dass ein durch sittlichen Vollzug entstehendes Gefühl von Kant als eine Art von Glückseligkeit bezeichnet werden kann. Anders ausgedrückt: Wie kann der sittliche Vollzug selbst ein Wohlgefallen bzw. das Gefühl der Lust erzeugen, das eine Art der Glückseligkeit ausmacht? Zur Lösung dieses Problems gehe ich auf Kants Verständnis des Lustbegriffs näher ein. Aus dem folgenden Zitat wird das grundlegende Verständnis des Lustgefühls bei Kant ersichtlich:
2.1 Kants Unterscheidung zwischen physischer und moralischer Glückseligkeit
29
Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln. Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellung zu sein. Lust ist die Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens, d.i. mit dem Vermögen der Kausalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objekts (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung, es hervorzubringen) (KpV V: 9 Fn.).
An dieser Stelle wird die Lust als ein empirisches Merkmal für die Beziehung des Handelnden zur Vorstellung eines Gegenstandes konzipiert. Für das Subjekt ist das Gefühl der Lust ein Kennzeichen, dass seine subjektiven Bedingungen dazu ausreichend sind, den begehrten Gegenstand hervorzubringen. Lust begleitet daher alle Handlungen bzw. alle Bestimmungen des Begehrungsvermögens. In diesem Sinne stellt die Lust (oder die Unlust) einen Bestandteil eines Handelns im Allgemeinen dar. Lust oder Unlust kann entweder eine Ursache des Begehrens oder dessen Folge sein. Aus dem Vorstehenden geht hervor, dass sich das Gefühl der Lust sowohl bei moralischem als auch bei moralisch neutralem Handeln einstellen kann. Es kommt auf die Frage an, ob das Gefühl der Lust entweder der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens oder eine begleitende Wirkung der Handlung ist. Es ist zu beachten, dass das Gefühl der Lust auf die moralische Glückseligkeit keinen Motivationsgrund dafür bietet, nach dem Sittengesetz zu handeln. Dieses Gefühl ist als eine Auswirkung des moralischen Handelns zu betrachten, nicht als dessen Voraussetzung.
2.1.2.2 Glückseligkeit als Seligkeit In Kants kritischen Werken finden sich nur sporadisch Stellen, an denen Glückseligkeit mit Seligkeit identifiziert wird. Beispielsweise zeigt sich diese Identifikation in der Einleitung der MS, wo Kant seine auf dem Pflichtbegriff basierte Ethik von der eudämonistischen Position abgrenzt: Der Eudämonist vollzieht nur dann seine Pflicht, wenn diese Pflicht seine Aussicht auf Glückseligkeit erfüllen kann. Demgegenüber kann ein Kantianer erst dann hoffen, „glücklich (oder innerlich selig)“ (MS VI: 377; meine Herv.) zu werden, wenn er die vom Sittengesetz gebotene Pflicht als seine Pflicht bewusst annimmt. Hier wird Seligkeit als eine Art der Glückseligkeit aufgefasst, da Kant mit der Klammerbemerkung „innerlich selig“ das Glücklichsein näher bestimmt. Eine weitere Belegstelle findet sich in der Dialektik der KpV, wo die Seligkeit „unter dem Namen der Glückseligkeit“ (KpV V: 129) gefasst wird: Die Seligkeit wird hier als ein Gegenstand der Hoffnung auf einen zukünftigen, nicht von Menschen in der sinnlichen Welt erreichbaren Zustand dargestellt. Zwar wird hier die Seligkeit „unter de[n] Namen der Glückseligkeit“ subsumiert, allerdings wird der Zusammenhang zwischen Seligkeit und
30
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
Glückseligkeit nicht deutlich. Denn die Glückseligkeit wird oft der Seligkeit entgegen gesetzt (vgl. KpV V: 25; R6616 XX: 111). Anschließend an die definitorische Erörterung der Glückseligkeit als der „Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein“ wird geklärt, warum für ein endliches Vernunftwesen die Glückseligkeit als ein unabdingbares Ziel in Frage kommt, indem gezeigt wird, dass für dieses Wesen keine Seligkeit, die „die unabhängige Selbstgenügsamkeit“ (KpV V: 25) voraussetzt, verfügbar ist. Diese Sichtweise lässt sich weiterhin durch Kants Vorlesung über Rationaltheologie sowie die Reflexionen untermauern²⁰. Bemerkenswert ist, dass Kant hinsichtlich der Glückseligkeit und der Mittel zu deren Verwirklichung stets die eingeschränkten Fähigkeiten des Menschen hervorhobt. Aufgrund seiner epistemischen Unzulänglichkeit kann das einzelne Handlungssubjekt nicht mit Gewissheit sagen, was Glückseligkeit begrifflich bedeutet und wie es diese Glückseligkeit in der Welt verwirklichen kann. In epistemischer Hinsicht ist anzumerken, dass alle Elemente der Glückseligkeit sowie die Mittel zu ihrer Verwirklichung nicht a priori, sondern nur durch Erfahrungen erkannt werden. Darüber hinaus muss die Glückseligkeit zwar in der Sinnenwelt hervorgebracht werden, doch hängt deren Verhalten nicht von uns ab, widerstrebt uns sogar manchmal. Was implizieren aber diese faktischen Hindernisse für die autarke Verwirklichung der Glückseligkeit? Erstens weist dies darauf hin, dass in der kritischen Phase ein physisches Verständnis von Glückseligkeit der Seligkeit an die Seite gestellt wird. Es sind einige Spuren erkennbar, an denen sich die Glückseligkeit auf Seligkeit bezieht, jedoch ist dies längst nicht mehr der einzige Begriff, den Kant von Glückseligkeit entwickelt. Zweitens deutet dies an, dass man aufgrund des physischen Glücksverständnisses sowie der menschlichen Unzulänglichkeit zu ihrer Verwirklichung dazu genötigt scheint, einen Urheber der Natur, der den Naturverlauf unserer Hoffnung gemäß leiten kann, zu postulieren.
Ein deutliches Indiz für Kants terminologische Unterscheidung zwischen Glückseligkeit und Glück bzw. Seligkeit ist das Folgende: „Das Wort Glückseligkeit, wenn es nicht ein Vergnügung über das Moralische sondern Unmoralische Gute ist, ist nicht Moralisch: Sondern bloß Glück: die höchste Lust aber über seine eigene Moralität ist Seligkeit“ (XXVII: 18 in Nachschrift Herders). Der springende Punkt ist nun, dass Seligkeit eine besondere Art von Selbstzufriedenheit darstellt, weil (im Vergleich zur Wohlfahrt und Glückseligkeit) nur die Selbstzufriedenheit und Seligkeit ausschließlich in einem Bezug zum Subjekt bzw. dem Bewusstsein seiner eigenen Moralität stehen (vgl. R6616 XIX: 111).
2.2 Kants Konzeption von Glückseligkeit in der vorkritischen Werkperiode
31
2.2 Kants Konzeption von Glückseligkeit in der vorkritischen Werkperiode K. Düsing hat in einem Aufsatz die These aufgestellt, dass Kant in den Reflexionen der siebziger und der frühen achtziger Jahre einen Begriff intellektueller Glückseligkeit konzipierte (Düsing 1971). In der deutschsprachigen Literatur wird Düsings Interpretation für überzeugend gehalten und bis heute vertreten und diskutiert (vgl. Albrecht 1974, 1978;Wimmer 1990; Römpp 1991; Forschner 1993; Himmelmann 2003). In der angelsächsischen Literatur wird dagegen das Konzept der Glückseligkeit, das sich in den vorkritischen Reflexionen findet, erst in jüngerer Zeit ausdrücklich zum Thema gebracht. P. Guyer versucht in seinem Buch, ein Konzept der Glückseligkeit aus den Reflexionen der 70er und 80er Jahre in eigenartiger Struktur zu rekonstruieren (Guyer 2000). Zwischen Düsing und Guyer ist nun umstritten, in welchem Umfang von einem durchgängigen Begriff der Glückseligkeit bei Kant gesprochen werden kann: In der deutschsprachigen Literatur wird überwiegend der Standpunkt verteidigt, dass das vorkritische Verständnis der Glückseligkeit sich von dem kritischen deutlich unterscheidet. Dagegen basiert die Studie von Guyer auf der Überzeugung, dass sich im Hinblick auf das Verhältnis von Moral und Glückseligkeit ein im wesentlich konsistenter, systematischer Gedankengang von der vorkritischen bis zur kritischen Periode findet. In dieser Arbeit richtet sich meine Aufmerksamkeit nun auf die prinzipielle Ebene der Problematik, also darauf, welches Konzept der Glückseligkeit sich aus den Reflexionen der 70er und 80er Jahre rekonstruieren lässt. Vor der ausführlichen Textklärung sei angemerkt: Da der handschriftliche Nachlass fragmentarisch und vorläufig ist, kann von den Reflexionen eine gründliche, alle Aspekte enthaltende Bearbeitung des Begriffs der Glückseligkeit schwer erwartet werden. Die Berücksichtigung der Reflexionen ist trotzdem zum tieferen Verständnis der publizierten Werke von Kant von Bedeutung, da sie uns die Kontinuität und Brüche in der Entwicklung seines Denkens zeigen. Sie zeigen ferner die Bandbreite alternativer Konzepte, die Kant für erwägenswert hält. Im Rahmen der Textanalyse werden auch die Reichweite und Grenzen der bislang von Kant-Forschern vorgetragenen Interpretationsansätze untersucht.
2.2.1 Fragestellung und drei Thesen Wie in den letzten Abschnitten gezeigt, wird die Glückseligkeit in zahlreichen Textstellen grundsätzlich als physisches Wohlergehen oder (größtmögliche) Neigungs- oder Bedürfnisbefriedigung aufgefasst und somit als eine unabdingbare Forderung der menschlichen Natur verstanden. Diese Auffassung scheint
32
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
aber durch die aus den Reflexionen entnommenen Aussagen über Glückseligkeit gestört zu werden. Denn sie erwecken den Anschein, als gehe es um ein anderes Glücksseligkeitskonzept, das als etwas von der Neigungsbefriedigung Unabhängiges anzusehen ist. Die in den Reflexionen zutage tretenden Auffassungen lassen sich folgendermaßen rekonstruieren: 1. Die Glückseligkeit besteht grundsätzlich nicht in einem Wohlbefinden, das nur „äußerlich zufällig“ ist, sondern in einem Wohlbefinden, das sich durch etwas, das „auf unserer eigenen Wahl beruht“, einstellt (R7202 XIX: 278).
2.
Freiheit ist „der Grund“ (R6844 XIX: 177), „die Ursache“ (R7199 XIX: 273) und „das Principio“ (R7200 XIX: 274) der Glückseligkeit. „Die wahre Glückseligkeit“ wird in diesem Zusammenhang als diejenige konzipiert, die sich „aus Freiheit überhaupt“ ergibt (R 7199 XIX: 273).
Auf den ersten Blick scheint diese Rekonstruktion Düsings Standpunkt zu stützen, wonach Kant in der vorkritischen Periode einen „intellektuellen“ Begriff der Glückseligkeit vertreten hat. Durch die eingehende Erläuterung der einschlägigen Textstellen wird die Richtigkeit von Düsings Standpunkt geprüft werden. Um ein angemessenes Verständnis der oben erwähnten Interpretation zu gewinnen, sei noch detailliert erläutert, welchen Anspruch die Moral erhebt. In den Reflexionen lässt sich der Anspruch der Moralität zunächst in zwei Grundzügen bestimmen. Zum einen beansprucht die Moralität „den einstimmigen Gebrauch der Freiheit“ (bzw. des Willens) (vgl. R6911, R6958, R7197, R7202). Bezogen darauf enthält die Moralität nichts anderes als die formalen Bedingungen, „unter denen allein die Freiheit mit sich selbst stimmen kann“ (R7197 XIX: 270). Dementsprechend liegt die hauptsächliche Aufgabe der Moralität darin, den freien Gebrauch der Willkür im Umgang mit sich und anderen nach allgemeinen Gesetzen in Übereinstimmung zu bringen (vgl. R6958, R6969, R6971, R7200, R7202, R7204). Aus dieser einheitsstiftenden Funktion der Moralität folgt, dass der gesetzmäßige Gebrauch des Willens nicht nur als die Form der Moral, sondern auch als die der Glückseligkeit gilt. Die Gesetzesform der Moralität leitet die Wahl der richtigen Ziele als Mittel zum Erreichen der Glückseligkeit an. Dabei ist zu berücksichtigen, ob meine Zwecke „mit sich einstimmen“ und mit den Zwecken anderer zusammen bestehen können (These 1). Zum anderen erhebt die Moralität den Anspruch auf Selbstbestimmung bzw. Selbstherrschaft. Da ein vernünftiger Handelnder bei der Selbstbestimmung nach den allgemeinen Gesetzen eine besondere Art von Wohlgefallen empfindet – eine psychologische Voraussetzung Kants – hat er in sich die „innere Quelle der
2.2 Kants Konzeption von Glückseligkeit in der vorkritischen Werkperiode
33
Glückseligkeit“ (R7260 XIX: 296). Anders ausgedrückt kann derjenige, der nach dem Gesetz für den freien Gebrauch des Willens handelt, glücklich im wesentlichen Sinne dieses Wortes sein, auch wenn die Umstände dem subjektiv gewünschten entgegenstehen können (These 2). Daraus folgt die Möglichkeit, über sein Tun und Lassen und somit über den Weg und den Sinn des eigenen Lebens selbst und jederzeit neu zu bestimmen. Wer diese Chance und die Last, die darin liegt, preisgibt, der muss sein eigenes Leben, somit seine eigene Identität, verfehlen (These 3). Aus dem zweifachen Anspruch der Moralität, der aus den Reflexionen der 70er und 80er Jahre entnommen wird, ergeben sich die folgenden drei Thesen: These 1 Die gesetzmäßige Form der Moral, die dem freien Gebrauch der Vernunft zugrunde liegt, gilt zugleich auch als die Form der Glückseligkeit. These 2 Mit dem moralischen Handeln ist eine besondere Art von Wohlgefallen, nämlich die Selbstzufriedenheit, verbunden, die als „Grundstück der Glückseligkeit“(XIX: 278, R7202) betrachtet wird. These 3 Die Form der Moral fungiert als ein Prinzip für die Einheit des Wollens, die weiterhin die Einheit des Lebens des Akteurs sowie seine Identität gewährleistet. Im weiteren Verlauf setze ich mich mit den oben genannten Thesen eingehend auseinander.
2.2.2 Drei Thesen a.
Zur ersten These: Die gesetzmäßige Form der Moral, die dem freien Gebrauch der Vernunft zugrunde liegt, gilt zugleich auch als die Form der Glückseligkeit.
Kants allgemeine Ansicht zum Verhältnis von Moral und Glückseligkeit in den vorkritischen Reflexionen lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Insofern die Glückseligkeit in der Neigungsbefriedigung besteht, kann die systematische Einteilung der Glückseligkeit (sowohl im Leben jedes Individuums als auch in der ganzen Gesellschaft) nicht unberücksichtigt bleiben. Kant zufolge ist die auf eine systematische Weise maximierte Glückseligkeit erst dann möglich, wenn jeder nach dem Prinzip der Moralität handelt. Denn die Moralität allein liefert ein apriorisches Prinzip für die Universalisierung und Systematisierung der Glückseligkeit. Das Prinzip der Moralität führt zu der moralisch erlaubten Neigungsbefriedigung auf folgende Weise: Durch das Prinzip der Moral sind diejenigen Neigungen erlaubt, deren Befriedigung in einem Subjekt ein System bilden kann und sich mit der Neigungsbefriedigung aller
34
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
anderen Menschen verträgt. Kants Auffassung, nach der die einheitsstiftende Funktion der Moralität die notwendige Bedingung der allgemeinen Glückseligkeit ist, wird besonders aus folgendem Zitat ersichtlich: Unsere Handlungen müssen darum nicht den Triebfedern und Anlockungen oder Abschreckungen der Sinnlichkeit unterworfen sein, weil diese immer ein Privatverhältnis auf das nützliche haben. […] Da nun die Sittlichkeit sich auf die Idee der allgemeinen Glückseligkeit aus freiem Verhalten gründet, so werden wir genötigt, selbst die Ursache und Regierung der Welt nach einer Idee, nämlich demjenigen, was alles einstimmig macht oder durch einstimmige Bestrebung zur Glückseligkeit auch diese selbst besorgt, zu gedenken (R 6958 XIX: 213 – 4; meine Herv.).
Durch die Unterordnung der einheitsstiftenden Form der Moralität gewinnt das Verlangen nach eigener Glückseligkeit nicht nur eine moralisch berechtigte Form. Vielmehr stellt diese Form die notwendige Bedingung zum Erreichen der eigenen Glückseligkeit dar²¹. Kants Unterscheidung zwischen Form und Materie der Glückseligkeit trifft man in den Reflexionen oftmals an. Sie zeigt die zwei nicht aufeinander reduzierbaren Dimensionen, die für die Wirklichkeit der Glückseligkeit konstitutiv sind. Ein apriorisches, formales Konzept der Allgemeinheit als Form der Moralität gilt auch als die Form der Glückseligkeit. Die partikularen Neigungen, die nur von der Natur gegeben sind, machen dagegen die Materie der Glückseligkeit aus. In diesem Sinne sei die Form der Glückseligkeit von jedem Subjekt selbst aufgestellt, auch wenn die Materie der Glückseligkeit sinnlich ist und somit von außen gegeben werden muss. Ein springender Punkt ist, dass sich die einheitsstiftende Funktion der Moralität nicht nur mit der intersubjektiven, sondern auch mit der intrasubjektiven Ebene befasst. Diese Sichtweise lässt sich durch die folgenden Zitate untermauern: [S]o muss sie [‐die Freiheit] […] aus Principien der Einheit sowohl mit seiner eigenen Person und zugleich in Ansehung der Gemeinschaft mit anderen [bestimmen], weil Freiheit, die nicht äußerlich nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimend ist, sich selbst in der Glückseligkeit hindert in der Zusammenstimmung aber sie durchaus befördert (R7200 XIX: 274). Das vornehmste Problem der Moral ist dieses: Die Vernunft zeigt, dass die allgemeine durchgängige Einheit aller Zwecke eines vernünftigen Wesens sowohl in Ansehung seiner selbst als anderer, mithin die formale Einheit im Gebrauch unserer Freiheit, d.i. die Moralität,
Diese Auffassung lässt sich durch folgendes Zitat untermauern: „Die Funktion der Einheit a priori aller Elemente der Glückseligkeit ist die notwendige Bedingung der Möglichkeit und das Wesen derselben [der Glückseligkeit]. Die Einheit a priori aber ist die Freiheit unter allgemeinen Gesetzen der Willkür, d.i. Moralität“ (R7202 XIX: 277).
2.2 Kants Konzeption von Glückseligkeit in der vorkritischen Werkperiode
35
wenn sie von jedermann ausgeübt würde, die Glückseligkeit durch Freiheit hervorbringen (R7204 XIX: 283).
b. Zur zweiten These: Mit dem moralischen Handeln ist bereits eine besondere Art von Wohlgefallen, nämlich die Selbstzufriedenheit, verbunden, die als „Grundstück der Glückseligkeit“ (R7202 XIX: 278) angesehen wird. Diese These legt m. E. eine psychologische Voraussetzung Kants nahe: Ein vernunftbegabter Handelnder kann insofern glücklich sein, als er seine günstigen Umstände nicht als eine Wirkung der Natur, die ihm als ein bloßer Zufall vorkommt, sondern als sein eigenes Werk ansehen kann. Da moralisches Handeln auf der Ausübung seiner Freiheit basiert, hat das Subjekt am moralisch Guten notwendigerweise Wohlgefallen. Die deutlichsten Belegstellen dafür lassen sich in dem losen Blatt Duisburg (R 7202 XIX: 276 – 282) ausmachen. Kants Überlegungen über das Verhältnis zwischen Moral und Glückseligkeit gehen zunächst von den verschiedenen Arten des Wohlgefallens aus. Am schönen Gegenstand haben wir zwar Wohlgefallen, aber dies kann nicht für jedes vernunftbegabte Wesen gelten. Denn dies ist abhängig von der sinnlichen Beschaffenheit eines Subjekts. Im Gegensatz dazu gefällt uns das moralisch Gute notwendig. Denn das, was in diesem Fall unser Wohlgefallen festlegt, ist keine subjektive Beschaffenheit, sondern das Gesetz der Freiheit. „Die Gesetze, welche die Freiheit der Wahl in Ansehung alles dessen, was gefällt, mit sich selbst in Einstimmung bringen, enthalten dagegen vor jedes vernünftiges Wesen, das ein Begehrungsvermögen hat, den Grund eines notwendigen Wohlgefallens“ (R7202 XIX: 276). Auf der Grundlage dieser Auffassung zeigt sich, dass wir insofern beim Glückseligkeitsstreben ein notwendiges Wohlgefallen haben, als wir unser Handeln zum Erreichen der Glückseligkeit nach dem Gesetz der Freiheit führen. Dieser Befund lässt sich durch folgendes Zitat bestätigen: Das Principium der Einheit der Freiheit unter Gesetzen stiftet […] einen inneren Quell der Glückseligkeit, den Natur nicht geben kann und wovon wir selbst Urheber sein.Wir befinden uns alsdenn in einer Verstandeswelt nach besonderen Gesetzen, die moralisch sind, verbunden und darin gefallen wir uns (R 7260 XIX: 296).
An dieser Stelle vertritt Kant die Ansicht, dass wir notwendig Wohlgefallen haben, wenn wir uns als der intellektuellen Welt zugehörig ansehen und uns dadurch als diejenigen Wesen anerkennen, die über die selbstständige Bestimmungsfähigkeit verfügen können. Diese Einschätzung trägt der Tatsache Rechnung, dass die Besonderheit des Menschen in der Fähigkeit liegt, sich durch seine Vernunft mit der
36
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
Wahl der Handlungsziele sowie seiner Lebensform selbst zu schaffen. In diesem Zusammenhang wird der Mensch oftmals als „Urheber der Ziele seines Handelns nach Begriffen“ bestimmt (R7199 XIX: 272; vgl. R7248 XIX: 294). Dadurch unterscheidet sich der Mensch grundsätzlich vom Tier. Nicht nur in dem Sinne, dass der Mensch anstelle von Instinktausstattung über seinen Verstand verfügt, sondern auch in dem Sinne, dass er seine Ziele unabhängig von der Natur selbst zu setzen vermag. Bemerkenswert ist, dass sich der Mensch in seiner unabhängigen Tätigkeit seines Lebens sowie seiner Selbstgestaltung gefällt. Er findet bei seinem Streben das befriedigende Gefühl in Zielen, die er selbst konzipiert und realisiert. Daraus wird ersichtlich,warum die „auf eigener Wahl“ (R7202 XIX: 276) beruhende Glückseligkeit für Kant in Betracht kommt: Glückseligkeit besteht im Wohlbefinden, „sofern es nicht äußerlich zufällig ist, auch nicht empirisch abhängend“ (R7202 XIX: 276). Zum angemessen Verständnis dieser Textstelle ist aber zu beachten, dass es sich um Glückseligkeit handelt, deren materieller Bestand immer auf dem Spiel steht. Zumindest ist nun festzuhalten, dass Kants Einschätzung nach für ein vernünftiges Wesen das Wohlgefallen, das ihm ohne sein eigenes Zutun zufällt, schwer mit der Glückseligkeit identifiziert werden kann. Eine schärfere terminologische Unterscheidung soll an dieser Stelle getroffen werden: In der Freiheit des Willens liegt die Wurzel der Selbstzufriedenheit. Anders ausgedrückt: In der Selbstzufriedenheit verkündigt sich, dass die betreffende Person sich als wertvoll beurteilt. Nun stimmen die Selbstzufriedenheit und die Glückseligkeit nicht notwendig überein. Dieser Befund zeigt, warum Kant den Gedanken von „Moral als Form der Glückseligkeit“ an den Gedanken von „Tugend als den inneren Quell der Glückseligkeit“ anschließt. Daher besitzt der tugendhafte in sich selbst die Glückseligkeit (in receptivitate), so schlimm auch die Umstände sein mögen. Er hat in sich (so viel an ihm ist) das principium der epigenesis der Glückseligkeit (R6867 XIX: 186; meine Herv.).
An dieser Stelle wird die Tugend als „das principium der epigenesis der Glückseligkeit“ gekennzeichnet²², weil der Tugendhafte unter allen Umständen glück-
Zum angemessenen Verständnis dieses Zitates soll geklärt werden, was man unter „epigenesis der Glückseligkeit“ zu verstehen hat. Einer einschlägigen Studie des kantischen Systembegriffs zufolge (Zöller 2001, S. 56 – 68) hat das biologische Modell der epigenetischen Entwicklung des Organismus das kantische Systemverständnis stark beeinflusst. Der Epigenetizismus lässt sich durch einen Vergleich mit der mit ihm konkurrierenden Theorie, dem Präfomationismus, erläuten: Der Präformationslehre zufolge enthalten Keime bzw. ursprüngliche Anlagen in sich bereits das voll ausgebildete Individuum als en minature. In diesem Sinne sei das Individuum nur das „Edukt“ der ursprünglichen Anlage (vgl. KU V: 423). Der Epigenetizismus dagegen rechnet mit der „Produktion“ von Teilen (Gliedern), die im Keim nur als Entwicklungsmöglichkeit vorhanden waren. Auf die Analogie von Organismus und Erkenntnissystem rekurrierend,verweist Zöller darauf, dass
2.2 Kants Konzeption von Glückseligkeit in der vorkritischen Werkperiode
37
lich sein kann, auch wenn seine Umstände schlecht sein mögen. Diese Einschätzung Kants scheint auf den ersten Blick der stoischen Auffassung nahe zu liegen. Jedoch darf sie nicht als eine Feststellung der analytischen Beziehung zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit interpretiert werden. Zur Deutung dieser Textstelle sollten m. E. die in Klammern eingefügten Zusätze, nämlich „in receptivitate“, beachtet werden: Das Prinzip der „epigenesis der Glückseligkeit“, das der Tugendhafte in sich hat, entspricht nicht dem kausalen, bewirkenden Prinzip der Glückseligkeit, sondern dem der Form der Glückseligkeit. Der Tugendhafte kann in diesem Sinne die Glückseligkeit als solche noch nicht verwirklichen. Dazu bedarf es der Mitwirkung der Natur, die der Form der Glückseligkeit „die Materie“ liefert. Kant sieht ein, dass die Verwirklichung des gewünschten Zustands von Umständen abhängt, die nicht zur Disposition stehen: Ausgehend von dieser Einsicht wird die minimale, aber zugleich notwendige Bedingung der Glückseligkeit angegeben, die das Subjekt selbst, ohne Beiträge der äußerlichen Ursachen, erfüllen kann: Diese Bedingung wird von Kant als „Selbstzufriedenheit“ bzw. „Wohlgefallen a priori“ (R7029 XIX: 230) oder als „wahre Glückseligkeit“ (R6907 XIX: 202; R7199 XIX: 272) gekennzeichnet, die aufgrund des Bewusstseins unserer Spontaneität entsteht. Diese Sichtweise impliziert einerseits, dass der freie Gebrauch der Vernunft allein bestimmt, worin unsere Glückseligkeit bestehen soll. Dadurch wird unsere Glückseligkeit sicherer gewährleistet, in dem Sinne, dass sie unab-
die von Kant favorisierte Theorie der epigenetischen Entwicklung das apriorisch bestimmte Verhältnis zwischen einem System als Ganzem und dessen Teilen verständlicher macht: Dem Epigenetizismus zufolge kommen die Teile vom Ganzen, das in Keimform angelegt ist, zustande. Bemerkenswert ist dabei, dass durch das Ganze vorab bestimmt wird, welche Teile herausgebildet werden, wie groß sie sind und wie sich die Teile zueinander verhalten. Auf der Basis dieser Deutung lässt sich Kants Aussage, das Moralgesetz sei „principium der epigenesis der Glückseligkeit“, so klären: das Moralgesetz enthält das Ganze bzw. die Idee des Ganzen. Das Moralgesetz gilt somit als das Prinzip für die spezifische apriorische Einteilung und Anordnung der Teile, die für die Glückseligkeit konstitutiv sind. Grob gesagt fungiert das Moralgesetz als Seinsbedingung der Glückseligkeit. Diese These wirkt auf den ersten Blick allerdings zweifelhaft. Denn man kann sich sehr wohl Situationen, in denen jemand seine Glückseligkeit – insbesondere bei Güterknappheit – auf Kosten auf anderen vermehren kann. Dann stellt sich die Frage, wie Kant überhaupt zu jener Überzeugung kommen kann, das Moralgesetz sei „principium der epigenesis der Glückseligkeit“. Vorgreifend lässt sich auf diese Frage kurz so antworten: Wie im fünften Kapitel gezeigt wird ist die Glückseligkeit, die durch die Befolgung des Moralgesetzes garantiert wird, „die allgemeine Glückseligkeit“ im Sinne der physischen Wohlfahrt der ganzen Menschheit. Das Moralgesetz fungiert nicht als „principium der epigenesis“ der eigenen Glückseligkeit, die auf Kosten des kollektiven Wohls gewonnen wird. Vielmehr ist es das „principium der epigenesis“ der allgemeinen Glückseligkeit, in der „meine eigene Glückseligkeit mit enthalten ist“ (KpV V: 129).
38
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
hängiger von den Faktoren ist, auf die wir keinen Einfluss ausüben können. Andererseits impliziert diese Sichtweise einen wert-theoretischer Ansatz: Die Tugend hat Kant zufolge unbedingten Wert. Dieser Wert beruht nun auf „der mit sich selbst nach ursprünglichen Regeln einstimmigen Freiheit“ (R6861 XIX: 183). Des Weiteren macht der unbedingte Wert der Tugend ihren Urheber unbedingt gut und stellt somit die grundlegende Bedingung zum Wert der anderen übrigen Dinge, die nur den bedingten Wert haben, dar. c. Zur dritten These: Die Form der Moral fungiert als ein Prinzip für die Einheit des Wollens, die weiterhin die Einheit des Lebens des Akteurs sowie seine (numerische und qualitative) Identität gewährleistet. Im Rahmen der Klärung der ersten These haben wir die Frage unbeantwortet gelassen, in welcher Art und Weise die Moralität die Einheit eines Subjekts verbürgt. Zum Schlüssel dafür kann m. E. Kants Parallelisierung der einheitsstiftenden Funktion der Moralität mit der transzendentalen Einheit der Apperzeption dienen. In den Reflexionen steht die Moralität, die als „die einstimmig gebrauchte Freiheit“ (R7197 XIX: 270) oder als „die mit sich stimmende Freiheit“ (R7292 XIX: 281; vgl. R6911, R6958, R6971) bestimmt wird, oftmals in Analogie mit der Einheit der Apperzeption (vgl. R6861 XIX: 183; R7204 XIX: 283; R7202 XIX: 280). Zum angemessenen Verständnis dieser Analogie lässt sich ein Ansatzpunkt in Kants Erörterung der einheitsstiftenden Funktion der Moralität finden. Moralität verleihe dem Wollen eine einheitliche Form gegen den dauernden Wechsel und die Vielfältigkeit des Lebens (vgl. R6862 XIX: 183): Wenn wir einem Akteur Moralität zusprechen können, dann hat er eine Einheit des Wollens, die weiterhin die Einheit seines Lebens sowie seine Identität gewährleistet. In den folgenden Textstellen zeigt sich, welche Bedeutung dem freien Gebrauch der Vernunft im Hinblick auf die Einheit des Subjekts zukommt: Denn die Selbstbestimmung aus Principien gibt allein einen Grund der Einheit der Praecognition aller Handlungen her, und, da die Vernunft als eine bestimmende Ursache von aller Zeit und Bedingung der Sittlichkeit unabhängig auf alles Dasein des vernünftigen Wesens geht, so ist dieses ein Principium der freien Handlungen in Beziehung auf ewige Dauer (R7204 XIX: 283). Die Apperzeption der Empfindung ist die Substanz, die der Selbstständigkeit ist die Person. Der Wert der Person beruht auf der mit sich selbst nach ursprünglichen Regeln einstimmigen Freiheit (R6861 XIX: 183).
Die Einheit des Subjekts beim Handeln, die erst in der gesetzmäßigen Ausübung der Freiheit besteht, ist in Analogie zu der Einheit der Apperzeption ein Produkt der kognitiven Spontaneität. Die Einheit der (moralischen) Persönlichkeit als die
2.2 Kants Konzeption von Glückseligkeit in der vorkritischen Werkperiode
39
Folge der einheitlichen Ausübung des Willens kann nicht als eine Wirkung der Natur, sondern nur als ein Produkt unserer freien Vernunft verstanden werden. Die Selbstbestimmung zur Glückseligkeit besteht in der „wohlgeordneten Freiheit“(R7202 XIX: 276) bzw. im dem Sittengesetz entsprechenden Gebrauch der Willkür.Wenn beim Glücksstreben irgendeine bestimmte Neigungsbefriedigung in Frage kommt, wird diese Neigung lediglich unter der Bedingung erfüllt, dass sie vom Subjekt in die Maxime aufgenommen werden kann. Wenn die jeweilige Maxime diejenige ist, die für jedes vernünftige Wesen als ein allgemeines Gesetz gelten kann, dann ist die entsprechende Neigungsbefriedigung von moralischer Bedeutung. Diese Auffassung lässt sich m. E. durch eine Textstelle aus der RGV (RGV VI: 23 f), die von H.E. Allison „incorporation thesis“ (im Folgenden: „IT“) genannt wird, unterstützen: Die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, dass sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, a l s n u r s o f e r n d e r M e n s c h s i e i n s e i n e M a x i m e a u f g e n o m m e n h a t (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen. Allein das moralische Gesetz ist für sich selbst im Urteil der Vernunft Triebfeder, und wer es zu seiner Maxime macht, ist m o r a l i s c h gut (RGV VI: 23 f; Herv. im Orginal).
Aus dem Zitat folgt, dass die sinnlichen Neigungen das Subjekt nicht direkt bestimmen können, zu handeln, um die jeweiligen Neigungen zu befriedigen. Die eingedrungene Neigung wird erst dann erfüllt, wenn der Akteur die Befriedigung dieser Neigung in sein subjektives Prinzip der Handlung, nämlich in die Maxime, aufnehmen kann. Auf der Grundlage dieser Interpretation lässt sich Kants Parallelisierung der Moralität als „die Selbstbestimmung aus Prinzipien“ (R7204 XIX: 283) mit der einheitlichen Apperzeption wie folgt entfalten: Im Allgemein wird die Einheit der Apperzeption als die durchgängige Mir-Zugehörigkeit aller meiner Vorstellung aufgefasst. Die Rede von meinen Vorstellungen ist Kant zufolge dadurch möglich, dass die Vorstellungen in einem einzigen Selbstbewusstsein zusammengehören. Dafür muss das „ich denke“ alle meine Vorstellungen begleiten können. Analog dazu muss das „ich nehme auf“ jedes vernünftige freie Handeln begleiten können, damit die Rede von Handlungen als meinen Handlungen sinnvoll sein kann. Die sinnlichen Neigungen beziehen sich erst dadurch auf den Sachverhalt, dessen Verwirklichung ich beabsichtige, indem ich sie in meine Handlungsmaxime aufnehme. Zu beachten ist, dass das „ich nehme auf“ zwar denkbar, aber nicht empirisch erkennbar ist. Denn das „ich nehme auf“ ist nur ein Ausdruck der Spontaneität der Vernunft, die nur intellektuell ist. Durch diesen Akt der Auf-
40
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
nahme stehen sinnliche Neigungen in einem systematischen Zusammenhang unter Gesetzen des Willens. Des Weiteren ist darauf aufmerksam zu machen: Kant zufolge stellt die „mit sich selbst einstimmende Freiheit“, die eine Analogie zur Einheit der Apperzeption aufweist, sowohl die numerische als auch die qualitative Identität eines Subjekts als einer Person heraus. Die Einheit seiner Zwecke, die aus selbstgegebenen Grundsätzen resultieren und von dem obersten Grundsatz begleitet werden, verbürgt dem Subjekt die eigene Identität als freies Wesen bei allem, was es tut. Hier geht es darum, dass sich die Freiheit auf die durchgängige Konsistenz des eigenen Lebens bezieht und beschränkt. Freiheit stimmt ferner insofern mit sich überein, als das Subjekt die Freiheit aller anderen freien Subjekte genauso schätzt und behandelt wie die eigene.
2.2.3 „Intellektuelle Glückseligkeit“ Ich will zwar nicht behaupten, Kant vertrete in den Reflexionen der 70er und 80er Jahre eine einheitliche, keinen Änderungen unterworfene Konzeption der Glückseligkeit. Mir scheint jedoch, dass man aus den Reflexionen einen relativ konsistenten Begriff der Glückseligkeit entnehmen kann, auch wenn Kant damals die mit der Glückseligkeit zusammenhängenden Begriffe nicht ganz präzise verwendet hat: Das Wohlgefallen bzw. das Gefühl der Lust, das aufgrund des gesetzmäßigen Gebrauchs der freien Willkür entsteht, kommt erst durch die Einführung der Termini wie z. B. „die Selbstzufriedenheit“, „das Wohlgefallen a priori“ oder „die Glückseligkeit a priori“, „das intellektuelle Wohlgefallen“ zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang wird die Tugend bzw. die moralische Gesinnung als die „innere Quelle“ oder das „principium der epigenesis“ der Glückseligkeit konzipiert. Daraus wird ersichtlich, warum Tugend von Kant als Würdigkeit des Glücklichseins aufgefasst wird. Zusammenfassend wiederholt: 1) Der vernünftig Handelnde kann erst dann seinen Zustand für glücklich halten, wenn dieser Zustand als ein Resultat des von seiner Freiheit gegebenen Gesetzes gedacht werden kann. 2) Nur durch die gesetzmäßige Ausübung der Freiheit können wir das System der allgemeinen Glückseligkeit herstellen. 3) Allerdings ermöglicht die Tugend allein keine Glückseligkeit, da sie nur die Form der Glückseligkeit ausmacht und zu deren Verwirklichung noch „die Materie“ nötig ist. Der entscheidende Unterschied zwischen der vorkritischen und der kritischen Phase lässt sich m. E. nun in Kants Erörterung der wahren Glückseligkeit finden: In den vorkritischen Reflexionen wird das Wohlgefallen, das durch den gesetzkonformen Gebrauch der Freiheit entsteht, deshalb als wahre bzw. eigentliche
2.2 Kants Konzeption von Glückseligkeit in der vorkritischen Werkperiode
41
Glückseligkeit betrachtet, weil sie von Kant als die einzige für uns erreichbare gehalten wird. Im Prinzip könnten wir einen solchen inneren Zustand in uns ohne die „Mitwirkung der Natur“ hervorbringen. Dieser Zustand ist immerhin vom Naturlauf unabhängig, der uns nicht zur Disposition steht. In den kritischen Werken jedoch konnte Kant diesen Standpunkt nicht mehr verteidigen: Insofern diese „wahre“ Glückseligkeit in der Zufriedenheit mit der eigenen Person besteht, zu der eine Selbsterkenntnis über die Bestimmungsgründe des Willens nötig ist, ist sie für uns aufgrund unserer epistemischen Beschränktheit nicht erreichbar. In den späteren Werken könnte diese „wahre“ Glückseligkeit nicht mehr wahr sein, da niemand außer Gott die eigene moralische Gesinnung und den Fortschritt in ihr sicher erkennen kann. Das Gefühl der Zufriedenheit mit dem eigenen moralischen Zustand reicht als Kriterium für das tatsächliche Bestehen eines moralischen und somit noumenalen Charakters nicht hin. Anschließend verweile ich kurz bei der Frage, ob Düsings Auffassung (Düsing: 1971) den bisherigen Befunden gerecht wird. Düsing zufolge bildet die Konzeption der intellektuellen Glückseligkeit ein wesentliches Merkmal, das die Brüche zwischen dem vorkritischen und dem kritischen Gedankengang markiert. Düsing zufolge denkt Kant in der KrV noch an eine „intellektuelle Glückseligkeit a priori“ (Düsing 1971, S. 31), die mit der vorkritischen Position verknüpft werden kann. Erst seit der KpV wird die Glückseligkeit als „Wirkung in der Sinnenwelt, die von einer ungleichartigen intelligiblen Ursache hervorgebracht wird, […] als empirische Glückseligkeit“ (Düsing 1971, S. 32) aufgefasst. Auf die Auffassung Düsings, nach der sich die moralphilosophische Position in der KrV wesentlich von der in der KpV unterscheidet und somit die Ablehnung des intellektuellen Glückseligkeitskonzepts tatsächlich zum Merkmal dieses angeblichen Wandels gereicht, kann ich an dieser Stelle nicht näher eingehen²³. Gegen Düsings Ansicht soll man allerdings darauf verweisen, dass in den Reflexionen ein Terminus „intellektuelle Glückseligkeit“ niemals erwähnt wird. An einigen Stellen steht das Adjektiv „intellektuelle“ in einem Bezug zur Glückseligkeit, es ist jedoch kein überzeugendes Indiz für „die intellektuelle Glückseligkeit“ als festen Terminus auffindbar. Die folgenden Textstellen erwecken den Anschein, dass sich Düsings Auffassung auf gute Textbelege stützt: „diese Glückseligkeit [‐die wahre Glückseligkeit] ist Glückse-
Als tragfähiges Gegenargument gilt aber die Tatsache, dass Kant in der zweiten Auflage der KrV an der oben angeführten Stelle nicht das Geringste geändert hat, gilt Denn die zweite Auflage der KrV wurde zwei Jahre nach der Veröffentlichung der GMS publiziert und Kant war zu diesem Zeitpunkt fast mit der Abfassung der KpV fertig. Ferner findet sich bereits in der GMS der Gedanke, dass das Sittengesetz selbst die Triebfeder eines moralischen Handelns sein kann. Dies steht auch gegen Düsings These, dass sich erst in der KpV ein Wandel des Gedankens im Hinblick auf die Motivation zum moralischen Handeln ergibt.
42
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
ligkeit der Verstandeswelt (R6907 XIX: 202)“, „Das Wohlgefallen an der Regelmäßigkeit der Freiheit ist intellektuell (R6881 XIX: 190)“, „das intellektuelle der Glückseligkeit (R7202 XIX: 278)“, „die Form derselben [‐der Glückseligkeit] aber ist intellektuell“ (R7202 XIX: 276). Wenn der Kontext, in dem diese Zitate eingebettet sind, näher betrachtet wird, erweist sich diese Auffassung allerdings als wenig überzeugend. Erstens bezieht sich das Adjektiv „intellektuelle“ dort nicht direkt auf die Glückseligkeit, sondern betrifft die „Quelle“, den „Grund“, das „Prinzip“ oder die „Basis“ der Glückseligkeit. Wie bereits argumentiert, wird dieser intellektuelle Charakter der Glückseligkeit von Kant als „Wohlgefallen a priori“ bzw. „Selbstzufriedenheit“ oder als „die wahre, eigentliche Glückseligkeit“ konzipiert. Durch eine kurze Lektüre der Textstellen, die selbst von Düsing als Indiz für die intellektuelle Glückseligkeit genommen werden, kann gezeigt werden, dass es sich letztlich nicht um eine intellektuelle, sondern um eine sinnliche Auffassung der Glückseligkeit handelt. Die Materie der Glückseligkeit ist sinnlich, die Form derselben aber ist intellektuell: diese ist nun nicht anders möglich als Freiheit unter Gesetzen a priori, ihrer Einstimmung mit sich selbst, und dieses zwar nicht um Glückseligkeit wirklich zu machen, sondern zur Möglichkeit und Idee derselben (R7202 XIX: 276). Er [‐Ein Mensch, der sich im Zustand der Selbstzufriedenheit befindet] hat die Empfänglichkeit aller Glückseligkeit, das Vermögen auch ohne Lebensannehmlichkeiten zufrieden zu sein und glücklich zu machen. Dies ist das intellektuelle der Glückseligkeit. In diesem Hauptstuhl [‐In der Selbstzufriedenheit] ist nichts reales, kein Vergnügen als die Materie der Glückseligkeit aber gleichwohl die formale Bedingung der Einheit, welche ihr [‐der Glückseligkeit] wesentlich ist (R7202 XIX: 278).
Anders als von Düsing unterstellt wird, betrifft hier die durch Freiheit hervorgerufene Glückseligkeit nur die Form bzw. die formale Bedingung der Glückseligkeit. Diese Form sei intellektuell, weil sie als die Gesetze für den freien Gebrauch der Vernunft zu formulieren sind. Darum ist zwar die Freiheit als „die notwendige Bedingung der Möglichkeit der Glückseligkeit“ (R6911 XIX: 203) anzusehen, es bedarf jedoch zum Erreichen der Glückseligkeit noch der Materie, die durch die Natur dazu gegeben werden muss. Zweitens finden sich im Rahmen der im gleichen Zeitraum erstellten Reflexionen andere Belegstellen für die physische Glückseligkeit. Die Glückseligkeit wird grundsätzlich als „Natur – oder Glücks Gabe“ (R6867 XIX:186) gedacht, somit behauptet: „von der bloß moralischen Glückseligkeit oder der Seligkeit verstehen wir nichts“ (R6883 XIX: 191). Ohne den Bezug auf die Natur ist die Glückseligkeit aus Freiheit nur unvollständig bestimmt.
2.3 Die durch Freiheit gestiftete allgemeine Glückseligkeit
43
2.3 Die durch Freiheit gestiftete allgemeine Glückseligkeit Mit Ausnahme der zwei beiläufigen Bemerkungen im Dialektik der KrV (vgl. KrV B373=A316, A395) taucht die Glückseligkeit in der ganzen KrV ausschließlich in der Methodenlehre auf, wo die Glückseligkeit im Zusammenhang mit der Frage nach dem letzten Zweck der menschlichen Vernunft behandelt wird. Im Kanonteil der Methodenlehre macht Kant auf die Glückseligkeit aufmerksam, indem er sie im Verhältnis mit dem letzten Zweck der Vernunft und lediglich mit dem Ideal des höchsten Guts bespricht. Im Rahmen der Erörterung des höchsten Guts wird nun die Moralität mit der Hoffnung auf eine moralische Welt verknüpft, in der die durch das Sittengesetz regulierte Freiheit „als Ursache der allgemeinen Glückseligkeit“ (KrV B838=A810) gedacht wird. Im Moment ist zwar unklar, was genau unter der „allgemeinen Glückseligkeit“ zu verstehen ist, jedoch ist die Glückseligkeit, die in der moralischen Welt zustande kommt, anhand von Kants Erörterungen leicht zu erschließen: Sie ist nichts anderes als die nach der Maßgabe der Sittlichkeit proportionierte Glückseligkeit. Damit wird zumindest klar, dass die im höchsten Gut thematisierte Glückseligkeit nicht bloß im Sinne einer Maximierung der Neigungsbefriedigung aufzufassen ist. Denn sie ist nicht durch moralindifferentes Handeln zu erzielen, sondern durch die Pflichterfüllung zu verdienen. In diesem Zusammenhang wird die Idee des höchsten Guts von Kant mit dem „System der sich selbst lohnenden Glückseligkeit“ gleichgesetzt. Allerdings ist die Konzeption des höchsten Guts als Verbindung der formalen Willensbestimmung mit der Glückseligkeit schwer zu verstehen, wenn man sich Kants Einschätzung in Erinnerung ruft, der zufolge das Sittengesetz uns abgesehen von unserer unabdingbaren Bedürfnisse zur Glückseligkeit die Pflichterfüllung gebietet. Diese Thematik wird im fünften Kapitel der vorliegenden Arbeit, wo die Glückseligkeit in der Auseinandersetzung mit der kantischen Lehre des höchsten Guts behandelt wird, erörtert. Vor diesem Hintergrund fällt nun auf, dass am Ende der Architektonik der KrV der Hauptzweck der menschlichen Vernunft als die allgemeine Glückseligkeit dargestellt wird (vgl. KrV B879=A851). In der entsprechenden Textstelle wird die allgemeine Glückseligkeit als „Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens“ (KrV B879=A851) bestimmt, doch ist nicht eindeutig, was Kant mit diesem Ausdruck meint. Ein Ansatzpunkt zur Klärung der allgemeinen Glückseligkeit lässt sich einer Textstelle der KU entnehmen: Wir sind a priori durch die Vernunft bestimmt, das Weltbeste, welches in der Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen mit der höchsten Bedingung des Guten an demselben, d.i. der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigen Sittlichkeit, besteht, nach allen Kräften zu befördern (KU V: 453; meine Herv.).
44
2 Kants Auffassung der Glückseligkeit in der kritischen Werkperiode
An dieser Stelle wird die allgemeine Glückseligkeit eindeutig als das „größte Wohl der vernünftigen Weltwesen“ bestimmt. Diese Bestimmung erweckt zunächst den Anschein, als wäre die allgemeine Glückseligkeit ein kollektives Wohl aller vernünftigen Wesen. Dies scheint eine Textstelle des Kanonteils der KrV zu untermauern, in der die allgemeine Glückseligkeit als die dauerhafte Wohlfahrt der eigenen und zugleich der anderen angesehen wird (vgl. KrV B837=A809). Es stellt sich dann die Frage, worin die näheren Unterschiede zwischen der utilitaristischen Konzeption des kollektiven Wohls und der kantischen Konzeption der allgemeinen Glückseligkeit bestehen. Diese Frage wird zwar im fünften Kapitel näher verfolgt, an dieser Stelle lässt sie sich jedoch vorgreifend und thesenartig so beantworten: Die kantische allgemeine Glückseligkeit kommt nur durch „die allgemeine Ordnung und Eintracht“ (KrV B879=A851) der Freiheit bzw. durch die gemeinsame Befolgung des Sittengesetzes aller vernünftigen Wesen (vgl. KrV B837=A809) zustande. Auf der Basis der bisherigen Ergebnisse fällt eine Textstelle in der Dialektik der KrV auf, in der der Ausdruck „die größte Glückseligkeit“ (KrV B373=A316) zutage tritt. Bemerkenswert ist, dass dieser Ausdruck im Kontext der Bemerkung über die platonische Republik, die „der moralischen Welt“ wohl zu entsprechen scheint, angesiedelt ist: Bei der Ausführung einer Verfassung nach sittlich-rechtlichen Gesetzen, die in der platonischen Republik in Kraft zu treten vermag, fügt Kant hinzu, dass es sich diese Verfassung zwar nicht auf die Maximierung der Glückseligkeit abzielt, diese jedoch notwendig folgen wird. Die Verknüpfung der durch Gesetze zusammen bestehenden Freiheit aller mit der größten Glückseligkeit weist uns auf die kantische Konzeption der allgemeinen Glückseligkeit hin. Auf diese Thematik gehe ich im fünften Kapitel dieser Arbeit ein.
Teil II: Die „Imperative der Klugheit“ in Kants praktischer Philosophie
1 Fragestellung und Vorgehensweise Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die Frage, wie die „Imperative der Klugheit“ bzw. die pragmatischen Imperative in Kants praktischer Philosophie zu verorten sind. Diese Imperative schreiben Subjekten Handlungen vor, die zu ihrem Wohlergehen beitragen. Indes könnte es zunächst fraglich erscheinen, ob das Streben nach Glückseligkeit für Kant überhaupt ein Gegenstand der praktischen Philosophie oder apriorischer Methoden sein kann. Kant vertritt nämlich konsequent den Standpunkt, dass die praktischen Grundsätze zur Erreichung der Glückseligkeit keine allgemeine Leitlinie für moralische Praxis darstellen können. Das Streben nach eigener Glückseligkeit sei dementsprechend nicht als eine Pflicht verstanden. Weil wir bereits unserer Naturanlage wegen nach Wohlergehen verlangen, und weil der Begriff der Pflicht eine Nötigung impliziert, wäre es widersprüchlich, etwas, wozu wir ohnehin schon disponiert sind, als eine Pflicht anzusehen (vgl. MS VI: 388). An anderen Stellen macht Kant das Streben nach Glückseligkeit aber durchaus zum Thema moralphilosophischer Erwägungen. Zuweilen stellt er die Beförderung der eigenen Glückseligkeit nicht nur als moralisch erlaubt, sondern auch als moralisch geboten dar. So sei bezeichnet er die Beförderung der eigenen Glückseligkeit beispielsweise als „indirekte Pflicht“ (GMS IV: 399; vgl. MS VI: 388). Denn würden sich Handelnde nicht um ihre eigene Glückseligkeit sorgen, bestünde die Gefahr, dass sie das Sittengesetz zu übertreten geneigt oder nicht in der Lage sind, ihm zu entsprechen. Das wirft die Frage auf, unter welchen Bedingungen eine Handlungsmaxime zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit als eine moralische Maxime bestimmt werden kann. Kants Überlegungen nach können die praktischen Vorschriften zur Erlangung der Glückseligkeit Handlungen letztlich nicht gebieten, sondern nur empfehlen oder „anraten“. In diesem Sinne sind sie in letzter Instanz nicht als Imperative, sondern nur als Ratschläge zu betrachten. Nimmt man diese Einschätzung Kants ernst, wirft das eine weitere Frage auf, nämlich auf welche Weise die Sorge um die eigene Glückseligkeit, wenn sie eine Pflicht im eigentlichen Wortsinne nicht sein kann, als eine Pflicht anzusehen ist. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellungen setze ich mich zunächst mit Kants Argumentation im zweiten Abschnitt der GMS auseinander. Dort unterscheidet er drei verschiedene Handlungsprinzipien der Vernunft. Mit dieser Unterscheidung lässt sich erklären, welche Funktionen die „Imperative der Klugheit“ in Kants System der Moralphilosophie haben und aus welchen Gründen der Anspruch dieser Imperative auf die Ansprüche des Sittengesetzes hin beschränkt werden müssen. Eine Diskussion dieser Punkte muss dabei zwei Problemkom-
48
1 Fragestellung und Vorgehensweise
plexen Rechnung tragen, die Kants Begriff von der Glückseligkeit als eines Zwecks, den wir von Natur aus erstreben, hervorruft: 1. Wenn wir von Natur aus so beschaffen sind, nach Glückseligkeit zu streben, stellt sich die Frage, inwiefern wir sie als einen Handlungszweck setzen können. Während der Ausdruck „natürlich“ eine naturgesetzliche Zwangsläufigkeit anzudeutet, konnotiert der Ausdruck „Zweck“ eine Wahl oder Entscheidung und somit einen Anteil der praktischen Vernunft bzw. der Freiheit, denn Kant zufolge werden alle Handlungszwecke durch einen „Akt der Freiheit“ gesetzt (vgl. MS VI: 385). Es wird daher zu erörternsein, ob und inwiefern von einer freien Wahl eines von Natur aus erstrebten Zwecks gesprochen werden kann.
2.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Stellung der pragmatischen Imperative in Kants praktischer Philosophie. In seinen späteren Schriften (vgl. KU V: 171– 172; KU EE XX: 196 – 200; MS VI: 222) vertritt Kant die Ansicht, dass die Aufgabe aller Arten von hypothetischen Imperativen darin besteht, theoretische Einsichten über Zweck-Mittel-Verhältnisse zu erschließen. Dieser Auffassung zufolge enthalten die pragmatischen Imperative theoretische Kenntnisse der Mittel, die wir im Lichte unserer subjektiven Bedingungen benötigen, um den Zweck zu erreichen, auf den wir abzielen. Sie wären darum der theoretischen, nicht der praktischen Philosophie zuzuordnen. Im Kontrast dazu vertritt Kant in seinen frühen Schriften (in der GMS und der KpV) die Auffassung, dass die pragmatischen Imperative nicht bloß der theoretischen, sondern auch der praktischen Philosophie zuzuordnen sind.
