"Selig sind, die Verfolgung ausüben": Päpste und Gewalt im Hochmittelalter 3534247116, 9783534247110

"Es seien die selig zu preisen, die Verfolgung ausüben um der Gerechtigkeit willen" - ein totalitärer, ein fun

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German Pages 256 [248] Year 2015

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
I. Einleitung
1. Das auslösende Problem
2. Der Kontext der Untersuchung
3. Durch „Revolution“ zur „Weltherrschaft “: Das Papsttum des Hochmittelalters in der modernen Forschung
4. Anlage und Ziele der Untersuchung
II. Die neuen Geltungsansprüche Gregors VII. und ihre biblische Begründung
1. Ausgangsfrage und methodisches Vorgehen
2. Die biblischen Grundlagen der päpstlichen Geltungsansprüche
III. Frühe Ansätze zur Anwendung von potestas im Reformpapsttum: Der Kampf für den Zölibat und gegen die Simonie
1. Petrus Damiani
2. Humbert da Silva Candida
IV. Rechtfertigung von Gewalt in gregorianischen Streitschriften
1. Bonizo von Sutri
2. Anselm von Lucca
3. Manegold von Lautenbach
V. Gegenstimmen heinricianischer Parteigänger
1. Wenrich von Trier
2. Der Liber de unitate ecclesiae conservanda
3. Hugo von Fleury
VI. Papst Urban II. und die Gewalt gegen Ungläubige auf dem ersten Kreuzzug
VII. Der Einfluss der Gewaltdiskurse auf das Kirchenrecht: Die causa 23 des Decretum Gratiani
VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt
1. Das Problem
2. Gott als Gewaltakteur
3. Stimulation der Kampfb ereitschaft und des Siegeswillens vor der Schlacht
4. Kontroversen um Wege zum Frieden
5. Ergebnisse
IX. Die „Häresie des Ungehorsams“ im 12. und 13. Jahrhundert: Ein Ausblick
1. Das Problem
2. Das Thema im 12. Jahrhundert
3. Innozenz III. und die Zeit des Thronstreits
4. Friedrich II., die Päpste und die „Häresie des Ungehorsams“
X. Zusammenfassung
1. Zum allgemeinen Horizont der hier diskutierten Problematik
2. Ergebnisse der Untersuchungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Literatur
Register
Personen und Orte
Sachen
Verzeichnis der Bibelstellen
Informationen Zum Buch
Informationen Zum Autor
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"Selig sind, die Verfolgung ausüben": Päpste und Gewalt im Hochmittelalter
 3534247116, 9783534247110

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Die Erstürmung Jerusalems durch die Kreuzfahrer unter Gottfried von Bouillon 1099. Französische Buchmalerei des 14. Jh., Bibliothèque Nationale, Ms. fr. 352, fol. 62. Foto: akg-images

Gerd Althoff

„Selig sind, die Verfolgung ausüben“ Päpste und Gewalt im Hochmittelalter

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2013 by WBG (Wissenschaft liche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Daphne Schadewaldt, Wiesbaden Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-24711-0 Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Konrad Theiss Verlag, Stuttgart. www.theiss.de

ISBN 978-3-8062-2751-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72516-8 (für Mitglieder der WBG) eBook (epub): 978-3-534-72517-5 (für Mitglieder der WBG) eBook (PDF): 978-3-8062-2814-4 (Buchhandel) eBook (epub): 978-3-8062-2815-1 (Buchhandel)

Inhalt

Inhalt

Vorwort

7

11 1. Das auslösende Problem 11 2. Der Kontext der Untersuchung 14 3. Durch „Revolution“ zur „Weltherrschaft“: Das Papsttum des Hochmittelalters in der modernen Forschung 19 4. Anlage und Ziele der Untersuchung 31

I. Einleitung

II. Die neuen Geltungsansprüche Gregors VII. und ihre biblische Begründung 39

1. Ausgangsfrage und methodisches Vorgehen 2. Die biblischen Grundlagen der päpstlichen Geltungsansprüche 43

39

III. Frühe Ansätze zur Anwendung von potestas im Reformpapsttum: Der Kampf für den Zölibat und gegen die Simonie 55

1. Petrus Damiani 57 2. Humbert da Silva Candida 67 IV. Rechtfertigung von Gewalt in gregorianischen Streitschriften 75

1. Bonizo von Sutri 76 2. Anselm von Lucca 85 3. Manegold von Lautenbach

93

V. Gegenstimmen heinricianischer Parteigänger

1. Wenrich von Trier 102 2. Der Liber de unitate ecclesiae conservanda 3. Hugo von Fleury 116

112

99

6

Inhalt

VI. Papst Urban II. und die Gewalt gegen Ungläubige auf dem ersten Kreuzzug 121 VII. Der Einfluss der Gewaltdiskurse auf das Kirchenrecht: Die causa 23 des Decretum Gratiani 147 VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt 165

1. Das Problem 165 2. Gott als Gewaltakteur 173 3. Stimulation der Kampfbereitschaft und des Siegeswillens vor der Schlacht 176 4. Kontroversen um Wege zum Frieden 180 5. Ergebnisse 187 IX. Die „Häresie des Ungehorsams“ im 12. und 13. Jahrhundert: Ein Ausblick

1. 2. 3. 4.

189 Das Problem 189 Das Thema im 12. Jahrhundert 192 Innozenz III. und die Zeit des Thronstreits 201 Friedrich II., die Päpste und die „Häresie des Ungehorsams“ 209

215 1. Zum allgemeinen Horizont der hier diskutierten Problematik 215 2. Ergebnisse der Untersuchungen 220

X. Zusammenfassung

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen 231 Literatur 234 Register 247 Personen und Orte 247 Sachen 251 Verzeichnis der Bibelstellen

253

231

Vorwort

Vorwort

Die hier vorgelegten Forschungen nehmen das Papsttum des Hochmittelalters unter einer neuen Fragestellung in den Blick. Keine andere Institution der Zeit ist aber so intensiv erforscht worden wie dieses Papsttum. Jeder, der über die Päpste dieser Zeit arbeitet, steht damit vor dem Problem, eine Ökonomie der Literaturhinweise entwickeln zu müssen, damit diese nicht die eigenen Untersuchungen überwuchern. Auch ich habe vorrangig Arbeiten zitiert, die für meine eigene Argumentation wichtig waren, und auf jeden Versuch verzichtet, eine in irgendeiner Weise vollständige Dokumentation bisheriger Forschungsbemühungen zu diesem Feld zu liefern. Dafür bitte ich gleich eingangs um Verständnis. Die bisherige Beschäftigung mit dem Papsttum im Allgemeinen und mit dem Reformpapsttum im Besonderen geschah nicht selten cum ira et studio, da das höchste Amt der römisch-katholischen Kirche aus unterschiedlichen Gründen polarisierte. Deshalb erfuhren die Geschichte und die Taten der Päpste deutlich unterschiedliche Wertungen, die vom jeweiligen Zeitgeist und Parteienstandpunkt geprägt waren. Dies führte auch zu einer latenten Tendenz, einschlägigen Arbeiten a priori zu unterstellen, sie verfolgten entweder apologetische oder denunziatorische Ziele. Eine derartige Unterstellung liegt beim Thema „Papsttum und Gewalt“ besonders nahe. Deshalb weise ich eingangs ausdrücklich auf die eigentlich selbstverständliche Verpflichtung historischer Forschung hin, geschichtliches Geschehen aus kritischer Distanz darzustellen und dabei lebensweltlich bedingte Voreingenommenheit welcher Art auch immer so weit wie eben möglich auszublenden. Zwar kann sich kein Historiker von der Prägung durch seine Zeit und Lebenswelt gänzlich lösen. Doch gibt es zwischen Apologie und Denunziation viele Zwischenstufen, die einzunehmen keine übernatürlichen Fähigkeiten erfordert. Ich fühle mich jedenfalls keinem der beiden hypostasierten Lager zugehörig. Ob ich dies in ausreichendem Maße deutlich machen konnte, müssen aber andere entscheiden. Die Rahmenbedingungen für die hier vorgelegte Arbeit waren überaus günstig. Sie entstand seit 2008 im münsterischen Forschungscluster

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Vorwort

„Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“, in dem Vertreter verschiedenster geistes- und kulturwissenschaft licher Fächer – darunter die katholische wie evangelische Theologie, die Islamwissenschaft und Judaistik, die Rechtswissenschaft mit verschiedenen ihrer Grundlagenfächer, die Religionssoziologie und nicht zuletzt die Literatur- und Geschichtswissenschaft – zusammenarbeiten, die in vielfacher Hinsicht Sachkompetenz und Interesse für die Fragen aufbrachten, vor die ich gestellt war. Dies hat zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit in durchaus verschiedenen Formen geführt, die ich in dieser Intensität bisher noch nicht erlebt habe. In unzähligen Einzelgesprächen und in Arbeitsgruppen habe ich immer wieder von kritisch-kompetentem Mitdenken profitiert, auf Tagungen und in Ringvorlesungen mehrfach Teilbereiche der Arbeit zur Diskussion stellen können. Es gibt überdies ein gutes Dutzend Personen des Clusters, die diese Arbeit in ihren verschiedenen Rohzuständen ganz oder in Teilen gelesen und kommentiert haben. Von diesem fruchtbaren Umfeld hat die Arbeit in weit größerem Maße profitiert, als es der herzliche Dank ausdrücken kann, den ich namentlich Reinhard Achenbach, Rainer Albertz, Arnold Angenendt, Nils Jansen, Hagen Keller, Christel Meier, Peter Oestmann, Detlev Pollack, Theo Riches, Rüdiger Schmitt, Johannes Schnocks, Ludwig Siep, Barbara StollbergRilinger und Erich Zenger (†) aussprechen möchte. Iris Fleßenkemper und Viola van Melis haben mit ihren Teams für weitere optimale Rahmenbedingungen gesorgt, gemäß der Philosophie des Clusters, man müsse den Mitgliedern nicht zuletzt die Möglichkeit schaffen, Monographien zu schreiben. David Crispin, Stephanie Kluge und Fabian Weimer haben als studentische Hilfskräfte viel Akribie und Energie in die unterstützende Arbeit investiert und sich dabei auch so mit der Sache identifiziert, dass sie in ihren Qualifikationsarbeiten benachbarte Themen behandeln. Für diesen ermutigenden Nachweis des Zusammenwirkens von Forschung, Lehre und Teamarbeit bin ich dankbar und glücklich. Aber auch auswärtige Kollegen waren in die Diskurse über dieses Buch integriert. Wilfried Hartmann (Tübingen) hat während einer Gastprofessur in Münster und danach seine breite Kompetenz zu vielen Aspekten dieses Themas intensiv eingebracht. Vor allem die zwei Kolloquien sind in Münster unvergessen, in denen wir die meisten der jetzigen Kapitel unter Beteiligung eines größeren Interessentenkreises diskutierten. Die Arbeit hat durch diese Diskussionen erst ihre heutige Gestalt bekommen.

Vorwort

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Knut Görich (München) war während seiner münsterischen Gastprofessur wie immer ein kompetenter und ebenso hilfsbereiter wie hilfreicher Gesprächspartner, der auch später am Fortgang dieser Arbeit intensiven Anteil nahm. Dies gilt gleichermaßen für Stefan Weinfurter (Heidelberg), der wie schon bei „Heinrich IV.“ mündlich-persönlich und telefonisch die ganze Zeit mitdiskutiert und auch mitgelesen hat. In der Spätphase der Arbeit ist Andreas Thier (Zürich) ein wichtiger Gesprächspartner gerade, aber nicht nur, für Fragen des kanonischen Rechts geworden. Ihnen allen bin ich zu großem Dank verpflichtet und hoffe sehr, wenigstens einiges vom Erhaltenen zurückgeben zu können. In der Endphase der Arbeiten an diesem Buch erschien eine „Streitschrift“: Johannes Fried, Canossa. Entlarvung einer Legende. Ich habe nach einigem Überlegen darauf verzichtet, ein Kapitel anzufügen, das sich kritisch mit dem neuen Sachstand auseinandersetzt. Doch weise ich darauf hin, dass mein Buch in der Sache auch eine Antwort auf diese „Streitschrift“ enthält, weil es nicht zuletzt die religiös-politische Vorstellungswelt Gregors VII. zum Thema hat. Aus der Vorstellungswelt dieses Papstes ergeben sich viele Argumente gegen die These der „Streitschrift“ von den federa pacis, dem Friedensbündnis zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. in Canossa, das 1077 die Welt kurzzeitig verändert haben soll. Die vermeintliche Entdeckung eines spektakulären Bündnisses veranlasste Fried dazu, die zahllosen Quellenaussagen, die der von ihm unterstellten Bedeutung des Friedensbündnisses widersprechen, zugunsten eines allgemeinen Satzes bei einem Zeitgenossen (Arnulf von Mailand) beiseitezuschieben, dem bis dahin niemand diese Bedeutung gegeben hatte – und das meines Erachtens zu Recht. Die Kapitel 2, 4 und 5 dieses Buches handeln vor allem von den Grundlagen und Inhalten des päpstlichen Amtsverständnisses, das Gregors Handeln bestimmte. Seine zahlreichen Äußerungen zu diesem Thema wie die seiner Anhänger und Gegner lassen keinen Raum für die Annahme, er habe in Canossa alle diese Vorstellungen kurzerhand über Bord geworfen und sich auf das Wagnis eines politischen Friedensbündnisses mit Heinrich IV. eingelassen. Man kann diesem Papst Einiges vorwerfen, aber gewiss nicht einen prinzipienlosen Aktionismus. Münster, im Juli 2012

Gerd Althoff

I.

Einleitung

1. Das auslösende Problem I. Einleitung 1. Das auslösende Problem

Den Anlass zu den Forschungen, die hier vorgelegt werden, gab eine Beobachtung, die sich dem Verständnis nicht leicht erschloss. Bischof Bonizo von Sutri, Autor einer Streitschrift im sogenannten Investiturstreit, ein enger Vertrauter Papst Gregors VII., schreibt in seinem Liber ad amicum etwas sehr Überraschendes. Seine Aussage relativiert die Verpflichtung des Christen zur unbedingten Friedens- und Feindesliebe, wie sie in der Bergpredigt ihren starken Ausdruck fand, doch sehr beträchtlich: Es seien die selig zu preisen, die Verfolgung ausübten um der Gerechtigkeit willen, sie seien denen gleich, die Verfolgung erlitten um der Gerechtigkeit willen.1 Als Autorität führte er keinen Geringeren als den Kirchenvater Augustinus an. Eine Nachprüfung der Belegstelle ergibt jedoch, dass Augustinus keineswegs als Gewährsmann für die ungewöhnliche Behauptung herangezogen werden kann. Seine Ausführungen lauteten anders und waren von Bonizo oder anderen tendenziös interpretiert, um nicht zu sagen bewusst missverstanden worden.2 Gelten aber sollte die neue Doktrin für die Zeit Gregors VII., die Zeit der Kirchenreform und der Etablierung der päpstlichen Suprematie.

1 Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, S. 619: Idem de sermone Dei habito in monte, cum de beatudinibus loqueretur et venisset ad Beati qui persecutionem paciuntur propter iustitiam, equaliter dixit (sc. Augustinus) beatos eos, qui persecutionem inferunt propter iustitiam, acsi qui persecutionem paciuntur propter iustitiam. Zu dieser Stelle und ihrer Fehlinterpretation siehe bereits Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 233 mit Anm. 101. 2 In Brief 185, cap. 2, 11 spricht Augustinus von einer gerechten Verfolgung (iusta persecutio), die die Kirche den Ungläubigen zuteil werden lasse. Überdies erwähnt er auch die Verdammten (miseri), die Verfolgung erleiden ob ihrer eigenen Ungerechtigkeit. Selig gepriesen hat er diejenigen, die solche Verfolgung ausübten, jedoch nicht. Dies ist die zuspitzende Überinterpretation Bonizos. Zu Bonizo siehe ausführlicher unten S. 76 ff.

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I. Einleitung

In welchen Zusammenhang gehört eine solch tendenziöse Auslegung der Tradition? Wie hängt sie mit den vieldiskutierten Vorstellungen und Zielen des Reformpapsttums zusammen, das die Befreiung der Kirche vom Einfluss der Laien auf seine Fahnen geschrieben, zudem aber eigene neue Geltungsansprüche in Kirche und Welt formuliert hat? Welche Rolle spielte in den neuen Konzepten von der päpstlichen Machtfülle nicht nur die Binde- und Lösegewalt im Himmel und auf Erden, sondern auch die Berechtigung zur Ausübung von physischer Gewalt gegen Ungehorsame und Widerspenstige? Die Bonizo-These und ihre für moderne Christen wohl eher schockierende Fremdartigkeit, die dennoch bisher in der Forschung wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, weist auf Schwachpunkte und blinde Flecken in unserem Verständnis der Reformprozesse des 11. Jahrhunderts und ihrer argumentativen Grundlagen hin. Es scheint nicht wirklich verstanden worden zu sein, warum Bonizos Traktat sich sehr ernsthaft mit der Frage beschäftigt, ob es dem Christen erlaubt sei, für die Wahrheit Gewalt anzuwenden. Und warum er diese Frage mit einem entschiedenen Ja beantwortete. Der „Sitz im Leben“ dieser These ist daher das Thema der folgenden Abhandlung. Oder anders gesagt: Woher nahm das Reformpapsttum die Legitimation, die eigenen Ziele durch den Einsatz von Gewalt erreichen zu dürfen? Erklärt sich vielleicht das so oft beschriebene übersteigerte Sendungsbewusstsein Gregors VII., sein religiöser Fundamentalismus, aus der gleichen Quelle, aus der auch die Gewissheit kam, für die Glaubenswahrheit Verfolgung ausüben zu dürfen? Mit dieser Frage begibt man sich in ein intensiv erforschtes Terrain. Vielfach beschrieben worden ist die Ereignisgeschichte dieser Reformbewegung, vielfach zitiert sind auch die Belege, die ihre zentralen Ansprüche und Anliegen dokumentieren. Weniger im Blick ist dagegen die normative Grundlage, auf der diese Ansprüche erhoben wurden und die bisherige theologische Begründung des Selbstverständnisses der Kirche aufgegeben oder hintangestellt wurde. In diesem Buch geht es daher vorrangig um die Frage, unter welchen Bedingungen und mit welchen Argumenten die Päpste seit dem 11. Jahrhundert die Anwendung von Gewalt im Dienste und im Auftrag der Kirche als legitim deklarierten. Und mit welchen Autoritäten sie diese neue Sicht begründeten. Die zitierte Stelle gehört in einen Kontext, der die Untersuchungen in eine bestimmte Richtung lenkt. Bonizo beschäftigte sich in dem genannten Werk mit einer grundsätzlichen Frage, die er zu Beginn und am Ende explizit formulierte: „Ist es dem Christen erlaubt, für die Wahrheit mit Waffen

1. Das auslösende Problem

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zu kämpfen?“3 In dieser Formulierung ist vor allem die Benutzung des Wortes veritas von Gewicht, das eine zentrale Bedeutung für das kirchliche Selbstverständnis hat. Die Formulierung lebt von der Gewissheit, dass die Kirche im Besitz der Wahrheit Christi sei, die Christus symbolisch mit den „Schlüsseln des Himmelreiches“ an Petrus übertragen habe und die von diesem in den Besitz der Päpste, der Nachfolger Petri, gelangt sei. Diese Gewissheit hat gerade Papst Gregor VII. in seinen Briefen immer wieder betont.4 Für die Wahrheit mit Waffen zu kämpfen meinte also, es für die Kirche zu tun. Bonizo ging es in seiner Schrift darum, zu beweisen, dass man im Dienst und Auftrag der Kirche berechtigt sei, Gewalt anzuwenden. Zu diesem Zweck sammelte er einschlägige Aussagen der Bibel, der Kirchenväter und Beispiele aus der Geschichte, die nach seiner Auffassung Antworten auf diese Frage gaben. Die Tendenz und das Ergebnis der Schrift sind eindeutig: Gewalt im Dienste und Auftrag der Kirche ist unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Das belegen die Stellungnahmen der von ihm zitierten Kirchenväter ebenso wie die exempla heiliger und gottesfürchtiger Männer aus der Heiligen Schrift und der Geschichte. Das Werk war vielleicht an die Markgräfin Mathilde von Tuszien gerichtet, die mit ihren Vasallen Papst Gregor VII. in seinen vielfältigen Konflikten mit den Anhängern Heinrichs IV. militärisch unterstützte und so in der Tat im Dienste der Wahrheit Gewalt anwendete.5 Bonizos Werk sollte also der Legitimierung realen bewaff neten Kampfes für die Kirche dienen und zeigt exemplarisch, mit welchem Aufwand man im Umkreis Gregors und gewiss auch im Einvernehmen mit ihm Belege für diese Legitimierung sammelte und und zu einer neuen Gewalttheorie der Kirche verarbeitete.

3 Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, S. 571: Si licuit vel licet christiano pro dogmate armis decertare, und S. 618: Sed cum superius a me quaesisses, amice dulcissime, si licet christiano armis pro veritate decertare. Die Frage findet sich also in sehr ähnlicher Formulierung am Anfang und am Ende des Werks. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die Gewaltanwendung einmal pro veritate und einmal pro dogmate geschehen soll. Gemeint ist jedoch in beiden Fällen das Gleiche. 4 Vgl. Hartmann, Wahrheit und Gewohnheit, S. 65 ff.; Weinfurter, Canossa, S. 106. 5 Siehe dazu bereits Mirbt, Publizistik, S. 43; Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 229 ff.; neuerdings Suchan, Königsherrschaft im Streit, S. 255 ff.; zur Markgräfin Mathilde siehe Goez, Markgräfi n Mathilde, bes. S. 245 ff.

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I. Einleitung

2. Der Kontext der Untersuchung 2. Der Kontext der Untersuchung

Mit Bonizos Werk und Argumentation ist indes nur die Spitze eines Eisbergs angesprochen. Er ist nur eine Stimme in dem vielstimmigen Chor, der die Argumente Gregors VII. und seines Kreises verbreitete und in Streitschriften, Briefen, Kanonessammlungen und anderem schrift lich niederlegte. Und in einer ganzen Reihe dieser Zeugnisse steht die Frage, ob und unter welchen Bedingungen ein Christ für die Kirche oder den Glauben Gewalt anwenden dürfe, im Vordergrund des Interesses. Wie aber kam der „Sitz des Friedens“, wie der päpstliche Thron auch genannt wurde, zu der Ansicht, seine Anliegen und Interessen mit Gewalt durchsetzen zu dürfen, ja zu müssen? Woher nahm er die Legitimation, der leidenden Erduldung von Verfolgung die Ausübung von Verfolgung gleichzusetzen? Hierauf gibt es zurzeit in der Forschung keine Antwort. Mit dieser Frage werden wir auf den gewaltigen Umbruch verwiesen, den Kirche und Welt in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts erlebten. Das Papsttum beanspruchte in dieser Zeit in Kirche und Welt die führende Rolle, die Suprematie. Am prägnantesten niedergelegt wurde dieser Anspruch von Gregor VII. im Jahre 1075 in den 27 Sätzen des Dictatus papae, die vor allem die päpstlichen Vorrechte gegenüber Bischöfen und Königen in neuer Weise fi xierten. Es waren neue Geltungsansprüche, die in der Kirche wie in der Welt Widerstände auslösten, weil sie den bisherigen Gewohnheiten nicht entsprachen, sie sogar in beträchtlichem Ausmaß und gravierend zu verändern versuchten. In einem Zeitalter, das Gewohnheiten verpflichtet war, stellten völlig neue Geltungsansprüche ganz gewiss ein Problem dar. Gregor VII. musste denn auch energisch darauf hinweisen: Christus habe gesagt: „Ich bin die Wahrheit“ – und nicht: „Ich bin die Gewohnheit“.6 Welche Wahrheit Christi aber brachten Gregor und sein Kreis gegen die herrschenden Gewohnheiten der Zeit in Stellung? Immerhin richteten sich die neuen Vorstellungen ja zentral gegen die bisher praktizierte, intensive Form der Zusammenarbeit von Königtum und Kirche. Die sakrale Stellung des Königtums war bis dahin allgemein anerkannt; die Zusammenarbeit von Königtum und Kirche hatte sich in vielerlei Hinsicht be6 Gregor VII., Epistolae Vagantes, Nr. 67, S. 151; siehe dazu Weinfurter, Canossa, S. 106 ff., auch mit einer eingehenden Würdigung des Dictatus papae.

2. Der Kontext der Untersuchung

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währt. Nun jedoch erhob sich mächtig der Ruf und die Forderung nach der libertas ecclesiae, die den Einfluss der Laien, zu denen man nun auch die Könige zählte, in der Kirche unterbinden sollte. Es muss durchschlagende Argumente und Belege gegeben haben, die den neuen Wahrheiten Gregors und seines Kreises Geltung verschafften. Diese Argumente konnte man nur aus der Tradition beziehen, die auch bisher schon benutzt worden war: aus den heiligen Schriften des Christentums und aus den exempla der Kirchengeschichte. Die Neuerungen müssen also auf der Basis der auch bisher benutzten Texte generiert worden sein. Diese Legitimierung neuer Geltungsansprüche gelang offensichtlich mittels eines neuen Verständnisses der alten Autoritäten, auch wenn man die Tatsache, dass man zudem in gutem Glauben auf Fälschungen zurückgriff, nicht gänzlich unterschätzen sollte.7 Was also war die Grundlage der Legitimierung dieser Neuerungen? Welche Belegstellen der Tradition wurden herangezogen, um eine solch umstürzende Neuerung wie die zu begründen, es sei der Kirche erlaubt, zur Durchsetzung ihrer Interessen Gewalt zu benutzen? Den Aufbau einer militia sancti Petri durch Gregor VII., die dem Papsttum den nötigen militärischen Rückhalt für seine politischen und kirchlichen Aktivitäten verschaffen sollte und die vom Papst für konkrete militärische Aufgaben vorgesehen und auch eingesetzt wurde, hat man in diesem Zusammenhang schon lange bemerkt.8 Dennoch steht selbst in neuesten Publikationen zu den Reformpäpsten und zu Gregor VII. das Thema Gewalt gewiss nicht im Vordergrund.9 Und auch in jüngsten umfassenden Arbeiten zum Verhältnis des Christentums zur Gewalt spielen die Person und die Zeit Gregors VII. keine Rolle.10 Deutet sich hier ein blinder Fleck in der christlichen Sicht auf die eigene Geschichte an? 7 Vgl. dazu Tellenbach, Westliche Kirche, bes. S. 236 ff.; zum Einfluss der Fälschungen siehe fuhrmann, Pseudoisidorische Fälschungen, bes. S. 49 ff. 8 Vgl. Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 185 ff. 9 Vgl. Cowdrey, Gregory VII, S. 650 ff. mit knappen Bemerkungen zu den bekannten kriegerischen Aktivitäten auf Veranlassung Gregors; Weinfurter, Canossa, S. 101 ff. thematisiert nachdrücklich die Gehorsamsforderung Gregors, nicht jedoch die Gewaltfrage. 10 Vgl. Angenendt, Toleranz und Gewalt, sowie Holzem (Hg.), Krieg und Christentum. Beide Werke widmen Gregor VII. keine Aufmerksamkeit, was angesichts des Themas ihrer Bücher und nach den Vorarbeiten Carl Erdmanns erstaunlich ist.

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I. Einleitung

Mit diesen Fragen ist eine ganze Reihe von Problemen aufgeworfen, auf die die bisherige Forschung zwar immer wieder zu sprechen kam, aber keine zufriedenstellenden Antworten gab. Natürlich wurde bemerkt, dass das sogenannte Reformpapsttum Gewalt im Dienst und Auftrag der Kirche zuließ, befürwortete und förderte, was sich nicht zuletzt im Aufbau der militia sancti Petri manifestierte, die aus Kriegern verschiedener europäischer Länder gebildet und mittels Lehnseiden auf den Papst verpflichtet werden sollte. Sie sollte den Päpsten im Kampf gegen Ungläubige wie gegen Unbotmäßige innerhalb der Christenheit helfen. Allgemeingut ist auch das Wissen, dass es Reformpäpste waren, die die Kreuzzugsbewegung initiierten.11 Seit Carl Erdmanns bahnbrechendem und zu Recht bis heute berühmtem Buch über die Entstehung des Kreuzzugsgedankens haben wir gelernt, die Zusammenhänge zwischen diesen Erscheinungen und Prozessen zu sehen. Erdmann hat nicht zufällig Gregor VII. als den „kriegerischsten Papst“ bezeichnet, der je auf dem Stuhle Petri gesessen habe. Mit den legitimatorischen Grundlagen dieser neuen Geltungsansprüche hat sich jedoch auch Erdmann nicht befasst. Ebenso gehört es zum historischen Grundwissen, dass die gleichen Päpste namentlich mit den salischen Kaisern eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die rechte Ordnung der Welt führten, mit der sie ihre Suprematie über Könige und Kaiser durchzusetzen versuchten, und hierbei durchaus erfolgreich, aber auch gewaltbereit waren.12 An die Stelle der Zwei-Gewalten-Lehre, die ein Zusammengehen der höchsten weltlichen und höchsten geistlichen Gewalt in pax und concordia vorsah, traten Versuche der wechselseitigen Unterordnung, die unter Einsatz von Exklusion und Gewaltanwendung vonstattengingen. Solche Unterordnung hatten bis dahin aufgrund der herrschenden Machtverhältnisse vor allem Kaiser zum Teil sehr demonstrativ erzwungen, wie unter anderem jene Synode von Sutri im Jahre 1046 nachweist, als Kaiser Heinrich III. drei streitende Papstprätendenten ab- und einen vierten einsetzte. Es sagt viel über die deutsche Forschung, dass sie diesen Vorgang lange Zeit als den Höhepunkt des „ottonisch-salischen Reichskirchen11 Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 284 ff.; Flori, Guerre sainte, bes. Kap. 7, S. 191 ff. 12 Vgl. Tellenbach, Westliche Kirche, bes. S. 257 f.; Ullmann, Machtstellung des Papsttums, bes. S. 383 ff.; zuletzt Weinfurter, Canossa, S. 101 ff.; Althoff, Heinrich IV., S. 118 ff.

2. Der Kontext der Untersuchung

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systems“ gefeiert hat. Welche Wirkungen aber dieser massive Versuch der Unterordnung des Papsttums unter das Kaisertum zeitigte und welche Reaktionen er hinsichtlich einer neuen legitimatorischen Fundierung der päpstlichen Stellung auslöste, hat man bisher nicht entschieden gefragt. Dreißig Jahre nach dieser Synode von Sutri exkommunizierte Papst Gregor VII. König Heinrich IV., löste alle von den Eiden, die sie dem König geleistet hatten, und setzte ihn damit de facto ab. Diese Neuerung geschah nicht ohne theoretisch-theologische Vorbereitung. Und zur Vorbereitung gehörte gewiss auch, sich auf gewaltsame Auseinandersetzungen als Konsequenz dieser Absetzung einzustellen. Wie entschlossen Gregor zum notfalls gewalttätigen Austrag des Konfliktes nach seiner Bannung Heinrichs IV. war, sei nur mit dem Schluss eines Briefes belegt, den der Papst an drei deutsche Bischöfe sandte, um einen vierten zu mahnen, den er für einen Anhänger Heinrichs IV. hielt: „Wenn er die Worte unserer Ermahnung missachtet, so sagt ihm, sei er durch die Vollmacht des heiligen Petrus von der Gemeinschaft mit dem Leib und Blut unseres Herrn Jesus Christus getrennt und nicht nur geistig, sondern körperlich durch eine entsprechende Rache desselben Apostelfürsten zu bestrafen.“13 Wie Gregor sich die Rache des heiligen Petrus konkret vorstellte, sagt der Brief nicht. Doch macht der Hinweis darauf, dass diese Rache nicht nur geistig, sondern auch körperlich sein sollte, wohl darauf aufmerksam, dass es sich hier nicht nur um allegorische Gewaltrhetorik handelt. Wir werden jedenfalls zu prüfen haben, wie viel reale Gewalt derartige Gewaltrhetorik nach sich zog oder sogar anvisierte. Auf mehreren Feldern beobachtete man für die Zeit des sogenannten Investiturstreits und die Entstehung der Kreuzzugsbewegung also bereits eine grundsätzliche Bejahung der Gewaltausübung im Dienste der Kirche, ohne sich allerdings intensiver darum zu kümmern, welche legitimatorischen Grundlagen sie hatte. Dies blieb auch durchaus keine temporäre Erscheinung, sondern zeitigte langfristigere Konsequenzen. Das neue Verhältnis der Kirche zur Gewalt fand nämlich wohl nicht zufällig nachhaltigen Eingang ins sich verfestigende Kirchenrecht, wie das Decretum Gratiani aus 13 Vgl. Register Gregors VII., lib. III, Nr. 12, S. 274: Qui si verba exhortationis nostre contempserit, auctoritate beati Petri eum a communione corporis et sanguinis domini nostri Iesu Christi separatum esse sibimet notificetis et non solum in anima sed in corpore ipsius principis apostolorum digna ultione fore puniendum.

18

I. Einleitung

den 20er und 40er Jahren des 12. Jahrhunderts zeigt.14 Zu den Quellen, die Gratian in einschlägigen Zusammenhängen nutzte, gehören gerade auch Autoren, die bereits Papst Gregor in seinen Bemühungen um die Legitimation von Gewaltanwendung im Dienste der Kirche unterstützt hatten. Es scheint daher sinnvoll zu fragen, inwieweit Gratian sich der neuen kirchlichen Gewalttheorie öffnete, die in der Zeit des Reformpapsttums entwickelt worden war, und inwieweit er von den Argumentationen und Autoritäten abhing, die Grundlage der gregorianischen Gewalttheorie gewesen waren. Trotz vielfältiger Forschung in den einzelnen Feldern zu einschlägigen Themen hat die Frage des Verhältnisses der Kirche zur Gewalt im Hochmittelalter seit Carl Erdmanns bahnbrechendem Buch über die Entstehung des Kreuzzugsgedankens keine zusammenhängende Darstellung mehr gefunden, die die angesprochenen Themen berücksichtigt und ihren inneren Zusammenhang geklärt hätte.15 Eine Gesamtdarstellung liegt auch nicht in der Absicht der folgenden Bemühungen. Um der Stoff fülle Herr zu werden, scheint es vielmehr geraten, die Ausführungen der schon angesprochenen Leitfrage unterzuordnen: Welche Legitimationsbasis fand und etablierte man für die Anwendung von Gewalt im Dienste und zum Nutzen der Kirche? Wie stellt sich überdies diese Legitimation von Gewalt im Kontext der anderen neuen Geltungsansprüche dar, die das Reformpapsttum bezüglich seiner eigenen Stellung in Kirche und Welt erhob? Gibt es Hinweise darauf, dass erst diese neuen Geltungsansprüche eine gewisse Notwendigkeit mit sich brachten, zu ihrer Durchsetzung auch Gewalt zu legitimieren und anzuwenden? Trotz langer und intensiver Erforschung der fraglichen Zeit und der angesprochenen Veränderungen fehlen auf diese Fragen immer noch viele Antworten. Ein kurzer Überblick über ältere und neuere Tendenzen in der Beurteilung des sogenannten Reformpapsttums in der internationalen Forschung soll dies 14 Insbesondere die causae 23 und 24 des Decretum Gratiani widmen sich ausführlich der Frage, in welchen Fällen die Anwendung von Gewalt im Allgemeinen und gegen Häretiker im Besonderen gerechtfertigt sei. In diesem Zusammenhang zeigt sich die Wirkmächtigkeit der Diskurse der Zeit Gregors VII. ganz deutlich, siehe dazu unten Kap. VII. 15 Bei Angenendt, Toleranz und Gewalt, wäre die Befassung mit dieser Zeit und der Institution des hochmittelalterlichen Papsttums eigentlich zu erwarten, sie werden jedoch lediglich bei der Behandlung der Kreuzzugsthematik und der Ketzerbekämpfung berücksichtigt.

3. Das Papsttum in der modernen Forschung

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belegen und damit sozusagen die Folie bilden, vor der die eigene Argumentation entfaltet werden kann.