Dagegen, dass hier eine Diskrepanz vorliegt, könnte zunächst man einwenden, dass Kants Überlegungen in den früheren Schriften sich denen der späteren nicht widersprechen, weil er in seinen späteren Schriften auch von einem anderen Begriff von praktischer Philosophie her argumentiert hat. So vertritt Kant in der Einleitung der KU die Ansicht, dass die praktische Philosophie ausschließlich für die Untersuchung des Moralisch-Praktischen zuständig ist. Streng genommen seien nur diejenigen Sätze praktische Sätze, „welche die Freiheit unter Gesetzen betrachten“ (KU EE XX: 196). Die übrigen Sätze, die zwar in Form von Vorschriften formuliert werden, aber nichts mit dem Sittengesetz zu tun haben, „sind nur Anwendung einer vollständigen theoretischen Erkenntnis“ (KU EE XX: 198). Doch selbst wenn man die mit einem solchen Begriff von praktischer Philosophie zusammenhängenden Probleme ausklammert, bleibt die Stellung der pragmati-
1 Fragestellung und Vorgehensweise
49
schen Imperative auch unter diesem Begriff von praktischer Philosophie problematisch. Wie meine Interpretation in diesem Kapitel deutlich werden lassen soll, sieht sich sowohl der Versuch, die Imperative der Klugheit der praktischen Philosophie zuzuordnen, als auch der, sie der theoretischen Philosophie zuzuordnen, schwerwiegenden Problemen gegenüber. Kant kann die Vorschriften zum Erreichen der Glückseligkeit nicht in der theoretischen Philosophie verorten, weil diese Vorschriften – anders, als er unterstellt – nicht erschöpfend auf theoretische Sätze von der „Natur des Menschen“ sowie von den „Umständen in der Welt, worin der Mensch gesetzt ist“ (GMS IV: 389) zurückgeführt werden können. Ebenso wenig ist diesen Vorschriften in der praktischen Philosophie, welche sich mit der gesetzgebenden Freiheit befasst, ein eigener Platz zuzuschreiben. Denn es geht bei den pragmatischen Imperativen nicht um den „unter dem Freiheitsbegriff stehenden“ Willen, sondern um einen „durch die Triebfeder der Natur bestimmten“ Willen (KU V: 172; vgl. KU EE XX: 199). Auf die beiden Problemkomplexe komme ich in diesem Kapitel nacheinander zu sprechen. Zur Klärung der ersten Problematik setze ich mich mit der Auffassung von R.N.Johnson auseinander. Ihm zufolge kann Kant den Widerspruch, der sich aus der Idee eines natürlichen Zwecks ergibt, in seiner Moralphilosophie nicht lösen (Johnson 2002, S. 317– 330). Für eine eingehende Auseinandersetzung mit Johnson ist es angebracht, sich einen Überblick über den kantischen Willensbegriff sowie Kants Dreiteilung der Handlungsprinzipien zu verschaffen. Dadurch wird ersichtlich werden, in welchem Sinne die Handlungsanweisungen für die eigene Glückseligkeit als vernünftig sowie verbindlich angesehen werden können, wenn auch nur bedingterweise verbindlich. Der Ausgangspunkt zur Auseinandersetzung mit der zweiten Problematik ist die Beobachtung, dass die Einbildungskraft sowie die Klugheit in Kants Ausführungen zum Glückseligkeitsstreben oftmals in den Vordergrund rücken. Aus diesem Grund soll erläutert werden, welche Bedeutung der Einbildungskraft und der Klugheit beim Glückseligkeitsstreben zukommen. Dabei wird sich zeigen, dass technisch-praktische Regeln nicht genügen, um uns in unserem Verlangen nach Glückseligkeit angemessen zu führen. Daran wird sich wiederum zeigen lassen, worin genau das Problem besteht, das Glückseligkeitsstrebens nicht nur in der praktischen, sondern auch in der theoretischen Philosophie anzusiedeln.
2 Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Determiniertheit der menschlichen Natur im Streben nach Glückseligkeit 2.1 Glückseligkeit als ein natürlicher Zweck Kant zufolge richtet sich menschliches Handeln in erster Linie auf die Erlangung von Glückseligkeit¹. In seinen frühen Schriften spricht Kant davon, dass das Verlangen nach Glückseligkeit zum Wesen des Menschen gehört (vgl. GMS IV: 415) In seinen späteren Schriften spricht Kant auf ähnliche Weise von Glückseligkeit als eines Zwecks, „den […] alle Menschen (vermöge des Antriebes ihrer Natur) haben“ (MS VI: 386)². Aufgrund seiner bedürftigen Natur sei die Sorge um seine Glückseligkeit dem Menschen „ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem“ (KpV V: 25), weil die Glückseligkeit aus der größtmöglichen Befriedigung der Neigungen bzw. Bedürfnisse besteht, welche die sinnliche Natur des Menschen ausmachen. Obwohl Kant also über sein Werk hinweg konsequent davon spricht, dass wir als Menschen von Natur aus nach Glückseligkeit streben, lassen sich hier interpretatorische Fragen aufwerfen. Glückseligkeit wird bei Kant nämlich auf zwei Weisen konzipiert: Einerseits wird sie als „uns von den Sinnen empfohlen“ (KrV B828=A800) oder „uns von unseren Neigungen aufgegeben“ (KrV B828=A800) bezeichnet. In diesem Sinne ist das Glückseligkeitsstreben als eine Angelegenheit der sinnlichen Natur des Menschen zu verstehen und bezieht sich auf eine naturkausale Determiniertheit, die jeden Anteil der praktischen Vernunft bzw. der Freiheit im Handeln aussschließen müsste. Andererseits bezeichnet Kant das Glückseligkeitsstreben aber auch als den „nicht abzulehnende[n] Auftrag der Vernunft“ (KpV V:61). Die praktische Vernunft und die Freiheit der Willkür würden daher im Streben nach Glückseligkeit nicht suspendiert; Glückseligkeit würde dann eher als ein Zweck erscheinen, den sich Subjekte aus freien Stücken setzen. Diese Ambivalenz wird in folgendem Zitat besonders ersichtlich: Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bei allen vernünftigen Wesen (sofern Imperative auf sie, nämlich als abhängige Wesen, passen) als wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht,
Besonders deutlich bezieht Kant diese Position hier: „Denn obgleich der Begriff der Glückseligkeit der praktischen Beziehung der Objekte aufs Begehrungsvermögen allerwärts zum Grunde liegt, so ist er doch nur der allgemeine Titel der subjektiven Bestimmungsgründe“ (KpV V: 25) Vgl. RGV VI: 6: „Eigene Glückseligkeit ist der subjektive Endzweck vernünftiger Weltwesen, den jedes derselben vermögens seiner von sinnlichen Gegenständen abhängigen Natur hat.“
2.1 Glückseligkeit als ein natürlicher Zweck
51
die sie nicht etwa b l o ß h a b e n k ö n n e n , sondern von der man sicher voraussetzen kann, dass sie solche insgesamt n a c h e i n e r N a t u r n o t w e n d i g k e i t h a b e n , und das ist die Absicht auf Glückseligkeit (GMS V: 415 – 6, Herv. im Original)³.
An dieser Stelle wird Glückseligkeit nicht nur als Zweck beschrieben, den Subjekte als Zweckes ihres Handelns von „einer Naturnotwendigkeit“ schon gesetzt vorfinden, sondern durch Absicht erst setzen. Mit „Naturnotwendigkeit“ scheint Kant das zu meinen, was durch Naturgesetze kausal determiniert ist und daher der Freiheit gegenübersteht⁴. Wenn das Glückseligkeitsstreben in diesem Sinne als ein naturgesetzlicher Vorgang zu begreifen ist, wirft das die Frage auf, wie man dann noch sinnvollerweise sagen kann, dass man „die Absicht auf Glückseligkeit“ habe⁵. Den Eindruck, dass es hier einen Kontrast⁶ gibt verstärkt weiter noch R.N. Johnson, wenn er zwei Thesen aus der MS direkt gegenüberstellt (vgl. Johnson 2002, S. 317):
Die gleiche Problematik findet sich auch in der MS. Zum einen ist die Glückseligkeit hier mit einem Zweck, „den […] alle Menschen (vermöge des Antriebs ihrer Natur) haben“ (MS VI: 385; meine Herv.) gleichgesetzt. Dabei bezieht sich das Glücksstreben auf die Sache der naturgesetzlichen Determiniertheit. Zum anderen wird nach einigen hinzugefügten Sätzen die Glückseligkeit als etwas, „was ein jeder unvermeidlich schon von selbst will“ (MS VI: 386; meine Herv.) betrachtet. Was ein Handelnder will, ist nicht „vermögens von Antrieb der Natur“, sondern „vermögens von Wille oder Freiheit“ herbeizuführen. Vgl. Dazu auch GMS IV: 446, 455; KpV V: 94– 5. Auf diese Interpretationsproblematik weist auch G. Prauss hin, wenn er schreibt: „Wie auch der Mensch zunächst einmal der bloß kausal-determinierenden Natur unterliegt, die in ihm Neigungen, Bedürfnisse, Begierden oder Triebe hervorruft, genau so weit kann auch von so etwas wie Intention oder Handlungen keine Rede sein“ (Prauss 1983, S. 32) C.M. Korsgaard und B. Herman vertreten ähnliche Auffassungen: „If Kant means that we will happiness by a natural necessity, his claim is contrary to his view about our freedom of the choice of ends“ (Korsgaard 1998, S. 32), „The very idea of a naturally necessary end conflicts with Kant’s idea of an elective will“ (Herman 2006, S. 182). Das Zitat steht bei Kant in diesem Kontext: „Eine jede Handlung hat also ihren Zweck und, da niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine Wirkung der Natur, irgendeinen Zweck der Handlungen zu haben. Weil aber dieser Akt, der einen Zweck bestimmt, ein praktisches Prinzip ist, welches nicht die Mittel (mithin nicht unbedingt), sondern den Zweck selbst (folglich unbedingt) gebietet, so ist es ein kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft, (…)“ (MS VI: 384– 5; meine Herv.). Wird dieser Kontext berücksichtigt, wird klar, dass sich Kants Augenmerk besonders auf die Zweckbestimmung oder Zwecksetzung richtet. Wann immer man „etwas als einen Zweck“ hat sollte das als Folge einer freien Zweckbestimmung verstanden werden.
52
2 Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Determiniertheit der menschlichen Natur
These 1 „[E]s [ist] ein Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine Wirkung der Natur, irgendeinen Zweck zu haben“ (MS VI: 385). These 2 „Glückseligkeit, d.i. Zufriedenheit mit seinem Zustande,[…], sich zu wünschen und zu suchen ist der menschlichen Natur unvermeidlich“ (MS VI: 388). Johnson paraphrasiert die erste These folgendermaßen: Wenn ein Akteur einen Zweck hat, dann muss dieser Zweck als durch den „Akt der Freiheit des handelnden Subjekts“ (MS VI: 385) bestimmt angesehen werden. Das aber lässt Kant für das Streben nach Glückseligkeit nicht zu, da hier dem Subjekt ein Zweck durch seine Natur vorgegeben wird, wie die zweite These zu besagen scheint. Kant übersehe, schlussfolgert Johnson, den Unterschied zwischen Fällen, in denen Zwecke extern gegeben sind und Fällen, in denen Zwecke durch die innere Absicht eines Akteurs gesetzt werden. Johnsons Interpretation wird allerdings dem Textbestand nicht gerecht: Obwohl ausdrücklich das Verb „haben“ im als „These 1“ zitierten Satz steht, geht es dort nicht darum, wie wir etwas als unseren Zweck haben. Vielmehr ist hier die Rede von einer Zwecksetzung bzw. Zweckbestimmung durch den freien Willen. Berücksichtigt man diese Beobachtung, dann implizieren die beiden Thesen vielmehr Folgendes: Wir finden Glückseligkeit nicht als von unserer sinnlichen Natur schon gesetzten Zweck unseres Handelns vor, sondern müssen sie erst unserem Zweck machen. Deshalb sollte die erste These nicht so interpretiert werden, als ob wir nach unserer Glückseligkeit bloß als „Wirkung der Natur“ verlangen. Vielmehr wollen wir sie uns als Zweck unseres Handelns zu Eigen machen. Dann stellt sich jedoch die Frage, in welcher Art und Weise wir durch unseren Willen die eigene Glückseligkeit, die wir aus „Naturnotwendigkeit“ in uns haben, zu unserem Zweck machen können. Zur Klärung dieser Frage soll Kants Modell vernünftigen Handelns erläutert werden. Meine Erläuterung beschränkt sich aus Gründen des Umfangs auf Kants Auffassung des Willens und seiner unterschiedlichen praktischen Grundsätze. Hierdurch wird sich der problematische Status des Glückseligkeitsstrebens in Kants Moralphilosophie erläutern lassen.
2.2 Grundzüge einer kantischen Handlungstheorie 2.2.1 Wille als ein Vermögen, „nach der Vorstellung der Gesetze“ (GMS IV: 412) zu handeln Wie sich Kant vernünftiges Handeln bzw. praktische Deliberation vorstellt, wird an einer Stelle der GMS besonders deutlich:
2.2 Grundzüge einer kantischen Handlungstheorie
53
[1] Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, n a c h d e r Vo r s t e l l u n g der Gesetze, d.i. nach Prinzipien, zu handeln, oder e i n e n W i l l e n . Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erforderlich wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft. [2] Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig, d.i. der Wille ist ein Vermögen, n u r d a s j e n i g e zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig, d.i. als gut, erkennt (GMS IV: 412, Herv. im Orginal; meine Nummerierung).
In Teil (1) des Zitates setzt Kant „Wille“ mit „praktischer Vernunft“ gleich.Wir sollten erhellen können, wie sich Kant vernünftiges Handeln vorstellt, wenn wir verstehen, was er mit „Wille“ meint. Zwar wird der Wille hier als „ein Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze […] zu handeln“ (GMS IV: 412) definiert, es ist aber nicht klar, was darunter zu verstehen ist. Um das zu verstehen, müssen zwei Dinge in Betracht gezogen werden: Zum einen ist zu berücksichtigen, dass Kant hier nicht bloß „nach den Gesetzen“, sondern ausdrücklich „nach der Vorstellung der Gesetze“ schreibt. Damit macht Kant den kognitiven Kontext des Selbstbewusstseins eines Handelnden zum Thema, wenn er von Handeln „nach der Vorstellung von Gesetzen“ spricht. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass Kant einen Willen hier ausschließlich vernünftigen Wesen zuschreibt. Anders als die „Dinge“, die nur nach Gesetzen „wirkten“ und sich gewissermaßen als Spielball der Natur darstellen, könnten Wesen mit praktischer Vernunft nach der Vorstellung von Gesetzen handeln. Zudem wirft Kants Redeweise vom Handeln „nach der Vortsellung der Gesetze“ die Frage auf, welche Art von Gesetzen mit dem Willen zu tun haben. In der Forschung werden drei Interpretationen diskutiert, die ich hier kurz diskutieren möchte: (1) das moralische Gesetz, (2) die Handlungsmaxime und (3) die praktischen Prinzipien im Allgemeinen⁷. Duncun (Duncun 1957) ist ein Beispiel für einen Vertreter von Auffassung (1). Ihm zufolge bestehe die Besonderheit eines vernünftigen Wesens darin, nach der Vorstellung des Sittengesetzes handeln zu können. Diese Interpretation entspricht jedoch nicht dem Kontext der fraglichen Textstelle. Kant geht es hier um vernünftiges Handeln im Allgemeinen, nicht nur um moralisches, sondern auch um moralisch neutrales vernünftiges Handeln.
Zu den praktischen Prinzipien werden sowohl der kategorische als auch die hypothetischen Imperative gerechnet. Umstritten ist, ob ein hypothetischer Imperativ als ein normatives Prinzip betrachtet werden kann. Ich vertrete den Standpunkt, dass ein hypothetischer Imperativ eine bedingte Normativität in sich enthält, insofern, als es sich überhaupt um einen Imperativ handelt. Das kann man etwa an dieser Stelle belegen: „Weil jedes praktische Gesetz eine mögliche Handlung als gut und darum für ein durch Vernunft praktisch bestimmbares Subjekt als notwendig vorstellt, so sind alle Imperative Formeln der Bestimmung der Handlung, die nach dem Prinzip eines in irgendeiner Art guten Willens notwendig ist“ (GMS IV: 414; meine Herv.).
54
2 Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Determiniertheit der menschlichen Natur
Andere Interpreten dagegen (Paton 1958, S. 80 – 1; Allison 1990, S. 86) plädieren für Interpretation (2), nämlich dass ein vernünftiger Handelnder aufgrund der Vorstellung von Maximen handelt. Diese Interpretation greift aber insoweit zu kurz, als Maximen im strengn Sinne nur subjektive Handlungsprinzipien sind, welche den allgemeinen praktischen prinzipien gegenüberstehen (GMS IV: 400 – 1, 421– 2). Sie sind ebenfalls nicht für vernünftiges Handeln als solches charakteristisch. Diese Interpretation setzt aber einen Schritt in die richtige Richtung, weil sie mit Kants Überzeugung übereinstimmt, dass Handeln grundsätzlich auf Maximen beruht und die Verallgemeinerbarkeit der betrffenden Maximen Grundbedingung moralischen Handelns ist. Der aussichtsreichste Kandidat ist die dritte Interpretation, nach der die fraglichen Gesetze mit den praktischen Prinzipien im Allgemeinen zu identifizieren sind, sowohl den moralischen als auch instrumentalen⁸. Kant nimmt auf die Prinzipien Bezug, wenn er von Handeln „nach der Vorstellung der Gesetze“ spricht. In ihrem Licht kann ein Handeln als vernünftig erscheinen. Diese Interpretation passt gut zur argumentativen Struktur der GMS. Dort wird nämlich zunächst vernünftiges Handeln im Allgemeinen erörtert und erst danach wird von Kant eine Dreiteilung der praktischen Prinzipien vorgenommen. Kants Auffassung des Willens lässt sich dadurch weiter veranschaulichen, dass wir die Handlung eines vernünftigen Wesens von der Bewegung eines Tiers einerseits sowie von einem kausalen Naturvorgang andererseits unterscheiden können, denn beides wird von Kant nämlich nicht als Handlungen ansehen.Wenn ein Apfel von einem Apfelbaum fällt, so hat das seine Ursache in einer naturgesetzlichen Notwendigkeit, nämlich der Gravitationskraft. Der ganze Vorgang ist durch ein Naturgesetz beschreibbar bzw. erklärbar und wird deshalb nicht als eine Handlung angesehen. Wäre es nach Kant als Handlung anzusehen, wenn ein Affe den Apfel gepflückt hätte, um ihn zu essen? In Kant zufolge wäre das nicht der Fall, da der Affe nur seinen Instinkten folgt und sein Verhalten somit als ein Teil der Naturkausalität anzusehen ist. Wenn aber ein Mensch seiner natürlichen Anlage wegen Hunger hat und einen Apfel erntet, würde Kant das als Handlung auffassen. Denn der Mensch stelle sich Naturgesetze vor und gelange dadurch in die Lage, die Mittel zu ergreifen, die geeignet sind, um seinen Zweck zu erreichen. Er bilde eine subjektive Handlungsregel, also eine Maxime, und prüft, ob diese Maxime den Ansprüchen der praktischen Prinzipien genügt, indem er sich auch praktische Prinzipien vorstellt. In diesem Zusamenhang ist auch zu beachten, dass vernünftige Handelnde sich, anders als Tiere, die Prinzipien ihres Handelns frei
M. Willaschek (Willaschek 2006, S. 125), J. Timmermann (Timmermann 2007, S. 60) und H. Allison (Allison 2011, S. 153) vertreten diese Interpretation.
2.2 Grundzüge einer kantischen Handlungstheorie
55
ausdenken können. Unter diesen Prämissen kann nur ein vernünftiges Wesen Willen, d. h. ein Vermögen haben, „nach der Vorstellung der Gesetze“ zu handeln⁹. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Ausdruck „nach der Vorstellung der Gesetze […] handeln“ folgendermaßen deuten: Nur vernunftbegabte Wesen können sich ihrem eigenen inneren Zustand bewusst sein und die Triebfeder ihrer Handlungen im Licht des entsprechenden Handlungsprinzips reflektieren. In diesem Sinne ist, anders als bei Johnson, eine vernünftige Handlung nicht zwingend einer aufgrund von Neigungen entstehenden Handlung gegenüber zu stellen. Vielmehr meint Kant, das eine Neigung erst dann zur Ursache des Handelns eines vernünftigen Wesens wird, wenn die Erfüllung dieser Neigung dem Anspruch seines praktischen Prinzips gemäß ist. Bevor ich darauf zu sprechen komme, was dies für die anfangs gestellte Frage nach der Zwecksetzung bedeutet, ist noch ein Blick auf Teil (2) des Zitats zu werfen. Dort wird der Wille als ein Vermögen bestimmt, „nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig, d. i. als gut, erkennt“ (GMS IV: 412; meine Herv.). Hier wird der Wille als Fähigkeit konzipiert, aufgrund normativer Kriterien zu handeln. Bemerkenswert ist, dass Kant normative Prinzipien bei vernünftigen Wesen zugleich auch als motivierend auffasst: Ein vernünftiger Handelnder führt eine Handlung erst dann aus, wenn er diese Handlungsweise für legitim hält, und er beurteilt sie nur dann als legitim, wenn er sie anhand der normativen praktischen Prinzipien als gut auszeichnen und so sicher sein kann, dass diese Handlungsweise von anderen vernünftigen Wesen als begründet angesehen wird¹⁰. Mit dieser Interpretation von Wille als Fähigkeit zum Handeln „nach der Vorstellung der Gesetze“ lässt sich die am Anfang dieses Abschnitts gestellte Frage beantworten, nämlich in welcher Weise vernünftige Handelnde sich Zwecke setzen. Den Ausgangspunkt dieser Antwort bildet der Befund, dass jedes vernünftige Wesen nach der Vorstellung eines normativen praktischen Prinzips handelt. Die
Bislang habe ich argumentiert, dass vernünftige Handelnde ihren Antrieben nicht notwendig folgen müssen und dass ihr Begehrungsvermögen nicht unmittelbar durch solche Antriebe bestimmt werden kann. Damit meine ich aber nicht, dass ein solcher Antrieb keine Gründe für eine Handlungsbestimmung liefern könnte. Damit lässt sich das kantische Verständnis der Handlungsmaxime näher bestimmen: Eine Handlungsmaxime ist ein Satz, in dem ausgedrückt wird, was ein vernünftiger Handelnder will bzw. beabsichtigt. Streng genommen behauptet Kant, dass Maximen subjektive Handlungsprinzipien sind, die von den objektiven Prinzipien der praktischen Vernunft scharf zu unterscheiden sind (vgl. GMS IV: 400 f., 421 f). Der Unterschied besteht zwischen einem Handlungsentwurf, der subjektiv für gut befunden wird, und einem, der normativ gut ist. Ein normativ guter Handlungsentwurf ist derjenige, der den Prinzipien der praktischen Vernunft entspricht, während Handlungsmaximen in den Augen des Subjekts gute Handlungsentwürfe entsprechen.
56
2 Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Determiniertheit der menschlichen Natur
normativen praktischen Prinzipien leiten die Wahl der Maxime, die in sich den Zweck sowie die geeigneten Mittel zu diesem Zweck enthalten. Wenn ein Akteur seine Maxime nach dem Anspruch eines normativ-praktischen Prinzips aufstellt, macht er einen Zweck durch einen „Akt der Freiheit“ zu seinem eigenen Zweck (vgl. GMS IV: 427; MS VI: 385). Die Setzung eines Zwecks ist also immer die Tätigkeit des freien Willens, der eine Handlung zum Erreichen dieses Zwecks aus Gründen bzw. Prinzipien ausführt¹¹: Selbst wenn wir um unserer Bedürfnisse willen handeln, sind die Bedürfnisse als solche und nicht als direkte Ursache unseres Handelns anzusehen. In diesem Fall beruht das Handeln nämlich auf einem praktischen Prinzip, das mit Rückgriff auf das Handelnde die Befriedigung eines Bedürfnisses mit Gründen ausstatten kann¹². Wenn wir die bislang entwickelte Deutung des zweiten Teils der eingangs zitierten Stelle mit der des ersten Teils verknüpfen, lässt sich erklären, in welcher Art und Weise Handelnde nach Kant entscheiden können, ob sie nach der jeweiligen Maxime handeln sollen oder nicht. Durch die Diskussion des ersten Teils wurde herausgearbeitet, dass vernünftige Wesen nach vorgestellten Handlungsprinzipien handeln. In der Interpretation des zweiten Teils wurde gezeigt, dass ein Akteur erst dann motiviert ist, in bestimmter Weise zu handeln, wenn die fragliche Handlung dem Anspruch eines praktischen Prinzips entspricht und somit von ihm sowie von anderen vernünftigen Wesen als begründet anzusehen ist. Dann stellt sich die Frage, welchen Status Kant den Handlungsanweisungen zur Erlangung der Glückseligkeit zuschreibt. Gehören diese Handlungsanweisungen für Kant zum vernünftigen praktischen Prinzip? Vor diesem Hintergrund will ich im Folgenden auf Kants Ausführungen zur Dreiteilung der praktischen Prinzipien eingehen.
2.2.2 Dreiteilung der praktischen Grundsätze Kant zufolge gibt es drei Arten von Handlungsanweisungen, denen jeweils drei Typen von praktischen Prinzipien entsprechen: das Zweck-Mittel-Prinzip, das Prinzip der Klugheit und das Prinzip der Sittlichkeit (vgl. GMS IV: 414– 424). Alle diese Prinzipien fungieren als bewertende bzw. normative Kriterien für gutes, vernünftiges Handeln. Die bewertende Funktion des Zweck-Mittel-Prinzips lässt sich so beschreiben: Eine Handlung ist gut, wenn diese Handlung als Mittel zum
Darauf gehe ich im nächsten Kapitel näher ein. Es ist auch darauf aufmerksam zu machen, dass Kant der Ansicht ist, dass Neigungen für sich genommen weder gut noch schlecht sind. Als solche seien sie kein Gegenstand moralischen Bewertung (vgl. RGV VI: 58). Wir können die Befriedigung einer Neigung nur dann für moralisch schlecht halten, wenn diese Befriedigung dem Anspruch des Prinzips der Moralität zuwider läuft.
2.2 Grundzüge einer kantischen Handlungstheorie
57
Erreichen des beabsichtigten Zwecks geeignet ist und das Subjekt diesen Zweck erreichen will. Da der Wille eines eingeschränkt vernünftigen Wesens nicht ausschließlich dem Gebot der Vernunft unterworfen sein kann, schreiben die Handlungsanweisungen möglicherweise eine Handlung gegen subjektive Widerstände vor und treten diesem Wesen in der Form von Imperativen entgegen. Alle Imperative lassen sich zunächst in zwei Arten einteilen; in hypothetische und einen kategorische¹³. Ein charakteristisches Beispiel für einen hypothetischen Imperativ ist: „Wenn du Französisch lernen willst, sollst du jeden Tag französisches Radio hören.“ An diesem Imperativ sind zwei Dinge bedeutsam: 1) Die von diesem Imperativ gebotene Handlung ist nur insofern gut, als sie ein notwendiges Mittel darstellt, um den beabsichtigen Zweck zu erreichen. 2) Der fragliche Zweck wird nicht von jedem Subjekt notwendig erstrebt, da es Subjekte gibt, die Französisch nicht lernen wollen. Dieser Imperativ, den Kant als technischen Imperativ oder als „Imperativ der Geschicklichkeit“ (GMS IV: 415) bezeichnet, ist also kein Gegenstand moralischer Beurteilung. Denn das Gute der Handlung hängt in diesem Fall ausschließlich mit der Tauglichkeit zur Verwirklichung des beabsichtigten Ziels zusammen. Kants Überlegungen zufolge gibt es noch eine andere Art von hypothetischen Imperativen: „Du sollst auf bestimmte Art und Weise handeln, um glücklich zu werden.“ Insofern dieser Imperativ dem Handelnden die betreffende Handlung als Mittel zu einem Zweck gebietet, gehört er zu den hypothetischen Imperativen. Kant nennt einen Imperativ, der die Regeln für die Beförderung der eigenen Glückseligkeit vorschreibt, den „pragmatischen Imperativ“ oder den „Imperativ der Klugheit“. Im Vergleich zu einem beliebigen Zweck des technischen Imperativs geht es hier um einen bei jedem Subjekt als wirklich vorauszusetzenden Zweck, nämlich die eigene Glückseligkeit (vgl. GMS IV: 415). Denn niemandem kann aufgrund seiner Naturanlage sein eigenes Wohlbefinden gleichgültig sein.
In jüngerer Vergangenheit hat sich in der Literatur eine Interpretation etabliert, der zufolge es nicht von seiner sprachlichen Formulierung abhängt, ob ein Imperativ hypothetisch oder kategorisch ist (vgl. Patzig 1973, S. 207– 222; Ludwig 2006, S. 139 – 157). Wenn ein Imperativ nur im Hinblick auf mögliche, wirkliche Interessen oder Ziele des Adressaten seine Geltung hat, dann ist er ein hypothetischer. Es kann deshalb einen hypothetischen Imperativ ohne Bedingungensatz geben, z. B. „Hör auf zu rauchen“. Der Imperativ der Klugheit, der von Kant zum hypothetischen Imperativ gezählt wird, kann z. B. ohne ausdrücklichen Hinweis auf das Verlangen nach eigener Glückseligkeit formuliert werden. Umgekehrt besteht die Möglichkeit, dass es einen kategorischen Imperativ mit hypothetischer Formulierung gibt, beispielsweise „Wenn du mit jemanden einen Vertrag abgeschlossen hast, musst du ihn nach Vereinbarung halten.“ Weil bei einem Imperativ keine bedingte Bezogenheit auf Interessen oder Zwecke des Adressaten besteht, ist dieser ein kategorischer, auch wenn er durch einen „wenn-so“ Satz formuliert wird.
58
2 Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Determiniertheit der menschlichen Natur
Die Aufforderung, die alle hypothetischen Imperative an eine Person stellen, ist gebunden an die Bedingung, dass der betreffende Zweck tatsächlich beabsichtigt wird. Aus diesem Grund entsprechen hypothetische Imperative nicht der Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes. Dagegen ist der Imperativ ein kategorischer, wenn er „eine Handlung als für sich selbst, […], als objektiv-notwendig vorstellte“ (GMS IV: 414). Der kategorische Imperativ bildet im Vergleich zu den anderen zwei Arten des Imperativs den höchsten Grad der Nötigung, da er voraussetzungslos eine Handlung gebietet. Bemerkenswert ist, dass diese drei Arten des Imperativs weder nebeneinander stehen können noch voneinander unabhängig sind. Sie unterscheiden sich nur nach dem Grad der Nötigung (vgl. GMS IV: 416). Folglich unterscheiden sie sich nach der Reichweite der jeglichen praktischen Prinzipien und stellen aufeinander aufbauende Stufen der Nötigung dar. Im Moment gilt auf die Beobachtung aufmerksam zu machen, dass sich der Grad der Nötigung eines hypothetischen Imperativs danach bemisst, welche Eigenschaft der betroffene Zweck hat: Bei einem technischen Imperativ ist der Zweck nur ein beliebiger. Dabei stellt sich immer die Frage, ob der Handelnde das Ziel tatsächlich verfolgen will oder nicht. Dagegen ist bei den pragmatischen Imperativen vorausgesetzt, dass das Handlungsziel (nämlich die eigene Glückseligkeit) als ein wirkliches bei jedem Handlungsfähigen in die Tat umgesetzt wird. Man kann anhand dieses Ergebnisses ansatzweise die These aufstellen, dass der Grad der Nötigung, die in einem Imperativ zum Ausdruck kommt, von der Beschaffenheit des betroffenen Zwecks abhängt. Anders ausgedrückt: Die Frage, ob ein Imperativ eine subjektive oder objektive Gültigkeit bzw.Verbindlichkeit hat, hängt mit der Frage zusammen, ob dessen Zweck nur ein möglicher bzw. beliebiger oder ein notwendiger ist. Zur Stützung dieser These soll allerdings die folgende Frage positiv beantwortet werden, nämlich ob der kategorische Imperativ, welcher eine objektive Geltung hat, einen allgemeingültigen Zweck in sich enthält. Auf den ersten Blick scheint diese Frage negativ beantwortet werden zu müssen. Denn aufgrund der formalistischen Leitlinie der kantischen Moralphilosophie ist schwer daran festzuhalten, dass der kategorische Imperativ auf irgendeinem Zweck beruht. Dann stellt sich die Frage, ob der kategorische Imperativ tatsächlich auf keinen Zweck angewiesen ist. Ansätze zur Beantwortung dieser Frage lassen sich in folgenden Textstellen finden: Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstellte (GMS IV: 414; meine Herv.). Endlich gibt es einen Imperativ, der, ohne irgendeine andere durch ein gewisses Verhalten zu erreichende Absicht als Bedingung zu Grunde zu legen, dieses Verhalten unmittelbar gebietet (GMS IV: 416; meine Herv.).
2.2 Grundzüge einer kantischen Handlungstheorie
59
Praktische Prinzipien sind formal, wenn sie von allen subjektiven Zwecken abstrahieren; sie sind aber material, wenn sie diese [‐subjektive Zwecke], mithin gewisse Triebfeder, zu Grunde legen (GMS IV: 427; meine Herv.).
Diese Zitate scheinen zunächst einmal die weit verbreitete Unterstellung der Formalität des kategorischen Imperativs zu bestätigen. Bei näherem Hinsehen der oben zitierten Texte erweist sich allerdings eine solche formalistische Auffassung als nicht ganz zutreffend, da die hervorgehobenen Textstellen die Möglichkeit nicht völlig ausschließen, dass der kategorische Imperativ irgendeinen Zweck einbezieht: Diese Zitate weisen auf das hin, was aus dem kategorischen Imperativ ausgeschlossen werden musste. Sie verweisen darauf, dass „irgendein[er] ander[er] Zweck“ zur Aufstellung des Sittengesetzes abstrahiert werden musste. Dies sind nicht Zwecke überhaupt, sondern „eine zu erreichende Absicht“ (GMS IV: 416) als die zu bewirkenden subjektiven Zwecke (vgl. GMS IV: 427). Kant meint deshalb nicht, dass eine als objektiv-notwendig vorgestellte Handlung keinen Zweck hat, sondern er erwähnt nur, dass diese Handlung ohne Rücksicht auf subjektive Zwecke als praktisch-notwendig geboten ist. Diese Aussage erklärt uns, warum auf dem Weg zur „Selbstzweckformel“ des kategorischen Imperativs ein speziell objektiver Zweck, nämlich der Zweck an-sich-selbst thematisiert wird. Da alles Wollen einen Gegenstand bzw. einen Zweck hat (vgl. KpV V: 34), muss der kategorische Imperativ auch in sich einen Zweck enthalten, insofern er ein Handlungsprinzip des Willens ist. Die Eigenart des kategorischen Imperativs lässt sich jedoch dadurch hervorheben, dass hier kein subjektiver Zweck zum Bestimmungsgrund des Willens dienen kann. Dann erscheint allerdings der Status eines pragmatischen Imperativs fragwürdig: Wenn der kategorische Imperativ aufgrund der Objektivität seines Zwecks allgemein gültig ist, stellt sich nämlich die Frage, aus welchen Gründen der pragmatische Imperativ nicht im Bereich des kategorischen, sondern im Bereich des hypothetischen Imperativs eingeordnet wird und somit nur eine bedingte Verbindlichkeit in sich hat, auch wenn er einen „jedem notwendig vorauszusetzenden“ Zweck, nämlich die Glückseligkeit in sich enthält. Zunächst ist darauf hinzuweisen: Die beiden Zwecke, d.i. die Glückseligkeit sowie „die Menschheit als der Zweck an sich selbst“, können auf den ersten Blick als notwendige Zwecke angesehen werden. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Glückseligkeit jedoch als kein notwendiger Zweck. Um auf diese Problematik einzugehen, sei detailliert erklärt, in welcher Art und Weise ein pragmatischer Imperativ für den Handelnden verbindlich sein kann und aus welchen Gründen die pragmatischen Imperative nur eine bedingte Geltung haben. Dadurch lässt sich zeigen, worin der entscheidende Unterschied zwischen der Menschheit als
60
2 Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Determiniertheit der menschlichen Natur
dem objektiven Zweck der Vernunft und der Glückseligkeit als einem natürlichen Zweck besteht. Dieser Problematik kommen wir durch die Beantwortung jener Frage näher, welchen Anspruch die praktische Vernunft beim jeweiligen Imperativ erhebt. Hierfür scheint, als Diskussionsgrundlage, eine Auseinandersetzung mit T. Jr. Hills Studie von der Normativität eines hypothetischen Imperativs als geeignet. Denn diese Studie bleibt erstens Kants eigenen Darstellungen treu und schließt sich zweitens einer bestimmten Interpretationslinie an, welche versucht, aus Kants Moralphilosophie die Ansätze einer Theorie vom „vernünftigem Akteur“ („rational agency“) zu entnehmen. Eine Auseinandersetzung mit Hills Studie eignet sich daher um Kants Sichtweise aus anderer Perspektive zu ergänzen, wenn die Schwächen dieser Interpretation aufgewiesen werden können. Hill (Hill 1973, S. 443 – 444; 1992, S. 32) ist der Meinung, dass nicht nur der kategorische Imperativ, sondern auch die hypothetischen Imperative „objektive Geltung“ haben. Dabei fällt nun auf, dass der kategorische sowie ein hypothetischer Imperativ in Hinblick auf die Normativität gleichartig sind, da in beiden Fällen vom Verlangen nach Rationalität als logische Konsistenzforderung die Rede ist. Jedoch haben die beiden Typen von Imperativen einen unterschiedlichen Anwendungsbereich und somit auch verschiedenen Adressatenkreis. Das heißt: Der kategorische Imperativ hat alle vernünftigen Wesen als seine Adressaten, ein hypothetischer Imperativ hingegen nur diejenigen vernünftigen Wesen, die den im entsprechenden Imperativ verkörperten Zweck als Handlungsziel haben. Des Weiteren vertritt Hill ein zweistufiges Modell in Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem kategorischen Imperativ und den hypothetischen Imperativen: Nach dem kategorischen Imperativ besteht die Verpflichtung, nur diejenige Zielsetzung zu verfolgen, die selbst moralisch-zulässig ist und keinen Einsatz moralisch-unzulässiger Mittel in Anspruch nimmt. Wenn dies erfüllt ist, dann besteht nach dem hypothetischen Imperativ die Verpflichtung, die zum Erreichen dieses Ziels erforderlichen Mittel auf den fraglichen Fall anzuwenden. Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass es – Hill zufolge – in einem strengen Sinne keinen eigenständigen Bereich für die hypothetischen Imperative gibt, da das in ihnen ausgedrückte Ziel in der Tat stets vor Prüfung des kategorischen Imperativs steht. C. M. Korsgaard wiederum vertritt in ihrem Aufsatz „The Normativity of Instrumental Reason“ gleiche Einschätzung, wenn sie sagt: „that hypothetical imperatives cannot exist without categorical ones, or anyway without principles which direct us to the pursuit of certain ends, or anyway without something which gives normative status to our ends“ (Korsgaard 1996, S. 250). Korsgaard zufolge ist die Normativität des hypothetischen Imperativs prinzipiell nicht selbstständig. Eine auf dem hypothetischen Imperativ basierte Handlung gewinnt erst dann den
2.2 Grundzüge einer kantischen Handlungstheorie
61
normativen Charakter, wenn der fragliche hypothetische Imperativ den Anspruch des kategorischen Imperativs erfüllen kann. Zwar hat Hill auf das Verhältnis zwischen einem hypothetischen und einem kategorischen Imperativ in aller Ausführlichkeit aufmerksam gemacht, jedoch mutet seine Deutung fragwürdig an. Denn es ist zu fragen, ob die beiden Arten des Imperativs tatsächlich die qualitative Gleichartigkeit der Verpflichtung und somit nur die quantitative Differenz der Verbindlichkeit haben. Anders gesagt: Ist die praktische Notwendigkeit, die in jeweiligen Imperativen zum Ausdruck kommt, nur dem Grad nach unterschiedlich und spielt die praktische Vernunft in einschlägigen Imperativen eine gleiche Rolle, also die der Konsistenzforderung? Verlangt die Vernunft vom Handelnden nur, ohne Widerspruch zu denken und zu wollen, wenn er nach einem Imperativ handelt – sowohl bei einem hypothetischen als auch einem kategorischen Imperativ? Im Grunde genommen trifft Hills Auslegung insofern zu, als bei den zwei Typen des hypothetischen Imperativs kein Unterschied hinsichtlich der Art der Rationalität besteht, nämlich in der Konsistenzforderung. Kants Darlegungen zufolge lässt sich der Geltungsgrund eines hypothetischen Imperativs als folgendes Prinzip formulieren: „Wer den Zweck will, will auch (der Vernunft gemäß notwendig) die einzigen Mittel, die dazu in seiner Gewalt sind“ (GMS IV: 417– 8; Benennung als „Begründungsprinzip für den hypothetischen Imperativ“). Die dort gesprochene Notwendigkeit ist die Notwendigkeit des Satzes vom Widerspruch. Solche Imperative verlangen vom Handelnden, sich konsistent zu verhalten. Denn sie meinen, es sei widersprüchlich, dass man einen bestimmten Zweck X erreichen will¹⁴ und gleichzeitig trotzdem verfügbare Mittel zum Erreichen von X nicht anwenden will. In diesem Zusammenhang besteht der Grund für den normativen Charakter eines hypothetischen Imperativs nun darin, dass ein eingeschränkt vernünftiges Wesen nicht immer vernünftig handeln kann. Es gibt z. B. den Fall, in dem jemand ein Ziel hat, die dazu erforderlichen Handlungen aber ungern ausführt. Diese Auffassung von Hill zieht eine problematische Konsequenz nach sich, dass die spezifische Differenz zwischen reiner praktischer und bloßer praktischer Vernunft verwischt wird¹⁵.Was Hill übersieht, ist die Tatsache, dass die Vernunft je nach Art des Imperativs einen anderen Anspruch erhebt und somit ein anderes Bewertungskri-
Das Verb „will“ soll betont werden, da hinter dieser Fragestellung die Unterscheidung des Wollens von der Begierde bzw. vom Wunsch eine wichtige Rolle spielt. Dieser Punkt wird im nächsten Abschnitt durch die Erklärung des „vollständigen Wollens“ eingehend erläutert. Als Beleg dieser Deutung lässt sich die folgende Textstelle anführen: „Alsdenn allein ist Vernunft nur, sofern sie für sich selbst den Willen bestimmt (nicht im Dienste der Neigungen ist), ein wahres oberes Begehrungsvermögen, dem das pathologisch bestimmbare untergeordnet ist, und wirklich, ja spezifisch von diesem unterschieden“ (KpV V: 24– 5; meine Herv.).
62
2 Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Determiniertheit der menschlichen Natur
terium für die praktischen Überlegungen bildet¹⁶. Wie bereits ausgeführt wurde, erhebt die Vernunft bei den hypothetischen Imperativen eine Konsistenzforderung, welche auf dem Satz vom Widerspruch beruht. Im Gegensatz dazu hat die Vernunft beim kategorischen Imperativ eine selbstzwecksetzende bzw. selbstgesetzgebende Funktion, wodurch ein absoluter Wert des Willens und ein darauf basierendes Bewertungskriterium ermöglicht werden. Anhand dieses Ergebnisses lässt sich erklären, worin der wichtigste Unterschied zwischen der Glückseligkeit als einem natürlichen Zweck und einem Selbstzweck besteht: Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit bietet nur die Kriterien für subjektive Bewertungen, nämlich solche, welche auf Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit beruhen und welche ein Subjekt mit bestimmten Gegenständen oder Umständen verbunden sieht. Aufgrund der Variabilität des Gefühls in einem Subjekt und zwischen Subjekten haben diese subjektiven Bewertungen jedoch keine Allgemeingültigkeit. Sie sind abhängig von der kontingenten Lage eines Subjekts, das der Lustempfindung an einem jeglichen Gegenstand fähig ist. Dagegen steht der Selbstzweck gänzlich außerhalb des Zusammenhangs eines auf Sinnlichkeit zurückgehenden Begehrens. Das Prinzip des Selbstzwecks, also der kategorische Imperativ, stellt unabhängig von sinnlichen Antrieben die Bewertungskriterien für
Korsgaards Auffassung geht m. E. in die gleiche Richtung. Hill und Korsgaard scheinen die Forderung der Rationalität, die den hypothetischen Imperativen zugrunde liegt, als zu hoch einzuschätzen. Korsgaards Interpetation wird aus folgendem Zitat besonders ersichtlich: „The instrumental principle can only be normative if we take ourselves to be capable of giving laws to ourselves, or in Kant’s own phrase, if we take our own wills to be legislative. […] The only difference is that the conception of oneself as a lawmaker required for the instrumental principle does not yet (or not obviously) involve universalising over every rational agency“(Korsgaard 1997, S. 246). An dieser Stelle wird der Wille in der Befolgung eines hypothetischen Imperativs für autonom bzw. selbstgesetzgebend gehalten. Ausdrücke wie z. B. „giving laws to ourselves“ or „legislative“ sollten jedoch nicht in Zusammenhang mit einem hypothetischen Imperativ verwendet werden, da die Autonomie die besondere Benennung Kants für den nicht auf einen anderen zurückführbaren Aspekt des Willens ist. Die Autonomie ist somit nicht mit allen Momenten der Selbstbestimmung gleichzusetzen. Ein weiteres Indiz für diese fragwürdige Autonomie-Auffassung von Korsgaard findet sich in ihrem Buch Kingdom of Ends: Nach Korsgaard unterscheidet sich die vollkommenrationale Autonomie von der unvollkommen-rationalen („complete and incomplete rational autonomy“), die sich jeweils auf die moralische Handlung und auf die technisch-praktische Handlung beziehen (vgl. Korsgaard 1996, S. 114, 123 – 4, 152). Ihre Deutung des moralisch-neutralen vernünftigen Handelns als eine Art der Autonomie scheint allerdings nicht ganz zutreffend. Der Verdacht liegt nahe, dass dieser Auffassung die nicht ausreichend geklärte Frage zugrunde liegt, welche Rolle die praktische Vernunft bei den jeweiligen Imperativen spielt. Des Weiteren gilt es, Kants Unterscheidung zwischen dem Willen und der Willkür im Kopf zu behalten: Eine freie Willkür liegt dann vor, wenn das Handeln von jemanden auf der eigenen Entscheidung bzw. auf selbst-aufgenommenen Gründen beruht. Der freie Wille als moralische Autonomiefähigkeit muss hingegen zwei Momente in sich enthalten, nämlich die Selbstgesetzgebung als auch die Selbstbestimmung bzw. Selbstreferenz.
2.3 Geltungsgründe pragmatischer Imperative
63
notwendig gutes Handeln zur Verfügung. Am kategorischen Imperativ zeigt sich somit die Idee von unbedingter praktischer Notwendigkeit, die der Vernunft eine genuin praktische Rolle als selbstzwecksetzende bzw. selbstgesetzgebende Funktion zuweist. Es gilt darauf zu verweisen, dass Hill nicht ausreichend in Betracht zieht, dass diese drei Typen des Imperativs nicht nur dem Grad der Nötigung nach, sondern auch dem Umfang der praktischen Überlegungen bzw. Zielsetzungen nach unterschiedlich sind. Bei einem technischen Imperativ wird das Ziel nicht unter der Bedingung eines übergreifenden Ziels und somit auf isolierte Weise gesetzt. Man kann diese Zielsetzung vom Kontext weiterer Zielsetzungen abstrahieren. Im Gegensatz dazu kommt bei einem pragmatischen Imperativ das ganze Leben des Subjekts in Betracht. Jede einzelne Entscheidung wird am Horizont der eigenen Glückseligkeit als ein übergreifendes, umfassendes Ziel getroffen. Die Gemeinsamkeit eines pragmatischen Imperatives mit einem kategorischen Imperativ besteht darin, dass bei beiden die Zielsetzung stets in einem Zusammenhang weiterer Zielsetzungen steht und der ganze Horizont des Handelns im Blick behalten wird. Die praktischen Handlungsanweisungen zur eigenen Glückseligkeit sollten allerdings niemals als eine allgemeine Leitlinie für moralisches Handeln angesehen werden. Denn diese Anweisungen schreiben dem Subjekt nur diejenigen Handlungen vor, welche ihm zum Zeitpunkt der Entscheidung für sein eigenes Wohlergehen die Besten zu sein scheinen. Die näheren Gründe dafür, warum diese „Regeln der Klugheit“ nicht für jedes vernünftige Wesen als verbindlich erachtet werden können, sollen im weiteren Verlauf geklärt werden.
2.3 Geltungsgründe pragmatischer Imperative Um auf Kants Argumentation der bedingten Gültigkeit des pragmatischen Imperativs näher einzugehen, setze ich mich im Folgenden mit Kants Aussage über die Bedingungen für die Verbindlichkeit eines hypothetischen Imperativs auseinander: [A]ber dass, wenn ich weiß, durch solche Handlung allein könne die gedachte Wirkung geschehen, ich, wenn ich die Wirkung vollständig will, auch die Handlung wolle, die dazu erforderlich ist, ist ein analytischer Satz (GMS IV: 417; meine Herv.).
Diese Textstelle erläutert ausführlich die zwei Bedingungen, deren Erfüllung ein hypothetischer Imperativ für uns verbindlich machen kann: Erstens wissen oder zumindest glauben wir, dass unser beabsichtigter Zweck nur durch die Handlung, die durch einen hypothetischen Imperativ als notwendig vorgestellt wird, ermöglicht werden kann. Zweitens wollen wir die Folge dieser Handlung, nämlich den Handlungszweck, vollständig. Zu beachten ist, dass an dieser Stelle das
64
2 Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Determiniertheit der menschlichen Natur
Verhältnis zwischen der ersten und der zweiten Bedingung so formuliert wird, dass die zweite erst dann zur Geltung kommt, wenn die erste erfüllt ist. Es ist allerdings nicht klar, wie der Ausdruck des „vollständig Wollens“ zu verstehen ist. Die Beobachtung, dass Kant das Wollen von den bloßen Wünschen oder von der Begierde unterscheidet, kann als ein Ansatzpunkt zur Klärung dieser Frage dienen: Wenn der Akteur seinen Zweck vollständig will, hat er nicht nur eine Haltung gegenüber einem bestimmten Zustand, sondern handelt auch durchgängig so, wie sein Beabsichtigtes zu verwirklichen ist. Beim Wünschen oder Begehren wird dagegen der Akteur nicht zwangsläufig dazu geführt, dementsprechend zu handeln. Es ist z. B. auch möglich, ein positives Gefühl bezüglich eines Gegenstandes X zu haben oder nach X zu begehren, ohne ihn tatsächlich zu wollen¹⁷. Dann wird bei den pragmatischen Imperativen die Erfüllungsmöglichkeit der zwei oben genannten Bedingungen fragwürdig. Zunächst ist die erste Bedingung von uns nicht zu erfüllen. Denn es ermangelt uns an der Allwissenheit, die dazu nötig ist, um unsere Glückseligkeit ausmachenden Elemente zu begreifen. Bei den von Kant selbst erwähnten Beispielen für mögliche Bestandteile der Glückseligkeit – wie z. B. Reichtum, Einsicht oder Erkenntnis, langes Leben usw. (vgl. GMS IV: 418) – handelt es sich bei genauerer Betrachtung nur um Dinge, deren Folge sich nicht mit Sicherheit vorhersehen lässt. Da die zweite Bedingung erst unter der Voraussetzung der ersten erfüllt werden kann, kommt die Erfüllung der zweiten auch in Frage: Obwohl wir nach Kant „nach einer Naturnotwendigkeit“ wollen, was uns glücklich macht, bleibt uns immer die Frage offen, ob wir es vollständig wollen¹⁸. Da dieser Unerfüllbarkeit die begriffliche Unbestimmtheit der Glückseligkeit zugrunde liegt, gilt es, diese Unbestimmtheit detailliert zu erörtern. Aufgrund der endgültigen Darlegung Kants ist der Begriff der Glückseligkeit aus zwei Gründen unbestimmt: 1) Jeder (sogar ein und dasselbe Subjekt jeweils nach seinen verschie-
Um den Ausdruck des „vollständig Wollens“ noch anschaulicher zu machen, gebe ich ein Beispiel: Ich habe mich vor langer Zeit entschieden, möglichst viel zu tun, was meine Mutter glücklich macht. Ich weiß oder zumindest glaube ich, dass sie glücklich wird, wenn ich ihr zeige, dass ich immer an sie denke (nach der ersten Bedingung). Leider habe ich trotz meines Vorsatzes nicht angerufen, ihr für den Muttertag keine Karte geschickt, obwohl ich immer daran gedacht habe, dass ich solche Dinge eigentlich tun müsste. Mit Kants Worten gesprochen,will ich in diesem Fall den Zweck, d.i. die Glückseligkeit meiner Mutter zu fördern, nicht vollständig, auch wenn man wohl sagen kann, dass ich sie gewünscht habe. Falls ich mich irgendwann einmal oder sporadisch um das Wohlbefinden meiner Mutter kümmern würde, kann dies auch nicht als „das vollständige Wollen“ ihrer Glückseligkeit gelten. Wenn ich die Beförderung ihrer Glückseligkeit zu meiner Maxime mache und ihr konsequent folge, ist dann diese Handlung für die aufgrund des vollständigen Wollens entstehende zu halten. Wird die bisherige Deutung auf das von Kant angeführte Beispiel eines „Podagrists“ (vgl. GMS IV: 399) angewandt, kann man sagen, dass dieser Podagrist seine Glückseligkeit nicht vollständig will.
2.3 Geltungsgründe pragmatischer Imperative
65
denen, wechselhaften Bedürfnissen) gestaltet seine Glückseligkeit inhaltlich so verschieden aus, dass kein allgemeiner Begriff der Glückseligkeit festzustellen ist (vgl. GMS IV: 416; KpV V: 25; MS VI: 388). 2) Aufgrund unserer eingeschränkten Erkenntnisse sowie Einsichten können wir „niemals bestimmt und mit uns selbst einstimmig sagen“ (GMS IV: 417), was uns auf lange Sicht wahrhaftig glücklich macht. Soviel ist klar: Zwar ist die Absicht, glücklich zu werden, für jeden Einzelnen „nach einer Naturnotwendigkeit“ (GMS IV: 415) gegeben, der Weg zum Glücklichsein jedoch ist nicht zwingend „nach einer Naturnotwendigkeit“ vorgezeichnet. Determiniert sind die Neigungen nur dadurch, dass sich im Körper die Ursache ihres Entstehens befindet. Der konkrete Gehalt der Glückseligkeit wird durch Naturgesetze bestimmt und lässt sich aus dieser Perspektive auch erklären. Im Gegensatz hierzu darf das absichtliche Verfolgen dieser Inhalte als Handlungszwecke, das Streben nach Befriedigung der Neigungen und Bedürfnisse, aber nicht als naturkausal bestimmt begriffen werden: Streben nach Glückseligkeit als eine formale Bestimmung darf nicht in der Kausalität als Naturnotwendigkeit bestehen. Vielmehr besitzt der Mensch ein Vermögen, Lebensziele abstrakt zu antizipieren, nach den praktischen Prinzipien auszuwählen und nach den Bedingungen dieser Prinzipien solche anzustreben. Im Anschluss an dieses Ergebnis argumentiert G. Prauss (Prauss 1984, S. 34), dass sich das Streben nach Glückseligkeit als Handeln des Menschen prinzipiell nicht aus der Natur heraus erklären lässt, sondern allein aus der Freiheit. In diesem Zusammenhang ist auf die Grundannahme Kants nochmals aufmerksam zu machen, nämlich dass ein Handelnder seine Maxime zur Neigungsbefriedigung erst „durch Mitwirkung der Vernunft“ (GMS IV: 427) aufstellen kann. Das Streben nach Glückseligkeit ist als menschliches Wollen und damit eine Maxime zur eigenen Glückseligkeit auch als ein Produkt der Vernunft anzusehen, weil nur die Vernunft eine bestimmte Handlung als Mittel zur Wirkung des beabsichtigten Sachverhalts vorschreiben kann (vgl. KpV V: 20). Diese Interpretation wird von der bereits dargestellten Handlungstheorie Kants unterstützt, der zufolge jedes vernünftige Wesen „nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien“ (GMS IV: 412) handelt. Gesetze bzw. praktische Prinzipien leiten die Wahl der Maxime, die bereits in sich den Zweck sowie die geeigneten Mittel zu diesem Zweck enthalten.Wenn ein Handelnder seine Maxime nach dem Anspruch eines praktischen Prinzips aufstellt, macht er durch seine freie Willkür einen Zweck zu seinem eigenen (vgl. GMS IV: 427; MS VI: 385). Trotz dieser Feststellung bleibt jedoch noch die Frage offen, auf welche konkrete Weise sich das sinnlich-determinierte Verlangen nach Glückseligkeit mit dem vernünftigen Entwurf einer Glückseligkeit verhält.
66
2 Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Determiniertheit der menschlichen Natur
2.4 Die im Glückseligkeitsstreben zum Einsatz kommende praktische Vernunft Zur Lösung der Frage nach dem Status eines pragmatischen Imperatives verfolge ich im Folgenden zwei Ansätze: Der erste Ansatz beinhaltet, dass die Glückseligkeit von Kant als „Ideal der Einbildungskraft“ (GMS IV: 418) sowie als eine „durch seinen mit der Einbildungskraft und den Sinnen verwickelten Verstand“ entworfene „Idee eines Zustandes“ (KU V: 430) bezeichnet wird. Es gilt darauf nochmals aufmerksam zu machen, dass sich jeder eine konkrete Konzeption der Glückseligkeit entwerfen kann oder muss, weil der Begriff der Glückseligkeit tatsächlich ein unbestimmter ist. Menschen sind bedürftige Wesen mit der Einbildungskraft als „das Vermögen der Darstellung“ (KU V: 232)¹⁹. Als bedürftige sinnliche Wesen können wir einerseits der Notwendigkeit eines angenehmen Lebens nicht entsagen. Als vernünftige Wesen mit der Einbildungskraft haben wir andererseits die Möglichkeit unseren Lebensentwurf selbst zu gestalten. Durch die Einbildungskraft stellen wir uns vor, wie unser Leben in der Zukunft aussehen soll und durch diese Vorstellung können wir unser Leben selbst gestalten. Aus diesem Grund machen wir unvermeidlich die Glückseligkeit, d. h. die Vorstellung eines Lebens, in dem es uns möglichst gut geht, zu unserem Ziel (vgl. KpV V: 122; MS VI: 480). Der zweite Ansatz ergibt sich daraus, dass die Handlungsanweisungen zum Erreichen der eigenen Glückseligkeit als „Imperative der Klugheit“ (GMS IV: 418) bezeichnet werden und die Klugheit somit als die das Glückseligkeitsstreben leitende Fähigkeit zutage tritt. Dabei ist bemerkenswert, dass die Klugheit in einer Anmerkung der GMS in zwei Arten eingeteilt wird, d. h. eine Weltklugheit und eine Privatklugheit. Die Klugheit wird zunächst als „die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein“ (GMS IV: 416) definiert. In der Weltklugheit geht es um Erkenntnisse, welche die Welt im Sinne der menschlichen Gesellschaft betreffen. Der Ausdruck „Weltklugheit“ impliziert des Weiteren, es gehe um eine Klugheit, die der Handelnde in der Welt anwenden kann. Im Mittelpunkt der Weltklugheit steht demnach die Verhaltensweise eines Handelnden mit anderen. Da sie grundsätzlich die Geschicklichkeit, andere Menschen zu jeweils eigenen egoistischen Absichten zu benutzen, bedeutet, behandelt ein Subjekt bei der Ausübung der Weltklugheit die anderen Menschen nicht als „Selbstzwecke“, sondern nur als Mittel zur Erfüllung seiner Absichten. Privatklugheit ist darüber hinaus darauf ausgerichtet, alle einzelnen „Absichten zu seinem eigenen dauerhaften Vorteil zu vereinigen“ (GMS IV: 416 Fn.). Im Vergleich
Die nähere Bestimmung der Einbildungskraft bei Kant ist wie folgt: „die Fähigkeit, Vorstellungen auch ohne Gegenwart des Objekts zu haben“ (Eisler 1930, S. 105).
2.4 Die im Glückseligkeitsstreben zum Einsatz kommende praktische Vernunft
67
zur Weltklugheit und dem, was den jeweils beliebigen Handlungsentwurf eines einzelnen Handelnden betrifft, wird erst bei der Privatklugheit die Dimension eines Lebens als Ganzes in Erwägung gezogen. Die Privatklugheit ist die Fähigkeit, die Konzeption von Glückseligkeit inhaltlich näher zu bestimmen, indem die eigenen Zwecke zueinander gewichtet, in ihrer Vielfalt, Stärke und Dauerhaftigkeit geordnet und miteinander in Verbindung gebracht werden können. Die Privatklugheit ist in dieser Hinsicht nicht eine bloße Fähigkeit bei den bereits gegebenen Absichten die richtigen Mittel zu deren Verwirklichung herauszufinden, sondern sie betrifft die oberste Absicht aller einzelnen Absichten, die für die Lebensführung konstitutiv sind. In diesem Sinne ist die Privatklugheit der Weltklugheit überordnet²⁰. Aufgrund des Einsatzes der Privatklugheit im Glückseligkeitsstreben können die Regeln der Klugheit weder in das „Reich der Freiheit“ noch in das „Reich der Natur“ erschöpfend eingeordnet werden. Insofern lässt sich festhalten: Klugheit stellt eine andere Form von praktischer Rationalität dar als die technische „Geschicklichkeit“ und die moralische „Weisheit“ (vgl. VIII: 201, 263, 322– 5). Die Unterscheidung zwischen einer technischen und einer moralischen Kompetenz ist nun eng mit der Unterscheidung von Natur und Freiheit verbunden: Technische Regeln sind für Kant solche, die auf
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Kant in der GMS das Pragmatische mit der „Vorsorge für die allgemeine Glückseligkeit“ (GMS IV: 417 Fn.) in Zusammenhang setzt. Kant betont dabei, dass pragmatische Sanktionen auf die allgemeine Wohlfahrt gerichtet sind. Zu beachten ist nun, dass pragmatische Sanktionen zwar nach ihrem Geltungsstatus grundsätzlich von Gesetzen des Staatrechts unterschieden sind, jedoch mit ihr einen gemeinsamen Zweck teilen können. Gesetze der Staaten sollen durch allgemeine Prinzipien des Staatsrechts begründet werden. Dies trifft auf pragmatische Sanktionen nicht zu. Dennoch sollen sich die beide – Gesetzen des Staatrechts und pragmatische Sanktionen- auf die allgemeine Wohlfahrt der Menschen ausrichte. Aus diesem Ergebnis lässt sich ein Lösungsansatz für die Frage entnehmen, warum die erste Definition der Klugheit in der GMS von Kant als „die Klugheit im engsten Verstand“ (GMS IV: 416; meine Herv.) bezeichnet wird. Meint Kant damit vielleicht, dass es die Klugheit in einem weiteren oder im weitesten Sinne geben kann? Wenn ja, stellt sich die Frage, welche Klugheit eine solche sein kann. An der oben erwähnten Stelle der GMS (GMS IV: 416) wird „die Klugheit im engsten Verstand“ als „die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein“ (GMS IV: 416; meine Herv.) bestimmt. Anhand der kantischen Zusammensetzung zwischen dem „eigentlichen“ Pragmatischen und der allgemeinen Wohlfahrt (vgl. GMS IV: 417 Fn.) lässt sich sagen: Klugheit in einem weiteren umfassenden Sinne kann diejenige sein, welche auf den dauernden Vorteil von mehr Menschen als einem selbst gerichtet ist. Als „Weltwesen“, ein „mit anderen Dingen in der Welt verbundene Wesen“ (KU V: 447), stehen wir vor der Aufgabe, die Standpunkte anderer Handelnder im Blick zu behalten.Wir müssen die unendliche Dynamik menschlichen Handelns in der Welt berücksichtigen. Kants Ziel wäre: Er betrachtet den Menschen nicht als rein egoistischen rationalen Akteur, sondern als einen Akteur, der sich selbst und andere Menschen als mögliche Weltbürger betrachten kann.
68
2 Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Determiniertheit der menschlichen Natur
den kausalen Naturgesetzen über Zweck-Mittel-Beziehungen basieren, während moralische Normen das Reich der Freiheit ordnen. Daher fragt sich: Was sollen pragmatische Regeln bzw. Regeln der Klugheit? Regeln der Klugheit können in keinem eindeutigen Fall zu einer bloß kausal erklärenden und prognostizierenden Naturwissenschaft gerechnet werden. Ebenso wenig können sie in das „Reich der Freiheit“ erschöpfend eingeordnet werden, da sie mit der gesetzgebenden Freiheit nichts zu tun haben. Kants Standpunkt bezüglich des Status von Regeln der Klugheit lässt sich anhand folgender Textstelle belegen: Die pragmatische, oder Regeln der Klugheit, welche unter der Bedingung eines wirklichen und sogar subjektiv-notwendigen Zwecks gebieten, stehen nun zwar auch unter den technischen [Imperativen]. […] Allein dass der Zweck, den wir uns und andern unterlegen, nämlich eigene Glückseligkeit, nicht unter die bloß beliebigen Zwecke gehört, berechtigt zu einer besonderen Benennung dieser technischen Imperative: weil die Aufgabe nicht bloß, wie bei technischen, die Art der Ausführung eines Zwecks, sondern auch die Bestimmung dessen, was diesen Zweck selbst (die Glückseligkeit) ausmacht, fordert, welches bei allgemeinen technischen Imperativen als bekannt vorausgesetzt werden muss (KU EE XX: 200 Fn.; meine Herv.).
An der Stelle wird erläutert, wodurch sich ein technischer Imperativ von einem pragmatischen unterscheidet, auch wenn der pragmatische Imperativ Kant zufolge grundsätzlich zum technischen gezählt werden muss: In der Verfolgung eines pragmatischen Imperativs sind zwei Aufgaben zu berücksichtigen, d. h. nicht nur die gleiche Aufgabe wie bei den technischen Imperativen, den beabsichtigten Zweck durch passende Mittel zu verwirklichen, sondern auch die Aufgabe, die eigene formale Vorstellung der Glückseligkeit durch konkrete Ziele inhaltlich zu bestimmen. Um die letztere Aufgabe auszuführen, sollte ein Handelnder über Privatklugheit verfügen. Dabei fällt auch auf, dass für die Ausübung der Privatklugheit die Durchführbarkeit der Vermittlung von Allgemeinen (d. h. die oberste Absicht des Lebens, glücklich zu sein) und Besonderen (d. h. einzelne Absichten je nach dem Zeitpunkt) signifikant wichtig ist²¹. Anknüpfend daran lässt sich anmerken: Wie ausgeführt wurde, verbindet das Streben nach Glückseligkeit jeden Menschen mit der Aufgabe, sich zu entscheiden, wie sein Leben geführt werden soll. Des Weiteren bezieht sich die Aufgabe, wie ein Mensch sein ganzes Leben so führt, dass er glücklich wird, ebenfalls darauf, zu einer „Person“ zu werden. Denn ein vernünftiger Akteur („rational agency“) ist im strengen Sinne ein Wesen, dessen Besonderheit darin besteht, dass
Wenn es bei der Privatklugheit gilt, aus den jeweiligen Handlungssituationen das ihr angehörende aber nicht bereits vorhandene Allgemeine des Wollens zu entnehmen und in seiner Relevanz einzuschätzen, folgt diese Art der Vermittlung von Besonderen und Allgemeinen eher die reflektierende als die bestimmende Urteilskraft.
2.4 Die im Glückseligkeitsstreben zum Einsatz kommende praktische Vernunft
69
sein Strebensvermögen, seine Wünsche sowie seine Interessen auf eine relativ konsequente Weise verfolgt werden können. Für den Moment ist hier eine Grenze zu dieser Auffassung zu markieren, um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen. Dabei soll berücksichtigt werden, dass mit dem Glückseligkeitsprinzip der Konstruktionsprozess einer Person nicht erschöpfend geklärt werden kann. Denn es bedarf dazu noch der Rücksichtnahme auf den Anspruch des kategorischen Imperativs. Das Streben nach Glückseligkeit ist der alle konkreten Wünsche und Entscheidungen hervortreibende Beweggrund des Handelns, soweit dieser auf Selbsterfüllung gerichtet ist und dem Subjekt keine anderen besseren Alternativen vor Augen führt. Deshalb ist festzuhalten: Der kategorische Imperativ stellt eine einschränkende Bedingung für unsere Handlung im Allgemeinen dar. Das Ziel eines hypothetischen Imperativs soll aufgegeben werden, wenn es allein unmoralisch wäre oder wenn es nur durch moralisch nicht vertretbare Mittel erreicht werden kann. Insofern ist die jeweilige Maxime für den Anspruch des kategorischen Imperativs erfüllt, wenn sich der Handlungsinhalt konkretisieren lässt. Unser Glücksstreben hat den gleichen Anspruch. Schließlich kann man nur so vom Handlungsprinzip zur eigenen Glückseligkeit sprechen, wie Kant es ausdrückt, dass dafür nicht Imperative, sondern nur kluge Ratschläge möglich sind. Denn nur Ratschläge lassen dem anderen die Freiheit, über seine eigene konkrete Glückseligkeit in letzter Instanz selbst zu entscheiden. Freilich müssen wir damit alle Risiken einer falschen Entscheidung auf uns nehmen und alle Folgen derselben selbst tragen. Zu beachten ist dabei, dass für das Glückseligkeitsstreben eines vernünftigen, aber zugleich endlichen Wesens nur auf diese Weise die Freiheit der Willkür eingeräumt wird. Als ein eingeschränktes Vernunftwesen benötigt der Mensch daher viel Zeit zum Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Lebens. Als ein mit anderen zusammenlebendes Wesen benötigt der Mensch viel Rücksichtnahme auf das Anderssein der anderen, um sich glücklich zu machen.
3 Der Ort pragmatischer Imperative in der Philosophie In der ersten sowie zweiten Einleitung der KU vertritt Kant die Meinung, dass die Vorschriften zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit nicht zum Bereich der praktischen, sondern theoretischen Philosophie gehören. Denn die Aufgabe, die uns die Vorschriften zur eigenen Glückseligkeit stellen, bestehen nur darin, die Theorie menschlicher sinnlicher Natur auf den jeweiligen Sachverhalt anzuwenden, um notwendige Mittel zum eigenen Wohlergehen zu wählen. Diese Sichtweise Kants wird aus folgendem Zitat besonders gut ersichtlich: [D]ie allgemeine Glückseligkeitslehre enthält […] insgesamt nur Regeln der Geschicklichkeit, die mithin nur technisch-praktisch sind, […] um eine Wirkung hervorzubringen, die nach Naturbegriffen der Ursachen und Wirkungen möglich ist, welche, […] also keine Stelle in einer besonderen Philosophie, die praktische genannt, verlangen können (KU V: 173; meine Herv.).
An dieser Stelle zeigt sich eindeutig Kants Ansicht, dass das Verlangen nach Glückseligkeit im Rahmen der theoretischen Philosophie behandelt werden soll, wenn auch der Grund dafür nicht leicht nachzuvollziehen ist. Vor einer eingehenden Untersuchung der Einschätzung Kants soll zunächst darauf aufmerksam gemacht werden, dass Kant hier im Vergleich zu der GMS „dem Imperativ der Klugheit“ keinen eigenen Platz zuweist²². Zwar wird der pragmatische Imperativ in der GMS als eine besondere Art des technischen Imperatives betrachtet, hat der pragmatische Imperativ dort doch im Rahmen der Dreiteilung der praktischen Grundsätze seinen eigenen Platz und markiert somit seinerseits eine eigenständige Richtlinie des Handelns. Die Sichtweise im obigen Zitat scheint des Weiteren mit seiner Ansicht aus der KpV sowie der GMS schwer in Einklang zu bringen. Denn Kant billigt sowohl in der GMS als auch der KpV bei der Verfolgung der pragmatischen Imperative die Ausübung der freien Willkür zu. Infolgedessen werden die pragmatischen Imperative nicht erschöpfend auf die theoretischen Kenntnisse der menschlichen Natur reduziert. Dabei zeigt sich, dass beim Glückseligkeitsstreben aufgrund der Unbestimmtheit des Glückseligkeitsbegriffs sowohl die Frage nach der techni-
Ein interessanter Punkt ist, dass Kant in der ersten Fassung der KU der gleichen Ansicht zu sein scheint wie in der GMS, wonach die Unbestimmtheit des Glückseligkeitsbegriffs zu einer besonderen Benennung der technischen Imperative, nämlich der pragmatischen Imperative, berechtigt (vgl. KU EE XX: 200 Fn.). Jedoch bleibt diese Einschätzung in der zweiten Fassung der KU nicht erhalten.
3 Der Ort pragmatischer Imperative in der Philosophie
71
schen Geschicklichkeit, als auch die Frage nach der einzelnen Zwecksetzung, die insgesamt für den Inhalt der Glückseligkeit konstitutiv ist, beachtet werden müssen. Die inhaltliche Konkretisierung des Glückseligkeitsbegriffs steht nun unter der Bedingung, dass alle die Glückseligkeit ausmachenden Elemente den Anspruch des Prinzips der Sittlichkeit erfüllen. Nach der Systematik der KpV sieht es jedoch nicht so aus, als ob die Regeln der Klugheit der theoretischen Philosophie zuzuordnen wären und sich in einem theoretischen Kalkül über diesbezügliche Umstände erschöpften. Vielmehr sind es praktische Maxime, durch die der Einzelne sein Tun mit Blick auf die Glückseligkeit hin, auszurichten hat (vgl. KpV V: 61). Die praktische Vernunft gibt uns einen Auftrag, „praktische Maxime […] in Absicht auf die Glückseligkeit“ zu „machen“ (vgl. KpV V: 61). Dementsprechend können die Regeln der Klugheit schwerlich auf die auf strikten Naturgesetzen beruhenden theoretischen Kenntnisse zurückgeführt werden. Es stellt sich deshalb die Frage, wie die beiden zunächst einmal nicht miteinander vereinbaren Aussagen Kants zusammengebracht werden können. Was sind die näheren Gründe für den Standpunkt Kants, dass die pragmatischen Vorschriften der theoretischen Philosophie zugeordnet werden müssen? Um diese Frage zu beantworten, sollen zunächst die von Kant angeführten Argumente eingehend analysiert werden. Zu diesem Zweck sei in einem ersten Schritt erklärt, was unter dem Technisch-Praktischen zu verstehen ist. Dadurch lässt sich bereits die Tragweite der kantischen Einschätzung aufzeigen, welcher zufolge die praktischen Grundsätze zum Erreichen der eigenen Glückseligkeit auf die technisch-praktischen Sätze reduziert werden können. Das erste Merkmal des Technisch-Praktischen bestehe darin, dass nicht der Freiheitsbegriff, sondern der Naturbegriff das Begehrungsvermögen zum Handeln bestimmt, um dann den vorgestellten Gegenstand bzw. Sachverhalt zu verwirklichen²³. Das zweite Merkmal des Technisch-Praktischen liegt in der unterschiedlichen „Vorstellungsart“. Wenn man nur den Inhalt eines Satzes betrachtet, kann es keinen Unterschied zwischen einem technischen-praktischen Satz, der in letzter Instanz zur theoretischen Philosophie gehört, und einem bloßen theoretischen Satz geben. Beim Technisch-Praktischen betrachten wir uns selbst als „Naturursache“ der Wirkung, die von uns beabsichtigt und nach Naturgesetzen ins Werk gesetzt wird (vgl. KU EE XX: 196²⁴). Kants Ansicht wirkt insofern nicht kontraintuitiv, als die jeweiligen
Vgl. KU V: 172: „Hier wird nun in Ansehung des Praktischen unbestimmt gelassen: Ob der Begriff, der der Kausalität des Willens die Regel gibt, ein Naturbegriff oder ein Freiheitsbegriff sei. […] Denn ist der Kausalität bestimmende Begriff ein Naturbegriff, so sind die Prinzipien technischpraktisch; ist er aber ein Freiheitsbegriff, so sind diese moralisch-praktisch“. Derartige Sätze sind „nichts weiter, als die Theorie von dem, was zur Natur der Dinge gehört, nur auf die Art, wie sie von uns nach einem Prinzip erzeugt werden können, angewandt, d.i. die
72
3 Der Ort pragmatischer Imperative in der Philosophie
praktischen Sätze theoretische Korrelate haben und sich die Kriterien einer erfolgreichen Technik in der Erfahrung finden können. Dann stellt sich die Frage, warum er sich statt der Dreiteilung von Arten der praktischen Regeln auf eine Zweiteilung beschränken soll. Zumindest ist klar, dass Kant eine scharfe Grenze zwischen einer empirischen Untersuchung menschlichen Handelns einerseits und einer apriorischen Begründung der moralischen Prinzipien andererseits ziehen wollte. Zu diesem Zweck grenzt er das auf theoretische Kenntnisse von Sachen gegründete Praktische von dem auf der gesetzgebenden Freiheit beruhenden Praktischen ab. Es sei allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass sich stets irgendwelche hinzugefügten Bedingungen finden, während Kant die Handlungsanweisungen zur Glückseligkeit auf die technisch-praktischen Sätze zurückführt. In diesem Fall wird der Wille interessanterweise als ein bloßes „Naturvermögen“ konzipiert (vgl. KU V: 172). An einer anderen Textstelle wird das Begehrungsvermögen, welches beim Glückseligkeitsstreben zum Einsatz kommt, als Willkür gekennzeichnet (vgl. KU EE XX: 196, 198, 199²⁵): Alle technisch-praktischen Regeln (d.i. die der Kunst und Geschicklichkeit überhaupt, oder auch der Klugheit, als einer Geschicklichkeit, auf Menschen und ihren Willen Einfluss zu haben), sofern ihre Prinzipien auf Begriffen beruhen, müssen nur als Korollarien zur theoretischen Philosophie gezählt werden. Denn sie betreffen nur die Möglichkeit der Dinge nach Naturbegriffen, wozu […] selbst der Wille (als Begehrungs-, mithin als Naturvermögen) gehört, sofern er durch Triebfedern der Natur jenen Regeln gemäß bestimmt werden kann (KU V: 172; meine Herv.). Ein zweites Indiz für unseren Ansatz, dass die praktischen Vorschriften zum Erreichen der eigenen Glückseligkeit nur unter irgendeiner Einschränkung der theoretischen Philosophie zugeordnet werden können, lässt sich in folgendem Zitat finden:
Möglichkeit derselben durch eine willkürliche Handlung (die eben sowohl zu den Naturursachen gehören) vorstellt“ (KU EE XX: 296 meine Herv.) Die entsprechenden Textstellen sind wie folgt: „Überhaupt gehören die praktischen Sätze (sie mögen rein a priori, oder empirisch sein), wenn sie unmittelbar die Möglichkeit eines Objekts durch unsere Willkür aussagen, jederzeit zur Kenntnis der Natur und dem theoretischen Teil der Philosophie“ (KU EE XX: 199; meine Herv.). „Mit einem Wort: alle praktischen Sätze, die dasjenige, was die Natur enthalten kann, von der Willkür als Ursache ableiten, gehören insgesamt zur theoretischen Philosophie, als Erkenntnis der Natur“ (KU EE XX: 196; meine Herv.). „Praktische Sätze also, die dem Inhalt nach bloß die Möglichkeit eines vorgestellten Objekts (durch willkürliche Handlung) betreffen, sind nur Anwendungen einer vollständigen theoretischen Erkenntnis“ (KU EE XX: 198; meine Herv.).
3 Der Ort pragmatischer Imperative in der Philosophie
73
Wenn Vorschriften, seine Glückseligkeit zu befördern, gegeben werden und z. B. nur von dem die Rede ist, was man an seiner eigenen Person zu tun habe, um der Glückseligkeit empfänglich zu sein, so werden nur die inneren Bedingungen der Möglichkeit derselben, an der Genügsamkeit, an dem Mittelmaß der Neigungen, um nicht Leidenschaft zu werden, usw. als zur Natur des Subjekts gehörig und zugleich die Erzeugungsart dieses Gleichgewichts, als eine durch uns selbst mögliche Kausalität, folglich alles als unmittelbare Folgerung aus der Theorie des Objekts in Beziehung auf die Theorie unserer eigenen Natur (uns selbst als Ursache) vorgestellt (KU EE XX: 196; meine Herv.).
Aus dem hervorgehobenen Satz kann man zunächst den Eindruck gewinnen, dass es sich hier bei der Frage nach Glückseligkeit um keine moralphilosophische, sondern um eine psychologische Frage handelt, die ausschließlich mit empirischen Methoden untersucht werden muss. Vielleicht wäre dies ein Zeichen dafür, dass unter einer solchen Einschränkung allein die praktischen Prinzipien zur eigenen Glückseligkeit mit den apriorischen Methoden der Philosophie nicht ausgerichtet werden können? Noch ein weiteres Indiz hierfür liegt darin, dass im Hinblick auf Kants Auffassung der pragmatischen Imperative ein Unterschied zwischen der ersten Fassung und der zweiten Fassung der KU auffindbar ist: In der zweiten Fassung der KU fehlt die Rücksichtnahme auf die Ebene der Privatklugheit, die m. E. Kant zu dem Gedanken veranlasst hat, das Glücksstreben als etwas spezifisch Menschliches anzusehen (vgl. KU V: 172): Alle technisch-praktischen Regeln (d.i. die der Kunst und Geschicklichkeit überhaupt, oder auch der Klugheit, als einer Geschicklichkeit, auf Menschen und ihren Willen Einfluss zu haben), sofern ihre Prinzipien auf Begriffen beruhen, müssen nur als Korollarien zur theoretischen Philosophie gezählt werden (KU V: 172; meine Herv.).
An dieser Stelle wird die Klugheit als „eine Geschicklichkeit, auf Menschen und ihren Willen Einfluss zu haben“ bestimmt. Im Lichte der kantischen Unterscheidung von Weltklugheit und Privatklugheit (vgl. GMS IV: 416 Fn.) lässt sich die fragliche Klugheit als Weltklugheit erweisen. Wie bereits gezeigt wurde, ist die Glückseligkeit – als ein übergreifendes Handlungsziel – diejenige, welche jedem konkreten Gegenstand des Wollens vorliegt und jede Einzelentscheidung motiviert. Die Glückseligkeit kommt uns als ein absolutes Ganzes vor, in dem Sinn, dass sie umfassender als alle konkreten Gegenstände des Wollens zusammengenommen ist. Diese Charakteristik macht das Glückseligkeitsstreben zu etwas spezifisch Menschlichem, weil nur vernunftbegabte Wesen nach einem Unbedingten suchen und dadurch nach der uneingeschränkten Erfüllung der Bedürfnisse. Aufgrund dieses auf Totalität gerichteten und zugleich auch unbestimmten Charakters der Glückseligkeit genügt die Weltklugheit allein nicht, um das Glückseligkeitsstreben zu leiten. Dazu ist noch die Privatklugheit nötig, um alle
74
3 Der Ort pragmatischer Imperative in der Philosophie
einzelnen „Absichten zu seinem eigenen dauerhaften Vorteil zu vereinigen“ (GMS IV: 416 Fn.). Denn die Privatklugheit ist die Fähigkeit, die eigenen Zwecke zu gewichten und zu ordnen, um sich der Glückseligkeit anzunähern. Könnte Kant vielleicht die Platzierung des Glücksseligkeitsstrebens in der theoretischen Philosophie nur deshalb aufrechterhalten wollen, weil er die Ebene der Privatklugheit (absichtlich oder unbewusst) übersieht? An dieser Stelle ist zumindest als ‚offizielle‘ Auffassung bezüglich dieser Problematik festzuhalten, dass die pragmatischen Imperative in der Architektonik des Systems Kant nur eine nachgeordnete Position einnehmen und das menschliche Glückseligkeitsstreben somit dem Anspruch des Sittengesetzes untergeordnet werden muss. Die Glückseligkeit sollte für Kant in der Ethik allenfalls eine marginale Rolle spielen dürfen, zumindest in derjenigen Ethik, die versucht, etwas, wozu wir moralisch verpflichtet sind, rein a priori und unabhängig von allen empirischen Elementen, zu definieren. Da für die Frage, was Glückseligkeit ausmacht, die empirische Psychologie zuständig ist, ist das Glücksstreben sowie die praktischen Grundsätze zur eigenen Glückseligkeit keine Aufgabe der praktischen Philosophie im strengeren Sinne, die nämlich ausgerechnet mit dem Moralisch-Praktischen zu tun hat. Trotzdem bleiben immer noch folgenden Fragen offen: Sind tatsächlich die Bereiche des Moralischen und die des Praktischen im engeren Sinne nicht nur mit einander eng verknüpft, sondern auch deckungsgleich? Wie gelangt Kant zu der Überzeugung, dass praktische Philosophie allein für die Untersuchung des Moralisch-Praktischen reserviert werden soll? Welche Konsequenzen zieht diese Zurückführung des Praktischen auf die Moralität für Kants Theorie der Moralphilosophie nach sich?
Teil III: Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit in Kants praktischer Philosophie
1 Fragestellung In den vorangegangenen Kapiteln wird erörtert, dass die Glückseligkeit bei Kant grundsätzlich als ein auf der Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse beruhender Lustzustand aufzufassen ist. Zu beachten ist dabei, dass die Glückseligkeit nicht bloß als ein gegenwärtiges Lustgefühl, sondern eher als Zufriedenheit mit der Gesamtqualität eines ausgedehnten Zeitraums konzipiert wird. Bemerkenswert ist dabei, dass ein vernunftbegabtes, zugleich aber sinnlich affizierbares Wesen beim Glückseligkeitsstreben zur Maximierung bzw. Totalisierung der Lustempfindung tendiert. In diesem Zusammenhang wird die Glückseligkeit als eine Idee der vollständigen Erfüllung aller Neigungen verstanden. Diese Idee ist eine empirische, weil der Summierungsprozess empirisch seine Grenze an der möglichen Vielfalt von Neigungen hat. Diese Idee von Glückseligkeit ist so umfassend, dass eine bloße empirische Summe nie ein endgültiges Resultat ausmachen könnte und immer offen für weitere Hinzufügung bleibt. Somit können alle Zwecke, die von unserer Sinnlichkeit begehrt werden, in einem Zweck, nämlich der Glückseligkeit, vereinigt werden. Daraus ergibt sich das Ziel eines möglichst hohen, umfassenden und dauerhaften Wohlergehens als Horizont unseres Handelns. Das vorliegende Kapitel beschäftigt sich mit den Funktionen des Prinzips der eigenen Glückseligkeit, aus dem die praktischen Vorschriften zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit abgeleitet werden. Ein möglicher Anhaltspunkt hierfür ergibt sich aus dem zweiten Lehrsatz der KpV, dem zufolge alle materialen Prinzipien dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit unterworfen werden können (vgl. KpV V: 22). Im Allgemeinen wird der zweite Lehrsatz so gelesen, dass die nicht von der Achtung für das Sittengesetz motivierten Handlungen ausschließlich aufgrund der Begierde nach Lust ausgeführt werden. Dieser Deutung zufolge hat Kant im Hinblick auf nichtmoralische Handlungen nur eine hedonistische Theorie der Handlungsmotivation: Das Subjekt wird im nichtmoralischen Handeln grundsätzlich von der Erwartung von Lust motiviert, in deren Genuss man durch Erreichen des begehrten Gegenstands kommen kann. Wäre diese Deutung richtig, mag Kants Sicht im zweiten Lehrsatz auf den ersten Blick grob und konstruiert erscheinen. Denn es ist fraglich, ob sich jedes nichtmoralische Handeln tatsächlich auf das Prinzip der eigenen Glückseligkeit zurückführen lässt. B. Herman sieht in diesem Zusammenhang die Schwäche des grundlegenden handlungspsychologischen Modell Kants darin begründet, dass der zweite Lehrsatz die Möglichkeit der um ihrer selbst willen geführten Handlung
78
1 Fragestellung
auszuschließen scheint (vgl. Herman 2007, S. 181– 2)¹. Selbst einige der Kant-Interpreten, die den zweiten Lehrsatz mit Nachsicht zu behandeln versuchen, sind der Meinung, dass Kant aus argumentativen Gründen die Struktur nichtmoralischen Handelns übermäßig vereinfacht, um durch einen schärferen Kontrast zwischen dem rein-praktischen und dem empirisch-praktischen Modell die Besonderheit des moralischen Handlungsmodells herauszustellen (vgl. Beck 1974; Klemme 2003). Vor der näheren Untersuchung des zweiten Lehrsatzes ist es nötig, einen kurzen Überblick über in der Literatur vorgetragene Auffassungen vorauszuschicken, welche den zweiten Lehrsatz unplausibel erscheinen lassen. Einer allgemeinen Interpretation zufolge ergibt sich die Unzulänglichkeit der kantischen Motivationstheorie aus ihrem psychologischen Hedonismus hinsichtlich der Handlungsmotivation aller Spielarten des nichtmoralischen Handelns. Sie wurde bereits von T.H. Green vorgetragen (vgl. Green 1997, S.139; Reath 2006, S. 34). Green zufolge gibt es für Kant neben der Achtung für das Sittengesetz und der Begierde nach Lust keine anderen Handlungsmotive. Diese Auffassung wurde von vielen Interpreten zum Zurechenbarkeitsproblem des nicht-moralischen Handelns zugespitzt: der zweite Lehrsatz verunmögliche, nicht-moralische Handlungen ihren Akteuren zuzuschreiben. Da alles Handeln, das nicht aus Achtung für das Sittengesetz getan wird, nach dem zweiten Lehrsatz lediglich aufgrund der Erwartung von Lust motiviert sei, sei jedes solches Handeln durch das Naturgesetz determiniert. Es sei daher weder frei noch zurechenbar. Der Stand der Literatur konfrontiert uns also mit folgenden Fragen: Aus welchen Gründen das Prinzip der eigenen Glückseligkeit als das allen empirischpraktischen Überlegungen zugrunde liegende Prinzip anzusehen ist? Was besagt nun das Prinzip der eigenen Glückseligkeit auf sachlicher Ebene? Auf welche Weise kann das Prinzip der eigenen Glückseligkeit das Prinzip sein, an dem sich jeder Akteur beim nichtmoralischen Handeln orientiert?
Herman führt als Argument gegen den zweiten Lehrsatz der KpV das folgende Beispiel an: Meine Entscheidung, meine Freundin zu besuchen, scheint nicht von der Erwartung einer daraus folgenden Lust getragen sein. Vielmehr treffe ich diese Entscheidung, weil ich den guten Umgang mit Freunden um seiner selbst willen schätze. Freilich könnte man dagegen einwenden, dass die Handlung, die auf den ersten Blick um ihrer Selbst willen getan zu werden scheint als durch eine Lusterwartung motiviert erweist. Die Plausibilität eines solchen Einwands ist allerdings aufgrund Kants epistemologischen Modells schwer zu prüfen. Im kantischen Erkenntnismodell bleibt nämlich die Frage, aus welchen Gründen eine Person tatsächlich handelt, unentschieden. Obwohl ein Handelnder sicher ist, dass er ausschließlich um der Freundschaft willen seinem Freund hilft, wird er sich über die Motive seiner Handlung keine letzte Gewissheit verschaffen können.
1 Fragestellung
79
Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf Kants Ausführungen zum Prinzip der eigenen Glückseligkeit, die sich im ersten sowie zweiten Lehrsatz der KpV finden. Es soll erläutern, was unter dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit zu verstehen ist und in welcher Art und Weise das Prinzip der eigenen Glückseligkeit alle Maximen, welche die dem eigenen Wohlbefinden nützenden Handlungen leiten, in sich integrieren kann. Im Rahmen der Textanalyse möchte ich den Blick auf das Interpretationsproblem lenken, das sich aus der psychologisch- hedonistischen Deutung des zweiten Lehrsatzes ergibt. Zur Verdeutlichung dieser Problemlage befasse ich mich dabei kritisch mit den zwei in letzter Zeit erschienen einleuchtenden Studien von A. Reath und von T. Höwing, die, wie ich, eine solche Interpretation ablehnen. Dadurch soll die handlungspsychologische Struktur des nichtmoralischen Handelns bei Kant erläutert werden. Diesen Erläuterungen folgend will ich den zweiten Lehrsatz gegen die erwähnten Einwände verteidigen und setze mich hierzu mit H.E. Allisons „Incorporation Thesis“ auseinander. Im abschließenden Teil möchte ich Höwings Deutung aus einer anderen Perspektive ergänzen, indem ich das Verhältnis der Lust zur Einbildungskraft im Glückseligkeitsstreben eingehend erläutere.
2 Kant über das Prinzip der eigenen Glückseligkeit als Prinzip des nichtmoralischen Handelns 2.1 Der erste und der zweite Lehrsatz in der KpV Eine der Aufgaben der KpV besteht darin, zu zeigen, dass das Prinzip der reinen praktischen Vernunft allein motivationale Kraft haben kann. Um die Besonderheit des Prinzips der reinen Vernunft, nämlich den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, herauszuarbeiten, richtet sich Kants Augenmerk zunächst auf die Prinzipien, die nicht für jedes vernünftige Wesen als verbindlich erachtet werden können. Das wesentliche Charakteristikum solcher praktischen Prinzipien kommt im ersten Lehrsatz der KpV zur Sprache: Lehrsatz I: Alle praktische Prinzipien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrund des Willens, voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktische Gesetze abgeben (KpV V: 21).
An dieser Stelle wird erörtert, aus welchem Grund die dem nichtmoralischen Handeln zugrunde liegenden praktischen Prinzipien keine praktischen Gesetze bereitstellen können. Zum angemessenen Verständnis dieses Zitates erscheint es nun angebracht, zwei Ausdrücke näher zu erläutern, nämlich „das Begehrungsvermögen“ und „den Bestimmungsgrund des Willens“. Die deutlichste Definition des Begehrungsvermögens findet sich an einer Stelle der MS, in der es als „das Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (MS VI: 211; vgl. KpV V: 9 Fn.) bestimmt wird. Diese Definition weist auf das spezifische Merkmal des Begehrungsvermögen hin, nämlich auf die kausale Rolle der Vorstellung für die Ausübung des Begehrungsvermögen: Ein Wesen kann begehren, wenn es die Vorstellung eines Gegenstandes dazu führen kann, den Gegenstand der Vorstellung zu verwirklichen. Der Ausdruck „Gegenstände dieser Vorstellungen“ umfasst sowohl die Gegenstände, die durch sinnliche Empfindungen die Reaktionen der Willkür hervorrufen, als auch die Mittel sowie die Zwecke, um seiner habhaft zu werden. Es sollte nun nicht übersehen werden, dass das Begehrungsvermögen von Kant nicht mit dem Vermögen, irgendeine bestimmte Begierde zu haben bzw. zu
2.1 Der erste und der zweite Lehrsatz in der KpV
81
entwickeln, gleichgesetzt wird². Vielmehr ist dieses Vermögen dadurch charakterisiert, eine vorgestellte Sachlage unter Einsatz der eigenen Kräfte Wirklichkeit werden zu lassen. Diese Deutung lässt sich anhand des im letzten Kapitel herausgestellten Ergebnisses verdeutlichen, dass der Wille die Fähigkeit ist, sich an der Vorstellung eines praktischen Prinzips zu orientieren und die entsprechenden kausalen Wirkungen hervorzurufen. Der zweite zu klärende Ausdruck ist „der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögen“. Der Ausdruck „Bestimmungsgrund“ ist erklärungsbedürftig, weil das Verb „bestimmen“ in unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht werden kann. Das Verb „bestimmen“ kann bedeuten: „messen“, „gebieten“, „festlegen“, „definieren“, „abgrenzen“, „die Beschaffenheit von etwas beschreiben“ und „etwas einer Kategorien zuordnen“ (vgl. Horn 2011, S. 45). Zunächst lassen sich diese Bedeutungen des Begriffs „bestimmen“ in zwei Klassen einteilen: 1. Ausdrücke wie „definieren“ oder „die Beschaffenheit von etwas beschreiben“ werden oft verwendet, wenn man sich einer Sachlage aus der Beobachterperspektive annähert. 2. Ausdrücke wie „gebieten“, „festlegen“ können sich auf die Teilnehmerperspektive beziehen. Auf der Basis der bisherigen Deutung des Begehrungsvermögens lassen sich die auf die Teilnehmerperspektive bezogenen Ausführungen von „bestimmen“ favorisieren: Der Bestimmungsgrund des Willens kann als der Grund verstanden werden, durch den der Wille auf etwas festgelegt werden kann. Zu den Bestimmungsgründen des Willens werden von Kant folgende gerechnet: „Zwecke“ (MS VI: 381), „subjektive Triebfeder[n] bzw. Neigung[en]“ (KpV V: 72), „die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ (KpV V: 22), „Lust oder Unlust“³ (KpV V: 22), „das Prinzip der eigenen Glückseligkeit“ (KpV V: 35), „die gesetzgebende Form der Maxime“ (KpV V: 35), „das moralische Gesetz“ (KpV V: 72) und „die Achtung fürs Gesetz“ (KpV V: 81). Zu beachten ist, dass diese Varianten des Bestimmungsgrundes nur dann in einem echten Sinne die Bestimmungsgründe des Willens sein können, wenn ein Handelnder sie in seine Maxime einbezieht. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, lässt sich ein Beispiel anführen: Ein Subjekt hat die Neigung, ein Eis zu essen. In diesem Fall wird seine vorhandene Neigung zum Eisessen dann zum Bestim-
Diese Bemerkung ist für meine Auseinandersetzung mit Reaths Auffassung des zweiten Lehrsatzes, die im dritten Abschnitt unternommen wird, von Bedeutung. Dazu gehören auch die folgenden Beschreibungen: „Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehem“ (KpV V: 24), „etwas, was sich auf ein subjektiv zum Grunde liegendes Gefühl der Lust oder Unlust bezieht“ (KpV V: 25).
82
2 Kant über das Prinzip der eigenen Glückseligkeit
mungsgrund seines Willens gezählt, wenn das Subjekt diese Neigung unter seine Maxime subsumieren kann. In diesem Sinne ist der Bestimmungsgrund des Willens nicht nur als ein motivierender Grund der Handlung, sondern auch als rechtfertigender Grund zu betrachten. Denn Kants Überlegungen nach wird jedes Handeln von einer Maxime geleitet, und ob das Handeln als gut bzw. vernünftig zu beurteilen ist, wird davon abhängig gemacht, ob die jeweilige Maxime auf gültigen Handlungsprinzipien beruht⁴. Auf dieser begrifflichen Grundlage lässt sich Kants Argumentation für den ersten Lehrsatzes in zwei Schritten rekonstruieren: In einem ersten Schritt zeigt Kant,warum alle materialen praktischen Prinzipien empirisch sind. Denn der Bestimmungsgrund des Willens ist in diesem Fall die Begierde nach einem Gegenstand und somit die durch die Verwirklichung dieses Gegenstands erhoffte Lustempfindung. Wir können jedoch nicht a priori, sondern nur empirisch herausfinden, an welchen Gegenständen wir Lust empfinden. In einem zweiten Schritt wird gezeigt, dass solche praktischen Prinzipien in Ermangelung objektiver Gültigkeit keine praktischen Gesetze darstellen. Damit kommen wir zum zweiten Lehrsatz. Lehrsatz II: Alle materiale praktische Prinzipien sind, als solche, insgesamt von einer und derselben Art, und gehören unter das allgemeinen Prinzip der Selbstliebe, oder eigenen Glückseligkeit (KpV V: 22).
Dem zweiten Lehrsatz zufolge werden alle praktischen Prinzipien, welche den Handelnden aufgrund der Lust an einem begehrten Objekt dazu führen, im Sinne einer Verwirklichung dieses Objekts zu handeln, ohne Ausnahme dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit untergeordnet. Denn der grundlegende Bestimmungsgrund des Willens sei die erwartete Lust, die durch das Erreichen dieses Objekts empfunden zu werden vermag. Somit richtet sich der Wille in einem solchen Fall letztlich auf die eigene Glückseligkeit, als ein das ganze Dasein des Subjekts umfassendes Maximum der Annehmlichkeit. Dabei wird der nichtallgemeingültige Charakter des nichtmoralischen Handelns näher geklärt: Denn die Lust, als Bestimmungsgrund des Willens, gründet sich auf die individuelle Beschaffenheit einzelner Subjekte und kann somit keine Allgemeingültigkeit für alle beanspruchen. Nicht alle Subjekte empfinden an den gleichen Gegenständen Lust. Aus Kants Aussage, dass sich jede nichtmoralische Motivation auf die Lust bezieht,
Nochmals gilt es darauf aufmerksam zu machen, dass alle Handlungen nach den praktischen Prinzipien (sowohl nach dem kategorischen Imperativ als auch nach hypothetischen Imperativen) vom jeweiligen Akteur für gut bzw. vernünftig gehalten werden. Ob die Handlung als entweder moralisch erlaubt oder verboten angesehen wird, hängt in letzter Instanz davon ab, ob die Maxime den Ansprüchen des kategorischen Imperativs entspricht.
2.2 Kants neutrale Auffassung von Lust
83
folgt, dass aus den materialen praktischen Prinzipien nur Vorschriften für die Art und Weise abgeleitet werden können, deren Befolgung die größtmögliche Lust mit dem kleinstmöglichen Aufwand verspricht. Um die Frage zu beantworten, ob Kant bezüglich des nichtmoralischen Handelns wirklich einen hedonistischen Standpunkt vertritt, soll noch eingehend erläutert werden, ob es bei nicht aus Pflicht geführten Handlungen in der Tat nur auf die größtmögliche Summe der erwarteten Lust ankommt. Um diese Frage angemessen zu behandeln, sei zunächst erörtert, wie Kant die Lust konzipiert und aufgrund welcher ihrer Eigenschaften sie als Bestimmungsgrund für alle materialen praktischen Prinzipien zu betrachten ist. Aus diesem Grund lege ich im Folgenden kurz Kants Ausführung zur praktischen Lust dar. Dabei rekurriere ich auf T. Höwings Studie über praktische Lust (Höwing 2013b).
2.2 Kants neutrale Auffassung von Lust In der KpV findet sich eine Definition der Lust, in der das Lustgefühl nicht in der Hinsicht eines möglichen Bestimmungsgrundes des Willens betrachtet wird (KpV V: 9 Fn.). Diese Definition der Lust kann man daher als eine neutrale begriffliche Voraussetzung für Kants Verständnis des eingeschränkt vernünftigen Wesens ansehen: Lust ist die Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens, d.i. mit dem Vermögen der Kausalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objekt (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung, es hervorzubringen) (KpV V: 9 Fn.).
Kants Gleichsetzung der Lust mit einer „Vorstellung der Übereinstimmung“ wirkt auf den ersten Blick schwer verständlich. Da wir uns in der Tat unter „Lust“ zunächst einen Gefühlszustand vorstellen, ist unklar, wie ein Gefühlszustand als „eine Vorstellung der Übereinstimmung“ betrachtet werden kann. Zu einem ausgewogenen Verständnis dieser Definition empfiehlt es sich, anhand der Deutung von T. Höwing die Zweideutigkeit des Lustbegriffs festzuhalten (Höwing 2013b, S. 13): Lust ist einerseits ein Gefühlszustand, der aus einem inneren Vorgang im Subjekt resultiert. Andererseits weist Lust auf die Tatsache hin, dass das Subjekt an etwas Lust empfindet. Wenn wir anlässlich einer Vorstellung Lust empfinden, dann bedeutet dies nichts anderes, als dass uns der vorgestellte Gegenstand unmittelbar gefällt. In der Erfahrung einer Lust werden wir affektiv auf jene Gegenstände der Vorstellung aufmerksam, die wir begehren. Deshalb kann man sagen, dass die praktische Funktion der Lust darin besteht, uns die Inhalte unserer Begierde als solche kenntlich zu machen.
84
2 Kant über das Prinzip der eigenen Glückseligkeit
Auf der Basis dieser Bemerkung lässt sich nun Kants Definition der Lust als „die Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens“ (KpV V: 9 Fn) klären. Zunächst stellt sich die Frage, was unter den „subjektiven Bedingungen des Lebens“ zu verstehen ist. A. Reath z. B. hat dies so gedeutet, dass sie sich auf bereits in einem Subjekt vorhandenen Begierden und Neigungen beziehen (Reath 2006, S. 56 – 9)⁵. Wenn diese Deutung zutrifft, ist die Lust an einem Gegenstand X nichts anderes als ein Zeichen davon, dass wir bereits eine zu befriedigende Begierde nach X haben. Diese Auffassung lässt allerdings die von Kant hinzugefügten Ausführungen der subjektiven Bedingungen, d. h., „Vermögen der Kausalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objekts“ (KpV V: 9 Fn.) außer Acht. Kants in Klammern gesetzte Aussage weist ausdrücklich darauf hin, dass die „subjektiven Bedingungen des Lebens“ nicht als bereits im Subjekt existierende Neigungen aufgefasst werden dürfen. Vielmehr beziehen sie sich auf die Bedingungen der Ausübung des Begehrungsvermögens im Allgemeinen. Wie Höwing mit naheliegenden Gründen gezeigt hat, wird die Lust von Kant grundsätzlich als ein vitaler Zustand konzipiert, in dem die Kräfte im Subjekt gesteigert sind (Höwing 2013b). Kürzer formuliert werden in der kontemplativen Lust, die wir an einem schönen Gegenstand empfinden, die für die Erkenntnis eines Objekts zum Einsatz kommenden Kräfte – Verstand und Einbildungskraft – schwungvoll. Korrespondierend werden in der praktischen Lust diejenigen Kräfte gesteigert, die konstitutiv für die Ausübung des Begehrungsvermögens beim absichtlichen Handeln sind. Aus dieser Auffassung heraus lässt sich klären, was Kant mit der „Übereinstimmung der Vorstellung eines Objekts mit den subjektiven Bedingungen“, durch welche die Lust ausgeführt wird, gemeint hat: In der Lust verkündigt sich, dass der Zustand der Vitalität subjektiv zweckmäßig bzw. gut dazu geeignet ist, den begehrten Gegenstand hervorzubringen. Zusammenfassend wiederholt: Das Gefühl der Lust führt das Subjekt dazu, den vorgestellten Gegenstand zu begehren. Die Lust ist einerseits als ein Bestimmungsgrund der Willkür anzusehen. Andererseits hat die Lust eine Identifikationsfunktion: Ihre Empfindung macht darauf aufmerksam, welche Gegenstände dem Subjekt gefallen und von ihm begehrt werden und, wo keine Lust verspürt wird, auf welche Gegenstände das nicht zutrifft. Dieser Befund zeigt uns, warum Kant der Auffassung sein kann, dass nicht a priori feststellbar ist, welche Gegenstände beim Subjekt Lust erregen (vgl. KpV V: 21, 23). Denn ein Handelnder Seine Auffassung wird in folgendem Zitat besonders deutlich: „It [the shared structure of action on material practical principles] is a form of choice, that takes reasons for action from the fact that an object or action satisfies one’s existing desire and dispositions and evaluates actions or ends on these terms“ (Reath 2006, S. 59; meine Herv.).
2.3 Die Rolle der praktischen Vernunft im Prinzip der eigenen Glückseligkeit
85
kann sich erst durch sein Lustgefühl inhaltlich klar darüber werden, was er begehrt oder wie seine Anlage der Empfindung eingestellt ist.
2.3 Die Rolle der praktischen Vernunft im Prinzip der eigenen Glückseligkeit Auf der Basis dieser Klärung des Lustbegriffs gehe ich nun der Frage nach, was unter dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit zu verstehen ist. Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit wird von Kant zunächst als dasjenige Prinzip konzipiert, das sich die Vorstellung der eigenen Glückseligkeit „zum höchsten Bestimmungsgrund der Willkür“ (KpV V: 22) macht. Das erweckt zunächst den Eindruck, dass das Prinzip der eigenen Glückseligkeit dasjenige Prinzip ist, aus dem alle praktischen Vorschriften, die uns die Beförderung des eigenen dauerhaften Wohlergehens gebieten, abgeleitet werden können. Diese Deutung soll allerdings anhand der bisherigen Ausführungen noch ergänzt werden: Im vorangegangenen Kapitel wurde gezeigt, dass die Glückseligkeit für Kant nicht als ein augenblicklicher, akuter Gefühlszustand, sondern als Zufriedenheit über die Gesamtqualität einer über das ganze Leben ausgedehnten Periode aufgefasst wird. Auf der Basis dieser Deutung sollte ein Subjekt, das sein Handeln nach dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit führt, sich bei jeder Entscheidung überlegen, ob das fragliche Handeln in langer Sicht tatsächlich zu seinem Wohlergehen beitragen kann. Trotz der bisherigen Deutung bleibt jene Frage nicht ausreichend geklärt, auf welche Weise das Prinzip der eigenen Glückseligkeit das Glückseligkeitsstreben reguliert. Um Ansätze zu einem tieferen Verständnis dieses Prinzips zu finden, möchte ich den Blick kurz auf ein Interpretationsproblem lenken, das von D. Birnbacher aufgeworfen wird (Birnbacher 2005, S. 1– 6). Birnbacher ist der Meinung, dass Kants Auffassung der Glückseligkeit in der Tat nicht dem Glücksbegriff der heutigen Alltagssprache entspricht. Als Beleg für seine Meinung führt er zwei Textstellen aus Kants Werken an: erstens eine Stelle aus der KpV, in der die Glückseligkeit als „das Bewusstsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet“ (KpV V: 22) definiert wird. Zweitens eine Passage aus der GMS, in der „die Idee der Glückseligkeit“ als „ein absolutes Ganzes, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist“ (GMS IV: 418) betrachtet wird. Ausgehend von diesen Textstellen stellt Birnbacher zunächst die Frage nach dem angemessenen Zeitpunkt des Urteils über ein glückliches Leben: Wann ist ein Urteil darüber, ob eine Lebensphase oder ein ganzes Leben glücklich ist oder war, berechtigt? Birnbacher fragt sich, ob man nach der Kantischen Definition der
86
2 Kant über das Prinzip der eigenen Glückseligkeit
Glückseligkeit das eigene Leben nur kurz vor dem Tod als glücklich ansehen kann. Falls nicht das ganze Leben, sondern eine bestimmte Periode des Lebens zur Prüfung steht, kann das Urteil immer falsifiziert werden, weil die fragliche Phase jetzt zwar als gut bewertet werden mag, sich später allerdings als eine Periode des Unglücks erweisen kann. Darüber hinaus stellt Birnbacher die Frage nach der angemessenen Weise, wie zu entscheiden ist, ob eine Periode glückselig war : In welcher Art und Weise kann man nach dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit die Gesamtqualität einer Periode des Lebens oder des ganzen Lebens adäquat bewerten? Um diese Frage zu beantworten, sei zunächst geklärt, wie sich ein punktuelles Glücksgefühl zur Zufriedenheit mit der Gesamtqualität eines Lebens verhält. Aufgrund des Zitates aus der KpV (vgl. KpV V: 22) ist Birnbacher der Ansicht, dass für Kant bei der Beurteilung aus der Gesamtheit der einzelnen Glücksmomente eine Summe gezogen werden soll, wobei alle akuten Glücksgefühle gleichberechtigt zu berücksichtigen sind. Wenn ich seine Einschätzung ein wenig vergröbert ausdrücken darf: Man beurteilt die Glückseligkeit der fraglichen Periode erst dann, wenn man das Integral über alle einzelnen Glücksmomente als ein Maximum darstellen kann. Daraus zieht Birnbacher die Folgerung: Kant zufolge ist die Vorstellung eines glückliches Lebens⁶ die eines Lebens, in dem insgesamt ein Maximum an Glücksmomenten realisiert ist, in dem jeder Augenblick so glücklich ist, wie er nur sein kann, ohne dadurch einen anderen Augenblick desselben Leben weniger glücklich zu machen (Birnbacher 2005, S. 5).
Aus seiner Deutung ergibt sich allerdings zunächst die folgende Frage: Setzt Kants Auffassung tatsächlich voraus, dass für einen glücklichen Lebensabschnitt in jedem seiner Augenblicke ein Lustgefühl notwendig ist und zugleich jeder akute Glücksmoment für das Urteil über die Glückseligkeit einer bestimmten Phase gleichberechtigt beachtet werden muss? Zur Stützung von Birnbachers Auffassung könnte man darauf verweisen, dass es für Kant keinen qualitativen Unterschied zwischen den verschiedenen Arten der Lust gibt (vgl. KpV V: 21, 23). Darauf rekurrierend könnte man weiterhin behaupten, dass ein Handelnder allen Lust-
Hier paraphrasiert Birnbacher den Ausdruck Kants von der „Idee der Glückseligkeit“(GMS IV: 418) als „Vorstellung eines glücklichen Lebens“. Seine Paraphrase wirkt allerdings nicht adäquat, weil es in der Textstelle um die Idee im strengen Sinne geht. Im Absatz, in dem das Zitat eingebettet ist, findet sich eine deutliche Unterscheidung zwischen dem Begriff der Glückseligkeit und deren Idee, deren entsprechender Gegenstand zwar zu denken ist, allerdings nicht in der Erfahrung gegeben werden kann.