3. Durch „Revolution“ zur „Weltherrschaft“: Das Papsttum des Hochmittelalters in der modernen Forschung 3. Das Papsttum in der modernen Forschung

Mustert man die Schlüsselbegriffe, mit denen das Papsttum des Hochmittelalters in der modernen Forschung charakterisiert wurde und wird, fällt unschwer die verbreitete Neigung auf, die Entwicklung mit martialischen Begriffen zu charakterisieren. Dies hängt neben sachlichen Gründen ganz augenscheinlich auch mit der Tatsache zusammen, dass die Institution des Papsttums in vielen Jahrhunderten Akteur und Partei in religiösen und politischen Konflikten war und sich deshalb Stereotype verfestigt haben, die eine distanzierte Objektivität der Urteile erschwerten. Die Erforschung der Papstgeschichte leidet zum Teil bis heute darunter, dass Wertungen auf diesem Feld schnell unter den Verdacht gestellt werden, sie seien entweder „Apologie“ oder „Denunziation“16. Wie schwer es bei diesem Forschungsobjekt offensichtlich war und ist, eine kritische Distanz zum Gegenstand einzunehmen, vermag vielleicht schlaglichtartig die Tatsache zu erhellen, dass der bekannte englische Erforscher des Papsttums, Geoff rey Barraclough, im Literaturverzeichnis eines seiner einschlägigen Werke die Konfession aller zitierten Autoren angab.17 Dies war nicht unberechtigt, da die jeweiligen Positionen der Autoren offensichtlich häufiger von ihrem religiösen Bekenntnis in chrakteristischer Weise beeinflusst wurden, was hier nicht im Einzelnen verfolgt werden soll. Im Folgenden seien lediglich Tendenzen der Urteile skizziert, um vor allem einige der bisherigen Hauptrichtungen der Forschung einsichtig zu machen.18 Diese Darlegung wird aber auch den

16 Vgl. Holzem, Krieg und Christentum, S. 70. Siehe dazu auch unten Anm. 61. 17 Vgl. Fuhrmann, Päpste, S. 294, der darauf hinweist, dass die meisten der berühmten deutschen Papstforscher Protestanten waren. 18 Einen aspektreichen Überblick über die breit gefächerte neuere Forschung, der hier nicht zu wiederholen ist, gibt Hartmann, Investiturstreit, S. 63 ff.; Texte und Literatur zu den hier interessierenden Themen auch bei Laudage, Investiturstreit.

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Nebeneffekt haben zu zeigen, dass die Leitfragen dieses Buches bisher nicht beantwortet worden sind, auch wenn sie durchaus anklangen. Weit verbreitet ist bis heute die Auffassung, dass die Veränderungen, für die im 11. Jahrhundert vor allem der Name Papst Gregors VII. stand, als „revolutionär“ und als „päpstliche Revolution“ adäquat zu bezeichnen seien. Diese Begriffsbildung fand vor allem im angelsächsischen Raum Resonanz, wo sie mit Harold Berman oder Karl Leyser prominente Verfechter hatte19. Aber auch Johannes Haller benutzte bereits den Begriff der „kirchlichen Revolution“, deren Beginn er mit der Erhebung Papst Nikolaus’ II. ansetzte, mit dem das Papsttum „die Bahn der Reform verlassen und die Fahne der Revolution entrollt“ habe.20 In der Schrift Humberts da Silva Candida gegen die Simonisten sah Haller das Programm dieser Revolution bereits formuliert. Dennoch war für ihn die Revolution auch fest mit dem Namen und Wirken Gregors VII. verbunden: „dass Petrus und in seinem Namen der Papst auch die Welt beherrsche, dieser Gedanke ist Gregors Eigentum“.21 Und er charakterisierte Gregors Herrschaftsauffassung in einer wirkmächtigen und bis heute richtungsweisenden Art: „Sein Herrschertum wurzelt ganz im Jenseitsglauben, die päpstliche Weltherrschaft, wie er sie denkt, ist eine religiöse Idee … aber sein Gott war nicht der liebende Vater, nicht der Gott der Gnade und der Barmherzigkeit. Es war der Gott des Alten Testaments, der zürnende und strafende Richter und Rächer, dem man zu dienen hatte mit Furcht und Zittern.“22 Die wichtige Rolle des Alten Testaments bei der Legitimierung der neuen Geltungsansprüche des Papsttums im 11. Jahrhundert hat Haller ganz richtig gesehen. Sie wird uns immer wieder intensiv beschäftigen. Auch Harold Berman macht das Revolutionäre der gregorianischen Veränderungen an ihrer „Totalität“, „Schnelligkeit“ und „Gewaltsamkeit“ fest. Er stellt aber auch die Frage: „Wie konnte das Papsttum, das keine eigenen Heere hatte, seine Forderungen durchsetzen?“23 Beeinflusst von seinem Interesse an der Herausbildung der westlichen Rechtstradition, 19 Berman, Recht und Revolution, bes. S. 144 ff.: „Der Ursprung der westlichen Rechtstradition in der päpstlichen Revolution“; Leyser, Papal Revolution; zur Kritik am Ansatz Bermans siehe Schieffer, „The Papal Revolution“?, S. 19 ff. 20 Haller, Papsttum, S. 310–314. 21 Ebd., S. 429. 22 Ebd., S. 430. 23 Berman, Recht und Revolution, S. 162. Zu Bermans Ansatz s. jedoch die kritischen „Rückfragen“ von Schieffer, Papal Revolution?

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fand Berman die Antwort in der Überlegung, dass das Kirchenrecht sich als eine „Quelle der Autorität“ und als „Mittel der Kontrolle“ herausgebildet habe, und er beschreibt einen Vorgang, der auch für unsere Untersuchungen von Bedeutung sein wird: „Während der letzten Jahrzehnte des 11. Jahrhunderts begann die päpstliche Partei die kirchengeschichtlichen Dokumente nach autoritativen juristischen Stützen für die päpstliche Oberhoheit über die gesamte Geistlichkeit sowie deren Unabhängigkeit von, und möglicherweise Überordnung über den gesamten weltlichen Teil der Gesellschaft zu durchsuchen. Zur selben Zeit begann auch die kaiserliche Partei mit der Suche nach alten Texten, die ihre Sache gegen die päpstlichen Übergriffe stützen würden.“24 Um genau diesen Vorgang – die Suche nach autoritativen Stützen für die eigenen Geltungsansprüche  –, seine Methoden und Argumente wird es auch in den folgenden Kapiteln gehen. Berman hat ihn nämlich nicht genauer dargestellt und analysiert. Eine der am tiefsten dringenden Untersuchungen des hier behandelten Problems verdanken wir Walter Ullmann, dessen Werk „The Growth of Papal Government in the Middle Ages“ (1955) im Jahre 1960 ganz bezeichnenderweise im Deutschen unter dem Titel „Die Machtstellung des Papsttums im Mittelalter“ publiziert wurde.25 Er behandelt das Reformpapsttum vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung der päpstlichen Würde im gesamten Mittelalter und sieht die historische Bedeutung Gregors VII. vor allem darin, dass er die bereits vorhandenen „hierokratischen Grundsätze“ in konsequenter Weise „in konkrete Regierungshandlungen“ übertragen habe.26 Für ihn war das keine Revolution und auch das Wort Weltherrschaft ist für Ullmann kein adäquater Begriff. Er hält es vielmehr für eine wichtige Erkenntnis Gregors, „wie notwendig für die Regierung der societas christiana Recht und Gesetz waren  … Hierokratische Prinzipien, wie sie sich in früheren Zeiten aus päpstlichen Verfügungen und historischen Ereignissen entfalteten, erwiesen sich in 24 Ebd., S. 163. 25 Ullmann, Machtstellung des Papsttums; ganz ähnlich hat man noch in den 90er Jahren den von Vauchez herausgegebenen Band zur Papstgeschichte des Hohen Mittelalters, der im Französischen den Titel trägt: „Apogée de la papauté et expansion de la chrétienté (1054–1274)“, bei der Übersetzung ins Deutsche mit dem Titel versehen: „Die Machtfülle des Papsttums (1054– 1274)“. 26 Ullmann, Machtstellung des Papsttums, S. 383.

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ihrer Gesamtheit als iustitia. Diese Grundsätze sollten aufgeschlüsselt im Einzelnen für die praktische Regierung der societas christiana zugänglich gemacht werden. Von diesen Prinzipien war jedoch keines wesentlicher als das von der Funktion der römischen Kirche als Zentrale und Kern der ganzen Christenheit, des bischöflichen Stuhles, der, weil er einst dem heiligen Petrus zugehört hatte, nun den principatus besaß.“27 Hier klingt deutlich an, dass Gregors Handeln von einer Gesamtheit hierokratischer Prinzipien geleitet wurde, deren Kern die Binde- und Lösegewalt des römischen Bischofs aufgrund seiner Nachfolge Petri darstellte, wie man sie aus Matthäus 16,18 ff. ableitete. Damit wurde der Primats- und Herrschaftsanspruch des Papstes in Kirche und Welt legitimiert. Wir werden sehen, dass man sich aber seit Gregor VII. nicht nur dieser Stelle bediente, um die neuen Geltungsansprüche zu untermauern. Für Ullmann gehörte zu den neuen Geltungsansprüchen auch die Legitimation von Gewaltanwendung, denn es war „die Pflicht jedes verantwortungsbewussten Herrschers“ – und als ein solcher verstand sich Gregor VII. nach Ullmann –, die gewaltsame Unterdrückung aller Bewegungen und Umtriebe zu veranlassen, „die den dauernden Bestand der Gesellschaft gefährden oder ihre Grundlagen angreifen“.28 Konsequent verfolgt hat Ullmann diesen Gedanken jedoch nicht, wie sein allzu knapper Verweis auf die hiermit angesprochene Problematik zu verdeutlichen vermag: „In die Gruppe der Vorbeugungs- und Abwehrmaßnahmen durch Polizeiaktionen sollte bald auch die Verfolgung der Häretiker fallen.“29 Diese nicht weiter konkretisierte oder problematisierte Einschätzung wird der fundamentalen Bedeutung, die die Wendung zur Legitimierung der Gewaltanwendung und zu ihrer Anwendung durch die Kirche unter Gregor VII. hatte, wohl nicht gerecht. Ullmann hat insgesamt diesem Problem wenig Aufmerksamkeit zugewandt. Das große Ausmaß der Bemühungen der Päpste um eine überzeugende Begründung der Gewaltanwendung, das in den folgenden Kapiteln diskutiert werden soll, dürfte hinreichend den hohen Stellenwert deutlich machen, den diese Frage für das neue päpstliche Selbstverständnis hatte. Auf diesem Felde besteht aber immer noch eine beträchtliche Unschärfe unserer Kenntnisse. 27 Ebd., S. 401 f. 28 Ebd., S. 443. 29 Ebd., S. 445.

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In einer ganzen Reihe von Arbeiten hat sich Ian S. Robinson mit den hier interessierenden Themen befasst. Einschlägig ist vor allem sein Buch über „Authority and Resistance in the Investiture Contest“, das die Streitschriften des Investiturstreits aus ganz unterschiedlichen Perspektiven analysiert. Ihm sind neben einer Fülle von Einzelbeobachtungen auch wichtige Systematisierungen zu verdanken. An verschiedenen Stellen kommt er auch auf die biblische Basis der Geltungsansprüche des Reformpapsttums und Gregors VII. zu sprechen – so auch auf die für dieses Buch wichtige Erzählung des 1. Buches Samuel 15,22 ff. über den Stellenwert von Gehorsam gegenüber Gott –, doch ist Robinson auf den Zusammenhang zwischen Gehorsamsforderung und Legitimation von Gewaltanwendung nicht eingegangen.30 In der französischen Forschung hat die réforme grégorienne in der Vergangenheit mehrfach eine intensive und umfassende Behandlung erfahren. Augustin Fliche und Henri-Xavier Arquillière haben in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts breit angelegte, ideengeschichtliche Studien gerade über die geistigen Grundlagen und die Konzeption vorgelegt, die hinter der neuen Auffassung von der pouvoir pontifical standen.31 Letzterer hat dieses Thema in einer Studie über „L’Augustinisme politique“ wieder aufgegriffen.32 Eigen ist beiden Abhandlungen neben einer großen Vertrautheit mit den einschlägigen Quellen und mit der internationalen Forschung ihrer Zeit eine nicht zu übersehende Sympathie für die Gestalt, das Denken und die Wirkung Gregors VII. Beide Arbeiten setzten für die folgende internationale Forschung Maßstäbe, gaben aber auch in verschiedener Hinsicht eine bestimmte Richtung vor. Im Unterschied zu vielen älteren deutschen Bemühungen fehlt den französischen Arbeiten verständlicherweise jedwede Parteinahme für das salische Königtum, wie sie die deutsche Forschung lange kennzeichnete. Dies führt zu einer deutlich positiveren Würdigung der Leistung Gregors VII., „qui fut le héraut imperieux et incorruptible de la justice dans la chrétienté médiévale“.33 Nicht zufällig sind beide Autoren im Literatur30 Robinson, Authority and Resistance, S. 22–24. 31 Fliche, Réforme grégorienne, bes. Bd. 2, Kap. VI, S. 317 ff.; Arquillière, Saint Grégoire VII, bes. S. 123–201. 32 Arquillière, L’augustinisme politique, bes. S. 24 ff. 33 Mit dieser Bewertung endet ders., Saint Grégoire VII, S. 594; ähnlich positiv bis enthusiastisch Fliche, Réforme grégorienne, Bd. 2, S. 422 beim Resümee anlässlich des Todes Gregors VII.

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verzeichnis von Barraclough mit der Sigle C ausgewiesen.34 Vielleicht erklärt dies eine gewisse Einseitigkeit ihrer Wahrnehmung: Für unsere engere Fragestellung bieten sie nämlich weniger Anknüpfungspunkte, da von ihnen der Zusammenhang der neuen gregorianischen Legitimation von Gewalt mit den Aktivitäten zur Durchsetzung und Sicherung der eigenen neuen Geltungsansprüche nicht thematisiert wurde. In der modernen französischen Forschung werden diese Arbeiten denn auch nicht benutzt, wenn die Entstehung des Kreuzzugsgedankens im 11. Jahrhundert nachgezeichnet wird.35 Schon früh hat sich, wie eben schon angesprochen, als Terminus für die Ziele des Reformpapsttums auch der Begriff „Weltherrschaft“ etabliert, der wohl eher eine Schöpfung älterer deutscher Forschung ist, sich aber bis in die Kapitelüberschriften moderner Darstellungen gehalten hat.36 Mit diesem Begriff wird der Anspruch der Päpste bezeichnet, den hartnäckig und wirkungsvoll zuerst Gregor VII. zum Ausdruck gebracht hatte, Weisungsgewalt über alle Christen zu besitzen, die Könige und Kaiser eingeschlossen. Johannes Haller hat dies im Zusammenhang seiner Darstellung der zweiten Bannung Heinrichs IV. durch Gregor im Jahre 1080 unter der Überschrift „Weltherrschaftsgedanke“ so formuliert und akzentuiert: „Aus jedem Satz (seiner Bannsentenz, die Gregor in einem Gebet an die Apostelfürsten Petrus und Paulus formuliert hatte) spricht zu uns das Selbstgefühl eines Menschen, der in dem Bewusstsein überirdischer Sendung sich berufen und befähigt glaubte, der Welt uneingeschränkt zu gebieten. Wie leicht machte er es sich mit der Begründung seines Urteils über Heinrich! … er erschrickt nicht, wenn er sich vorstellt, welch ungeheure Machtfülle und welche Verantwortung einem Einzelnen mit dieser Behauptung zugesprochen und aufgebürdet ist! Für Gregor ist es eine so einfache Sache, dass er sich bei der Begründung nicht aufhält. Ein einfacher Schluss a fortiori genügt ihm: die Apostel verfügen über geistliche Dinge, also dürfen sie es erst recht über weltliche tun. Auf diese einzigen Gedanken, diesen kurzen Satz ist die Weltherrschaft des Papstes gebaut.“37

34 Arquillière war katholischer Priester. 35 Siehe z. B. Flori, Guerre sainte, S. 191 ff., in dessen Ausführungen allerdings ideengeschichtliche Untersuchungen nicht im Vordergrund stehen. 36 So z. B. Fuhrmann, Päpste, S. 109–154: „Auf dem Weg zur päpstlichen Weltherrschaft“. 37 Haller, Papsttum, S. 412 f.

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Es wird zu prüfen sein, ob sich Gregor VII. in der Tat so wenig Mühe gegeben hat, die neuen Geltungsansprüche seines Amtes zu fundieren und zu legitimieren, wie es Haller und viele andere deutsche Forscher zum Ausdruck gebracht haben, die in der Auseinandersetzung der höchsten geistlichen und höchsten weltlichen Gewalt sehr entschieden die Partei des deutschen Königtums ergriffen. Es mag an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass die explosionsartige Ausweitung von Schrift lichkeit, wie sie sich an den Streitschriften, den Briefen und Briefsammlungen, aber auch an der Vielzahl und Ausführlichkeit historiographischer Zeugnisse ablesen lässt, sich nicht zuletzt dem Bemühen der Gregorianer wie der Antigregorianer verdankt, die neuen Geltungsansprüche entweder zu begründen und zu belegen oder anzuzweifeln und anzugreifen. Dies spricht deutlich gegen Hallers Sicht, dass Gregor sich mit der Begründung seiner Herrschaftsansprüche nicht lange aufgehalten habe. Wirkmächtig zusammengefasst und ins deutsche Geschichtsbild geschrieben findet man die deutsche Meistererzählung über das lange Ringen von Kaisertum und Papsttum um die Ordnung von Kirche und Welt auch in Karl Hampes „Hochmittelalter“, wie schon ein Blick auf dessen Kapitelüberschriften zu verdeutlichen vermag: „1. Aufstieg Deutschlands zur Hegemoniestellung“; „5. Machthöhe des Deutschen Reiches unter den ersten Saliern“; „6. Aufstieg des Papsttums und der romanischen Welt“; „7.  Gregor VII.“; „8.  Urban II. und die Kreuzzugsbewegung“; „9.  Fortgang und Ende des Investiturstreits“; „12.  Die Feuerprobe des Papsttums im Ringen mit der staufischen und anglonormannischen Feudalmacht“; „13.  Neue Entfaltung der Kaisermacht“; „14.  Die Weltherrscherstellung Papst Innocenz III.“; „15. Letzte Aufrüstung von Papstkirche und Kaisertum“; „16. Endkampf der beiden Universalmächte“. Die Geschichte des Hochmittelalters konzentriert sich aus dieser Perspektive ganz auf das Ringen von deutscher Königs- und Kaisermacht mit den Päpsten, wobei der Aufstieg der einen Macht notwendig den Abstieg der anderen zur Folge hat. Dass beide Gewalten in pax und concordia zusammenarbeiten könnten, wie es die Gelasianische Zwei-GewaltenLehre formuliert hatte, hat in diesem Geschichtsverständnis wenig Platz. Es ist wohl kein überzogenes Urteil, wenn man solche Überschriften als Manifestationen einer protestantisch-nationalgestimmten deutschen Geschichtsschreibung sieht, die im Papsttum einen der „Totengräber der deutschen Königsmacht“ diagnostizierte. Sie ergriff entschieden Partei für die um ihre vermeintliche Macht ringenden Könige, die von den Päpsten

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in Canossa (1077), in Venedig (1177) und in Lyon (1245) gedemütigt und in den „Untergang“ getrieben worden seien. Über die Päpste formulierte Hampe denn auch Urteile wie dieses über Gregor VII: „In seiner Gier nach Rechtstiteln für die Herrschaftsansprüche der Kirche sind ihm in der Auslegung seiner Quellen so ungeheuerliche Vergewaltigungen der Wahrheit untergelaufen, daß ihn nur völlige Voreingenommenheit und blinde Hast vor dem Vorwurf bewußter Unehrlichkeit schützen.“38 Die gleiche Entschiedenheit in der Ablehnung verrät auch Hampes Einschätzung von Papst Innozenz IV., der Kaiser Friedrich II. in Lyon absetzte: „In der ganz einseitigen Konzentration allein auf den Vernichtungskampf, in der völlig skrupellosen, aber auf das feinste berechneten, oft schlau verhüllten Handhabung der diplomatischen Waffen sollte sich bald Innocenz IV. der unendlich genialeren, aber eben durch ihren Reichtum unmöglich auf ein einziges negatives Ziel gerichteten, von leidenschaft lichen Spannungen erfüllten Natur des Staufers als überlegen erweisen.“39 Wie die „ungeheuerlichen Vergewaltigungen der Wahrheit“ aussahen, mit denen Gregor und seine Nachfolger ihren Kampf gegen die Kaiser führten, hat Hampe in diesem Zusammenhang nicht erläutert. Diese Einschätzung war herrschende Lehre, die man nicht mehr im Einzelnen begründen musste. Man geht aber wohl nicht fehl in der Annahme, dass Hampe mit dieser Charakterisierung genau die theologischen und exegetischen Argumente im Auge hatte, mit denen die Reformpäpste und ihre Helfer die neuen Geltungsansprüche des Papsttums untermauerten. Für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Argumenten nahm er sich jedoch nicht die Zeit. Dabei hatte schon am Ende des 19. Jahrhunderts Carl Mirbt in seiner profunden Abhandlung über „Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII.“ beeindruckendes Material aufbereitet, das die Einschätzung der Grundlagen gregorianischen Denkens und Argumentierens auf eine neue Basis stellte.40 Er hatte nämlich die Argumentationen vor allem in den Streitschriften des 11. und 12. Jahrhunderts analysiert, in denen mit großem Aufwand an Gelehrsamkeit die Standpunkte der verschiedenen Parteien zu allen strittigen 38 Hampe, Hochmittelalter, S. 125. 39 Ebd., S. 405. 40 Vgl. Mirbt, Publizistik, bis heute unverzichtbar sind die systematisch geordneten Hinweise auf die wichtigsten Argumente und Autoritäten zu den in dieser Zeit strittigen Fragen, die Mirbt für die Autoren beider Seiten bietet.

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Fragen wie Zölibat, Simonie, Investitur, Gültigkeit der Sakramentenspendung, Problem der Eideslösung und vielen anderen schrift lich vorgetragen und diskutiert wurden. In dieser Arbeit werden auch Fragen der Zeit wie „die Anwendung äußerer Gewalt gegen Häretiker“ und ihre Beantwortung auf der Grundlage aller christlichen Autoritäten vorgestellt. Sie bietet damit eine unschätzbare Materialbasis für das Denken des Kreises der Gregorianer wie ihrer Gegner gerade zur Thematik der Erlaubtheit von Gewalt unter bestimmten Bedingungen. Wir werden daher in mehreren Kapiteln auf diesen Vorarbeiten aufbauen können und dabei vor allem klären müssen, inwieweit die vielen kontroversen Diskurse und Argumentationen in der Publizistik zu den Konsequenzen zählen, die die neuen päpstlichen Geltungsansprüche hatten. Hier gilt es zu prüfen, inwieweit der vielstimmige Chor Antwort auf Fragen gibt, die zentral vom Papsttum gestellt worden waren. Gerd Tellenbach hat demgegenüber einen Quellenbegriff zum zentralen Terminus seiner Behandlung des Reformpapsttums gemacht: libertas ecclesiae.41 Dennoch formulierte auch er Ergebnisse, die denen Johannes Hallers nicht fernstehen, jedoch weniger Partei ergreifend als beschreibend: „Gregor VII. … steht an der großen, vielleicht der einzigen inneren Wende in der Geschichte des katholischen Christentums: damals gewann die Weltgewinnungstendenz deutlich die Oberhand über die Weltabwendungstendenz: die Welt wurde in die Kirche einbezogen, und die Bahnbrecher der neuen Zeit machten sich daran, die ,rechte‘ Ordnung in dieser geeinigten christlichen Welt herzustellen. Als wichtigste Aufgabe aber erschien es ihnen, die Herrschaft des ,Knechtes der Knechte Gottes‘ über die Könige der Erde aufzurichten.“ 42 Und an anderer Stelle: „Diese Macht des kirchlichen Weltherrschaftsgedankens ist nur dann zu erklären, wenn  man erkennt, dass er in tiefen religiösen Schichten wurzelt  … Der mystischhierarchische Gedanke erwächst selbst aus dem Glauben daran, daß Gott zu den Menschen herabschreitet und ihm dabei gleichsam als Stufen die Scharen seiner Geistlichen dienen. Wenn also die Kirche und die Hierarchie ihrer Diener selbst an Christi Mittlerschaft teilhaben, wenn sie dazu da sind, Himmel und Erde miteinander zu verbinden, so muß ihnen gerechterweise alle Welt in Ehrfurcht unterworfen sein.“ 43 41 Tellenbach, Libertas. 42 Ebd., S. 195. 43 Ebd., S. 197 f.

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Zwar hat sich Tellenbach an verschiedenen Stellen seiner Studie intensiv mit den Grundlagen und der Entstehung der päpstlichen Herrschaftsansprüche beschäftigt, doch hat er dabei unsere Leitfrage nach der Rechtfertigung von Gewalt zur Durchsetzung dieser Ansprüche nicht eingehender behandelt. Er ist später jedoch verschiedentlich auf das Thema seiner Habilitationsschrift zurückgekommen.44 Hierbei hat er unter vielen anderen Beobachtungen auch eine besonders akzentuiert, die für die folgenden Untersuchungen wesentlich ist: Gregors „Machtpolitik war leidenschaft lich, aber von religiösen Prinzipien bestimmt. Nämlich: dem Papst zu gehorchen als dem Stellvertreter Christi auf Erden ist nach Gregor Glaubensnotwendigkeit, ihm den Gehorsam zu verweigern ist Häresie.“ 45 In dieser Aussage versteckt sich ein Bibelzitat (1 Samuel 15,22–23), dessen Bedeutung für das Amtsverständnis Gregors VII. bisher kaum zureichend gewürdigt worden ist. Sein Stellenwert für Gregor und das päpstliche Selbstverständnis wird Gegenstand des ersten Untersuchungskapitels sein. Die Legitimation von Gewalt durch die Kirche steht naturgemäß bei Carl Erdmann ganz im Vordergrund des Interesses, der mit seinem Buch über die Entstehung des Kreuzzugsgedankens ein bis heute weitgehend gültiges Bild vom Verhältnis der Kirche zur Gewalt entworfen hat.46 Er bietet einen umfassenden ideen-, institutionen- wie symbolgeschichtlichen Abriss der Entwicklung des Gedankens, Christen dürften unter bestimmten Umständen Waffengewalt anwenden. Von besonderem Interesse für die folgenden Untersuchungen sind vor allem die Untersuchungen der Diskurse, in denen im Investiturstreit „für und wider den Krieg der Kirche“ argumentiert wurde.47 Hier hat Erdmann eine genaue Aufarbeitung der Argumente geleistet, die vor allem in den Streitschriften zu dieser Frage enthalten sind. Insofern profitieren wir in entscheidender Weise von diesen Vorarbeiten. Charakteristisch für Erdmanns Vorgehensweise ist allerdings, dass er vorrangig die Argumente referiert, die häufig mit biblischen oder patristischen Zitaten unterlegt wurden. Die Bedeutung dieser Belegstellen für das Verständnis 44 Vgl. vor allem ders., Westliche Kirche, bes. S. 152–200. 45 Ders., „Gregorianische Reform“, S. 112; ders., Westliche Kirche, S. 239. 46 Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, bes. S. 212–249; siehe dazu auch Prinz, Klerus und Krieg, S. 30 ff.; Hehl, Kirche und Krieg, bes. S. 57 ff. 47 Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 212 ff.

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der Argumente hat Erdmann nicht näher untersucht. Hierdurch wird ein wichtiger Aspekt für das Verständnis der Argumentationen vernachlässigt, was sich durch die Zielrichtung seiner Untersuchung erklärt. Erdmann war ja an der Entstehung des Kreuzzugsgedankens interessiert, nicht an einer Dokumentation und Auswertung der biblischen oder patristischen Grundlagen der päpstlichen Argumente. Gerade hier wird jedoch unsere Untersuchung in den nächsten Kapiteln ihren Schwerpunkt haben. Für Gregor VII. liegt aus der neueren Literatur mit der Biographie aus der Feder Herbert Cowdreys eine Arbeit vor, deren Materialfülle und Reichtum an Aspekten gleichermaßen beeindruckend sind. Das Buch bietet für viele unserer Fragen Hilfestellungen unschätzbarer Qualität; für unsere Leitfrage dagegen eher weniger. Dies liegt daran, dass Cowdrey die Affinität Gregors VII. zur Gewaltanwendung im Dienste und Auft rag der Kirche nicht zusammenhängend thematisiert hat. Zwar bietet er ein Unterkapitel über die Bedeutung von Gehorsam für Gregor VII. und zitiert auch die von diesem Papst immer wieder benutzte Bibelstelle (1 Samuel 15,22–23), in der Gehorsam als höchst wichtige Haltung eingefordert, Ungehorsam dagegen als Idolatrie angeprangert wird. Doch hat er den Schluss, den der Kreis um Gregor aus dieser Bibelstelle zog, nicht nachvollzogen: dass man nämlich gegen Ungehorsame wie gegen Häretiker Gewalt anwenden dürfe.48 Insofern ist das Gesamturteil Cowdreys über Gregor VII., so facetten- und kenntnisreich es in vielen Belangen ist, im Lichte dieser Thematik auch kritisch zu prüfen. Gregor VII. wird ein geistiger Hintergrund attestiert, der durch folgende Werte besonders charakterisiert sei: „charity, obedience, humility, righteousness, mercy and the pursuit of peace and concord“. Und dann fährt Cowdrey fort: „It cannot be strongly insisted that, in respect to such values and to his appraisal of them, he stood far closer to the tradition of Gregory (I) and Benedict in the sixth century than to the lawyer-popes like Alexander III and Innocent III who were soon to follow him, and to the age of canon law as ushered in by the Decretum of Gratian.“ 49 Wir werden in den späteren Untersuchungen zu zeigen versuchen, wie bruchlos sich eine Linie von Gregor VII. zu seinen genannten Nachfolgern im 12. und 13. Jahrhundert und zum Decretum Gratiani ziehen lässt, wenn man die Geschichte der Gewaltanwendung im Auftrage der Kirche und ihre argumentative Legitimation verfolgt. 48 Siehe dazu unten Kap. II. 49 Cowdrey, Gregory VII, S. 645.

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In der jüngsten deutschen Forschung ist vor allem Stefan Weinfurter in seinem Canossa-Buch auf die hier interessierenden Fragen eingegangen. Er akzentuiert völlig zu Recht: „Gregors VII. Amtsführung ist durch ein starkes Sendungsbewusstsein gekennzeichnet. Die göttliche Gerechtigkeit zum Sieg zu führen, sah er als seine Verpflichtung an. In diesem Sinne verstand er sich als Werkzeug Gottes, dessen Wahrheit er gegen das Gewohnheitsrecht durchsetzen müsse. Seine Verweise auf Christus als veritas begegnen immer wieder in seinen Briefen. In einem Brief an Guitmund von Aversa schrieb er: Christus sagt: ,Ich bin die Wahrheit und das Leben‘. Er sagt nicht: ,Ich bin die Gewohnheit‘, sondern ,die Wahrheit‘.“50 Was Gregor unter der Wahrheit Christi verstand, zeigte Weinfurter mittels einer detaillierten Analyse des Dictatus papae, dem er bescheinigte: „manches war ohne Vorbild – und zeugt von atemberaubender Kühnheit“, oder: „Er wirkt wie ein Brennspiegel der stark persönlich begründeten Reformvorstellungen, die Gregor VII. kompromißlos vertrat.“51 Noch stärker als der schon zitierte Gerd Tellenbach akzentuiert Weinfurter aber auch die Beobachtung, dass Gregors Überzeugung von der Wahrheit durchaus biblisch begründet und abgesichert war. Auch Weinfurter zitiert die Stelle aus dem 1. Buch Samuel (15,22), die davon handelt, dass Gott Gehorsam das Wichtigste sei und dass er Ungehorsam mit Götzendienst und Idolatrie gleichsetze, und er sieht in diesem Bibelzitat Gregors „neue Linie: Ungehorsam gegenüber dem Papst war Zeichen des Irrglaubens und Götzendienstes!“52 Es fragt sich daher, ob dieser Beleg und seine konsequente Interpretation nicht in der Tat einen Schlüssel für das Selbstverständnis und die Traditionsverwertung Gregors VII. und seines Kreises darstellen. Dieser Hinweis wird im ersten Untersuchungskapitel Gegenstand einer genaueren Analyse sein, die den ganzen Kontext der zitierten Samuel-Stelle einbezieht und so das Potential dieser Stelle für die Frage der Gewaltanwendung durch die Kirche und ihre Bedeutung für das Amtsverständnis Gregors VII. ins Zentrum des Blickfeldes rückt.

50 Weinfurter, Canossa, S. 106. 51 Ebd., S. 107 u. 108. 52 Ebd., S. 113. Die Bedeutung der Gehorsamsforderung wie des Samuel-Zitates für Gregors VII. Denken und Handeln akzentuierte auch schon Schneider, Prophetisches Sacerdotium, S. 118 ff.

4. Anlage und Ziele der Untersuchung

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4. Anlage und Ziele der Untersuchung 4. Anlage und Ziele der Untersuchung

Aus dem skizzierten Erkenntnisinteresse dieses Buches und dem referierten Forschungsstand – von dem natürlich nur eine Auswahl geboten werden konnte, die durch die Leitfragen dieser Arbeit bestimmt ist – ergibt sich auch die Anlage und Anordnung der folgenden Untersuchungskapitel. All diese Kapitel stehen im Dienste der schon angesprochenen Leitfrage, die hier präzisiert sei. Es soll geklärt werden, wie die neuen Geltungsansprüche des Papsttums auf Vorrang in Kirche und Welt begründet wurden, vor allem aber, mit welchen Argumenten in diesem Zusammenhang physische Gewalt und Zwang im Dienste und Auft rag der Kirche legitimiert worden sind. Da die normative Basis des Christentums mithilfe der Lehre vom vierfachen Schriftsinn aus den dicta und exempla der heiligen Schriften und den Schriften der Kirchenväter sowie aus den exempla der Kirchengeschichte gewonnen wurde und sich dies auch in den Zeiten der Kirchenreformer nicht grundsätzlich änderte, ist es von höchstem Interesse, auf welche Weise die Öff nung zur Gewalt möglich gemacht wurde. Gewalt wird hier in einem ganz bestimmten Sinn verstanden. Man war nämlich bereits im Mittelalter gewöhnt, verschiedene Arten von Gewalt zu unterscheiden: Als potestas bezeichnete man traditionellerweise die Gewalt, die vom Hausherrn bis zum König und Kaiser in legitimer Weise als Herrschaftsgewalt ausgeübt wurde. Solche Herrschaft von Menschen über Menschen war nach den Vorstellungen der Zeit aufgrund des Sündenfalls der Menschen notwendig geworden.53 Von dieser potestas unterschieden wurde Gewalt in Form der violentia, die illegitim war, weil sie von nicht autorisierten Kräften geübt wurde.54 Es muss nicht ausgeführt werden, dass es durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber geben konnte, welche Art von Gewalt im konkreten Fall vorlag. Um das Recht, Gewalt in Form der potestas auf den unterschiedlichsten Feldern im Interesse der Kirche anzuordnen, aber ging es den Päpsten seit dem 11. Jahrhundert. Sie reklamierten seit dieser Zeit ihre Befugnis, 53 Vgl. dazu allg. Stürner, Peccatum und potestas; Töpfer, Urzustand und Sündenfall. 54 Grundsätzlich dazu bereits Janssen, Art. Krieg, bes. S. 837 ff. und 842 ff.; Faber, Art. Macht, Gewalt, S. 842 ff.