2.3 Die Rolle der praktischen Vernunft im Prinzip der eigenen Glückseligkeit
87
momenten, die er in der fraglichen Periode erfährt, gleichberechtigt Rechnung tragen muss, wenn er diese Periode als glücklich oder unglücklich bewerten will. Wie in der ersten Anmerkung des zweiten Lehrsatzes der KpV ausgeführt wird, unterscheidet sich bei Kant eine Lust von der anderen nur in quantitativer Hinsicht (vgl. KpV V: 23 – 4). Zwischen der Lust, die das Essen einer leckeren Speise auslöst, und der Lust, die man durch den erfolgreichen Vollzug einer anspruchsvollen intellektuellen Tätigkeit bekommt, besteht für Kant in qualitativer Hinsicht kein Unterschied.Wenn Birnbachers Deutung korrekt ist, scheint Kants Verständnis der Glückseligkeit nichts vom Glücksbegriff der Alltagssprache zu erfassen.Wenn man Birnbachers Deutung weiter denkt, folgt, dass eine Lebensphase nicht als glücklich beurteilt werden kann, wenn es in ihr eine Phase ausgesprochener Unlustempfindung gibt. Ebenso wenig kann es zur Glückseligkeit einer Periode ausreichen, dass das subjektive Erleben über eine bestimmte Zeitspanne als nur zufriedenstellend bewertet wird. Werden diese Implikationen bloß auf Ungenauigkeiten Kants zurückgeführt, hat man die Sachlage nicht vollständig erfasst. Gibt es bisher unberücksichtigte Aspekte von Kants Glückseligkeitsverständnis, die weiteres Licht auf das menschliche Glückseligkeitsstreben werfen können? Im Folgenden soll auf diese Thematik in zwei Schritten eingegangen werden: Zunächst wird geklärt, welche Rolle praktischen Überlegungen im Prinzip der Glückseligkeit zukommt, indem sich das retrospektiv-evaluative praktische Prinzip vom prospektiv–handlungsleitenden Prinzip unterscheidet. Aufschlussreich ist hierfür, die Textstellen näher zu betrachten, in denen sich die Beförderung der eigenen Glückseligkeit als Aufgabe der praktischen Vernunft darstellt. Sie [‐die Selbstliebe des Wohlwollens] ist aber sofern vernünftig, als teils (1) in Ansehung des Zwecks nur dasjenige, was mit dem größten und dauerhaften Wohlergehen zusammen bestehen kann, teils (2) zu jedem diesen Bestandstücke der Glückseligkeit die tauglichsten Mittel gewählt werden“ (RGV VI: 45 Fn.; meine Nummerierung). Was Pflicht sei, bietet sich jedermann von selbst dar; was aber wahren dauerhaften Vorteil bringe, ist allemal, wenn dieser auf das ganze Dasein erstreckt werden soll, in undurchdringliches Dunkel eingehüllt und erfordert viel Klugheit, um die praktische darauf gestimmte Regel durch geschickte Ausnahmen auch nur auf erträgliche Weise den Zweck des Lebens anzupassen (KpV V: 36; meine Herv.). Was unsere Natur als sinnlicher Wesen betrifft, [kommt] alles auf unsere Glückseligkeit an, wenn diese, wie Vernunft es vorzüglich fordert, nicht nach der vorübergehenden Empfindung, sondern nach dem Einfluss, den diese Zufälligkeit auf unsere ganze Existenz und die Zufriedenheit mit derselben hat, beurteilt wird (KpV V: 61; meine Herv.).
Den Zitaten zufolge lässt sich die Rolle der praktische Vernunft beim Glückseligkeitsstreben auf zwei Ebenen rekonstruieren, die eng miteinander verknüpft sind: Die praktische Vernunft wird zunächst beauftragt, den abstrakten Begriff der
88
2 Kant über das Prinzip der eigenen Glückseligkeit
Glückseligkeit durch die nähere Bestimmung desselben zu konkretisieren. Dazu muss die Vernunft zwei Aufgaben bewältigen: Zunächst soll festgestellt werden, welche der in Frage kommenden Handlungsoptionen zum größten und dauerhaftesten Wohlergehen beiträgt. Nachdem die Frage, was zu den Bestandteilen meiner Glückseligkeit gehört, klar ist, soll die praktische Vernunft prüfen, ob die zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit beitragenden Zwecke sowie die zum Erreichen jeglicher Zwecke benötigten Mittel sowohl voneinander als auch mit dem Glückseligkeitsstreben anderer zusammen bestehen können. Das oben skizzierte Verfahren kann durch die Aufstellung der Maximen bzw. Handlungsregeln geleistet werden. Die praktische Vernunft stellt einzelne praktische Regeln zur Beförderung des langfristigen Wohlergehens auf und orientiert diese Regeln um ein gemeinsames Ziel herum. Bei diesem Verfahren soll der Einfluss einzelner Handlungen auf das ganze Leben berücksichtigt werden. Aufgrund dieses Ergebnisses soll hier darauf aufmerksam gemacht werden, dass an diesen Textstellen das Prinzip der eigenen Glückseligkeit überwiegend als ein prospektiv-praktisches Prinzip betrachtet wird, das uns die Kriterien zur Verfügung stellt, gemäß welchen wir unter verschiedenen Handlungsalternativen auswählen sollten. Anhand dieses Ergebnisses wird z.T. die Frage beantwortet, warum im nichtmoralischen Handeln einzelne Maximen dazu bestimmt werden, zur Totalisierung bzw. Maximierung der Lustempfindung (d. h. Glückseligkeit) beizutragen. Das Glückseligkeitsprinzip hat die einheitsstiftende Funktion in dem Sinn, dass einzelne Maximen im nichtmoralischen Handeln erst unter dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit allesamt als Beiträge zur Glückseligkeit verstanden werden können. Die praktische Vernunft muss dabei für die Etablierung dieser Totalität unter dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit zum Einsatz kommen. Es gilt aber zu beachten, dass die das Glückseligkeitsstreben steuernde Vernunft nicht die moralisch-praktische Vernunft, sondern die technisch-praktische Vernunft bzw. die Klugheit ist. Diese Bemerkung lässt sich durch folgendes Zitat untermauert: Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empirisch sind, so kann die Vernunft dabei keinen anderen als regulativen Gebrauch haben und nur die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dienen, wie z. B. in der Lehre der Klugheit die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen [Zwecken], die Glückseligkeit und die Zusammenstimmung der Mittel, um dazu zu gelangen, das ganze Geschäft der Vernunft ausmacht (KrV B828=A800; meine Herv.).
Jetzt kann man auf die zwei Aspekte des Prinzips der eigenen Glückseligkeit verweisen: Dieses Prinzip fungiert nicht nur als ein retrospektiv-evaluatives Prinzip, nach dem ein Handelnder die Gesamtqualität einer bestimmten Periode als glücklich bzw. unglücklich bewerten kann, sondern auch als ein prospektivhandlungswirksames Prinzip, das das Subjekt dazu führt, unter den ihm gege-
2.3 Die Rolle der praktischen Vernunft im Prinzip der eigenen Glückseligkeit
89
benen Handlungsoptionen jene Handlung zu wählen, welche zu seinem dauerhaften Wohlergeben beitragen kann. Als das retrospektiv-evaluative Prinzip hat das Prinzip der eigenen Glückseligkeit mit den Urteilen zu tun, in denen eine bestimmte Phase des Lebens oder das ganze Leben als glücklich evaluiert wird. Als das prospektiv-praktische Prinzip fungiert das Prinzip der eigenen Glückseligkeit wie folgt: Der Akteur handelt angesichts einer konkreten Situation nach dem Kriterium, nach dem diejenige Handlung als gut bewertet wird, die ihm in langer Sicht das Maximum an Lust verspricht. Dies darf nicht zwangsläufig so verstanden werden, dass beim Glückseligkeitsstreben die Handlung, die auf die Befriedigung der bereits in ihm vorhandenen, stärksten Neigungen abzielt, bevorzugt werden muss. Wie oftmals betont wurde muss das praktische Urteil mit Rücksicht auf den „Einfluss, den diese Zufälligkeit [‐das Lustgefühl] auf unsere ganze Existenz und die Zufriedenheit mit derselben hat“ (KpV V: 61) gefällt werden. Dieses Verfahren könne allerdings einigen Neigungen „großen Abbruch“ tun (GMS IV: 399)⁷. Auf dieser Grundlage lässt sich die Schwäche von Birnbachers Argumentation zeigen: Birnbacher trägt nur dem retrospektiven Aspekt des Prinzips der eigenen Glückseligkeit Rechnung. Bereits die Häufigkeit der prospektiv-handlungsleitenden Auffassung des Glückseligkeitsprinzips weist aber darauf hin, dass sich Kants Augenmerk überwiegend auf den prospektiven Aspekt dieses Prinzips richtet, auch wenn das Prinzip als solches freilich beide Aspekte in sich enthält. Nochmals: Die hauptsächliche Funktion des Glückseligkeitsprinzips sieht Kant darin, die zukunftsgerichteten, planenden Entscheidungen anzuleiten. Als eingeschränkt vernünftiges Wesen kann ein menschlicher Handelnder allerdings nicht wissen, was dem eigenen umfassenden Wohlergehen tatsächlich nützt. Er entscheidet sich für das, was er im Hinblick auf das eigene Wohlergehen unter den ihm verfügbaren Optionen zu diesem Zeitpunkt für das Beste hält. Bei diesem
Das von Kant selbst angeführte Beispiel des „Podagrist“ (GMS IV: 399) scheint aber dieses Missverständnis zu bestätigen: ein Podagrist entscheidet sich dafür, zunächst das zu genießen, was ihm schmeckt, und danach sich daraus ergebende Schmerzen zu leiden. Denn die Glückseligkeit, die eine durch angemessene Ernährung vielleicht erreichbare Gesundheit versprechen könnte, scheint für ihn unsicher zu sein, die Lustempfindung jedoch, die dieser Genuss auslöst, sofort und sicher. In diesem Fall strebt er zwar nach seiner eigenen Glückseligkeit, es ist allerdings schwer zu sagen, dass sich sein Handeln gemäß dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit vollzieht. Wenn die oben zitierte Stelle der KpV (KpV V: 36) berücksichtigt wird, lässt sich sagen, dass der Podagrist seine Klugheit nicht ausreichend ausübt. Dieser Befund weist uns auf die grundlegende Schwäche des Prinzips der eigenen Glückseligkeit hin: Aufgrund unserer unabdingbaren „NichtAllwissendheit“ bleibt unsere Handlungswahl zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit immer unsicher.Wir können nur generelle praktische Regeln zur Beförderung des eigenen Wohlergehens aufstellen, die sich als im Durchschnitt am häufigsten zutreffend erweisen, allerdings keine für jede immer notwendig gültigen Regeln bereitstellen.
90
2 Kant über das Prinzip der eigenen Glückseligkeit
Kalkül fungiert die geschätzte Summe der möglichen Lust als Grund für die Bewertung von Handlungen bzw. Handlungszielen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass man sein Urteil zu einem späteren Zeitpunkt revidiert oder bereut. Aus diesem Grund erweist sich das Prinzip der eigenen Glückseligkeit trotz ihrer totalitätsstiftenden Funktion hinsichtlich der subjektiven Maximen nur als ein subjektives Prinzip, also eines, das nicht für alle Subjekte gleich ausfallen muss. Nun lässt sich die Frage beantworten, was im (von Birnbacher für absurd gehaltenen) kantischen Verständnis der Glückseligkeit zum angemessenen Verständnis des menschlichen Glückseligkeitsstrebens noch bleibt. Kant Auffassung der Glückseligkeit hebt zunächst den Erwartungsaspekt des Glückseligkeitsbegriffs hervor: Als Zweck stellt die Glückseligkeit wesentlich ein in der Zukunft zu realisierendes Endprodukt dar. Aus diesem Erwartungsaspekt folgt, dass die unmittelbare oder übergreifende Zielsetzung des Handelns nicht unmittelbar in einem sofortigen Gewinn von Lust besteht. Trotz dieses Ergebnisses bleiben zwei Fragen noch unbeantwortet: Müssen für das Urteil über die Glückseligkeit einer bestimmten Lebensperiode alle im jeweiligen Zeitraum erfahrene Lustgefühle gleichberechtigt berücksichtigt werden? Aus welchen Gründen denkt Kant, dass ein endliches Vernunftwesen notwendig zur Maximierung der Lust tendiert? Diese Problematik wird im vierten Abschnitt dieses Kapitels verfolgt. Zunächst soll Kants grundlegendes Modell nichtmoralischen Handelns durch die Auseinandersetzung mit den bisherigen Interpretationen des zweiten Lehrsatzes eingehend erläutert werden.
3 Kritische Diskussion bisheriger Interpretationen des zweiten Lehrsatzes 3.1 Vertritt Kant einen psychologischen Hedonismus in Hinblick auf das nichtmoralische Handeln? Einer einflussreichen Deutung nach gründet sich der zweite Lehrsatz der KpV auf Kants hedonistisch-psychologischem Handlungsmodell nichtmoralischen Handelns: Der einzige Gegenstand, den ein Akteur um seiner selbst willen begehrt, sei die Lust. Alle Gegenstände, die wir aus nichtmoralischen Motiven anstreben, seien als Mittel zur Luststeigerung bzw. Lustmaximierung anzusehen. Aus dieser hedonistischen Deutung des zweiten Lehrsatzes folgt, dass die Lust im nichtmoralischen Handeln generell das Handlungsziel ist und als einziger motivierender Faktor anzusehen ist. In letzter Zeit wurde allerdings eine andere Auffassung vorgetragen, der zufolge Kants Sichtweise im zweiten Lehrsatz nicht zwingend als psychologischer Hedonismus nichtmoralischen Handelns anzusehen ist. Ein erhellender Versuch, die bisherige hedonistische Deutung zu entkräften, wurde von A. Reath (Reath 1986, 2006) unternommen. Reath zufolge entstanden die bisherigen Interpretationen einerseits aufgrund eines Missverständnisses des Verhältnisses zwischen der Neigung und der Lust. Andererseits berücksichtigen die bisherigen Deutungen nicht ausreichend, welche Funktion der Argumentation für den zweiten Lehrsatz zukommt. Diesen Missverständnissen ist Reath zufolge nun entgegenzuhalten, dass die Lust für Kant hauptsächlich eine kausale Rolle für die Entstehung einer Neigung spielt und somit nicht als der einzige Beweggrund bei nichtmoralischem Handeln anzusehen ist⁸. Kants Leistung würde in der Klärung der Rolle des Prinzips der eigenen Glückseligkeit bestehen: Das Prinzip ist ein evaluatives Prinzip praktischer Überlegungen, wonach jedes Handeln im Lichte der erwarteten Lust, die durch die entsprechende Handlung erzielt wird, als gut bzw. schlecht evaluiert wird. Was uns das Prinzip der eigenen Glückseligkeit deutlich macht, ist die Struktur der Evaluation im nichtmoralischen Handeln. Zusammenfassend: Reaths argumentative Strategie besteht erstens darin, den psychologischen Hedonismus im Hinblick auf den Handlungszweck zu entkräften, indem er zeigt, dass die Lust hauptsächlich eine kausale Rolle für die Genese einer Neigung spielt. Zweitens liegt das Spezifische des Interpretationsvorschlags von Reath im Versuch, die Funktion der Lust nicht auf die Ebene des Hand-
Die Richtigkeit dieser Auffassung wird im kommenden Abschnitt näher geprüft.
92
3 Kritische Diskussion bisheriger Interpretationen des zweiten Lehrsatzes
lungszwecks, sondern auf die Ebene des Handlungsprinzips zu beziehen. Die Neigung bzw. das Gefühl der Lust lässt das Subjekt erst dann handeln, wenn sie von ihm in seiner allgemeinen Handlungsregel, nämlich in der Maxime, aufgenommen werden kann. Im nächsten Abschnitt befasse ich mich kritisch mit Reaths Interpretation des zweiten Lehrsatzes. In einem ersten Schritt zeige ich, dass seine Deutung manchmal dem Textbestand nicht gerecht wird, auch wenn sie in Grundzügen den kantischen Ausführungen zum Verhältnis der Begierde zur Neigung gerecht wird. Trotz dieser Schwäche besteht die Leistung von Reaths Interpretation darin, dass er die praktische Lust mit dem grundlegenden Handlungsprinzip verknüpft. In einem zweiten Schritt entwickele ich diese positive Implikation seiner Deutung im Rückgriff auf die IT von H.E.Allison weiter.
3.1.1 Reaths Deutung des zweiten Lehrsatzes der KpV Reath vertritt die Auffassung, dass die hauptsächliche Rolle der Lust eine kausale ist, durch die eine bestimmte Neigung entsteht. Als Beleg führt er eine Textstelle aus der Einleitung der MS (MS VI: 212) an, bei der es sich – Reaths Interpretation zufolge – um eine heuristische Beschreibung der Neigungsentstehung handelt: Wenn ein Handelnder Lust an einem gewissen Gegenstand wiederholt erfährt, dann ergibt sich eine Neigung zu diesem Gegenstand. Wenn ein Subjekt eine bestimmte Neigung hat, wird die Lust an diesem Gegenstand, die es durch die Erfüllung dieser Neigung erfährt, nicht als der Beweggrund des Bemühens um diesen Gegenstandes angesehen. Ein wenig vergröbert formuliert: der Beweggrund ist in diesem Fall nur die Neigung, nicht die erwartete Lust. In diesem Sinne ist Kants Aussage des zweiten Lehrsatzes nicht als ein psychologischer Hedonismus aufzufassen, welcher den elementaren Beweggrund eines Handelns ausschließlich als die Lust ansieht. Kants Kennzeichnung der Neigung als „habituelle[r] Begierde“ (MS VI: 212; RGV VI: 28 Fn.) deutet zwar an, dass eine Begierde zu einer Neigung wird,wenn wir den lusterregenden Gegenstand öfter und aus Gewohnheit begehrt haben. Jedoch lässt sich Reaths Auffassung, dass die elementare Funktion der Lust in der Entstehung einer Neigung besteht, m. E. schwer am Text belegen. Um die Tragweite seiner Textanalyse zu prüfen, setzte ich mich mit den einschlägigen Textstellen auseinander: Man kann die Lust, welche mit dem Begehren (des Gegenstandes, dessen Vorstellung das Gefühl so affiziert) notwendig verbunden ist, p r a k t i s c h e L u s t nennen: sie mag nun Ursache oder Wirkung vom Begehren sein. […] Was aber die praktische Lust betrifft, so wird
3.1 Vertritt Kant einen psychologischen Hedonismus
93
die Bestimmung des Begehrungsvermögen, vor welcher diese Lust, als Ursache, notwendig vorangehen muss, im engen Verstand B e g i e r d e , die habituelle Begierde aber N e i g u n g heißen (MS VI: 212; meine Herv.).
Die Auffassung von Reath wird erstens dem argumentativen Kontext der Textstelle nicht gerecht. Wie der Titel des Paragraphs, in dem das Zitat eingebettet ist, ankündigt, handelt es sich hier um eine Theorie lediglich der „Vermögen des menschlichen Gemüts“, die „im Verhältnis zu dem Sittengesetz“ (MS VI: 211) stehen. Diese Textstelle ist dementsprechend im Kontext der Begriffsklärung zum Verständnis des freien, aber zugleich sinnlich affizierbaren Wesens verankert. Dort werden die für weitere Ausführungen zu klärenden Termini näher erläutert und dadurch unter den verschiedenen Arten des Begehrens eine besondere Art des Begehrens, nämlich des moralischen Willens, herausgestellt. Noch eine Anmerkung: In dieser Textstelle erwähnt Kant ausdrücklich, dass die praktische Lust bei der nicht aus Pflicht entstehenden Handlung der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens ist. Eine Lust, die vom Dasein einer Sache abhängt, ist notwendig ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache. Dies widerspricht der Einschätzung Reaths, dass nicht die Lust, sondern die Neigung als der Bestimmungsgrund des Willens angesehen wird⁹. Dabei ist zu beachten: Nach der Einschätzung Kants ergibt sich eine Handlung, die auf die Befriedigung einer Begierde abzielt, erst aus den praktischen Prinzipien, die das Subjekt dazu bringen, diese Befriedigung für gut zu halten. Anhand dieses Befundes lässt sich verdeutlichen, wovon im zweiten Lehrsatz die Rede ist: Es geht nicht darum, zu erörtern, worauf ein Subjekt im nichtmoralischen Handeln abzielt. Vielmehr geht es hier grundsätzlich um die Art und Weise, nach denen ein bestimmtes Beurteilungsprinzip für das nichtmoralische Handeln funktioniert. Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit stellt mit der Maximierung der Lust ein Kriterium bereit, dem gemäß man eine Maxime sowie eine dieser Maxime Dann stellt sich jedoch eine Frage: Wie gelangt Reath zu dieser Auffassung? Der Verdacht liegt nahe, dass Reath den Ausdruck „Bestimmung des Begehrensvermögens“ falsch deutet. Kerstein hat bereits bezweifelt, dass Reath das Begehrensvermögen als ein Vermögen, irgendeine bestimmte Begierde zu haben bzw. zu entwickeln, versteht (Kerstein 2002, S. 28 – 9). Wie oftmals erwähnt wurde, bezieht sich der Begriff des Begehrungsvermögens letztlich auf die Fähigkeit, nach Vorstellungen eines praktischen Prinzips absichtlich zu handeln. Im Anschluss an die Einschätzung von Kerstein vermute ich ferner, dass Reath das Wort „Bestimmung“ nicht als „auf etwas festzulegen“, sondern eher als z. B. „den Inhalt ausführlich zu beschreiben“ begreift. Denn auf der Basis dieser vermuteten Deutung von „Bestimmung des Begehrungsvermögens“ kann die einschlägige, ins Englische übersetzte Textstelle im Sinne Reaths Interpretation verstanden werden: „As for practical pleasure, that determination of the faculty of desire which is caused and therefore necessarily preceded by such pleasure is called desire in the narrow sense; Habitual desire is called inclination“ (Gregor 1996, S. 374).
94
3 Kritische Diskussion bisheriger Interpretationen des zweiten Lehrsatzes
gemäße Handlung positiv beurteilen kann. Zu beachten ist nochmals, dass die Neigungen bzw. Antriebe erst dann handlungswirksam sein können, wenn ihre Befriedigung durch die Vernunft als angenehm und in diesem Sinne als erstrebenswert beurteilt wird. In diesem Handlungsmodell wird die Lust nicht als das einzige, wahre Objekt der Handlung dargestellt, weil es in sich viele verschiedene Handlungszwecke aufnehmen kann. Die Interpretation von Reath, nach der die praktische Vernunft im nichtmoralischen Handeln durch die Lust als eine evaluative Einheit für die Beurteilung den Willen bestimmt, lässt sich an die IT von H.E.Allison anschließen¹⁰. Im Anschnitt 3.2 behandle ich dies in der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Zurechenbarkeit des nichtmoralischen Handelns.
3.1.2 Höwings Deutung des zweiten Lehrsatzes In seiner Dissertationsschrift Die praktische Lust. Kant über das Verhältnis von Fühlen, Begehren und praktischer Vernunft versucht Höwing, den Begriff der Lust in seiner Komplexität zu erfassen und seinen systematischen Platz in der kantischen Handlungstheorie herauszuarbeiten. Meine Zusammenfassung von Höwings Studie beschränkt sich hier auf seine Auseinandersetzung mit dem zweiten Lehrsatz. Hinsichtlich der Klärung des zweiten Lehrsatzes besteht Höwings Leistung darin, auf die zwei Arten der Lust, die im zweiten Lehrsatz thematisiert werden, in aller Ausführlichkeit aufmerksam zu machen: Im zweiten Lehrsatz geht es ihm zufolge zunächst um die sinnliche Lust am Angenehmen. Beachtenswert ist nun, dass im zweiten Lehrsatz nicht nur „die Vorstellungslust“ bzw. „eine erwartete Lust“, sondern auch „die gegenwärtige Lust“ behandelt werden. Noch genauer: Dort werden sowohl eine erwartete Lust, die als die aus der Verwirklichung des begehrten Gegenstandes resultierende vorgestellt wird, als auch die aktuelle Lust, die sich unmittelbar durch das Dasein eines Gegenstandes einstellt, als mögliche Bestimmungsgründe des nichtmoralischen Handelns betrachtet (Höwing 2013b, S. 141– 8). Höwing zufolge kann die Begierde nach Gegenständen nicht an einem späteren Punkt, sondern nur unmittelbar in der sinnlichen Lust entstehen, die wir an der Gegenwart eines Gegenstandes empfinden. Da dieser Befund allerdings in der Literatur bislang wenig Aufmerksamkeit erfuhr, ist anhand derselben schwer zu klären, in welcher Art und Weise eine Begierde nach einem Gegenstand zustande kommt. Der bisherigen Auffassung zufolge kann die Begierde nach einem Gegenstand nur dadurch ausgebildet
Die „Incorporation Thesis“ von H.E.Allison wurde bereits im ersten Kapitel eingeführt.
3.1 Vertritt Kant einen psychologischen Hedonismus
95
werden, dass wir über frühere innere Vorgänge nachdenken und auf der vorangegangenen Erfahrung gründende Überzeugungen haben, dass Gegenstände dieser und jener Art uns den Genuss von Lust verschaffen. Nach Höwing ist diese Deutung sowohl schwer am Text zu belegen, als auch für sich schwer zu nachvollziehen, weil es Fälle gibt, in dem das Subjekt ohne die Reflexion seiner vorangegangenen faktischen Lusterfahrung eine Lusterwartung hat: Ein Subjekt kann z. B. aufgrund der Empfehlungen anderer die Lusterwartung an einem bestimmten Gegenstand ausbilden. Es ist zudem möglich, dass das Dasein eines Gegenstandes X in einem Subjekt unmittelbar die Lust auf X erweckt. Höwings Deutung wirft jedoch die Frage auf,wie sich die aktuelle unmittelbare Lust an einem Gegenstand zur Lusterwartung an ihm verhält. Denn Kant vertritt ausdrücklich die Ansicht, dass die erwartete Lust an einem Gegenstand eine kausale Rolle dafür spielt, ein Subjekt zu jener Handlung zu bringen, mit der dieser Gegenstand erlangt werden kann. Höwings Antwort nach ist die Ausbildung der Lusterwartung deshalb nötig, weil ein Subjekt ausgehend von einer Begierde eine praktische Vorschrift zum Erreichen dieses Gegenstandes bilden kann, nach der wir uns beim Handeln richten (Höwing 2013b, S. 164 – 8). Wie Höwing wohl bewusst ist, wirft sein bisheriger Befund außerdem die folgende Frage auf: Wie lässt sich von einer logisch singulären Begierde, die unmittelbar aus einer Lust folgt, zu einer praktischen Vorschrift übergehen, an der sich das Subjekt zum Erreichen eines Gegenstandes orientiert? Um diesen Punkt zu verdeutlichen, sei die Problemlage näher geklärt. Wie im vorangegangen Kapitel argumentiert wurde, müssen für die vernünftige Handlung die praktischen Vorschriften, die die Bedingungen der Realisierbarkeit eines Gegenstandes erfüllen, zur Vergnügen stehen. Eine Begierde, die in der Lust entsteht, reicht allerdings als solche nicht aus, um zu einer praktischen Vorschrift zu begründen. Denn diese Begierde ist logisch singulär, d. h. sie richtet sich auf einen theoretisch noch unbestimmten Gegenstand: In der unmittelbaren gegenwärtigen Lust begehre ich z. B. kein bestimmtes Gericht X, sondern etwas, das mir in einer Lust unmittelbar gefällt. Ich habe zwar Lust darauf, das Gericht gerne zu probieren, jedoch fasse ich das Gericht noch nicht begrifflich auf, sondern nur als etwas, was mir Lust verschafft. Da die praktische Vorschrift nun aber einen Begriff des begehrten Gegenstandes voraussetzt, muss das Objekt der Lust unter Begriffe gebracht werden. Nach Höwing geschieht dies durch die Lusterwartung, die in Form von evaluativen Überzeugungen geführt wird, indem wir darüber nachdenken, welche Arten von Gegenständen wir in der Vergangenheit angenehm gefunden haben (vgl. Höwing 2013b, S. 181– 9). Auf diese Weise entsteht letztlich eine konzeptualisierte Begierde, die sich auf ein Objekt einer bestimmten Art richtet.
96
3 Kritische Diskussion bisheriger Interpretationen des zweiten Lehrsatzes
Eine evaluative Reflexion führt dazu, dass wir den Gegenstand einer ursprünglich logisch einzelnen Begierde als Exemplar einer bestimmten Art von Gegenständen auffassen, die uns generell in einer Lust gefallen. Damit verfügen wir über einen Begriff des begehrten Gegenstandes, der uns ermöglicht, die praktischen Vorschriften zu bilden, nach der wir uns bei der Verwirklichung eines Gegenstandes richten müssen (Höwing 2013b, S. 169).
Durch die Klärung des Verhältnisses der aktuellen Lust mit der Lusterwartung gelingt es Höwings Studie, die auf der Lust basierte Begierde nach einem Gegenstand letztlich auf die vernünftige Handlung zu beziehen, die sich durch „das Begehrensvermögen nach Begriffen“ vollzieht. Dadurch wird auch die im zweiten Kapitel behandelte Frage, aus welchen Gründen das Glückseligkeitsstreben für Kant als „nicht abzulehnende[r] Auftrag der Vernunft“ (KpV V: 61) gekennzeichnet wird, aus einer anderen Perspektive her beleuchtet. Des Weiteren weist Höwing darauf hin, welche Rolle die Lust bei der Aufstellung einer praktischen Vorschrift für die eigene Glückseligkeit spielt. Wie in den letzten Kapiteln erwähnt wurde, ist dem Akteur aufgrund der Unbestimmtheit des Glückseligkeitsbegriffs immer unklar, worin seine Glückseligkeit tatsächlich besteht. Um vom abstrakten Prinzip der eigenen Glückseligkeit zu einer informativen praktischen Vorschrift zu kommen, muss das Subjekt folglich selbst bestimmen, was es für es bedeutet, glücklich zu sein. Hierbei spielt die Lust eine entscheidende Rolle. Lust dient nämlich als ein Kriterium, mit dem sich das Subjekt bewusst machen kann, welche Gegenstände bzw. Sachverhalte es glücklich macht. Anders ausgedrückt: Wir müssen selbst herausfinden, welche Objekte, genauer gesagt, welche Art von Objekten wir begehren – und dies zeigt uns die sinnliche Lust an und können dazu die Lust als Kompass verwenden.
3.2 Zurechenbarkeit des nichtmoralischen Handelns 3.2.1 Verknüpfung der Interpretation Reaths mit der „Incorporation Thesis“ von Allison Die Herausforderung der kantischen Ethik besteht insbesondere darin, den Willen mit der praktischen Vernunft zu verknüpfen und somit den freien als Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung darzustellen. Aufgrund Kants Gleichsetzung der Autonomie mit dem freien Willen wird sein Konzeption der Willensfreiheit oft so verstanden, dass der Wille insofern frei ist, als er von der Achtung fürs Sittengesetz motiviert wird. In allen anderen Fällen, z. B. im Fall der aufgrund von Neigungen geführten Handlung sei der Wille naturgesetzlich determiniert und somit weder frei noch zurechenbar. Gegen diese Interpretationstendenz steht bekanntlich Reinholds
3.2 Zurechenbarkeit des nichtmoralischen Handelns
97
Kritik an Kants Moralphilosophie: Wenn jedes moralische Sollen eigentlich ein moralisches Wollen ist, das als moralische Autonomie aus Freiheit entspringt, so heiße dies, dass „der Wille nur in Rücksicht auf die sittlichen Handlungen frei ist, weil ja danach der Grund der unsittlichen außer dem Willen in äußeren Hindernissen und Schranken der Freiheit aufzusuchen sei“ (Reinhold 1972, S. 296). Wäre eine derartige Deutung korrekt, schiene Kants Sichtweise problematische Konsequenzen für die Zurechenbarkeit des nichtmoralischen Handelns nach sich zu ziehen, da ausschließlich die aus dem Sittengesetz entstehende Handlung frei und zurechenbar ist¹¹. Im Anschluss daran sehen einige Forscher mit Blick auf den zweiten Lehrsatz die Schwäche der kantischen Moralphilosophie darin begründet, dass Kant nur den rationalen Willen in Erwägung zieht und somit den sinnlich affizierbaren Wille nicht ausreichend berücksichtigt (vgl. Irwin 1984; Wood 1984). Das hauptsächliche Problem der kantischen Sichtweise ist, dass alle Motive nichtmoralischer Handlungen auf die subjektive Begierde nach Lust zurückzuführen sind, die dem Naturgesetz untergeordnet ist. Daher erscheint die Zurechenbarkeit des nichtmoralischen Handelns problematisch (vgl. Wood 1984). Gegen diese Deutung steht eine andere Auffassung, die als Lösungsansatz für die Zurechenbarkeit des nichtmoralischen Handelns dienen kann: Da die Freiheit der Willkür auf der freien Wahl der Handlungsmaxime beruht, kann sich die Freiheit der Willkür auch für ein sinnlich bedingtes Streben verbürgen. In seinem Buch Kant’s Theory of Freedom plädiert Allison für diesen Standpunkt, indem er die folgende Textstelle aus der RGV (RGV VI: 23 – 4) als die „incorporation thesis“ (im Folgenden „IT“ genannt) kennzeichnet. Nach der IT beruhen die freien Handlungen auf der freien Aufnahme von Triebfedern in die Handlungsmaxime, die für das Handeln den Ausschlag gibt. Die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, dass sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, a l s n u r s o f e r n d e r M e n s c h s i e i n s e i n e M a x i m e a u f g e n o m m e n h a t (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen. Allein das moralische Gesetz ist für sich selbst im Urteil der Vernunft Triebfeder, und wer es zu seiner Maxime macht, ist m o r a l i s c h gut (RGV VI: 23 – 4; meine Herv.).
Gegen diese Auffassung kann man darauf hinweisen, dass Kants Unterscheidung der Willkür vom Willen als seine eigene Lösung hierfür dienen mag. Aus der Unterscheidung von Willkür und Willen wird geklärt, wie bei einer nichtmoralischen Handlung von der Freiheit die Rede sein kann bzw. wie ihre Zurechenbarkeit gesichert ist und wie unter den moralisch neutralen Varianten eine Wahl getroffen werden kann.
98
3 Kritische Diskussion bisheriger Interpretationen des zweiten Lehrsatzes
Diesem Zitat kommt besondere Bedeutung zu im Hinblick auf die Frage, wie die nicht aus Pflicht zustande kommenden Handlungen als frei bzw. zurechenbar zu betrachten sind. Denn aus dem Zitat folgt, dass die sinnlichen Neigungen das Subjekt nicht direkt dazu führen, im Sinne ihrer Erfüllung zu handeln. Vielmehr kann das Subjekt angesichts seiner sinnlichen Bedürfnisse frei sein subjektives Handlungsprinzip der Handlung, nämlich seine Maxime, wählen oder aufstellen. Eine weitere Belegstelle für die IT lässt sich m. E. in einer Anmerkung der RGV ausmachen, in der von der Zurechenbarkeit des Bösen die Rede ist (vgl. RGV VI: 57– 8). Dass man Menschen das Böse zurechnen kann, sei erst dann möglich, wenn wir sie so ansehen können, dass sie das Böse in ihre Maxime aufgenommen hätten. Dabei sei darauf aufmerksam gemacht, dass das Böse nicht in den Neigungen, sondern in der „verkehrten Maxime und also in der Freiheit selbst“ (RGV VI: 57) zu suchen ist. Da eine freie Wahl nur hinsichtlich der Wahl von Maximen erfolgen kann, ist es folgerichtig, dass die gewählte Maxime als Gegenstand der moralischen Beurteilung und Zuschreibung von Handlungen angesehen werden muss. Durch eine weitere Textstelle aus den Reflexionen begründet Allison zudem seine Auffassung, dass die Besonderheit der menschlichen Handlungen als „durch Sinnlichkeit großen Teil veranlasst aber nicht gänzlich bestimmt; denn die Vernunft muss ein complement der Zulänglichkeit geben“ (R5611 XVIII: 252; meine Herv.) charakterisiert werden¹². Das „complement“, dessen Ursprung in der Vernunft liegt, ist m. E. als die freie Wahl einer Handlungsmaxime aufzufassen, die aufgrund der Spontaneität des Subjekts aufgestellt wird. Mit dieser Bemerkung kann die Implikation der IT noch einfacher formuliert werden: Da eine Maxime bereits ein Produkt des vernünftigen Subjekts ist, enthält die auf einer Maxime beruhende Handlung auch den Akt der Spontaneität. Es sei nun auf das Verhältnis des kategorischen Imperativs mit den jeweiligen Maximen aufmerksam gemacht. Der kategorische Imperativ wird mit dem Prinzip einer Tauglichkeitsprüfung einer Maxime als allgemeines Gesetz gleichgesetzt. Zu beachten ist, nochmals, dass er sich nicht unmittelbar auf eine konkrete Handlung bezieht, sondern auf die Maxime. Infolgedessen lässt die Freiheit es zu, dass das Subjekt seine Maxime ausbildet, solange sie nicht in Konflikt mit dem Anspruch des kategorischen Imperativs gerät. Es ist daher wenig plausibel zu behaupten,
Der Absatz, in dem das Zitat eingebettet ist, lautet wie folgt: „Wäre alles durch Vernunft bestimmt, so wäre alles notwendig, aber auch gut. Wäre es durch die Sinnlichkeit bestimmt, so wäre nichts Böses oder Gutes, überhaupt nichts praktisches. Nun sind die Handlungen durch Sinnlichkeit großen Teils veranlaßt, aber nicht gänzlich bestimmt; denn die Vernunft muß ein complement der Zulänglichkeit geben. Die Vernunft zieht die Sinnlichkeit allmahlig im habitus, erregt Triebfedern und bildet daher einen Charakter, der aber selbst der Freyheit beyzumessen ist und selbst in den Erscheinungen nicht hinreichend gegründet ist“ (R5611 XVIII: 252).
3.2 Zurechenbarkeit des nichtmoralischen Handelns
99
dass jemand, der dem kategorischen Imperativ gerne folgt, rund um die Uhr aus Pflicht handeln muss. Selbstverständlich bleibt ihm ausreichend Zeit, in der er anderen Beschäftigungen für sein eigenes Wohlbefinden nachgehen kann, solange sein Glückseligkeitsstreben mit dem Anspruch des kategorischen Imperativs nicht konfluiert¹³.
3.2.2 „arbitrium liberum“ in der IT Um mögliche Missverständnisse zu beseitigen und die Plausibilität der IT mit Hinblick auf Kants Konzeption des vernünftigen Akteurs („rational-agency“) zu unterstreichen, gilt es als angebracht, zwei Aspekte der IT zu erhellen, die zum angemessenen Verständnis notwendig sind. Der am häufigsten erhobene Einwand gegen die IT besteht darin, dass sich die Textstelle der RGV, auf welche Allison zum Beleg für die IT verweist, schwer als Theorie für das motivationale Modell des vernünftigen Handelns auffassen lässt (Engstrom 1993; Baron 1993; Williamson 2008). Denn diese Teststelle ist im Kontext von Kants eigener Argumentation gegen den moralischen Rigorismus eingebettet und es geht dabei nicht um eine konkrete Maxime für eine einzelne Handlung, sondern um die oberste Maxime des Handelns, welcher alle übrigen Maximen untergeordnet werden müssen. Angesichts dieses Einwands gilt es allerdings zu bestätigen, dass es sich bei der IT um eine generelle Theorie der Motivation hinsichtlich des eingeschränkt vernünftigen Akteurs handelt. Denn diese Textstelle gehört explizit zum Text zu den „Bemerkungen für Moral“ – und dort wird die Triebfeder im Allgemein in Betracht gezogen. Der Ausdruck von einer „Triebfeder, welche sie auch sei (RGV VI: 24)“ wird in dieser Auffassung deshalb unterstützt, weil er sowohl die aus Pflicht vollzogenen als auch die aus Neigungen entstehenden Handlungen in Erwägung zieht.
Zu beachten ist: Selbst wenn eine Maxime für Kant das Prinzip der Handlung darstellt, die vom vernünftigen Akteur angenommen wird, ist der Akteur nicht immer im Stande – sogar in der Retrospektive nicht – zu wissen, ob er in der Tat nach der moralischen Maxime handelt.Vielmehr kann er nicht erklären, ob und wie eine freie Handlung ausgeführt wird. Dies lässt sich solange gut nachvollziehen, wie die Maxime als der Charakter einer Person, also als ihre „eigentümliche Beschaffenheit des Willens“ (GMS IV: 393), gekennzeichnet wird. Eine Maxime enthält in sich das positive Zuziehen eines Subjekts: Das Subjekt bewertet den Zweck positiv, der dadurch verwirklicht wird, wenn es nach dieser Maxime handelt, und somit bildet es sich den eigenen Charakter, der sich in Handlungen präsentieren lässt. Nach der Einschätzung Kants bleibt uns aber der moralische Charakter des Akteurs, sowohl von unser eigener als auch der anderer, epistemisch verschlossen.
100
3 Kritische Diskussion bisheriger Interpretationen des zweiten Lehrsatzes
Für den angemessenen Umgang mit den bisherigen Ergebnissen wäre es sinnvoll, wenn nochmals der Tatsache Aufmerksamkeit geschenkt wird, dass bei der IT nicht vom „arbitrium brutum“, sondern vom „arbitrium liberum“ die Rede ist. Das „arbitrium brutum“ ist dasjenige Begehrungsvermögen, das nicht nur von der Sinnlichkeit affiziert, sondern auch sofort dazu determiniert, im Sinne einer Erfüllung der sinnlichen Bedürfnisse zu handeln. Anders formuliert, handelt ein Wesen mit dem „arbitrium brutum“ immer so, als erfülle es jeweils die sich ihm am stärksten aufdrängenden Begierden. Da die Stärke der Begierden allein von den physischen sowie psychologischen Faktoren abhängt, ist hier kein Spielraum für die Freiheit der Willkür gegeben. Genau genommen ist dieses Wesen nicht als „Akteur“, sondern als „Automat“ zu charakterisieren. Im Vergleich dazu kann ein Subjekt mit dem „arbitrium liberum“ zwar sinnlich bzw. „pathologisch“ affiziert werden, es kann jedoch nicht direkt aufgrund dieser Affektion handeln. Für dieses Wesen gilt, dass es nicht aufgrund der in ihm vorhandenen Neigungen, sondern aufgrund eines von ihm frei gewählten Prinzips handelt, mit dem es der Befriedigung der Neigung Gründe gibt. Erst durch die vom Akteur geleistete Aufnahme der Neigung in seine Maxime kann die Neigung oder Begierde als ein guter Grund zum Handeln aufgefasst werden. Aus dieser Perspektive kann man es so deuten, als wäre die aus Neigung entstehende Handlung als Akt der Spontaneität anzusehen. Von diesem Ergebnis ausgehend ergibt sich nun die Frage, welche Art der Freiheit dem freien „Aufnehmen“ der Neigung in die Maxime zugrunde liegt. Ein Ansatzpunkt hierfür lässt sich aus einer Textstelle der KpV (KpV V: 95 – 6) entnehmen, in der Kant die Unterscheidung von komparativer bzw. psychologischer und transzendentaler Freiheit einführt, um die Schwäche der Leibniz’schen Theorie der Willensfreiheit aufzuzeigen. An dieser Textstelle wird deutlich, dass dem Akt des freien „Aufnehmen“ einer Maxime weder eine komparative noch eine psychologische Freiheit zugrunde liegt. Denn der Akt des „Aufnehmens“ erfordert das Vermögen, unabhängig von der Kausalität der Natur zu handeln. Dieses Vermögen kann m. E. nur mit Blick auf die Idee der transzendentalen Freiheit gedacht werden¹⁴. Wenn ich mich selbst als ein Wesen vorstelle, das nach guten Gründen sowie nach der reflektierten Evaluation der jeweiligen Situation handeln kann – und nicht bloß auf die bereits vorhandenen bzw. sich stärksten aufdrängenden Begierden oder Neigungen reagiert -, dann muss ich mich für ein freies Wesen oder für ein Wesen mit freier Willkür halten. Mit Kants Wort ge-
Diese Auffassung stützt sich auf die folgende Textstelle: „ohne welche Freiheit [‐die transzendentale Freiheit] (in der letzteren eigentlichen Bedeutung), die allein a priori praktisch ist, kein moralisches Gesetz, keine Zurechnung nach demselben möglich ist“ (KpV V: 97; meine Herv.).
3.2 Zurechenbarkeit des nichtmoralischen Handelns
101
sprochen, kann ich erst dann handeln, wenn ich unter der „Idee der Freiheit“ (GMS IV: 448) stehe. Dies gewährt den für die praktische Vernunft bzw. die Spontaneität der Willkür nötigen Spielraum.
4 Ist Kants handlungspsychologische Auffassung des nichtmoralischen Handelns hedonistisch? 4.1 Das Glücksstreben als Streben nach der Maximierung der Lustempfindung Wenn man die bislang entwickelten Ergebnisse miteinander verknüpft, lässt sich die eingangs gestellte Frage beantworten: Ist Kants handlungspsychologische Auffassung des nichtmoralischen Handelns hedonistisch? Freilich hängt die Antwort auf diese Frage davon ab, in welchem Sinne man das Etikett „Hedonismus“ versteht. Wenn wir wie Reath Hedonismus als diejenige Theorie begreifen, der zufolge alle Handlungszwecke sowie Motive letztlich auf die Lust bzw. die primäre Begierde nach Lust reduziert werden können, dann ist Kants Standpunkt nicht für hedonistisch zu halten. Wenn wir aber unter Hedonismus diejenige Theorie verstehen, nach welcher der Lust bei empirisch-praktischen Überlegungen eine wichtige Rolle zukommt, dann ist Kants Standpunkt hedonistisch. Denn die Lust fungiert im Rahmen der Kantischen Handlungspsychologie als die ‚gemeinsame Währung‘, durch die wir unter den uns verfügbaren Handlungsoptionen eine als gut bzw. erstrebenswert evaluieren können. Dies impliziert, dass ein Akteur im nichtmoralischen Handeln die Menge sowie die Dauer der Lust, die ihm die jeweilige Handlungswahl verspricht, gegeneinander aufrechnet, auch wenn er aufgrund seiner „Nicht-Allwissenheit“ nicht weiß, welche Wahl tatsächlich die größtmögliche dauerhafte Lust ermöglicht¹⁵. Die von Kant angeführten Beispiele Höwing ist anderer Meinung. Er denkt, dass das kantische psychologische Handlungsmodell für das nichtmoralische Handeln nichts mit dem sog. „hedonistischem Kalkül“ zu tun hat. Denn wir denken „an keinem Punkt der empirisch-praktischen Überlegung an die Lust und ihre kausale Verknüpfung mit dem begehrten Gegenstand“(Höwing 2013b, S. 180; meine Herv.). Seine nähere Argumentation dafür ist wie folgt: „Weil nun unsere evaluativen Überzeugungen implizit eine Lusterwartung enthalten, deswegen lässt sich auch die entsprechende Präferenzordnung in Form einer Lusterwartung beschreiben.[…] Doch gleichwohl kommen wir zu einer derartigen Aussage nicht, indem wir die Lustmengen gegeneinander aufrechnen, die sich unserer Einschätzung zufolge in unserem Gemüt einstellen werden, sobald wir auf der Jagd sind oder ein gutes Buch lesen. Vielmehr denken wir darüber nach, ob wir lieber zur Jagd gehen oder zu Hause ein Buch lesen wollen“ (Höwing 2013b, S. 181; meine Herv.). Mir scheint diese Argumentation nicht ganz überzeugend, weil Höwings Beispiel von „lieber A als B Wollen“ leicht als die Folgerung des „hedonistischem Kalküls“ interpretiert werden kann, indem man die Intensität und die Dauer von Lust, die jeweils durch A und durch B erreicht werden kann, schätzt. Kann das hedonistische Kalkül nicht als die grundlegende Struktur des Phänomens von „lieber A als B Wollen“ verstanden werden? Wenn Höwings Deutung von Lust angenommen
4.2 Die durch das Prinzip der eigenen Glückseligkeit gestiftet technische Einheit
103
in der ersten Anmerkung des zweiten Lehrsatzes lassen uns vermuten, dass Kant der Meinung ist, die Ausübung einer anspruchsvollen intellektuellen Tätigkeit führe – im Vergleich zur Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse – zu einem nachhaltigeren Vergnügen. Zu beachten ist, dass die hedonistische Sichtweise Kants vom methodologischen Belang zum angemessenen Verständnis für die nichtmoralische Handlung ist. Im Rekurs auf den Lustbegriff wird trotz der Vielgestaltigkeit sowie der zahlreichen Unterschiede zwischen verschiedenen Neigungen bzw. Bedürfnissen eine gemeinsame Grundstruktur des nichtmoralischen Handelns repräsentiert. In diesem systematischen Zusammenhang ist das Prinzip der eigenen Glückseligkeit von Bedeutung: Es schildert eine grundlegende Form der Wahl im moralisch neutralen Handeln, indem es dem Subjekt insofern die Gründe der Handlung gibt, als das angestrebte Objekt die größtmögliche Lust hervorbringen kann. Dieses Prinzip evaluiert darüber hinaus die Handlung oder den Handlungszweck von diesem Standpunkt aus. Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit weist weder auf ein gemeinsames Handlungsziel noch auf eine gleiche Triebfeder zur moralisch neutralen Handlung hin. Auf der Grundlage dieser Auffassung lässt sich aus dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit folgern, dass die aufgrund der subjektiven Gründe entstehende Wahl eine gemeinsame Form hat.
4.2 Die durch das Prinzip der eigenen Glückseligkeit gestiftet technische Einheit Häufig wird untergestellt, dass das auf dem Gefühl der Lust beruhende Prinzip wegen der subjektiven Einzelheit der Maximen nicht als ein allgemeines praktisches Prinzip anzusehen ist. Anhand des bisherigen Ergebnisses ist allerdings geltend zu machen, dass die einzelnen Maximen, die sich auf das Erreichen der größtmöglichen Lust richten, nach den Überlegungen Kants unter einem Prinzip der eigenen Glückseligkeit stehen. Im Fall der materialen praktischen Prinzipien wird das Begehrungsvermögen in folgender Weise bestimmt: Wenn die Vorstellung eines Gegenstandes in einem Subjekt Lust auslöst, tendiert das Subjekt, sein Begehrungsvermögen zur Ver-
wird, – der zufolge die Wahrnehmung von angenehmen Gegenstände grundsätzlich evaluativ ist und die Bildung an die Lusterwartung, die zur Aufstellung der praktischen Vorschriften nötig ist, wesentlich auf dem Nachdenken über frühere Erfahrungen von der lusterregenden Wahrnehmungen basiert – , dann scheint mir schwer zu verteidigen, dass man bei der empirisch-praktischen Überlegung ein hedonistisches Kalkül gänzlich vermeiden kann.
104
4 Kants handlungspsychologische Auffassung
wirklichung dieses Objekts zu bestimmen. In der Lust an diesem Gegenstand wird dem Subjekt bewusst, dass seine subjektiven Bedingungen als subjektiv zweckmäßig im Hinblick auf die Ausübung des Begehrungsvermögens zur Verwirklichung dieses Objekts sind. Das Subjekt kann allerdings seinen vitalen Zustand, den es in der Lust empfindet, nur in der Gegenwart des Objekts aufrechterhalten. Denn dieser Zustand hängt grundsätzlich von der empirischen Affektion des Gegenstandes ab. Aus diesem Grund treibt die Vorstellung eines lusterregenden Gegenstandes das Subjekt dazu an, den vorgestellten Gegenstand erneut zu realisieren oder die Bedingungen seiner Gegenwart sicherzustellen (vgl. Höwing 2013b). Für die Motivation des Handelns, das den Genuss des begehrten Objekts verschaffen soll, ist es aber notwendig, dessen Vorstellung der Vernunft gegenwärtig zu halten. Dies ist die Leistung der reproduktiven Einbildungskraft. Um ein mögliches Missverständnis zu vermeiden, ist festzustellen, dass die auf materialen Prinzipien basierten Maximen weder ein zusammenhangloses noch ein zufälliges Aggregat empirischer Einzelheiten bilden. Vielmehr können diese Maximen eine technische Einheit¹⁶ bilden, in der alle einzelnen Maximen nach einem Prinzip im Zusammenhang stehen. Denn Kants Überlegungen nach sind alle materialen Prinzipien trotz ihrer jeweiligen Einzelheit insgesamt von einer und derselben Art (vgl. KpV V: 23). Was die Gleichartigkeit der materialen Prinzipien angeht, ist zu beachten, dass diese Gleichartigkeit nicht auf die empirische Allgemeinheit der Gegenstände zurückgeführt wird, die im Subjekt Lustgefühle erregen. Diese Gleichartigkeit beruht vielmehr auf der gleichförmigen Struktur der Reflexion des Subjekts, das das vorgestellt Objekt auf seine Rezeptivität bezieht¹⁷. Diese Reflexion ist eine Verbindung einer Vorstellung mit einer
Die einheitsstiftende Funktion des Prinzips der eigenen Glückseligkeit soll allerdings nicht überschätzt werden. Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit hat zwar hinsichtlich der subjektiven Maximen eine einheitsstiftende Funktion, jedoch darf diese Einheit niemals als ein System (in einem strengen Sinne) angesehen werden. Der Textstelle auf der Seite B 673=A645 der KrV nach müssen alle Teile des Systems „nach notwendigen Gesetzen“ voneinander zusammenhängen. Allerdings verfügt das Prinzip der eigenen Glückseligkeit über kein praktisches Gesetz im engeren Sinne und es kann somit keine vollständige Einheit stiften. Des Weiteren kann die Einheit, die durch das Glücksprinzip gebildet wird, die weitere Voraussetzung für ein System nicht erfüllen. Auf der Seite B 860 der KrV steht Kants Definition von „System“ als „die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“ (KrV B860=A832). Diese Idee soll ein a priori bestimmter „Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen“(KrV B860=A832; meine Herv.) sein. Diese Apriorizität des Vernunftbegriffs fehlt allerdings dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit. Im Rekurs auf Kants Unterscheidung zwischen technischer und architektonischer Einheit (KrV B 861=A833) drücke ich vorläufig diese durch das Glücksprinzip gebildete Einheit als die technische Einheit aus. T. Höwing hat diesen Punkt in seiner Dissertation eingehend erläutert, indem er darauf verweist, dass die Erwartung einer Lust grundsätzlich eine evaluative Überlegung ist. (vgl. Höwing 2013b)
4.3 Sinnliche Lust am Angenehm als „Empfindung der Angenehm“
105
anderen Vorstellung, nämlich der Vorstellung des Objekts mit der vorgestellten Annehmlichkeit, die von der Wirklichkeit dieses Objekts antizipiert wird. Dabei fällt nun auf, dass diese Reflexion (wegen der Erinnerung der Vorgestellte) nicht auf eine reale, gegenwärtige, sondern auf eine zukünftige, also ihrerseits Vorgestellte Annehmlichkeit bezogen wird. In Bezug auf diesen Punkt gehe ich der Frage nach, die im Lauf der ganzen bisherigen Argumentation unbeantwortet blieb: Aus welchen Gründen tendiert der vernunftbegabte Akteur zur Totalisierung der Lust?
4.3 Sinnliche Lust am Angenehm als „Empfindung der Angenehm“ Um die Frage zu beantworten, warum das vernunftbegabte, aber zugleich auch sinnlich affizierbare Wesen nach der Totalisierung der Lust strebt, rekurriere ich im Folgenden auf die Struktur der Lust eines solchen Wesens. Zu allererst gilt es hierfür das im ersten Kapitel herausgestellte Ergebnis in Erinnerung zu rufen, dass das vorübergehende, punktuelle Gefühl der Lust von der eigenen Glückseligkeit als dem das ganze Dasein des Subjekts umfassenden, notwendigen Zweck unterschieden werden muss. Im Vergleich zu einem punktuellen Lustgefühl ist nämlich die Glückseligkeit als eine Totalität zu bezeichnen¹⁸. Zur Klärung des Verhältnisses zwischen der einzelnen Lust und deren Totalität lässt sich ein Ansatzpunkt in Kants Bezeichnung der Lust als „die Empfindung der Annehmlichkeit“ (KpV V: 22) finden¹⁹. Zur Erläuterung des Lustbegriffs lohnt es sich daher, das Kantische Verständnis der sinnlichen Empfindung im Allgemein heranzuziehen, das sich in der „Erklärung zur Anticipationen der Wahrnehmung“ (KrV A168 – 9=B209 – 10) befindet. Ein wenig vergröbert lassen sich Kants Ausführungen zur sinnlichen Empfindung folgendermaßen zusammenfassen: Was wir empfinden, etwa Hitze, Töne usw., empfinden wir in der Zeit. Zu beachten ist, dass Töne oder Hitze nicht durch die sukzessive Zusammensetzung in figürlichen Darstellungen zu erfassen sind wie beim Raum und bei der Zeit. Bei der Emp-
Der Totalitätscharakter des Glücksbegriffs ist deshalb wichtig, weil ohne die Berücksichtigung dieses Charakters die „natürliche Dialektik“ (GMS IV: 415) der praktischen Vernunft in der GMS und die methodische Bedeutung des Analytikteils der KpV unerörtert blieben. Da das Prinzip der eigenen Glückseligkeit die einzelnen Maximen zu deren Totalität bestimmen und die partikularen Maximen somit nach diesem Prinzip miteinander im Zusammenhang stehen können, muss sich Kant mit dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit auseinandersetzen, um die Untauglichkeit dieses Prinzip zum obersten Prinzip der Sittlichkeit zu zeigen. Dieser Ansatz lässt sich durch den Befund von Höwing untermauern, dem zufolge die im zweiten Lehrsatz thematisierte Lust die sinnliche Lust am Angenehmen ist.
106
4 Kants handlungspsychologische Auffassung
findung geht es nämlich nicht darum, von Teilen zum Ganzen der Vorstellung fortzugehen, sondern um eine Einheit. Wir empfinden es also im Augenblick der Wahrnehmung ganz. Dieser Befund lässt sich auf die sinnliche Lust anwenden. Als Empfindung entsteht die Lust in der Zeit. Sie kann nicht sukzessiv, sondern nur als Einheit aufgefasst werden, nämlich als intensive Größe bzw. Grad. Die Lustempfindung wird jeweils als das mögliche Maximum ihres Grades vorgestellt. Zusammenfassend: Als Empfindung wird die Lust nur als Einheit erfasst, die den Augenblick erfüllt. Der erste Aspekt macht uns verständlich, warum die Lust das Subjekt dazu führt, sie erneut hervorzubringen zu wollen. Aufgrund der unaufhebbaren Zeitlichkeit der Lust geht sie in der Zeitfolge vorüber. Auf der Basis des zweiten Aspekts lässt sich erhellen, warum für Kant nicht der Ursprung, sondern die sowohl intensive als auch extensive Größe der erwarteten Lust relevant ist (vgl. KpV V: 23– 4). Die Glückseligkeit wird durch die bewusste reflexive Zufriedenheit des Einzelnen mit seinem Zustand, der eine bestimmte ausgedehnte Periode umfasst, gekennzeichnet.Wird diese subjektive Reflexivität der Glückseligkeit mit den oben skizzierten Ausführungen zur Lust verknüpft, lässt sich erklären, warum das vernünftige Begehren der einzelnen, augenblicklichen Lustempfindung sich in der Glücksseligkeitsvorstellung als einer Totalität dieser Empfindung vereinigt. Aufgrund ihrer Momenthaftigkeit kann die Lust während des Strebens nach Lust in die eintretende Unlust regredieren, wenn es keine Vorstellung der Totalität der Lust gibt. Die Funktion des Ideals, das von der Einbildungskraft hergestellt wird, besteht darin, gegen die Zeitlichkeit der Lust die beständige Einheit – zwar für die empirisch bedingte Kausalität – zu gewährleisten. Mit Hilfe der Unterscheidung der produktiven von der reproduktiven Einbildungskraft lässt sich die Struktur der Lust beim Glückseligkeitsstreben noch genauer artikulieren: Die reproduktive Einbildungskraft bewahrt die Vorstellung eines Objekts auf und antizipiert das Lustgefühl, das später das Begehrungsvermögen des Subjekts zur Verwirklichung des vorgestellten Objekts bestimmt. Die produktive Einbildungskraft totalisiert diese Lust zur Idee der Glückseligkeit, indem sie das Maximum des intensiven sowie extensiven Grads der Lust vorstellt und die augenblickliche Lustempfindung zur Totalitätsvorstellung der „Annehmlichkeit des ganzen Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet“ (KpV V: 22) ausbildet. Die Funktion der Einbildungskraft muss sich aber wiederum auf die technisch-praktische Vernunft beziehen, da für die vernünftige Handlung die praktischen Vorschriften, nach denen sie sich zur Verwirklichung des lusterregenden Gegenstandes richten muss, zur Verfügung stehen müssen. Das vernünftige Begehren der einzelnen, augenblicklichen Lust geht also notwendig auf die extensive und intensive Totalisierung dieser Empfindung in der Vorstellung der Glückseligkeit. Denn ohne diese Vorstellung antizipierte der er-
4.3 Sinnliche Lust am Angenehm als „Empfindung der Angenehm“
107
strebte Moment der Lust bereits die eintretende Unlust. Wie die materiale Willensbestimmung zwischen der erinnerten und der antizipierten Wirklichkeit steht, so steht auch die Lust ohne ihre Totalisierung in der Vorstellung einer Glückseligkeit zwischen der Unlust, aus der sie entspringt und in die sie zurückgeht. Deshalb ist der Totalitätsbegriff der Glückseligkeit das Prinzip aller materialen Bestimmungsgründe, das zugleich die technische Einheit aller subjektiven praktischen Maximen begründet. Die Besonderheit des Glückseligkeitsprinzips besteht darin, dass es zwar vernünftig, zugleich aber empirisch bedingt ist. Die empirische Bedingtheit der Glückseligkeit kommt darin zum Tragen, dass die reproduktive Einbildungskraft die Lust antizipiert, die das Begehrungsvermögen des Subjekts bestimmt. Diese Bedingtheit totalisiert zugleich die Lust zur Glückseligkeit, indem sie das Maximum des intensiven Grads vorstellt und die augenblickliche „Empfindung der Annehmlichkeit“ (KpV V: 22) zur Totalitätsvorstellung der „Annehmlichkeit des ganzen Lebens“ (KpV V: 22) steigert. Dies ist eine Tätigkeit der produktiven Einbildungskraft, die allerdings von ihrem reproduktiven Charakter abhängig bleibt.
Teil IV: Glückseligkeit im System der Tugendpflichten
1 Ein „leerer Formalismus“? Ein charakteristischer Zug von Kants Ethik ist, dass sie die menschliche Moralität auf eine rein formale Formulierung zu bringen versucht. Bekanntlich hat Hegel daran Anstoß genommen und Kants Ethik als „leerer Formalismus“ bezeichnet. Der kategorische Imperativ sei nicht in der Lage dazu, konkrete Anleitungen für gegenwärtige und zukünftige Handlungsentscheidungen bereitstellen. Weil er Maximen nur ihrer Form nach beurteilt, lasse er sich nur schwerlich auf die moralische Praxis eines Akteurs in einer sich ständig wandelnden Welt beziehen. Eine ähnliche Stoßrichtung hat eine von B. Williams erhobene Kritik. Weil Kants Ethik moralische Urteile allein ihrer Form nach analysiere, bleibe sie nicht nur inhaltlich unbestimmt, sondern trage auch wertvollen Elementen des menschlichen Lebens wie Liebe, Glück nicht Rechnung¹. Angesichts der Einwände von Hegel und Williams scheint es unklar, wie ein Akteur den kategorischen Imperativ auf seine moralische Praxis in konkreten Alltagssituationen beziehen können soll. Gegen die Formalismus-Vorwürfe lässt sich zunächst einwenden, dass Kant der Frage nach einem inhaltlich bestimmten Zweck moralischen Handelns bereits im Rahmen der Aufstellung des obersten Moralprinzips nachgeht. So ist in der GMS die Frage nach einem dem Sittengesetz zugrunde liegenden Zweck der Ausgangspunkt für eine inhaltliche Bestimmung des obersten Moralprinzips. Da jede Handlung einen Zweck habe, an dem sie sich orientiert, müsse das bloß durch Es ist anzumerken, dass Hegel und Williams ihre Einwände vor dem Hintergrund unterschiedlicher Perspektiven auf unsere sittliche Orientierung vortragen. Hinter der hegelschen Kritik steht der Gedanke, dass es bei Kant eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Universalen und Partikularen gibt und Kants Ethik nur die Möglichkeit der Freiheit, nicht aber ihre Wirklichkeit schafft. In diesem Zusammenhang bezieht Hegel den Standpunkt, dass der Anspruch des Sittengesetzes als eines „Sich-nicht-widersprechens“ zur Verwirklichung der Freiheit aufgehoben werden muss. Dagegen beruht Williams Vorwurf darauf, dass wesentliche Lebensentscheidungen manchmal in Situationen getroffen werden, auf die wir nur begrenzten Einfluss haben Gegen Hegels Vorwurf kann man einwenden, dass sich der kategorische Imperativ nicht direkt auf einzelne konkrete Handlungen, sondern auf Handlungsmaximen bezieht, welche ihrerseits zwischen dem Universalen (dem Gesetz) und dem Partikularen (der einzelnen Handlung) vermittelt. Die Auseinandersetzung mit Williams scheint allerdings schwerer zu sein, weil es hier eine grundlegende Spannung zwischen ihm und Kant gibt. Kant ist sich in Übereinstimmung mit Williams klar bewusst, dass der Weltlauf nicht in unserer Macht steht und manchmal unberechenbar bleibt. Dennoch ist Kant der Ansicht, dass es etwas gibt, das in der Welt einen unbedingten Wert hat und zugleich auch uneingeschränkt in unserer Macht steht: Der gute Wille. Trotz dieses Unterschieds zwischen beiden Einwänden richtet sich im Folgenden unsere Aufmerksamkeit auf deren Gemeinsamkeit, nämlich dass die beiden vor allem im Hinblick auf die Anwendungsproblematik des abstrakten kategorischen Imperativs auf konkrete Alltagssituationen vorgebracht werden.
112
1 Ein „leerer Formalismus“?
Gesetzesförmigkeit charakterisierte Moralprinzip in sich einen Zweck enthalten, auch wenn er niemals als Bestimmungsgrund des Willens fungieren dürfe. Dieser Zweck soll kein zu bewirkender Zweck sein, sondern derjenige, der als Zweck-ansich und somit von allen Vernunftwesen als absolut wertvoll anzusehen ist. Kant zufolge gilt „die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen“ (GMS IV: 429) als Selbstzweck. Die Selbstzweckformel (vgl. GMS IV: 429) formuliert ein inhaltlich bestimmtes Ziel moralischen Handelns und geht insoweit über eine nur auf die Form von Maximen abstellende Orientierung hinaus. Die Berufung auf die Selbstzweckformel kann den Vorwurf eines „leeren Formalismus“ indes nicht ganz entkräften, weil die Selbstzweckhaftigkeit hier nur die limitierende Bedingung für alle sonstigen Zwecksetzungen darstellt. Er ist derjenige, dem man niemals zuwider handeln darf. Ansonsten spendet er aber keine Orientierung darüber, was man tun soll; Handelnde können die Selbstzweckformel nur insoweit auf ihre moralische Praxis beziehen, als sie bestimmte Handlungen verbietet. Es gibt bei Kant weitere Überlegungen, die man gegen das Bild eines „leeren Formalismus“ in Stellung bringen kann. An einigen Stellen seiner moralphilosophischen Schriften versucht er nämlich, den Begriff des Zwecks mit konkreten Pflichten zu verknüpfen. Bereits in der GMS wird die „positive Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck-an-sich-selbst“ (GMS IV: 430) als eine unvollkommene Pflicht gegenüber anderen Personen herausgearbeitet. Diese Überlegung wird in der „Tugendlehre“ unter dem Aspekt von obligatorischen Zwecken, d. h. von Zwecken, die zu haben Pflicht ist, weiter entwickelt. Zunächst stellt sich damit die Frage, warum bei der Konzeption der Tugendpflicht der Begriff des obligatorischen Zwecks zu berücksichtigen notwendig sein soll. Damit verbunden ist die Frage, unter welchen Bedingungen das Sittengesetz durch allgemeinverbindlichen Zweck inhaltlich bestimmt werden, ohne seinen formalen Charakters zu verlieren? Das Konzept des Selbstzwecks wirft ferner die Frage auf, wie sich die Menschheit als Selbstzweck, als die sie in der GMS thematisiert wird, zu den in der MS zutage tretenden obligatorischen Zwecken verhält. Denn die obersten obligatorischen Zwecke ergeben sich Kant zufolge aus der menschlichen Fähigkeit zur freien Zwecksetzung, die von Kant mit dem Begriff „Menschheit“ identifiziert wird. Ausgehend von dieser Problemlage soll zunächst geklärt werden, wie bei der Konzeption des formalen Prinzips für die Ethik die Frage nach der Zwecksetzung überhaupt berücksichtigt werden kann. Als Ansatz hierfür dient Kants Versuch, aus dem „obersten Grundsatz der Sittenlehre“, in dem die Verbindlichkeit gewisser Handlungsweisen nur formal zum Ausdruck kommt (vgl. MS VI: 225), das oberste Prinzip für innere Zwecksetzung abzuleiten.
1.1 Ableitbarkeit des „obersten Prinzips der Tugendlehre“ (MS VI: 395)
113
1.1 Ableitbarkeit des „obersten Prinzips der Tugendlehre“ (MS VI: 395) aus dem „obersten Grundsatz der Sittenlehre“ (MS VI: 225) In der Einleitung zur MS wird der „oberste Grundsatz der Sittenlehre“ so formuliert: „Handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann“ (MS VI: 225). Eine ähnliche Formulierung findet sich auch in der „Einleitung zur Tugendlehre“: „Handle so, dass die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden kann“ (MS VI: 389). Diese beiden Formulierungen erinnern an die allgemeine Formulierung des kategorischen Imperativs, die sich bereits in der GMS findet². Soll der oberste Grundsatz der Sittenlehre ein allgemeines Prinzip aller Pflichten und somit aller moralischer Verbindlichkeiten sein, muss er das Prinzip für die innere Zwecksetzung sowie äußere Zweckverwirklichung darstellen, aus dem die Grundsätze für alle Rechts- sowie Tugendpflichten abgeleitet werden können. Daraus ergibt sich die Frage, ob und wie aus dem obersten Grundsatz der Sittenlehre das oberste Prinzip der Tugendlehre abgeleitet werden kann.Während das oberste Prinzip der Sittenlehre von allen konkreten Zwecksetzungen abstrahiert und vom Handelnden nur fordert, seine Handlungsmaxime auf die Form des allgemeinen Gesetzes qualifiziert zu bestimmen, hat das oberste Prinzip der Tugendlehre dagegen mit der Zwecksetzung, also dem materialen Aspekt eines Handelns, zu tun. Da dieses Prinzip als ein regulatives Prinzip für die Zwecksetzung fungiert und besagt, welche Zwecke wir uns setzen sollen, scheint es auf den ersten Blick unmöglich, aus dem formalen Prinzip der Sittenlehre das Prinzip der Tugendpflichten zu gewinnen. Wie soll man sich diesen Begründungszusammenhang vorstellen?³
In der GMS finden sich verschiedene Formulierungen des kategorischen Imperativs, deren Verhältnis zueinander unter Interpreten umstritten ist. Vor diesem Hintergrund rekurriere ich auf Patons Studie, da sie gemessen an anderer Literatur besonders nahe am kantischen Text bleibt. Paton (Paton 1962, S. 152 f) identifiziert fünf Formulierungen des kategorischen Imperativs: eine Allgemeines-Gesetze-Formel (GMS IV: 421), eine Naturgesetzformel (GMS IV: 421), eine Menschheit-als-Selbstzweck-Formel (GMS IV: 429), eine Autonomieformel (GMS IV: 434) und eine Reichder-Zwecke-Formel (GMS IV: 439). Die Allgemeines-Gesetze-Formel, welche unter Interpreten als die allgemeinste Formulierung des kategorischen Imperativs angesehen wird, lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS IV: 421). Dagegen lässt sich das oberste Prinzips der Rechtslehre (MS VI: 231) leicht aus dem obersten Prinzip der Sittenlehre entwickeln: Das oberste Rechtsprinzip fordert, den Gebrauch der Freiheit im äußeren Handeln mit der Freiheit der anderen Menschen in Einklang zu bringen. Diese Einschränkung kann nur dadurch möglich werden, dass die Tauglichkeit meiner jeweiligen Maxime
114
1 Ein „leerer Formalismus“?
Ein Anhaltspunkt zur Klärung dieser Frage lässt sich in Kants Ausführungen zum obersten Prinzip der Tugendlehre finden, wenn aus diesem Prinzip die Pflicht eines jeden Menschen, „den Menschen überhaupt sich zum Zweck zu machen“ (MS VI: 395), abgeleitet wird. Mit dieser Bemerkung spielt Kant auf den Zusammenhang dieses Prinzips mit der Selbstzweckformel an, obwohl er sie dort nicht ausdrücklich erwähnt. Dies stellt uns vor die Aufgabe, zu klären, in welcher Weise der Begriff von der Menschheit als Selbstzweck „in den Grundsätzen für die Tugendlehre“ verankert ist⁴. Hierfür scheint es angebracht, auf Kants Argumentation zur Begründung für den Begriff der Tugendpflicht ausführlicher einzugehen.
1.2 „Die Menschheit in der Person eines jeden“ als Zweck an sich Selbst Für ein angemessenes Verständnis der Selbstzweckformel ist es nötig, zu klären, was bei Kant unter „Menschheit“ zu verstehen ist. Kant meint damit nämlich nicht bloß eine Gattungsbezeichnung oder den Inbegriff der empirischen Merkmale des Menschen.Vielmehr zielt Kant mit „Menschheit“ auf dasjenige ab, in dem sich die Freiheit des Menschen manifestiert. In erster Linie ist die Menschheit bei Kant als die vernünftige Fähigkeit, nach einem praktischen Prinzip zu handeln, anzusehen. Unter Interpreten ist allerdings umstritten, welche Art der vernünftigen Fähigkeit menschlichen Individuen den Status des Selbstzwecks, welcher der Menschheit zugebilligt wird, zukommen lässt. Kants Verwendung von „Menschheit“ als z. B. „Fähigkeit zur Zwecksetzung“ (GMS IV: 437; MS VI: 392) oder „vernünftige Natur“ (GMS IV: 429, 437) ist erklärungsbedürftig. Einige Interpreten denken, dass die fragliche Fähigkeit die Fähigkeit zur moralisch-neutralen bzw. vor-moralischen Zwecksetzung und Zweckverfolgung ist, welche die Wahl eines Handelnden vernünftig bzw. begründet erscheinen lässt. Diesen Interpreten zufolge umfasst „Menschheit“ sowohl die Fähigkeit, sich ein moralischen Gesetz zu geben und aus Achtung für dieses Gesetz zu handeln, als auch die Fähigkeit, nach technisch-praktischen Regel zu handeln (vgl. Hill 1992, S. 38– 57; Korsgaard 1996, S. 127– 8; Wood 1999, S. 118– 120;
gegen ein allgemeineres Gesetz geprüft wird. Genau das ist der Anspruch, den der oberste Grundsatz der Sittenlehre erhebt. In der Literatur herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass dem obersten Prinzip der Tugendlehre die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs zugrunde liegt. Nach allgemeiner Auffassung kommt in der MS der Selbstzweckformel eine besondere Bedeutung zu, da sich die Ableitung von unterschiedlichen Tugendpflichten (vgl. MS VI: 395, 423, 449) entscheidend auf diese Formel stützt. Es liegt dennoch nicht klar auf der Hand, wie sich die Selbstzweckformel zum obersten Tugendprinzip verhält.
1.2 „Die Menschheit in der Person eines jeden“ als Zweck an sich Selbst
115
Kerstein 2008, S. 202). Diesen Interpreten zufolge meint „Menschheit“ also praktische Rationalität im Allgeneinen. Andere Interpreten dagegen plädieren dafür, dass „Menschheit“ bei Kant ausschließlich das Vermögen meint, nach dem Sittengesetz zu handeln. In den Augen dieser Interpreten bedeutet „Menschheit“ nicht anderes als die Fähigkeit zur moralischen Autonomie. Die Auffassung von „Menschheit“ als praktischer Rationalität im Allgemeinen scheint sich zunächst auf Kants Beschreibung von „Menschheit“ als „vernünftige Natur“ (GMS IV: 437) bzw. „die vernünftige Natur als Zweck an sich selbst“ (GMS IV: 429) zu stützen. Weitere Textstellen scheinen sie zu bestätigen: Das Vermögen, sich überhaupt irgendeinen Zweck zu setzen, ist das Charakteristische der Menschheit (zum Unterschied von der Tierheit). […] Es ist ihm [dem Menschen] Pflicht: sich aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der Tierheit (quoad actum), immer mehr zur Menschheit, durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen, empor zu arbeiten (MS VI: 392). Die vernünftige Natur nimmt sich dadurch vor den Übrigen aus, dass sie ihr selbst einen Zweck setzt (GMS IV: 437).
Hier wird das Vermögen zur Zwecksetzung eindeutig als ein Wesensmerkmal der vernunftbegabten Wesen eingeführt. Das vernunftbegabte Wesen zeichne sich anderen Lebewesen gegenüber durch die Fähigkeit aus, Zwecke zu formulieren und sein Handeln an ihnen auszurichten. Kants Ausführungen scheinen allerdings uneinheitlich. An anderen Stellen spricht er nämlich davon, dass ausschließlich die Fähigkeit moralisch zu handeln bzw. die Fähigkeit zur Autonomie dem Menschen absoluten Wert verleiht⁵. Deshalb scheint es zweifelhaft, dass das Vermögen zur Zwecksetzung als solches dem Menschen den Status eines Selbstzwecks verleihen sollte. Um in dieser Problematik voranzukommen, setze ich mich im Folgenden mit einer Textstelle in der GMS (GMS IV: 438 – 440) auseinander, die Korsgaard und Wood als stärksten Beleg für ihre Auffassung von „Menschheit“ als Zwecksetzungsfähigkeit im Allgemeinen heranziehen. Diese Textstelle ist von interpretatorischem Interesse, weil sie nur schwer zu verstehen ist, wenn ihr argumentativer Diese Auffassung kaann sich auf folgende Belege stützen: „Allein der Mensch […] als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; […] er besitzt eine Würde“ (MS VI: 434– 5) „[…] die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Bedingung, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein“ (GMS IV: 440) „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (GMS IV: 436) „Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann; […] Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat“ (GMS IV: 435; alle Herv. von mir).
116
1 Ein „leerer Formalismus“?
Kontext berücksichtigt wird. An der entsprechenden Stelle scheint Kant das am Anfang des Absatzes erwähnte „Subjekt der Zwecke“ (GMS IV: 438) am Ende des Absatzes mit dem „Zweck an sich selbst“ (GMS IV: 439) gleichzusetzen. Korsgaards und Woods Auffassung kann sich darauf in der Tat stützen. Allerdings hat Kant „das Subjekt der Zwecke“ bereits in der Mitte des Absatzes als „das Subjekt aller möglichen Zwecke selbst“ (GMS IV: 437; meine Herv.) näher bestimmt: Dieser [‐der Zweck, der „die Materie eines jeden guten Willens“ ist] kann nun nichts anders als das Subjekt aller möglichen Zwecke selbst sein, weil dieses zugleich das Subjekt eines möglichen schlechterdings guten Willens ist (GMS IV: 437; meine Herv.).
Hier gilt es das mit der Konjunktion „weil“ ausgedrückte Begründungsverhältnis zu beachten: Das Subjekt wird zunächst als das eines „schlechterdings guten Willens“ (meine Herv.) qualifiziert, kann aus eben diesem Grund nur „das Subjekt aller möglichen Zwecke“ (meine Herv.) werden und dadurch ein Zweck an sich sein. Offenbar meint Kant, dass dieser Status dem Handelnden mit gutem Willen zukommt und der gute Wille, also die Fähigkeit der Autonomie, die Selbstzweckhaftigkeit des betreffenden Wesens begründet. Dabei fällt allerdings das Adverb „zugleich“ auf. Dieses Attribut lässt Spielraum für einen gewissen Zusammenhang zwischen der moralisch neutralen Zwecksetzungsfähigkeit und einer streng moralisch-praktischen. Darauf möchte ich nun kurz eingehen. Meiner Lektüre nach ist es schwer festzustellen, ob der absolute Wert des Menschen nur auf der Fähigkeit, dem selbstgesetzten moralischen Gesetz zu folgen, beruht und die vernünftige Zwecksetzungsfähigkeit als solche vom möglichen Grund für die Selbstzweckhaftigkeit ausgeschlossen werden soll. Denn mir scheint, dass Kant selbst eine gewisse Kontinuität zwischen der technisch-praktischen Vernunft und einer moralisch-praktischen einräumt, wenn er „Menschheit“ qua vergleichender Selbstliebe auch als Anlage zum moralisch Guten konzipiert (vgl. RGV VI: 28). Eine Textstelle aus der KU (KU V: 448 – 9 Fn.) macht den gleichen Eindruck. Dort führt Kant eine Unterscheidung zwischen den Wesen „unter moralischen Gesetzen“ und „nach moralischen Gesetzen“ ein und merkt dazu an: „ich sage mit Fleiß: u n t e r moralischen Gesetzen. Nicht der Mensch n a c h moralischen Gesetzen d.i. ein solcher, der sich ihnen gemäß verhält, ist der Endzweck der Schöpfung“ (KU V: 448 – 9 Fn.). Der grundlegende Gedanke ist leicht verständlich: Nicht moralische Leistungen, die wir tatsächlich vollbringen, sondern die Fähigkeit zum moralischen Handeln begründet, dass dem Mensch der Status des Selbstzweck zukommt. Indes lässt der Ausdruck „unter moralischen Gesetzen“ interpretatorischen Spielraum dafür, dass die praktische Vernunft als solche als das Potenzial zur Autonomie angesehen wird.
1.3 Struktur dieses Kapitels
117
Diese Interpretation erscheint nicht zuletzt deshalb plausibel, weil sie mit anderen Überzeugungen Kants kohäriert; es wäre eine notwendige Folge der grundlegenden Annahme seiner Ethik, dass das Begehrungsvermögen eines vernunftbegabten Wesens im Allgemeinen mithilfe der praktischen Vernunft konzipiert ist und der moralische, gute Wille somit der reinen praktischen Vernunft gleichgesetzt wird. Für den Moment ist also festzuhalten, dass ein Akteur letztlich aufgrund seiner Fähigkeit, moralisch zu handeln, den absoluten Wert bzw. den Status des Selbstzwecks hat. Die Fähigkeit, vernünftig zu handeln – sowohl im moralischpraktischen als auch technisch-praktischen Sinne – verdient aber nicht zuletzt auch deshalb Aufmerksamkeit, weil sie als Autonomie de potentia zu erachten ist. In diesem Sinne sind die „rational-agency-Ansätze“ von Korsgaard und Wood nicht aus der Luft gegriffen. Als Mittelweg zwischen beiden Interpretationsansätzen lässt sich Kants Terminus „Menschheit“ so begreifen: Die Selbstzweckhaftigkeit bedeutet, grob gesagt, dass jeder Mensch befähigt ist, seine Maxime auf Verallgemeinerbarkeit hin zu überprüfen und nach einer zu einem allgemeinen Gesetz tauglichen Maxime zu handeln⁶.
1.3 Struktur dieses Kapitels Dieses Kapitel geht von der Frage aus, aus welchen Gründen Kant die Konzeption des obligatorischen Zwecks in die Ethik einführt. Zur Klärung dieser Frage setze ich mich zunächst mit Kants vier Argumentationslinien auseinander, die sich in der „Einleitung zur Tugendlehre“ in der MS finden. Danach wird die Reichweite der jeweiligen Argumente näher geprüft und der grundlegende Gedanke, der hinter dieser Argumentation steht, herausgearbeitet. Das soll uns die Beantwortung der Frage ermöglichen, warum Kant in seiner praktischen Philosophie die Frage nach der Glückseligkeit wohlwollend behandelt hat. Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen dabei Kants Überlegungen zur Funktion der fremden Glückseligkeit als obligatorischen Zwecks für die moralische Orientierung. Mit der Text-
Ein wichtiger Beitrag der „rational-agency-Ansätze“ besteht z. B. in ihrer einleuchtenden Antwort auf die Frage, aus welchen Gründen sich die Fähigkeit zur Zwecksetzung als Grund für den absoluten Wert des Menschen denken lässt. Im Rekurs auf Korsgaards Deutung von „Menschheit“ als „value-conferring-status“ (Korsgaard 1996, S. 122) lässt sich Kant so verstehen: Die Fähigkeit zur Zwecksetzung hat deshalb einen absoluten Wert, weil er allen anderen Gütern Wertcharakter verleihen kann. Die Fähigkeit zur Zwecksetzung liegt dem einen Wert verleihenden oder einen Wert übertragenden Charakter des Menschen zugrunde. Dieses Vermögen erlaubt solchen Wesen, sich nicht als bloßes Glied in Zweck-Mittel-Verhältnissen zu begreifen.
118
1 Ein „leerer Formalismus“?
analyse versuche ich zu erhellen, was die Pflicht der Beförderung der Glückseligkeit anderer sachlich besagt. Im Rahmen dessen widme ich mich der Frage, in welchem Zusammenhang die Argumentation über „die unvollkommene Pflicht gegen andere“ in der GMS mit der „Liebespflicht gegen andere“ in der MS steht. Dabei kommt dem Begriff der Menschheit als Zwecksetzungsfähigkeit besondere Aufmerksamkeit zu. Abschließend gebe ich einen Überblick über die Funktion des obligatorischen Zwecks als Tugendpflicht im Hinblick auf ein kohärentes, einheitliches Leben, indem ich auf das enge Verhältnis zwischen Tugendpflichten und der Lehre des höchsten Guts hinweise.
2 Obligatorische Zwecke im Sittengesetz 2.1 Notwendigkeit des Begriffs des obligatorischen Zwecks in der Ethik In seiner Rechtslehre geht es Kant lediglich darum, ob ein Zweck „mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen“ (MS VI: 231) besteht. Deshalb wird in ihr nur der formale Zweckbegriff berücksichtigt. Im Gegensatz dazu gründet die Konzeption der Tugendpflicht in der „Tugendlehre“ auf einem materialen Gesetz, das besagt, welche Zwecke sich Handelnde setzen sollen. Für eingeschränkt vernünftige Wesen reiche die bloße Gesetzestauglichkeit der jeweiligen Maxime zur moralischen Willensbestimmung nämlich nicht aus. Denn diese Wesen neigen aufgrund ihrer Naturanlage dazu, dem Sittengesetz zuwider zu handeln. Wenn ein rein formaler Zweckbegriff nicht ausreicht, was fehlt dann noch zur moralischen Willensbestimmung eines endlichen Vernunftwesens? Kants Antwort nimmt ihren Ausgang von der Beobachtung, dass das Wollen nur aus dem Wählen von Maximen und dem Setzen von Zwecken besteht. Die Frage, nach welchen Maximen ich handeln soll, ist dementsprechend eng verbunden mit der Frage, welche Zwecke ich mir setzen soll. Darum besteht Kants Antwortansatz darin, dass Handelnde durch die Annahme eines allgemeinverbindlichen Zwecks ihre sinnlichen Antriebe kontrollieren, die sie zur Übertretung des Sittengesetzes führen können. Denn ein verallgemeinerbarer Zweck liege Begriff der reinen praktischen Vernunft und sei somit unabhängig von der sinnlichen Natur handelnder Subjekte. Vor diesem Hintergrund steht im Mittelpunkt der „Einleitung zur Tugendlehre“ die Frage, wie ein solcher allgemeinverbindlicher Zweck, der als „Tugendpflicht“ bezeichnet wird, möglich ist (vgl. MS VI: 382). Da in ihr nach der Möglichkeit des Begriffs der Tugendpflicht gefragt wird, lässt sich die ganze „Einleitung zur Tugendlehre“ als eine Deduktion dieses Begriffs lesen (vgl. MS VI: 395). Um die objektive Gültigkeit des Begriffs der Tugendpflicht zu beweisen, soll zunächst geklärt werden, wie die Denkmöglichkeit eines obligatorischen Zwecks begründet werden kann. Nach meiner Lektüre finden sich in der „Einleitung zur Tugendlehre“ vier Argumente für die Notwendigkeit der Einführung obligatorischer Zwecke in die Ethik⁷.
H.E. Allison (Allison 1996) hat im Anschluss an von N. Potter (Potter 1985) die Auffassung vertreten, dass man der „Einleitung zur Tugendlehre“ insgesamt drei Argumente (MS VI: 381, 385, 395) entnehmen kann. Ich füge jedoch noch ein weiteres mir entscheidend erscheinendes Argument hinzu (MS VI: 388), auf das mich ein Beitrag von A. Trampota aufmerksam machte (Trampota 2013).
120
2 Obligatorische Zwecke im Sittengesetz
Diese Argumente haben gemeinsam, dass jedes von einer Voraussetzung aus geht, die ihrerseits keiner weiteren Begründung fähig und auch nicht bedürftig ist. Diese Voraussetzung lässt sich nur retroaktiv stützen, im Lichte der zu beweisenden These. In dieser Richtung versuchen Kants Argumente zu plausibilisieren, dass es allgemeinverbindliche Zwecke gibt, weil es sonst kein Sittengesetz gäbe. Da die fraglichen Textstellen aufgrund ihrer argumentativen Dichte nicht leicht zu verstehen sind, wende ich mich ihnen eingehender zu. Die erste Argumentationslinie lautet: Die Rechtslehre hatte es bloß mit der formalen Bedingung der äußeren Freiheit […], d.i. mit dem Recht zu tun. Die Ethik dagegen gibt noch eine Materie (einen Gegenstand der freien Willkür), einen Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objektiv–notwendiger Zweck, d.i. für den Menschen als Pflicht vorgestellt wird, an die Hand. Denn, da die sinnlichen Neigungen zu Zwecken (als der Materie der Willkür) verleiten, die der Pflicht zuwider sein können, so kann die gesetzgebende Vernunft ihrem Einfluss nicht anders wahren, als wiederum durch einen entgegengesetzten moralischen Zweck, der also von der Neigung unabhängig a priori gegeben sein muss (MS VI: 381).
Hier spricht Kant die innere Gesetzgebung bei vernünftigen Naturwesen an. Im dritten Satz, der mit „denn“ beginnt, wird näher erklärt, warum die Gesetzesförmigkeit der Maxime kein ausreichendes Kriterium für das moralische Handeln ist. Für die Ausübung der inneren Freiheit würden nämlich obligatorische Zwecke benötigt, welche die reine praktische Vernunft vorschreibt. Denn als vernunftbegabte, zugleich aber auch sinnlich affizierbare Wesen, tendieren Menschen dazu, dem Sittengesetz zuwider zu handeln und stattdessen den Zwecken ihrer Neigungen zu folgen. Aus diesem Grund muss ein objektiver, von Neigungen unabhängiger Zweck gesetzt werden, um ihren Einfluss zu kontrollieren. Diese Argumentation ist solange überzeugend, als angenommen werden kann, dass es die reine gesetzgebende Vernunft und das auf ihr beruhende praktische Prinzip tatsächlich gibt. Für Kant ist diese Annahme nicht fragwürdig, da er die Wirklichkeit der reinen praktischen Vernunft bereits in der KpV durch die FaktumThese nachgewiesen zu haben glaubt. Kants Argumentation macht allerdings den Anschein, als könnte die praktische Vernunft allein die Willkür nicht ausreichend bestimmen. Dies scheint einer Grundüberzeugung Kants zu widersprechen, der zufolge reine praktische Vernunft allein handlungswirksam sein kann. Ein Vorschlag, um mit dieser Spannung umzugehen, geht dahin, diese Ausführungen so zu interpretieren, dass hier das Wollen aus der Ich-Perspektive beschrieben wird. Ohne Vorstellung eines Zwecks, auf den sich mein Handeln richtet, kann ich meinen Willen nicht bestimmen. An dieser Stelle suggeriert Kant, dass im Fall des unvollkommenen Willens die obligatorischen Zwecke für die Verstärkung der inneren Freiheit eine wichtige Rolle spielen.
2.1 Notwendigkeit des Begriffs des obligatorischen Zwecks in der Ethik
121
Zumindest kann man annehmen, dass es für die effektive Ausübung der menschlichen Willkür notwendig ist, die obligatorischen Zwecke in die Maxime aufzunehmen. Jedoch wird diese Notwendigkeit nur in negativer Weise impliziert, nur insoweit, als ohne die obligatorischen Zwecke ein Aktuer leicht zur Pflichtübertretung tendieren kann. Was sind aber die positiven Gründe für die Notwendigkeit, die obligatorischen Zwecke in das Handeln aufzunehmen? Ein Argument dafür findet sich im dritten Abschnitt der Einleitung zur Tugendlehre: Es muss nun einen solchen Zweck [‐einen obligatorischen Zweck] und einen ihm korrespondierenden kategorischen Imperativ geben. Denn, (1) da es freie Handlungen gibt, so muss es auch Zwecke geben, auf welche, als Objekt, jene gerichtet sind. (2) Unter diesen Zwecken aber muss es auch einige geben, die zugleich (d.i. ihrem Begriff nach) Pflichten sind. (3) Denn gäbe es keine dergleichen, so würden weil doch keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu anderen Zwecken gelten und (4) ein kategorischer Imperativ wäre unmöglich (MS VI: 385; meine Nummerierung).
Auf den ersten Blick wirkt diese Argumentation wenig überzeugend. Daraus, dass sich jedes Handeln auf Zwecke richtet (1), folgt nämlich nicht zwangsläufig, dass es objektive, notwendige Zwecke geben muss (2)⁸. Das Entscheidende passiert in (3) und lässt sich so zusammenfassen: Wenn es keine Zwecke gibt, die „ihrem Begriff nach“ Pflichten sind, und wenn alle Zwecke nur als Mittel zu anderen Zwecken dienen, dann kann es keinen kategorischen Imperativ geben. Also sind die obligatorischen Zwecke Bedingung der Denkmöglichkeit des kategorischen Imperativs (4). So besehen besagt diese Argumentation also nur, dass es Tugendpflichten, also obligatorische Zwecke, geben muss, wenn eine autonome Bestimmung des Willens denkbar sein soll. Ferner impliziert sie, dass sich die Rolle der praktischen Vernunft nicht auf technisch-praktische Überlegungen reduzieren lassen darf; denn bestünde praktische Vernunft nur in Zweck-MittelErwägungen, die letztlich von empirischen Determinanten abhängen, gäbe es weder die reine praktische Vernunft noch den kategorischen Imperativ⁹.
N. Potter (Potter 1985) findet diese Argumentation aus dem gleichen Grund nicht überzeugend. Er schlägt als Lösungsansatz vor, die Reichweite des Arguments auf die Handlungen „aus Pflicht“ zu beschränken. Seinem Vorschlag zufolge lässt sich diese Argumentation dann so verstehen: Handlungen aus Pflicht müssen irgendeinen Zweck haben, an dem sie sich orientieren, insofern sie Handlungen sind. Da dieser Zweck von der reinen Vernunft vorgegeben wird, kann er nicht Mittel zu anderen Zwecken sein. Aus diesem Grund muss es Zwecke geben, deren Befolgung zugleich als Pflicht anzusehen ist, wenn es die sich aus Pflicht ergebende Handlung denn gibt (vgl. Potter 1985, S. 81). Dieser Versuch greift jedoch zu kurz, weil in der einschlägigen Textstelle nicht bloß die auf der Idee der auf Pflicht beruhenden Zwecksetzung Bezug genommen wird, sondern auf die Zwecksetzung im Allgemeinen. Das werde ich im nächsten Anschnitt 2.2 weiter entwickeln und vertiefen.
122
2 Obligatorische Zwecke im Sittengesetz
Entgegen dieser Rekonstruktion vertritt H.E. Allison die Ansicht, dass die oben zitierte Argumentationslinie zwar die Möglichkeit eines unbedingten Zwecks beweisen könne, sich jedoch nicht auf die Wirklichkeit eines inhaltlich bestimmten obligatorischen Zwecks stützt, wie etwa den der eigenen Vollkommenheit. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit dieser Ansicht Allisons erscheint hilfreich, um Kants Argumentation hinsichtlich der Gültigkeit des Begriffs der Tugendpflicht, also des obligatorischen Zwecks, grundlegender zu reflektieren. Zunächst ist aber darauf hinzuweisen, dass die gerade behandelte Argumentation Kants auf im vorangehenden Absatz dargestellten Überlegungen beruht: Eine jede Handlung hat also ihren Zweck und, da niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine Wirkung der Natur, irgendeinen Zweck der Handlungen zu haben. Weil aber dieser Akt, der einen Zweck bestimmt, ein praktisches Prinzip ist, welches nicht die Mittel (mithin nicht bedingt) sondern den Zweck selbst (folglich unbedingt) gebietet, so ist es ein kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft, mithin ein solcher, der einen Pflichtbegriff mit dem eines Zwecks überhaupt verbindet (MS VI: 385; meine Herv.).
Die Argumentation nimmt hier von einer allgemeinen Überlegung über Zwecksetzung ihren Ausgang und fragt sodann nach den Bedingungen, unter denen Zwecksetzung möglich ist. Das Hauptargument besteht in Kants Ansicht, der zufolge die praktische Vernunft als Zwecksetzungsfähigkeit gilt. Der hervorgehobene Satz ist indes schwer zu verstehen, weil er impliziert, dass jedem freien zwecksetzenden Akt ein praktisches Prinzip zugrunde liegt, welches sich letztlich als kategorischer Imperativ erweist. Auf den ersten Blick wirkt diese Behauptung nämlich wenig überzeugend. Es erscheint unplausibel, dass jede zweckorientierte Handlung auf dem kategorischen Imperativ beruhen sollte. Angenommen, ein Akteur hat aufgrund seiner Neigung einen bestimmten Zweck herausgebildet. In diesem Fall kann seine Maxime, nach der er den Zweck verwirklicht, eine auf dem hypothetischen Imperativ basierende instrumentale Form haben. Aber beruht diese Zwecksetzung auch auf dem kategorischen Imperativ? Wenn ja, dann stellt sich die Frage, wie dies möglich ist. Zur Klärung des hervorgehobenen Satzes ist zudem zu berücksichtigen, dass es hier ausschließlich um die Zwecksetzung geht und nicht um die Zweckverwirklichung. In dem Fall, in dem ein Subjekt einen auf seinen Bedürfnissen beruhenden Zweck verfolgt und sein Handeln zum Erreichen dieses Zwecks an einem hypothetischen Imperativ ausrichtet, beruht der Akt, sich einen Zweck zu setzen, letztlich auf der Zwecksetzungsfähigkeit des vernünftigen Wesens, welches sich auf die Selbstzweckhaftigkeit des kategorischen Imperativs bezieht. Die Argumentation würde also
2.1 Notwendigkeit des Begriffs des obligatorischen Zwecks in der Ethik
123
implizieren, dass es ohne die Berücksichtigung der Zwecksetzungsfähigkeit des Handelnden nicht sinnvoll ist, sich einen Zweck zu setzen¹⁰. Wie ich bereits in Kapitel 1 und Kapitel 3 entwickelt habe, ist das Vorhandensein von sich stark aufdrängenden Neigungen im Handelnden nicht zwingend als Bestimmungsgrund seiner Willkür anzusehen. Unter Berufung auf die „incorporation thesis“ (vgl. RGV VI: 23 – 4) lässt sich diese Auffassung bestätigen: Neigungen können insofern der Beweggrund einer Handlung sein, als sie vom Handelnden in seine Maxime aufgenommen wird. Selbst wenn sich eine Handlung auf Neigungsbefriedigung richtet, entsteht sie grundsätzlich aufgrund des praktischen Prinzips, das die fragliche Befriedigung gut bzw. erstrebenswert erscheinen lässt. Dies lässt dem Akteur die Möglichkeit der freien Setzung von Zwecken auch dann, wenn das Erreichen eines jeglichen Zwecks letztlich mit der Befriedigung seiner Neigungen bzw. Bedürfnissen verknüpft ist. Zusammenfassend sei nochmals wiederholt: In diesem Sinne geschieht alle Zwecksetzung durch einen Akt der Freiheit des Selbst. Auch wenn der in Frage kommende Zweck nur als Mittel für andere Zwecke dient, so wird er dennoch als Zweck gesetzt. Nicht nur im moralisch-praktischen Handeln, sondern auch in technisch-praktischen Zweck-Mittel-Zusammenhängen muss sich ein Handelnder den Zweck in einem Akt der Freiheit zu Eigen machen, damit eine Zwecksetzung erfolgt. Dann setzt die Annahme, ein Subjekt sei in der Lage, sich Zwecke zu setzen, voraus, dass dieses Subjekt fähig ist, unbedingte Zwecke zu setzen. Ich gehe nun zum dritten in der „Einleitung zur Tugendlehre“ enthaltenen Argument für die Notwendigkeit der obligatorischen Zwecke über. Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist: Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann. –Nach diesem Prinzip […] den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht. Dieser Grundsatz der Tugendlehre gestattet, als ein kategorischer Imperativ, keinen Beweis, aber wohl eine Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft. –Was im Verhältnis der Menschen zu sich selbst und anderen Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft, denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt; in Ansehung derselben indifferent sein, d.i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch; weil sie alsdann auch nicht die Maxime zu Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft sein würde. Die reine Vernunft aber kann a priori keine Zwecke gebieten, als nur sofern sie solche zugleich als Pflicht ankündigt; welche Pflicht alsdann Tugendpflicht heißt (MS VI: 395; meine Herv).
Bei der Interpretation ist zu beachten, dass die Argumentation vom Standpunkt der ersten Person aus darlegt wird. Für das bloße Handeln als zweckverfolgendes muss eine Unabhängigkeit von der Natur und damit intelligible Kausalität der Freiheit vorausgesetzt werden. Theoretisch ist diese Annahme nicht beweisbar, für die praktische Vernunft ist sie jedoch unausweichlich. Eine eindeutige Belegstelle für diese Einschätzung findet sich in der GMS (vgl. GMS IV: 448).
124
2 Obligatorische Zwecke im Sittengesetz
Die letzte Hälfte des Zitates widmet sich einer Deduktion des obersten Prinzips der Tugendlehre. Kants hat vor, die bereits in der reinen Vernunft liegenden Zwecke aus ihrem Interesse an Zwecken abzuleiten. Um diese Argumentation zu erhellen, werde ich den hervorgehobenen Satz erläutern. Zunächst stellt sich aber die Frage, was unter der Aussage „was im Verhältnis der Menschen zu sich selbst und anderen Zweck sein kann“ zu verstehen ist. Hier ist das Modalverb „können“ wichtig. Es deutet nämlich an, dass es hier nicht um die Zwecke geht, die Handelnde tatsächlich haben. Dementsprechend abstrahiert Kant von den subjektiven Zwecken, „die der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht“ (MS VI: 385; vgl. GMS IV: 428). Zudem ist zu beachten, dass sich Kants Augenmerk lediglich auf das Verhältnis der Menschen zu den Menschen richtet, also weder das Verhältnis der Menschen zu einer Sache noch das einer Sache zur anderen¹¹. Dann lässt sich der erste Teil des fraglichen Satzes wie folgt interpretieren: Die Zwecke, die sich der Mensch im Verhältnis zu sich selbst und zu anderen setzen kann, sind diejenigen Zwecke, die in Betracht gezogen werden müssen und zwar aufgrund eines Vermögens, über das ausschließlich der Mensch verfügt und das nichts mit seiner sinnlichen Anlage zu tun hat. Es geht um solche Zwecke, wenn Kant davon spricht, dass die Zwecksetzungsfähigkeit den Status der Menschheit als Selbstzweck begründet. Ausgehend von dieser Auffassung lässt sich der fragliche Satz so umschreiben, dass die Fähigkeit der Zwecksetzung jedes Akteurs der „Zweck vor der reinen praktischen Vernunft“ (MS VI: 395) ist. Wenn wir den Standpunkt der reinen praktischen Vernunft und gegen den des Menschen als sinnlich affizierbarem Wesen stellen¹², dann lässt sich dieser Satz wie folgt interpretieren: Für die reine Vernunft ist der Selbstzweck als derjenige anzusehen, den sie bereits hat, jedoch für Menschen als derjenige, den jeder haben muss oder soll, insofern die reine praktische Vernunft in ihm wirksam ist. Das oberste Prinzip der Tugendlehre fordert, die Handlungszwecke einer Maxime einer Verallgemeinerbarkeitsprüfung zu unterziehen. Somit weist es uns darauf hin, welche Zwecke wir uns setzen sollen. Negativ formuliert ist das oberste Prinzip der Tugendlehre als ein Verbot der Indifferenz von Maximen gegenüber den verpflichten Zwecken zu deuten. Anhand dieses Ergebnisses lässt sich eine
Der Ausdruck „Sache“ ist in einem strengen Sinne aufzufassen: „Die Wesen, deren Dasein auf der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen“ (GMS IV: 428). An dieser Stelle wird jedes Wesen in wertbasierter Hinsicht betrachtet. Die Dinge, die einen relativen Wert haben, unterscheiden sich von dem, was einen absoluten Wert hat. Die Sache bezeichnet diejenigen Wesen, die sich in einer Funktion innerhalb von Zweck-Mittel-Gefügen erschöpfen. Gemessen an dieser Definition gehören Tiere sowie sogenannte seelenlose Gegenstände wie Steine zu den Sachen. Diese Einsicht verdanke ich einem Aufsatz von M. Baum (vgl. Baum 1998, S. 54).
2.2 Das Problem der Selbstbestimmung: Das eigentliche Selbst
125
der in der Einleitung gestellten Fragen beantworten, nämlich unter welchen Bedingungen ein allgemeinverbindlicher Zweck ohne Verletzung der „Reinheit“ des Sittengesetzes inhaltlich bestimmt sein kann: Das oberste Prinzip der Tugendlehre bezeichnet die allgemeine Bedingung, die der Akteur notwendig erfüllen muss, um seine Fähigkeit der Zwecksetzung auszuüben. Die Notwendigkeit der obligatorischen Zwecke ist auf einer höheren Ebene verankert, in dem Sinn, dass der jeweilige subjektive Zweck diesen notwendigen Zwecken untergeordnet werden muss. Dieser Zweck ist nicht etwas, was jeder tatsächlich hat bzw. haben kann, sondern etwas, zu welchem das Subjekt verpflichtet ist und welchen bei jeder Zwecksetzung Rechnung getragen werden muss. Die entscheidende Argumentation für die Notwendigkeit des obligatorischen Zwecks in die Ethik, die in der Literatur jedoch bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren hat, findet sich im sechsten Abschnitt der „Einleitung zur Tugendlehre“. Dort bestimmt Kant die Besonderheit der Ethik in der Bezugnahme des Handelnden auf seinen eigenen Willen¹³. Während das oberste Prinzip der Sittenlehre (vgl. MS VI: 225, 389) die Gesetzlichkeit der jeweiligen Maxime als Kriterium der moralisch erlaubten Handlung zu Grunde legt und somit als „das Gesetz des Willens überhaupt“ gedacht wird, muss das oberste Prinzip für die Tugendlehre mit dem eigenen Willen des jeweiligen Akteurs zu tun haben (vgl. MS VI: 388).
2.2 Das Problem der Selbstbestimmung: Das eigentliche Selbst Im Folgenden möchte ich die Überlegungen darüber, wie sich das Sittengesetz zum eigenen Willen verhält, weiter elaborieren. In der deutschsprachigen Literatur wurde dieser Faden in der jüngeren Vergangenheit vermehrt aufgenommen. In einer Studie über die MS versucht G. Römpp aus der Tugendlehre einen Ansatzpunkt einer kantischen Theorie der Selbstkonstitution herauszuarbeiten. Ihm zufolge ist Kants Projekt in der MS „eine Konzeption der Wirklichkeit der Freiheit in der Welt auszuarbeiten“ (Römpp 2006, S. 170). Zu diesem Zweck verfolge die MS „die Freiheit bis in ihre ersten Ursprünge in der Selbstkonstitution der Vernunft, der Notwendigkeit und der Verständlichkeit von Verpflichtung und schließlich in der Selbstkonstitution des Subjekts als des bewussten Selbstverhältnisses zurück“ (Römpp 2006, S. 170). Dementsprechend müssten sich Tugendpflichten, die mit der inneren Zwecksetzung zu tun ha-
In jüngerer Zeit haben G. Römpp (Römpp 2006) und A. Trampota (Trampota 2013) auf dieses Argument hingewiesen. Der Ansatz des „eigenen Willens“ wird aus dem Beitrag von Römpp und Trampota entnommen.
126
2 Obligatorische Zwecke im Sittengesetz
ben, als etwas darstellen, das wesentlich zum Konstitutionsprozess des Selbst im Menschen gehört. Das heißt, dass die Befolgung objektiver, obligatorischer Zwecke zur Konstitution eines eigenen Willens gehört.¹⁴. Um die Problematik der Selbstkonstitution zu verdeutlichen, scheint es angebracht, das Konzept des „eigentlichen Selbst“ zu rekonstruieren. Denn eine Rekonstruktion dieses Konzepts bringt für das kantische Verständnis des vernünftigen Akteurs grundlegende Überzeugungen ans Licht. Dazu will ich zunächst in großen Schritten den Weg abschreiten, den Kant in der GMS zurückgeht, um den argumentativen Kontext herzustellen, in dem er vom „eigentlichen selbst“ spricht. In welchen Zusammenhang verwendet Kant „eigentliches Selbst“, und was meint er damit? Wie Kant in der Vorrede ausdrücklich ankündigt, ist sein Ziel in der GMS die „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (GMS IV: 392). Er bemüht sich in den ersten beiden Abschnitten der GMS um eine präzisere Formulierung des obersten Moralprinzips. Hierzu versucht er die normativen Voraussetzungen aufzudecken, in moralischer Praxis und moralischer Deliberation implizit eingeschrieben sind. Kant versucht ein diesen Voraussetzungen zugrundeliegendes Prinzip herauszuarbeiten, um zum obersten Prinzip der Moral zu gelangen. Es erweist sich als der kategorische Imperativ. Allerdings bleiben Zweifel an der Wirklichkeit von Moral bestehen. Könnte Moralität nicht „eine chimärische Idee ohne Wahrheit“ (GMS IV: 454) sein? Um diese Zweifel auszuräumen, muss Kant zufolge gezeigt werden, dass das Prinzip der Moral, also der kategorische Imperativ, den Willen eines vernunftbegabten Wesens tatsächlich bestimmen kann. Der dritte Abschnitt der GMS wendet sich dementsprechend der Frage nach der Gültigkeit des Moralprinzips zu. Kant fragt, „wie der ka-
Thematik der kantischen Selbstkonstitution hat in der jüngeren Literatur einiges Interesse erregt. So hat etwa K. Konhardt behauptet, dass der Anspruchs- und Aufforderungscharakter der Vernunft mit der Grundstruktur der Subjektivität verbunden ist. D. Schönecker nimmt denselben Faden auf, wenn er versucht Kants Ansicht zu zeigen, der zufolge sich die Befolgung des Sittengesetzes auf die Konstitution vom „eigentlichen Selbst“ bezieht (vgl. Schönecker 2006, S. 320). Wichtige Impulse zur kantischen Theorie der Selbstkonstitution kamen nicht zuletzt auch vonseiten der rational-agency-Interpretation. Autoren dieser Richtung haben versucht, gegenüber den formalen, deontischen Momenten der kantischen Ethik deren grundlegenden wertebasierten Charakter herauszuarbeiten. Ihr zufolge kommt in der kantischen Moralphilosophie der rationalen Fähigkeit zur Handlung intrinsischer, absoluter Wert zu. Die Fähigkeit vernünftig zu handeln mache nicht nur die Grundlage der kantischen Ethik aus. Vielmehr werde der Wertcharakter aller anderen Güter erst aus dieser Fähigkeit hergeleitet. Und Korsgaard würde ich nicht noch einen eigenen Satz zugestehen, vor allem nicht, wenn er den Lesern auch nicht mehr Information bietet als der Titel des Buches, den sie im Literaturverzeichnis nachlesen können.