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diese Strafgewalt mithilfe geeigneter fideles auszuüben, die auf Befehl der Päpste tätig wurden. Auch zuvor hatte die Kirche die Ausübung von Gewalt und Zwang Laien überlassen, die den Schutz der Kirchen als Vögte oder Advokaten übernahmen, die Könige und Kaiser in vorderster Front. Diese Schutzfunktion aber hatten die Laien nicht selten dazu ausgenutzt, sich Herrschaftsrechte in der und über die Kirche anzueignen. Gegen den so gewachsenen Einfluss der Laien in genuin kirchlichen Angelegenheiten, etwa der Investitur der Priester und Bischöfe, richtete sich die Reformbewegung mit ihrer Forderung nach der libertas ecclesiae. Die Befreiung von diesem als schädlich erkannten laikalen Einfluss nötigte die Kirche dazu, die Ausübung von potestas neu zu regeln, und das bedeutete, sie zwar nicht gänzlich selbst in die Hand zu nehmen, sondern Zwangsgewalt (potestas) verantwortlich auszulösen, indem man Getreue fand, die einschlägigen Befehlen der Kirche gehorchten. Der Aufbau der militia sancti Petri oder militia Christi diente diesem Zweck: Die Päpste brauchten nun Krieger, die in ihrem Auftrag und auf ihren Befehl gegen Feinde der Kirche tätig wurden, denn den Klerikern selbst blieb nach christlichem Verständnis die Anwendung von Gewalt immer verboten. Die Päpste erhoben die neue Forderung nach potestas also aufgrund ihres neuen Verständnisses von ihrer Binde- und Lösegewalt im Himmel und auf Erden und des daraus gefolgerten Jurisdiktionsprimats. Die Frage, ob der höchsten geistlichen oder der höchsten weltlichen Gewalt, dem Papsttum oder dem Kaisertum, die plenitudo potestatis zukomme, blieb bis ins Spätmittelalter ein umkämpfter Streitpunkt.55 Im Hochmittelalter aber ging das Papsttum in dieser Frage sehr in die Offensive. Als Inhaber von potestas brauchte man ausführende Organe, wenn man nicht selbst zum Schwert greifen wollte. Hieraus erklärt sich die Intensität, mit der die Päpste seit dem 11. Jahrhundert nach Lehnsleuten suchten und sich dem Aufbau einer militia sancti Petri widmeten.56 Diese längst bekannten Prozesse bilden den Hintergrund der hier vorgelegten Untersuchungen, die sich auf die Frage nach den normativen Grundlagen der neuen Geltungsansprüche und der daraus resultierenden stärkeren päpstlichen Einwirkung auf die Machtverhältnisse in der Welt konzentrieren. Diese Frage ist trotz aller Bemühungen um das Verständ55 Vgl. Buisson, Potestas und Caritas, bes. S. 216 ff. 56 Siehe dazu schon Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, bes. S. 193–211.

4. Anlage und Ziele der Untersuchung

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nis der „Wende des Mittelalters“ und ihrer Ursachen bisher unbeantwortet geblieben. Die Untersuchungen werden daher begonnen mit den Selbstzeugnissen Gregors VII., wie sie vor allem in seinen Briefen zur Verfügung stehen. Es wird vor allem die Frage bearbeitet, welche Aussagen Papst Gregor selbst in seinen Briefen zu den Geltungsansprüchen seines Amtes machte, wie er diese Aussagen aus der Tradition rechtfertigte und welche Rolle bei der Durchsetzung dieser Ansprüche die Anwendung von physischer Gewalt und von Zwang spielte. Im dritten Kapitel wird an signifikanten Beispielen verdeutlicht, dass Gregor VII. mehrere Wegbereiter unter den frühen Reformern hatte, die bereits die Möglichkeiten erkannten, die ihnen das Alte Testament zur Legitimierung von kirchlichen Geltungsansprüchen wie von Gewaltanwendung gegen Feinde Gottes und der Kirche bot. Im vierten Kapitel erweitert sich das Interesse auf die Anhänger und im fünften auf die Gegner Gregors VII. und die unter ihnen geführten Diskurse, wie sie sich vor allem in den sogenannten Streitschriften des Investiturstreits erhalten haben. Es werden an signifi kanten Beispielen die dort fassbaren Bemühungen dokumentiert und analysiert, Argumente für die Gewaltanwendung der Kirche aus der biblischen und der patristischen Tradition zu gewinnen. Es wird aber auch gefragt, ob und in welcher Weise die Gegner der Gregorianer aus der gleichen Tradition Belege und Argumente in die Auseinandersetzungen einbrachten, die Gewalt und Zwang durch die Kirche und das Papsttum als unvereinbar mit christlichen Normen und Geboten deklarierten. Ein sechstes Kapitel enthält Untersuchungen zu der Frage, wie das Papsttum und die Kirche die Gewaltanwendung gegen Ungläubige gerechtfertigt haben, die auf den Kreuzzügen zur Befreiung des Heiligen Landes nötig wurde. Die Kreuzzüge sind für unseren Untersuchungszusammenhang deshalb besonders interessant, weil sie von den Päpsten selbst ausgelöst wurden und die Päpste auch die Heerführer bestellten, die in ihrer Vertretung tätig wurden. Daraus rechtfertigt sich ein besonderes Interesse an den Anfangsbegründungen für die notwendige Gewalt gegen Ungläubige, wie sie vor allem durch die Predigten Papst Urbans II. zum ersten Kreuzzug geleistet worden sein müssen. Es wird aber auch zu fragen sein, ob sich diese Legitimation von Gewalt in den folgenden Jahrhunderten unverändert erhielt. Angesichts der zeitlichen und inhaltlichen Nähe der Kreuzzugsdiskurse zu den Diskussionen des Gregor-Kreises wird zudem zu fragen sein, inwieweit sie sich gegenseitig beeinflussten.

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I. Einleitung

Das Reformpapsttum gab aber auch der Entstehung des kanonischen Rechts entscheidende Impulse. Insofern ist es nur folgerichtig, in einem siebten Kapitel zu untersuchen, wie viele von den in den einschlägigen Debatten vorgebrachten Argumenten und Belegen auch Eingang ins Kirchenrecht fanden, das in dieser Zeit mit dem Decretum Gratiani einen ersten und lang nachwirkenden Höhepunkt erreichte. Damit wird berücksichtigt, dass wir Vorgänge einer Zeit behandeln, die durch einen intensiven Schub im länger andauernden Prozess der Verrechtlichung gekennzeichnet ist und in der deshalb viele relevante Ansätze zu Reformen oder Neuerungen auch Eingang in verschrift lichte Rechtsnormen gefunden haben dürften.57 Das siebte Kapitel untersucht daher den Niederschlag der Diskussionen um die Erlaubheit von Gewaltanwendung durch die Kirche im Decretum Gratiani. Ein achtes Kapitel thematisiert schließlich eine wichtige systematische Frage: ob es sich bei der kirchlichen und päpstlichen Argumentation unter Umständen „nur“ um Gewaltrhetorik gehandelt haben könnte, die man allegorisch zu verstehen habe, oder ob sich im Gegenteil ein konkreter Zusammenhang der kirchlichen Rechtfertigung von Gewalt mit der Ausübung realer physischer Gewalt nachweisen lässt. In diesem Kapitel soll auch eine verbreitete Tendenz der Forschung kritisch geprüft werden, die gerade bei der Beschreibung religiös motivierter Gewalt eine besondere „Blutsprache“ am Werk sieht, „um alttestamentliche Parallelen der Makkabäer-Kriege zu beschwören, ja noch zu übertreffen“.58 Da solche Argumentation darauf zielt, den Realitätsgehalt der Schilderungen in Zweifel zu ziehen, ist ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Im neunten Kapitel soll schließlich verfolgt werden, inwieweit die intensiven Auseinandersetzungen zwischen Päpsten und Kaisern, die im 12. und 13. Jahrhundert andauerten, weiterhin von der zentralen Frage nach Suprematie bzw. Gehorsam dominiert wurden. Hierzu werden die auf 1 Samuel 15,22 ff. gründenden Vorstellungen von einer „Häresie des Ungehorsams“ und ihre Wirkmächtigkeit in den weiteren Auseinandersetzungen analysiert. 57 Vgl. dazu allg. Ullmann, Machtstellung des Papsttums, bes. S. 520 ff. mit dem Kapitel „Juristische Theologie“; Landau, Einfluß des kanonischen Rechts, S. 39 ff. 58 Angenendt, Toleranz und Gewalt, S. 426 mit Hinweis auf Elm, Eroberung Jerusalems, S. 46 ff.; Hehl, Die Kreuzzüge, S. 240.

4. Anlage und Ziele der Untersuchung

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Nicht nur demjenigen, der mit der behandelten Epoche sehr vertraut ist, dürfte klar geworden sein, welches Volumen an Überlieferung für das skizzierte Vorhaben zu bewältigen ist. Schon die Krise des 11. Jahrhunderts hatte ja zu einem gewaltigen Anstieg von schrift lichen Zeugnissen und zur Entstehung neuer Überlieferungsgattungen geführt. Der schriftliche Austrag des Streits trat vielfach neben und an die Stelle mündlichpersönlicher Verhandlungen, weil diese scheiterten oder erst gar nicht zustande kamen, weil Kompromisse „zwischen dem Licht und der Finsternis“ undenkbar waren.59 Zum Argument wurde dabei die gesamte biblische und patristische Tradition, deren Identifi kation in den einschlägigen Werken durch die Editoren des 19. Jahrhunderts größtenteils geleistet wurde. Dies stellt eine unverzichtbare Voraussetzung der Arbeit dar, erhöht aber zugleich die zu bewältigende Stoff fülle erheblich.60 Es war daher unabdingbar, sich angesichts der Fülle der in dieser Überlieferung diskutierten Fragen und Probleme strikt auf das Problem der Gewaltanwendung zu konzentrieren und selbst hier noch exemplarisch vorzugehen und auf jeden Versuch einer vollständigen Dokumentation der Argumente und der sie fundierenden Belege der Tradition zu verzichten. Nur so wird es möglich, Leitstränge der Argumentation und deren Fundierung in der Tradition herauszuarbeiten. Der Erfolg des vorgestellten Unternehmens steht und fällt mit der Frage, ob es tatsächlich gelingt, aus dem vielstimmigen Chor der Diskutanden die Argumente und Belege zu fi ltern, die das Grundgerüst eines neuen kirchlich-päpstlichen Selbstverständnisses und einer neuen christlichen Gewalttheorie bildeten. Dieses Grundgerüst lässt sich auf zwei Wegen herausarbeiten: einmal durch die Dokumentation der Belege und Argumente, mit denen es erstellt wurde, also mit den Stimmen von „Gregorianern“. Zum anderen aber mit der Gegenargumentation derjenigen, die die neuen Theorien ablehnten und bekämpften, und das waren in vorderster Front die Anhänger der salischen Könige, die sogenannten „Heinricianer“. Das gewählte Thema macht es auch nötig, eine grundsätzliche Bemerkung an den Schluss der Einleitung zu stellen: Historische Forschung, zu welchem Thema auch immer, vollzieht sich nie unbeeinflusst von aktuellen Fragen und Problemen. Dies ist bei dem hier gewählten Thema 59 Vgl. dazu Suchan, Königsherrschaft im Streit, bes. S. 176 ff. 60 Einen aspektreichen Überblick über die Argumentationen in den Streitschriften gibt Goetz, Geschichte als Argument.

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I. Einleitung

gleichfalls evident. Das Thema der Religionen, und nicht zuletzt dasjenige der Gewaltbereitschaft monotheistischer Religionen, ist aus allseits bekannten Ursachen heute auf der Agenda der Politik und Gegenstand größter öffentlicher Aufmerksamkeit, aber auch Thema wissenschaft licher Auseinandersetzung. Die Fixierung dieser Diskussionen auf die fundamentalistische Richtung des Islam, die politischen Terror religiös rechtfertigt und das Märtyrertum von Selbstmordattentätern feiert, stand lange im Vordergrund, wurde aber vor einigen Jahren aufgebrochen und teilweise in den Hintergrund gedrängt durch die Aufdeckung von Gewalttaten gegen Schutzbefohlene, die Angehörige christlicher Konfessionen zu verantworten hatten. Später kamen Gewalttaten des sich christlich verbrämenden Fundamentalismus eines Einzeltäters in Norwegen hinzu. All diese und weitere Diskurse mögen Lesern dieses Buches einfallen – und sie werden unter Umständen dieses Buch vor dem Hintergrund dieser Diskurse lesen, was durchaus legitim ist. Angesichts der damit gegebenen Wahrscheinlichkeit, dass die im Folgenden präsentierten Befunde und Argumente in aktuelle Diskussionen einfließen werden, seien aber folgende Hinweise erlaubt. Es mag sein, dass die aktuelle Diskussion den Blick für historische Konstellationen und Probleme der Kirchengeschichte, wie sie hier präsentiert werden, geschärft hat. Keineswegs aber werden sie hier dargeboten in der Absicht, damit in erster Linie Hinweise zur Beantwortung aktueller Fragen zu geben. Ob und was man aus der Geschichte lernen kann, ist aus guten Gründen umstritten. Andererseits darf die Darbietung geschichtlichen Geschehens auch nicht daran ausgerichtet werden, welche Konsequenzen diese Darbietung eventuell für die Einschätzung aktueller Phänomene, Probleme oder Prozesse haben kann. Anders ausgedrückt: Dass es heute der Islam ist, der von vielen als gewaltbereit und bedrohlich empfunden wird – und nicht das Christentum –, kann und darf nicht verhindern, dass der kritische Blick in die christliche Geschichte in aller Deutlichkeit Befunde und Ergebnisse formulieren muss, auch wenn sie zum heutigen Selbstverständnis christlicher Kirchen nicht passen, nichtsdestotrotz aber Teil ihrer Geschichte sind. Gerade Deutsche sollten wissen, wie schwer und zugleich wie nötig es ist, sich der Vergangenheit zu stellen – und das heißt, sie aufzuarbeiten ohne den steten Blick auf die Konsequenzen, die dieser Vorgang hat oder haben könnte. Wenn im Folgenden daher Belege christlicher Gewalt-

4. Anlage und Ziele der Untersuchung

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theorie und -praxis diskutiert und präsentiert werden, geschieht das unabhängig von der Frage, ob diese Präsentation für das Image und Prestige der heutigen christlichen Kirchen förderlich ist oder nicht. Nötig scheint eine deutliche Absage an die vermeintliche Alternative, die nur die Wahl „zwischen Apologie und Denunziation“ lässt, wenn das Verhältnis des Christentums zur Gewalt in Frage steht.61 Es muss eine kritische Distanz möglich sein, die Vorgänge in der Geschichte des Christentums unabhängig davon beschreibt und bewertet, ob diese Vorgänge nach heutigen Kriterien akzeptabel sind oder nicht. Diese Distanz ist allerdings wohl nur zu erreichen, wenn man nicht davon ausgeht, dass sich die Führung der katholischen Kirche niemals irrte, weil alle ihre Entscheidungen ex cathedra durch die Inspiration des Heiligen Geistes unmittelbar mit dem göttlichen Willen übereinstimmten.

61 Siehe dazu Holzem, Krieg und Christentum, bes. S. 70 f., der allerdings mit seiner Zuspitzung, „die Grundentscheidung, ob dem Christentum eine grundsätzlich gewaltförderliche Tendenz innewohne und ob es diese Eigenschaft mit anderen monotheistischen Religionen artbedingt teile, darf als wenig sinnvoll suspendiert werden“, das Problem eher verunklärt. Zur Aufgabe steht weder eine „Grundentscheidung“, noch geht es um eine „grundsätzlich gewaltförderliche Tendenz“ oder um „artbedingt“, sondern ganz pragmatisch um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen beim Christentum gewaltförderliche Tendenzen zu beobachten sind oder sogar die Oberhand gewannen. Und diese Fragestellung scheint mir auch heute noch sinnvoll, bisher aber eher vernachlässigt worden zu sein.

II.

Die neuen Geltungsansprüche Gregors VII. und ihre biblische Begründung

1. Ausgangsfrage und methodisches Vorgehen II. Die neuen Geltungsansprüche Gregors VII. 1. Ausgangsfrage und methodisches Vorgehen

Es ist zweifellos sinnvoll, die konkreten Untersuchungen mit Papst Gregor VII. zu beginnen, auch wenn er, wie sich zeigen wird, nicht der Allererste war, der neue Geltungsansprüche in der und für die Kirche erhob. Nach herrschender und unbestrittener Lehre sind in seiner Amtszeit und aufgrund seiner Aktivitäten jedoch die massivsten Veränderungen auf dem Felde päpstlicher und kirchlicher Geltungsansprüche zu beobachten, die daher an den Anfang der Untersuchungen gestellt seien.1 Diese Änderungen betrafen auch das kirchliche Verhältnis zur Gewalt, allerdings war die Frage legitimer Gewaltanwendung durch die Kirche eher eine zwingende, aber unbeabsichtigte Konsequenz aus anderen Neuerungen. Erst die erhöhten Geltungsansprüche des Papsttums auf Herrschaftsbefugnisse in der Welt warfen nämlich das Problem auf, wie man sie durchsetzen sollte – und wiesen damit auf den Weg der Gewalt. Zentral und neu war nämlich im Denken und in der Ekklesiologie Gregors VII. vor allem die Vorstellung, dass der Papst von allen Menschen Gehorsam fordern und erwarten dürfe – seine Mitbischöfe und die Könige und Kaiser eingeschlossen. Diese Forderung erhob Gregor nicht nur theo1 Eine erste Version der hier entwickelten Gedanken des Autors findet sich in: Bomm / Seibert (Hg.), Autorität und Akzeptanz, unter dem Titel: Päpstliche Autorität im Hochmittelalter. Neue Geltungsansprüche und ihre Konsequenzen. Zu Zielen und Wirken des Reformpapsttums siehe immer noch Tellenbach, Libertas, bes. S. 132 ff.; ders., Westliche Kirche, bes. S. 165–200 u. S. 238 ff.; Cowdrey, Gregory VII, bes. S. 495–583; Überblicke bei Laudage, Priesterbild und Reformpapsttum; Hartmann, Investiturstreit; Schieffer, Gregor VII.; zur Beanspruchung der plenitudo potestatis siehe Buisson, Potestas und Caritas, bes. S. 74 ff.

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II. Die neuen Geltungsansprüche Gregors VII.

retisch, sondern verlieh ihr mit konkreten Maßnahmen Nachdruck, die bis zur Einbestellung von Bischöfen und Königen zur Rechtfertigung nach Rom, Suspendierung vom Amt und Exkommunikation reichten. An der Gehorsamsforderung schieden sich dann auch in der Tat die Geister. Die Begründung der Forderung, dass der Gehorsam gegenüber päpstlichen Geboten die wichtigste Pflicht aller Christen sei, ist daher als Erstes zu klären, weil sich an ihr die grundsätzlichen Konflikte entzündeten, die auch die Frage der Legitimität von physischem Zwang zur Durchsetzung der neuen Ansprüche auf die Tagesordnung brachten. Die angesprochene Gehorsamsforderung der Päpste namentlich gegenüber Bischöfen und Königen war einer aristokratisch ausgerichteten Kirche und Welt in dieser Zeit fremd. Man war nämlich gewohnt, Willensbildung und Entscheidungsfindung in den Führungsschichten als Prozess der Konsensherstellung durch Beratung zu praktizieren.2 Und dies tat man bewusst in Formen, die Befehlsgewalt, Druck oder gar Zwang auf der einen und Gehorsam auf der anderen Seite so weit wie möglich in den Hintergrund drängten oder zumindest bemäntelten. Solche Verfahren der Beratung, die Partizipation der höheren Ränge an der Entscheidungsfindung vorsahen, waren in Kirche und Welt als Gewohnheiten fest verankert.3 Sie fanden in den Beratungen der Herrschaftsverbände auf den Hoftagen ebenso ihren Ausdruck wie in den Beratungen auf den Synoden und Konzilien. Für die Verfahren waren feste Gewohnheiten ausgebildet. Was die Päpste forderten, musste notwendig in Gegensatz zu diesen Gewohnheiten treten. Nicht zufällig hat denn auch Gregor VII. darauf hingewiesen, Christus habe gesagt: „Ich bin die Wahrheit“, und nicht: „Ich bin die Gewohnheit“. Gewohnheiten konnten nämlich nach der Auffas-

2 Siehe dazu für das Frühmittelalter Hannig, Consensus fidelium; für die spätere Zeit Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. 3 Zu Formen der Beratung siehe Althoff, Colloquium familiare; zur aktuellen Diskussion um das Phänomen der „Gewohnheit“ siehe jetzt Pilch, Rahmen der Rechtsgewohnheiten, mit weiterführenden Überlegungen; siehe dazu auch die vor allem rechtshistorischen Beiträge in: Rechtsgeschichte 17 (2010), S. 15– 90, die ein von Gerhard Dilcher initiiertes Gesprächsforum zum Buch von Martin Pilch unter Beteiligung des Autors wiedergeben; zuletzt Jansen / Oestmann (Hg.), Gewohnheit, Gebot, Gesetz, mit über die mittelalterliche Zeit hinausgehenden Beiträgen.

1. Ausgangsfrage und methodisches Vorgehen

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sung Gregors VII. verderbt und schlecht sein, zahlreiche Belege aus Gregors Briefen weisen diese Überzeugung des Papstes aus.4 Die Brisanz der päpstlichen Neuerungen wird aber erst dann richtig fassbar, wenn man bemerkt, dass Gregor in aller Regel mit der Gehorsamsforderung eine zweite, nicht minder aufregende Festlegung verband: die Auffassung nämlich, dass Ungehorsam gegen päpstliche Gebote mit Götzendienst und Häresie gleichzusetzen sei – und es der Kirche erlaubt sei, gegen Ungehorsame wie gegen Häretiker Gewalt und Zwang anzuwenden. Daher scheint es geboten, sich im Folgenden darauf zu konzentrieren, wie die Reformer diese neuartige Auffassung begründeten, die Päpste dürften Gehorsam von allen fordern und – was der Forderung den entscheidenden Nachdruck verlieh – gegen Ungehorsame Gewalt anwenden. Dieser Kern des neuen päpstlichen Selbstverständnisses war nicht zuletzt Ergebnis einer gewaltigen geistigen Anstrengung auf dem höchsten theologischen Niveau der Zeit. Er resultierte aus einer intensiven Lektüre der christlichen Autoritäten, das heißt der Bibel, der Kirchenväter, der Konzils- und Synodalakten sowie der Historiographie, verbunden mit einer ausgeprägten Bereitschaft, Belegstellen in einer Weise auszudeuten, wie man dies zuvor nicht getan hatte. Man hat in diesem Zusammenhang von einer ausgeprägten Bereitschaft zur „verschärfenden Umbiegung“ bei der Nutzung der Autoritäten gesprochen.5 Wie diese „Umbiegung“ aussah, wird uns im Folgenden beschäftigen. Niedergeschlagen hat sich das Ergebnis dieser Anstrengung sowohl im Register Gregors VII., das seine reiche Korrespondenz enthält, als auch in mehreren Streitschriften, die enge Vertraute und Anhänger Gregors verfassten. Überdies entstanden in gleicher Zeit einige Kanones-Sammlungen, die Anhänger Gregors zusammenstellten, und Historiographen nahmen in vielfacher Weise Stellung zu den aktuellen Problemen und 4 Siehe dazu Register Gregors VII., S. 682 mit den Verbindungen consuetudo antiqua et pessima, – execranda, – nefanda, – pestifera, – prava, – male, – superbie; siehe dazu Hartmann, Wahrheit und Gewohnheit, S. 68. 5 Siehe dazu Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, bes. S. 212–249; Tellenbach, Libertas, S. 168–192; Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 185 ff.; Cowdrey, Gregory VII, bes. S. 495 ff.; zuletzt knapp und präzise Schieffer, Gregor VII., bes. S. 30–46. Den zitierten Begriff von der „verschärfenden Umbiegung“ verdanken wir bereits Erich Caspar, siehe dazu eingehend Fuhrmann, Papst Gregor VII. und das Kirchenrecht, bes. S. 142 ff. mit dem Nachweis, dass schon Zeitgenossen Gregors diesen Vorwurf gegen ihn erhoben.

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II. Die neuen Geltungsansprüche Gregors VII.

Positionen. Wir verfügen also über eine überaus differenzierte Quellenlandschaft zu unserer Fragestellung, die dadurch noch ergänzt wird, dass auch die Gegenpartei, gewöhnlich Heinricianer genannt, in ähnlicher Intensität bemüht war, ihre gegensätzlichen Standpunkte in schrift lichen Formen zu präsentieren und zu verbreiten.6 Die Stoßrichtung ihrer Äußerungen wird in Kapitel 5 an drei Beispielen präsentiert. Meine Überlegungen gehen aus von einer Charakterisierung Papst Gregors VII., die schon zitiert worden ist. Der Papst habe sich als Nachfolger Petri im Besitz der Wahrheit Christi geglaubt, die Christus mit der Übertragung der Binde- und Lösegewalt zunächst an Petrus, damit aber auch an dessen Nachfolger und somit auch an ihn, Gregor, übertragen habe.7 Diese Wahrheit Christi, an der Gregor als vicarius Christi teilzuhaben glaubte, darf man in der Tat als geistigen Angelpunkt im Denken dieses Papstes betrachten. Mit dieser veritas bekämpfte er daher die Macht der Gewohnheiten seiner Zeit. Die bis dahin befolgten Regeln und Gewohnheiten hatten nämlich nicht zur Ausprägung einer wirklichen päpstlichen Suprematie geführt; akzeptiert und praktiziert wurde lediglich ein Ehrenvorrang des römischen Bischofs vor seinen Amtskollegen, kein Verhältnis zu ihnen, das auf Befehl und Gehorsam basierte. Und dass die Könige und Kaiser in der Zeit der ottonisch-salischen Reichskirche sich ebenfalls nicht als Befehlsempfänger des Papstes verstanden, war gleichfalls ohne Zweifel. Schließlich beanspruchten sie unter anderem eine gewichtige Rolle bei der Entscheidung über die Besetzung des päpstlichen Stuhles und setzten diese nicht selten rigoros durch. Man dürfte daher nicht fehlgehen in der Annahme, dass die Ereignisse des Jahres 1046 in Sutri, als Kaiser Heinrich III. drei streitende Päpste absetzte und einen vierten, einen deutschen Reichsbischof, auf dem Stuhl Petri installierte, sich tief und traumatisch ins Bewusstsein der 6 Siehe dazu allg. Mirbt, Publizistik; Suchan, Königsherrschaft im Streit; Melve, Inventing the Public Sphere. Eine thematisch geordnete Sammlung der in der Zeit des „Streits zwischen Kaisertum und Papsttum“ in den Quellen benutzten Bibelstellen bietet Hackelsperger, Bibel und mittelalterlicher Reichsgedanke, dort S. 87 ff. die von den Heinricianern angeführten Bibelstellen gegen Gewalt, S. 92 ff. die von Gregorianern benutzten Stellen zur Legitimation von Gewalt; S. 130 ff. ein Register aller Stellen. 7 Siehe dazu Weinfurter, Canossa, S. 56 u. 106; Hartmann, Wahrheit und Gewohnheit, S. 67 ff.

2. Biblische Grundlagen der päpstlichen Geltungsansprüche

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Reformer und allen voran Gregors VII. eingruben. Diese Vorgänge dürften ihre Entschlossenheit begründet oder bestärkt haben, alles daranzusetzen, um die Freiheit der Kirche vom Einfluss der Laien zu erreichen. Hierzu musste man allerdings gegen die Macht der Gewohnheiten kämpfen, die die Wahrheit der christlichen Botschaft bisher verdunkelten. Wie Gregor zu seiner Feststellung einer Opposition von Wahrheit und Gewohnheit kam und welche Konsequenzen er daraus zog, wird erst dann richtig deutlich, wenn man die biblischen Belegstellen mustert, die dieser Papst in seinen Briefen am häufigsten zur Begründung seiner Geltungsansprüche heranzog. Durch die Stellenregister der kritischen Edition seiner Briefe wird leicht erkennbar, dass nur relativ wenige Stellen sehr häufig zitiert wurden, was natürlich eine besondere Aufmerksamkeit auf diese Stellen lenkt.8 Das methodische Vorgehen im Folgenden besteht daher im Wesentlichen daraus, die Aussagen der Bibelstellen zu analysieren, die Gregor VII. in seinen Briefen am häufigsten zitierte, um seine neuen Ansprüche zu legitimieren. In Kapitel 4 wird dann an exemplarischen Zeugnissen ergänzend und bestätigend gezeigt, dass diese Bibelstellen in den Streitschriften der Autoren aus der Umgebung Gregors gleichfalls verwendet wurden. Gregors Positionen werden hier noch ausführlicher entwickelt, als er es selbst in seinen Briefen tat, die ja angesichts ihrer Funktion eher selten Raum für eine ausführliche und grundsätzliche Erörterung der Problematik ließen. So lassen sich die Grundpfeiler der Legitimation der neuen päpstlichen Geltungsansprüche und ihre biblische Basis auf einer breiten Überlieferung vorstellen.

2. Die biblischen Grundlagen der päpstlichen Geltungsansprüche 2. Biblische Grundlagen der päpstlichen Geltungsansprüche

Immer schon hat man hervorgehoben, dass die von Christus Petrus übertragene Binde- und Lösegewalt, wie sie Matthäus 16,18 ff. bietet, den zentralen Beleg für Gregors Amtsauffassung darstellt. „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im 8 Vgl. dazu Register Gregors VII., das Stellenregister siehe Bd. 2, S. 644 ff.

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II. Die neuen Geltungsansprüche Gregors VII.

Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.“9 Gregor verstand diesen Auftrag als den Nachfolgern Petri, das heißt den Päpsten, zugewiesene Generalvollmacht und folgerte daraus seine Richterfunktion über alle Menschen einschließlich der Könige und Kaiser. An verschiedenen Stellen fragte er insistierend: „Sind etwa die Könige davon ausgenommen oder gehören sie nicht zu den Schafen, die der Sohn Gottes dem seligen Petrus anvertraut hat? Wer, frage ich, könnte bei dieser allgemeinen Vollmacht zu binden und zu lösen glauben, von Petri Gewalt frei zu sein als vielleicht jener Elende, der das Joch des Herrn nicht tragen will und die Bürde des Teufels auf sich nimmt?“10 Oder er mahnte König Heinrich IV. eindringlich, dem Apostolischen Stuhl zu gehorchen, was er schon in der Grußformel eines berühmten Mahnbriefes unmissverständlich zum Ausdruck brachte: „Bischof Gregor, Knecht der Knechte Gottes, sendet König Heinrich Gruß und apostolischen Segen, wenn er dem apostolischen Stuhl gehorcht, wie es einem christlichen König geziemt.“11 In diesem Brief wiederholte er, wie auch zu anderen Gelegenheiten, die eindringliche Mahnung: „Falls du zu den Schafen des Herrn gehörst, bist du ihm (sc. Petrus) durch das Wort und die Macht des Herrn übergeben, dass er dich weide, als ihm Christus sagte: ,Petrus, weide meine Schafe‘, und wiederum: ,Dir sind die Schlüssel des Himmelreiches gegeben; und was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein …‘. Da wir auf dessen Sitz und in dessen Apostelamt – Sünder, die wir nun einmal sind und unwürdig – nach dem Willen Gottes die Vertretung seiner Gewalt (potestas) wahrnehmen, empfängt in Wirklichkeit er selbst, was du uns schrift lich oder mündlich

9 Vgl. bereits Arquillière, Saint Grégoire VII, bes. S. 222–260; Cowdrey, Gregory VII, S. 515 ff. 10 Vgl. dazu Register Gregors VII., lib. VIII, Nr. 21, S. 548 (im 2. Brief an Bischof Hermann von Metz): Nunquid sunt hic reges excepti, aut non, sunt de ovibus, quas filius Dei beato Petro commisit? Quis, rogo, in hac universali concessione ligandi atque solvendi a Potestate Petri se exclusum esse existimat, nisi forte infelix, qui iugum Domini portare nolens diaboli se subicit honeri, et in numero ovium Christi esse recusat?; ähnlich argumentiert Gregor bereits III, 10, S. 265; IV, 2, S. 295. Vgl. dazu bereits Casper, Gregor VII. in seinen Briefen, S. 13 ff. 11 Vgl. Register Gregors VII., lib. III, Nr. 10, S. 263: Gregorius episcopus servus servorum Dei Henrico regi salutem et apostolicam benedictionem, si tamen apostolice sedi, ut christianum decet regem, oboedierit.

2. Biblische Grundlagen der päpstlichen Geltungsansprüche

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zukommen lässt.“12 In diesen Mahnungen sind die Mechanismen der Inklusion und Exklusion unmissverständlich angesprochen: Wer zu den Schafen gehören wollte, hatte zu gehorchen, tat er das nicht, gehörte er zu  jenen Elenden, die die Bürde des Teufels trugen. Und das waren die Häretiker. In gleicher Weise wirkte Gregor in seinen Briefen auch auf Bischöfe ein, denen er ihre Gehorsamspflicht ebenfalls eindringlich und mit biblischen Vorbildern vor Augen führte. So etwa in einem Brief an den Magdeburger Erzbischof Werner, dem er mit großem rhetorischen Aufwand befahl, seinen Klerikern Enthaltsamkeit einzuschärfen: „Wir lesen, dass Josua, als er in der Leitung des Volkes Gottes nachgefolgt war und die Führung übernommen hatte, das Amt in so geflissenem und unermüdlichem Gehorsam versah, dass er, was über andere kaum geschrieben steht, im Vertrauen auf die Kraft des Himmels machtvoll den Elementen gebot. Denn den Jordan ließ er seinen natürlichen Lauf anhalten, damit das Heer hindurchschritte, und der Sonne  … befahl er wie ein zweiter Schöpfer zu stehen, bis er an den Feinden Rache genommen; ebenso brachte er die Mauern Jerichos  … durch den Klang der Posaune seiner Priester völlig zum Einsturz. Erkennst du, teuerster Bruder, was ein Herz, das für die Sache Gottes brennt, was bereitwilliger Gehorsam erntet? … Deshalb tragen wir dir, Bruder, kraft apostolischer Autorität auf und befehlen, dass du mit Kraft und beständig das priesterliche Horn ertönen lässt, um Enthaltsamkeit der Kleriker zu predigen und eifrig einzuschärfen … Wirke also darauf hin, sei zur Stelle – gelegen oder ungelegen –, das Haus Gottes, das dir anvertraut ist, zu reinigen, damit du ob deines Gehorsams unseren Dank erntest, den Lohn für deine Mühen empfängst und froh in die Freude des Herrn geleitet wirst.“13 Gregor leitete aus der von Christus, der Wahrheit, übertragenen Binde- und Lösegewalt also ab, dass der Inhaber dieser Gewalt Gehorsam erwarten durfte, wenn er diese Wahrheit in Gebote auf den unterschied12 Ebd., S. 264: Cui, si de dominicis ovibus es, dominica voce et potestate ad pascendum traditus es dicente sibi Christo: „Petre, pasce oves meas“, et iterum: „Tibi tradite sunt claves regni celorum; et quodcumque ligaveris super terram, erit ligatum et in celis“; et quodcumque solveris super terram, erit solutum et in celis. In cuius sede et apostolica amministratione dum nos qualescunque peccatores et indigni divina dispositione vicem sue potestatis gerimus, profecto, quicquid ad nos vel per scripta aut nudis verbis miseris, ipse recipit. 13 Ebd., lib. II, Nr. 68, S. 225 f.

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II. Die neuen Geltungsansprüche Gregors VII.

lichsten Feldern umsetzte. Geschichten des Alten Testaments boten ihm dabei, wie auch in diesem Zitat deutlich wird, die handlungsleitenden Vorbilder. Keineswegs war er bereit, wie nach der Gewohnheit üblich, die Gebote in und durch Beratung mit den Betroffenen zu finden. Von dieser Überzeugung künden auch viele apodiktisch klingende Sätze des berühmten Dictatus papae, die dem Papst Rechte auch über Könige, Kaiser und Bischöfe zubilligen. Am allgemeinsten bringt dieses Bewusstsein wohl Satz 26 zum Ausdruck: „Dass der nicht für katholisch gehalten werden kann, der nicht mit der Römischen Kirche übereinstimmt.“14 Mit dieser Formulierung war verdeckt der Tatbestand der Häresie definiert, wie Gregors Helfer und Anhänger denn auch mehrfach unterstrichen.15 Dieses Verständnis setzte Gregor dann konsequent in die erste Bannung Heinrichs IV. um, die er mit seiner Binde- und Lösegewalt nach Matthäus 16,18 und dem Ungehorsam Heinrichs begründete. „Weil er es verachtete, wie ein Christ zu gehorchen, und weil er meine Mahnungen missachtete“, habe er, Gregor, im Vertrauen auf Petrus den König aus der Kirche ausgeschlossen.16 Gregors Verständnis von Gehorsam beruhte aber noch auf einem zweiten biblischen Beleg, den er genauso häufig zitiert hat wie den der Binde- und Lösegewalt, die der Papst in der Nachfolge Petri ausübe. Dieser Beleg stammt aus dem Alten Testament und ist der Geschichte des Propheten Samuel und des Königs Saul entnommen. Man muss den Kontext des Zitates berücksichtigen, um seine ganze Brisanz zu ermessen. König Saul hatte von Gott durch Samuel den Auftrag bekommen, an

14 Ebd., lib. II, Nr. 55a, S. 207: XXVI. Quod catholicus non habeatur, qui non concordat Romanę ecclesię; zum Dictatus papae siehe Fuhrmann, Randnotizen zum Dictatus papae; Cowdrey, Gregory VII, S. 502–507; zur Bedeutung des Häresiebegriffs für das Reformpapsttum im Allgemeinen und Gregor VII. im Besonderen siehe Hageneder, Häresie des Ungehorsams, bes. S. 34 ff. 15 Siehe dazu unten S. 82 f., S. 89 f., S. 93 ff. 16 Vgl. Register Gregors VII., lib. III, Nr. 10, S. 270 f.: Et quia sicut christianus contempsit oboedire nec ad Deum rediit, quem dimisit participando excommunicatis meaque monita, quę pro sua salute misi, te teste, spernendo seque ab ecclesia tua temptans eam scindere separando, vinculo eum anathematis vice tua alligo et sic eum ex fiducia tua alligo, ut sciant gentes et comprobent, quia tu es Petrus et super tuam petram filius Dei vivi ędificavit ecclesiam suam et porte inferi non prevalebunt adversus eam.