2.2 Das Problem der Selbstbestimmung: Das eigentliche Selbst
127
tegorische Imperativ möglich ist“ (GMS IV: 453). Diese Frage kann als eine paradigmatische Frage für die Deduktion des Begriffsgebrauchs aufgefasst werden¹⁵. Bemerkenswert ist, dass Kant den Ansatz zur Begründung des Sittengesetzes zunächst im menschlichen Interesse an der Idee der Sittlichkeit sucht (vgl. GMS IV: 448): Wenn sich klären lässt, welches Interesse der Mensch am Sittengesetzt hat, ließe sich damit zeigen, dass der kategorische Imperativ tatsächlich den menschlichen Willen bestimmen kann. Im Lauf der Argumentation erweist sich dieser Ansatz allerdings als hinfällig, da das fragliche Interesse weder erkennbar noch erklärbar sei. Nach Kants transzendentalem Idealismus ist das, was keinen Gegenstand der möglichen Erfahrung darstellt, kein erkennbares Objekt. Erklärungen seien nur für die Objekte möglich, die in Raum und Zeit als Erscheinungen zugänglich sind. Da das Interesse am Sittengesetz die nicht auf Erfahrung reduzierbare Idee der Sittlichkeit zum Gegenstand hat, sei es unmöglich, „ein Interesse ausfindig und begrifflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen [kann]“ (GMS IV: 460). Trotzdem hält Kant ohne weitere Erörterung daran fest, dass jeder Handelnde notwendig ein Interesse daran haben muss, sich im Sinne des Sittengesetz zu verhalten (vgl. GMS IV: 449). Dabei fällt auf, dass Konzepte wie „eigener Wille“ bzw. „eigentliches Selbst“ bereits in diesem argumentativen Kontext zur Sprache kommen, wenn auch nur am Rande. In der GMS finden sich weitere Textstellen, an denen vom „eigentlichen Selbst“ bzw. dem „eigenen Wille“ mit engem Bezug auf „Vernunft“ sowie „Intelligenz“ die Rede ist (vgl. GMS IV: 440, 452, 453, 457, 458, 461)¹⁶. Die enge Ver-
Abgesehen von der Frage, ob die im dritten Abschnitt der GMS geführte Deduktion gelungen ist, ist in der Literatur strittig, was ihr Gegenstand ist. Obwohl Kant in der Leitfrage der Deduktion den kategorischen Imperativ ausdrücklich erwähnt, plädieren einige Interpreten dafür, dass das argumentative Ziel des dritten Abschnittes der GMS darin besteht, den Gebrauch des Freiheitsbegriffs zu rechtfertigen (z. B. Allison 1990; Ameriks 2003). Die Interpreten, die diese Auffassung vertreten, bezweifeln, dass die Gültigkeit des kategorischen Imperativs im dritten Abschnitt der GMS überhaupt begründet wird. R. Brandt und D. Henrich vertreten die Auffassung, dass das im dritten Abschnitt geführte Verfahren nicht als Deduktion anzusehen ist (vgl. Henrich 1976; Brandt 1999). Auf die Problematik, wie dieser Abschnitt nun zu verstehen ist, gehe ich hier nicht ein, denn für ihre Lösung wäre eine weitere Abhandlung nötig. Im Folgenden richtet sich meine Aufmerksamkeit die Frage, inwieweit sich Ansätze einer kantischen Theorie der Selbstkonstruktion aus den Ausführungen des dritten Abschnittes finden. In einigen Textstellen der GMS steht „das eigentliche Selbst“ in einem direkten Bezug zur „Intelligenz“, also der vernünftigen Seite des Subjekts (vgl. GMS IV: 457, 458, 461). Weitere Textstellen in der GMS, in denen „der eigene Wille“ in einem engen Zusammenhang mit der Idee der Verstandeswelt bzw. der Freiheit zum Ausdruck kommt, sind diese :
128
2 Obligatorische Zwecke im Sittengesetz
bindung dieser Konzepte lässt sich im Sinne der These verstehen, dass sich ein Subjekt nur aufgrund seiner intellektuellen Seite – nur als „reine Selbsttätigkeit“ – als eigentliches Selbst (GMS IV: 457, 458, 461) auffassen kann. Der grundlegende Gedanke ist vor dem Hintergrund der bisherigen Interpretation leicht zu verstehen: Falls das Handeln eines Handelnden lediglich durch die Naturgesetze der Sinnenwelt determiniert ist, kann er es nicht als ein aus seinem eigenen Willen entstehendes Handeln auffassen. Der Handelnde könnte dann nicht als Urheber seiner Handlungen begriffen werden. Er könne sich erst dann als eigentliches Selbst ansehen, wenn er sich nach den Gesetzen der Verstandeswelt verhält, in der sich die Vernunft als reine Selbsttätigkeit vollziehen kann (vgl. GMS IV: 452). Auf diese Weise muss man auch eine grundsätzliche Überzeugung Kants verstehen, nämlich von der Priorität der moralischen Dimension der Subjektivität gegenüber der nicht-moralischen Dimension verstehen, nach der „die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt […] enthält“ (GMS IV: 453)¹⁷ Nun lässt sich mit Rückgriff auf das in der MS enthaltene Konzept vom „eigenen Willen“ auch die in der GMS offen gebliebene Frage beantworten, welches Interesse menschliche Subjekte am Sittengesetzt haben und warum sie sich ihm unterwerfen sollen: Im moralischen Handeln konstituiert sich das Subjekt durch Übernahme der Ansprüche der Vernunft und findet so sein eigenes Selbst. Mit „Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben, enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist“ (GMS IV: 453; meine Herv.); „Als ein vernünftiges, mithin zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken“ (GMS IV: 452; meine Herv.); „Unser eigener Wille, sofern er, nur unter der Bedingung einer durch seine Maximen möglichen allgemeinen Gesetzgebung, handeln würde, dieser uns mögliche Wille in der Idee, ist der eigentliche Gegenstand der Achtung, und die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Bedingung, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein“ (GMS IV: 440; meine Herv.). Man würde diesen Satz missverstehen, würde man ihn so auffassen, dass hier die Verstandeswelt als diejenige Welt dargestellt wird, die hinter der Erscheinungswelt existiert. „Verstandeswelt“ ist ein Begriff, der in der Praxis eines Akteurs eine Grenze markiert. Dieser Begriff macht dem Akteur sichtbar, was er bei der Reflexion über sein Handeln nicht erschöpfend auf empirische Determinanten zurückführen kann. Dies lässt die freie Verantwortung für unser eigenes Handeln erkennen. Kant spricht selbst davon, dass der Begriff der „Verstandeswelt“ im Sinne eines Standpunkts zu verstehen ist: „Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken“ (GMS IV: 458; meine Herv.). Kants zentraler Punkt besteht hier also darin, festzustellen, dass wir nicht umhin können, uns die Vorstellung zu bilden, dass wir unabhängig von der empirischen Determinanten frei sind. Die subjektive Unvermeidlichkeit dieser Vorstellung beruht m. E. auf dem Interesse des Subjekts an einem eigentlichen Selbst.
2.2 Das Problem der Selbstbestimmung: Das eigentliche Selbst
129
anderen Worten: Dem Sittengesetz folge ich auf Grund meines Interesses daran, mein eigentliches Selbst zu sein. Nur so kann es sein Handeln als das seines eigenen Willens begreifen. Wenn man das, was ich bisher über die MS sagte, mit dem in Beziehung setzt, was ich bisher über die GMS sagte, legt das eine weitere These nahe: Ein Wesen ist für Kant nur dann ein ein aus eigenen Stücken handelndes Subjekt, wenn es in der Lage ist, sich unbedingte Zwecke zu setzen. Obwohl ich mir etwas zum Zweck machen kann, bin ich durch das bloße Setzen von Zwecken noch nicht im strengen Sinne frei: Da das Setzen von Zwecken auf sinnliche Neigungen zurückgehen kann, reicht der Akt der Zwecksetzung allein nicht aus, um eine Handlung als frei begreifen zu können. Nach der gerade dargelegten Argumentation (vgl. MS VI: 381, 385) kann ein Wesen sich nur dann Zwecke selbst setzen, wenn es fähig ist, unbedingt geltende Zwecke zu bestimmen, also solche, die nicht in technischpraktischen Zweck-Mittel-Zusammenhängen stehen. Solche Zusammenhänge sind nicht subjektiv, sondern objektiv, weil sie durch Eigenschaften der Sachen selbst bestimmt werden, die naturgesetzlich bestimmen, welche Mittel zur Erreichung eines gegebenen Zwecks geeignet sind. Besteht zwischen den Zwecken und Mitteln nur ein von Naturgesetzen determinierter Zusammenhang, so ist das Tun des Subjekts nicht als Seine Handlung anzusehen. Daran schließt wiederum die Studie von G. Römpp an. Anhand der „Tugendlehre“ erörtert er, wie die Subjektivität zu verstehen ist. Nach Römpp kann die Subjektivität des Subjekts aus zwei Gründen als praktisch begriffen werden: Erstens sei sie praktisch, weil sie sich nur durch „das Durchbrechen der sachgesetzlich bestimmten Zweck-Mittel-Zusammenhänge“ (Römpp 2006, S. 180), also durch die Fähigkeit zur freien Zwecksetzung, manifestiere. Sie sei zweitens praktisch, weil sich diese Freiheit nur in der Fähigkeit zur Setzung von obligatorischen Zwecken zeige und sich Subjektivität letztlich durch die Moralität bestimme. In diesem Sinne kommt Subjektivität für Kant also erst durch eine Leistung des Subjekts in die Welt. Subjekte finden Subjektivität in sich nicht einfachhin vor, sondern müssen sie erst bewirken. Für die Problematik der Selbstbestimmung kommt diesen Gedanken besondere Bedeutung zu. Denn die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ist nichts anderes als das Vermögen, sich Zwecke zu setzen. Das Vermögen, sich Zwecke zu setzen, will ich dahingehend interpretieren, dass es die mit diesem Vermögen Ausgestatteten notwendig zu Wesen mit spezifischen Rechten und Pflichten macht.
3 Glückseligkeit anderer als oberste Tugendpflicht Auf der Basis der bislang entwickelten Interpretation lässt sich erklären, warum Kant die eigene Vollkommenheit und die Glückseligkeit anderer als die beiden „obersten Tugendpflichten“ bezeichnen muss. Da zur Entwicklung der Tugend die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung notwendig ist, müssen sich die Zwecke, deren Erstreben zur Entwicklung der Tugend beitragen, zunächst auf die Fähigkeit zur Selbstbestimmung des jeweiligen Akteurs beziehen. Die Pflicht, die eigene (moralischen) Vollkommenheit zu befördern, besagt nichts anderes, als die eigene Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu entwickeln. Bei der Pflicht zur Förderung der Glückseligkeit anderer geht es darum, zur Entwicklung der Zwecksetzungsfähigkeit anderer beizutragen. Um die Notwendigkeit der Pflicht zur Beförderung der Glückseligkeit anderer aus einer anderen Perspektive zu elaborieren, werde ich nun auf die vierte Argumentationslinie für die Verbindlichkeit der Pflicht der Beförderung der Glückseligkeit anderer aus der GMS eingehen. Dadurch werden sich grundlegende Auffassungen Kants über Glückseligkeit erhellen lassen.
3.1 Warum es Pflicht ist, die Glückseligkeit anderer zu befördern Um zu verstehen, warum die Glückseligkeit anderer zu befördern Pflicht ist, ist daran zu erinnern, dass die Beförderung fremder Glückseligkeit bereits in der GMS als eine unvollkommene Pflicht konzipiert wird¹⁸. Um aufzuhellen, was Kant
Einschlägige Textstellen, in denen die Beförderung fremder Glückseligkeit als „unvollkommene Pflicht gegen andere“ thematisiert wird, sind folgende: „Ich werde ihn [einen anderen Menschen] nicht entziehen, ja nicht einmal beneiden; nur zu seinem Wohlbefinden oder seinem Beistande in der Not habe ich nicht Lust etwas beizutragen! […] Wenn eine solche Denkungsart ein allgemeines Naturgesetz würde, das menschliche Geschlecht gar wohl bestehen“ (GMS IV: 423); „Nun würde zwar die Menschheit bestehen können, wenn niemand zu des anderen Glückseligkeit was beitrüge, dabei aber ihr nichts vorsätzlich entzöge; allein es ist dieses doch nur eine negative […] Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck-an-sich selbst, […]. Denn das Subjekt, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung tun soll, auch soviel wie möglich meine Zwecke sein“ (GMS IV: 430, Herv. im Original); „[S]ie [‐die eigennützige Maxime] ist pflichtwidrig, folglich die gemeinnützige, des Wohltuns gegen Bedürftige, allgemeine Pflicht der Menschen und zwar darum: weil sie als Mitmenschensein, d.i. be-
3.1 Warum es Pflicht ist, die Glückseligkeit anderer zu befördern
131
meint, wenn er von „fremder Glückseligkeit“ spricht, wende ich mich nun den Textstellen in der GMS und der MS zu, die die Beförderung der fremden Glückseligkeit als Pflicht darstellen. Vor dieser Textanalyse will ich aber zunächst auf die Konzeption der unvollkommenen Pflicht gegenüber anderen in der GMS zu sprechen kommen. Es könnte nämlich den Anschein machen, dass sie mit der Pflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit identisch ist und wir es hier nur mit zwei verschiedenen Bezeichnungen zu tun haben. Ich denke, dass es sich um zwei verschiedene, einander ergänzende Argumentationen handelt, und das wird deutlich, wenn sie aufeinander bezogen werden. Die Argumentationslinie in der MS präzisiert manche Argumente aus der GMS. Kant begründet die unvollkommene Pflicht anderen gegenüber in der GMS so: Aber obgleich es möglich ist, dass nach jener Maxime [‐Maxime der Gleichgültigkeit] ein allgemeines Naturgesetz wohl bestehen könnte, so ist es doch unmöglich, zu wollen, dass ein solches Prinzip als Naturgesetz allenthalben gelte. Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche ereignen können, wo ein anderer Liebe und Teilnehmung bedarf (GMS IV: 423). [D]ie Menschheit [würde] bestehen können, wenn niemand zu des anderen Glückseligkeit was beitrüge, dabei aber ihr nicht vorsätzlich entzöge (GMS IV: 430).
Die Zitate zeigen, dass jeder zum Wohlbefinden anderer beitragen soll, obwohl sich die entgegengesetzte Maxime, nämlich die Maxime der Gleichgültigkeit gegenüber anderen ohne logischen Widerspruch verallgemeinern lässt. Die Begründung dieser Verpflichtung wird von Kant auf zwei Weisen vorgetragen: Durch Anwendung der Allgemeines-Gesetze-Formel auf die Pflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit wird gezeigt, dass man „die Maxime der Gleichgültigkeit“ als ein allgemeines Gesetz nicht wollen kann. Im Rahmen der Rechtfertigung der Selbstzweckformel wird dieselbe Pflicht dagegen als diejenige bezeichnet, die eine „positive Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck an sich selbst (GMS IV: 430)“ ermöglicht. Der „Wollenswiderspruch“ sowie die „positive Übereinstimmung zur Menschheit“ sind indes nicht leicht zu begreifen; ich will im Folgenden versuchen, sie aufzuhellen. Für ein angemessenes Verständnis des Wollenswiderspruchs ist die Unterscheidung zwischen Denken und Handeln entscheidend. Die Welt, in der die Maxime der Gleichgültigkeit als allgemeines Gesetz gilt, ist nach Kant nicht ohne Widerspruch zu denken. Zu beachten ist, dass sich die Prüfung auf Verallgemeinerbarkeit auf der
dürftige, auf einen Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe vereinigte Wesen anzusehen ist“ (MS VI: 453).
132
3 Glückseligkeit anderer als oberste Tugendpflicht
Ebene des Denkens vollzieht. Selbst wenn die entgegengesetzte Maxime keinen gedanklichen Widerspruch erzeugt, so stellt die Wohltätigkeit anderen Menschen gegenüber eine Pflicht dar, nach der man handeln soll. Diese Argumentation setzt Kants Ansicht voraus, der zufolge jeder von Natur aus nach seiner eigenen Glückseligkeit strebt. Unter der Annahme, dass die Maxime der Gleichgültigkeit verallgemeinert wird, kann man keine Hilfe von anderen beanspruchen, wenn man sich in Not befindet. Aus der Verallgemeinerung dieser Maxime ergibt sich also die Gefahr, das Subjekte im Streben nach eigener Glückseligkeit, das für vernunftbegabte und zugleich auch bedürftige Wesen unabweisbar ist, verhindert werden¹⁹. Daran zeigt sich eine Grundannahme Kants über Glückseligkeit, nämlich dass das Erreichen der Glückseligkeit nur partiell in unserer Macht steht, etwa weil wir dabei gelegentlich auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Würde die Maxime der Gleichgültig allgemein gelten, hätte dies ferner zur Folge, dass das allgemeine Wohlbefinden der ganzen menschlichen Gattung diminuiert würde²⁰. Wenn die Maxime der Gleichgültig insoweit das Glückseligkeitsstreben zu unterminieren droht, stellt sich die Frage: Kann es jemanden geben, der in ihrem Sinne von anderen keine Hilfe in Anspruch nehmen möchte, wenn er in Not ist? Impliziert Kants Ausdruck der „Unmöglichkeit, zu wollen“ nun, dass es keine Pflicht der Wohltätigkeit gegen andere gibt, wenn man im eigenen Notfall keine Hilfe von anderen in Anspruch nehmen möchte? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, Kants Argumentation zur Begründung der Liebespflicht anderen gegenüber in der MS mit einzubeziehen. Diese Argumentation lässt sich so zusammenfassen: Als ein bedürftiges Wesen will ich jedes anderen Wohlwollen auch für mich²¹. Jedes moralisch-praktische Verhältnis zwischen Menschen nun ist „ein Verhältnis in der freien Handlung nach Maximen, welche sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren“ (MS VI: 451). Deshalb soll ich jedem anderen wohlwollend sein, wenn ich das Wohlwollen jedes anderen auch für mich will (MS VI: 451).
Ein mögliches Missverständnis bei dieser Argumentation ist, dass hier die Maximenprüfung nur der Frage Rechnung trägt, ob die verallgemeinerte Maxime die Eigennützigkeit des Handelnden beschädigt oder nicht. Trotzdem macht die Argumentation den Eindruck, dass die Maximenprüfung gleichsam als pragmatisches Verfahren zu verstehen ist. Zu beachten ist, dass der Widerspruch nicht in der Welt der universalisierten Maxime der Gleichgültigkeit oder meiner Maxime besteht, sondern zwischen meinem ersten Wollen (d.i. anderen keine Hilfe zu leisten) und einem weiteren Wollen von mir (d.i. Hilfe von anderen zu erhalten, wenn ich selbst in Not bin). Diesen Ansatz werde ich im nächsten Kapitel weiter entwickeln, wenn ich mich mit Kants Lehre des höchsten Guts eingehend auseinandersetze. Eine Belegstelle dafür lautet: „Jeder Mensch, der sich in Not befindet, wünscht, dass ihm von anderen Menschen geholfen werden“ (MS VI: 453). „Ich will jedes anderen Wohlwollen (benevolentiam) gegen mich; ich soll also auch gegen jeden anderen wohlwollend sein“ (MS VI: 451).
3.2 Zwei Einwände gegen Kants Konzeption
133
Auf den ersten Blick kann diese Argumentation den oben erwähnten Einwand nicht entkräften, da immer noch die Möglichkeit besteht, dass es jemanden gibt, der in keinem Fall Wohlwollen für sich wünscht. Hier gilt es einen schon in der GMS anklingenden, aber erst in der MS ausdrücklich erwähnten Punkt zu vergegenwärtigen: „das Mitmenschensein“ (MS VI: 453). Mit diesem Ausdruck bezeichnet Kant eine empirische, aber dennoch unleugbar anthropologische Tatsache der bedürftigen vernünftigen Wesen, die „auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihilfe vereinigt“ (MS VI: 453) sind. Im Rekurs auf das „Mitmenschensein“ wird klar, was Kant in der GMS mit dem „Wollenswiderspruch“ gemeint hat. Es ist durchaus denkbar, dass jemand in Situationen gerät, in denen die Hilfe anderer das einzige und daher ein notwendiges Mittel ist, seine Zwecke umzusetzen. In einem solchen Fall entspricht die Ablehnung fremder Hilfe nicht seinem Status als vernünftigem Akteur. Sie wäre irrational. Das bisher Gesagte macht deutlich, was die Tugendpflicht der Beförderung fremder Glückseligkeit besagt: Fremde Glückseligkeit befördern zu sollen bedeutet für Kant nicht, zur Erfüllung der einzelnen Neigungen des anderen beizutragen.Vielmehr besagt sie, dass ein Wesen in derjenigen Qualifizierung, in der es seine Freiheit ausübt, die Qualifizierung sich zu eigen macht, in der ein anderes seine Freiheit ausübt. Dass diese wechselseitige Einschränkung gerade in der Aufnahme von fremder Glückseligkeit in die eigenen Zwecke geschieht, könnte damit begründet werden, dass ein solcher Zweck bei jedem anderen vorausgesetzt werden kann.
3.2 Zwei Einwände gegen Kants Konzeption der fremden Glückseligkeit als oberster Tugendpflicht Bevor ich in einem abschließenden Abschnitt auf die Leitfrage dieses Kapitels zurückkomme, will ich hier versuchen, die Ausführungen dieses Kapitels mit denen des ersten Kapitels zu verknüpfen. Ich will dazu der Frage nachgehen, was die Pflicht zur Beförderung der Glückseligkeit anderer sachlich besagt. Im ersten Kapitel wurde festgestellt, dass die Glückseligkeit ohne ihren Bezug auf sinnliche Lust undenkbar ist, auch wenn sich bei Kant viele verschiedene Beschreibungsformen von Glückseligkeit finden. Kants Ausführungen zur Pflicht der Beförderung fremder Glückseligkeit schließen daran an, da die Glückseligkeit bei dieser Tugendpflicht ausdrücklich als das physische Wohlbefinden der anderen bestimmt wird. In diesem Sinne ist die Tugendpflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit gleichbedeutend mit der Pflicht der Wohltätigkeit an anderen bzw. der Liebespflicht (vgl. MS VI: 450 – 4). Die Beförderung der Glückseligkeit anderer wird hier als „tätiges praktisches Wohlwollen“ bezeichnet, das nicht auf der Ebene
134
3 Glückseligkeit anderer als oberste Tugendpflicht
des bloßen Wunsches fremden Wohlergehens haften bleibt, sondern ein tatsächliches Wohltun zur Folge hat. Das wirft die Frage auf, in welcher Art und Weise man dieser Pflicht nachkommen soll. Nach Kant besteht diese Pflicht aus zwei Stufen: 1. Die Zwecke anderer zu erkennen und 2. sich deren (erlaubte) Zwecke zu eigen zu machen (vgl. MS VI: 388, 393, 452). Im Hinblick auf die erste Stufe ist bemerkenswert, dass die nähere Bestimmung der Glückseligkeit davon abhängt, was jeder unter diesem Begriff versteht. Denn die Glückseligkeit beruhe grundsätzlich auf der subjektiven Wahrnehmung bzw. Bewertung der eigenen Umstände (vgl. MS VI: 387)²². Entsprechend gibt es so viele Zwecke, die zur Glückseligkeit beitragen können,wie es Auffassungen derselben gibt. Die das Leben bis in Details regelnden, stark paternalistischen Lebensformen dürften sich mit der kantischen Moralkonzeption schwer tun. Der Inhalt der zweiten Stufe wird aus folgenden Zitaten besonders ersichtlich: Wenn es also auf Glückseligkeit ankommt, worauf, als meinen Zweck, hinzuwirken es Pflicht sein soll, so muss es die Glückseligkeit anderer Menschen sein, deren (erlaubten) Zweck ich hiermit auch zu dem meinigen mache (MS VI: 388; Herv. im Original). Dass diese Wohltätigkeit Pflicht sei, ergibt sich daraus: dass, weil unsere Selbstliebe von dem Bedürfnis, von anderen auch geliebt (in Notfällen geholfen) zu werden, nicht getrennt werden kann, wir also uns zum Zweck für andere machen und diese Maxime niemals anderes als bloß durch ihre Qualifikation zu einem allgemeinen Gesetz, folglich durch einen Willen, andere auch für uns zum Zwecke zu machen,verbinden kann, fremde Glückseligkeit ein Zweck sei, der zugleich Pflicht ist (MS VI: 393; meine Herv.). [E]in tätiges praktisches Wohlwollen, sich das Wohl und Heil des anderen zum Zweck zu machen (MS VI: 452; meine Herv.).
Was Kant mit der Rede davon meint, „Zwecke anderer zu meinen zu machen“, ist nicht leicht zu deuten. Er meint freilich nicht, dass ich den Zweck von Stephan, Anna zu heiraten, zu meinem machen soll, ich also Anna heiraten soll, um zur Glückseligkeit von Stephan beizutragen. Es fällt auf, dass ich mir nach Kant im Hinblick auf diese Pflicht nicht nur die sachlichen Zwecke anderer, sondern auch andere Menschen als Selbstzweck (vgl. MS VI: 393) zu meinem Zweck machen soll. Wenn hier die Menschheitszweckformel anklingt, dann scheint der Schlüssel zur Klärung des Ausdrucks „Zwecke anderer zu meinen zu machen“ in Kants Identifikation von „Menschheit“ und „Zwecksetzungsfähigkeit“ zu liegen. Ein entsprechender interpretatorischer Vorschlag von C. Korsgaard geht dahin, dass jeder den Zwecken anderer den gleichen Status wie seinen eigenen zuschreiben soll:
Ein klarer Beleg dafür, dass Kant diesen Standpunkt vertritt, ist diese: „Ich kann niemand nach meinen Begriffen von Glückseligkeit wohl tun […], sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohltat zu erweisen denke“ (MS VI: 454).
3.2 Zwei Einwände gegen Kants Konzeption
135
„To treat another as an end in itself is to treat his or her ends as objectively good, as you do your own“ (Korsgaard 1996, S. 128). Dieser Vorschlag ist insofern berechtigt, als hier nicht nur die Zwecke anderer, sondern auch die Menschen selbst, welche über Zwecksetzungsfähigkeit verfügen, in Betracht gezogen werden. Diese Interpretationsstrategie scheint jedoch die Liebespflicht gegenüber anderen zu einer überfordernden, schwer zu erfüllenden Pflicht zu machen²³. Diese Problematik kann man aber mit einer kleinen Modifikation von Korsgaards Auffassung bewältigen. Korsgaards These ist nämlich an und für sich richtig. Es gilt bloß zu vergegenwärtigen, dass die Pflicht, die Zwecke anderer zu meinen zu machen, aus der Pflicht resultiert, jeden Handelnden als Zwecksetzenden als wertvoll zu betrachten. Dies lässt sich auch als diejenige Pflicht auffassen, die Zwecke von anderen als wertvoll zu erachten und zu deren Erreichen beizutragen. Dies fordert nur, dass ich meine moralischen Überlegungen um den Standpunkt der dritten Person erweitere und ihn auf meine Perspektive zurückbeziehen muss. An dieser Stelle muss eine in der Literatur weit verbreitete Unterstellung überprüft werden, der zufolge die Pflicht zur Beförderung der Glückseligkeit anderer dem Handelnden die Lebensweise eines Heiligen aufzwingt und von ihr dazu aufgefordert wird, sein eigenes Wohlergehen für die Glückseligkeit anderer zu opfern. Dieser Unterstellung ist entgegenzuhalten, dass die Beförderung der eigenen Glückseligkeit von Kant als eine indirekte Pflicht dargestellt wird (vgl. GMS IV: 399; MS VI: 388) und somit der Verzicht auf die eigene Glückseligkeit verboten ist. Anders als häufig angemerkt wird ist das Streben nach der eigenen Glückseligkeit für Kant jedoch nicht schlechthin unmoralisch: Ich befördere die fremde Glückseligkeit und soll zugleich auch meine eigene besorgen, damit ich mich nicht zur Übertretung des Sittengesetzes verleiten lasse. Überdies muss man sich Folgendes vergegenwärtigen: Die Beförderung der fremden Glückseligkeit verlangt in der Tat ein partielles Aufgeben der eigenen physischen Wohlfahrt zugunsten anderer (vgl. MS VI: 393). Kants eigene Antwort auf diese Problematik wird in folgendem Zitat besonders klar ersichtlich: Gegen Korsgaards Auffasung wendet etwa T. Hill ein: „It is hard to see how such a duty [duty of beneficence] would follow from the principle to treat humanity as an end. […] Valuing someone’s rational pursuit of his own ends is not the same as wanting him to have what he desires or what he will most enjoy“ (Hill 1992, S. 54). Wie ich meine zu Recht ist Hill der Ansicht, dass man der Liebespflicht anderen gegenüber nur schwer entsprechen kann, da sie dazu aufruft, den kontingenten Zwecken von anderen das gleiche Gewicht wie seinen eigenen zu geben. Zum Beleg seiner Behauptung weist Hill darauf hin, dass die Liebespflicht bei Kant überwiegend mit der Hilfeleistung an andere in der Not identifiziert wird. Diese Beobachtung verträgt sich zwar gut mit dem Text, es folgt daraus aber nicht, dass die Liebespflicht anderen gegenüber bloß als die Forderung zur Hilfsleistung zu verstehen ist.
136
3 Glückseligkeit anderer als oberste Tugendpflicht
Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) anderer ihre zu befördern, würde an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte (MS VI: 393; meine Herv.).
In diesem Zitat stellt das „wahre Bedürfnis“ des Handelnden ein Kriterium dar, nach dem der Umfang der Pflichtleistung bestimmt werden kann. Das heißt: die Frage, inwieweit man zur Glückseligkeit anderer beitragen soll, hängt also von der Frage ab, ob diese Pflichtleistung die Erfüllung der eigenen „wahren Bedürfnisse“ behindert oder nicht. Kants Einschätzung ist umstritten, weil die Antwort auf die Frage, worin diese wahren Bedürfnisse bestehen, von der jeweiligen Person abhängt, von Person zu Person verschieden ausfallen mag. Gibt es keine Möglichkeit allgemeine Kriterien aufzustellen, nach denen der Umfang der Liebespflicht anderen gegenüber konkretisiert werden kann? Der Versuch der Aufstellung allgemeiner Glückskriterien könnte allerdings Gefahr laufen, die wesentliche Charakteristik der Tugendpflicht als „weitere, unvollkommene Pflicht“ nicht geltend zu machen. Aus folgendem Zitat wird dieses Charakters der Liebespflicht besonders ersichtlich: [S]o ist’s ein Zeichen, dass es der Befolgung (observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d.i., nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden soll (MS VI: 393).
Zum besseren Verständnis dieser Ausführungen ist zu beachten, dass mit dem Ausdruck „Spielraum“ nicht gemeint ist, dass bei der Ausübung dieser Pflicht Ausnahmen erlaubt sind. Vielmehr weist Kant darauf hin, dass der Handelnde selbst bestimmen muss, was genau und wie weit er etwas tun soll. Ein anderer Anhaltspunkt für Zweifel daran, dass die Liebespflicht von Subjekten verlangt, ihr Leben zu opfern, ergibt sich aus der Beobachtung, dass die verschiedenen Tugendpflichten aufeinander hin beschränkt werden können. Während es jedem obliegt, für die Glückseligkeit anderer Sorge zu tragen, hat jeder zugleich die Aufgabe, die eigene (moralische) Vervollkommnung voranzutreiben. Dementsprechend können der Grad sowie der Umfang der Beförderung fremder Glückseligkeit beispielsweise auf die Pflicht gegen sich selbst eingeschränkt werden. Bemerkenswert ist, dass zu dieser Liebespflicht nicht nur die Unterstützung des physischen Wohlbefindens anderer, sondern auch die Beförderung moralischen Gutseins anderer gehört. Warum soll die Förderung des moralischen Wohlseins anderer einen Teil der Pflicht der Wohltätigkeit an anderen ausmachen? Die Beförderung des moralischen Wohlseins anderer betrifft m. E. den intersubjektiven Charakter der Tugendpflicht an anderen: Die Tugendqualität einer jeden Handlung setzt voraus, dass der Handelnde an anderen weder auf Gegenleistungen spekuliert noch ihre Dankbarkeit erzwingt. Gerade darin liegt die Aufgabe
3.2 Zwei Einwände gegen Kants Konzeption
137
der Tugend des Handelnden. Die Empfänger dagegen dürfen nicht die Leistungen und Wohltaten anderer ausnutzen. Vom Vorwurf abgesehen, Subjekte müssten ihr eigenes Wohlbefinden für das anderer opfern, beruht ein zweiter Einwand gegen die Liebespflicht darauf, dass sie den universalistischen Charakter der Moral gefährde. Da Liebe grundsätzlich auf selektiven Verhältnissen beruhe – also jemanden zu bevorzugen und andere zu vernachlässigen – sei es schwer vorstellbar, dass es eine auf Liebe beruhende Pflicht geben könne, die in universalistischer Form ein allgemeines Gesetz darstellt. Zu beachten ist ferner, dass es hier nicht um die Liebe als ein Gefühl, sondern um die Liebe, oder, genauer noch: um die Wohltätigkeit anderen gegenüber als Pflicht und somit um eine Maxime geht (vgl. MS VI: 448, 451– 2). Hier muss Liebe als eine innere Einstellung verstanden werden, die ein Subjekt in seinem moralischen Verhältnis zu einer bestimmten Praxis bringt. Sie motiviert uns dazu, Wohltätigkeit an anderen auszuüben. Dass Kant eine solche Attitüde als Pflicht charakterisiert, liegt hauptsächlich darin, dass jeder unabhängig von seinen Gefühlen auf die Wohlfahrt anderer Rücksicht nehmen soll. Wir hätten unabhängig davon, ob wir für eine Person etwa Zuneigung empfinden, die Pflicht, ihr wohltätig zu sein. Diese Auffassung lässt sich durch eine Textstelle aus der KpV, in der die Nächstenliebe als Gebot konzipiert wird, untermauern: Eben dieselbe [‐pathologische Liebe bzw. Liebe als Neigung] gegen Menschen ist zwar möglich, kann aber nicht geboten werden; denn es steht in keines Menschen Vermögen, jemanden bloß auf Befehl zu lieben. […] Das Gebot aber, das dieses [die Nächsten zu lieben] zur Regel macht, kann auch nicht diese Gesinnung in pflichtmäßigen Handlungen zu haben, sondern bloß danach zu streben gebieten (KpV V: 83).
Die Grundüberzeugung, die hinter dieser Argumentation steht, ist, dass Gefühle weder absichtlich beeinflusst werden noch geboten sein können. Nur die innere Haltung bzw. Einstellung kann als Gegenstand eines sittlichen Bemühens verstanden und somit als Pflicht angesehen werden. Wir können nämlich unsere subjektiven Zwecke, die sich grundsätzlich auf die Neigungsbefriedigung beziehen, ändern und umbilden, indem wir uns moralische Maximen zu eigen machen und durch Übung eingewöhnen. Kant zufolge schließt diese Pflicht nicht aus, dass man sie je nach Umständen in verschiedenem Grade leistet (vgl. MS VI: 451– 2). Handelnde können z. B. bestimmtem Personen mehr Hilfe zuteilwerden lassen als anderen. Auch dabei ist nicht vom bloßem Wunsch oder Vorliegen von Gefühlen die Rede, sondern von „ein[em] tätig[en], praktisch[en] Wohlwollen“ (MS VI: 452): „Denn im Wünschen kann ich allen gleich wohlwollen, aber im Tun kann der Grad, nach Verschiedenheit der Geliebten (deren einer mich näher angeht als der andere), ohne die Allgemeinheit der Maxime zu verletzen, doch sehr verschieden sein“ (MS VI: 452).
4 Das Verhältnis zwischen den zwei obersten Tugendpflichten und Kants Lehre des höchsten Guts Abschließend möchte ich auf die Leitfrage dieses Kapitels zurückkommen: Aus welchen Gründen führt Kant der Begriff obligatorischer Zwecke in die Ethik ein? Diese Frage lässt sich aus zwei verschiedenen Perspektiven beantworten. Die Antwort der Beobachterperspektive wäre diese: Durch die Überlegungen über die Notwendigkeit eines obligatorischen Zwecks lässt Kants Ethik die Möglichkeit zu, zur Dimension der zurechnungsfähigen Intersubjektivität zu gelangen (vgl. Römpp 2006, S. 169) Aus der Eigenperspektive des Handelnden hingegen lässt sich so antworten: Dem Subjekt wird durch das Streben nach obligatorischen Zwecken seine Kompetenz zur dem Sittengesetz gemäßer Willensbestimmung abgesprochen. Aufgrund seines erkenntnistheoretischen Standpunkts denkt Kant, dass dem Handelnden letztlich verschlossen bleibe, ob er in der Tat ausschließlich aus moralischen Gründen handelt. Auch „bei der schärfsten Selbstprüfung“ (GMS IV: 407) kann der Akteur nie sicher sein, ob bei seinem Handeln nicht doch ein „geheimer Antrieb der Selbstliebe“ (GMS IV: 407) zugrunde liegt. Selbst wenn sich eine Maxime als verallgemeinerungsfähig erweist, liegt es nicht klar auf der Hand, ob eine Handlung im Sinne dieser Maxime aus Pflicht erfolgte oder nur pflichtgemäß war. Indem sich ein Akteur die obligatorischen Zwecke aneignet und bei seiner Maximenwahl berücksichtigt kann er allerdings die Wahrscheinlichkeit erhöhen, aus Pflicht zu handeln, weil er so die Gebote des Sittengesetzes auch gegen empirische Umstände bzw. Neigungen, die für die Befolgung des Sittengesetzes als Hindernisse anzusehen sind, in sich erhalten kann. In diesem Sinne betrifft die Notwendigkeit der Setzung von obligatorischen Zwecken schließlich jeden einzelnen Menschen. Tugendpflichten weisen uns auf die Eigenschaften, Engagements und die Denkungsart hin, welche für tugendhafte Personen konstitutiv sind. Die Befolgung der Tugendpflichten ist zum einen ein Zeichen für eine moralisch gute Gesinnung seitens des Handelnden und dient zum anderen als Mittel, mit dem der Handelnde seine Selbstherrschaft aufrechterhalten und weiter ausbauen kann. Das Streben nach eigener Vollkommenheit sowie der Glückseligkeit anderer führt uns dazu, dass wir ein kohärentes, eigenes und moralisches Leben führen können. Anders ausgedrückt bringen diese obligatorischen Zwecke in unser Leben Sinn, Bedeutung und Integrität. Sie tragen ferner dazu bei, unsere Konzeption von eigener Glückseligkeit auf moralisch erlaubte Weise auszugestalten, indem sie bei der Wahl einzelner Zwecke eine regulative Funktion übernehmen. In diesem Sinne
4 Das Verhältnis zwischen den zwei obersten Tugendpflichten
139
verweisen sie uns – sowohl einzeln als auch kollektiv – auf die Verwirklichung des höchsten Guts, nämlich die unbedingte Totalität der Verwirklichung von den durch die reine praktische Vernunft vorgeschriebenen Zwecken. Zum Schluss will ich eine Bemerkung über die Beziehung der Tugendpflichten zur Lehre vom höchsten Gut machen²⁴. Diese Problematik wird zwar im nächsten Kapitel eingehender behandelt, ich möchte auf der Basis der bisherigen Überlegungen aber schon hier einen Ausblick geben²⁵. Die Tugendlehre weist uns darauf hin, wie wir uns der Glückseligkeit würdig erweisen können. Damit ist der Begriff des höchsten Guts hinreichend praktisch bestimmt. Erst jetzt können wir den Grund dafür nachvollziehen, warum die Tugend in Kants Lehre des höchsten Guts als „Würdigkeit, glücklich zu sein“ (KrV B 834=A803; KpV V: 110,130; RGV VI: 44; Gemeinspruch VIII:278 Fn.) dargestellt wird. Die Tugend ist nicht nur das Vermögen, mit dem das Subjekt die dem Sittengesetz gegenüberstehenden sinnlichen Neigungen überwinden kann. Sie bedeutet vielmehr nichts anderes als die Beförderung des höchsten Guts durch den
Der Stand der Forschung lässt sich so skizzieren: In der angelsächsischen Literatur wird gemeinhin dem Ansatz gefolgt, die zwei obersten Tugendpflichten aus dem Begriff des höchsten Guts abzuleiten. Auf den Zusammenhang der beiden obligatorischen Zwecken – also die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit – mit dem höchsten Gut, wies schon M. Gregor hin (Gregor 1963, S. 85 – 94). N. Potter plädiert auch für diese Auffassung (Potter 1985, S. 84). In der deutschen Literatur schließt sich die Studie von M. Forkl (Forkl 2001) an diese Auffassungstendenz an. Ihm zufolge ist der Begriff des höchsten Guts als materialer Grund der obersten Tugendpflichten zu verstehen. Eine einflussreiche Studie, die diesen Ansatz weiter fortsetzt, ist die H.E. Allisons (Allison 1996). Allison denkt, dass alle aus der MS entnommenen Argumente für die Notwendigkeit des Begriffs der Tugendpflicht zum Scheitern verurteilt sind. Zur Unterstützung der Einführung des Tugendpflichtkonzepts in die kantische Ethik schlägt er eine Interpretation vor, nach der die beiden obersten Tugendpflichten auf dem Begriff des höchsten Guts beruhen, der als die synthetische Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit gelten könne. Allison ist also der Meinung, dass der Begriff des höchsten Guts als die operative Voraussetzung für die zwei obersten Tugendpflichten fungiert. Die Zwecke, die zu haben Pflicht ist, müssen demnach aus dem kantischen Begriff vom höchsten Gut abgeleitet werden. Die beiden obligatorischen Zwecke drückten nämlich die beiden Bestandteile des höchsten Guts, die Tugend und die Glückseligkeit, aus, nach deren Verwirklichung wir so gut als möglich streben müssen. H. Bielefeldt interpretiert die beiden obersten Tugendpflichten als Orientierungspunkte zur Beantwortung der Frage, wie wir die Beförderung des höchsten Guts anpacken sollen: „It is symptomatic of our finiteness as human beings that the two components, virtue and happiness, which are brought together in the idea of the highest good, fall apart in our actual moral practice. We can promote the one idea of the highest good only indirectly. That is, we have to take two different routes that we cannot know will ever meet. One’s own perfection and the happiness of others, Kant says, are the fundamental ends that at the same time constitute fundamental duties because they follow from the categorical imperative to treat humanity always as an end in itself“ (Bielefeldt 2003, S. 81).
140
4 Das Verhältnis zwischen den zwei obersten Tugendpflichten
menschlichen Willen. Tugendhafte Menschen sind also dazu befähigt, eine moralische Welt zu konstituieren, in der allgemeine Glückseligkeit so weit als möglich zustande kommt. Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist in diesem Zusammenhang als der Anspruch anzusehen, auf unsere auf Neigung beruhenden subjektiven Zwecke, die sich letztlich an der eigenen Glückseligkeit orientieren, zu den Zwecken machen, die die moralisch bedingte allgemeine Glückseligkeit ausmachen. Da das System der Zwecke im Ganzen gleichbedeutend mit dem höchsten Gut ist, ist das oberste Prinzip der Tugendlehre des Weiteren als Aufforderung zu deuten, dass wir unser Handeln auf das höchste Gut hin ausrichten sollen. Das werde ich im nächsten Kapitel aber noch eingehender erörtern.
Teil V: Einheit von Moralität und Glückseligkeit. Glückseligkeit in Kants Lehre des höchsten Guts
1 Verhältnis von Moralität und Glückseligkeit Im Mittelpunkt des ersten Teils der Arbeit steht die Frage, aus welchen Gründen das auf dem menschlichen Glückseligkeitsstreben beruhende praktische Prinzip den Anspruch der Moralität auf die universale Geltung nicht erfüllt. Zur Klärung dieser Frage wird zunächst Kants Auffassung der Glückseligkeit eingehend erläutert. Kants Überlegungen zufolge besteht die Glückseligkeit grundsätzlich in der sinnlichen Lust, die durch die größtmögliche Neigungsbefriedigung entsteht. Diese Grundcharakteristik der Glückseligkeit liege zwar in ihrem Rückbezug auf die Lust, sie wird jedoch nicht bloß im Sinne eines aufgrund einer momentanen Bedürfnisbefriedigung ausgelösten Lustzustands konzipiert. Vielmehr geht es um die Befriedigung aller Neigungen bzw. Bedürfnisse, jeweils im höchsten Intensitätsgrad und auf Dauer, und daher um ein übergeordnetes Ziel des Handelns. In diesem Sinne wird die Glückseligkeit zunächst einmal als ein „natürlicher Zweck“ betrachtet, nach dem jedes eingeschränkt vernünftige Wesen aufgrund seiner bedürftigen Natur notwendig strebt (vgl. GMS IV: 415; KpV V: 25; MS VI: 388). Jedoch alles, was die Glückseligkeit inhaltlich ausmacht, kann nur in empirischer Weise festgelegt und somit nicht a priori bestimmt werden. Darüber hinaus ist der Begriff der Glückseligkeit so unbestimmt, dass jeder seine eigene Vorstellung von dem hat, was ihn glücklich machen kann (vgl. GMS IV: 418). Aus diesen Gründen erweist sich „das Prinzip der eigenen Glückseligkeit“ als untauglich zum obersten Prinzip der Sittlichkeit, welches notwendigerweise allgemeingültig sein muss. Kants Standpunkt impliziert jedoch keine prinzipielle Ausschaltung jedes Verknüpfungsversuchs von Glückseligkeit und Moral: Das Sittengesetz fordert uns zwar auf, von allen Neigungen und somit aller Orientierung an Glückseligkeit zu abstrahieren; dies heißt jedoch nicht zwangsläufig – anders als oftmals unterstellt wird –, dass wer sittlich sein will, nicht umhin könne, sich gegen seine eigene Glückseligkeit entscheiden zu müssen. Da die Glückseligkeit im Rahmen der Aufstellung eines obersten Moralprinzips lediglich als ein möglicher Bestimmungsgrund des Willens zurückgewiesen wird, bleibt noch die Möglichkeit, dass die Glückseligkeit aus der Befolgung der Pflicht als einer Folge bzw. Wirkung hervorgeht. Ein Schlüssel zur Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Moralität und Glückseligkeit liegt in Kants Erörterungen der Sittlichkeit als „Würdigkeit, glücklich zu sein“ (KrV B834=A806; vgl. KpV V: 110, 130; RGV VI: 44; Gemeinspruch VIII: 278 Fn.). Diese Kennzeichnung manifestiert sich einerseits darin, dass wir unserer moralischen Bestrebung entsprechend an der Glückseligkeit sollten teilhaben können. Andererseits deutet sie an, dass es keinen tatsächlichen kausalen Zusammenhang zwischen den beiden gibt, auch wenn beide Konzepte aufgrund des „Bedürfnisses“ eines vernunftbegabten Wesens (vgl. RGV
144
1 Verhältnis von Moralität und Glückseligkeit
VI: 5, 6; KU V: 447; Gemeinspruch VIII: 279 Fn.) sowie des „Urteils einer unparteiischen Vernunft“ (KpV V: 110; vgl. KrV B841=A813) notwendig zueinander in Bezug stehen sollten: Aus der Pflichterfüllung ergibt sich im Prinzip nur die Würdigkeit, glücklich zu sein. Wer aus Pflicht handelt, kann zwar glücklich werden – diese Glückseligkeit ist aber nur eine mit der moralischen Handlung kontingenterweise verbundene Nebenfolge. Kants Ethik scheint insofern nur die zufällige, nachträgliche Vereinbarkeit zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit zu vertreten. Dieser Anschein kann allerdings nicht sofort festgestellt werden, weil das höchste Gut –das ultimative Ziel menschlichen Handelns– von Kant als die der Sittlichkeit proportionierte Glückseligkeit konzipiert wird. Kants Ansicht, dass das höchste Gut nicht nur aus der Sittlichkeit sondern auch aus der ihr entsprechenden Glückseligkeit besteht, bildet einen großen Teil der Kritik an Kants Moralphilosophie. Diesem Vorwurf zufolge ist Kants Feststellung der inneren Verbundenheit von Moralität und Glückseligkeit nichts anderes als der Rückfall in eine eudämonistische Position oder in Heteronomie des moralisch bestimmten Willens¹. In der Literatur findet sich aber auch eine andere Auffassung, der zufolge die Lehre des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie eine positive Rolle spielt: Kants Konzeption des höchsten Guts sei jener Faktor, der erstens dem formalen Sittengesetz den materialen Inhalt bereitstelle (vgl. Silber 1963; Zeldin 1971; Wike 1994) und zweitens als Motivationsfaktor für die unablässige Befolgung des Sittengesetzes fungiere (vgl. Smith 1984; Zobrist 2008) sowie dessen wesentliche Funktion, drittens, darin bestehe, dass die Konzeption des höchsten Guts eine Perspektive auf die Etablierung einer Organisation tugendhafter Menschen eröffne (vgl. Yovel 1980; Reath 1988; Nenon 1997; Caswell 2006). Vor der Auseinandersetzung mit diesen Interpretationsansätzen soll zunächst erwogen werden, wie aus dem Sittengesetz, das den Willen abgesehen von allen Materien nur durch die Form des allgemeinen Gesetzes bestimmt, das höchste Gut hervorgehen kann. Zur Klärung dieser Frage soll das Konzept „moralisch bestimmter Wille“ wenigstens in Grundzügen erläutert werden. Denn dem Großteil der Vorwürfe scheint gerade ein Missverständnis dieses Konzepts zugrunde zu liegen. Der einflussreiche Vorwurf gegen Kants Lehre des höchsten Guts lässt sich zunächst in den Studien von H. Cohen und L.W. Beck ausmachen (Cohen 1910; Beck 1960). Daran schließen sich dann die Untersuchungen von J.G. Murphy, T. Auxter und T. Marshall u. a. an (vgl. Murphy 1966; Auxter 1979; Marshall 2000). In letzter Zeit kommt überwiegend eine andere Auffassung, welche für die positive Rolle der Lehre des höchsten Guts in der kantischen Moralphilosophie plädiert, zum Tragen. Jedoch scheinen die umstrittenen Problematiken bezüglich des höchsten Guts noch nicht ausreichend geklärt worden zu sein. Aus Gründen des Umfangs kann jedoch auf die jeweiligen Interpretationsrichtungen hier nicht näher eingegangen werden. In diesem Kapitel soll nur die Plausibilität der Ansätze, die sich in der bisherigen Literatur finden, durch eine sorgfältige Textlektüre überprüft werden.
1 Verhältnis von Moralität und Glückseligkeit
145
Der Anspruch des Sittengesetzes, nur der gesetzestauglichen Form der Maxime Rechnung zu tragen, wird oft so verstanden, dass der durch das Sittengesetz bestimmte Wille inhaltlos oder leer ist. Die Berücksichtigung der allgemeinen Form der Maxime heißt aber nicht, dass alle Materie des Willens aus einer als moralisch qualifizierten Maxime verbannt ist. Ausgangspunkt des moralischen Handelns ist zwar der Wille eines vernunftbegabten Wesens im Allgemeinen, jedoch ergibt sich der Sollens-Charakter des Moralgesetzes erst aus seinem Bezug auf die „mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen affizierten“ (KpV V: 32) vernünftigen Wesen. Reine Vernunftwesen haben kein Sollen, weil sie nicht befähigt sind, den der Moral widerstreitenden Maximen zu folgen. Sie sind ebenso wenig der Glückseligkeit bedürftig, weil sie selbstgenügsam sind. Im Gegensatz zu solchen vollkommen vernünftigen Wesen darf für endliche Vernunftwesen die Glückseligkeit als ein „natürlicher Zweck“ im moralphilosophischen Kontext nicht unberücksichtigt bleiben. An dieser Stelle gilt zu bestätigen: Häufig wird Kants Moralphilosophie an der Vorstellung gemessen, dass das Sittengesetz dem Subjekt vorschreibt, auf die Verfolgung der neigungsbedingten Zwecke zu verzichten. Einer solchen Auffassung ist nun entgegenzuhalten, dass das Sittengesetz als Bedingung dient, auf die sich die Maxime für das Glückseligkeitsstreben einschränkt und sich dadurch auf dieses Streben als solches nicht verzichten lässt. Kants Moralphilosophie ist nicht auf eine Anthropologie gegründet, dennoch ist der Anwendungsbereich stets die conditio humana. In einer Textstelle der KpV wird z. B. erörtert, auf welche Weise sich die Plicht der Wohltätigkeit aus der Maxime der eigenen Glückseligkeit ergibt: Wenn die auf die eigene Glückseligkeit bezogene Maxime, die jeder aufgrund seiner Bedürftigkeit hat, auf die Tauglichkeit zu einem allgemeinen Gesetz eingeschränkt wird, dann entsteht eine moralische Maxime, sich die Glückseligkeit anderer zum Zweck zu machen (vgl. KpV V: 35). In den vorangegangenen Kapiteln wird nun herausgestellt, dass die moralischen Zwecke, die grundsätzlich von der Naturordnung unabhängig sind, sowie die von der Natur abhängigen Zwecke der Glückseligkeit nicht völlig miteinander vereinbar sein können. Das Ergebnis macht Kants Konzeption des höchsten Guts, welche die notwendige Verbindung von Moralität und Glückseligkeit in sich enthält, problematisch.Vor diesem Hintergrund soll jene Frage im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung stehen, inwieweit die Moralität und die Glückseligkeit zu einer a priori geltenden synthetischen Einheit, die ihrerseits die Unreduzierbarkeit einer Komponente auf die andere demonstriert, verknüpft werden können. Zu diesem Zweck soll im Folgenden Kants Auffassung des höchsten Guts unter drei Gesichtspunkten, die sich letztlich als miteinander verknüpfte erweisen, erörtert werden: „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (KpV V: 108), der Endzweck, welchen der Menschheit das Sittengesetz
146
1 Verhältnis von Moralität und Glückseligkeit
auferlegt² (vgl. KU V: 451) und der Gegenstand der Hoffnung (vgl. KrV B833 – 4=A805 – 6). Während der Textanalyse möchte ich kurz den Blick auf die Frage nach der Realisierbarkeit des höchsten Guts in der Sinnenwelt lenken, um welche in der angelsächsischen Literatur eine andauernde Kontroverse existiert. Diese Frage wird in der Forschungsliteratur auf zweierlei Weise formuliert: 1. Wo (in der Sinnenwelt oder in der künftigen Welt) kann das höchste Gut in seiner vollständigen Gestalt verwirklicht werden und 2. ob und wie kann diese Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts als für uns verbindlich betrachtet werden. Die zweite Fragestellung legt die Annahme nahe, dass ein Zweck erst dann ernsthaft angestrebt wird, wenn man ihn auch für tatsächlich realisierbar hält. Es ist allerdings zu fragen: Wäre das höchste Gut ein unrealisierbarer Zustand, würde dann das Gebot zur Verwirklichung dieses Zustandes notwendigerweise für uns seine Verbindlichkeit verlieren? Durch die begriffliche Erörterung der Grundzüge der praktischen Idee lässt sich zeigen, dass die oben skizzierten Fragen auf eine adäquate Weise wieder formuliert werden müssen. Dabei lässt sich die grundlegende Meinung, die Postulatenlehre bzw. die religionsphilosophischen Überlegungen würden kein gerechtfertigtes Bestandstück der Moralphilosophie sein, als problematisch erweisen³. Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dieser Problematik will ich mich mit einer damit zusammenhängenden Frage befassen, über die in der Kantforschung wenig Konsens zu bestehen scheint: In welchem Sinn ist
Das höchste Gut wird in der KU als der „durch die Befolgung des ersten [des Sittengesetzes] zu bewirkende[r] Endzweck in der Welt“ (KU V: 451) bestimmt. Die Bezeichnung des höchsten Guts als eines Endzwecks sollte sorgfältig formuliert werden, weil der Terminus „Endzweck“ im Rahmen der kantischen Argumentation mit vielen verschiedenen Prädikaten auftritt, welche jeweils einen eigenen Gegenstandsbereich bezeichnen: Beispielsweise wird „der Endzweck der Schöpfung“ als die aus der noumenalen Perspektive betrachtete Menschheit beschrieben. In den Ausdrücke wie „ Endzweck vom Dasein aller Dinge“ (KU V: 447), „Endzweck der Welt“ (KU V: 449 Fn.), „Endzweck vom Dasein einer Welt“ (KU V: 550) oder „Endzweck der Natur“ (KU V: 370, 454) tritt die moralische Seite des Menschen zutage. Dann stellt sich aber die Frage, wie sich der moralische Mensch als „Endzweck der Schöpfung“ zum höchsten Gut als Endzweck, das durch die Befolgung des Sittengesetzes bewirkt wird, verhält. Ein Lösungsansatz findet sich in einer Fußnote der KU, in welcher die Menschheit als unter dem Sittengesetz stehende menschliche Gattung bestimmt wird. Daraus folgt: Das höchste Gut als Endzweck ist nichts anderes als eine Welt, zu deren Verwirklichung jede moralische Person durch das Sittengesetz verpflichtet ist. Diese Frage bedarf zwar einer sorgfältigen Behandlung, es gilt jedoch festzuhalten, dass die Moral keineswegs der Religion bedarf, um die Pflicht zu erkennen und sie zu befolgen. Kants Ansicht ist weit entfernt davon, den Glauben an Gott als Bedingung für die Sinnhaftigkeit und die Motivationskraft des Sittengesetzes zu setzen. Dennoch führe die Moral „unausbleiblich zur Religion“ (RGV VI: 8 Fn.) Im Laufe der Untersuchung sollen der Status wie die Rollen des moralischen Glaubens näher geklärt werden.
1 Verhältnis von Moralität und Glückseligkeit
147
eigentlich die das höchste Gut ausmachende Glückseligkeit zu verstehen? Hierdurch wird sich klären lassen, wie eine Welt aussieht, in der die Idee des höchsten Guts annähernd bzw. vollständig verwirklicht ist. Welche Art von Welt kann durch das Ganze der am moralischen Gesetz orientierten Menschen „wohl, durch die praktische Vernunft geleitet, erschaffen“ (RGV VI: 5) werden?