2. Biblische Grundlagen der päpstlichen Geltungsansprüche

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den Amalekitern, den Feinden Israels, den Bann zu vollstrecken, und das hieß, sie vollständig zu vernichten, die Menschen wie die Tiere: „Darum zieh jetzt in den Kampf, und schlag Amalek! Weihe alles, was ihm gehört, dem Untergang! Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel!“17 So hatte Samuel Saul im Auftrage des Herrn befohlen. Es sei nur knapp darauf hingewiesen, dass das päpstliche Interesse an einem göttlichen Vernichtungsauftrag angesichts der vielen gewaltkritischen Äußerungen des Neuen Testaments schon erstaunt. Die Attraktivität der Geschichte beruhte jedoch nicht in erster Linie auf ihrer Brutalität. Saul und seine Krieger hatten nach dieser Geschichte als Werkzeuge des Gotteszorns nämlich deshalb versagt, weil sie den gegnerischen König Agag verschont und nur gefangen genommen hatten. Überdies hatten sie die besten Tiere der Viehherden nicht getötet, um sie später Gott opfern zu können. Deshalb stellte Samuel im Auft rage Gottes Saul harsch zur Rede: „Samuel aber sagte: Hat der Herr an Brandopfern und Schlachtopfern das gleiche Gefallen wie am Gehorsam gegenüber der Stimme des Herrn? Wahrhaftig, Gehorsam ist besser als Opfer, Hinhören besser als das Fett von Widdern. Denn Trotz ist ebenso eine Sünde wie die Zauberei, Widerspenstigkeit ist ebenso (schlimm) wie Frevel und Götzendienst. Weil du das Wort des Herrn verworfen hast, verwirft er dich als König.“18 Gehorsam war dem Herrn wichtiger als Opfer; Ungehorsam aber wertete er wie Zauberei und Götzendienst. Ungehorsam durfte und musste folglich mit Idolatrie und Häresie gleichgesetzt werden. In dieser Auslegung bot die Stelle für Gregors Amtsauffassung eine neue, wichtige

17 1 Samuel 15, 3: nunc igitur vade et percute Amalech et demolire universa eius non parcas ei sed interfice a viro usque ad mulierem et parvulum atque lactantem bovem et ovem camelum et asinum (zitiert hier wie auch im Folgenden nach Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem; dt. Übers. nach der Einheitsübersetzung); siehe zu dieser Stelle auch Cowdrey, Gregory VII, S. 516 f. u. S. 555 ff.; Arquillière, Saint Grégoire VII, S. 234 f.; zur sogenannten Bannideologie, zu der die moderne Forschung diese und andere Stellen des Alten Testaments zählt, siehe Schmitt, „Heiliger Krieg“, bes. S. 30 ff. 18 1 Samuel 15, 22 f.: Et ait Samuhel numquid vult Dominus holocausta aut victimas et non potius ut oboediatur voci Domini melior est enim oboedientia quam victimae et auscultare magis quam offerre adipem arietum. Quoniam quasi peccatum ariolandi est repugnare et quasi scelus idolatriae nolle adquiescere pro eo ergo quod abiecisti sermonem Domini abiecit te ne sis rex.

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II. Die neuen Geltungsansprüche Gregors VII.

Stütze. Die zitierte Kernaussage Samuels hat Gregor VII. daher mehr als zwanzig Mal in seinen Briefen zitiert oder erkennbar auf diese Aussage angespielt. Und er hat sie vornehmlich auf ungehorsame Bischöfe, Priester und nicht zuletzt auf König Heinrich IV. und seine Anhänger, unter ihnen vor allem auf den „Erzhäretiker“ Wibert von Ravenna, den Gegenpapst Clemens, angewendet.19 Hierfür nur die wichtigsten Beispiele: Das erste Mal zitierte Gregor das Samuel-Zitat in einem Brief an die Herzöge Rudolf von Schwaben und Welf von Bayern und nutzte es als Begründung für seine Aufforderung an diese Herzöge, „im Gehorsam verpflichtet“ simonistische und unkeusche Priester daran zu hindern, „den heiligen Geheimnissen zu dienen – wenn es nötig ist: mit Gewalt“20 Auch forderte er 1076 nach der Bannung Heinrichs alle Getreuen des heiligen Petrus im Reich auf, Heinrich und seine Anhänger entweder zur Buße zu bewegen oder zu meiden, weil ihnen, „wenn sie nicht gehorchen, der Zorn und die Rache des göttlichen Gerichtes drohe wegen des Verbrechens der Idolatrie nach dem Zeugnis Samuels.“21 Das Gleiche wiederholte er wenig später in seinem ersten Brief an Bischof Hermann von Metz: „Denn wenn sie (sc. die Anhänger Heinrichs IV.) sich übermütig in einen Streit darüber einlassen, dem apostolischen Stuhl zu gehorchen, dann wählen sie nach dem Zeugnis Samuels das Verbrechen des Götzendienstes.“22 Der Gedanke findet sich auch in Gregors Anweisungen an seine Legaten wie an alle Getreuen nach dem Geschehen in Canossa: „Denket immer daran, dass die Sünde des Götzendienstes auf sich lädt, wer den Gehorsam gegenüber dem apostolischen 19 Es verdient erwähnt zu werden, dass er auf die Stelle auch durch seine Rezeption der Überlegungen Papst Gregors I. zum Gehorsam (Moralia in Iob) gestoßen sein könnte, siehe dazu Cowdrey, Gregory VII, S. 556 f.; auf die Bedeutung dieses biblischen Belegs für Gregor wiesen bereits hin Schneider, Prophetisches Sacerdotium, S. 118 ff.; Weinfurter, Canossa, S. 110 ff. 20 Register Gregors VII., lib. II, Nr. 45, S. 184: astricti per obedientiam tam in curia regis quam per alia loca et conventus regni notificantes ac persuadentes quantum potestis tales sacrosanctis deservire mysteriis, etiam vi si oportuerit, prohibeatis. Die Formulierung entspricht dem auf der Fastensynode 1075 verabschiedeten „Aufruhrparagraphen“; vgl. ebd., Anm. 4. 21 Ebd., lib. IV, Nr. 1, S. 292: ita illis imminent, si non oboedint, ira divini iudicii et ultio testante Samuhele idolatrie sceleris. 22 Ebd., lib. IV, Nr. 2, S. 296: cum enim oboedire apostolicę sedi superbe contendunt, scelus idolatrie, teste Samuele incurrunt. Zu diesem Brief siehe Melve, Inventing the Public Sphere, S. 220 ff.

2. Biblische Grundlagen der päpstlichen Geltungsansprüche

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Stuhl verschmäht, und dass der selige Gregor, der heilige und demütigste Lehrer, verordnet hat, dass Könige ihre Würde verlieren, wenn sie in verblendeter Vermessung es wagen sollten, den Anordnungen des apostolischen Stuhles zuwiderzuhandeln.“23 Es sei nur am Rande angemerkt, dass dieser Verweis Gregors auf seinen Vorgänger Gregor den Großen nicht unangefochten blieb. Eine ganze Reihe von gegnerischen Autoren hat vielmehr darauf hingewiesen, dass es eine solche Äußerung des großen Gregor nicht gebe, dass Gregor hier einen Text sinnwidrig interpretiert habe.24 Im Gebet an die Apostelfürsten Petrus und Paulus, in das Gregor 1080 seine zweite Bannung Heinrichs kleidete, taucht der Ungehorsam erneut als zentraler Punkt der Anschuldigung auf: „Heinrich fürchtete mit seinen Anhängern die Gefahr des Ungehorsams nicht, die das Verbrechen der Idolatrie ist, und verhinderte das colloquium.“25 Und als Gregor Tugenden bzw. Laster der streitenden Könige Heinrich und Rudolf miteinander kontrastierte, waren es bei Heinrich superbia, inoboedientia und falsitas, bei Rudolf hingegen humilitas, oboedientia und veritas.26 Auch im berühmten zweiten Brief Gregors an Hermann von Metz aus dem Jahre 1081, in dem der Papst noch einmal programmatisch seine gesamte Amtsauffassung darlegte, fehlt schließlich der Hinweis auf das Samuel-Wort nicht, und es wird ergänzt um die Ausführungen, die Gregor der Große zu dieser Bibelstelle gemacht hatte: „Es ist allein der Gehorsam, der das Verdienst des Glaubens ausmacht; ohne ihn wird jeder als ungläubig erwiesen, auch wenn er gläubig zu sein scheint.“27 23 Ebd., lib. IV, Nr. 23, S. 336: illud semper habentes in memoria, quia scelus idolatrię incurrit, qui apostolicę sedi oboedire contendit, et quod beatus Gregorius doctor sanctus et humillimus decrevit reges a sua dignitate cadere, si temerario ausu presumerent contra apostolicę sedis iussa venire. 24 Vgl. Mirbt, Publizistik, S. 166 ff. 25 Register Gregors VII., lib. VII, Nr. 14a, S. 486: Predictus autem Heinricus cum suis fautoribus non timens periculum inoboedientie, quod est scelus idolatrię, colloquium impediendo excommunicationem incurrit. Siehe dazu Vogel, Gregor VII. und Heinrich IV., S. 184 ff., bes. S. 193. 26 Register Gregors VII., lib. VII, Nr. 14a, S. 487: Heinricus pro sua superbia inoboedientia et falsitate a regni dignitate iuste abicitur, ita Rodulfo pro sua humilitate oboedientia et veritate potestas et dignitas regni conceditur. 27 Ebd., lib. VIII, Nr. 21, S. 563: sola est oboedientia, quae fidei meritum possidet, sine qua infidelis quisque cognoscitur, etiamsi fidelis esse videatur. Siehe dazu bereits Szabó-Bechstein, Libertas ecclesiae, S. 248.

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II. Die neuen Geltungsansprüche Gregors VII.

In diesen wie in weiteren Belegen begründete Gregor VII. die päpstliche Gehorsamsforderung gegenüber allen Christgläubigen vorrangig oder ausschließlich mit dem Samuel-Zitat. Es dürfte seine Attraktivität für den Papst nicht zuletzt darin besessen haben, dass hier ein Prophet im Auftrage Gottes einen König in die Schranken wies und verwarf, der ungehorsam gegen die Befehle gewesen war, die Gott ihm durch diesen Propheten hatte zukommen lassen. Besser konnten die Befugnisse, die Gregor als Stellvertreter Petri und damit Christi auch gegenüber den Königen zu haben glaubte, nicht präfiguriert werden. Die Häufigkeit, mit der Gregor dieses Zitat in seinen Briefen nutzte, beweist eindrücklich, dass er ihm eine große Überzeugungskraft für seine Anliegen beimaß. Das Aussagepotential der Samuel-Geschichte wird noch brisanter, wenn man den unmittelbaren Fortgang der Erzählung berücksichtigt. Der Prophet Samuel wurde in der zitierten Szene nämlich noch in anderer Weise aktiv. Nach seiner Rede, in der er den Gotteszorn über Sauls Verhalten artikulierte, nahm er selbst das Schwert und schlug den von Saul verschonten und nun vor ihn gebrachten König Agag „in Stücke“, während dieser in den Propheten seine Hoffnung auf Rettung gesetzt und bei dessen Anblick gesagt hatte: „Wahrhaftig, die Bitterkeit des Todes ist gewichen.“28 Samuel agierte also eigenhändig als Vollstrecker des Gotteszorns mit tödlicher Gewalt gegen einen Wehrlosen. Dieser Teil der Erzählung wird von Gregor selbst interessanterweise nie zitiert, er wird aber von seinen Anhängern mehrfach benutzt.29 Es fragt sich somit, ob zumindest gelehrte mittelalterliche Zeitgenossen die Geschichte ohne diesen zweiten Teil denken konnten. Sie gab ja eine deutliche Antwort auf die Frage, ob auch Priester Gewalt im Auftrage Gottes ausüben durften. Sie akzentuierte geradezu die Rolle des Propheten, der aktiv die Aufgabe der Vollstreckung der Befehle Gottes übernahm, weil König Saul bei dieser Aufgabe versagt hatte und deshalb von Gott verworfen worden war. Damit sind wir bei der Frage, wie Gregor VII. und seine Umgebung sich die Durchsetzung der Gehorsamsforderung vorstellten und inwieweit 28 1 Samuel 15, 32 f.: Dixitque Samuhel adducite ad me Agag regem Amalech et oblatus est ei Agag pinguissimus et dixit Agag sicine separat amara mors. Et ait Samuhel sicut fecit absque liberis mulieres gladius tuus sic absque liberis erit inter mulieres mater tua et in frusta concidit Samuhel Agag coram Domino in Galgalis. 29 Vgl. Anselm von Lucca, Liber contra Wibertum, S. 524 und Wido von Ferrara, De scismate Hildebrandi, S. 544, siehe dazu unten S. 90.

2. Biblische Grundlagen der päpstlichen Geltungsansprüche

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sie die Anwendung von realer physischer Gewalt bei dieser Durchsetzung vorsahen und rechtfertigten. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass die hier diskutierte Gewaltrhetorik, die man auch allegorisch verstehen kann, tatsächlich notwendigerweise zur Anwendung von physischer Gewalt führte. Hier wird man zunächst einmal darauf hinweisen, dass in Gregors Denken die Exklusion der Ungehorsamen durch Exkommunikation im Vordergrund der Maßnahmen stand. Selbst wenn er das Zitat aus Jeremia 48,10 benutzte: „Verflucht sei, wer sein Schwert vom Blute frei hält“, was er neben der Benutzung der Samuel-Stelle häufig zu tun pflegte, dann meinte er das allegorisch. Die Kleriker hielten nach Auffassung Gregors ihr (geistliches) Schwert vom Blute frei, wenn sie ihrer Pflicht zur Mahnung und Bestrafung der Sünder nicht nachkamen.30 Schon zur Bekämpfung der verheirateten oder simonistischen Priester aber forderte Gregor die Herzöge Rudolf und Berthold auf, Gewalt anzuwenden, „wenn es nötig sein sollte“.31 Und als er Heinrich IV. das zweite Mal bannte, forderte er in seinem Gebet von den Apostelfürsten, ihr Urteil über Heinrich schnell zu vollstrecken, damit alle wüssten, dass er durch „eure Macht zuschanden wird“.32 Hier konnte nicht zweifelhaft sein, dass physische Gewalt der Himmlischen angefordert wurde. Und um jeden Zweifel zu beseitigen, präzisierte er seine Ankündigung kurze Zeit später noch dadurch, dass er den genauen Termin angab, bis zu dem die Apostel Heinrich stürzen würden. Falls dies nicht so eintreffe wie erbeten und prophezeit, brauche ihm niemand mehr zu glauben.33 Neben der Exklusion war also im Denken und 30 Siehe dazu bereits Cowdrey, Gregory VII, S. 567 f., der auch hier zu Recht wieder die Abhängigkeit Gregors VII. von Gregor I. betont. 31 Register Gregors VII., lib. II, Nr. 45, S. 184: Quapropter ad te et ad omnes, de quorum fide et devotione confidimus, nunc convertimur rogantes vos et apostolica auctoritate ammonentes, ut, quicquid episcopi dehinc loquantur aut taceant, vos officium eorum, quos aut symoniacę promotos et ordinatos aut in crimine fornicationis iacentes cognoveritis, nullatenus recipiatis et hęc eadem astricti per obędientiam tam in curia regis quam per alia loca et conventus regni notificantes ac persuadentes quantum potestis tales sacrosanctis deservire mysteriis, etiam vi si oportuerit, prohibeatis. 32 Ebd., lib. VII, Nr. 14a, S. 487: Et in predicto Heinrico tam cito iudicium vestrum exercete, ut omnes sciant, quia non fortuitu sed vestra potestate cadet, confundetur, utinam ad penitentiam, ut spiritus sit salvus in die Domini. 33 Vgl. zu dieser von Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, S. 682–684 überlieferten Nachricht Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs IV., Bd. 3, S. 257 f.

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II. Die neuen Geltungsansprüche Gregors VII.

Fordern Gregors die Anwendung von physischem Zwang eine durchaus präsente Option. Wir werden dies im Kapitel 8 im Zusammenhang vertiefen. Als Zwischenergebnis sei hier nur festgehalten, dass die Deutung des Zitats aus dem 1. Buch Samuel durch Gregor keine Basis in der bisherigen exegetischen Tradition hatte.34 Wir können seine Entdeckung und Verwendung also als originäre Leistung des Gregor-Kreises ansehen, der das Potential erkannte, das in dieser Geschichte steckte: Als neuem Samuel und als Werkzeug Gottes verschaffte ihm die Stelle nämlich Argumente, die sowohl seine neuen Geltungsansprüche legitimierten als auch Wege zu ihrer Durchsetzung wiesen. Sein Sendungsbewusstsein wie sein rigoroses Amtsverständnis dürften also durch die Möglichkeit dieser biblischen Legitimierung gewaltig stimuliert worden sein. Die neue Argumentation des Gregor-Kreises basierte damit vor allem auf einem Zitat des Alten Testaments, welches von einem zornigen Gott handelte, der unerbittlich verlangte, dass seine Befehle befolgt wurden, auch und gerade, wenn es Vernichtungsbefehle waren. Dieser Gott schätzte es, wenn sich jemand für ihn ereiferte. Und dieser Eifer (zelus Dei) konkretisierte sich nicht selten in Gewalttaten, die Gott nicht nur billigte, sondern reich honorierte. In der modernen Forschung spricht man vom Zelotismus und von der Bannideologie, die in einer ganzen Reihe von Geschichten des Alten Testaments im Vordergrund steht.35 Ungehorsam gegen seine Befehle, auch wenn es Vernichtungsbefehle waren, wertete Gott als Götzendienst. Dies schuf die Möglichkeit, die der Gregor-Kreis gleichfalls nutzte, nämlich Ungehorsame als Häretiker zu stigmatisieren und mit ihnen zu verfahren, wie es schon wichtige Kirchenväter für Häretiker vorgesehen hatten.36 Diese Botschaften bot die Samuel-Saul-Geschichte in einiger Eindringlichkeit. Wir werden aber sehen, dass mehrere Geschichten zum festen Repertoire des Gregor-Kreises gehörten, die ein gleiches Potential enthielten. 34 Dies erbrachte eine Suche in mehreren Datenbanken des Internetportals Brepolis (http: / / apps.brepolis.net / BrepolisPortal), insbesondere in eMGH und LLT, in denen keine Belege existieren, die die fraglichen Stellen ähnlich ausdeuten wie Gregor VII. Auch der Index des Migne (Bd. 219, Sp. 273 ff.), der biblische Personen in den Werken des Mittelalters ausweist, enthält keine einschlägigen Belege für eine Exegese der Samuel-Saul-Agag-Geschichte. 35 Vgl. dazu Schmitt, Heiliger Krieg, bes. S. 30 ff. 36 Vgl. dazu Ragg, Ketzer und Recht, S. 8 ff.

2. Biblische Grundlagen der päpstlichen Geltungsansprüche

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Aus diesem und einigen anderen Bausteinen haben Gregor VII. und seine Umgebung ein wirkungsvolles Argumentationsgerüst zusammengestellt: Mit dem Besitz der Schlüsselgewalt (nach Matthäus 16,18) und der Wahrheit Christi (nach Johannes 14,6) wurde der Gehorsamsanspruch begründet. Dieser Gehorsam wurde dargeboten als Gottes wichtigste Forderung, Ungehorsam dagegen als Idolatrie und Häresie gebrandmarkt (nach 1 Samuel 15,23), gegen die mit Gewalt vorzugehen erlaubt, ja gottgewollt sei. Was aber hat zur Auswahl und vorrangigen Nutzung gerade dieses Zitats geführt, in dessen Mittelpunkt die von Gott befohlene Vernichtungsgewalt von einem Propheten ausgeübt wurde? Eine direkte Antwort auf diese Frage gibt es in der zeitgenössischen Überlieferung wohl nicht. Dennoch muss geprüft werden, ob diese Form der Nutzung von Bannideologie des Alten Testaments wirklich neu ist. Immerhin gab es ja bereits in der frühen Reformphase Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche, die zur Anwendung von Gewalt führten. Zu denken ist hier vor allem an die Kämpfe der Reformer gegen Simonie und Nikolaitismus, die bereits Gewaltausbrüche zur Folge hatten und zudem eine Reihe von schriftlichen Stellungnahmen hervorbrachten, in denen die Notwendigkeit dieses Kampfes legitimiert wurde.

III.

Frühe Ansätze zur Anwendung von potestas im Reformpapsttum: Der Kampf für den Zölibat und gegen die Simonie III. Der Kampf für den Zölibat und gegen die Simonie

Die Zeit Gregors VII. und seine kirchenpolitischen Aktivitäten stellen in der Tat nicht den Anfang der hier im Zentrum des Interesses stehenden Entwicklung dar, mit der das Reformpapsttum Kirche und Welt veränderte. Vielmehr hatten auch schon Themen der frühen Reformer Aufsehen erregt und zu Konflikten geführt, als Gregor noch nicht Papst, aber in führenden kirchlichen Funktionen in Rom durchaus schon an der Ausrichtung der neuen päpstlichen Politik beteiligt war. Die frühen Reformer gingen nämlich mit neuer Energie gegen unkeusche und gegen simonistische Priester vor – und dies nicht nur rhetorisch. Bereits in diesen Auseinandersetzungen spielten Geschichten des Alten Testaments, die von einer gewaltsamen Beendigung vergleichbarer Missstände berichteten, eine große Rolle und dienten der Legitimation eines entschiedenen Eingreifens gegen Frevler auf den genannten Gebieten. Mit den Vorbildern des Alten Testaments wurde dafür geworben, gegen Sünder der Gegenwart mit Entschiedenheit – und das hieß in der Praxis nicht zuletzt: mit Gewalt – vorzugehen. Folgerichtig blieb es nicht bei der Gewaltrhetorik. Zwar waren den Klerikern auch vor dem 11. Jahrhundert geschlechtliche Beziehungen zu Frauen verboten gewesen, doch Konkubinat wie eheliche Gemeinschaft mit Frauen waren gerade beim niederen Klerus vielfach die Regel und nicht die Ausnahme.1 Konsequent verfolgt hatte man diese Missstände zuvor nicht. Ein enthaltsames Leben setze Vollkommenheit voraus, kann man vereinzelt hören, und die besaß selbst der Gerechte nicht, der bekanntlich sieben Mal am Tage sündigte.2 In der 1 Vgl. dazu bereits Mirbt, Publizistik, S. 239 ff.; Tellenbach, Westliche Kirche, S. 81 f. 2 Vgl. die anekdotisch verformte Geschichte bei Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte, lib. III, cap. 30 R Zusatz 76, die dem Hamburger Erzbischof Adalbert die Meinung attestiert, Keuschheit setze Vollkommenheit

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III. Der Kampf für den Zölibat und gegen die Simonie

Reformzeit aber begann man mit zunehmender Energie, auf die Einhaltung der sexuellen Enthaltsamkeit derKleriker zu dringen, und griff hierbei zu einem wirksamen Mittel, das dennoch sehr problematisch war: Man wiegelte nämlich die Laien gegen die unkeuschen Priester auf.3 Folgerichtig gab es Gegenstimmen, die hierin eine Verkehrung der gottgewollten Ordnung sahen. Andererseits erwies sich jedoch das Argument als sehr wirkungsvoll, dass die von unwürdigen Priestern gespendeten Sakramente keine Gültigkeit besäßen. Ebenso gehörten simonistische Praktiken bei der Besetzung der höheren Kirchenämter zum Alltag, und dies vor allem dann, wenn man, wie die Reformer, den weiteren Simoniebegriff zugrunde legte. Der sah nämlich den Tatbestand der Simonie schon in der Bereitschaft gegeben, für ein geistliches Amt demjenigen, der dieses Amt vergeben hatte, Gegenleistungen welcher Art auch immer zu erbringen.4 Diese Bereitschaft war vor den Reformern nicht nur nicht kritisiert worden, sondern sogar die Grundlage des Herrschaftssystems der ottonischen und salischen Könige gewesen, namentlich in ihrem Zusammenwirken mit den Bischöfen.5 Die Bischöfe und auch die Reichsäbte hatten sich mit den Vasallen ihrer Bischofskirchen und Klöster im Reichsdienst engagiert, was von den Reformern als Ausweis von Simonie angesehen wurde. Simonisten aber wurden nun zu den Häretikern gezählt, was erlaubte, sie den Objekten kirchlicher Zwangsgewalt zuzurechnen und den Kampf gegen sie zu legitimieren. Es kann nun nicht Ziel dieses Kapitels sein, den Kampf der Reformer für den Zölibat und gegen die Simonie in Einzelheiten nachzuzeichnen. Die Auseinandersetzung interessiert vor allem unter der Fragestellung, inwieweit bereits hier von kirchlichen Autoren die Anwendung von Gewalt thematisiert und gerechtfertigt worden ist – und mit welchen Autoritäten diese Gewaltanwendung legitimiert wurde. Dies soll exemplarisch an Schriften der beiden berühmtesten Frühreformer untersucht werden. voraus. Da man die aber in Hamburg / Bremen nicht besitze, solle man nach dem Motto „Wenn schon nicht keusch, dann wenigstens vorsichtig“ die Frauen der Kleriker wenigstens vor den Augen der Öffentlichkeit verbergen. Im Lateinischen wird mit der Ähnlichkeit der Worte caste (keusch) und caute (vorsichtig) gespielt; siehe dazu Fuhrmann, Adalberts Mahnung. 3 Vgl. hierzu schon Mirbt, Publizistik, S. 274 ff.; Barstow, Married Priests, S. 67 ff.; zusammenfassend Frauenknecht, Verteidigung der Priesterehe, S. 4 ff. 4 Schieffer, Geistliches Amt, S. 304 ff. 5 Siehe zuletzt Keller / Althoff, Karolinger und Ottonen, S. 364 ff.

1. Petrus Damiani

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1. Petrus Damiani 1. Petrus Damiani

Einer der bekanntesten Autoren, die sich bereits in der Frühphase der Reformzeit intensiv zur Frage des Zölibats äußerten, war ganz zweifelsohne der Kardinal Petrus Damiani, der im Jahre 1049 Papst Leo IX. seinen Liber Gomorhianus widmete, einen Brieftraktat, der sich in drastischer Weise mit dem sittlichen Zustand des Klerus seiner Zeit auseinandersetzte.6 Bis heute ist die Forschung beeindruckt und überrascht, wie offen und polemisch Petrus die prekären Probleme der Unkeuschheit der Priester ansprach. Man hat gerätselt, ob Petrus über eigene Erfahrungen auf dem Gebiete der beschriebenen Sexualität verfügte oder seine Kenntnisse als Beichtvater erlangte.7 Wie dem auch sei, an seinem Beispiel wird besonders deutlich, welche Vorgeschichte die intensive Nutzung bestimmter biblischer Autoritäten hatte, die wir als Eigenart der Argumentation Gregors VII. kennengelernt und herausgearbeitet haben. Es ist von Petrus Damiani eine ganze Reihe von Mahnbriefen überliefert, in denen er weltliche und geistliche Herrschaftsträger aufforderte, sich mit dem Problem der Enthaltsamkeit ihrer Kleriker zu beschäftigen. Vor allem in diesem Zusammenhang formulierte Petrus konkrete Ratschläge zum Vorgehen gegen unkeusche Priester. Diese Briefe erhellen die Stoßrichtung der reformerischen Argumentation. Mit Geschichten des Alten Testaments, die von Gott gewollte und befohlene Gewalt gegen den Gottesfrevel der Unzucht zum Inhalt haben, wurden die Berechtigung und die Notwendigkeit begründet, den unzüchtigen Gottesfrevlern der Gegenwart – nämlich den unkeuschen Priestern – in gleicher Weise zu begegnen. So forderte Petrus Damiani im Jahre 1059 Papst Nikolaus II. in einem Brief auf, gegen die im Konkubinat lebenden Bischöfe mit Härte vorzugehen. Er hatte mit einigen Bischöfen ein colloquium gehabt und wollte hierbei, wie er selbst sehr freimütig sagt, „ihren heiligen Oberschenkeln Riegel anlegen, die Geschlechtsteile der Priester mit Klammern versehen“.8 Bei 6 Briefe des Petrus Damiani, Bd. 1, Nr. 31, S. 284–330. 7 Vgl. ebd., S. 287, Anm. 5 mit einschlägigen Literaturhinweisen des Herausgebers. 8 Briefe des Petrus Damiani, Bd. 2, Nr. 61, S. 207: Nuper habens cum nonnullis episcopis ex vestrae maiestatis auctoritate colloquium, sanctis eorum femoribus volui seras apponere, temptavi genitalibus sacerdotum, ut ita loquar, continentiae fibulas adhibere. Siehe dazu Tellenbach, Westliche Kirche, S. 138.

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III. Der Kampf für den Zölibat und gegen die Simonie

diesem Versuch hatte er jedoch nur Widerspruch geerntet und wandte sich deshalb hilfesuchend an den Papst. Denn es möge ja noch angehen, schreibt er, wenn der Skandal der priesterlichen Unkeuschheit unbemerkt und verborgen bliebe. Aber man habe jede Scham verloren und praktiziere die Unkeuschheit ohne Scheu in aller Öffentlichkeit. Hiervon zeugten und seien in aller Munde: „die Orte der Hurerei, die Namen der Konkubinen, die Namen von Schwiegervater und Schwiegermutter, Brüdern und Verwandten, der Austausch von Boten, der Strom von Geschenken, die Scherze der Lachenden, die geheimen Treffen; und schließlich, was allen Zweifel beseitigt, die schwellenden Mutterleibe und das Kindergeschrei“.9 Als erstes Exempel dafür, woran man sich beim Kampf gegen die Unzucht der Kleriker zu orientieren habe, zitiert und kommentiert Petrus in dem Brief an Papst Nikolaus ausführlich eine Geschichte aus dem 4. Buch Mose folgenden Inhalts: „Unter den Israeliten war einer, der zu seinen Brüdern kam und eine Medianiterin mitbrachte, und zwar vor den Augen des Mose und der ganzen Gemeinde der Israeliten, während sie am Eingang des Offenbarungszeltes weinten. Als das der Priester Pinhas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aarons, sah, stand er mitten in der Gemeinde auf, ergriff einen Speer, ging dem Israeliten in den Frauenraum nach und durchbohrte beide, den Israeliten und die Frau, auf ihrem Lager. Danach nahm die Plage, die die Israeliten getroffen hatte, ein Ende.“ (25,6–9). Diesen Mut des Priesters Pinhas preist Petrus nicht zuletzt deshalb ausdrücklich als vorbildliches Verhalten gegenüber Unzucht, weil sowohl der getötete Israelit als auch die Medianiterin den vornehmsten Geschlechtern ihrer Völker entstammten. Gerade die Vornehmen aber, so lehre diese Geschichte, müsse man nach dem Willen Gottes härter bestrafen. Denn, so zitiert Petrus ein drittes Mal die biblische Geschichte, Gott habe in diesem Zusammenhang zu Moses gesagt: „Nimm alle Anführer des Volkes und spieße sie für den Herrn im Angesicht der Sonne auf Pfähle, damit sich der glühende Zorn des Herrn von Israel abwendet.“ Daraufhin habe Moses ausschließlich zu den Richtern Israels gesagt: „Jeder soll die von seinen Leuten

9 Briefe des Petrus Damiani, Bd. 2, Nr. 61, S. 208: loca scortantium, nomina concubinarum, socerorum quoque vocabula simul et socruum, fratrum denique et quorumlibet propinquorum, et ne quid his assertionibus deesse videatur, testimonio sunt discursio nuntiorum, eff usio munerum, cachinnantium ioca, secreta colloquia. Postremo ubi omnis dubietas tollitur, uteri tumentes et pueri vagientes.

1. Petrus Damiani

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töten, die sich mit Baal-Pegor eingelassen haben.“ (Numeri 25,4–5). Und so sei es geschehen. Zum Schluss seiner Beweisführung zitiert Petrus dann noch die Einschätzung des Geschehens, die Gott selbst Moses mitteilte: „Der Priester Pinhas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aarons, hat meinen Zorn von den Israeliten abgewendet dadurch, dass er sich bei ihnen für mich ereifert hat … Darum sage ich: Hiermit gewähre ich ihm meinen Friedensbund. Ihm und seinen Nachkommen wird der Bund des ewigen Priestertums zuteil, weil er sich für seinen Gott ereifert und die Israeliten entsühnt hat.“ (25,11–14). So bot die Geschichte vom Anfang bis zum Ende ein biblisches Vorbild für Verhalten gegenüber den unkeuschen Priestern der Gegenwart, einschließlich der Bewertung Gottes, der die Gewalt gegen die Unkeuschen ausdrücklich gebilligt und zudem honoriert hatte. Dieser Eifer für Gott (zelus Dei) begegnet in den von den Reformern des 11. Jahrhunderts zitierten Geschichten immer wieder. Es handelt sich um einen Anspruch, den Gott an die stellt, die ihn verehren, und den er zu honorieren bereit ist.10 In den Verlautbarungen der hochmittelalterlichen Päpste wird dieser Eifer folgerichtig als hohes Lob denjenigen bescheinigt, die sich für päpstliche oder kirchliche Belange eingesetzt hatten.11 Wir werden sehen, dass dieser Eifer von den Päpsten auch dann konstatiert und gelobt wurde, wenn er sich in Gewaltaktionen geäußert hatte.12 Als nächstes schließt Petrus die Geschichte des Eli an, der „von allen hörte, was seine Söhne allen Israeliten antaten, auch, dass sie mit den Frauen schliefen, die sich vor dem Eingang des Offenbarungszeltes aufhielten“ (1 Samuel 2,22–24). Eliasar fand jedoch nicht die Kraft, sie dafür zu strafen, dass sie Unzucht trieben. Daraufhin strafte der Herr Israel im Kampf gegen die Philister mit einer vernichtenden Niederlage, die Söhne Eliasars fielen im Kampf, und er selbst brach sich beim Sturz vom Stuhl das Genick, als er von dieser Katastrophe hörte. Das Verhalten Eli, der nicht rigoros strafte, wird dann mit dem des Mose kontrastiert, als Letzterer den Tanz des Volkes um das goldene 10 Zum sogenannten Zelotismus siehe Deines, Art. Zeloten. Unter Zeloten versteht man die Eiferer, die wie die jüdischen Aufständischen gegen Rom 66 n. Chr. bereit waren, die Theokratie auf Erden mit Gewalt herbeizuführen. An diese Tradition knüpften die Gregorianer mit ihrer Wertschätzung radikalen Eifers für Gott bewusst oder unbewusst an. 11 Vgl. auch unten Anm. 16. 12 Vgl. unten S. 80 f., S. 91 f., S. 139.

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III. Der Kampf für den Zölibat und gegen die Simonie

Kalb bemerkte: „Mose trat an das Lagertor und sagte: ,Wer für den Herrn ist, her zu mir!‘ Da sammelten sich alle Leviten um ihn. Er sagte zu ihnen: ,So spricht der Herr, der Gott Israels: Jeder lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor. Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten.‘“ (Exodus 32,26–27). Nachdem die Leviten 3 000 Mann erschlagen hatten, sagte Moses zu ihnen: „Ihr habt eure Hände heute dem Herrn geweiht, jeder ist gegen seinen Sohn und Bruder vorgegangen. Der Herr legt Segen auf euch.“ (Exodus 32,29). Auch mit diesem Beispiel war unzweifelhaft deutlich gemacht, welches Verhalten gegenüber Sündern Gott für angemessen hielt, wie er falsches Verhalten strafte und richtiges belohnte. Wir werden diesem Beispiel noch mehrfach begegnen, weil es auch für andere Situationen die adäquaten Handlungsanweisungen bot.13 Am Schluss des Briefes rät Petrus Damiani Papst Nikolaus, nicht dem Beispiel Eliasars zu folgen, sondern sich den Eifer des Pinhas bei der Rächung der Verbrechen zum Vorbild zu nehmen. Schonung der Feinde des Herrn sei nach dem Willen des Herrn nicht angemessen und führe, wie zum Abschluss zusätzlich am Beispiel des Königs Achab nachgewiesen wird, zum eigenen Verderben. König Achab hatte nämlich Frieden mit Ben-Hadad, dem König von Aram, nach dessen Unterwerfung geschlossen. Ihm wurde folgendes Urteil des Herrn eröffnet: „So spricht der Herr: Weil du den Mann, dessen Verderben ich wollte, aus deiner Hand entlassen hast, muss dein Leben für sein Leben, dein Volk für sein Volk einstehen.“ (1 Könige 20,42). Dieses Beispiel erinnert nachhaltig an die Geschichte Sauls und verweist erneut auf den unerbittlichen Gott, der rigoros auf der Ausführung seiner Vernichtungsbefehle bestand und jedwede Milde und Barmherzigkeit unnachsichtig damit bestrafte, dass er die Verantwortlichen aus seiner Huld ausschloss, weil sie ungehorsam gewesen waren. Der Brief ist insgesamt ein einziges und entschiedenes Plädoyer für die Anwendung physischer Gewalt gegen unkeusche Priester. Seine alttestamentliche Fundierung speist sich aus den Beispielen, in denen der Gotteszorn den Bann über die Gottesfrevler verhängte und unnachsichtig auf der Tötung dieser Frevler bestand, die gemeinsam hatten, dass sie Unzucht trieben. Insofern boten die alttestamentlichen Geschichten Petrus eine ideale Folie, vor der das richtige Verhalten gegenüber den unzüchtigen 13 Siehe dazu unten S. 80 f., S. 96.

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Priestern der Gegenwart beschrieben werden konnte. Dass Petrus in diesem Zusammenhang betonte, man müsse die höheren Ränge besonders hart bestrafen, geißelt implizit die mittelalterliche Praxis, bei höheren Rängen beide Augen besonders fest zuzudrücken.14 Hatte doch niemand Geringeres als Abt Odo von Cluny programmatisch formuliert: „Ein je freizügigeres Leben sich die Mächtigen erlauben, desto vorsichtiger müsst ihr sie ansprechen.“15 Solche Maximen haben die Reformer entschlossen über Bord geworfen. In mehreren Briefen an andere Empfänger, so an den Turiner Bischof Kunibert und an die Markgräfin Adelheid, die Schwiegermutter Heinrichs IV., ereiferte sich Petrus in gleicher Weise für die Durchsetzung des Zölibats und propagierte immer wieder gerade mit Beispielen des Alten Testaments die Notwendigkeit des gewaltsamen Vorgehens gegen Gottesfrevler. Häufig schon ist aus dem Brief an Bischof Kunibert der geradezu hasserfüllt wirkende Ausbruch Petrus’ gegen die Frauen und Konkubinen der Priester zitiert worden, dessen Wirkung als Predigt man sich unschwer vorstellen kann: „Indes rede ich euch an, ihr Schätzchen der Kleriker, ihr Lockspeise des Satans, ihr Auswurf des Paradieses, ihr Gift der Geister, Schwert der Seelen, Wolfsmilch für die Trinkenden, Gift für die Essenden, Quelle der Sünden, Anlass des Verderbens. Euch, sage ich, rede ich an, ihr Lusthäuser des alten Feindes, ihr Wiedehopfe, Eulen, Nachtkäuze, Wölfinnen, Blutegel, die ohne Unterlass nach mehreren gelüstet. Kommt also und hört mich, ihr Metzen, Buhlerinnen, Lustdirnen, ihr Mistpfützen fetter Schweine, ihr Ruhepolster unreiner Geister, ihr Nymphen, Sirenen, Heben, Dianen, und was es sonst noch für Scheusalsnamen geben mag, die man euch beilegen möchte. Denn ihr seid Speise des Satans, zur Flamme des ewigen Todes bestimmt. An euch weidet sich der Teufel wie an ausgesuchten Mahlzeiten, und mästet sich an der Fülle eurer Üppigkeit. Ihr seid die Gefäße des Grimmes und des Zornes Gottes, aufbewahrt für den Tag des Gerichts. Ihr seid grimmige Tigerinnen, deren blutige Rachen nur nach Menschenblut dürsten, Harphyen, die das Opfer des Herrn umflattern und rauben, und die, welche Gott geweiht sind, grausam verschlingen. Auch Löwinnen möchte 14 Siehe dazu Althoff, Königsherrschaft und Konfliktbewältigung, S. 32 ff. 15 Vgl. Odo von Cluny, Collationum libri tres, lib. 3, cap. 24, S. 608: Potentiores quidem tanto cautius alloquendi sunt, quanto et laxiorem vitam ducere permittuntur.

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ich euch nicht unpassend nennen, die ihr nach Art wilder Tiere eure Mähnen erhebt und unvorsichtige Menschen zu ihrem Verderben in blutigen Umarmungen räuberisch umklammert. Ihr seid die Sirenen und Charybden, indem ihr, während ihr trügerisch anmutigen Gesang ertönen lasst, unvermeidlichen Schiffbruch bereitet. Ihr seid wütendes Otterngezücht, die ihr vor Wollustbrunst Christus, der das Haupt der Kleriker ist, in euren Buhlen ermordet.“16 In der weiteren Argumentation des Briefes werden dann – mithilfe von Beispielen des Alten wie des Neuen Testaments – alle Register gezogen, um den Zorn des Herrn und die drohenden Strafen möglichst drastisch auszumalen und zugleich zu beweisen, dass viele Prophezeiungen des Alten Testaments sich auf die unkeuschen Priester der Gegenwart und ihre Frauen beziehen. Zitiert sei nur aus den Drohworten des Propheten Jesaja, die dieser an die hochmütigen Frauen von Jerusalem richtete. Petrus aber bezog die Drohungen auf die Priester seiner Zeit und ihre Frauen: „Weil die Töchter Zions hochmütig sind, ihre Hälse 16 Briefe des Petrus Damiani, Bd. 3, Nr. 112, S. 278 f.: Interea et vos alloquor, o lepores clericorum, pulpamenta diaboli, proiectio paradisi, virus mentium, gladius animarum, aconita bibentium, toxica convivarum, materia peccandi, occasio pereundi. Vos, inquam, alloquor ginecea hostis antiqui, upupae, ululae, noctuae, lupae, sanguisugae, affer, affer sine cessatione dicentes. Venite itaque, audite me, scorta, prostibula savia, volutabra porcorum pinguium, cubilia spirituum inmundorum, nimphae, sirenae, lamiae, dianae, etsi quid adhuc portenti, si quid prodigii reperitur, nomini vestro competere iudicetur. Vos enim estis daemonum victimae ad aeternae mortis succidium destinatae. Ex vobis enim diabolus tanquam delicatis dapibus pascitur, vestrae libidinis exuberantia saginatur  … Vos estis vasa irae et furoris Domini, reposita in diem ultionis. Vos tygrides inpiae, quarum nesciunt preter humanum sanguinem cruenta ora sitire. Vos arpigae, quae sacrificium Domini circumvolantes arripitis, eosque qui Deo oblati fuerant, crudeliter devoratis. Nam et leenas vos non incongrue dixerim, quae beluarum more iubas attollitis, et incautos homines ad suae perditionis interitum cruentis amplexibus arpaxatis. Vos sirenes atque caribdides, quae dum suavem deceptionis editis cantum, inevasibile struitis salo vorante naufragium. Vos viperae furiosae, quae prae inpatientis ardore libidinis Christum, qui caput est clericorum, vestris amatoribus detruncatis (Übersetzung nach Mirbt, Publizistik, S. 279, Anm. 5). Bereits eine gute Seite vor diesem Ausbruch (S. 276, Z. 9 ff.,) hatte Petrus angemerkt, dass schon Papst Stephan X. im Jahre 1057 „den Eifer des Pinchas“ (qui zeli Finees aemulabatur amorem) bewiesen habe, als er die unkeuschen Priester aus der Gemeinschaft der Kleriker verstieß und sie zur Buße zwang.

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recken und mit verführerischen Blicken daherkommen, immerzu trippelnd daherstolzieren und mit ihren Fußspangen klirren, darum wird der Herr den Scheitel der Töchter Zions mit Schorf bedecken und ihre Schläfen kahl werden lassen. An jenem Tag wird der Herr ihren Schmuck wegnehmen: die Fußspangen, die kleinen Sonnen und Monde, die Ohrgehänge und Armkettchen, die Schleier und Turbane, die Fußkettchen und die Prachtgürtel, die Riechfläschchen und die Amulette, die Fingerringe und Nasenreife, die Festkleider und Umhänge, die Umschlagtücher und Täschchen und die Spiegel, die feinen Schleier, die Schals und die Kopftücher. Dann habt ihr Moder statt Balsam, Strick statt Gürtel, Glatze statt kunstvolle Locken, Trauergewand statt Festkleid, ja Schande statt Schönheit. Deine Männer sterben durchs Schwert, deine jungen Krieger fallen im Kampf.“17 (Jesaja 3,16–25). Diese und viele andere martialische exempla, so fasst Petrus Damiani zusammen, sollen den Bischof Kunibert aufrütteln, wie der Israelit Pinhas (Numeri 25,7–8) zum Schwert zu greifen, der, wie berichtet, ein israelitisch-medianitisches Paar durchbohrte, während sie Unzucht trieben. Bischof Kunibert soll sich mit dem Geist der Rache gürten, mit dem der Prophet Samuel den von Saul verschonten Amalekiter-König Agag „in Stücke schlug“ (1  Samuel 15,32–33). Und er soll noch andere Beispiele des Alten Testaments sich zum Vorbild nehmen, die Petrus ihm darbietet: so Elia, der die Propheten des Baal ergreifen und töten ließ und keinen schonte (1  Könige 18,40); David, der zweihundert von den Philistern erschlug und ihre Vorhäute zum König brachte, woraufhin er dessen Tochter zur Frau bekam (1  Samuel 18,27). Die hochentwickelte Rhetorik der Gewalt, die in diesem Brief entfaltet wird, schließt mit dem Zitat, das auch Gregor VII. häufig benutzte: „Verflucht sei, wer sein 17 Ebd., S. 283: In vos quippe redundat, quod Ysaias propheta denuntiat: Pro eo, inquit, quod elevatae sunt filiae Syon, et ambulaverunt extento collo, et nutibus oculorum ibant, et plaudebant, ambulabant, et pedibus suis composito gradu incedebant, decalvabit Dominus verticem filiarum Syon, et Dominus crinem earum nudabit. In die illa auferet Dominus hornamentum caltiamentorum et lunulas et torques et monilia et armillas et mitras et discriminalia et periscelidas et murenulas et holfactoriola et inaures et anulos et gemmas in fronte pendentes et mutatoria et pallia et linteamina et acus et specula et syndones et vittas et theristra, et erit pro suavi hodore foetor, et pro zona funiculus, et pro crispanti crine calvitium, et pro fascia pectorali cilitium; pulcherrimi quoque viri tui gladio cadent, et fortes tui in praelio.

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Schwert vom Blute freihält.“18 (Jeremia 48,10). Allerdings machte Petrus gleich klar, dass er diesen Satz allegorisch verstanden wissen wollte. Die benutzte Sprache wie die Auswahl der Zitate haben aber auch der Anwendung realer physischer Gewalt gegen unkeusche Priester und ihre Frauen den Weg bereitet, denn im gleichen Oberitalien, wo Petrus Damiani diese Briefe verschickte, kam es zu Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten gegen unkeusche Priester und ihre Frauen. Und die Mailänder Volksbewegung, die Pataria, wurde von mehreren Reformpäpsten bei ihrem gewaltsamen Vorgehen gegen unkeusche Priester nachdrücklich unterstützt, von Alexander II., wie später ausführlicher thematisiert werden soll, nicht zuletzt aber auch von Gregor VII.19 Die in diesem Zusammenhang an Führer der Pataria vergebenen Auszeichnungen galten Männern, die sich in realen Kämpfen für die Belange der Kirche engagierten und hierbei gerade auch physische Gewalt anwandten. So hat Gregor VII. auf der römischen Fastensynode 1078 die Wunder bekannt gegeben, die sich am Grabe des gefallenen Führers der Pataria, Erlembald, ereignet hatten, und Papst Urban II. hat diesen im Jahre 1095 sogar feierlich transferieren lassen.20 In seinem Brief an Adelheid von Turin spornte Petrus Damiani dagegen die Markgräfin vor allem mit dem Beispiel der Frauen des Alten Testaments an, die Gewalt gegen Männer geübt hatten: „Sei eine Heldin (virago) Gottes, und verfolge Sisara wie Debora mit Barack bis zu seiner Tötung“21, wandte er sich etwa direkt an die Markgräfin. Damit hatte er die Erzählung aus dem Buch der Richter aufgerufen, die folgendes Verhalten als Vorbild anbot, das Petrus auch ausführlich zitierte: „(Debora, die zu der Zeit Richterin in Israel war) schickte Boten zu Barack … ließ ihn rufen und sagte zu ihm: ,Der Herr, der Gott Israels, befiehlt: Geh hin, zieh auf den Berg Tabor und nimm zehntausend Naftaliter und Sebuloniter mit dir. Ich aber werde Sisara, den Heerführer Jabins, mit seinen Wagen und seiner Streitmacht zu dir an den Bach Kischon lenken und ihn in deine Hand geben.‘ Barack sagte zu ihr: ,Wenn du mit mir gehst, werde ich 18 Ebd., S. 288: Maledictus homo, qui prohibet gladium suum a sanguine. Petrus fügt hinzu: Ille quippe gladium compescit a sanguine, qui peccata gentium neglegit vindicare. 19 Vgl. Zumhagen, Religiöse Konflikte, bes. S. 65 ff. 20 Vgl. Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 128–130. 21 Briefe des Petrus Damiani, Bd. 3, Nr. 114, S. 299: esto virago Domini, et quasi Debborra cum Barach … Sisaram ad internitionem usque persequere.

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gehen; wenn du aber nicht mit mir gehst, werde ich nicht gehen.‘ Sie sagte: ,Ja, ich gehe mit dir; aber der Ruhm bei dem Unternehmen, zu dem du ausziehst, wird dann nicht dir zuteil, denn der Herr wird Sisara der Hand einer Frau ausliefern.‘“22 Diese Geschichte zu nutzen, um eine Frau zum Kampf gegen die Unzucht der Kleriker zu motivieren, war nicht zuletzt deshalb naheliegend, weil der Feldherr Sisara nach verlorener Schlacht auf der Flucht von einer Frau, Jahel, getötet worden war, als er zu ihr ins Zelt kam und um Herberge bat, was Petrus dann auch konkret anspricht.23 Wir werden später sehen, dass Anhänger Gregors VII. diesen Sisara mit Heinrich IV. gleichsetzten, um einer anderen Frau, der Markgräfin Mathilde, eine Richtschnur für ihr Handeln zu geben.24 Petrus Damiani vergisst in diesem Brief auch nicht, Judit zu erwähnen, die den Holofernes tötete (Judit 12 und 13) und damit ein leuchtendes exemplum der Enthaltsamkeit gab. Wie die genannten vorbildlichen Frauen, so fasst Petrus zusammen, solle Adelheid „das Haupt des Teufels mit dem Zeichen des Kreuzes durchbohren und den Verursacher der Wollust, der die Kleriker von den himmlischen Freuden ausschließt, zerschmettern.“25 Die Beispiele weiterer mutiger Frauen des Alten Testaments wie Esther, Abigail und andere schließt er an.26 In seiner weiteren Argumentation bietet Petrus Damiani der Markgräfin noch eine Geschichte des Alten Testaments als Richtschnur ihres Handelns an, die schon von den Kirchenvätern auf die Häretiker bezogen wurde. „Simson ging weg und fing dreihundert Füchse. Dann nahm er Fackeln, band je zwei Füchse an den Schwänzen zusammen und befestigte eine Fackel in der Mitte zwischen zwei Schwänzen. Er zündete die Fackeln an und ließ die Füchse in die Getreidefelder der Philister laufen. So verbrannte er die Garben und das noch stehende Korn, ebenso die Weingärten und die Ölbäume.“ (Richter 15,4–5). Auch Petrus weist zunächst darauf hin, dass die Füchse die Häretiker bezeichneten. Die Füchse könnten aber auch passend die nicht enthaltsamen Priester mit ihren Fellen 22 23 24 25

Richter 4, 6–9; Briefe des Petrus Damiani, Bd. 3, Nr. 114, S. 298. Vgl. Richter 4, 21; Briefe des Petrus Damiani, Bd. 3, Nr. 114, S. 299. Siehe dazu unten S. 177 und 84. Vgl. Briefe des Petrus Damiani, Bd. 3, Nr. 114, S. 299: ita tu signo crucis diaboli verticem transfode, auctoremque luxuriae, qui clericos a caelestibus gaudiis excludit, elide. 26 Vgl. Mirbt, Publizistik, S. 453 f.

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bezeichnen, die gleichfalls mit brennenden Fackeln an ihren Schwänzen zusammengebunden seien, weil sie durch das verborgene Feuer ihrer schamlosen Liebe zusammengeschweißt wären.27 Ein etwas anderer, aber gleichfalls interessanter Befund zeigt sich in einiger Dichte in einem Brief des Petrus an den Herzog Gottfried von Tuszien, der Missstände in seiner Markgrafschaft nach Meinung Damianis gleichfalls nicht energisch genug bekämpfte. Hier richtet sich der Vorwurf des Reformers grundsätzlich gegen eine falsch verstandene Milde, die gleichfalls, wie schon am Beispiel Sauls gezeigt, den Gotteszorn errege. Mit Römer 13 wird das Leitmotiv vorgegeben: „Willst du ohne Furcht vor der staatlichen Gewalt leben, dann tu das Gute, dann wirst du auch ihr Lob finden. Wenn du aber das Böse tust, fürchte dich. Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert.“ Nach dieser Maxime sollte jede Obrigkeit handeln. Entschieden an diesen Prinzipien ausgerichtet ist auch die Unterscheidung, die Petrus am Beginn des Briefes vornimmt: „Ein Diener Gottes ist der, der an den Bösen in Zorn Rache übt; ein Diener des Teufels hingegen, der Verbrecher und verwerfliche Menschen sanft streichelt.“28 Dann beginnt Petrus seine Beweisführung gegen falsche Milde. Der eben schon erwähnte israelitische König Achab dient wieder als ein Beispiel, weil er den König Benhadad, dessen Verderben Gott wollte, nicht getötet hatte (1 Könige 20,33–36). Er starb auf Gottes Befehl und Hunde leckten sein Blut und Dirnen wuschen sich darin, wie der Herr prophezeit hatte (1 Könige 22,38). Erinnert wird gleichfalls wieder an König Saul, der den gegnerischen König Agag verschonte, trotz des göttlichen Vernichtungsauftrags. Konsequent verwarf ihn Gott als König und ließ die Tötung Agags durch den Propheten Samuel selbst durchführen, wie schon im Kapitel über Gregor VII. ausführlich besprochen.29 Auch Petrus Damiani kannte also das Potential dieser Geschichte bereits. Dann erwähnt er die Milde der Israeliten im Medianiterkrieg (Numeri 31,15 ff.). Diese erzürnte Moses: „Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr alle Frauen am Leben gelassen? Gerade sie haben auf den Rat Bileams hin die Israeliten dazu verführt, vom Herrn abzufallen und dem Pegor zu dienen, 27 Vgl. Briefe des Petrus Damiani, Bd. 3, Nr. 114, S. 300 f. 28 Ebd., Bd. 2, Nr. 67, S. 283: Si ergo Dei minister est, qui mala facientes in iram vindicat, diaboli proculdubio minister est, qui criminosos ac reprobos suaviter palpat. 29 Vgl. oben S. 47.

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so dass die Plage über die Gemeinde des Herrn kam. Nun bringt alle männlichen Kinder um und ebenso alle Frauen, die schon einen Mann erkannt und mit einem Mann geschlafen haben.“ So weit zitiert Petrus Damiani die biblische Geschichte. Den direkt anschließenden Befehl – „Aber alle weiblichen Kinder und die Frauen, die noch nicht mit einem Mann geschlafen haben, lasst für euch am Leben“ – lässt er dagegen aus. Der Kampf des Petrus Damiani für die sittliche Reinheit des Klerus weist also die gleichen argumentativen Grundmuster auf wie der Kampf Gregors VII. um die Durchsetzung der Suprematie des Papsttums. Erzählungen des Alten Testaments bieten die Richtschnur für Gott wohlgefälliges Verhalten und akzentuieren die Strafen, die diejenigen trafen, die sich Verstöße gegen Gottes Gebote auf dem Felde der Unkeuschheit zuschulden kommen ließen. Ergänzt wurden sie um solche Beispiele von Enthaltsamkeit, in denen nicht davor zurückgeschreckt wurde, die sexuelle Reinheit mit Gewalt zu verteidigen. Der Unterschied zu bisher praktizierten Gewohnheiten besteht vor allem darin, das Urteil über Verfehlungen nicht mehr Gott im Jüngsten Gericht zu überlassen, sondern die Missstände selbst aktiv zu bekämpfen, indem man die Bösen mit Gewalt zum Guten zwingt. Mit diesem Gedanken knüpfte man direkt an die Diskurse bestimmter Kirchenväter, vor allem Augustins, an, die bereits den Zwang gutgeheißen hatten, mit dem man die Häretiker zum Guten zu zwingen versuchte.30 Diese theoretischen Diskurse blieben nicht ohne praktische Auswirkungen, denn nicht nur die Mailänder Geschichtsschreiber berichten ausführlich von gewalttätigen Übergriffen, denen unkeusche Priester infolge des Wirkens der Pataria ausgesetzt waren.31

2. Humbert da Silva Candida 2. Humbert da Silva Candida

Neben den Briefen und Traktaten des Petrus Damiani vermittelt vor allem die Schrift, die der Kardinal Humbert da Silva Candida wohl im Jahr 1058 gegen die Simonisten verfasste, einen Eindruck von der Zielrichtung und 30 Vgl. dazu oben S. 52 mit Anm. 36. 31 Vgl. Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium, lib. 3, cap. 9–11; Landulf Senior, Historia Mediolanensis, lib. 3, cap. 8–12, S. 79–81. Siehe dazu Zumhagen, Religiöse Konflikte, S. 28 ff.; Golinelli, La pataria, S. 69 ff. mit Kommentaren und Analysen zur Mailänder Überlieferung.

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auch der Schärfe, die bereits die Argumentation der frühen Reformer charakterisierte. Auch in seinem Werk stellen Belege des Alten Testaments die wichtigste Legitimationsbasis für den Kampf gegen simonistische Praktiken und ihre Verfechter dar. Allerdings sind direkte Aufforderungen zur Gewaltanwendung gegen Simonisten seiner Zeit im Werk Humberts nicht enthalten. Da die Simonisten nach Meinung des Verfassers vor allem unter den Königen und ihren Helfern zu suchen waren, ist eine solche Aussage wohl auch kaum zu erwarten. Das Werk vermittelt aber einen intensiven Eindruck von den Strafen, die der Gott des Alten Testaments gegen diejenigen verhängte, die, wie die Simonisten, unberechtigt in die Sphäre der Priester eindrangen. Aus diesen Darbietungen ließen sich Folgerungen ziehen, die Humbert selbst nicht konkret zog, auch wenn er immer wieder darauf hinwies, dass die Simonisten seiner Zeit noch größere Frevler seien als diejenigen, von deren vernichtender Bestrafung durch Gott das Alte Testament so viel Zeugnis gibt. Angesichts dessen ist es gewiss deutlich genug, wenn er fragend zum Ausdruck bringt, wie viel mehr diejenigen bestraft werden müssten, die gegen das von Christus eingesetzte Priestertum sündigten, wenn Gott doch schon Frevel gegen das mosaische Priestertum so hart bestraft habe.32 Damit legt er seinen Lesern eine bestimmte Antwort in den Mund. Man liegt daher wohl richtig mit der Annahme, in den Werken Humberts da Silva Candida und Petrus’ Damiani die Anfänge der Erarbeitung einer neuen Legitimationsbasis für die Durchsetzung christlich-kirchlicher Normvorstellungen zu sehen, die in den von Gott befohlenen oder gutgeheißenen Gewaltaktionen gegen Gottesfrevler, wie sie im Alten Testament begegnen, ein Vorbild für eigenes Verhalten fand. Diese Anfänge boten den gleichgerichteten Bemühungen Gregors VII. und seiner Anhänger bereits eine Richtschnur. Dezidiert machte Humbert die Kaiser aus dem sächsischen Haus, die Ottonen, und die Päpste ihrer Zeit dafür verantwortlich, dass das Recht zur Investitur in geistliche Ämter in die Hände der weltlichen Fürsten gelangt sei. An diese Diagnose aber schloss er einen drastischen Vorwurf an, der nicht in erster Linie auf die Könige zielte. Er entwarf vielmehr eine ziemlich komplizierte Analogie: Die Kirchenfürsten, die bei diesem Missbrauch anwesend gewesen seien und nichts dagegen unternommen hätten, hätten 32 Vgl. den Beleg in Anm. 39.

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gleichsam dem Ehebruch ihrer Frauen und der Ermordung ihrer Kinder zugestimmt. Sie treffe zu Recht der Fluch des Moses: „Du verlobst dich mit einer Frau und ein anderer schläft mit ihr.“ (Deuteronomium 28,30).33 Diese Behauptung sicherte Humbert mit weiteren Zitaten ab: Der Prophet Amos habe genau dies dem Priester Amazja geweissagt: „So spricht der Herr: Deine Frau wird in der Stadt als Dirne leben, deine Söhne und Töchter fallen unter dem Schwert.“ (Amos 7,17).34 Und der heilige Hieronymus habe bereits in seinem Kommentar zum Propheten Zacharias bezeugt, dass man nichts Grausameres und Erbärmlicheres finden könne, „als wenn Männer aus Furcht vor dem eigenen Tod weder das Heil ihrer Kinder noch die Schamhaftigkeit ihrer Frauen zu verteidigen wagen“.35 Die Argumentation lebt von der allgemein bekannten Vorstellung, dass der Priester mit seiner Kirche verheiratet sei. Daraus konstruiert Humbert den Tatbestand, dass simonistische Praktiken mit diesen Kirchen den im Alten Testament verfluchten Ehebrüchen gleichzusetzen seien. Auch wenn Humbert nicht expressis verbis Konsequenzen solcher Taten formuliert, wird die Rache für die Taten der Simonisten den Christen angesichts der biblischen Parallelen doch zumindest implizit zur Pflicht gemacht und damit Gewaltanwendung zur Aufgabe – allerdings auch nur implizit. Zudem zeigt Humbert am Beispiel zweier Könige des alten Israel, welche Strafen Gott denen zukommen ließ, die sich Handlungen anmaßten, die den Priestern zustanden. Auch hier ist die Beziehung zu den Praktiken der Simonisten einigermaßen kompliziert und konstruiert. Das erste Beispiel bietet König Ozias (Usija). Humbert zitiert nur den zweiten Teil der Geschichte, die aber im größeren Zusammenhang gelesen werden muss: „Doch als er mächtig geworden war, wurde sein Herz übermütig und er handelte verkehrt. Er wurde dem Herrn, seinem Gott, untreu und drang in den Tempel des Herrn ein, um auf dem Rauchopferaltar zu opfern. Aber der Priester Asarja folgte ihm mit achtzig mutigen Priestern des Herrn. Sie traten dem König Usija entgegen und sagten zu ihm: ,Nicht dir, Usija, steht es zu, dem Herrn Rauchopfer darzubringen, sondern den

33 Vgl. Humbert, Adversus simoniacos, lib. III, cap. 11, S. 211: Uxorem accipies, et alius coram te dormiet cum ea. 34 Vgl. ebd.: Uxor tua in civitate fornicabitur, et filii tui et filiae in gladio cadent. 35 Ebd.: Quo, ut beatus Hieronimus in conmentario Zachariae prophetae attestatur, nichil crudelius, nichil miserius inveniri potest, ut timore mortis propriae nec salutem filiorum nec uxorum pudicitiam defendere viri audeant.

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Priestern, den Söhnen Aarons, die geweiht sind, das Rauchopfer darzubringen. Verlass das Heiligtum; denn du bist untreu geworden und es gereicht dir nicht zur Ehre vor Gott dem Herrn.‘ Usija wurde zornig; er hielt schon die Räucherpfanne in der Hand, um das Rauchopfer darzubringen. Als er sich aber zornig gegen den Priester wandte, brach an seiner Stirn der Aussatz hervor.“ (2 Chronik 26,16–19). Wer als Laie in den Bereich der Priester einbricht, so ist die Quintessenz dieser Geschichte, den straft Gott unnachsichtig.36 Anschließend bietet Humbert das Beispiel Sauls, der in Gilgal gleichfalls dem Herrn selbst ein Brandopfer darbrachte, weil der Prophet Samuel, dem dies zukam, ausblieb und das Volk in großer Not vor den Philistern von Saul abfiel. Dies trug ihm die heftige Kritik des später eintreffenden Propheten ein: „Du hast töricht gehandelt. Hättest du den Befehl befolgt, den dir der Herr, dein Gott, gegeben hat, dann hätte er jetzt deine Herrschaft über Israel für immer gefestigt.“ (1 Samuel 13,13). Und gleich darauf zitiert Humbert die Kritik Samuels an Saul wegen der Schonung des Amalekiter-Königs Agag, die später Papst Gregor VII. zu seinem Leitzitat machte, wenn er die Notwendigkeit des Gehorsams begründete.37 Schon Humbert ist an dieser Geschichte wichtig, dass der Ungehorsam zur endgültigen Verwerfung Sauls durch Gott führte, für den der Prophet Samuel lediglich Sprachrohr war. Im zweiten Fall hatte Saul nämlich nicht aus einer Not heraus, sondern aus freiem Willen den Befehl Gottes missachtet. Wenn Gott aber alle diejenigen unnachsichtig strafte, die sich Handlungen anmaßten, die nur den Priestern zustanden, welche Strafen hatten dann diejenigen zu erwarten, die sich das priesterliche Amt von Laien erkauften? Humbert fordert nicht dazu auf, diese Strafen nun anstelle des Herrn zu vollstrecken – dass sie den Simonisten drohten, arbeitete er aber mit aller Gelehrsamkeit heraus. Dies hatte er bereits in aller Eindringlichkeit am Beispiel des Schicksals der Rotte Korachs nachgewiesen, von dem im 4. Buch Mose erzählt wird (Numeri 16).38 Korach und seine Anhänger hatten sich gegen Moses und Aaron erhoben und gegen sie den Vorwurf ausgesprochen: „Ihr nehmt euch zu viel heraus. Alle sind heilig, die ganze Gemeinde, und der Herr ist mitten unter ihnen. Warum erhebt ihr euch über die Gemeinde 36 Siehe unten S. 71 mit Anm. 39. 37 Siehe oben S. 47 f. 38 Vgl. Humbert, Adversus simoniacos, lib. II, cap. 3, S. 142.

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des Herrn.“ (Numeri 16,3). So hatten sie versucht, die Stellung der Priester zu schmälern. Diese Auseinandersetzung nimmt Humbert als ein Exempel für den Frevel der Simonisten, da sie in gleicher Weise die Vorrangstellung der Priester dadurch zunichte zu machen versuchten, dass sie sich deren Würden durch Kauf erschlichen. Deshalb erzählt er vom Schicksal der Rotte Korach in aller Ausführlichkeit. Moses hatte diese Herausforderung nämlich wie folgt beantwortet: „Morgen früh (so hatte er seinen Gegnern erwidert) wird der Herr zeigen, wer zu ihm gehört, wer der Heilige ist und wer sich ihm nähern darf.“ (Numeri 16,5). In langer Rede und Gegenrede hatte Moses es schließlich erreicht, dass seine Gegner und auch Aaron und seine Anhänger sich mit Räucherpfannen vor dem Eingang des Offenbarungszeltes versammelten, um die Entscheidung des Herrn entgegenzunehmen. Dort jedoch hatte der Herr Moses den Befehl gegeben: „Sondert euch von dieser Gemeinde ab! Ich will ihr auf einen Schlag ein Ende bereiten.“ (Numeri 16,20). Deshalb trennte Moses seine Leute von seinen Gegnern und sagte zu seinen Anhängern: „Wenn der Herr etwas ganz Außergewöhnliches tut, wenn die Erde ihren Rachen aufreißt und sie verschlingt zusammen mit allem, was ihnen gehört, wenn sie also lebend in die Unterwelt hinabstürzen, dann werdet ihr erkennen, dass diese Leute den Herrn beleidigt haben.“ Und weiter heißt es: „Kaum hatte er das gesagt, da spaltete sich der Boden unter ihnen, die Erde öffnete ihren Rachen und verschlang sie samt ihrem Haus, mit allen Menschen, die zu Korach gehörten, und mit ihrem ganzen Besitz. Sie und alles, was zu ihnen gehörte, stürzten lebend in die Unterwelt hinab.“ (Numeri 16,30–34). Am Ende dieser ausführlich, wenn auch nicht vollständig zitierten Geschichte formuliert Humbert die Lehre, die man aus ihr ziehen könne und müsse: „was verdienen oder was müssen erst die erleiden, die sich herausnehmen, das Priestertum christlicher Gnade sich auf weltliche Weise zu erkaufen, wenn die mit solcher Strafe belegt werden, die versucht haben, sich das Priestertum des Alten Bundes trotzig anzueignen“.39 Er benötigte dann noch eine ganze Seite, um zu begründen, dass nicht nur die Übeltäter selbst, sondern auch alle ihre Anhänger mit dem Verderben an Leib und Seele bestraft würden. In gleicher Ausführlichkeit 39 Ebd.: quid passuri sint, qui sacerdotium christianae gratiae sibi saeculariter vendicare praesumunt, si tanta animadversione mulctati sunt, qui sacerdotium Mosaycae legis sibi contumaciter praeripere attemptaverunt.

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III. Der Kampf für den Zölibat und gegen die Simonie

zitierte er auch den Fluch des Hesekiel gegen die falschen Propheten, der sich gleichfalls gut auf die Simonisten beziehen ließ (Hesekiel 13,3–23).40 Wie im Falle des Petrus Damiani konnte und sollte hier keine vollständige Analyse aller einschlägigen Äußerungen Humberts gegen die Simonisten gegeben werden, die Argumente für eine gewaltsame Bekämpfung dieser Häretiker vortragen. Die angeführten Beispiele aus den Werken beider Autoren reichen aber sicher aus, um eines zu belegen: Der am Beispiel der Briefe Gregors VII. herausgearbeitete Befund, dass das Reformpapsttum die Fundierung seiner neuen Geltungsansprüche vor allem mit Zeugnissen des Alten Testaments betrieb, hat sich durch die Einbeziehung der Schriften Humberts und des Petrus Damiani verdichtet. Man kann formulieren, dass auch diese älteren Autoren, die ja mit dem Archidiakon Hildebrand und späteren Papst Gregor VII. in engem Kontakt standen, bereits die gleiche Argumentationstechnik und Beweisführung wie dieser erkennen lassen. Sie nutzten wie später Gregor die Stellen des Alten Testaments, in denen Gottesfeinde und Gottesfrevler die ganze Härte des Gotteszornes traf und bezogen diese Stellen auf die unkeuschen Priester des 11. Jahrhunderts und ihre Frauen sowie auf die Simonisten. Dabei ließen sie keine Zweifel aufkommen, dass die unkeuschen Priester, deren Frauen und die Simonisten die gleichen Strafen verdienten wie die biblischen Gottesfrevler. Auch wenn es sich zunächst einmal „nur“ um Gewaltrhetorik handelte, deutet ihre Intensität nachhaltig darauf hin, dass sie die Auslösung von Gewalt gegen alle die förderte, die sich päpstlichen Geboten nicht zu fügen bereit waren. Aus dieser Perspektive erscheint die Begründung des päpstlichen Suprematieanspruchs, wie sie Gregor VII. aus dem Alten Testament ableitete, nicht mehr ganz so revolutionär. Die dort angewandte Methodik war bereits auf anderen Feldern erfolgreich erprobt worden: bei den unkeuschen Priestern und den Simonisten. Überdies war die Methodik, Erzählungen des Alten Testaments als normative Grundlagen für Verhalten in der eigenen Gegenwart heranzuziehen, alles andere als neu. Die Kämpfe etwa der Makkabäer hatten ebenso wie die Taten Moses, Salomos, Davids und anderer bereits vor dem 11. Jahrhundert als Richtschnur gedient.41 Neu und überraschend aber bleibt die Intensität, mit 40 Vgl. ebd., lib. III, cap. 30, S. 237 f. 41 Vgl. dazu Keller, Machabaeorum pugnae, S. 417 ff.