2 Gründe für den notwendigen Einschluss der Glückseligkeit in das Konzept des höchsten Guts 2.1 Heteronomie bei der Willensbestimmung? Die Idee der moralisch notwendigen Verknüpfung von Sittlichkeit und Glückseligkeit basiere auf dem „Urteil einer unparteiischen Vernunft“ (KpV V: 110; meine Herv.) und bestehe mit „dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens“ (KpV V: 110; meine Herv.) zusammen. Darüber hinaus sei in der Idee der reinen praktischen Vernunft „das System der Sinnlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich […] verbunden“ (KrV B837=A809)⁴. Im jeweiligen Kontext, in den die einschlägigen Textstellen eingebettet sind, richtet sich Kants Augenmerk stets auf die Menschen als die unter dem Freiheitsgesetz stehenden sinnlichen Wesen. Vor diesem Hintergrund wird das höchste Gut lediglich als ein „Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen“ (KpV V: 110; meine Herv.) gekennzeichnet. Das moralische Gesetz, das seinerseits von allen subjektiven Zwecken absieht, bezieht sich jedoch unvermeidlich auf die durch die Natur bedingten Zwecke, wenn es auf den Menschen als vernunftbegabtes Sinnenwesen angewandt wird. Da die Zwecke, die wir mit der natürlichen Befindlichkeit schon gegeben haben, durch die Glückseligkeit zusammengefasst werden, wird das Sittengesetz zunächst auf die Maxime der eigenen Glückseligkeit angewandt. Entgegen Kants Konzeption des höchsten Guts wendet L.W. Beck nun ein, dass es bloß „an object which is not exclusively moral“ (Beck 1960, S. 244) ist, welches „only under the human limitation“ eingeführt wird (Beck 1960, S. 244). Seine Kritik ist insofern berechtigt, als die Glückseligkeit aufgrund des unausweichlichen Faktums der menschlichen Bedürftigkeit in das höchste Gut hereingenommen wird. Jedoch scheint Beck den Bereich der kantischen Moral auf die formale Gesetzgebung, die sich ihrerseits nur auf reine Vernunftwesen bezieht, einzuschränken und somit keinen weiteren Schritt zur materialen Zwecksetzung für endliche Vernunftwesen in Erwägung zu ziehen. Eng damit verknüpft ist eine
Einschlägig hierzu ist die folgende Stelle: „Um dieses [das vollständige Gute] zu vollenden, muss der, so sich als der Glückseligkeit nicht unwert verhalten hatte, hoffen können, ihrer teilhaftig zu werden. Selbst die von aller Privatabsicht freie Vernunft, wenn sie [Vernunft], ohne dabei ein eigenes Interesse in Betracht zu ziehen, sich in die Stelle eines Wesens setzte, das alle Glückseligkeit anderen auszuteilen hätte, kann nicht anders urteilen: denn in der praktischen Idee sind beide Stücke [‐Tugend und Glückseligkeit] wesentlich verbunden“ (KrV A813=B841; meine Herv.).
2.2 Das höchste Gutals „unbedingte Totalität“
149
Kritik von H. Cohen, der durch die Einführung des höchsten Guts als des „Gegenstand[es] der reinen praktischen Vernunft“ (KpV V: 108) die Formalität des Sittengesetzes gefährdet sieht (vgl. Cohen 1910, S. 346 – 7, 361). Cohen räumt zwar in Übereinstimmung mit Kant ein, dass der menschliche Wille nicht bestimmt werden könne, wenn er nicht auf einen Gegenstand gerichtet würde. Dementsprechend erfordere das moralisch bestimmte Wollen einen Gegenstand, auf den es sich ausrichtet. Jedoch müsste dieser Gegenstand derjenige sein, der dem Willen einen auf dem Sittengesetz beruhenden apriorischen Inhalt bereitstellen kann, um die Heteronomie bei der Willensbestimmung zu vermeiden. Der Gegenstand, der diese Voraussetzung erfüllen kann, ist nach Cohen nichts anderes als das „Sittengesetz selbst“ sowie der „bloße formale Gedanke einer Gemeinschaft autonomer Wesen“ (Cohen 1910, S. 352). Um sich gegen solche Einwände zu wehren, erscheint es zunächst angebracht, zu erläutern, in welchem Sinne das höchste Gut als ein notwendiges Objekt des moralisch bestimmten Wollens zu begreifen ist. Ein Ansatzpunkt zur Klärung dieser Frage lässt sich aus der Bezeichnung des höchsten Guts als der „unbedingte[n] Totalität des G e g e n s t a n d e s der reinen praktischen Vernunft“ (KpV V: 108; meine Herv.), die zur „Antinomie der reinen praktischen Vernunft“ führt, entnehmen⁵. Die Schwierigkeiten, die sich für Interpreten aus der gerade zitierten Formulierung des höchsten Guts ergeben, haben ihren Grund darin, jene Frage nicht ausreichend beantwortet zu haben, was man unter dem „Gegenstand der reinen praktischen Vernunft“ verstehen soll. Der Gegenstand der praktischen Vernunft darf nämlich nicht wie ein Gegenstand der theoretischen Erkenntnis, der in Raum und Zeit gegeben ist, gedacht werden. Zur terminologischen Klärung des „Gegenstand[s] der praktischen Vernunft“ werde ich zunächst auf das zweite Hauptstück der Analytik der KpV eingehen.
2.2 Das höchste Gut als „unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ Am Anfang des zweiten Hauptstücks der Analytik der KpV wird „der Gegenstand der praktischen Vernunft“ als „die Vorstellung eines Objekts als einer möglichen Wirkung
Friedmann (Friedmann 1984) ist z. B. der Ansicht, dass Kant an dieser Stelle nicht von reiner praktischer Vernunft sondern von bloßer praktischer Vernunft sprechen sollte. Denn der Einschluss der Glückseligkeit in das höchste Gut kann – ihm zufolge – nichts mit der reinen praktischen Vernunft zu tun haben. Dieser eine Textänderung erzwingenden Interpretation liegt eine nicht ausreichende Deutung des reinen Wollens zugrunde, welche unterstellt, die reine praktische Vernunft beziehe sich keineswegs auf die Materie des Wollens.
150
2 Gründe für den notwendigen Einschluss der Glückseligkeit
durch Freiheit“ (KpV V: 57) definiert⁶. Zum angemessenen Verständnis dieser Definition wäre sinnvoll, diesen Fall mit dem Gegenstand der theoretischen Erkenntnis zu vergleichen. In der theoretischen Erkenntnis erweist sich der Gegenstand nicht bloß als etwas Gegebenes, sondern als etwas Geschaffenes, indem das Mannigfaltige der in Raum und Zeit gegebenen Anschauungen durch reine Verstandesbegriffe (d. h. Kategorien) synthetisiert wird (vgl. KrV B137, A494=B522). Korrespondierend dazu hat die praktische Vernunft einen eigenen Gegenstandsbereich, welcher auf ihrer Konstitutionsleistung von Gegenständlichkeit basiert. Gemessen an der oben zitierten Definition ist der Gegenstand der praktischen Vernunft als ein Sachverhalt zu verstehen, der als eine mögliche Folge der Handlungsabsichten gedacht werden kann. Der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft wird nun durch die Frage entschieden, ob wir die Handlung, die auf die Verwirklichung des jeweiligen Gegenstandes abzielt, wollen können, d. h., ob diese Handlung auf einer verallgemeinerbaren Maxime beruht⁷. Dabei gilt zu beachten, dass die Beurteilung des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft nicht von der Frage abhängt, ob wir den entsprechenden Sachverhalt unter unseren physischen Umständen tatsächlich erreichen können (vgl. KpV V: 57). In der praktischen Erkenntnis kann nämlich daher der adäquate Sachverhalt nicht in der Erfahrung gegeben sein. Auf der Basis dieser Deutung lässt sich „die unbedingte Totalität des G e g e n s t a n d e s der reinen praktischen Vernunft“ (KpV V: 108) als ein Sachverhalt deuten, der aus dem vom moralischen Gesetz bestimmten Handeln resultiert. Dieser Gegenstand hat ferner aufgrund der dialektischen Natur der reinen Vernunft einen Totalitätscharakter. Wie bereits in der Dialektik der KrV erklärt wird, zeigt sich die reine Vernunft durch ihre Suche nach einem Unbedingten aus. Die reine praktische Vernunft strebt ebenfalls, sofern sie auch reine Vernunft ist, nach ihrem Unbedingten. Da die praktische Vernunft mit dem Handeln zu tun hat, muss deren Unbedingtes als ein letztes Ziel des Handelns verstanden werden, unter dem
Der zu diskutierende Absatz lautet wie folgt: „Unter einem Begriff eines Gegenstandes der praktischen Vernunft verstehe ich die Vorstellung eines Objekts als einer möglichen Wirkung durch Freiheit. […] [D]ie Beurteilung, ob etwas ein Gegenstand der r e i n e n praktischen Vernunft sei oder nicht, ist nur die Unterscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, diejenige Handlung z u w o l l e n , wodurch, wenn wir das Vermögen dazu hätten (worüber die Erfahrung urteilen muss), ein gewisses Objekt verwirklicht werden würde. […] Dagegen, wenn das Gesetz a priori als der Bestimmungsgrund der Handlung, […], betrachtet werden kann, so ist das Urteil, ob etwas ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sei oder nicht, von der Vergleichung mit unserem physischen Vermögen ganz unabhängig, und die Frage ist nur, ob wir eine Handlung, die auf die Existenz eines Objekts gerichtet ist, w o l l e n dürfen, wenn dieses in unserer Gewalt wäre“ (KpV V: 57– 8; meine Herv.). Die Frage, was unter „Wollen-Können“ zu verstehen ist, wird im Abschnitt 3.1 des viertel Kapitels eingehend geklärt. An dieser Stelle wurde nur das Ergebnis zusammengefasst.
2.2 Das höchste Gutals „unbedingte Totalität“
151
alle anderen Zwecke des moralisch erlaubten sowie beförderten Handelns nach einem Prinzip subsumiert werden können. Dieses Ziel ist als die systematische Totalität aller sich aufgrund des Sittengesetzes ergebenden Zwecke aufzufassen⁸. Für ein endliches Vernunftwesen ist ein solcher Zweck nichts anderes als ein auf der höheren Ebene angesiedelter Zweck gedacht, in welchem sittliche Zwecke und die auf Glückseligkeit ausgerichteten Zwecke systematisch verknüpft werden: Glückseligkeit und Moralität stellen für endliche Vernunftwesen jeweils ihren eigenen Zweckbereich zur Verfügung. Innerhalb dieser beiden Zweckordnungen sind Handlungen zu bestimmen, die als Mittel zur Verwirklichung dieser Zwecke dienen⁹. Dann stellt sich die Frage: Auf welche Weise kann die Erkenntnis dessen, was hinsichtlich des glücklichen Lebens für gut zu halten ist, und die Erkenntnis dessen, was als moralisch gut zu beurteilen ist, miteinander kombiniert werden? Kant konstatiert, dass die praktische Erkenntnis des moralisch-Gesollten der Erkenntnis dem pragmatisch-Guten gegenüber stets die Priorität hat. Dies führt uns zu der weiteren Frage, warum der Moralität bei jeglicher Verknüpfung Vorrang gewährt soll. Diese Frage lässt sich vorläufig in Form einer These beantworten: Die Moral hat deshalb Vorrang, weil sie allein dazu befähig ist, ein systematisches Ganzes im eigentlichen Sinne zu bilden¹⁰. Diese Charakteristik lässt sich durch den Verweis darauf verdeutlichen, dass durch die Idee des höchsten Guts über die formale Pflichterwägung hinaus eine materiale Erwägung mit dem Ziel der Gestaltung
Werden die verschiedenen Bestimmungen des höchsten Guts berücksichtigt, erweckt dies den Eindruck, dass Kant hier zwischen dem Begriff „Gegenstand“ bzw. „Objekt“ der reinen praktischen Vernunft und ihrem „Zweck“ keinen inhaltlichen Unterschied ausmacht. Das höchste Gut wird einerseits als „der ganze Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft“ (KpV V: 109) bzw. als „das ganze Objekt der reinen praktischen Vernunft“ Zweck der praktischen Vernunft“ (KpV V: 119) gekennzeichnet. Andererseits wird es als „der ganze Zweck der praktischen Vernunft“ (KpV V: 133) bestimmt. In einigen Textstellen verwendet Kant sogar die Ausdrücke „Zweck“ und „Gegenstand bzw. Objekt“ gleichzeitig als Prädikat des höchsten Guts (vgl. KpV V: 115, 134). Diese Sichtweise stützt sich auf Kants Ausführungen zum zweiten Lehrsatz der Analytik der KpV. Weitere eindeutige Belegstellen dafür finden sich im Paragraph 83 der KU, in welchem die Glückseligkeit als der „Inbegriff aller durch die Natur außer und in dem Menschen möglichen Zwecke“ (KU V: 430) sowie als „die Materie aller seiner Zwecke auf Erden“(KU V: 430) bestimmt wird. Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Aggregat und System siehe KrV B 673=A645, B 860. Der wesentlichen Charakteristik des Systems folgend müssten alle Teile des Systems „nach notwendigen Gesetzen“ miteinander zusammenhängen (vgl. KrV B673=A645). Überdies müsste das System „die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“ (KrV B860=A832) bilden. Die einschlägige Idee soll ein a priori bestimmter „Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen“ (KrV B860=A832) sein. In den vorangegangenen Kapiteln wurde bereits geklärt, aus welchen Gründen das Prinzip der eigenen Glückseligkeit allem Anschein nach trotzdem kein System der Maxime bzw. Zwecke stiften kann.
152
2 Gründe für den notwendigen Einschluss der Glückseligkeit
einer moralischen Welt angestellt wird. Ein tragfähiger Anhaltspunkt hierfür lässt sich aus Kants Erörterungen zum höchsten Gut als Endzweck entnehmen. Durch die Klärung des Endzweckcharakters des höchsten Guts lässt sich die wichtigste Funktion des höchsten Guts ausweisen, als die letzte Orientierung hin auf unser Handeln in der Welt.
2.3 Das höchste Gut als „Besondere[r] Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ Ausgehend von dieser Problemlage erweckt Kants Argumentation in der Vorrede zur ersten Auflage der RGV unser Interesse. Denn das höchste Gut wird dort als Antwort auf die Frage, mit der sich die Vernunft unvermeidlich konfrontiert, dargelegt: „Was [kommt] dann aus diesem unseren Rechthandeln heraus?“ (RGV VI: 5) Es wird überdies aufgrund „unserer natürlichen Bedürfnisse […] zu allem unseren Tun und Lassen im Ganzen genommen irgend einen Endzweck […] zu denken“ (RGV VI: 5; meine Herv.), eingeführt. Das höchste Gut ist ein Zweck, welcher kein Bestimmungsgrund des Willens sondern die Folge der durch das Sittengesetz bestimmten Willkür ist. Dieser Zweck ist zwar nur „eine Idee von einem Objekt“, jedoch ist diese praktisch betrachtet nicht leer: Die Idee fungiert als ein „besonderer Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ (RGV VI: 5), in dem sowohl die naturgesetzlich bedingten als auch moralgesetzlich bestimmten Zwecke verbunden sind und sich zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen lassen. Zu beachten ist dabei, dass das systematische Ganze nicht nur die intrasubjektive Dimension der Einzelfälle sondern auch die intersubjektive Dimension der Gesamtfälle betrifft: Alle einzelnen Zwecke müssen in letzter Instanz unter dem Sittengesetz subsumiert werden, wodurch wiederum ein sittlicher Zweck entsteht, der mit den Zwecken aller anderen vernunftbegabten Wesen übereinstimmt. Auf der Grundlage dieser Deutung lässt sich Kants Aussage leicht verstehen, dass die Zahl der Pflichten mit der Pflicht, das höchste Gut zu befördern, nicht vermehrt wird (vgl. RGV VI: 5). Die Erfüllung der Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts biete nur eine einheitliche Perspektive an, unter der alle beliebigen Pflichten zu einem Ganzen zusammengefasst werden können. In diesem Sinne ist das höchste Gut als der „letzte Gegenstand alles Verhältnisses“ (KpV V: 129) zu betrachten. Wenn es aus dieser Perspektive bei der beliebigen Pflichterfüllung zugleich auch um das unablässige und zielstrebige Hinwirken auf eine Welt geht, dann ist die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts als eine selbstständige Pflicht zu betrachten.
2.3 Das höchste Gut als „Besondere[r] Beziehungspunkt“
153
Kants Ausführungen zum höchsten Gut sind zwar in den jeweiligen Werken nicht gleich¹¹. Dennoch kann man in den verschiedenen Beschreibungsformen zwei Gemeinsamkeiten identifizieren: Die erste ist, dass das höchste Gut ohne Ausnahme als die Verknüpfung von Sittlichkeit (die Würdigkeit, glücklich zu sein) mit Glückseligkeit konzipiert ist. Die zweite ist, dass die Erörterung des höchsten Guts zu weiteren Überlegungen hinsichtlich der notwendigen Bedingungen für dessen Möglichkeit führt. Dabei ist bei der Konzeption des höchsten Guts die Frage auschlaggebend, wie man denken kann, dass die Natur so beschaffen ist, dass sie angemessen für die Verwirklichung einer moralischen Idee ist. Trifft diese Beobachtung zu, sollte es kein Zufall sein, dass die Konzeption des höchsten Guts in der letzten Hälfte der drei Kritiken eingeführt wurde, in welchem die Realisierbarkeit der Ideen der praktischen Vernunft thematisiert wird. Das moralische Gesetz gebietet uns die Sinnenwelt, soweit möglich, entsprechend der moralischen Idee zu gestalten, auch wenn die Zurüstung der Natur für die Verwirklichung der praktischen Idee unzulänglich ist. Kant stellt fest, dass trotz „eine[r] unübersehbare[n] Kluft“ (KU V: 175) zwischen dem Gebiet des Naturgesetzes und dem der Freiheit zwischen den beiden vermittelt werden müsse und zwar dahingehend, dass letzteres notwendigerweise auf das erstere Einfluss ausübe. Aus dieser Feststellung ergibt sich die Frage, wie nun diese Vermittlung möglich sei. Ein Lösungsansatz hierzu lässt sich in folgenden Zitaten ausmachen: [D]er Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muss folglich auch so gedacht werden können, dass die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zweck nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme. Also muss es doch einen Grund der E i n h e i t des Übersinnlichen, welches der Natur zu Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben, wovon der Begriff, wenn er gleich weder theoretisch noch praktisch zu einem Erkenntnisse desselben gelangt , mithin kein eigentümliches Gebiet hat, dennoch den Übergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen [‐der Natur], zu der nach Prinzipien der anderen [‐der Freiheit], möglich macht (KU V: 176; meine Herv.). Es kann also der Moral nicht gleichgütig sein, ob sie sich den Begriff von einem Endzweck aller Dinge […] mache, oder nicht: weil dadurch allein der Verbindung der Zweck-
In der KrV wird das höchste Gut in zweierlei Weise angegeben, nämlich als das höchste ursprüngliche Gut (KrV B839=A811), welches als das die vollkommene Sittlichkeit und Seligkeit in sich besitzende Wesen [d. h. Gott] gilt, als auch das höchste abgeleitete Gut, welches „die moralische Welt“ (KrV B836=A808) meint, in welcher die Glückseligkeit mit der Sittlichkeit in einem proportionierten Verhältnis steht. In der KpV wird das höchste Gut „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (KpV V: 108) genannt, die aufgrund des dialektischen Charakters der reinen praktischen Vernunft entsteht; in der KU wird es als der „durch die Befolgung des ersten [des Sittengesetzes] zu bewirkende[r] Endzweck in der Welt“ (KU V: 451) bezeichnet.
154
2 Gründe für den notwendigen Einschluss der Glückseligkeit
mäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können, objektiv praktische Realität verschafft werden kann (RGV VI: 5).
Hier handelt es sich um die Notwendigkeit für die Einheit der Kausalität der Freiheit mit der Naturkausalität. Im ersten Zitat fällt nun auf, dass eine derartige Einheit bzw. Vermittlung als „Übergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen zu der nach Prinzipien der anderen“ (KU V:176; meine Herv.) bezeichnet wird. Es ist zu fragen, warum dieser Übergang als etwas auf der Ebene des Denkens Geschehendes konzipiert wird. Von Belang ist die Beobachtung, dass sich diese zweckorientierte Betrachtungsweise der Natur nicht auf unsere theoretischen Naturerkenntnisse gründet. Vielmehr ergibt sie sich aus dem Standpunkt des moralischen Handelnden, der den durch das Sittengesetz auferlegten Zweck verwirklichen will. Die teleologische Betrachtung der Welt ermöglicht dem Handelnden die Welt bzw. die Natur als ein System nach Zwecke anzusehen. Dadurch werden die durch das Freiheitsgesetz ebenso wie durch das Naturgesetz möglichen Zwecke in einen Zusammenhang gebracht. Die Konzeption des höchsten Guts als Endzweck sollte in diesem Kontext verortet werden. Zur Verdeutlichung dieses Ergebnisses muss die weitere Charakteristik des höchsten Guts als Endzweck, nämlich die Vorstellung von einer Welt, erläutert werden. Die Leitfrage zur Weiterführung dieser Überlegung lautet: Was ist der Inhalt dieses Endzwecks? Durch die Klärung dieser Frage wird sich die Eigenart dieses Zwecks als das systematische Ganze näher bestimmen lassen. Kants Antwort auf die oben gestellte Frage lässt sich ansatzweise in einer Textstelle aus der RGV auffinden (vgl. RGV VI: 5). Hier liegt die Annahme nahe, dass hinter der Idee des höchsten Guts der Gedanke einer nach dem Plan der praktischen Vernunft erschaffenen Welt steht, in der die moralischen Forderungen in vollem Umfang realisiert sind¹². Die Auffassung des höchsten Guts als eine Welt stützt sich auf gute Textbelege. Ein deutlicher Beleg lässt sich beispielsweise im Begriff der „moralischen Welt“ aus dem Kanon der KrV ausmachen: Die moralische Welt ist diejenige Welt, in der die Sittlichkeit und die in ihr proportionierte Glückseligkeit notwendig miteinander verbunden sind, wenn sich die ganze
In dieser Textstelle führt Kant ein Gedanken-Experiment durch: „Setzt einen Menschen, der das moralische Gesetz verehrt und sich den Gedanken beifallen lässt […], welche Welt er wohl durch die praktische Vernunft geleitet erschaffen würde, wenn es in seinem Vermögen wäre, und zwar so, dass er sich selbst als Glied in dieselbe hineinsetzte, so würde er sie nicht allein gerade so wählen, als es jene moralische Idee vom höchsten Gut mit sich bringt, wenn ihm bloß die Wahl überlassen wäre, sondern er würde auch wollen, dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“ (RGV VI: 5; meine Herv.).
2.3 Das höchste Gut als „Besondere[r] Beziehungspunkt“
155
Menschheit dem moralischen Gesetz entsprechend verhält¹³. Eine weitere Belegstelle lässt sich der Dialektik der KpV entnehmen, in welcher anhand einer Unterscheidung des „höchste[n] Gut[s] in einer Person“ vom „höchste[n] Gut in einer möglichen Welt“ (KpV V: 110) das höchste Gut als eine Welt gekennzeichnet wird, die mit dem Reich Gottes in Analogie steht (vgl. KpV V: 128)¹⁴. Der Konzeption des höchsten Guts als einer Welt liegt der Gedanke zugrunde, dass jeder Handelnde über die seiner geleisteten Sittlichkeit entsprechende individuelle Glückseligkeit hinaus eine moralische Welt herstellen muss. Diese Erweiterung stützt sich auf die Beobachtung, dass das höchste Gut in der KU im Licht des „Weltwesen[s]“, nämlich des „mit anderen Dingen in der Welt verbundene[n] Wesen[s]“ (KU V: 447), als das „Weltbeste“ (KU V: 450) gekennzeichnet wird. Der moralisch Handelnde, der durch das Sittengesetz zur Realisierung des höchsten Guts verpflichtet ist, wird nicht als ein isoliertes Wesen sondern als das zu einer Gesellschaft Gehörige angesehen¹⁵. Bereits in der KrV gilt die Befolgung des Sittengesetzes von allen vernünftigen Wesen als die notwendige Bedingung zur Etablierung einer moralischen Welt. Diese Bedingung wird in der RGV als „die Vereinigung der Menschen zu einem ethischen gemeinen Wesen“ noch ausführlicher bestimmt. Bemerkenswert ist dabei, dass der Adressat dieser Pflicht die ganze menschliche Gattung ist¹⁶. Diese Pflicht zielt darauf ab, „auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe“ (RGV VI: 98; meine Herv.). Indem jeder Tugendhafte mit anderen Tugendhaften zu einem ethischen Gemeinwesen vereinigt wird, kann „das höchst[e] gemeinschaftlich[e] Gut“ befördert werden (RGV VI: 98). Dies verweist darauf, dass sich das höchste Gut auf das gemeinschaftliche Gut der Gattung ausrichtet, an dem alle teilhaben und auf das alle angewiesen sind. Dabei sei notiert, dass bereits in der GMS die Ge-
Dabei ist der Gedanke bemerkenswert, dass diese Befolgung des Sittengesetzes von allen vernünftigen Wesen „die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit“ ausmacht (vgl. KrV B 837=A809). Auf die Frage, wie dieser Gedanke aufgefasst werden soll, gehe ich im nächsten Abschnitt ein. Die entsprechende Textstelle lautet folgendermaßen: „Aber das moralische Gesetz für sich verheißt doch keine Glückseligkeit; […]. Die christliche Sittenlehre ergänzt nun diesen Mangel (des zweiten unentbehrlichen Bestandstücks des höchsten Guts [Glückseligkeit]) durch die Darstellung der Welt, darin vernünftige Wesen sich dem sittlichen Gesetze von ganzer Seele weihen, als eines Reichs Gottes, […]“ (KpV V: 128; meine Herv.). Aus einer Textstelle der RGV wird dieser Aspekt besonders gut ersichtlich: „Dieses [das ethische gemeine Wesen] kann mitten in einem politischen gemeinen Wesen und sogar aus allen Gliedern desselben bestehen“ (RGV VI: 94; meine Herv.). „Der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens [ist] immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen“ (RGV VI: 96; meine Herv.).
156
2 Gründe für den notwendigen Einschluss der Glückseligkeit
meinschaftlichkeit im Zusammenhang mit dem Reich der Zwecke erwähnt wird. Das Reich der Zwecke wird als eine „systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze“ (GMS IV: 433; meine Herv.) bestimmt¹⁷. Damit ist gemeint, dass sich das moralische Wollen und Handeln einer einzelnen Person stets auf die Gemeinschaft aller vernünftigen Wesen beziehen soll. Daraus wird ersichtlich, dass das höchste Gut weder mit einem bloßen individuellen Gut noch mit einem sozialen Gut gleichgesetzt werden kann: Es bleibt immer ein gemeinschaftliches Gut. Beachtenswert ist, dass das höchste Gut als eine moralische Welt nicht direkt mit dem ethischen Gemeinwesen gleichgesetzt werden darf. Ein entscheidendes Argument dafür ist, dass sich Kants Blick im Rahmen seiner Ausführungen zum ethischen Gemeinwesen kaum die Glückseligkeit streift. Das ethische Gemeinwesen wird als „ein ethischer Staat d.i. ein Reich der Tugend“ (RGV VI: 94– 5), als „allgemeine Republik nach Tugendgesetzen“ (RGV VI: 98) und als „Gesellschaft nach Tugendgesetzen“(RGV VI: 94) gefasst. Die Frage, ob die der Sittlichkeit angemessene Glückseligkeit in der Tat in diesem ‚Staat‘ zustande kommen kann, bleibt offen. Man könnte jedoch argumentieren, dass solche Bezeichnungen allein nicht als Gegenargument ausreichen. Dennoch lässt sich anhand Kants Auffassung des ethischen Gemeinwesens als der „Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“ (RGV VI: 93; meine Herv.) festhalten, dass das ethische Gemeinwesen zwar die notwendige Bedingung zur Verwirklichung des höchsten Guts ausmacht, allerdings nicht das höchste Gut als solches im Sinne einer nach der Maßgabe der Sittlichkeit proportionierten Glückseligkeit in der Welt. Als weiteres Gegenargument mag dienen, dass das ethische Gemeinwesen im Prinzip ohne Mitwirkung Gottes in der gegenwärtigen (d. h. unter Naturgesetzen stehenden) Welt, in der wir bereits leben, erreichbar ist. Im Gegensatz dazu ist die moralische Welt, in der eine nach der Maßgabe geleisteter Moralität entsprechende Glückseligkeit zustande
Es ist umstritten, ob Kants Konzeption des Reichs der Zwecke mit dem höchsten Gut gleichgesetzt werden kann. Der Zweifel an einer Gleichsetzung beruht auf der Beobachtung, dass bei der Konzeption des Reichs der Zwecke kein Prinzip für die Austeilung der Glückseligkeit leitend ist (vgl. Zuckert 2013) Diese Frage bedürfte allerdings einer sorgfältigen Betrachtung, die an dieser Stelle aber aus Gründen des Umfangs nicht durchgeführt werden kann. Im Folgenden skizziere ich nur die Grundzüge meines Standpunkts: Die Idee des Reichs der Zwecke steht zwar in sachlich enger Beziehung zur Idee der moralischen Welt, allerdings ist sie nicht gleichbedeutend mit der Idee der moralischen Welt. Genau gesagt, entspricht sie der Idee des ethischen Gemeinwesens als der notwendigen Bedingung zur Verwirklichung des höchsten Guts in der Welt. Die Forderung nach der Konstitution eines ethischen Gemeinwesens bzw. eines Reichs der Zwecke entsteht dadurch, dass die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts über die Dimension eines einzelnen Menschen hinaus in einer gesamtmenschheitlichen Dimension fortgesetzt wird.
2.3 Das höchste Gut als „Besondere[r] Beziehungspunkt“
157
kommt, nur eine intellektuelle, zukünftige Welt¹⁸. Die Konstitution eines ethischen Gemeinwesens in der Welt wird lediglich für „das kontinuierliche Fortschreiten und Annäherungen zum höchsten auf Erden mögliche Guten“ (RGV VI: 136; meine Herv.) benötigt.
Geismann vertritt die gleiche Auffassung und fügt hinzu, dass das ethische Gemeinwesen bloß als „das höchste sittliche Gut“ (RGV VI: 97, 122) anzusehen ist (vgl. Geismann 2000, S. 486).
3 Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts 3.1 Das höchste Gut als ein gemeinschaftliches Gut Um die Interpretation vom höchsten Gut als einem gemeinschaftlichen Gut zu vertiefen, werde ich mich im weiteren Verlauf einigen Textpassagen über die „allgemeine Glückseligkeit“ zuwenden: Um das höchste Gut, das sich als ein gemeinschaftliches Gut erweist, in die Wirklichkeit zu bringen, soll die Befolgung des Sittengesetzes auf der Ebene der ganzen Gattung geschehen. Dies erinnert nun an eine Textstelle aus der KrV, der zufolge die gemeinsame Befolgung des Sittengesetzes „die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit“ (KrV B837=A809) ist. Die Textstelle weist auf einen Zusammenhang zwischen dem gemeinschaftlichen Gut und der allgemeinen Glückseligkeit hin. Im Anschluss daran gilt zu berücksichtigen, dass „allgemeine Glückseligkeit“ bereits in der KrV der „Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens“ (KrV B879=A851; meine Herv.) bestimmt ist, die durch „allgemeine Ordnung und Eintracht“(KrV B879=A851) gesichert wird. Zwar beschränkt sich hier die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Adressatenkreis, nämlich das wissenschaftliche Gemeinwesen, es lässt sich jedoch Kants Grundgedanke auffinden, dass „die allgemeine Ordnung und Eintracht“ in einem engen Bezug zum allgemeinen Wohlstand des gemeinen Wesens stehen. Kants Ansicht in der Schlusspassage der Architektonik, der zufolge „der Hauptzweck der menschlichen Vernunft“ in der allgemeinen Glückseligkeit bestehe (vgl. KrV B879=A851), wirkt auf den ersten Blick irritierend: Denn die Glückseligkeit kann – wie im Kanon argumentiert wird – keineswegs das letzte Ziel menschlichen Handelns sein, sondern muss notwendig ins Verhältnis zur „Würdigkeit, glücklich zu sein“ gesetzt werden.Wenn man die Argumentation aus dem Kanon ernst nimmt, ergibt sich die Frage, was unter der allgemeinen Glückseligkeit als dem „Hauptzweck der menschlichen Vernunft“ (KrV B879=A851) zu verstehen ist. Es gilt darauf aufmerksam zu machen, dass die Glückseligkeit im Kanon mit einer einzigen Ausnahme durchgehend und ohne qualifizierenden Zusatz nur als „Glückseligkeit“ angeführt wird. Diese Beobachtung weist uns auf eine mögliche interpretatorische Strategie hin: Die allgemeine Glückseligkeit, die in der Architektonik zum Ausdruck kommt, kann durch die Deutung des hinzugefügten Attributs „allgemein“ erschlossen werden. Mit der allgemeinen Glückseligkeit ist m. E. eine zweifache Allgemeinheit gemeint: Sowohl eine allgemeingültige Glückseligkeit, deren Verwirklichung durch das Sittengesetz nicht nur erlaubt werden kann sondern auch befördert werden muss, als auch einen glücklichen Zustand der ganzen menschlichen
3.2 Der Ort der Verwirklichung des höchsten Guts
159
Gattung. Das Allgemeine besteht also im moralisch berechtigten Wohlergehen aller vernünftigen Wesen. In diesem Sinne bezieht sich die allgemeine Glückseligkeit zwar auf ein kollektives Wohl, jedoch nicht im Sinne des Utilitarismus, sondern als eine Wirkung der vom Sittengesetz bestimmten Freiheit. Die allgemeine Glückseligkeit, die in der Architektonik auftritt, ergibt m. E. mehr Sinn, wenn man sie an den im Kanon herausgestellten Begriff der „moralischen Welt“ anschließt. Die moralische Welt wird als ein „System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit“ (KrV B837=A809) konzipiert, d. h. als den unter der Bedingung des Sittengesetzes der gesamten Menschheit zukommende physischen Wohlstand. Die Verknüpfung der allgemeinen Glückseligkeit mit der moralischen Welt lässt sich auch durch die Beobachtung stützen, dass bereits im Kanon in der moralischen Welt „die dauerhafte Wohlfahrt der eigenen und zugleich anderer“ entsteht, wenn sich jeder nach dem Sittengesetz verhält und somit zur „Ursache der allgemeinen Glückseligkeit“ (KrV A809=B837) wird¹⁹. Diese Deutung lässt sich des Weiteren durch die folgenden aus der KU entnommenen Textstellen untermauern, in denen Kant ausdrücklich auf den engeren Zusammenhang zwischen der allgemeinen Glückseligkeit und dem gemeinschaftlichen Gut hinweist: [D]as Weltbeste,welches in der Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen mit der höchsten Bedingung des Guten an demselben, d.i. der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigen Sittlichkeit, besteht“ (KU V: 453; meine Herv.). Es soll damit auch nicht gesagt werden: es ist zur Sittlichkeit notwendig, die Glückseligkeit aller vernünftigen Weltwesen gemäß ihrer Moralität anzunehmen, sondern: es ist durch sie [‐Sittlichkeit] notwendig (KU V: 451 Fn.; meine Herv.).
3.2 Der Ort der Verwirklichung des höchsten Guts In der KrV wird das höchste Gut deshalb als „eine für uns künftige Welt“ (KrV B839=A811) betrachtet, weil die mit der praktizierten Sittlichkeit in einem pro In den Reflexionen der 70er-80er Jahre finden sich ferner deutliche Indizien für die allgemeine Glückseligkeit: In der Reflexion 6907 wird die allgemeine Glückseligkeit als etwas vom gemeinsamen Handeln abhängiges charakterisiert (R6907 XIX: 202; meine Herv.). In der Reflexion 6867 wird zudem die „nach allgemeinen Gesetzen der Freiheit“ in Einklang gebrachte Glückseligkeit als für etwas Allgemeingültiges gehalten (vgl. R6867 XIX: 186). In diesem Zusammenhang steht die allgemeine Glückseligkeit der „zufälligen Glückseligkeit“, die nur als „Natur- oder Glücksgabe“(R6867 XIX:186) gedacht wird, gegenüber. Die „unter der Bedingung eines allgemeingültigen Willens“ (R6989 XIX: 221) stehende Glückseligkeit ergibt sich nun erst dann, wenn ein Handelnder sein Streben nach Glückseligkeit auf die Bedingungen einschränkt, unter denen diese Bemühung „mit dem allgemeinen System einstimmig“ (R6989 XIX: 221) sein kann.
160
3 Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts
portionierten Verhältnis stehende Glückseligkeit durch die bloße Naturkausalität der Sinneswelt unmöglich zu entstehen ist. Zum Erreichen des höchsten Guts müsste überdies das Dasein Gottes, der die Verbindung zwischen dem System der Sittlichkeit und dem der Natur gewähren kann, postuliert werden. Vor diesem Hintergrund kreist die Diskussion in der Auseinandersetzung mit Kants Lehre des höchsten Guts insbesondere um die Frage, ob und wie die Pflicht, das höchste Gut zu befördern, für uns als verbindlich erachtet werden kann. Hinter dieser Fragestellung steckt der Gedanke, die Pflicht sei ein durch menschliche Fähigkeit vollständig zu bewerkstelligender Sachverhalt: Falls sich das höchste Gut als ein unrealisierbarer Zustand erweist, kann das Gebot zur Verwirklichung dieses Zustandes für uns Verbindlichkeit haben? Wenn ja, wie ist dies möglich? Diese Frage wird interessanterweise in der Literatur folgendermaßen umformuliert: Wo (d. h. in der jetzigen Welt, in der wir leben, oder in einer zukünftigen Welt) kann das höchste Gut in seiner vollständigen Gestalt verwirklicht werden? Zur Klärung dieser Frage scheint es angebracht, einen Überblick über den Literaturbestand vorauszuschicken. In der angelsächsischen Kant-Forschung etablierte sich aufgrund einer einflussreichen Deutung von J. Silber,welche die „transzendente“ und die „immanente“ Konzeption des höchsten Guts zum Thema hat (Silber 1959, S. 484– 5), der sog. Zwei-Konzeptionen-Ansatz²⁰: Nach der „transzendenten“ Konzeption des höchsten Guts ist das höchste Gut dasjenige Ziel, zu dessen vollständiger Verwirklichung jeder verpflichtet ist. Aus dieser Perspektive ist das höchste Gut kein realisierbarer Sachverhalt, sondern dient lediglich als „the ideal measure for human striving“ (Silber 1959, S. 485). Im Vergleich dazu wird das höchste Gut bei der „immanenten“ Konzeption als jenes Ziel betrachtet, dessen Verwirklichung man nach seinen eigenen Kräften befördern soll. In diesem Fall fungiert das höchste Gut als „the
Die Interpreten, die eindeutig zu diesem Zwei-Konzeptionen-Ansatz gezählt werden können, sind J.G. Murphy(Murphy 1966), Y. Yovel (Yovel 1981), A. Reath (Reath 1988), T. Nenon (Nenon 1997) und J. Marinã (Marinã 2001). A. Reath modifiziert Silbers Unterscheidung der „transzendenten“ von der „immanenten“ Konzeption des höchsten Guts dahingehend, dass er sie als zwei ‚Versionen‘, nämlich eine theologische und eine säkulare bezeichnet (Reath 1988). Streng genommen tangiert Reaths Unterscheidung einer „theologischen“ von einer „säkularen“ Version nicht ganz Silbers, auch wenn Reath ausdrücklich auf Silbers Untersuchung verweist. Ein eingehender Vergleich zwischen beiden Autoren kann an dieser Stelle zwar nicht angestrebt werden, es sei dennoch ein unübersehbarer Unterschied zwischen beiden notiert. Bei Reath werden beide Varianten durch die Rolle der Postulate unterschieden und die Postulate spielen somit in der säkularen Variante keine Rolle. Im Vergleich dazu lässt Silbers Deutung die positive Rolle der Postulate in beiden Aspekten des höchsten Guts zu. Eine weitere Untersuchung, in deren Mittelpunkt eine Auseinandersetzung mit Silbers Deutung steht, ist von J. Marinã durchgeführt worden. Ausgehend von Silbers Deutung, wendet sich Marinã der Frage zu,welche Konzeption des höchsten Guts eine prinzipielle Bedeutung hat und welches Verhältnis eine Konzeption zu einer anderen hat.
3.2 Der Ort der Verwirklichung des höchsten Guts
161
measure of moral accountability […] within the limits of man’s actual capacity“(Silber 1959, S. 485; meine Herv.). Ausgehend von Silbers Interpretationsansatz versuchen einige Forscher, das höchste Gut ausschließlich als einen in der Sinneswelt realisierbaren Tatbestand aufzufassen, indem sie auf diejenigen Textstellen aufmerksam machen, in denen das höchste Gut nicht als eine proportionale Verknüpfung von Sittlichkeit und Glückseligkeit, sondern nur als eine bloße Vereinigung der beiden bezeichnet wird (vgl. Yovel 1981; Reath 1987)²¹. Hinter dieser ‚Operation‘ steckt m. E. die Befürchtung, dass das höchste Gut ein bloßes Gedankending ist, das nicht auf das tätige Leben angewandt werden könne. Bevor die Schwäche dieses Interpretationsansatzes aufgezeigt wird, sollen die näheren Beweggründe für diese ‚Operation‘ dargelegt werden: Für einen endlichen vernünftig Handelnden ist eine Perspektive unzugänglich, in welcher er einsehen kann, ob und inwieweit das Handeln (von ihm selbst wie von anderen) aus moralischen Gründen erfolgt. Auch wenn der Mensch den Verstand Gottes hätte und somit die Sittlichkeit der betroffenen Person einsehen könnte, verfügte er dennoch über keine solche Allmacht, anderen die proportioniert zur Sittlichkeit gewährte Glückseligkeit zu verleihen. Wird das höchste Gut jedoch als eine bloße Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit verstanden, kann man – Yovel und Reath zufolge – das höchste Gut dadurch in der erfahrbaren Welt verwirklichen, dass man vom Sittengesetz erlaubte sowie geforderte Zwecke verfolgt und zu dieser Verfolgung eine geeignete menschliche Organisation bildet. Zum Beleg dieser Behauptung rekurrieren Yovel und Reath darauf, dass das höchste Gut als die „allgemeine Kirche“ (RGV VI: 152) und ein „ethisches gemeines Wesen“ (RGV VI: 94, 98, 152) gilt. Vor einer eingehenden Auseinandersetzung mit dieser Auffassung kann man gegen sie zunächst aufgrund des bisherigen Ergebnisses einwenden: „Das ethische Gemeinwesen“ sowie „die sichtbare Kirche“ können nicht sofort mit dem höchsten Gut als solchem, sondern nur mit dem „höchsten sittlichen Gut“ (RGV VI: 97, 122) gleichgesetzt werden. Denn die beiden stellen nur eine unentbehrliche Bedingung zur Verwirklichung des höchsten Guts dar. Dieser Interpretationsausrichtung liegt darüber hinaus die nicht ausreichend geklärte Voraussetzung zugrunde, dass eine in der Erfahrung unerkennbare Tatsache überhaupt nicht handlungsorientierend sein könne. Dadurch macht diese Interpre-
Als Beleg für diese Auffassung zieht Y. Yovel Textstellen aus der KU heran, in denen das Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit z. B. als „harmonisch zutreffend“ oder „synthetisiert“ bezeichnet wird (vgl. KU V: 423 – 5, 429). Diese Textstellen stützen sich allerdings nicht auf Kants Auffassung, weil die fragliche Verknüpfung stets in systematischer Weise unter der Bedingung des Sittengesetzes geführt wird, selbst wenn dort nicht ausdrücklich von einer proportionalen Verbindung zwischen den beiden die Rede ist.
162
3 Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts
tationstendenz m. E. die Textanalyse unnötig kompliziert. Es ist nämlich zu fragen, ob das von Silber erwähnte Spannungsverhältnis zwischen einer „vollständigen Verwirklichung“ des höchsten Guts und dessen „Beförderung innerhalb unserer Kräfte“ überhaupt gilt. Geht es hier tatsächlich um zwei verschiedene, miteinander unverträgliche Auslegungen? Oder nur um ein und denselben Sachverhalt, der aber von zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten aus betrachtet wird? Im Gegenzug zu Silbers Deutung präsentiert diese angebliche Spannung die inhärente Charakteristik der praktischen Idee: Die praktische Idee ist derjenige Begriff, dessen Gegenstände wir zwar denken aber nicht in der Erfahrung erkennen können. Trotz ihrer Unerkennbarkeit können wir im Rekurs auf eine praktische Idee unserem Leben (sowohl auf der intrasubjektiven als auch auf der intersubjektiven Ebene) Kohärenz und Einheit verleihen, wenn wir uns an dieser Idee im Handeln orientieren. In angemessenerer Weise wäre die Frage dann wie folgt zu stellen: Wie kann eine praktische Idee als konkrete Orientierung im Handeln dienen?²² Zur Verdeutlichung dieser Problematik soll daher zunächst die Frage beantwortet werden, um welche Art der Idee es sich bei der Konzeption des höchsten Guts handelt. Noch genauer: In welcher Art und Weise kann diese Idee trotz ihrer prinzipiellen Unerkennbarkeit für ein endliches Vernunftwesen als handlungsorientierend gelten? Es ist dabei festzuhalten: Es ist unmöglich, dass das höchste Gut in seiner vollständigen Gestalt in der erfahrbaren Erscheinungswelt verwirklicht werden kann (vgl. KpV V: 115; RGV VI: 7)²³. Die Realisierbarkeit des höchsten Guts liegt nur
Obwohl die Grundzüge von Silbers Auffassung zutreffend sind, gibt Silbers ursprünglicher Ausdruck, „the transzendent and the immanent conception of the highest good“, bei der Interpretation Anlass dafür, zu jener Auffassung zu verleiten, dass die „transzendente“ Konzeption des höchsten Guts für uns kein anzustrebendes Ziel darstelle. Die Hauptursache für diesen Anlass liegt in der Tatsache, dass Silber – aufgrund Kants eigener Formulierung der moralischen Welt als der „intelligiblen künftigen Welt“ – etwas Intelligibles mit dem über Sinnlichkeit hinaus Existierenden gleichsetzt. Das „Intelligible“ sollte allerdings nicht mit dem „Transzendenten“ bzw. dem „Jenseitigen“ gleichgesetzt werden. Etwas Intelligibles und etwas Transzendentes haben zwar gemeinsam, keine sinnlichen (raumzeitlichen) Merkmale haben; trotzdem kann etwas „Intelligibles“ nicht zwangsläufig mit dem Seienden, das die sinnliche Welt vollständig übersteigt, gleichgesetzt werden. Denn das „Intelligible“ kann sich auch auf die nichtsinnlichen Merkmale der erfahrbaren Gegenstände beziehen, z. B. auf die Willensfreiheit eines Menschen. Vorgreifend lässt sich demnach die Schwäche in Silbers Deutung folgendermaßen ausweisen: Genauer gesagt, lassen sich Silbers Ausführungen zur „transzendenten Konzeption des höchsten Guts“ auf den Aspekt des höchsten Guts als eine regulative praktische Idee beziehen und seine Erörterung der immanenten Konzeption des höchsten Guts auf die subjektiv-konstitutive Funktion des höchsten Guts. Auf diese Frage antwortet C. Beiser wie folgt: „But this entire discussion proceeds from a false premise […]. This false premise is the common assumption that these realms are exclusive. City of God does not exist in heaven […] rather it exists on the earth […] insofar as it is completely
3.2 Der Ort der Verwirklichung des höchsten Guts
163
z.T. in unserer Hand (vgl. KU V: 453). Infolgedessen wird das höchste Gut als der Gegenstand der erlaubten Hoffnung (vgl. KrV B833 – 838=A805 – 810) charakterisiert²⁴. Diese Auffassung wird zudem dadurch gestützt, dass Kant das Defizit der Stoiker und Epikureer darin begründet sieht, dass beide die Verknüpfung zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit bereits als einen „in diesem Leben“ möglichen Tatbestand ansehen (vgl. KpV V: 115). Diese Interpretation verlangt es allerdings herauszustellen, was unter der das höchste Gut ausmachenden Glückseligkeit zu verstehen ist: Wie in den vorangegangenen Kapiteln geklärt wurde, hat die Glückseligkeit grundsätzlich mit der physischen Wohlfahrt zu tun. Wenn Kant mit dem höchsten Gut eine künftige Welt gemeint hätte, ist nämlich zu fragen, was die das höchste Gut integrierte Glückseligkeit zu verstehen ist. Die Auffassung von Glückseligkeit als größtmögliche dauerhafte Befriedigung der Neigungen ist auch in der Konzeption des höchsten Guts verwurzelt (vgl. Albrecht 1979; Wimmer 1990; Mori 1993; Geismann 2000). Denn das höchste Gut ist durchgängig als die Einheit zweier spezifisch voneinander verschiedenen Bestandteilen, z. B. die Einheit zwischen dem System der Freiheit und dem der Natur gekennzeichnet. Wie in Kants Auseinandersetzung mit den Positionen der Stoiker und der Epikureer deutlich wird, vereinigt das höchste Gut beide Ziele, die für ein
transformed by the second coming of Christ“ (Beiser 2006, S. 599). Beisers Verweis ist insofern richtig, als er sieht, dass die beiden Bereiche nicht in einem sich gegenseitig ausschließenden Verhältnis zueinander stehen. Trotzdem behandelt Beiser den Status und die Funktionen des höchsten Guts als einer praktischen Idee nicht ausreichend.Wird es als eine Idee betrachtet, kann durch diese Idee nur eine intelligible Welt gedacht werden, die für seine Verwirklichung nicht in der Erfahrung gilt. Dennoch ist diese Idee handlungsorientiert, in dem Sinne, dass sie uns Ziel und Richtung zur Verfügung stellen kann. In diesem Zusammenhang gilt zu berücksichtigen, dass es viele Textstellen gibt, in denen das höchste Gut ausdrücklich in Bezug zu einer Welt gesetzt wird. Mir scheint, dass viele Interpreten sich dazu verleiten haben lassen, Aussagen wie z. B. in der Welt oder in einer Welt unverzüglich als in unserer erfahrbaren Welt zu deuten. Entscheidend ist dabei nun, dass Ausdrücke wie z. B. „diese Welt bzw. unsere sinnliche Welt“ im Text niemals zum Ausdruck kommen. Einschlägige Textstellen sind wie folgt: „Die Bewirkung des höchsten Guts in der Welt ist das notwendige Objekt eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens“ (KpV V: 122); „Also ist das höchste Gut in der Welt nur möglich, sofern eine oberste Ursache der Natur angenommen wird, […]“ (KpV V: 125); „Zur Pflicht gehört hier nur die Bearbeitung zur Hervorbringung und Beförderung des höchsten Guts in der Welt, dessen Möglichkeit also postuliert werden kann“ (KpV V: 126); „[das Sittengesetz], welches die Existenz des Höchsten in einer Welt möglichen Guts gebietet“ (KpV V: 134); „das höchste durch Freiheit in der Welt mögliche Gut“ (V: 450; vgl.V: 469); „Das Bedürfnis, ein höchstes auch durch unsere Mitwirkung mögliches Gut in der Welt, als den Endzweck aller Dinge, anzunehmen, […]“ (Gemeinspruch VIII: 279 Fn.; alle Herv.von mir). Bei den zitierten Textstellen handelt es sich um die nur als Noumenon denkbare Welt, die eine praktische Idee als ein Totalitätsbegriff ist. Am Ausdruck „Welt“ zeigt sich grundsätzlich nur, dass sich unsere Befolgung des Sittengesetzes auf das Ganze richten soll.
164
3 Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts
eingeschränkt vernünftigen Naturwesen aus zwei verschiedenen Standpunkten Bedeutung haben, synthetisch in der Idee eines Gegenstandes. In diesem Sinne sollte die physische Glückseligkeit als integraler Bestandteil des höchsten Guts angesehen werden, das ein endlicher Wille aufgrund subjektiver natürlicher Bedingungen anstrebt²⁵. Diese Deutung wirft sofort die Frage nach dem Ort der Verwirklichung des höchsten Guts auf: Kants Betonung der Glückseligkeit als des unausweichlichen natürlichen Zwecks (vgl. KU V: 451) lässt an die Glückseligkeit in der sinnlichen, erfahrbaren Welt denken. Für die menschliche Vorstellung hat die Glückseligkeit ohne Vorbehalt daher ihren Ort ausschließlich in der Sinneswelt. Wenn die moralisch berechtigte Glückseligkeit nur in „eine[r] für uns künftige[n] Welt“ (KrV B839=A811) zustande kommen kann, wie können wir dann die Pflicht, die sinnliche Glückseligkeit insofern zu fördern, als sie mit dem Anspruch der Sittlichkeit übereinstimmt, verfolgen? Man kann zur Beantwortung dieser Frage zunächst darauf hinweisen, dass es sich bei der Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts nicht um eine gesonderte Pflicht sondern um diejenige Forderung handelt, die jeweilige beliebige Pflichterfüllung unter einer einheitlichen Perspektive zu bringen vermag. Mit der Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts ist gemeint, dem Sittengesetz durch die Vereinigung anderer tugendhafter Menschen zu einem ethischen Gemeinwesen unablässig zu folgen. Durch diesen Hinweis kann allerdings die gerade gestellte Frage nicht ganz beantwortet werden: Ein wichtiges Ergebnis des letzten Kapitels, in dem die Beförderung der Glückseligkeit anderer als oberste Tugendpflicht thematisiert wurde, besteht darin, dass es bei der Konzeption des höchsten Guts einerseits um die Beschränkung meines eigenen Glückseligkeitsstrebens auf die Bedingung des Sittengesetzes und andererseits um die Beförderung der Glückseligkeit anderer geht. Dennoch sieht sich ein Bemühen um die Glückseligkeit anderer mit Schwierigkeiten konfrontiert: Denn das Bemühen um die Glückseligkeit anderer würde nur dann sinnvoll sein, wenn es deren Glückseligkeit in dieser sinnlichen Welt zum Ziel hätte. Wäre es nicht absurd, wenn wir die Glückseligkeit anderer so viel als möglich befördern möchten und trotzdem sicher sind, dass die Glückseligkeit anderer nur in der künftigen Welt zustande käme?
Entgegen dieser Auffassung vertreten einige Interpreten anhand der kantischen Unterscheidung zwischen einer moralischen und einer physischen Glückseligkeit (vgl. RGV VI: 67– 8, 75 Fn.; MS VI: 377– 8, 387– 8) den Standpunkt, dass die moralische Glückseligkeit bzw. Selbstzufriedenheit das höchste Gut konstruierende Glückseligkeit ist (Düsing 1971; Langthaler 1991). Eine eingehendere Auseinandersetzung mit solchen Interpretationen wurde bereits im ersten Kapitel meiner Dissertation geführt.
3.2 Der Ort der Verwirklichung des höchsten Guts
165
Zur Klärung dieser Frage müssen der Status und die Funktionen des höchsten Guts als einer praktischen Idee eingehend erläutert werden: Darf diese Idee z. B. nur in regulativer Weise ins Spiel gebracht werden? Oder kommt ihr doch zugleich eine konstitutive Funktion zu? Aufschlussreich wäre, einen Lösungsansatz aus folgendem Zitat zu entnehmen: Die reine Vernunft, als praktisches Vermögen, d.i. als Vermögen, den freien Gebrauch unserer Kausalität durch Ideen (reine Vernunftbegriffe) zu bestimmen, enthält nicht allein im moralischen Gesetze ein regulatives Prinzip unserer Handlungen, sondern gibt auch dadurch zugleich ein subjektiv-konstitutives, in dem Begriff eines Objekts an die Hand, welches nur Vernunft denken kann, und welches durch unsere Handlungen in der Welt nach jenem Gesetze wirklich gemacht werden soll. Die Idee eines Endzwecks im Gebrauche der Freiheit nach moralischen Gesetzen hat also s u b j e k t i v - p r a k t i s c h e Realität. […] In diesem Endzwecke [dem Weltbesten als des höchsten Guts] ist die Möglichkeit des einen Teils, nämlich der Glückseligkeit, empirisch bedingt, d.i. von der Beschaffenheit der Natur (ob sie zu diesem Zwecke übereinstimme oder nicht) abhängig, und in theoretischer Rücksicht problematisch; indes der andere Teil, nämlich die Sittlichkeit, in Ansehung deren wir von der Naturmitwirkung frei sind, seiner Möglichkeit nach a priori fest steht und dogmatisch gewiß ist“ (KU V: 453; meine Herv.).