2. Humbert da Silva Candida

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der die Bannideologie des Alten Testaments zur Legitimierung einer aktiven Zwangsgewalt der Kirche gegen die Ungehorsamen der Gegenwart herangezogen wurde. Diese Intensität erhöhte sich noch, als der Streit zwischen höchster geistlicher und höchster weltlicher Gewalt unter Gregor VII. und Heinrich IV. eine bis dahin ungekannte Dimension erreichte und beide Seiten einen erhöhten Bedarf sahen, ihre Positionen zu legitimieren, und dies in den sogenannten Streitschriften des Investiturstreits seinen Niederschlag fand.

IV.

Rechtfertigung von Gewalt in gregorianischen Streitschriften IV. Rechtfertigung von Gewalt in gregorianischen Streitschriften

Bekanntlich hat der Streit zwischen der höchsten geistlichen und höchsten weltlichen Gewalt eine Fülle von neuartigen schrift lichen Erzeugnissen hervorgebracht, unter denen die sogenannten Streitschriften des Investiturstreits eine besondere Rolle einnehmen.1 In diesen Schriften entwickelten und verteidigten die Streitparteien ihre Positionen systematisch und besonders ausführlich, und sie legten dabei auch die normativen Grundlagen dieser Positionen offen. Mehr noch als in den schon behandelten Briefen der Protagonisten der Reformpartei ist in den von gregorianischer Seite verfassten Streitschriften die Basis der neuen päpstlichen Geltungsansprüche ausführlich mit den üblichen Autoritäten, der Bibel, den Kirchenvätern, den Dekreten der Päpste, den Konzilsbeschlüssen, aber auch mit Beispielen aus der Kirchengeschichte untermauert worden. Nun wurde in diesen Streitschriften eine ganze Reihe von Fragen diskutiert, die zwischen den Parteien strittig waren. Im Vordergrund standen etwa Probleme wie die, ob man mit Exkommunizierten Gemeinschaft pflegen oder ob der Papst Eide lösen dürfe, die Heinrich IV. geschworen worden waren. Nicht alle diese Fragen sollen hier systematisch behandelt werden. Im Vordergrund der hier verfolgten Interessen steht vielmehr wieder und ausschließlich die Frage, mit welchen Argumenten und welchen Autoritäten die Autoren arbeiteten, wenn sie den päpstlichen Gehorsamsanspruch dadurch untermauerten, dass sie die Anwendung von Zwangsgewalt gegen Ungehorsame durch die Kirche und ihre Verteidiger rechtfertigten. Es bietet sich an, die Untersuchungen zunächst mit Autoren zu bestreiten, die zu Gregor VII. enge persönliche Beziehungen unterhielten und deren Ausführungen deshalb als Bestätigungen und Ergänzungen zu den Positionen gewertet werden dürfen, die dieser Papst selbst in seinen Briefen einnahm. Man muss sich in diesem Zusammenhang vergegen1 Vgl. dazu allg. immer noch den weitgespannten Überblick bei Mirbt, Publizistik; Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 212–249; Suchan, Königsherrschaft im Streit, S. 253 ff.; Melve, Inventing the Public Sphere, S. 22 ff.

76 IV. Rechtfertigung von Gewalt in gregorianischen Streitschriften

wärtigen, dass wir heute nur noch über einen Bruchteil der Argumente und Positionen verfügen, die in der Zeit der Auseinandersetzungen erwogen und diskutiert worden sind. Die Positionen, wie wir sie heute vornehmlich in Streitschriften und Briefen vorliegen haben, wurden ja mit Gewissheit auch in einer Fülle mündlich-persönlicher wie brieflicher Kontakte verhandelt, ausgetauscht und abgestimmt. Die Streitschriften der persönlichen Vertrauten Gregors VII. enthalten daher mit einiger Wahrscheinlichkeit Argumente und Belege, die Gregor bekannt waren und von ihm geteilt wurden. Als solche Gewährsleute aus dem persönlichen Umfeld des Papstes kommen vor allem Bonizo von Sutri und Anselm von Lucca in Frage, mit deren Werken die Analyse daher begonnen sei.2 Beider Werke entstanden zudem wohl in unmittelbarer Reaktion auf den Tod Gregors VII. und dürften daher seinen Positionen und den von ihm geteilten Argumenten besonders verpflichtet sein. Angefügt wird die Untersuchung der Streitschrift Manegolds von Lautenbach, der zwar nicht zu dem Kreis der persönlichen Umgebung Gregors VII. gehörte, der aber entschieden dessen Positionen vertrat und sich mit dessen Gegnern explizit auseinandersetzte, was eher eine Ausnahme darstellt.

1. Bonizo von Sutri 1. Bonizo von Sutri

Der bereits zu Beginn der Untersuchung zitierte und eingeführte Bonizo von Sutri, von dem neben Streitschriften auch eine Kanonessammlung überliefert ist, bietet mit seinem Liber ad amicum eine Abhandlung, die sich ganz auf die hier vor allem interessierende Frage konzentriert. Zu Beginn und am Ende dieses Werkes hat Bonizo seine zentrale Frage nämlich so formuliert: „War und ist es dem Christen erlaubt, für die Glaubenswahrheit (pro dogmate) mit Waffen zu kämpfen?“3 Und als er am Beginn 2 Vgl. Mirbt, Publizistik, S. 37 ff. u. S. 42 f. 3 Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, lib. I, S. 571: Si licuit vel licet christiano pro dogmate armis decertare; vgl. Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 229 ff.; Berschin, Bonizo von Sutri, S. 38 ff., dort S. 44 ff. auch Hinweise auf Parallelen zu anderen kanonistischen Werken; neuerdings siehe Förster, Bonizo von Sutri, der jedoch diese Leitfragen Bonizos übergeht, da er ihn als „gregorianischen Geschichtsschreiber“ versteht, dessen Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit er untersucht.

1. Bonizo von Sutri

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seiner Zusammenfassung4 eine als amice dulcissime bezeichnete Person daran erinnerte, sie habe doch von ihm wissen wollen, ob es dem Christen erlaubt sei, mit Waffen zu kämpfen, benutzte er anstelle des pro dogmate die Formulierung pro veritate, die aber sicher synonym zu verstehen ist. Bei veritas handelt es sich bekanntlich um einen Begriff, der auch in Gregors Argumentation eine zentrale Bedeutung hatte. Die veritas Christi war ja von Christus über Petrus dessen Nachfolgern vermittelt worden.5 Im Besitz dieser veritas glaubte sich Gregor berechtigt, sich über die Gewohnheiten seiner Zeit hinwegsetzen zu können. Das entschiedene Ergebnis, mit dem Bonizo die Summe aus seinen vorgetragenen Beispielen und Autoritäten zog, formulierte er am Ende seiner Abhandlung so: „Wenn es jemals für einen Christen erlaubt war, für irgendeine Sache mit Waffen zu kämpfen, dann ist es gegen die Wibertisten erlaubt, mit allen Mitteln zu kämpfen.“ Und diese Einschätzung unterstrich er noch mit der Aufforderung: „Daher mögen die ruhmreichen Krieger Gottes für die Wahrheit kämpfen, sie mögen streiten für die Gerechtigkeit, kämpfen in rechter Gesinnung gegen die Häresie, sich gegen alles erheben, damit Gott geheiligt und verehrt wird.“ 6 Man neigt in der Forschung dazu, in der im Werk angeredeten Person die Markgräfin Mathilde von Tuszien zu sehen, die ja mit ihren Vasallen im bewaffneten Kampf gegen die hier als Wibertisten bezeichneten Anhänger des Gegenpapstes Wibert-Clemens stand.7 Falls sie es in der Tat war, die Bonizo die Frage gestellt hatte, ob es Christen erlaubt sei, mit Waffen zu kämpfen, dann zielt die Abhandlung Bonizos ohne jeden Zweifel darauf, konkrete militärische Gewalt zu legitimieren. Dann wäre seine Abhandlung ein konkreter Hinweis darauf, wie direkt die theologische Argumentation auf die Legitimierung realer Gewaltanwendung 4 Vgl. Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, lib. IX, S. 618. 5 Vgl. Weinfurter, Canossa, S. 106; Hartmann, Wahrheit und Gewohnheit, S. 66. 6 Vgl. Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, lib. I, S. 618: si licuit unquam christiano pro aliqua re militare, licet contra Guibertistas omnibus modis bellare. Und S. 620: Igitur pugnent gloriosissimi Dei milites pro veritate, certent pro iustitia, pugnent vero animo adversus heresim, extollentem se adversus omne, quod dicitur vel quod colitur deus. 7 Vgl. zu dieser Frage, die nicht sicher zu entscheiden ist, Förster, Bonizo von Sutri, S. 5 f.; siehe auch Goez, Markgräfin Mathilde, der auf diese Frage nicht eingeht, jedoch S. 241 f. gute Argumente zu ihrer Beantwortung bietet.

78 IV. Rechtfertigung von Gewalt in gregorianischen Streitschriften

zielte. Wie dem auch sei, Bonizo hat jedenfalls auf eine konkrete Anfrage Argumente ausgebreitet, die nach seiner Meinung das Fazit rechtfertigen, dass man durch bewaff neten Kampf Gott heiligen und verehren könne. Einen wesentlichen Strang seiner Beweisführung bildeten Beispiele aus der Geschichte, in denen kirchliche Institutionen oder vorbildliche Männer christliche Belange mit Gewalt vertreten und durchgesetzt hatten. Es sei hervorgehoben, dass der Autor für die frühen Jahrhunderte der Kirchengeschichte durchaus Schwierigkeiten hatte, genügend Beispiele beizubringen, die seine Beweisabsicht stützten.8 Schon rein quantitativ fällt ins Auge, dass er nach zehn Seiten (der Edition) bereits Antike und frühes Mittelalter abgehandelt hatte und in der Zeit Heinrichs III. und des Reformpapsttums angekommen war. Für die Darstellung der folgenden rund 50 Jahre benötigte er dann mehr als 35 Seiten. Aus diesen Jahren wusste er in der Tat eine Fülle von gewaltsam ausgetragenen Streitigkeiten zu berichten. Je mehr er sich seiner Gegenwart – das heißt der Zeit Gregors VII. – näherte, desto dichter wurde auch die Belegkette für die Anwendung von Gewalt im Dienste, Auftrag und Interesse der Kirche. Und das hängt nicht ausschließlich mit seinen besseren Kenntnissen über die jüngere Vergangenheit zusammen. Die Zeitgeschichte Bonizos war vielmehr schon von Ereignissen geprägt, in denen die neue päpstliche Gewalttheorie zum Tragen gekommen war. Aus der älteren Kirchengeschichte verfügte Bonizo dagegen nur über relativ wenige Beispiele für im Auftrag der Kirche angewendete Zwangsgewalt. Andere Geschichten, die er vorbringt, eignen sich nur bedingt als Belege für den Nachweis kirchlicher Gewaltanwendung. Dies kann hier natürlich nicht im Einzelnen dokumentiert werden, einige wenige Beispiele seien aber angeführt, um die Tendenzen der Darstellung Bonizos einsichtig zu machen. Die Berechtigung, nur einzelne Beispiele herauszugreifen, kann man nicht zuletzt damit begründen, dass Bonizo selbst am Ende seines Werkes noch einmal an die wichtigsten Beispiele seiner Beweisführung erinnerte.9 Er führte aus der Frühzeit die an, die gleich zitiert werden, darüber hinaus aber nur wenige andere. So schildert er Einzelheiten aus dem Kampf der Kirche gegen den Kaiser Constantius, einen Sohn des großen Konstantin, der die Häresie 8 So schon Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 231. 9 Vgl. Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, lib. IX, S. 619.

1. Bonizo von Sutri

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der Arianer mit Gewalt zu verbreiten versuchte. Als dieser durch den Präfekten Ermogenes Paulus, den Bischof von Konstantinopel, vertreiben wollte, habe das katholische Volk, mit dem Eifer für das göttliche Gesetz bewaffnet, so sehr für die Wahrheit gekämpft, dass es den Präfekten mit seinem ganzen Haus und Anhang verbrannt habe. Dies sei von den Weisen nicht nur akzeptiert, sondern, mehr noch, gelobt worden.10 Ein anderes lobenswertes Beispiel gab der spätere Kaiser Valentinian, der in den Zeiten des heidnischen Kaisers Iulian Apostata als militärischer Befehlshaber dem Kaiser vorausging, als dieser den Tempel der Fortuna betrat. Dort besprengte der Priester die Eintretenden mit geweihtem Wasser. Als Valentian einen Tropfen des Wassers auf seinem Mantel bemerkte, streckte er den Priester im Beisein des Kaisers nieder und rief aus, er sei als Christ durch dieses Besprengen mehr befleckt als gereinigt worden. Diese Tat habe Gott so sehr gefallen, kommentiert Bonizo, dass er vor Ablauf eines Jahres Valentian zur Kaiserwürde verholfen habe.11 Aus der Zeit des christlichen Kaisers Theodosius erwähnt Bonizo die Kirchenväter Ambrosius, Augustinus und Hieronymus. Von diesen sei Ambrosius, als er vom Kaiser Valentinian und Iustina aus der Mailänder Kirche vertrieben zu werden drohte, vom Volk mit Waffengewalt verteidigt worden. Und er habe diese Leidenschaft des Volkes nicht getadelt, sondern gelobt. Augustinus dagegen habe den princeps Bonifatius dazu ermahnt, dass er die Donatisten und Circumcellionen, also Häretiker, ausplündere und verheere.12 Aus den Jahrhunderten der Karolinger und Ottonen bietet Bonizo im Wesentlichen kriegerische Ereignisgeschichte, die zum Teil vom Schutz des Papsttums handelt, den die fränkischen und sächsischen Herrscher übernahmen, die aber gerade nicht als eine Anwendung von Gewalt im Auftrag oder gar unter Führung der Kirche aufzufassen ist. Spätere, dem Salier Konrad II. zugeordnete Nachrichten sind verderbt und unhistorisch, lassen aber unschwer erkennen, warum sie für das Beweisziel Bonizos wichtig waren: Konrad II., so erzählt er nämlich, habe Boten an den Papst geschickt und diesen um eine Petersfahne gebeten, mit der bewaffnet er das Reich der Ungarn seiner Herrschaft unterwerfen wolle. Dies habe der Papst gerne zugesagt und einen Bischof und einen 10 Vgl. ebd., lib. II, S. 574. 11 Vgl. ebd., S. 575. 12 Vgl. ebd., S. 576; Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 231.

80 IV. Rechtfertigung von Gewalt in gregorianischen Streitschriften

vornehmen Römer zu Konrad geschickt, die anboten, wenn es dem König gefalle, wollten sie selbst die Petrusfahne seinem Heer in der ersten Schlachtreihe vorantragen. Wenn dies dem König missfalle, sollten sie ihn im Auftrag des Papstes daran erinnern: „Wir haben dir den Sieg versprochen. Sieh zu, dass du diesen nicht dir zuschreibst, sondern den Aposteln.“13 Der Wert der Geschichte lag ganz offensichtlich darin, dass sie Zeugnis von der Bereitschaft der Könige gab, sich für ihre Kriege die Unterstützung und das Siegversprechen der Kirche einzuholen. Die Übersendung einer Fahne ließ sich überdies leicht als die Sendung einer Lehnsfahne deuten, wie wir aus anderen Fällen dieser Zeit wissen. Der Feldzug war nach dieser Erzählung im Übrigen erfolgreich, die Lanze des ungarischen Königs wurde erbeutet, nach Rom gesandt und vor der confessio Petri aufgestellt. Den historischen Kern dieser Geschichte bildet wohl der Ungarnfeldzug Heinrichs III. im Jahre 1044. Aus anderen Quellen ist für diesen Feldzug jedoch nichts von einer Petrusfahne bezeugt. Lehnsleute der Päpste wollten die frühen Salier gewiss nicht werden. Sozusagen aus dem Vollen schöpfen konnte Bonizo dann aber für die nächsten Jahrzehnte, in denen er seine Zeitgeschichte sehr zielbewusst interpretierte. Als ein Beispiel sei sein Bericht über von der Kirche gelobte und geförderte Gewalt gegen unkeusche und simonistische Priester angeführt, in den Bonizo sogar ein Schreiben Papst Alexanders aus dem Jahre 1067 inserieren konnte. Zuvor erwähnte er folgende Vorgänge: „Währenddessen erstarkte in Cremona das Wort Gottes auf eine wunderbare Weise. Wie sich da, vom Eifer Gottes geführt, zwölf Männer auf Vorschlag des Abtes Christoforus verschworen, wie sich ihnen das ganze Volk von Cremona anschloss, wie sie alle beweibten Priester und Diakone aus der Stadt trieben und wie sie den Bischof, der am Passionstag des Herrn einen Priester der Pataria verhaften wollte, verprügelten und wie sie dann nach Ostern ehrwürdige Männer als ihre Boten an den Papst sandten, muss ich nicht erzählen. Aber ich möchte ein Schutzschreiben, das der ehrwürdige Papst (Alexander) den Cremonesen durch dieselben Boten sandte, diesem Werk einfügen: ,… Unendlich ist unser Dank gegen Gott, den Ursprung alles Guten und die Quelle des guten Willens (hatte der Papst nach Bonizo geschrieben), der euch gegen den Feind des Menschengeschlechts mit der Waffe 13 Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, lib. V, S. 583: Victoriam quidem tibi spopondimus. Vide, hoc ne tibi sacribas, sed apostolis.

1. Bonizo von Sutri

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seiner Kraft bewehrte und euch stürmisch erregte, die simonistische Häresie und den Unflat unzüchtiger Kleriker auszutreiben. Denn, wie wir aus eurem Schreiben ersehen haben, habt ihr euch empört gegen die Heimtücke der alten Schlange, und wenn auch die zweiköpfige Natter aus ihrem Doppelschlunde das Gift ihrer Nichtswürdigkeit toddrohend über euch verspritzte, so stöhnt sie doch jetzt kläglich, getroffen vom Geschosse eures heiligen Eifers und durchbohrt vom Dolche eurer frommen Kraft … Der römische Stuhl wird euch bei dem Kriege, den ihr wegen eures heiligen Eifers für Gott begonnen habt, nicht träge, sondern mit aller Kraft zur Seite stehen. Er leiht euch seinen Arm und hält schützend seinen Schild vor euch, und er entflammt euch mehr und mehr, euch gegen die Heerscharen des Teufels gewaltig zu erheben. Und möge jeder einzelne von euch, umgürtet mit dem Schwert göttlicher Kraft, rufen: „Her zu mir, wer dem Herrn angehört.“ Und so möge ein jeder gleichsam wie Moses vom Tore zum Lager eindringen als wütender Feind der Heiligtumsschänder (Exodus 32,26 f.) und die Pforten simonistischer Käuflichkeit und priesterlicher Schamlosigkeit, durch welche der Teufel in eure Kirche sich eingeschlichen hatte, mögen sich schließen mit den Leichen der Erschlagenen. Geliebteste Söhne, der allmächtige Gott segne euch mit seiner Rechten, und durch das Schlüsselamt seines heiligen Apostels Petrus tue er euch weit auf die Pforten des Himmelreiches.‘“14

14 Ebd., lib. VI, S. 597 f.: Interea Cremone verbum Dei mirabiliter crescebat. Qualiter vero XII viri zelo Dei ducti consilio domni Christofori abbatis iuravere, et quomodo universus Cremonensis populus hos imitatus est, et quomodo universos sacerdotes et levitas concubinatos eiecere, et qualiter ipsum episcopum in ipso die passionis Domini sacerdotem Paterinorum comprehendere nitentem verberavere, et quomodo post sanctum pascha honestos viros nuncios ad papam misere, dicere non curabo. Scutum vero, quod Cremonensibus per eosdem nuncios venerabilis papa mandavit, huic opusculo inserere deliberavi: … Inspiratori omnium bonorum Dei et bonae voluntatis auctori uberes referimus gratias, qui vos adversus hostem humani generis virtutum suarum telis armavit et ad destruendam symoniacam heresim ac fornicatorum spurcicias clericorum ferventer accendit. Erexistis [vos] enim, sicut in literis vestris cognovimus, contra versutias serpentis antiqui; et qui velut biceps coluber per fistulas geminarum faucium nequiciae suae super vos venena nequitur evomebat, sancti zeli vestri telo perfossum atque precisum se virtutis vestrae pugione suspirat  … Huic enim bello, quod zelo divini fervoris estis aggressi, non segniter, sed omni virtutis instantia Romana sedes accurrit, brachium porrigit, clipeum defensionis obponit et vos, ut magis ac magis contra menbra diaboli non enerviter insurgere debeatis,

82 IV. Rechtfertigung von Gewalt in gregorianischen Streitschriften

Der im Papstbrief zitierte Aufruf zitiert einen Ausspruch Moses’. Dieser Aufruf stellte dessen Antwort auf den Tanz der Israeliten ums Goldene Kalb dar: „Her zu mir, wer dem Herrn gehört.“ Mit der Aufforderung aber war eine bestimmte Absicht verbunden. Als sich daraufhin nämlich alle Leviten um ihn gesammelt hatten, gab ihnen Moses den Vernichtungsbefehl: „Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten.“ (Exodus 32,27). Und die Leviten erschlugen an diesem Tage 3 000 Mann. Genau diese Geschichte bot der Papst den Cremonesen, die sich bisher mit der Vertreibung und dem Verprügeln ihrer Gegner begnügt hatten, also als Vorbild für ihren Kampf gegen Simonie und Nikolaitismus an. Gewiss ist es Gewaltrhetorik, dass die Türen der Käuflichkeit und Unkeuschheit in der Kirche durch die Leichen der Erschlagenen geschlossen werden sollten – solche Rhetorik öffnete aber realer Gewaltanwendung alle Türen. Die Schärfe der päpstlichen Sprache trug jedenfalls gewiss nicht zur Deeskalation des Konfliktes bei. Bonizo aber gab sich durchaus nicht damit zufrieden, aus den Beispielen der Geschichte die Lehre zu ziehen, dass für Christen die Anwendung von Gewalt erlaubt und geboten sei, weil heiligmäßige Männer entsprechende Beispiele gegeben hatten. Zu Anfang und am Ende seiner Abhandlung entwickelte er diese Theorie auch durch die Deutung einschlägiger biblischer Erzählungen. Zu Beginn diente ihm die Geschichte Isaaks, des Sohnes Abrahams, als Beleg. Die beiden Söhne Abrahams, Ismael und Isaak, die auch in anderen Zusammenhängen für unsere Thematik immer wieder angeführt werden, waren von einer Nebenfrau, der Magd Hagar, und der ersten Frau Abrahams, Sarah, geboren worden. An ihnen entwickelten die Reformer unter Benutzung einschlägiger Äußerungen Augustins die Theorie der lobenswerten Verfolgung. Die beiden Söhne stehen nach Bonizo für zwei Völker: das katholische und das der Häretiker. Die beiden hätten sich schon immer verfolgt, so auch

accendit. Igitur unusquisque vestrum divinae virtutis mucrone precinctus dicat: „Si quis est Domini, iungatur mecum“; sicque cum Moyse quasi de porta in portam castrorum tanquam fervidus bellator in sacrilegos irruat, ut symonicae venalitatis et clericalis adulterii ianuas, per quas diabolus in vestram fuerat ingressus ecclesiam, cesis cadaveribus claudat. Omnipotens, dilectissimi filii, sua vos dextera benedicat et per officium beati apostoli sui Petri ianuam vobis celestis regni aperiat.

1. Bonizo von Sutri

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jetzt. Die Schrift aber sage durch den Mund Sarahs: „Verstoße diese Magd und ihren Sohn. Denn es soll der Sohn der Magd nicht Erbe sein zusammen mit dem Sohn der Freien.“ (Genesis 21,10). So habe Isaak die Erbschaft erlangt, Ismael aber sei enterbt und verfolgt worden. Gottes Engel hatten ihm jedoch dann im Auft rag des Herrn verkündet: „zu einem großen Volk will ich ihn machen“ (Genesis 21,18), und dadurch wurde Ismael von der Verfolgung ausgenommen.15 Eine andere Verfolgung habe Isaak dagegen geduldig ertragen: Er hatte Brunnen gegraben, über die es Streit gab mit den Hirten von Gerar. Isaak lenkte mehrfach ein, gab seine Brunnen auf und suchte nach neuen Brunnen, bis er schließlich einen Vertrag mit seinen Gegnern schließen konnte. Diese Geschichte bietet für Bonizo den Beweis: „wenn uns Verfolgung von denen angetan wird, die außerhalb (unserer Gemeinschaft) stehen, dann müssen wir sie durch Ertragen aushalten, wenn aber von denen, die innerhalb (unserer Gemeinschaft) sind, dann müssen wir sie zunächst mit der Sichel des Evangeliums abschneiden und später mit allen Kräften und Waffen bekämpfen.“16 Was hier in einem einigermaßen komplizierten Gedankengang aus der Geschichte Sarahs und Hagars, Ismaels und Isaaks gefolgert wird, ist nichts weniger als eine Theorie der gerechten Verfolgung, der man nicht die Heiden, die außerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen Stehenden, sehr wohl aber die Häretiker, die innerhalb der Kirche sind, aussetzen darf. Sie scheint bestimmten Ausführungen Augustins entlehnt und Allgemeingut der Anhänger Gregors VII. gewesen zu sein. Für Bonizo war sie jedenfalls so wichtig, dass er sie als Einleitung seines Vorhabens nutzte und auch am Ende auf sie zurückkam: Hier zitierte er zunächst Augustinus mit seinen Ermahnungen an den Präfekten Bonifatius: „Ich will nicht, dass du zweifelst. Ich gebe dir und den Deinen den nützlichen Rat: Nimm die Waffen in die Hand, ein Gebet erreicht die Ohren des Schöpfers, weil, wenn gekämpft wird, Gott mit offenen Augen zusieht, und der Partei, die er als die gerechte ansieht, schenkt er die Siegespalme. Glaube nicht, man könne in Kriegswaffen 15 Vgl. ebd., lib. I, S. 572. 16 Ebd.: cum persecutio ab his qui foris sunt nobis infertur, tolerando devincendam, cum vero ab his qui intus sunt, evangelica falce prius succidendam et postea omnibus viribus et armis debellandam; vgl. dazu Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 233.

84 IV. Rechtfertigung von Gewalt in gregorianischen Streitschriften

nicht Gott gefallen.“17 Dann verstieg sich Bonizo zu der Überinterpretation der Ausführungen Augustins, die schon einleitend behandelt wurde. Er unterstellte dem Kirchenvater, gesagt zu haben: „selig sind die, die Verfolgung ausüben um der Gerechtigkeit willen“.18 Daran anschließend bietet Bonizo eine beeindruckende Sammlung von Stellungnahmen anderer Kirchenväter, die Gewalt unter bestimmten Bedingungen rechtfertigten. So zitiert er Hieronymus: „Wenn schon der Jude gehalten ist, den Vater, die Mutter, die Gattin, die an seiner Seite schläft, nicht zu schonen, wenn sie sich von der Wahrheit abwenden, wie viel mehr solltest du, Christ, erkennen, dass der Häretiker, der Christi Rock auftrennt, nicht geschont werden darf.“ Oder: „Härte für Gott ist keine Grausamkeit.“19 Papst Gregor den Großen zitiert er mit dem Satz: „Einen Grausamen zu töten ist keine Grausamkeit.“20 Sein Werk aber schließt Bonizo mit Segenswünschen für die Markgräfin Mathilde, in deren Hand Sisara gegeben werden soll. Mit dieser Bezeichnung war zweifelsohne Heinrich IV. gemeint. Bonizo will dafür beten, dass dieser sehr schnell untergehe.21 Mit der Benennung als Sisara setzte er Heinrich IV. mit jenem Feldherrn des Alten Testaments gleich, dem nach verlorener Schlacht, in der sein Heer bis auf den letzten Mann getötet wurde, zunächst die Flucht gelang. Zuflucht fand er bei einer Frau namens Jahel, die ihm jedoch einen Zeltpflock in die Schläfe schlug, als er vor Erschöpfung in ihrem Zelt eingeschlafen war (Richter 4,17–21). Damit war genügend deutlich gemacht, welches Schicksal er Heinrich IV. zudachte. 17 Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, lib. IX, S. 618: dubites nolo, utile tibi tuisque daboque consilium. Arripe manibus arma, oratio aures pulset auctoris, quia, quando pugnatur. Deus apertis oculis prospicit, et partem quam aspicit iustam, illi donat palmam et victoriam. Noli existimare in armis bellicis non posse Deo placere. 18 Ebd., S. 619: beatos eos, qui persecutionem inferunt propter iusticiam; bereits Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 233, Anm. 101 hat angemerkt, dass Bonizo hier Augustinus missversteht und zuspitzt. 19 Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, lib. IX, S. 619: Ieronimus vero in tractatu Pentateuci sic meminit dicens: „Si Hebreo preceptum est patri vel matri vel uxori, que dormit in sinu suo, non parcere, si se voluerit a veritate avertere, quanto magis tibi, o christiane, heretico scindenti domini Iesu vestem non esse parcendum tibi cognoscas?“ Idem ad Rusticum Nerbonensem: „Non est impietas pro Deo crudelitas.“ 20 Ebd.: Idem in Moralibus: „Crudelem interficere non est crudelitas“. 21 Vgl. ebd., S. 618.

2. Anselm von Lucca

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Ob Bonizo also Beispiele aus der Geschichte referierte oder kirchliche Autoritäten zitierte, immer war sein Interesse darauf gerichtet, möglichst breit zu belegen, dass man für die Wahrheit Gewalt anwenden dürfe und dass dies Gottes Wohlgefallen finde. In seinen Argumentationen liegt er ganz auf der Linie der schon behandelten Vorgänger und vieler Nachfolger: Sowohl die Geschichte der Verfolgung Hagars durch Sarah und ihre Deutung als auch die des Feldherrn Sisara begegnen häufiger in den einschlägigen Schriften. Viele der Argumente der Kirchenväter, die Bonizo als Belege für seine Auffassungen heranzieht, sind zudem ins Kirchenrecht eingegangen, wie in Kapitel 7 ausführlicher gezeigt werden soll. Sein besonderer Stellenwert für die hier begonnene Beweisführung liegt aber darin, dass er sich zum einen ganz auf die Frage der Legitimität von Gewaltanwendung im Dienste der Kirche konzentrierte, zum anderen aber zum engsten Umfeld Gregors VII. gehörte. Wir können daher seine Ausarbeitungen als integralen Bestandteil der Positionen Gregors auffassen.

2. Anselm von Lucca 2. Anselm von Lucca

Anselm von Lucca gehörte wie Bonizo zum engen Kreis der Vertrauten Gregors VII.22 Er zählte zu den drei Personen, die Gregor selbst als seine geeigneten Nachfolger auf dem Stuhl Petri nannte. Wie Bonizo schrieb er nicht lange nach Gregors Tod und wie dieser erstellte er auch eine Kanonessammlung, deren Inhalte von Gratian systematisch in seine Kirchenrechtssammlung aufgenommen wurden. Seine im Folgenden analysierte Streitschrift entstand in schrift lichem Austausch mit dem Gegenpapst Clemens, dem „Erzhäretiker“ Wibert von Ravenna, und wird in der Forschung daher als Liber contra Wibertum geführt. Diesem Werk vorausgegangen war bereits ein erstes Schriftstück, das an Wibert adressiert war, jedoch verloren ist. Der Unwillen Anselms, dass er Wibert-Clemens nicht hatte überzeugen können, ist an verschiedenen Stellen des erhaltenen Dokuments spürbar. Die nicht erhaltenen Argumente und Antworten des Gegenpapstes in diesem Dialog sind in Bruchstücken noch fassbar in der Schrift Widos von Ferrara, der die verlorenen Schriften benutzte und die Positionen Gregors und Clemens’ durch ausführliche Zitate zu 22 Vgl. Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 223 ff.; Gude, Fideles sancti Petri, bes. S. 294 ff., S. 306 ff.; Cushing, Papacy and Law, S. 43 ff.

86 IV. Rechtfertigung von Gewalt in gregorianischen Streitschriften

Wort kommen lässt. Dies tut er eindeutig zur Verteidigung des Gegenpapstes Clemens.23 Anselm stritt dagegen mit Wibert-Clemens als eindeutiger Anhänger Gregors.24 Er titulierte seinen Gegner einleitend als den „Verbrecherischsten von allen“, weil dieser die Mahnungen seines ersten Briefes offensichtlich nicht beherzigt hatte. Man muss jedoch in Rechnung stellen, dass Anselm und Wibert sich sehr gut kannten, denn es hatte eine Phase der Zusammenarbeit zwischen Gregor VII. und Wibert von Ravenna gegeben, die etwa von 1073 bis 1075 dauerte und intensive Kontakte zwischen den späteren Gegnern mit sich gebracht hatte.25 An vielen Stellen seines Schreibens wandte sich Anselm daher direkt an seinen Gegner, um ihn im zweiten Anlauf zu überzeugen, seine häretischen Positionen aufzugeben, was wohl nicht nur rhetorisches Beiwerk darstellen dürfte. In diesen Wendungen wird vielmehr verschiedentlich deutlich, dass Anselm die Rückkehr des Abtrünnigen in den Schoß der Kirche nicht für völlig ausgeschlossen hielt. So schließt das Werk auch gewiss nicht zufällig mit dem Segenswunsch, dass der allmächtige Gott das Herz Wiberts mit dem Glanz seiner Gnade erleuchten und ihn auf den Weg des Heils zurückführen möge.26 Dennoch versuchte Anselm Wibert in erster Linie klarzumachen, dass ein fürchterlicher Fluch des Herrn gegen Jerusalem, den der Prophet Hesekiel überliefert, sich aufgrund seines Tuns an ihm erfüllen werde. In diesem Sinne sprach er den früheren Mitbischof und jetzigen „Erzhäretiker“ direkt an: „Höre daher, was der Herr gegen dich durch den Propheten verkündigt: ,So spricht Gott, der Herr: Das ist Jerusalem. Ich habe es mitten unter die Völker und Länder ringsum gesetzt. Aber es war böse und widersetzte sich meinen Rechtsvorschriften mehr als die Völker und meinen Gesetzen mehr als die Länder ringsum  … Nun gehe ich gegen dich (Jerusalem) vor. Vor den Augen der Völker werde ich mitten in dir Gericht halten. Wegen all deiner Gräueltaten werde ich mit dir tun, was ich noch nie getan habe und auch nie wieder tun werde. Dann werden 23 24 25 26

Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 240 f. Ebd., S. 223 ff. Vgl. Ziese, Wibert von Ravenna, S. 36 ff. Vgl. Anselm von Lucca, Liber contra Wibertum, S. 528: Omnipotens Deus, qui neminem vult perire, qui supra maternum amorem diligit peccatores, illuminet cor tuum gratiae suae splendore et reducat ad viam salutis, ut cognoscas, quae sit voluntas eius beneplacens et perfecta!

2. Anselm von Lucca

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mitten in dir (Jerusalem) Väter ihre Kinder essen und Kinder ihre Väter.‘“27 (Hesekiel 5,5–10). An dieser Stelle bricht Anselm das Zitat wirkungsvoll ab, obgleich der Fluch des Herrn in unverminderter Schärfe weitergeht. Er durfte wohl damit rechnen, dass sein Gegenüber die Stelle genügend genau kannte. Der neuen und unerhörten Gräueltat Wiberts und seines Herrn Heinrich, so führt Anselm dann erklärend aus, müsse dieser Fluch zugeordnet werden. Wenn er, Wibert, gerettet werden wolle, müsse er sich dieses unerhörte Urteil Gottes aus dem Munde Hesekiels zuschreiben. Der Ehebruch, den einst Jerusalem begangen habe, sei nun seine Sache. Da der Herr dem heiligen Petrus gesagt habe: „Dir gebe ich meine Kirche“ und „Weide meine Schafe“, werde die Kirche durch die Usurpation Wiberts und Heinrichs geschändet, nach welchem Rechtsverständnis dies auch immer geschehen sei; die Kirche werde nicht mehr Braut Christi, sondern Ehebrecherin, nicht Freie, sondern Magd gescholten.28 Nachdem Anselm mit einer Reihe von Belegen der Kirchenväter diese Positionen bekräftigt hat, rechtfertigt er die Verfolgung, die er selbst mit der heiligen Mutter Kirche den Feinden so lange antue, bis diese untergingen. Es sei nämlich eine Verfolgung, wie sie Sarah, die Frau Abrahams, der Magd und Nebenfrau Abrahams angetan habe. Wibert solle daher erkennen, wie die Herrin bisher die Magd verfolgt habe, um zu lernen, was eine heilige 27 Ebd., S. 520: audi interea quae Dominus contra te per prophetam clamat: „Haec dicit dominus Deus: Ista est Ierusalem, in medio gentium posui eam et in circuitu eius terras; et contempsit iudicia mea, ut plus esset impia quam gentes, et praecepta mea ultra quam terrae quae in circuitu eius sunt … Ecce ego ad te, et ipse ego faciam in medio tui iudicia in oculis gentium, et faciam in te quae non feci et quibus similia ultra non faciam propter omnes abominationes tuas. Ideo patres comedent filios suos in medio tui, et filii comedent patres suos.“ 28 Vgl. ebd., S. 520 f.: Haec itaque cum videas tuis temporibus impleta et veritas dicat: Faciam quae nunquam in te feci, et quibus similia ultra non faciam, quandoquidem abhominatio nova et inaudita tui temporis te et dominum tuum H. et per vos complices vestros novae addicat maledictioni, tibi etiam necesse est, si vis salvus esse, inauditum iudicium ascribas: Ista est mater Ierusalem, et reliqua. Adultera siquidem, quae nunc est in parte tua, olim videbatur Ierusalem, sancta videlicet ecclesia, filia regis David. Sed, pro dolor! corrupta est a fratre suo et constuprata usque ad verticem. Omnis decor eius recessit ab ea, facta est quasi vidua domina gentium, quia rex Babylonis possidet eam. Cum enim Dominus dicat beato Petro: „Tibi dabo ecclesiam meam“, et: „Pasce oves meas“, et alibi: Una est columba mea, quaecunque alterius iuris usurpatione corrumpitur, non iam sponsa Christi, sed adultera, non libera, sed ancilla convincitur.

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Verfolgung (beata persecutio) sei.29 Diese Auslegung der Sarah-Geschichte begegnet uns als zentrales Argument der Reformer für die Rechtfertigung von persecutio im Interesse des Glaubens und der Kirche immer wieder. Dies ist aber nicht das einzige Argument, das Anseln gegen Wibert ins Feld führt. Er solle überdies nicht Christus widersprechen, der gesagt habe: „Zwingt sie einzutreten.“30 Wieder folgt eine Serie von Zitaten der Kirchenväter, mit denen die Position als gerechtfertigt erwiesen wird, die Gewalt der Kirche unter bestimmten Bedingungen erlaubte. Anselms Beweisführung beginnt mit den Ausführungen Augustins, der auch das Beispiel der Sarah diskutiert und zudem fragt, „wenn gute und heilige Männer keine Verfolgung ausüben, sondern nur erleiden können“, wie dann Psalm 17,38 zu verstehen sei, wo man lese: „Ich verfolge meine Feinde und hole sie ein, ich kehre nicht um, bis sie vernichtet sind.“31 Anselm bietet sehr komprimiert alle die Belegstellen der Kirchenväter, die Gewalt rechtfertigen und begründen, warum sie erlaubt und nötig sei. Hier seien nur einige der wichtigsten Belege angeführt und jeweils Hinweise auf die Verwendung durch andere Autoren gegeben. Schon hierdurch ergibt sich unabweisbar der Eindruck, dass durch die intensive Kommunikation gerade innerhalb der Parteien des Streites verschiedene Belegstellen zum Allgemeingut der Argumentation wurden, mit der man glaubte, die Gegenpartei gerade in der Frage der Gewaltanwendung mithilfe der Autoritäten in die Schranken weisen zu können. Eine vollständige Dokumentation soll und kann hier jedoch nicht geleistet werden. So vergleicht Anselm die Situation Wiberts mit den Worten des heiligen Cyprian mit der biblischen Situation der Rotte Korach. Wibert sei ein Sünder, da er sich von der Kirche getrennt habe, die Gregor VII. rechtmäßig besitze. Deshalb müsse man sich von ihm trennen, wie der Herr durch Moses im Falle der Rotte Korach befohlen habe (Numeri 16,26).32 Korach und seine Anhänger aber hatte die Erde verschlungen, wie es 29 Ebd., S. 522: Intellege itaque, quomodo persequatur adhuc ancillam domina, ut docearis, quae sit persecutio beata. 30 Ebd.: et non redarguas Christum, qui dixit: „Compellite intrare“. 31 Ebd., S. 523: Deinde quaero, si boni et sancti viri nemini faciunt persecutionem, sed tantummodo patiuntur, cuius putant in psalmo vocem, ubi legitur: „Persequar inimicos meos“ etc. 32 Ebd., S. 522: Et quae comminatus Dominus per Moysen fuerat implevit: ut quisque se a Chore et Dathan et Abiron non separasset, poenas statim pro impia communione persolveret. Quo exemplo ostenditur et probatur obnoxios omnes

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Moses im Auftrag des Herrn vorhergesagt hatte. Dieses Beispiel diente den Reformern mehrfach als Beleg für das Schicksal, das die Gegner Gregors zu erwarten hatten. Von Augustinus zitiert Anselm die programmatischen Festlegungen: „Wenn gekämpft wird, schaut Gott aus offenem Himmel zu und  die Partei, die er für gerecht hält, verteidigt er und gibt ihr die Siegespalme.“33 Das hatte in leicht abgewandelter Formulierung auch Bonizo von Sutri angeführt.34 Ebenso verhält es sich mit den in den gleichen Zusammenhang gehörenden Festlegungen: „Glaube nicht, dass niemand Gott gefallen könnte, der unter Kriegswaffen dient.“35 Als Beispiele dienen David und der römische Centurio, in dessen Haus Christus selbst eintrat.36 Anselm zitiert auch die von Reformern mehrfach wiederholte Bemerkung Augustins, Barmherzigkeit sei ungerecht, schließlich sei geschrieben: „Du sollst in dir kein Mitleid aufkommen lassen.“ (Deuteronomium 19,21).37 An der zitierten Stelle wird direkt anschließend ausgeführt, was die Konsequenz dieser mitleidslosen Haltung sei: „Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn (Hand für Hand, Fuß für Fuß).“38 Anselm greift auch auf, was Augustin in diesem Zusammenhang zusätzlich als Beweis dafür anführte, warum man kein Mitleid üben dürfe: nämlich die Geschichte Sauls, der von Gott deshalb verworfen wurde, weil er den Amalekiter-König Agag, dem Gottes Vernichtungs-

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culpae et poenae futuros qui se scismaticis contra praepositos et sacerdotes irreligiosa temeritate miscuerint. Ebd., S. 524: quando pugnatur, Deus apertis caelis spectat et partem, quam aspicit iustam, defendit et ibi dat palmam. Siehe Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, lib. IX, S. 618: quando pugnatur, Deus apertis oculis prospicit, et partem quam aspicit iustam, illi donat palmam et victoriam. Vgl. Anselm von Lucca, Liber contra Wibertum, S. 524: Noli existimare neminem Deo placere posse qui armis bellicis ministrat. Vgl. ebd.: In his erat sanctus David, cui Dominus tam magnum perhibuit testimonium; in his etiam plurimi illius temporis viri; in his erat ille centurio, qui Domino dixit: „Non sum dignus, ut intres sub tectum meum.“ Ebd.: Est iniusta misericordia; denique in lege scriptum est: „Non misereberis eius.“ Ebd., S. 525: Hinc est, quod Moyses pro temperamento vindictae: „Oculum“, inquit, „pro oculo, dentem pro dente“.

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befehl galt, nicht getötet, sondern verschont hatte.39 Auch diese Geschichte war nicht erst seit Gregor VII. Allgemeingut aller derjenigen, die die päpstlichen Gehorsamsforderungen untermauern wollten. Die Agag-Geschichte war Anselm überdies so vertraut, dass er sie zudem an anderer Stelle zitierte, als er einen seiner fundamentalen Vorwürfe gegen Wibert formulierte: „Ihr zerfleischt und zerschneidet die Kirche, die ihr euren Teil von ihrer Einheit abtrennt und sie grausamer mit dem Schwert des Schismas als mit dem Verbrechen der Idolatrie in Stücke schlagt.“40 Hiermit hatte er für alle Wissenden durch wörtliches Zitat die Szene aufgerufen, in der der Prophet Samuel den gefangenen König Agag eigenhändig mit dem Schwert „in Stücke schlug“ (in frusta concidit).41 Die Schärfe der Gewaltrhetorik Anselms kann sich durchaus mit derjenigen Bonizos messen. Man wird ihn als integralen Bestandteil der Gruppe auffassen dürfen, die Gregors Positionen teilte und untermauerte. Dies bringt auch der Autor der Vita Anselms unzweifelhaft zum Ausdruck: „Vor allem war es sein Bestreben, seinen heiligsten Lehrer, den Papst Gregor, in allen Stücken nachzuahmen, so dass er sich in nichts von jenem unterscheiden wollte.“42 Eine besondere Wirkung hat Anselm aber auch dadurch entfaltet, dass er die Stellungnahmen der in seiner Streitschrift benutzten Autoritäten bereits zuvor systematisiert und in die Bücher einer Kanonessammlung aufgenommen hatte, in denen er unter anderem die Fragen kirchlicher Gewaltanwendung und der Behandlung von Häretikern thematisierte. Diese Bücher übernahm später Gratian zu großen Teilen in seine Concordia discordantium canonum und verschaffte ihnen damit Eingang ins Kirchenrecht, wie in Kapitel 7 noch ausführlicher dokumentiert wird. 39 Ebd., S. 524: et in libro regnorum legis, quia Saul propterea contraxit offensam, quia miseratus est Agag hostium regem, quem prohibebat sententia divina servari. 40 Ebd., S. 526: Vos siquidem ecclesiam laniatis et scinditis, qui partem vestram ab eius unitate praecidistis eamque crudelius gladio scismatis quam idolatriae scelere in frusta conciditis. 41 1 Samuel 15,33: et in frusta concidit Samuhel Agag coram Domino in Galgalis. 42 Vita Anselmi episcopi Lucensis, cap. 31, S. 22: Ante omnia vero id studii semper habuit, quatenus sanctissimum magistrum suum papam Gregorium imitaretur in omnibus, adeo ut discrepare ab illo prorsus nollet etiam in aliquo; siehe Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 223.

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Gerade in den bisher noch unedierten Büchern XII und XIII dieser Sammlung hat Anselm unter den Titeln De excommunicatione und De iusta vindicta diskutiert, wie nach der Lehre der Väter mit Personen umzugehen sei, die gegen die Römische Kirche Widerstand leisten.43 Anselm entwickelt hier mithilfe der Autoritäten sehr radikale Vorstellungen über den Umgang mit Exkommunizierten, Schismatikern und Häretikern, dazu eine breite Grundlegung der Verpflichtung aller Rechtgläubigen, „die Bösen zum Guten zu zwingen“.44 In diesen Büchern ist überdies eine christliche Gewalttheorie auf der Basis der patristischen Vorgaben erarbeitet, die die Verfolgung der Bösen mit aller Entschiedenheit rechtfertigt. Es sei nur mit dem Zitat einiger Rubriken der Bücher XII und XIII verdeutlicht, wie umfassend und entschieden die Frage der Gewaltanwendung durch die Kirche und ihre weltlichen Helfer thematisiert wird. Rubriken versuchen ja knapp und programmatisch die Essenz der Aussagen zu formulieren, die die nachfolgend zitierten Autoritäten mit ihren längeren Ausführungen machen wollten.45 Das Verhältnis der Kirche zur Gewalt, so wie es Anselm entwickeln wollte, kommt vor allem in folgenden Formulierungen zum Ausdruck: „Dass die Kirche nicht verfolgt, sondern liebt, wenn sie straft oder das Böse verhindert“ (XII, 44); „Dass kein Opfer der weltlichen Machthaber Gott wohlgefälliger ist, als dass die schismatischen Bischöfe zum Gehorchen gezwungen werden“ (XII, 45); „Dass die Häretiker durch die weltlichen Gewalten zu zwingen sind“ (XII, 53); „Dass die Bösen zum Guten zu zwingen sind“ (XII, 55); „Dass Moses nichts Grausames tat, als er im Auftrag Gottes einige niedermetzelte“ (XIII, 1); „Dass Vergeltung nicht aus Hass, sondern aus Liebe durchgeführt wird“ (XIII, 2); „Dass Kriege mit Wohlwollen zu führen sind“ (XIII, 3); „Dass auch die Kämpfenden Gerechte sein können“ (XIII, 4); „Dass die Kirche Verfolgung aus43 Zu den Übernahmen der von Anselm herangezogenen Autoritäten in das Decretum Gratiani siehe bereits Stickler, Anselmo di Lucca, bes. die Tabelle S. 248 f.; die Zusammenhänge erläutert auch Cushing, Papacy and Law, S. 124 ff., dort S. 179 ff. eine „abridged edition of books XII und XIII“, die nur die Rubriken bietet, die auch in Migne PL 149, Sp. 529–534 greifbar sind. 44 So die Rubrik über Buch XII, 55, die auf Augustins Brief 173 fußt. 45 Siehe dazu grundsätzlich Thier, Dynamische Schrift lichkeit, S. 3 ff.; ders., Hierarchie und Autonomie, S. 417 ff. mit weiterführenden Beobachtungen zur Normbildung durch Rubrizierung.

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üben darf“ (XIII, 14); „Wer die Gottlosen verwirren kann und es nicht tut, stimmt ihrer Gottlosigkeit zu“ (XIII, 19); „Dass dem Menschen Barmherzigkeit, den Sünden Verfolgung geschuldet wird“ (XIII, 21).46 Da Anselm seine Streitschrift Liber contra Wibertum wohl erst in seinem letzten Lebensjahr verfasste, spricht viel dafür, dass sie nach der Kanonessammlung geschrieben wurde, diese aber wohl nur wenige Jahre früher.47 Anselms Arbeiten gehören jedenfalls in die Krisenzeit zwischen der zweiten Bannung Heinrichs IV. 1080 und dem Tod Gregors VII. 1085, in der viele Bemühungen des Kreises der Gregor-Anhänger um eine Neuformulierung des christlichen Gewaltverständnisses zeitlich zu verorten sind. Sie waren in dieser Zeit auch besonders nötig, da Heinrich IV. daran gehindert werden sollte, Rom zu belagern und einzunehmen. Hierzu benötigte man Krieger, die bereit waren, im Auftrage der Kirche Gewalt anzuwenden. Deshalb sind wir wohl berechtigt, die dichten Aussagen des Gregor-Kreises in Briefen, Traktaten, Streitschriften und Kanonessammlungen, wie sie sich gerade in dem Jahrfünft nach der zweiten Bannung Heinrichs IV. finden, als konzertierte Bemühungen um die Ausformulierung und Propagierung dieser neuen kirchlichen Gewalttheorie aufzufassen. Gerade dadurch, dass die Prophezeiung Gregors VII., die Apostelfürsten selbst würden Heinrich IV. stürzen, sich nicht bewahrheitet hatte, war gewiss ein erhöhter Rechtfertigungsbedarf entstanden, von dem die Arbeiten Bonizos und Anselms beredtes Zeugnis geben.48

46 Vgl. dazu Cushing, Papacy and Law, S. 187 ff.: XII, 44 Quod ecclesia non persequitur sed diligit cum punit vel prohibet malum. XII, 45 Quod nullis (nullum) sacrificium Deo a potestatibus gratius est quam ut scimatici episcopi ab (ad) obediendum coerceantur. XII, 53 De hereticis per seculares potestates coercendis. XII, 55 De malis cogendis ad bonum. XIII, 1 Quod Moyses nichil crudele fecit quando precepto Domini quosdam trucidavit. XIII, 2 De vindicta non odio sed amore facienda. XIII, 3 Quod bella cum benevolentia sunt gerenda. XIII, 4 Quod militantes etiam possunt esse iusti. XIII, 14 Quod ecclesia persecutionem possit facere. XIII, 19 Qui potest perturbare perversos et non facit eorum impietati consentit. XIII, 21 Quod homini misericordia peccatis persecutio debeatur. 47 Vgl. dazu ebd., S. 4 ff. 48 Allg. zur Situation der Gregorianer nach dem Tod Rudolfs von Rheinfelden siehe Cowdrey, Gregory VII, S. 206 ff.; Weinfurter, Canossa, S. 163 ff.; Althoff, Heinrich IV., S. 175 ff.

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3. Manegold von Lautenbach 3. Manegold von Lautenbach

Die Schärfe der Töne, die Anselm von Lucca anschlug, wird noch übertroffen von derjenigen Manegolds von Lautenbach, der nicht zum Kreis der persönlichen Vertrauten Gregors gehörte. Er fühlte sich jedoch durch eine im Kern ironische Anfrage Wenrichs von Trier an Gregor VII. zu einer heftigen Replik veranlasst, die er Erzbischof Gebhard von Salzburg widmete.49 Wenrich hatte sich hinter Fragen und Vorwürfen bezüglich Gregors Amtsführung versteckt, die Gregors Gegner an ihn, Wenrich, angeblich herantrugen und denen er nicht gewachsen sei. So hatte er sich die rhetorische Möglichkeit verschafft, dem Papst in aller Klarheit die strittigen Punkte aus der Perspektive der Gegner vorzulegen. Und deren Argumentationen ließen an Deutlichkeit und Feindseligkeit nichts zu wünschen übrig, wie unten noch ausführlicher besprochen wird.50 In der Einleitung seiner Replik bezeugt Manegold die verheerende Wirkung der Schrift Wenrichs, die bereits überall von der Gegenpartei „als authentisch und quasi kanonisiert verbreitet“ werde.51 Mit dieser Klage wird explizit auf die Techniken verwiesen, mit denen die Parteien zur Überzeugung ihrer Anhänger wie zur Verunsicherung der Gegner arbeiteten, Techniken, die Carl Erdmann wohl zu Recht mit dem modernen Begriff der „Propaganda“ charakterisiert hat.52 Von Manegolds umfangreicher Stellungnahme zu vielen strittigen Themen der Zeit sei im Folgenden wieder der Bereich ausgewählt, der die Frage der Anwendung von Gewalt in den Auseinandersetzungen behandelt. Er findet sich im Wesentlichen konzentriert in den Kapiteln 33 bis 40, die vor allem folgende Themen behandeln, wie durch Überschriften, die den schon zitierten Rubriken der Kanonessammlungen ähneln, deutlich wird: „Dass die Heinricianer, weil sie verschmähen, mit kirchlicher Milde gebessert zu werden, durch weltliche Gewalten unterdrückt werden (müssen)“ (33); „Das Zeugnis Augustins, dass bei den Häretikern und 49 Vgl. Mirbt, Publizistik, S. 26 f.; Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 216 ff.; Hartmann, Manegold, bes. S. 127 ff. mit wichtigen Hinweisen zur Methode Manegolds; Weinfurter, Canossa, S. 140 ff. 50 Vgl. Kap. V. 1. 51 Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum liber, Praefatio, S. 311: Qui denique libellus quia ab illis pro autentico et iam iam canonizato undique circumfertur. 52 Vgl. Erdmann, Anfänge der staatlichen Propaganda.

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Schismatikern, welche Bedrängnis sie auch an Leib oder Besitz auszuhalten haben, dies nicht Verfolgung, sondern Unterweisung (disciplina) genannt werden soll“ (37); „Dass die, die Exkommunizierte nicht wegen privaten Unrechts, sondern zur Verteidigung der Kirche töten, nicht wie Mörder büßen oder bestraft werden sollen“ (38); „Das Zeugnis Augustins, dass das Bedrängen der Bösen Erbarmen (elemosyna) genannt werden soll“ (40).53 Nur knapp sei schon hier darauf hingewiesen, dass sich in den anschließenden Kapiteln 42 und 43 die konkreten Auseinandersetzungen Manegolds mit den Ausführungen Wenrichs von Trier finden. Davon soll im nächsten Kapitel ausführlicher die Rede sein.54 Es dürfte wenig überraschen, dass in den genannten Kapiteln die einschlägigen dicta der Kirchenväter wie die Belegstellen des Alten Testaments wiederkehren, die von den Bedingungen handeln, unter denen Christen Gewalt erlaubt ist bzw. der Gotteszorn durch tödliche Gewalt besänftigt wird. Mit Augustins Ausführungen gegen die Donatisten verschaffte sich Manegold die Möglichkeit, die Heinricianer von Rechts wegen zur Aufgabe ihres Besitzes zwingen zu können.55 Augustinus diente auch als Gewährsmann für die Erlaubnis, Exkommunizierte zu töten. Er hatte ja ausgeführt, dass es erlaubt sei, Sünder zu töten. „Von dieser Lizenz zum Töten können die Heinricianer in keiner Weise ausgenommen werden“,56 weil sie nicht nur Sünder seien, sondern durch Drohungen, Folterungen und Ächtungen zur Sünde zwängen, und sie überdies dadurch, dass sie viele tausend Menschen dazu brächten, dem apostolischen 53 Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum liber, Capitula, S. 309: XXXIII. Quod Heinriciani, quia ecclesiastica mansuetudine corrigi detrectant, per exteras, id est mundanas, potestates opprimantur.  … XXXVII. Item testimonium Augustini, quod eretici vel scismatici, qualemcunque afflictionem corpore vel rebus sustineant, non persecucio, sed disciplina vocanda sit. XXXVIII. Quod hii qui excommunicatos non pro privata iniuria, sed ecclesiam defendendo interficiunt, non ut homicide peniteant vel puniantur. … XL. Testimonium Augustini, quod affliccio malorum elemosina vocetur. 54 Siehe unten Kap. V. 1, S. 104 ff. 55 Vgl. Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum liber, cap. 35, S. 372 f. unter der Überschrift Item testimonium Augustini, ut qui extra ecclesiam catholicam sunt possessionum suarum ac rerum omnium ablacione coerceantur. 56 Ebd., cap. 38, S. 377: ex hac interfectionis licentia Heinriciani nulla possunt ratione separari, qui non solum ipsi prevaricatores existunt, sed quoscunque possunt minis, tormentis, proscriptionibus prevaricari conpellunt; vgl. Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 216 f.

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Gehorsam abzuschwören, das Verbrechen der Idolatrie begingen.57 Hier ist wieder implizit mit der Forderung nach Gehorsam die Samuel-SaulGeschichte zitiert (1 Samuel 15,22), die nach unseren Untersuchungen eine zentrale Rolle für das Amtsverständnis Gregors VII. spielt. Nachdem Manegold nach eigener Angabe auf diese Weise mit den Gesetzen christlicher Kaiser und den Traditionen der Kirchenväter nachgewiesen hat, dass es erlaubt sei, Sünder und andere Übertreter der heiligen Gesetze zu töten, kommt er zu seinem Hauptanliegen: „dass diejenigen, die zur Zeit die Kirche vernichten, Christus schmähen, den apostolischen Sitz und den heiligen Petrus verachten, nicht aus privater Rache, sondern um die Kirche zu verteidigen und zu rächen, getötet werden dürfen, ohne dass die, die dies tun, für Mörder gehalten werden und wie Mörder Buße tun müssen, vielmehr gemäß dem Apostel Diener Gottes sind“.58 Die Beweise dafür, dass sie in der Tat Diener Gottes sind, nimmt Manegold gleichfalls wieder aus dem Alten Testament. Seine Argumentation liest sich wie eine Sammlung der zentralen Belege, die in den Zeiten des Reformpapsttums die Gewaltdiskurse bestimmten. Er beginnt mit Moses und dessen Aufforderung „Wer für den Herrn ist, her zu mir“ (Exodus 32,26), der nur die Leviten Folge leisteten. Im Unterschied zum biblischen Beleg schlugen die Leviten, die sich auf die Seite Moses’ gestellt hatten, nach Manegold daraufhin an einem Tage 23 000 Sünder tot, während im Buch Exodus nur von 3000 die Rede ist. 57 Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum liber, cap. 38, S. 377: qui non solum ipsi, ut supra memoratum est, multis periuriis obligati sunt, sed multa hominum milia apostolicam obedientiam abiurando scelus idolatriae incurrere et a christiana professione apostatare promittendo, imperando, terrendo compulerunt. 58 Ebd., cap. 39, S. 378 f.: Cum igitur et iuxta publicas catholicorum imperatorum leges et catholicas orthodoxorum patrum traditiones prevaricatores atque sacris regulis obstinaces, si aliter constringi nequeunt, liceat occidere, de terra perdere, vivere non sinere, liquido patet illos quoque, qui nunc ecclesiae dissipatores, Christi plasphematores, apostolicae [sedis], immo beati Petri principis apostolorum proscriptores non pro privata inimicicia, sed ecclesiastica defensione atque vindicta, dum aliter constringere nequeunt, interficiunt, nequaquam homicidas censendos nec homicidarum paenitentiae vel emendationi subitiendos, presertim cum iuxta apostolum ministri Dei sint, in hoc ipsum servientes, vindices in malum his qui male agunt nec aliter opprimi possunt; vgl. Mirbt, Publizistik, S. 459 f.

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Dann aber nutzt Manegold das rhetorische Mittel der Ironie, um eine besondere Wirkung durch die Konfrontation sich widersprechender Bibelstellen zu erzielen. Er fragt nämlich: „War es nicht Moses, der befahl: ,Du sollst nicht töten‘? Und er löste dieses Gebot dadurch auf, dass er 23 000 Sünder tötete? Bist du nicht bei Verstand, Moses, der du dem Volk befiehlst, es solle nicht töten, und dennoch dann, als es 23 000 von seinen Brüdern tötete, ihm bestätigtest, es habe seine Hände Gott geweiht? Wie geht das zusammen: ,Du sollst nicht töten‘ und ,Es töte jeder seinen Verwandten und seinen Bruder‘? Oder war es vielleicht nicht derselbe Moses? Es war derselbe.“59 Manegolds Ausführungen bieten ein frühes Beispiel für die Dekonstruktion biblischer Texte, die in der Tat schwer vereinbare Dinge berichten. Für ihn war angesichts des Widerspruchs klar, dass das Tötungsverbot nicht so allgemein gemeint sein konnte, wie es im Dekalog formuliert war. Sonst, fügt er noch an, dürfe ja nicht einmal ein Bauer sein Schwein oder sein Huhn töten.60 Wir werden dieser Art der Argumentation, allgemeine Normen durch Sonderfälle zu entkräften, auf die sie nicht anzuwenden seien, bei der Behandlung des Decretum Gratiani im Kapitel 7 wieder begegnen. Manegold nennt in der Folge weitere Beispiele, bei denen die Tötung von Sündern Gottes Beifall und Wohlgefallen fand: Er zitiert den Propheten Elias, der vierzig Baalpriester töten ließ (1  Könige 18,40) nach dem Gottesurteil auf dem Karmel. Er ruft die Tat des Pinhas in Erinnerung, der den Unzucht mit einer Medianiterin treibenden Israeliten Simri zusammen mit der Frau auf ihrem Lager durchbohrte und so die Plagen des Herrn von Israel abwandte und selbst das ewige Priestertum erhielt

59 Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum liber, cap. 39, S. 379: Taceo Moysen, qui cum filiis Levi manus suas in hoc Domino consecravit, qui una die XXIII milia prevaricatorum occidit. Quid igitur? Numquid Moyses, qui precepit: Non occides, in hoc preceptum solvit, quod statim XXIII milia prevaricatorum interfecit? Insanisne Moyses? qui populo, ne occidat, precipis et tamen in hoc, quod XXIII milia de fratribus suis interfecit, manus suas Domino consecrasse asseris? Quomodo igitur conveniunt: Non occides et: Interficiat unusquisque proximum et fratrem suum? An forte idem Moyses non erat? Immo idem erat. Die Unstimmigkeit der Zahlen geht schon auf verschiedene Codices der Bibelüberlieferung zurück und fi ndet sich auch schon in 1 Korinther 10,8. 60 Ebd.: eo usque contentio progreditur, ut nec rustico cuiquam porcum suum vel gallinam interficere concedatur. Vgl. schon Augustinus, De civitate Dei, I, 20 f.

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(Numeri 25,7–8). Und er vergisst schließlich nicht, Samuel zu erwähnen, der den Feind Gottes „in Stücke schlug“ (1 Samuel 15,33). Saul hatte dies nach Manegold in „falscher Barmherzigkeit“ unterlassen, was ihn sein Königtum kostete. Sie alle, so Manegolds Fazit, hatten sich nicht gefürchtet, Feinde Gottes zu töten, wenn es notwendig war.61 Und aus anderen Beispielen, die hier nicht referiert wurden, gehe hervor, schließt Manegold seinen Bericht, dass weltliche und christliche Fürsten, wenn sie in kirchlichen Bereichen Strenge ausübten, dies nicht aufgrund der Sünde der Bosheit getan hätten, es sei vielmehr aus der Wurzel der Liebe (caritas) hervorgegangen.62 Danach rief er mit Augustin das Bild vom Arzt auf, der das Messer gegen die Wunde, nicht gegen den Menschen richte, und der schneide, um zu heilen.63 So sei auch der, „der bei der Verteidigung der Kirche die Heiden, die sie verwüsten, tötet oder irgendwie unterdrückt, bekanntlich nicht schuldig, sondern verdiene alles Lob und höchste Verehrung. Da jene (die Heinricianer) aber verabscheuungswürdiger sind als offene Heiden, ist einer, der einen von ihnen zur Verteidigung der Gerechtigkeit tötet, noch weniger schuldig als der, der 61 Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum liber, cap. 39, S. 379: Pretereo Heliam, qui statim ut pro Domino exercituum zelatus quadringentos viros, prophetas Balaam, interfecit, sterilem terram, tribus annis, mensibus sex arentem, imbrium ubertate fecundavit. Cur referam duos quinquagenarios igne desuper veniente per eum consumptos? Quid dicam de Ieu, qui, pro eo quod prophetas et universos servos Baal interfecit atque contra domum Acab zelum Domini studiose exercuit, regnum sibi filiisque suis usque ad quartam generationem preparavit? Neque enim gladium Finees nunc extraham, qui, dum zelo Domini commotus Zambri filium Falti cum Madianitide coeuntem perfodit, ab omni populo iram Dei avertit sibique pactum sacerdotii sempiternum promeruit. Hec, inquam, omnia taceam, que, tametsi certi gratia misterii in figura illis contingebant, ad nostram tamen correptionem conscripta, dicta apostoli declarant, in quos fines seculorum devenerant. Samuel, qui a principatu deiectus pro deiectoribus suis pie Dominum exoravit, inimicum Domini in frusta concidit. Quod quia Saul facere noluit, falsa miseratione semetipsum privavit regni dignitate. Nec otiose sane attendendum, quod Moyses, qui super omnes qui habitabant in terra mitissimus describitur, Samuel nazareus, qui ex utero matris vinum et siceram non bibit, cuius super caput novacula non ascendit, hi, inquam, ambo, qui singulari lenitate in tota veteris oraculi serie pro suis adversariis leguntur exorasse, Domini inimicos non timuerunt causa exigente occidere. 62 Ebd., S. 379 f.: nequaquam ex livore malitiae, sed ex caritatis radice procedere. 63 Ebd., cap. 40, S. 381: Medicus namque, qui ad salutem adhibetur, nonne ferro armatur plerumque? Sed contra vulnus, non contra hominem.

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einen Heiden tötet, weil die Größe ihres Verbrechens die Sünde ihrer Tötung entschuldigt.“64 Es scheint nicht unangebracht, an dieser Stelle ein kleines Zwischenfazit zu ziehen, das noch einmal den Zusammenhang der bisherigen Untersuchungen unterstreicht. Die zitierten und diskutierten Aussagen der Frühreformer Petrus Damiani und Humbert da Silva Candida, die brieflichen Äußerungen Papst Gregors selbst und die eben referierten Ausführungen seiner Anhänger sprechen in der Frage der Erlaubtheit von Gewaltanwendung durch Christen und im Auftrag oder Dienst der Kirche die gleiche Sprache. Sie basieren auf den gleichen Autoritäten, nämlich der Bannideologie des Alten Testaments, den Äußerungen der Kirchenväter zur Behandlung von Häretikern und einschlägigen Beispielen der Kirchengeschichte. Und sie ziehen das gleiche Fazit aus den herangezogenen Belegen: Gewalt im Dienste, Auftrag und zum Nutzen der Kirche ist gerade gegen die Heinricianer unzweifelhaft erlaubt, weil sie aufgrund ihres Ungehorsams Häretiker und Schismatiker sind, denen die heiligen Schriften und die Tradition einhellig das Urteil sprechen.

64 Ebd.: Notum est autem, qui gentiles aecclesiam devastantes eandem defendendo interficiunt aut quoquomodo premunt, nequaquam alicuius macula culpae notandos, sed omni laude ac dignissima veneratione honorandos. Igitur cum isti maioris detestationis quam aperte gentiles sint, quisquis horum aliquem pro defendenda, quam inpugnant, iusticia occiderit, minus reus, quam si paganum occideret, existit, quia magnitudo sceleris eorum homicidii excusat reatum.

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Gegenstimmen heinricianischer Parteigänger V. Gegenstimmen heinricianischer Parteigänger

Den intensiven Angriffen der Gregorianer auf das Verhalten des „Sakralkönigs“ Heinrich, aber auch auf das Verhalten der unkeuschen Priester, der Simonisten und der Ungehorsamen im Allgemeinen, das nach ihrer Ansicht aufgrund „schlechter Gewohnheiten“ allgemeine Praxis geworden war, steht eine gleichfalls intensive Argumentationsfront der Heinricianer gegenüber, die sich defensiv und offensiv mit den Positionen ihrer gregorianischen Gegner auseinandersetzten. Sie taten dies im Wesentlichen mit der gleichen Methodik wie diese Gegner: Sie erwiesen aus den heiligen Schriften und der Tradition, dass die neuen Geltungsansprüche der Gregorianer den Autoritäten widersprachen. Die Auseinandersetzung wurde dabei zumeist in einer etwas schiefen Schlachtordnung geführt: Man setzte sich selten direkt mit den gegnerischen Argumenten auseinander, entkräftete nicht die biblischen und patristischen Argumentationen der Gegenseite, sondern rückte andere Aussagen und Belege der christlichen Tradition in den Mittelpunkt und folgerte aus ihnen Verhaltensnormen, die die Gegner ins Unrecht setzten. Jeder Beleg aus den zentralen Texten der christlichen Religion bot schließlich Offenbarungswissen mit unmittelbarem Beweischarakter. Die Einsicht, dass sich die Aussagen zentraler christlicher Texte auch widersprechen konnten und man alles tun musste, um sich scheinbar widersprechenden auctoritates mit der ratio einen kohärenten Sinn abzugewinnen, ist erst die Konsequenz, die nachfolgend gelehrte Kleriker, die bekanntlich die Methoden der Scholastik hervorbrachten, aus den hier behandelten Diskursen zogen.1 Cum grano salis kann man sagen, dass die bisher diskutierte gregorianische Argumentation mehr auf dem Alten Testament und seiner Interpretation durch die Kirchenväter beruhte, während die Heinricianer ihre Autoritäten mehrheitlich aus dem Neuen Testament bezogen. Auf den fundamentalen Unterschied des alttestamentlichen und neutestament1 Vgl. dazu Grabmann, Scholastische Methode, bes. S. 28 ff. u. S. 36 f.; kritisch dazu Schönberger, Was ist Scholastik?, S. 29 ff.