An dieser Stelle wird die besondere Charakteristik des Sittengesetzes im Hinblick auf das höchste Gut als Endzweck thematisiert: Das Sittengesetz dient grundsätzlich als regulativ-praktisches Prinzip, hat jedoch subjektiv-konstitutive Funktion im Handeln. Anhand dieses Zitates kann probeweise unterstellt werden, dass die Idee des höchsten Guts zwar eine regulative praktische Idee ist, welche für uns zugleich aber auch eine subjektiv-konstitutive Funktion hat. Diese Unterstellung mag deshalb zunächst als naheliegend erscheinen, weil die Idee des höchsten Guts zur wesentlichen Charakteristik regulativer Ideen gemacht wird: Durch eine regulative Idee muss etwas gedacht werden, das zwar notwendigerweise zu denken ist, dessen Realität jedoch problematisch ist. Diese Idee müsste uns trotz ihrer in theoretischer Hinsicht problematischen Realität eine Orientierung im Handeln geben und dazu beitragen, die dieser Idee korrespondierende Totalität annäherungsweise zu verwirklichen. Ausschlaggebend hierfür ist dabei Kants Erörterung der Weise, wie ein regulatives Prinzip als ein subjektiv-konstitutives dienen kann: Insofern das Prinzip den „Begriff eines Objekts“ auferlegen kann, „welches nur Vernunft denken kann, und welches [aber zugleich auch] durch unsere Handlungen in der Welt nach jenem Gesetze wirklich gemacht werden soll“ (KU V: 453; meine Herv.), erscheint ein praktisches Prinzip bzw. eine Idee als subjektiv-konstitutiv. Wenn die durch die jeweilige praktische Idee gedachte Pflicht vom Sittengesetz geboten ist und die Realisierung dieser Pflicht in praktischer Hinsicht notwendig ist, dann kann diese Idee ein innerhalb menschlicher
166
3 Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts
Praxis liegendes Ziel zu Verfügung stellen. Bei der Idee des höchsten Guts ist genau das der Fall. Dabei fallen zwei Ebenen des höchsten Guts auf. Das höchste Gut wird zum einen anhand der Unterscheidung vom „höchsten Gut in einer Person“ und dem „in einer Welt“ (vgl. KpV V: 110) erörtert und zum anderen im Rekurs auf die Unterscheidung vom „Ideal des ursprünglichen höchsten Guts“ als Gott (KrV B839=A811) und dem „des abgeleiteten höchsten Guts“ als der moralischen Welt (vgl. KrV B839=A811, B836=A808). Die subjektiv-konstitutive Funktion des höchsten Guts soll daher auf zwei Ebenen, nämlich auf einer intrasubjektiven und auf einer intersubjektiven Ebene, erhellt werden²⁶. Die Idee des höchsten Guts, d. h. die Idee einer genau angemessenen Zuordnung der Glückseligkeitserfüllung zu sittlichem Verhalten, kann unser Tun und Lassen nach dem Sittengesetz regulieren. Für Ausübung und Vorsatz wird diese Idee m. E. in uns als zweierlei Ideal gekennzeichnet²⁷: Diese Idee wird einerseits als das Ideal einer Person (dem „Ideal des ursprünglichen höchsten Guts“ (KrV B839=A811) entsprechend) aufgefasst, in der die höchste Sittlichkeit mit der Seligkeit proportioniert verbunden ist. Sie begreift in sich andererseits das Ideal einer Welt – korrespondierend zum „Ideal des abgeleiteten höchsten Guts“ (KrV B839=A811; vgl. KrV B831=A808) – deren Ordnung unter moralischen Gesetzen steht und deren einziger Urheber jedem Mitglied je nach Maßgabe der Sittlichkeit die Glückseligkeit austeilt. Wird es als das Ideal einer Person aufgefasst, lässt sich das höchste Gut als der in jedem einzelnen Handeln anzustrebende Endzweck verstehen. Im Lichte dieses Ideals verhält sich jeder in der Hoffnung, selbst zum „Urheber [seiner] eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt“ (KrV B837=A809) je nach der geleisteten Moralität zu werden. Im Vergleich dazu ist das höchste Gut als das Ideal einer Welt anzusehen, das als der durch das gemeinsame Handeln aller moralischen Personen erreichte Endzweck gedacht wird. Die als Ideal gedachte Welt ist diejenige, in der die allgemeine physische Glückseligkeit,
Diese Überlegungen sind auch für die Beantwortung der Streitfrage hilfreich, worin genau die Antinomie der praktischen Vernunft bestehe: Die Antinomie der praktischen Vernunft besteht m. E. darin, dass das höchste Gut normativ faktisch ist, aber dessen Realisierbarkeit in der wirklichen Welt – streng genommen – unmöglich ist (vgl. Albrecht 1978; Förster 2002, S. 158 – 160): Als eine praktische Idee ist das höchste Gut zwar keineswegs als ein Zustand anzusehen, welchem in einer möglichen Erfahrung begegnet werden kann. Das höchste Gut ist jedoch ein notwendiges Objekt des durch das Sittengesetz bestimmten Willens anzusehen. In einem kleinen Abschnitt der Dialektik der KrV „vom Ideal überhaupt“ wird der Terminus „Ideal“ als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares oder gar bestimmtes“ Ding wie z. B. „die Menschheit in ihrer ganzen Vollkommenheit“ oder die „Idee des vollkommensten Menschen“ bestimmt (vgl. KrV B596=A568). Menschliche Vernunft enthalte Ideale, welche der „Möglichkeit der Vollkommenheit gewisse Handlungen zum Grunde liegen“ (KrV B596– 7=A568 – 9).
3.2 Der Ort der Verwirklichung des höchsten Guts
167
nämlich der Wohlstand der ganzen menschlichen Gattung geschehen kann²⁸. Dieses Ideal ist dasjenige, dessen Verwirklichung ein gemeinsames Ziel im Handeln gesetzt werden soll. Die beiden Ideale fungieren nun als „unentbehrliches Richtmaß“ der Handlungen (KrV B597=A569), „um danach den Grad und die Mängel des Unvollständigen zu schätzen und abzumessen“ (KrV B598=A570)²⁹. Als Fazit lässt sich eine Anmerkung von F. Ricken heranziehen: Es geht um das Bemühen in dieser Welt, aber sinnvoll wird dieses Bemühen erst durch den Glauben an eine andere Welt; motivieren zu diesem Bemühen kann nur die Idee einer moralischen Welt, das Ideal des Reichs der Zwecke, und das ist eine zukünftige, jenseitige Welt (Ricken 2013, S. 81).
Auf der Basis der bisherigen Überlegungen ist festzustellen, dass die Glückseligkeit als der Bestandteil des höchsten Guts nichts anderes als die sinnliche Glückseligkeit ist, die uns jedoch in einer künftigen Welt zukommt. Auf den ersten Blick vermag dieses Ergebnis wegen des Postulats eines Dasein Gottes fragwürdig erscheinen. Denn man sieht häufig das Postulat eines Dasein Gottes deshalb angenommen, weil Gott allein die nach der Maßgabe geleistete Glückseligkeit in der Sinnenwelt ermöglichen kann. Dieser Unterstellung ist nun entgegenzuhalten, dass in einer intelligiblen zukünftigen Welt auch das Dasein Gottes erforderlich ist, um gemäß der Sittlichkeit jedes Menschen die Glückseligkeit auszuteilen. Es sei beachtet, dass bei der Rede von einem zukünftigen Leben nicht wie z. B. an ein rein geistiges Leben gedacht werden darf. Zwar postuliert Kant als Bedingung zur Verwirklichung des höchsten Guts ausdrücklich die Unsterblichkeit der Seele, jedoch soll hier das zukünftige Leben als eine weitere Fortsetzung unseres jetzigen Lebens, das im Widerstand zwischen Neigungen und Moralität steht, verstanden werden.Wie bereits geklärt ist, gilt der Einschluss der Glückseligkeit in die Idee des höchsten Guts grundsätzlich aufgrund der sinnlichen Bedürftigkeit. Da jeder Versuch einer inhaltlichen Bestimmung der Idee bzw. des Ideals zu überschwänglicher Spekulation führen kann, soll die Frage, wie diese intelligible Welt genau aussieht, notwendigerweise unbeantwortet bleiben. Aufgrund dieses Ergebnisses kann ein in der Literatur weit verbreiteter Ansatz näher bestimmt werden, dem zufolge sich die bezüglich des höchsten Guts fragliche Verbindung nicht bloß auf Tugend und Glückseligkeit sondern auf die ihr entsprechenden Vollkommenheitsbegriffe (nämlich Heiligkeit und Seligkeit) bezieht. Zu den Vertretern dieses Standpunktes gehören z. B. Marinã (Marinã 2001), Himmelmann (Himmelmann 2003) und Zobrist (Zobrist 2008). Diese Auffassung wird aus folgendem Zitat von B. Himmelmann besonders gut ersichtlich: „Das höchste Gut ist eine Idee, die die Verknüpfung zweier Begriffe enthält, die ebenfalls Ideen der Vernunft sind: die Idee vollendeter Moralität als stets durchgehaltene Übereinstimmung unseres Tuns mit dem moralischen Gebotenen und die Idee vollendeten Glücks als immerwährende uneingeschränkte Übereinstimmung der Wirklichkeit mit dem von uns Gewünschten und Gewollten“ (Himmelmann 2003, S. 211; meine Herv.). Im Grunde genommen wird diese Auffassung gut am Text belegt, weil „das Ideal des ursprünglichen höchsten Guts“ (KrV B839=A811) ausdrücklich als eine Intelligenz, welche die Heiligkeit und Seligkeit in sich enthält, gekennzeichnet wird. Aufgrund unserer bisherigen Deutung kann diese Auffassung aber noch systematischer artikuliert werden, nämlich indem gezeigt wird, dass dieser Ansatz einen der zwei Aspekte des höchsten Guts, also das Ideal einer Person, behandelt. Diese Auffassung berührt den zweiten Aspekt des höchsten Guts als eines Ideals einer Welt noch nicht.
168
3 Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts
Durch Glauben kann ich die notwendige Verbindung zwischen beiden für möglich halten und nach der Verwirklichung in dieser Welt streben, auch wenn die sinnliche Welt allein keinerlei notwendige Verknüpfung der beiden Elemente des höchsten Guts erkennen lässt. Daraus wird verständlich, warum das höchste Gut in der KrV als Gegenstand der Hoffnung dargestellt wird. Die Bezeichnung des höchsten Guts als Gegenstand der Hoffnung lässt nun den Zweifel erwecken, dass Kants Konzept des höchsten Guts aus der Perspektive des Ausübungsprinzips zum Scheitern verurteilt ist: Denn Kants Lehre des höchsten Guts scheint die problematische Konsequenz nach sich zu ziehen, den Handelnden in Zweifel an der Gültigkeit des Sittengesetzes als auch in eine Selbstspaltung zu bringen: Der kantische Handelnde, der die Idee des höchsten Guts verwirklichen soll, kann allerdings trotz seiner Bemühung in dieser gegenwärtigen Welt keineswegs zum Zustand des höchsten Guts gelangen und darf nur hoffen, dass das höchste Gut durch Gunst und Gnade Gottes zustande kommt. Angesichts dieses Problems ist es nötig, ein tieferes Verständnis des höchsten Guts als Gegenstand der Hoffnung zu gewinnen, um Kants Einsicht klar darzustellen und ihre Tragweite festzustellen.
3.3 Der Gegenstand der berechtigten Hoffnung der menschlichen Vernunft In der KrV wird das Interesse der menschlichen Vernunft³⁰ in folgende drei Fragen gefasst, die letztlich zur Bestimmung des Menschen führen: „1.Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ (KrV B833=A805). Alle drei Fragen beziehen sich jeweils auf ihre eigenen Gegenstandsbereiche. Der Gegenstandsbereich der ersten zwei Fragen lässt sich anhand der Unterscheidung zwischen dem Theoretischen und dem Praktischen leicht einsehen. Die dritte Frage, „Was darf ich hoffen?“, erhellt allerdings einen weiteren Gegenstandsbereich, der weder auf die theoretische Erkenntnis dessen, was ist, noch auf die praktische Erkenntnis dessen, was geschehen soll, zurückgeführt werden kann. Die dritte Frage wird durch einen von Kant hinzugefügten Nebensatz näher bestimmt: „Wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdenn hoffen?“ (KrV B833=A805) Hier fragt sich Kant, welche mögliche Konsequenz des moralisch geführten Handelns zu erwarten ist. Diese Frage führt uns zum Gegenstandsbereich der erlaubten Hoffnung. Der Gegenstand, auf den wir hoffen Es gilt zu beachten, dass hier nicht von Vernunftinteressen sondern vom Interesse der menschlichen Vernunft die Rede ist. Der Ausdruck „menschliche Vernunft“ beruht auf der Textstelle: „Alles Interesse meiner Vernunft (sowohl das spekulative, als auch das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: […]“ (KrV B832=A804; meine Herv.).
3.3 Der Gegenstand der berechtigten Hoffnung der menschlichen Vernunft
169
dürfen, ist für Kant nichts anderes als die nach Maßgabe der geleisteten Sittlichkeit ausgeteilte Glückseligkeit. Angesichts dieser Überlegungen Kants könnte man fragen: Warum kann ausgerechnet die Moralität als die oberste Bedingung einer begründeten Hoffnung auf die Glückseligkeit angesehen werden? In den letzten Kapiteln wurde festgestellt, dass das Streben nach eigener Glückseligkeit durch pragmatische Regeln der Klugheit geleitet wird und somit auf technisch-praktischen Prinzipien beruht. Die Verwirklichung der Glückseligkeit liegt allerdings trotz aller Geschicklichkeit, trotz aller Klugheit, nur partiell in unserer Macht. Aus diesem Grund kann man wohl sagen, dass wir einer Hoffnung bedürfen, dass nämlich die äußerlichen Umstände so viel als möglich nach unseren Wünschen bzw. Absichten verlaufen, wenn wir glücklich sein wollen. Dann stellt sich die Frage, warum Kant der Meinung ist, dass man erst dann darauf hoffen darf, glücklich zu werden, wenn man seine Pflicht erfüllt hat. Warum ist es nicht erlaubt, dass wir unsere Hoffnung einfach auf das Zustandekommen der für uns vorteilhaften Umstände bzw. auf den größtmöglichen Erfolg unserer jeweiligen Vorsätze beschränken? Kants Antwort darauf wäre wohl, es sei uns weder erlaubt noch seien wir bedürftig, so etwas zu hoffen³¹. Zur Klärung dieses Punktes sollen die Stellung und die Funktionen der dritten Frage, die aus dem Interesse der menschlichen Vernunft abgeleitet wird, eingehend erläutert werden. Die Eigenart der dritten Frage erörtert G. Zöller wie folgt: Die dritte Frage leitete auf die Gegenstände, „die als solche weder Gegenstände theoretischen Wissens noch praktischen Sollens sein können, die aber das Auseinandertreten von praktischer und theoretischer Weltordnung – von „System der Freiheit“ und „bloß[er] Natur“ (KrV B843=A815) – und damit den Widerstreit von praktischer und theoretischer Vernunft verhindern sollen“ (Zöller 2013a, S. 251– 2). Wohlgemerkt: Eine derartige Hoffnung liegt unabweisbar in der menschlichen Vernunft. Auffällig ist dabei, dass das verbindende Prinzip hier die Glückseligkeit ist. Im
G. Zöller erläutert aufgrund seiner eingehenden Auseinandersetzung mit dem Kanon der KrV überzeugend, dass die dritte Frage, „Was darf ich hoffen?“, nicht nur im Sinne der Erlaubnis sondern auch im Sinne der Requisition gestellt werden muss. Im Hinblick auf das höchste Gut wird der doppelte Charakter des Hoffen-Dürfens von ihm folgendermaßen erörtert: „Für den Eintritt des höchsten Guts besteht zum einen die theoretische abgesicherte Erlaubnis, insofern weder die Existenz noch die Nicht-Existenz Gottes und der unsterblichen Seele gewusst werden kann. Zum anderen besteht dafür aber auch das Bedürfnis, insofern erst sich im erwarteten höchsten Gut die Einheit der theoretischen und praktischen Vernunft bewährt. Das Hoffen-Dürfen ist in eins ein HoffenBedürfen“ (Zöller 2013a, S. 252; meine Herv.). Für die sprachlichen Belege dieser Auffassung verweist Zöller auf die Verwendungsweise des Verbs „dürfen“ in Kants Zeit (vgl. Zöller 2013a, S. 252). Seine Auffassung lässt sich des Weiteren durch unseren bisherigen Befund, dass das höchste Gut wegen „unserem natürlichen Bedürfnis“ (RGV VI: 5; vgl. RGV VI: 6; Gemeinspruch VIII: 279 Fn.) berufen wird, untermauern.
170
3 Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts
Hoffen auf die Glückseligkeit verbindet sich das theoretische Bestreben nach Wahrheit für ein endliches Vernunftwesen mit dem praktischen Bestreben nach Erfüllung der Sollens-Forderungen. Die menschliche Vernunft nimmt an diesem Gegenstand – auch wenn er für uns im Prinzip nicht erreichbar ist – ein doppeltes Interesse, d. h. das theoretische Interesse am Unbedingten und das praktische Interesse an der praktischen Idee, „die wirklich ihren Einfluss auf die Sinnenwelt haben kann und soll“ (KrV B836=A808). Anhand dieses Ergebnisses kann man erörtern, warum das höchste Gut von Kant als Antwort auf die Frage „Was darf ich hoffen?“ angesehen wird: Es ist ein „Ideal“, das vom praktischen Interesse unserer Existenz her auch das spekulative Interesse umgreift. Dieser Gegenstand der Hoffnung kann durch menschliches Handeln nicht vollständig realisiert werden. Anderenfalls ginge der Sinneswelt ihre Seinsbedingung verloren, weil sie nicht mehr dem dauernden Wechsel des Naturlaufs unterläge und somit nicht unter den Bedingungen der Zeit stünde. Nimmt man die Idee des höchsten Guts aber als regulativ an, dann darf man hoffen, dass die Welt den Ansprüchen des Sittengeseztes gemäß verläuft.Wenn der Mensch versucht, unsere Welt den Forderungen des Sittengesetzes entsprechend zu verändern, dann soll diese Hoffnung gestattet sein. Im Zuge dieser Untersuchung wird auch herausgestellt, dass die verschiedenen Kennzeichnungen des höchsten Guts das Selbstverständnis bzw. das Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft entfalten. Dabei wird klar, dass sich alle Bestimmungen des höchsten Guts zwischen einer Dimension der Individualität und der einer Kollektivität (Gemeinschaftlichkeit) bewegen. Sie bezeichnen die noumenalen Aspekte eines einzelnen Menschen sowie die einer moralischen Gemeinschaft von Menschen. Da die Sittlichkeit und das Wohlergehen in der faktisch bestehenden Welt durch das menschliche moralische Verhalten nicht systematisch-notwendig miteinander verknüpft werden können, müssen wir sie „als eine für uns künftige Welt annehmen“ (KrV B839=A811).Wir haben allerdings zugleich die Pflicht, das höchste Gut in der Sinnenwelt nach Kräften zu verwirklichen. Wie aber ist dies möglich? Das als die moralische Welt konzipierte höchste Gut fungiert als Leitidee und als idealer Zielpunkt aller unserer moralischen Bemühungen. Die Idee erfüllt zunächst eine regulative Funktion, indem sie uns die moralische Welt, in der jeder die der von ihm geleisteten Sittlichkeit entsprechend ausgeteilte Glückseligkeit hat, als ein Ziel einer beständigen Annährung setzen lässt. Durch die regulative Idee des höchsten Guts verstehen wir die empirische Welt nicht bloß als diejenige, die lediglich dem kausalen Mechanismus der Natur unterliegt. In diesem Sinne ist die Idee des höchsten Guts für den menschlichen Handelnden handlungsorientierend. Über diese Vorbildfunktion hinaus hat die Idee eine subjektiv-konstitutive Funktion, weil die Realisierbarkeit der durch diese Idee gedachten Pflicht in
3.3 Der Gegenstand der berechtigten Hoffnung der menschlichen Vernunft
171
praktischer Hinsicht notwendig ist. Insofern kann die Idee uns zur Konstitution einer moralisch geeinten Menschheit führen, wenn sie für uns praktisch hinreichend ist, d. h. hinreichend für moralische Handlungen mit der zusätzlichen Orientierung an einer sinnlichen Wohlfahrt der ganzen Menschheit – sowohl distributiv als auch kollektiv betrachtet – in der Welt. Wenn die entwickelten Ergebnisse miteinander im Zusammenhang bringen lassen, lässt sich die eingangs gestellte Frage, was angesichts der Idee des höchsten Guts in unserer tatsächlichen Welt zu befördern ist, so beantworten: die allgemeine Glückseligkeit. Die allgemeine Glückseligkeit, d. h. das gemeinschaftliche Wohlergehen der gesamten menschlichen Gattung kann auf folgende Weise verwirklicht werden: Jeder Einzelne muss (im Rahmen seiner Bestrebung nach der eigenen moralischen Vollkommenheit) seine eigene Glückseligkeit auf die Bedingungen des Moralgesetzes eingeschränkt verfolgen und die Glückseligkeit anderer befördern. Auf der individuellen Ebene spielt die Idee des höchsten Guts die Rolle, unsere Neigungen bzw. Bedürfnisse den Ansprüchen der Sittlichkeit gemäß umzugestalten. Auf der gesamtmenschheitlichen Ebene muss sich jeder darum bemühen, eine Gemeinschaft aller tugendhaften Menschen zu stiften. Zu beachten ist, dass alle diese Aufgaben diejenige sind, die uns das Sittengesetz auferlegt. Das menschliche Bestreben allein reicht allerdings zur Verwirklichung des höchsten Guts nicht aus, weil dazu ein moralischer Welturheber, der die notwendige Verbindung von Sittlichkeit mit Glückseligkeit gewährleisten kann, benötigt wird. Auf der Ebene des einzelnen Handelnden ausgedrückt bedeutet dies, dass jeder an das Dasein eines moralischen Welturhebers glauben muss. Dieser Glaube gibt uns die Hoffnung, dass wir der Glückseligkeit teilhaftig werden können. Wir dürften sowohl hoffen als wir auch bedürften zu hoffen (vgl. Zöller 2013a, S. 252).
Teil VI: Zusammenfassung
1 Stellung und Funktionen der Glückseligkeit in Kants Moralphilosophie Das Ziel der Arbeit ist es, die systematischen Stellung und Funktionen der Glückseligkeit in Kants Moralphilosophie zu untersuchen. Im Vordergrund steht das Sachproblem von Sinn und Zweck der Glückseligkeit in einer moralischen Theorie, die sich wesentlich durch die Widerlegung des Eudämonismus in der Ethik auszeichnet. In einer systematischen Analyse von Kants Behandlung der Glückseligkeit berücksichtige ich Kants umfassende Theorie vernünftigen Handelns, unter Einschluss des pragmatisch-klugen Handelns. Dabei setze ich mit dem Bild vom Formalismus und Rigorismus der kantischen Ethik, das auf Schiller und Hegel zurückgehend und bis heute noch gängig ist, auseinandergesetzt. Anders als wie häufig unterstellt wird, wird ein Zusammenhang zwischen Moral und Glückseligkeit von Kant nicht gänzlich aufgehoben. So wird die Sorge um die eigene Glückseligkeit als eine „indirekte Pflicht“ bezeichnet (vgl. GMS IV: 399; MS VI: 388). Darüber hinaus steht für Kant die Glückseligkeit in einem direkten Zusammenhang mit der moralischen Pflicht: Die Glückseligkeit anderer gilt zum einen als die oberste Tugendpflicht. Die Glückseligkeit ist zum anderen ein integraler Bestandteil des ultimativen Ziels menschlichen Strebens, des „höchsten Guts“. Der Vorwurf des Rigorismus ist allerdings insofern berechtigt, als dass er Kants Entkoppelung von Glückseligkeit und Moralität verdeutlicht. Glückseligkeit fungiert bei Kant weder als ein normativer Maßstab der Moral noch als der notwendige Lohn moralischen Handelns. Aufgrund dieser Entkoppelung bleibt offen, ob durch tugendhaftes Handeln die eigene Glückseligkeit minimiert oder vermieden wird. Diese Sichtweise Kants wäre bei seinen rationalen Vorgängern undenkbar, weil sie die Tugend als Mittel zur Glückseligkeit begreifen und die Möglichkeit, Glückseligkeit zu erlangen, somit eine motivierende Funktion für die menschliche Selbstbestimmung zum moralischen Handeln hat (vgl. Wolff 1963, S. 155; Grunert 1998, S. 367). Die Kritik an Kants Rigorismus richtet sich insofern auf ein plausibles Problem eines Aspekts seiner Ethik: Die Frage nach der Motivation für moralisches Handeln. Wenn moralisches Handeln nicht notwendig meine Glückseligkeit zur Folge hat, warum soll ich mich dann moralisch verhalten? Die Frage, warum man trotzdem das Sittengesetz verfolgen soll, wurde in dieser Untersuchung unter Berücksichtigung des Interesses des eingeschränkt vernünftigen Wesens beantwortet. Dabei ließ sich die Rolle des Sittengesetzes in zwei Ebenen (nämlich in der intrasubjektiven und in der intersubjektiven) herausstellen, die für die Lebensführung eines vernünftig Handelnden konstitutiv sind.
176
1 Stellung und Funktionen der Glückseligkeit in Kants Moralphilosophie
Auf der individuellen Ebene fungiert das moralische Gesetz als ein Prinzip für die Einheit des Wollens, das die quantitative und qualitative Identität eines Subjekts gewährleistet. Bei der quantitativen Einheit des Subjekts geht es darum, dass sich die Freiheit auf die durchgängige Konsistenz des eigenen Lebens bezieht und beschränkt. Es kommt bei der qualitativen Einheit des Subjekts darauf an, dass der freie Wille objektiv und allgemein ist. Die Objektivität und die Allgemeinheit des Willens bestehen Kant zufolge nun darin, dass der Wille den Freiheitsgebrauch aller anderen freien Subjekte berücksichtigt und unter die Bedingung der Gleichbehandlung stellt. In diesem Sinne gehört die Befolgung des Moralgesetzes zur Konstitution der (moralischen) Einheit des endlichen Vernunftwesens. Für das Streben nach eigener Glückseligkeit allein sei die Forderung nach der Identität des Selbst von Bedeutung, weil jeder dafür verantwortlich ist, den Inhalt seiner eigenen Glückseligkeit selbst zu bestimmen und Wege zur Glückseligkeit selbst zu entwerfen. Müsste die Rede von meiner Entscheidung für das Glückseligkeitsstreben sinnvoll sein, sollte zunächst die Einheit des Ich gewährleistet werden. Auf der überindividuellen Ebene dient das moralische Gesetz als das Prinzip für die Beförderung der Glückseligkeit aller, indem es den individuellen Freiheitsgebrauch zulässt. Durch die Auseinandersetzung mit Kants Lehre des höchsten Guts wurde im fünften Kapitel herausgestellt, dass im höchsten Gut, das als „System“ einer „mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit“ (KrV B837=A809) verstanden wird, die kollektive Glückseligkeit zustande kommen kann. Interessant ist dabei Kants Versuch, die kollektive Glückseligkeit zu bewahren, indem er das gemeinsame Eigeninteresse wieder mit der Glückseligkeit verknüpft.Wenn die Menschen dazu anhalten wollen, ihr eigenes Wohlsein durch die Moralität einzuschränken, kann die Idee des höchsten Guts nicht verwirklicht werden. Dies erweckt den Anschein, als würde Glückseligkeit in gewisser Weise lebensweltlich rehabilitiert. Das objektive moralische Prinzip kann durch das subjektive Streben jedes Einzelnen nach Glückseligkeit (materiell eingeschränkt und zugleich auch inhaltlich konkretisiert) werden (vgl. KpV V: 35). Im Folgenden möchte ich das oben skizzierte Ergebnis noch ausführlicher erläutern.
2 Intrasubjektive Ebene: das eigentliche Selbst 2.1 Leitfragen Die Fragen, denen ich mich im zweiten und dritten Kapitel der Arbeit zu nähern versucht haben, wurden aus folgendem Zitat entnommen: Also muss der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschied der Triebfedern, […] sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: (1) Welche von beiden [‐das moralische Gesetz und das Prinzip der Selbstliebe] er zur Bedingung der anderen macht. Folglich ist der Mensch […] nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maximen, umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, (2) da er aber inne wird, daß eins neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eins dem andern, als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, […], (3) da das letztere [‐das Moralgesetz] vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren [‐Neigungen] in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte. […] (4) Wenn die Vernunft die Einheit der Maximen überhaupt, welche dem moralischen Gesetz eigen ist, bloß dazu braucht, um in die Triebfedern der Neigung, unter dem Namen Glückseligkeit, Einheit der Maximen, die ihnen sonst nicht zukommen kann, hinein zu bringen, […]; da dann der empirische Charakter gut, der intelligibele aber immer noch böse ist (RGV VI: 36 – 7; meine Nummerierung).
(1) Bei dem Prinzip der Sittlichkeit und dem der eigenen Glückseligkeit handelt es sich um die „oberste Maxime“. Aus welchen Gründen können die beiden Prinzipien jeweils als „oberste Maxime“ dargestellt werden, an die sich die anderen Maximen orientieren können? (2) Worin besteht der Unterschied zwischen den beiden Prinzipien, durch welchen sie nicht nebeneinander bestehen können, so dass eines dem anderen untergeordnet werden muss? (3) Aus welchen Gründen muss dem Prinzip der Moralität demzufolge einen höheren Status als das der Selbstliebe zukommen? (4) Dieser Satz weist zunächst darauf hin, dass die oberste Maxime für die Einheit der Handlungsmaximen zuständig ist. Bemerkenswert ist dabei, dass nur das Sittengesetz die Einheit der Maximen stiften kann. (4.1) Warum ist die Einheit der Maximen für den Handelnden so wichtig? (4.2) Aus welchen Gründen kann ausschließlich das Moralgesetz für die Einheit aller Maximen sorgen? (4.3) Worin besteht die Schwäche der Einheit der Maximen, die durch das Prinzip der eigenen Glückseligkeit hergestellt wurde?
178
2 Intrasubjektive Ebene: das eigentliche Selbst
2.2 Die durch das Prinzip der eigenen Glückseligkeit hergestellte technische Einheit der Maximen Zur Klärung der oben gestellten Fragen wurde zunächst versuchsweise unterstellt, dass das Sittengesetz deshalb die Vorrangstellung hat, weil es tatsächlich in der Lage ist, die verschiedenen Maximen miteinander systematisch zu vereinbaren. Die oben zitierte Textstelle (vgl. RGV VI: 36 – 7) deutet aber auch an, dass das Prinzip der eigenen Glückseligkeit bei dieser Aufgabe eine besondere Rolle spielen kann. Denn wenn es richtig angewendet wird, trägt es entscheidend dazu bei, die die Einheit der Maximen zu bilden. Zunächst soll geklärt werden, wie das Prinzip der eigenen Glückseligkeit diese Einheit herstellen kann. Das erste und zweite Kapitel wird die Frage untersucht, wie die eigene Glückseligkeit als Horizont unseres Begehrens und der damit einhergehenden Bewertungen der jeglichen Handlungen fungieren kann. Der wichtige Grund dafür liegt in dem ideellen Charakter des Glückseligkeitsbegriffs. Die Glückseligkeit stellt eine Idee der vollständigen Erfüllung aller Neigungen dar. Die Idee ist so umfassend, dass die Vorstellung einer bloßempirischen Summe ihr nie gerecht werden kann und daher auch nie in ein endgültiges Resultat münden könnte. Man könnte der Summe aller vollständig befriedigten Bedürfnisse und Neigungen (zumindest der Vorstellung nach) immer noch weitere hinzufügen, wenn man sie ausschließlich quantitativ betrachtet. Aber alle Zwecke, die sich auf die Neigungsbefriedigung beziehen, können in einem abstrakten Zweck, nämlich dem der Glückseligkeit, vereint werden. Daraus ergibt sich das Ziel eines höchstmöglichen umfassenden und dauerhaften Wohlergehens als Horizont unseres Handelns. Im dritten Kapitel wird gezeigt, dass die auf dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit beruhenden Maximen weder ein zusammenhangloses noch ein zufälliges Aggregat empirischer Einzelheiten bilden. Da das Prinzip der eigenen Glückseligkeit über die Kriterien verfügt, die auf Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit beruhen, kann es die auf die Sinnlichkeit bezogenen partikularen Maximen miteinander in Verbindung bringen. Dadurch kann dieses Prinzip „eine technische Einheit“(KrV B861=A833) der Maximen formieren. Aus diesen Gründen erscheint dem Handelnden dieses Prinzip auf den ersten Blick als eine oberste Maxime für seine praktische Orientierung. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass das Prinzip der eigenen Glückseligkeit nur für die technische Einheit zur Verfügung steht. Bei der Verfolgung des Prinzips der eigenen Glückseligkeit beschränkt sich die Rolle der Vernunft außerdem darauf, die einzelnen Maximen nach dem naturgesetzlichen Zusammenhang miteinander zu verbinden. Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit kann kein System im engeren Sinne bilden, in dem alle Teile wie deren Stellung zu
2.2 Prinzip der eigenen Glückseligkeit
179
einander a priori nach einem Gesetz bestimmt werden (KrV B860=A832)¹ Das Ergebnis allein scheint allerdings keine ausreichende Antwort auf die Frage zu sein, warum das Moralprinzip im Verhältnis der beiden Prinzipien den Vorrang einnimmt. Ein Ansatzpunkt findet sich in dem Befund aus den Reflexionen der 70 – 80er Jahre, dem zufolge das Moralprinzip „die mit sich stimmende Freiheit“ (R7202 XIX: 281; vgl. R6911, R6958, R6971) ermöglicht und somit die Einheit eines Subjekts als Person gewährleistet.Vielleicht muss der Handelnde deshalb das Moralprinzip zur obersten Bedingung für sein Handeln machen, weil es ihm seine Einheit bzw. Identität als Person ermöglicht? Dieser Ansatz wird im vierten Kapitel durch den Befund untermauert, dass die Selbstkonstitution des Subjekts ein Gedanke ist, der sich durch sämtliche Werke Kants hindurchzieht. Dieser Gedanke legt die Annahme nahe, dass die Subjektivität des Selbst nicht durch ein Mittel-Zweck-Verhältnis entsteht, das man auf die Naturgesetze zurückführen könnte. Denn diese Zusammenhänge sind nicht „subjektiv“ sondern „rein objektiv“, insofern sie durch die naturgesetzlichen Eigenschaften bestimmt sind, welche den Sachen selbst zukommen. Falls das Handeln des Subjekts lediglich durch die Naturgesetze der Sinnenwelt determiniert ist, kann der Handelnde sein Handeln nicht als ein aus seinem eigenen Willen entstehendes Handeln erfassen. Denn der Handelnde würde dann nicht als der Urheber seines Handelns gelten. Der Handelnde kann sich erst dann als das eigentliche Selbst vorstellen, wenn er sich nach den Gesetzen der Verstandeswelt richtet, in der sich die „Vernunft als reine […] Selbsttätigkeit“ (GMS IV: 452) vollziehen kann. Anhand dieses Ergebnisses lässt sich die Frage beantworten, warum man sich dem moralischen Gesetz unterwerfen soll: Beim moralischen Handeln konstituiert sich das Subjekt durch den Akt der Übernahme des Anspruchs der Vernunft und findet so sein eigenes Selbst. Streng genommen ist ein Wesen nur dann ein Subjekt, wenn es in der Lage ist, sich unbedingte Zwecke, die nicht in den technisch-praktischen Mittel-Zweck-Verhältnissen stehen, zu setzen. Ein Wesen kann nur Zwecke setzen, die im Rekurs auf das Sittengesetz unbedingte Gültigkeit beanspruchen, da das Sittengesetz die Freiheit unabhängig von der Natur bestimmt.
Von der Unterscheidung zwischen dem Aggregat und dem System siehe KrV B673=A645, B860=A832. Der wesentlichen Charakteristik des Systems folgend, müssten alle Teile des Systems „nach notwendigen Gesetzen“ miteinander zusammenhängen (vgl. KrV B673=A645). Überdies müsste das System „die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“ (KrV B860=A832) vereinen. Die einschlägige Idee soll nun ein apriori bestimmter „Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen“ (KrV B860=A832) sein. Wie im ersten Kapitel geklärt wird, ist der Glückseligkeitsbegriff nicht mit einem allgemeingültigen Gesetz gleichzusetzen, da er grundsätzlich auf der partikularen empirischen Bedürfnisstruktur des Einzelnen beruht.
180
2 Intrasubjektive Ebene: das eigentliche Selbst
Wenn die Glückseligkeit der alleinige und letzte Zweck unseres Willens wäre, würden alle praktischen Prinzipien auf den empirischen Prinzipien der MittelZweck-Verhältnisse beruhen. Kants Grundannahme wäre, dass die menschliche Vernunft sich nicht auf jene Fähigkeit erschöpfend reduzieren lässt, die auf die Neigungsbefriedigung abzielenden Zwecke und Mittel in Übereinstimmung zu bringen. Die Annahme spiegelt m. E. die Alltagsannahme wieder, dass der Mensch in seinem Selbstverständnis ein Subjekt seiner sinnlichen Erscheinungen annimmt, das nicht auf etwas Sinnliches zurückgeführt werden kann. Zusammengefasst: Ein endliches vernünftiges Wesen hat Interesse daran, dass die Handlungsmaxime, die er für sich selbst aufstellt, zu einer allgemeingültigen wird, so dass seine verschiedenen Maxime in einem einzelnen Handlungsprinzip vereinigt werden können. Das Interesse entsteht aus der Tatsache, dass diese Kontinuität (bzw. Einheit) der Maxime seine numerische wie qualitative Identität ermöglicht.
3 Intersubjektive Ebene: die allgemeine Glückseligkeit 3.1 Leitfragen Bei der Ausführung des zweiten Teils der Arbeit waren die Fragen leitend, mit denen ich mich in den folgenden Zitaten konfrontiert habe: Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche manchen, dass jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann (nicht von der größten Glückseligkeit, denn diese [‐die größte Glückseligkeit] wird schon von selbst folgen), ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß im ersten Entwurf einer Staatsverfassung, sondern bei allen Gesetzen zum Grunde liegen muss (KrV B373=A316, meine Herv.). Nun lässt sich in einer intelligiblen, d.i. der moralischen Welt, in deren Begriff wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (der Neigungen) abstrahieren, ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit auch als notwendig denken, weil die durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden (KrV B837=A809, meine Herv.).
In den beiden Zitaten wird das Verhältnis der unter den Gesetzen stehenden Freiheit mit der Glückseligkeit thematisiert. Bemerkenswert ist dabei, dass sich Kants Aufmerksamkeit dort besonders auf die intersubjektive Dimension richtet. Aufgrund dieses Befundes lässt sich annehmen, dass es hier um einen gleichen (zumindest einen eng bezogenen) Sachverhalt geht. Im ersten Zitat: Bei der Ausführung einer Verfassung nach sittlich-rechtlichen Gesetzen, die in der „platonischen Republik“ in Kraft zu treten vermag, fügt Kant hinzu, dass es diese Verfassung zwar nicht auf „die größte Glückseligkeit“ (KrV B373=A316) abzielt, diese jedoch notwendig folgen wird. Im zweiten Zitat wird die gemeinsame Befolgung des Sittengesetzes als „die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit“ (KrV B837=A809) dargestellt.
3.2 Die durch das Moralprinzip gestiftete allgemeine Glückseligkeit Es ist schwer festzustellen, was „die größte Glückseligkeit“ sachlich besagt, weil Kant den Ausdruck an dieser Stelle nur beiläufig erwähnt hat. Die allgemeine Glückseligkeit wird allerdings sofort näher als die „dauerhaft[e] Wohlfahrt“ der „eigenen und zugleich [der] ander[en]“ (KrV B837=A809) bestimmt. In Kants
182
3 Intersubjektive Ebene: die allgemeine Glückseligkeit
Werken befinden sich zahlreiche Textstellen, in denen der Ausdruck „allgemeine Glückseligkeit“ als ein terminus technicus verwendet wird (vgl. KrV B837=A809, B879=A851; KU V: 451 Fn., 453; R 6867 XIX: 186; R 6907 XIX: 202; R 6989 XIX: 221). Mit der allgemeinen Glückseligkeit wird dort eine zweifache Allgemeinheit gemeint: Sowohl die allgemeingültige Glückseligkeit, deren Verwirklichung durch das Sittengesetz nicht nur erlaubt, sondern auch befördert werden kann, als auch den glücklichen Zustand der ganzen menschlichen Gattung. Diese Bestimmung der allgemeinen Glückseligkeit erinnert an das utilitaristische Konzept des kollektiven Wohls. Es gibt jedoch einen grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Konzepten: Das Konzept des Utilitarismus hat das Ziel aller Handlungen im Blick und gibt somit jeder Handlung ihren Grund. Die kantische allgemeine Glückseligkeit kommt nur durch „die allgemeine Ordnung und Eintracht“ (KrV B879=A851) der Freiheit bzw. durch die gemeinsame Befolgung des Sittengesetzes aller vernünftigen Wesen (KrV B837=A809) als Folge zustande. Damit es leichter fällt, „die allgemeine Glückseligkeit“ zu verstehen, die ja immerhin das höchste Gut ist, möchte ich kurz Kants Konzeption des höchsten Guts unter der Perspektive der allgemeinen Glückseligkeit erläutern. Im Anschluss daran möchte ich darauf aufmerksam machen, dass es sich beim höchsten Gut um die kosmologische Idee einer besten Welt handelt. Demnach scheint es beim Konzept des höchsten Guts nicht primär um eine individuelle Befindlichkeit sondern um eine bestimmte Verfassung der Welt zu gehen. Man kann das Konzept der allgemeinen Glückseligkeit dementsprechend als Kants Antwort auf die Frage verstehen,welche Welt durch das Ganze der am moralischen Gesetz orientierten Menschen „wohl, durch die praktische Vernunft geleitet, erschaffen“ (RGV VI: 5) werden kann. Die Welt, in der die Idee des höchsten Guts annähernd bzw. vollständig verwirklicht wird, ist diejenige, in der das Wohlergehen der gesamten menschlichen Gattung gewährleistet werden kann. Kant sagt jedoch nicht, dass die allgemeine Glückseligkeit durch die gemeinsame Befolgung des Sittengesetzes notwendig zustande kommt. Er sagt nur, dass „die durch das sittliche Gesetz wohlgeordnete Freiheit […] die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit“ ist. Der Ausdruck „Ursache“ ist nicht eindeutig. Hat Kant damit eventuell gemeint, dass die allgemeine Glückseligkeit faktisch zustande kommen kann, wenn jeder gemäß dem Sittengesetz handelt? Ein weiterer Abschnitt erhärtet diese Vermutung: Die Moralität und das moralische Gesetz werden von Kant letztlich als „die Form der Glückseligkeit“ bezeichnet. Im ersten Kapitel dieser Untersuchung wurde nun festgestellt, dass die Moralität zwar als die Form der Glückseligkeit fungieren kann, die Materie dafür aber von außen kommen muss. Anders formuliert: Wenn die gesamte Menschheit das Sittengesetz als die letzte Orientierung des Handelns aufstellt und es verfolgt, dann ergibt das
3.2 Die durch das Moralprinzip gestiftete allgemeine Glückseligkeit
183
lediglich eine hinreichende Bedingung für das gemeinsame Wohlbefinden aller Menschen. Kant zufolge reicht die menschliche Bestrebung allerdings nicht zur Verwirklichung der allgemeinen Glückseligkeit aus, da dazu der moralische Welturheber, der die harmonische Verbindung zwischen der Moralität und der Glückseligkeit garantiert, benötigt wird. Diese Auslegung Kants wirkt auf dem ersten Blick schwer verständlich und sogar merkwürdig. Das Postulat vom Dasein Gottes bzw. der moralische Glaube an Gott soll allerdings als die Reaktion auf die unleugbare Tatsache interpretiert werden, dass wir zum Erreichen der Glückseligkeit auf das angewiesen bleiben, was uns von sich aus entgegenkommt. Beim Glückseligkeitsstreben gelangen wir letztlich an unsere Grenzen, da es in unserer Lebensführung etwas gibt, was sich uns aller Anstrengung zum Trotz entzieht. In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass es in dieser Untersuchung nicht darum ging, Grenzen der praktischen Prinzipien, die für die Erfüllung des „Interesses der Neigung“ zur Verfügung stehen, ausfindig zu machen, sondern eher darum, ihre Voraussetzungen und Möglichkeitsbedingungen zu klären. Im fünften Kapitel der Arbeit wird festgestellt, dass endliche vernünftige Wesen die allgemeine Glückseligkeit nur als eine praktische Idee anwenden können. Als eine regulative praktische Idee kann dieses Konzept nicht in seiner vollständigen Gestalt verwirklicht werden. Jedoch ist sie in praktischer Hinsicht nicht leer und sie hat eine subjektive-konstitutive Funktion. Insofern diese Idee uns zur Konstitution einer moralisch geeinten Gemeinschaft der Menschen führen kann, ist sie für uns praktisch hinreichend, d. h. hinreichend dafür, uns zu moralischen Handlungen anzuleiten, indem wir uns an dem Wohlergehen aller Menschen orientieren.
Literaturverzeichnis Texte Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, herausgegeben von der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff.(=AA) Gemeinspruch Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA 08) GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA 04) KpV Kritik der praktischen Vernunft (AA 05) KrV Kritik der reinen Vernunft (zu zitieren nach Originalpaginierung A/B) MS Die Metaphysik der Sitten (AA 06) RGV Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 06) Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Hamburg, 1976. Wolff, Christian: Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen. Zur Beförderung ihrer Glückseligkeit, Frankfurt am Main/Leipzig 4. Auflage, 1736.
Literatur Albrecht, Michael (1974): „Glückseligkeit aus Freiheit und empirische Glückseligkeit: Eine Stellungnahme“. In: Gerhard Funke (Hrsg.): Akten des IV. internationalen Kant-Kongresses, Berlin/New York: De Gruyter, S. 563 – 567. Albrecht, Michael (1978): Kants Antinomie der praktischen Vernunft. Hildesheim/ New York. Allison, Henry. E. (1990): Kant’s Theory of Freedom. Cambridge: Cambridge University Press. Allison, Henry. E. (1996): Idealism and Freedom. Essays on Kant’s theoretical and practical philosophy. Cambridge: Cambridge University Press. Allison, Henry. E. (2011): Kant’s Groundwork for the Metaphysics of Morals. A Commentary. New York: Oxford University Press. Auxter, Thomas (1979): „The Unimportance of Kant’s Highest Good“. In: Journal of the History of Philosophy 17, S. 121 – 134. Bachmann, Viktoria (2013): Der Grund des guten Lebens. Eine Untersuchung der paradigmatischen Konzepte von Sokrates, Aristoteles und Kant. Hamburg: Felix Meiner Verlag. Baron, Marcia (1993): „Freedom, Frailty, and Impurity“. In: Inquiry 36, S. 431 – 441. Baum, Manfred (1998): „Probleme der Begründung Kantischer Tugendpflichten“. In: Jahrbuch für Recht und Ethik (Annual Review of Law and Ethics) 6, S. 42 – 56. Baumgarten, Hans-U. (2001): „Kants kritischer Begriff der Gesinnung“. In: Georg Prauss/ Hans-Ulrich Baumgarten/Carsten Held (Hrsg.): Systematische Ethik mit Kant. Freiburg im Breisgau: Alber Karl. Beck, Lewis W. (1974): Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar. München: Verlag C.H. Beck.
Literatur
185
Beiser, Frederick C. (2007): „Moral faith and the highest good“. In: Paul Guyer (Hrsg.): Cambridge Companion to Kant and Modern Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press, S. 588 – 629. Bielefeldt, Heiner (2003): Symbolic Representation in Kant’s Practical Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press. Bien, Günther (1978): „Die Philosophie und die Frage nach dem Glück“. In: Günther Bien (Hrsg.): Die Frage nach dem Glück. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, S. 9 – 19. Birnbacher, Dieter (2005): „Philosophie des Glücks“. In: E-Journal Philosophie der Psychologie 1, S. 1 – 6. Bittner, Rüdiger (2005): Aus Gründen handeln. Berlin: De Gruyter. Brandt, Reinhard (1999): Kritischer Kommentar zu Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. Hamburg: Felix Meiner Verlag. Caswell, Matthew (2006): „Kant’s Conception of the Highest Good, the Gesinnung, and the Theory of Radical Evil“. In: Kant-Studien 97, S. 184 – 209. Cohen, Hermann (1910): Kants Begründung der Ethik, Berlin: Cassirer. Dean, Richard (2006): The Value of Humanity in Kant’s Moral Theory. Oxford: Clarendon Press. Denis, Lara (2013): „Virtue and Its Ends“. In: Andreas Trampota/ Oliver Sensen/ Jens Timmermann (Hrsg.): Kant’s Tugendlehre. A Comprehensive Commentary. Berlin: De Gruyter, S. 159 – 181. Dörflinger, Bernd (2004): „Führt Moral unausbleiblich zur Religion? Überlegungen zu einer These Kants“. In: Norbert Fischer (Hrsg.): Kants Metaphysik und Religionsphilosophie. Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 207 – 224. Düsing, Klaus (1971): „Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie“. In: Kant-Studien 62, S. 5 – 42. Düsing, Klaus (2009): „Kant und Epikur. Untersuchungen zum Problem der Grundlegung einer Ethik“. In: Edith Düsing/ Klaus Düsing/ Hans-Dieter Klein (Hrsg.): Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Levinas. Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 157 – 174. Engstrom, Stephen (1993): „Allison on rational agency“. In: Inquiry 36, S. 405 – 418. Engstrom, Stephen (1996): „Happiness and the Highest Good in Aristotle and Kant“. In: Stephen Engstrom/ Jennifer Whiting (Hrsg.). Aristotle, Kant and the Stoic. Rethinking Happiness and Duties. Cambridge: Cambridge University Press, S. 102 – 140. Förster, Eckart (1992): „Was darf ich hoffen? Zum Problem der Vereinbarkeit von theoretischer und praktischer Vernunft bei Immanuel Kant“. In: Zeitschrift für philosophiscche Forschung 46, S. 168 – 185. Förster, Eckart (2002), „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“. In: Otfried Höffe (Hrsg.): Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft. München: Oldenbourg Verlag. Forschner, Maximilian (1993): Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Forschner, Maximilian (1998): „Moralität und Glückseligkeit in Kants Reflexionen“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 42, S. 351 – 370. Friedmann, R.Z. (1994): „The Importance and Function of Kant’s Highest Good“. In: Journal of the History of Philosophy 22, S. 325 – 342. Gehardt, Volker (1999): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart: Reclam. Geismann, Georg (2000): „Sittlichkeit, Religion und Geschichte in der Philosophie Kants“. In: Jahrbuch für Recht und Ethik (Annual Review of Law and Ethics) 8, S. 437 – 531.
186
Literaturverzeichnis
Geismann, Georg (2006): „Recht und Moral in der Philosophie Kants“. In: Jahrbuch für Recht und Ethik (Annual Review of Law and Ethics) 14, S. 3 – 124. Grunert, Frank (1998): „Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung“. In: Frank Grunert/ Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Tübingen: De Gruyter. Guyer, Paul (1997): „In praktischer Absicht. Kants Begriff der Postulate der reinen praktischen Vernunft“. In: Philosophisches Jahrbuch 104, S. 1 – 18. Guyer, Paul (2000): Kant on Freedom, Law and Happiness. Cambridge: Cambridge University Press. Hermann, Barbara (2007): Moral Literacy. Cambridge: Cambridge University Press. Hill, Thomas Jr. (1992): Dignity and Practical Reason in Kant’s Moral Theory. New York: Cornell University Press. Himmelmann, Beatrix (2003): Kants Begriff des Glücks. Berlin: De Gruyter. Hinske, Norbert (1986): Lebenserfahrung und Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog. Hinske, Norbert (2000): „Die Ratschläge der Klugheit im Ganzen der Grundlegung“. In: Otfried Höffe (Hrsg.): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar (3., ergänzte Auflage). Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Höwing, Thomas (2013a): „Das Verhältnis der Vermögen des menschlichen Gemüts zu den Sittengesetzen“. In: Andreas Trampota/ Oliver Sensen / Jens Timmermann (Hrsg.). Kant’s Tugendlehre. A Comprehensive Commentary. Berlin: De Gruyter, S. 25 – 58. Höwing, Thomas (2013b): Praktische Lust. Kant über das Verhältnis von Fühlen, Begehren und praktischer Vernunft. Berlin: De Gruyter. Horn, Christoph (2008): „The Concept of Love in Kant’s Virtue Ethics“. In: Monika Betzler (Hrsg.): Kant’s Ethics of Virtue. Berlin: De Gruyter, S. 147 – 174. Horn, Christoph (2011): „Wille, Willensbestimmung, Begehrungsvermögen“, In: Otried Höffe (Hrsg.): Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. München: Oldenbourg Verlag, S. 37 – 53. Irwin, Terrence (1984): „Morality and Personality: Kant and Green“. In: Allen W. Wood (Hrsg.): Self and Nature in Kant’s Philosophy. New York: Cornell University Press. Irwin, Terrence (1996): „Kant’s Criticisms of Eudaemonism“. In: Stephen Engstrom / Jennifer Whiting (Hrsg.): Aristotle, Kant and the Stoic. Rethinking Happiness and Duties. Cambridge: Cambridge University Press. Johnson, Robert N. (2002): „Happiness as a Natural End“. In: Mark Timmons (Hrsg.). Kant’s Metaphysics of Morals: Interpretative Essays. Oxford: Oxford University Press. Keller, Daniel (2007): Der Begriff des höchsten Guts bei Immanuel Kant. Theologische Deutungen. Paderborn: Mentis. Kerstein, Samuel J. (2002): Kant’s Search for the Supreme Principle of Morality. Cambridge: Cambridge University Press. Korsgaard, Christine M. (1996), Creating Kingdom of Ends, Oxford: Oxford University Press. Korsgaard, Christine M. (1998): „Motivation, Metaphysics, and the Value of the Self: A Reply to Ginsborg, Guyer, and Schneewind“. In: Ethics 109, S. 46 – 66. Korsgaard, Christine M. (2009): Self- Constitution: Agency, Identity and Integrity. Oxford: Oxford University Press. Langthaler, Rudolf (1991): Kants Ethik als System der Zwecke. Perspektiven einer modifizierten Idee der „moralischen Teleologie“ und Ethikotheologie. Berlin: De Gruyter.
Literatur
187
Louden, Robert B. (2000): Kant’s Impure Ethics. From Rational Beings to Human Beings. New York/Oxford: Oxford University Press. Ludwig, Bernd (2006): „Kant’s Hypothetical Imperatives“. In: Christoph Horn / Dieter Schönecker (Hrsg.): Groundwork for the Metaphysics of Morals. Berlin: De Gruyter. Marinã, Jacqueline (2000): „Making Sense of Kant’s Highest Good“. In: Kant-Studien 91(3), S. 329 – 355. Mori, Massimo (1993): „Glück und Autonomie. Die deutsche Debatte über den Edukämonismus zwischen Aufklärung und Idealismus“. In: Studia Leibnitiania 25, S. 27 – 42. Murphy, Jeffrie G. (1966): „The Highest Good as Content for Kant’s Ethical Formalism. Beck versus Silber“. In: Kant-Studien 56, S. 102 – 110. Nagl-Docekal, H. (2010): „Über Selbstbestimmung und das Glück. Autonomie bei Kant“. In: Elisabeth List / Harald Stelzer (Hrsg.): Grenzen der Autonomie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 32 – 54. Nenon, Thomas (1997): „The Highest Good and the Happiness of Others“. In: Jahrbuch für Recht und Ethik (Annual Review of Law and Ethics) 5, S. 419 – 435. Neiman, Susan (1994): The Unity of Reason. Reading Kant. New York/Oxford: Oxford University Press. O’Neil, Onora (1989): Constructions of Reason: Explorations of Kant’s practical Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press. Paton, Herbert J. (1962): Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie. Berlin: De Gruyter. Patzig, Günther (1973): „Die logischen Formen praktischer Sätze in Kants Ethik“. In: Georg Prauss (Hrsg.): Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln. Köln: Kiepenheuer u. Witsch, 1973. Pippin, Robert B. (1999): „Dividing and Deriving in Kant’s Rechtslehre“. In: Otfried Höffe (Hrsg.): Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Berlin: Akademie Verlag, S. 63 – 85. Potter, Nelson (1985): „Kant on Ends that are at the same time Duties“. In: Pacific Philosophical Quarterly 66, S. 78 – 92. Prauss, Georg (1983): Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Reath, Andrews (1988) : „Two Conceptions of the Highest Good in Kant“, in: The Journal of the History of Philosophy 26, S. 593 – 619. Reath, Andrews (1989): „Hedonism, Heteronomy, and Kant’s Principle of Happiness“. In: Pacific Philosophical Quarterly 70(1), S. 42 – 72. Reath, Andrews (2006): Agency and Autonomy in Kant’s Moral Theory. Oxford: Oxford University Press. Recki, Birgit (1998): „Der Kanon der reinen Vernunft. >… nichts mehr als zwei Glaubensartikel