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lichen Gottesbildes und der hieraus resultierenden, verschiedenartigen ethischen Postulate ist man dabei nicht aufmerksam geworden. Dies führte dazu, dass viele der ambitionierten Beweisführungen ihre Adressaten nicht überzeugten und ihr Ziel verfehlten. Schon früh setzten die Heinricianer mit ihrer Kritik an der kaum zu bestreitenden Tatsache an, dass die Ansprüche und Maßnahmen der Reformer Unfrieden in Kirche und Welt gestiftet hatten. Dies blieb auch ein Leitmotiv ihrer Argumentation. Dem Zentralbegriff des gregorianischen Selbstverständnisses, der veritas, setzten sie als ihren Zentralbegriff die pax entgegen, mit der sie sich gleichfalls auf Christus berufen konnten. Gregor aber sprachen sie genau diese hervorstechende Eigenschaft Christi, die Friedensliebe, ab – und damit eine oder die wesentliche Tugend, die jeden christlichen Hirten auszuzeichnen hatte.2 Es sei damit begonnen, aus den Briefen Heinrichs IV. und der Bischöfe zu zitieren, die diese nach der Wormser Synode vom Januar 1076 an Gregor VII. sandten. Sie akzentuierten bereits den Gedanken, dass Gregor mit seiner Art, die Kirche zu leiten, nicht den Frieden, sondern das Schisma gebracht habe, und dass er deshalb den Stuhl Petri verlassen müsse: „Der Herr und Erlöser hat seinen Gläubigen Frieden und Nächstenliebe als einzigartigen Stempel aufgedrückt, und dafür gibt es mehr Zeugnisse, als der beschränkte Raum eines Briefes aufnehmen kann. Du aber führst profane Neuerungen ein, du freust dich mehr an einem bekannten als an einem guten Namen, du blähst dich auf in unerhörter Überhebung. Als ein wahrer Bannerträger des Schismas hast du alle Glieder der Kirche, die vor dieser deiner Zeit im Sinne der Apostel ein ruhiges und friedvolles Leben führten, mit hochmütiger Grausamkeit und mit grausamen Hochmut zerrissen und hast die Flamme der Zwietracht, die du in der römischen Kirche durch bittere Parteiungen entzündet hast, durch alle Kirchen Italiens, Deutschlands, Frankreichs und Spaniens in deinem rasenden Wahnsinn entfacht.“3 2 Vgl. dazu jetzt allg. Suchan, Der gute Hirte, bes. S. 99 ff. mit weiteren Hinweisen. 3 Episcoporum Epistula Gregorio VII missa, in: MGH Constitutiones  1, Const. 58, S. 107: Cum enim Dominus et redemptor noster pacis et caritatis bonum quasi singularem fidelibus suis caracterem impresserit, cuius rei testimonia plura extant, quam ut epistolari brevitate comprehendi valeant, tu e contrario, dum profanis studes novitatibus, dum magis amplo quam bono nomine delectaris, dum inaudita elatione distenderis, velut quidam signifer scismatis omnia membra ecclesiae, quae secundum apostolum quietam et tranquillam vitam

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Dies formulierten in Worms die Bischöfe, die damit implizit den Geist des Neuen Testaments beschworen und mit diesem den Frieden, die Eintracht und die Nächstenliebe zur Richtschnur und zum Beurteilungskriterium päpstlichen Handelns machten. Heinrich IV. betonte in seinem, einige Monate später an die mittelalterliche Öffentlichkeit gerichteten Absagebrief an Gregor den gleichen Gedanken: „Du bist nämlich auf folgenden Stufen emporgestiegen: Durch List – was das Mönchsgelübde verabscheut – bist du zu Geld gekommen, durch Geld zu Gunst, durch Gunst zum Schwert, durch das Schwert zum Sitz des Friedens, und vom Sitz des Friedens hast du den Frieden gestört. Die Untergebenen hast du gegen die Vorgesetzten bewaff net, unsere Bischöfe, die Gott berief, hast du, der Unberufene, zu verachten gelehrt, ihre Amtsgewalt über die Priester hast du den Laien widerrechtlich übereignet, so dass diese Laien nun diejenigen absetzen und verurteilen, die ihrerseits die Laien aus der Hand Gottes durch Handauflegen der Bischöfe empfangen hatten, um sie zu belehren.“4 Die Bischöfe des Reiches und Heinrich IV. akzentuierten also schon Anfang 1076 in Worms den Gedanken, dass Gregor VII. die Friedenspflicht, die nach dem Neuen Testament jeder christliche Hirte als vorrangige Aufgabe hatte, gröblich verletze. Heinrich fügte seinerseits einen ebenso gravierenden Vorwurf an: dass Gregor nämlich den Laien die Amtsgewalt der Bischöfe über die Priester übertragen habe, was bedeute, die Untergebenen zu Vorgesetzten zu machen. Der Vorwurf bezog sich auf die päpstlichen Aufrufe, dass das Kirchenvolk den unkeuschen und simonistischen Priestern Widerstand leisten solle.5 All dies rechtfertigte natürlich die Bewertung, dass Gregor „ein Bannerträger des Schismas“

ante haec tua tempora agebant, superba crudelitate crudelique superbia lacerasti flammamque discordiae, quam in Romana ecclesia diris factionibus excitasti, per omnes ecclesias Italiae Germaniae Galliae et Hispaniae furiali dementia sparsisti. Siehe dazu Weinfurter, Canossa, S. 121 ff. 4 Briefe Heinrichs IV., Nr. 12, S. 15–17, hier S. 16: Tu enim his gradibus ascendisti: scilicet astutia – quod monachia professio abhominatur – pecuniam, pecunia favorem, favore ferrum, ferro sedem pacis adisti et de sede pacis pacem turbasti, dum subditos in prelatos armasti, dum episcopos nostros a deo vocatos tu non vocatus spernendos docuisti, dum laicis ministerium eorum super sacerdotes usurpasti, ut ipsi deponant vel condempnent, qui ipsos a manu domini per impositionem manuum episcoporum docendos acceperant. 5 Tellenbach, Westliche Kirche, S. 136 ff.

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sei, weil er mit seinen Maßnahmen die gottgewollte Ordnung zerstört habe. Mit diesen Vorwürfen waren die Leitmotive antigregorianischer Argumentation bereits angeschlagen. Sie seien an einigen Beispielen illustriert.

1. Wenrich von Trier 1. Wenrich von Trier

Es war und blieb ein Leitmotiv antigregorianischer Argumentation, zu betonen, dass die Forderungen und Entscheidungen des Papstes die Friedens- und Liebespflicht verletzten, die sozusagen das Markenzeichen der christlichen Botschaft und des Wirkens der Apostel sei. In teilweise beißender Ironie hat Wenrich von Trier dies in seinem an Gregor VII. selbst gerichteten Schreiben zum Ausdruck gebracht, das im Jahre 1080 entstand. Es stellte die Gewaltfrage ganz in den Mittelpunkt: „Man sagt, dass ihr Laien zum Blutvergießen ermuntert, die doch nur eine Entschuldigung für ihre Sünden suchen und irgendeine von euch gegebene Erlaubnis zum Anlass nehmen, ja als Vorschrift missbrauchen. Ihr sollt den Totschlag, wenn er aus irgendwelchen bestimmten Gründen geschähe, für unbedenklich erklären. Die Sache des heiligen Petrus sei mit Gewalt zu verteidigen, und wer dabei falle, dem versprächet ihr ob seines Gehorsams zuverlässig Freiheit von allen Sünden. Denn ihr würdet Rechenschaft ablegen für den, der einen Christen für Christus zu töten sich nicht gescheut habe. So sollt ihr allen Hörern unablässig predigen, so dass es heute sogar Bischöfe gibt, die unter anderen Ermahnungen auch diese von euch gehört zu haben bekennen.“ 6 Wenrich maskierte seine Kritik am Papst durch Fragen, die ihm angeblich die Gegner Gregors immer wieder stellten und um deren Beant6 Wenrich von Trier, Epistola, cap. 7, S. 296: homines videlicet seculares excusationes in peccatis querentes, quacunque parva assensus vestri occasione pro precepto abutentes, ad sanguinis eff usionem animare; homicidia, dum nescio qua occasione admittantur, parvipendenda esse; res beati Petri defendendas manu esse; in quo quicunque ceciderit, illius obsequio omnis peccati securitatem vos illi fidenter repromittere, vos pro illo rationem redditurum, quicunque christianum pro Christo non timuerit occidere. Ita vos omnibus auditoribus indesinenter predicare, adeo ut non desint hodie usque episcopi, qui inter alias exhortationes has quoque se a vobis fateantur audisse; siehe Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 214 f.; Fliche, Réforme grégorienne, S. 144 ff.

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wortung er Gregor bat, um für künft ige Auseinandersetzungen besser gewappnet zu sein und Gregor wirkungsvoll verteidigen zu können. Zumindest die beißende Ironie, in die Wenrich diese Fragen tränkte, war aber wohl seine eigene Zutat – wenn nicht mehr: „Wo, bitte, erhält der, der die päpstlichen Worte einsaugt, beim Trinken jenen ganz reinen Tropfen apostolischer Milch: ,Vergeltet nicht Böses mit Bösem und nicht Schmähung mit Schmähung, im Gegenteil, segnet‘ (1  Petrus 3,9)? Dort steht auch: ,Weidet die euch anvertraute Herde Gottes, nicht als wärt ihr die Herren in der Geistlichkeit, sondern als Vorbild der Herde‘, und: ,Ihr alle, begegnet einander in Demut‘, und zuvor: ,Seid dem König untertan, denn er ist der Herr‘, und: ,Fürchtet Gott und ehret den König‘, und: ,Unterwerft euch in aller Furcht euren Herren, nicht nur den guten und freundlichen, sondern auch den launenhaften‘.“ Warum, so fährt Wenrich in seiner rhetorischen Fragetechnik fort, „ließ dieser feine Zögling der apostolischen Brüste (und damit meinte er Gregor) diesen geistlichen Trank der Frömmigkeit im Schoß des heiligen Petrus aus Ekel unberührt? Warum unterließ er es, die auch aus den Brüsten des heiligen Paulus hervorquellenden Bäche der Güte aufzufangen? ,Ein Vorsteher‘, sagt dieser, ,darf nicht jähzornig und streitsüchtig sein‘. Und wiederum: ,Ein Diener des Herrn aber soll nicht streiten, sondern freundlich sein‘ und, fügt er hinzu, ,alle Gegner mit Sanftmut zurechtweisen‘.“7 7 Wenrich von Trier, Epistola, cap. 4, S. 290: Ubi, obsecro, apostolica verba sugenti purissima illa apostolici lactis gutta inter lactandum excidit: Non reddentes malum pro malo nec maledictum pro maledicto, sed e contrario benedicentes? Ubi et illa: Pascite et illum, qui in vobis est, gregem Dei, non ut dominantes in clero, sed forma facti gregis; et: Omnes invicem humilitatem insinuate; et in antecedentibus: Subiecti estote regi quasi precellenti; et: Deum timete, regem honorificate; et: Subditi estote in omni timore dominis, non tantum bonis et modestis, sed etiam discolis? Ubi, queso, delicatus iste apostolicorum uberum alumnus spiritualem hunc piarum mentium potum fastidiendo in beati Petri gremio preteriit? Cur, dum tanta confovetur diligentia, a beati Pauli quoque uberibus manantes dulcedinis rivos excipere supersedit? Oportet, inquit ille, episcopum non iracundum esse, non percussorem. Et iterum: Servum autem Domini non oportet litigare, sed mansuetum esse; et addit: Ad omnes, cum modestia corripientem eos qui resistant (Übersetzung nach FSGA 12b, S. 87 / 89). Zum Einsatz des rhetorischen Mittels der Ironie in der Zeit des Investiturstreits siehe jetzt Althoff / Meier, Ironie, bes. Kap. VII, 1, S. 105 ff.

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Dies ist nur ein Ausschnitt aus den von Wenrich zitierten Belegen aus den Briefen der Apostelfürsten, deren Mahnungen eindringlich ein Verhalten jedes Hirten einfordern, das in diametralem Gegensatz zu dem Verhalten steht, das Gregor mit seinem Amtsverständnis und seiner Amtsführung an den Tag legte. Demut, Freundlichkeit, Sanft mut, Friedensliebe und Güte sind die Tugenden der Hirten, die die Apostelfürsten anmahnen. Hier wird also mit zentralen Belegen des Neuen Testaments Gregors Umgang mit Ungehorsamen implizit als unchristlich kritisiert. Eine Reaktion aus dem direkten Umfeld Gregors ist nicht bekannt, es kennzeichnet aber wohl das Gewicht dieses Angriffs, dass er nicht gänzlich unbeantwortet blieb. Eine Reaktion der gregorianischen Partei im Reich findet sich nämlich im oben schon behandelten Traktat Manegolds von Lautenbach, der an der Arbeit seines Gegners verständlicherweise kein gutes Haar ließ. Mit gefälschten Schmähreden habe Wenrich den Papst wie die übrigen Führer und Lehrer der katholischen Religion zu verunstalten versucht, durch schiefes Zitieren und öffentliches Gotteslästern habe er sie mit schärfstem Tadel lächerlich gemacht.8 Diese Polemik zeigt implizit die Wirkung, die der Brief Wenrichs erzielte, der nach Manegold angeblich sogar in Frauengemächer Eingang gefunden hatte. Manegold bemühte sich dann auch, einzelne Argumentationen des Briefes in zwei seiner Kapitel ausführlich und inhaltlich zurückzuweisen. Schon in der Überschrift des Kapitels 43 seines Briefes an Gebhard von Salzburg spricht Manegold von den „schlecht eingeführten Zeugnissen des Apostels“. Deren Unvernünft igkeit sehe jeder ein, der den Kontext der Stellen, aus denen sie gestohlen seien, sorgfältig berücksichtige. Dies gelte schon für das Apostelwort: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem, Schmähung mit Schmähung, im Gegenteil, segnet.“ (1 Petrus, 3,9). Dieses Wort könne keinesfalls für diejenigen gelten, „die die Ratio ihrer Stellung und ihrer Aufgabe dazu zwingt, die Verbrechen der Schlechten zu züchtigen. Sie werden vielmehr gezwungen, durch Züchtigung zu heilen, durch Lügen zu beschuldigen, durch Schmähreden zu lästern. Und dadurch werden sie, die ihn oder sie vom Irrtum und vom Verderben befreien 8 Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum liber, Praefatio, S. 311: set et spurcissimis presulem apostolicum conviciis deturpavit ceterosque catholice religionis duces et preceptores ad levitatis sue testimonium, tum oblique notando, tum publice plasphemando, acerrima reprehensione derisit.

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möchten, dazu gebracht, für Gutes auch Schlechtes zurückzugeben. Sie werden gezwungen, solche Raserei zu verurteilen.“9 Manegold verweist hier wohl zu Recht darauf, dass die radikale Feindesliebe, wie sie das Vorbild Christi und ihm folgend der Petrusbrief fordert, in der Realität der Welt gerade von weltlichen Amtsträgern schwer zu verwirklichen ist. Die hatten aber die Apostel an den zitierten Stellen auch gar nicht im Auge, sondern die Hirten der christlichen Herde, die Priester. Manegold redet also in gewisser Weise an den Argumenten Wenrichs vorbei. Auch den dann folgenden Argumenten wird der Kritiker mit seiner Replik nicht wirklich gerecht: „Sorgt als Hirten für die euch anvertraute Herde Gottes, nicht mit Zwang, sondern freiwillig, wie Gott es will, auch nicht aus Gewinnsucht.“ (1 Petrus 5,2). Hier löst Manegold das Problem der Stellungnahme, indem er den Ball einfach zurückspielt: „Wenn unsere Gegner (conspiratores) sich entschieden, das zu beachten, würden sie sich nicht um Bistümer, Abteien, Propsteien und andere Ämter mit so viel Geld, so viel Dienstleistungen, so viel Meineiden und so viel Blutvergießen und, was schimpflich zu sagen ist, mit so viel Schmeicheleien bemühen.“10 Damit prangert Manegold zu Recht simonistische Praktiken heinricianischer Bischöfe an, die sich gewiss unter Gewinnsucht subsumieren lassen, doch konnte man die apostolische Ablehnung von Zwang, von der im Zitat vor allem die Rede ist, durchaus gegen Gregors Amtsführung in Stellung bringen. Hierauf geht Manegold nicht ein. 9 Ebd., cap. 43, S. 385: XLIII. Item de male introductis apostoli testimoniis. Sequuntur enim post hec nonnulla ex dictis apostoli testimonia, que sane omnia omnino illis contraria intelligit, quisquis circumstantias locorum, unde furata sunt, diligenter attendit. Sicut est illud: Non reddentes malum pro malo vel maledictum pro maledicto, sed e contrario benedicentes. Quod isti nequaquam faciunt, qui eum, quem loci et officii sui ratio cogit pravorum flagitia corripere, corripiendo curare, tot mendatiis infamare, tot conantur convitiis plasphemare, et in hoc convincuntur pro bonis etiam mala reddere, qui eum, qui eos ex errore cupit extrahere, a perditione liberare, tanta vesania conantur dampnare. 10 Ebd.: Illud etiam quod sequitur: Pascite eum qui in vobis est gregem Domini providentes, non coacti, sed spontanee secundum Deum neque turpis lucri gratia et cetera nostri conspiratores si servare decernerent, non ad episcopatus, abbatias, preposituras et cetera prelationis officia tot premiis, tot corporalibus servitiis, tot periuriis, tot demum sanguinum eff usionibus et, quod turpe est etiam dicere, licet nonnullos eorum manifestum sit perpetrasse, lenociniis aspirarent.

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Eine ähnliche Technik des zielbewussten Missverstehens wandte Manegold gegen eine weitere Forderung des Petrusbriefes an: „Behandelt einander in Demut.“ Er stellte dem nur die rhetorische Frage entgegen: „Wie werden die dem gerecht, die gegen ihren Vorgesetzten mit unerhörtem Eigensinn übermütig sind?“11 Mit dem Vorgesetzten war sicher Papst Gregor gemeint, aber wurde der in seinem Verhalten der Demutsforderung gerecht? Manegold ist auch hier einer inhaltlichen Auseinandersetzung eher ausgewichen: Die Relevanz einer ethischen Norm ist ja sicher nicht damit erledigt, dass sich beide Parteien nicht an sie halten. Am überzeugendsten argumentiert Manegold wohl gegen die von Wenrich zitierten Passagen des Apostelbriefes, die apodiktisch befehlen, den König zu ehren. Hier sagt er entschieden, rex zu sein sei kein nomen naturae, sondern ein Amt (officium). Wenn ein König daher aus gewissen Gründen seines Amtes enthoben werde, „sei er nicht mehr, was er war“ (non est quod erat). Gegen einen solchen König gebe es keine Gehorsamspflicht, sondern die Pflicht zum Widerstand.12 Dann aber handelt Manegold die weiteren Argumente Wenrichs nur noch summarisch ab: „Unnötig ist es, alle anderen Zeugnisse zurückzuweisen, weil sie Zeugnisse des eigenen Irrtums sind, auf die das Wort des Psalmisten zutrifft: ,Er gräbt ein Loch und schaufelt es aus, doch er stürzt in die Grube, die er selbst gemacht hat‘ (Psalm 7,16). Denn wenn sie die herangezogenen Zeugnisse sorgfältig bedacht hätten, hätten sie nicht all das Schlimme gegen die Kirche getan, was sie getan haben, sondern sich bemüht, die ganze Kontroverse auf geistliche Art und Weise gütlich beizulegen.“13 11 Ebd.: Illud etiam: Omnes invicem humilitate insinuate, qualiter isti servabunt, qui contra prelatum suum inaudita pervicatia superbiunt? 12 Ebd.: Rex enim non nomen est naturae, sed officii, sicut episcopus, presbyter, diaconus. Et cum quilibet horum certis ex causis de commisso sibi officio deponitur, non est quod erat, nec honor officio debitus postea est inpendendus. Quisquis ergo amissae dignitatis postmodum sibi reverentiam inpendit, potius prevaricator quam legum servator existit; quamquam et si in ipso inperio quod sit contra Dominum inperant, nullatenus sit obediendum, sed omni libertate resistendum. 13 Ebd., S. 385 f.: semet ipsos penitus expugnant et vincunt omnemque nostrae responsionis operam vacuam et inanem ostendunt, dum proprii erroris inventores et, licet nolentes, tamen destructores existant, congruitque illud psalmigrafi: Lacum aperuit et effodit eum et incidit in foveam, quam fecit. Nam ipsi, si prescripta testimonia fideliter considerarent, nequaquam contra suum pastorem

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Dies ist einer der wenigen Fälle, in denen man eine inhaltliche Auseinandersetzung von Vertretern der beiden Parteien zu Fragen des rechten Verständnisses der Tradition, die an konkreten Belegstellen ausgetragen wird, genauer verfolgen kann. Die Auseinandersetzung zeigt, wie schwierig es war, eine exakte und unstrittige Lehre aus den Autoritäten zu ziehen, und wie leicht, zu argumentieren, die Gegenseite habe die Bedeutung und den Sinn der herangezogenen Belegstellen falsch eingeschätzt, sie habe den Kontext nicht genügend berücksichtigt, oder auch, sie werde den gestellten Anforderungen ja selbst nicht gerecht. Manegold hat den scharfzüngigen Trierer Gelehrten Wenrich aber noch bei einer zweiten Geschichte zu widerlegen versucht. Wenrich hatte sich nämlich auch des Alten Testaments bedient, als er die angeblichen Argumente der Gegner Gregors zusammenstellte. Diese nahmen nach Wenrich die Reaktionen König Salomos auf die Angriffe, die dessen Gegner auf seine Königsstellung unternahmen, als Vorbild für die Reaktionen, die in der Gegenwart Heinrich IV. auf die Angriffe Gregors erlaubt seien. So schlugen sie Gregor quasi mit seinen eigenen Waffen: „Es ist sattsam bekannt, sagen sie, mit welcher Gesinnung der weiseste der Menschen (Salomo) den Angriff auf das ihm anvertraute Reich aufnahm; mit welcher Schnelligkeit er an dem Besetzer seines Thrones, dem Führer der Gegenpartei, und an dem Priester selbst, mit dessen Autorität dies geschah, Rache übte. Adonija ließ er töten, mit Joabs Blut besudelte er die Hörner des Altars, an die sich jener klammerte, Abiathar verstieß er für immer aus dem Priesteramt und setzte den Priester Sadoch an seine Stelle. Auch schreckte Salomon nicht vor dem Brudermord zurück gegenüber dem, der in sein Reich gar nicht eingefallen war, sondern es nur begehrt hatte.“ (1 Könige 2,13–35). In der Tat boten diese Vorgänge beim Kampf um Salomos Thron einige verwertbare und deutliche Analogien für angemessenes Verhalten im Kampf zwischen Heinrich und Gregor, wenn man denn die biblischen Geschichten als direkte Handlungsanweisungen auffasste, wie es die Gregorianer mit anderen Geschichten ja auch getan hatten. In diesem Sinne lässt Wenrich denn auch die ihn angeblich bedrängenden Heinritanta iracundia efferbuissent, nullatenus tot contentionum certamina concitarent, tot verba reprehensibilia et plasphemiae plena iactitarent, pacem aecclesiae non scinderent, omnem controversiam non armis carnalibus superare, sed spiritali ratione studerent componere.

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cianer sehr wortgewaltig argumentieren: „Sollte dieser (Heinrich) jenen (Gregor) nicht verfolgen, den gottlosen Menschen, den verbrecherischen Menschen, berüchtigt durch Verrat, verabscheuungswürdig durch Meineide, der nach gemeinsamem Urteil des gesamten Erdkreises nicht eines falschen Verdachtes, sondern eines offenbaren Verbrechens schuldig ist und nicht so viele Köpfe hatte, als er Kapitalverbrechen zuließ? … Soll dieser davor zurückschrecken, gegen gottlose Untertanen, Fahnenflüchtige und Vaterlandsverräter Rache zu üben?  … Soll dieser einen Menschen, der so viel Böses anstiftete, ihn in so vielen Äußerungen ungerecht verdammte, unter so vielen Vorurteilen exkommunizierte, durch schimpfliche Verunglimpfung ihn oft und oft in Schande zu bringen versuchte, ihn in Schreiben, denen apostolische Nüchternheit fremd war, die seiner Frechheit aber würdig waren, zu entehren suchte, der seinen grimmigsten Feind gegen sein Reich und sein Haupt losschickte: diesen Menschen, sage ich, sollte er lieben und seinen Nacken seinem Gespött bis zum Zerschmettern beugen?“14 In der Tat bot das Beispiel Salomos ganz andere Optionen für das Verhalten Heinrichs gegenüber Gregor und seinen Helfern, wenn man es denn als Präfiguration der gegenwärtigen Problemlage akzeptierte. Die von Wenrich vorgetragenen und hier referierten Argumente haben ganz offensichtlich gewirkt, denn Manegold widmete sich im 42. Kapitel seines Traktats ausschließlich „den falsch eingeführten Beispielen Salomos“ und 14 Wenrich von Trier, Epistola, cap. 4, S. 288 f.: Hominum, aiunt, sapientissimus, satis notum est, debiti sibi invasionem regni quo animo acceperit; in throni sui possessorem, in eum qui contrariae partis erat ducem, in ipsum, cuius id auctoritate fiebat, sacerdotem, quanta celeritate vindictam intorserit. Adoniam vita privavit, Ioab sanguine cornu altaris, quod ille tenebat, foedavit, Abiathar autem, substituto sacerdote Sadoch, sacerdotio in aeternum amovit. Et Salomon fratricidium non exhorruit in eum, qui regnum eius non invaserat, sed affectaverat: iste non eum persequeretur, hominem impium, hominem scelestum, proditione infamem, periuriis execrabilem, qui non falsae suspicionis, sed aperti sceleris communi orbis terrarum iudicio reus, non tot habuit capita, quot admisit capitalia? … iste in inpios cives, in viros desertores, in patriae suae proditores vindictam facere tantopere abhorrebit? … iste hominem tot malorum incentorem, qui eum tot contionibus iniuste damnavit, tot preiudiciis excommunicavit, turpibus insectationibus totiens infamare contendit, litteris apostolica sobrietate alienis, sua vero procacitate dignissimis, dehonestare temptavit, acerrimum hostem in regnum et caput eius inmisit: istum, inquam, hominem diligere et cervicem suam ludibrio eius usquequaque conculcandam poterit substernere?

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versuchte damit, die Argumentationen Wenrichs zu konterkarieren. Es dürfte nicht überraschen, dass er zu dem dezidierten Urteil kam, dass diese Argumentationen nicht überzeugten: „Was kann schamloser und schändlicher sein, als das Tun derjenigen, die nicht erröten, die göttlich inspirierte Heilige Schrift durch falsche Interpretationen umzustürzen, und nicht davor zurückschrecken, sie zur Begünstigung eigener Begierden zu entstellen.“15 Es lohnt sich, den auch an dieser Stelle möglichen Vergleich der unterschiedlichen Interpretationen derselben Bibelstellen durch die beiden Parteien genauer zu verfolgen. Dazu muss man allerdings tief in die Details der biblischen Geschichte einsteigen. In der Tat ging nach dem Ausweis der Bibel König Salomo mit einiger Härte gegen seine weltlichen und geistlichen Gegner vor, die sein Königtum direkt oder indirekt angriffen. Auf den ersten Blick ergeben sich also durchaus Parallelen zur Situation Heinrichs IV. Daher sind die Argumente interessant, die Manegold beibringt, um zu beweisen, dass dieser Fall sich gar nicht als Vorbild für das Verhalten Heinrichs IV. gegenüber Gregor und den Gegenkönigen eigne. Programmatisch formuliert er schon einleitend: „Wer den Grund der Tötung von Adonija und Joab sowie den Ausschluss Abiathars vom Priestertum sorgfältig untersucht, wird das Beispiel nicht annehmbar finden“,16 um aus ihm Verhaltensnormen für die Auseinandersetzung zwischen Heinrich und Gregor zu gewinnen. Das ergibt sich für Manegold aus folgenden Gründen: Einmal sei der Grund für die Tötung Adonijas nicht der Angriff auf Salomos Königtum, sondern dessen Bitte

15 Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum liber, cap. 42, S. 383 f.: XLII. De exemplis Salomonis falso introductis. … Quid enim istis impudentius, quid potest esse nefandius, qui sacram scripturam divinitus inspiratam non erubescunt falsa interpretatione subvertere et proprias fovendo libidines non exhorrent depravare? Nimmt man allerdings Manegolds methodische Grundsätze ernst (vgl. dazu Hartmann, Manegold, S. 131 ff.), dann hat er im Falle seiner Kritik an Wenrich die circumstantia, den Kontext der biblischen Erzählung, den er doch für so wichtig hält, vernachlässigt. 16 Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum liber, cap. 42, S. 383: Unde inprimis illud Salemonis exemplum, ubi illum fratrem suum Adoniam privata ultione pro regni invasione trucidasse asserit, Ioab post illum declinantem interfecisse, Abiathar sacerdotem sacerdotio privasse, nequaquam sic accipiendum pervidebit, quicunque causam interfectionis eorum diligenter inquirit.

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um die Erlaubnis zur Heirat mit Abischag gewesen, die er an Salomos Mutter Bethsabe richtete. Die Mutter bat daraufhin Salomo, in diese Heirat einzuwilligen. Salomo reagierte auf genau diese Bitte in der Tat heftig und rief aus: „Gott soll mir dies und das antun, wenn dieses Ansinnen Adonija nicht das Leben kostet  … Noch heute muss Adonija sterben.“ (1 Könige 2,23–24). Formal hat Manegold auf den ersten Blick Recht, wenn er einen direkten Zusammenhang der Tötung Adonijas mit seinem Angriff auf Salomos Königtum verneint. Doch lässt er bei seiner Interpretation aus, dass Salomo auf die Bitte der Mutter um die Erfüllung von Adonijas Wunsch als Erstes ausgerufen hatte: „Warum bittest du für Adonija um Abischag aus Schunem. Fordere doch gleich das Königtum für ihn. Er ist ja mein älterer Bruder und an seiner Seite stehen der Priester Abiathar und Joab, der Sohn des Zeruja.“ (1 Könige 2,22). Für Salomo stärkte die Heirat die ohnehin starke Stellung seines älteren Bruders so, dass sein, Salomos, Königtum dadurch unmittelbar gefährdet wurde. Diesen Zusammenhang will Manegold aus begreiflichen Gründen nicht sehen. Er ist aber evident. Auch seine weitere Beweisführung beruht auf dem Übergehen eklatanter Zusammenhänge zugunsten formaler Aussagen: Auch Joab sei nicht getötet worden, weil er zu Adonija hielt, sondern weil er das Blut zweier unschuldiger Fürsten vergossen hatte.17 Dies hatte Salomo in der Tat als Begründung angegeben, als er Joab im Zelt des Herrn töten ließ (1 Könige 2,31–32). Doch ist evident, dass sich Joab ins Zelt des Herrn flüchtete, als er von der Tötung Adonijas erfuhr und um sein Leben fürchtete, weil er zu Adonija gehalten hatte. Das Gleiche gilt für den Priester Abiathar: Manegold begründet seine Absetzung durch Salomo formal damit, dass sich so der Spruch des Herrn erfüllt habe, wie es in 1 Könige 2,27 auch formuliert ist.18 Den Tod verdient aber hatte Abiathar nach Salomos Meinung eindeutig dadurch, dass er Salomos Bruder Adonija unterstützt hatte.

17 Ebd., S. 383 f.: Neque enim Ioab occisus est, quia post Adoniam declinaverat, sed quia sanguinem innocentem duorum principum, simulata pace illos interficiens, fundebat. 18 Ebd., S. 384: Et causa eiectionis Abiathar sacerdotis alia non invenitur, nisi ut sermo Domini impleretur, quem locutus fuerat super domum Heli peccantis in Silo.

1. Wenrich von Trier

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Die komplizierte Entwirrung der unterschiedlichen Interpretationen einer Salomo-Geschichte bringt also ein ziemliches eindeutiges Ergebnis: Die Analogie, die Wenrich von Trier zwischen dieser Geschichte und der Situation Heinrichs IV. herstellte, hatte durchaus einiges für sich. Nach der Methodik der Zeit, die Erzählungen des Alten Testaments als Präfigurationen gegenwärtigen Geschehens aufzufassen und so die Heilsgeschichte unter Einschluss der Gegenwart als Einheit zu verstehen, überzeugte diese Analogie eigentlich vollständig. Die Einwände Manegolds treffen dagegen nicht ins Zentrum. Sie bieten formale Argumente, die den Kontext, für den sie generiert wurden, vollständig ausblenden. Der Versuch Manegolds, die bohrenden Fragen der Gegner Gregors zurückzuweisen, muss daher in diesem Fall wohl als gescheitert qualifiziert werden. Leider ist eine Schrift des Gegenpapstes Wibert-Clemens verloren, die allem Anschein nach gegen die Gewaltanwendung durch die Kirche und das Papsttum in sehr ähnlicher Weise Stellung nahm wie Wenrich. Der Gegenpapst zog offensichtlich aus dem Neuen Testament die Folgerung: „Christlichen Männern kommt es zu, zu lehren, nicht Krieg zu stiften; das Unrecht gleichmütig zu dulden, nicht es zu rächen. Nichts von jenem tat Christus, nichts irgendeiner der Heiligen.“19 Diese Position ließ sich wirkungsvoll mit den Handlungen und Forderungen Gregors VII. kontrastieren. Einige der von Wibert-Clemens in der verlorenen Schrift herausgearbeiteten Argumente sind dadurch erhalten geblieben, dass sie in Werken Anselms von Lucca und Widos von Ferrara referiert werden. Aus der Tradition bewiesen wird dort die Notwendigkeit einer prinzipiellen Ablehnung des Einsatzes von Gewalt. Es überrascht nicht, dass unter den Beweisen, die für diese Position angeführt werden, ausschließlich solche des Neuen Testaments und der Kirchenväter begegnen, während das Alte Testament unerwähnt bleibt. Auf dieser Basis konnte Wibert-Clemens formulieren: „Wer verursachte jemals so viele Kriege der Christen, tötete so viele Menschen?  … Was wird er (Gregor) im Gericht sagen, wenn das Blut der vielen Erschlagenen wider ihn schreit: 19 Wido von Ferrara, De scismate Hildebrandi, cap. 8, S. 541: Et docere est christianorum virorum, non bella movere, pati aequanimiter iniurias aliorum, non ulcisci. Nichil tale Iesus, nichil tale quisquam legitur fecisse sanctorum. Vgl. Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 237 ff.

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V. Gegenstimmen heinricianischer Parteigänger

Räche, Herr, unser Blut.“20 Schon Wenrich hatte Gregor die gleichen Fragen gestellt, als er dessen Gegner behaupten ließ, es sei die Lehre dieses Papstes, „dass die Sache des heiligen Petrus mit Gewalt zu verteidigen sei; dass ihr dem, der dabei umkomme, fest versprächet, er sei durch seinen Gehorsam frei von jeder Sünde. Ihr würdet Rechenschaft für den ablegen, der sich nicht gescheut habe, einen Christen für Christus zu erschlagen.“21 Man sieht an diesen Belegen, dass die Gegner Gregors durchaus die Schwachstellen der gregorianischen Positionen erkannt hatten.

2. Der Liber de unitate ecclesiae conservanda 2. Der Liber de unitate ecclesiae conservanda

Was Wenrich und Wibert-Clemens den Gregorianern vorhielten, hat ein Jahrzehnt später ein unbekannter Hersfelder Mönch in umfassender und grundsätzlicher Form verstärkt, indem er die Verpflichtung, „die Einheit der Kirche zu wahren“, in seiner Schrift (De unitate ecclesiae conservanda) zur obersten Verpflichtung aller Parteien erhob.22 Zur Bewahrung der Einheit waren nach diesem Autor aber ausschließlich friedliche Mittel denkbar, wie sich gerade am Beispiel Christi vielfältig zeigen ließ. Gleiches ließ sich von Gregors Verlautbarungen und Handlungen aber nicht behaupten. Aus dieser Perspektive konnte man das ganze Tun der Gregorianer be- und verurteilen, was der Verfasser mit großem Aufwand und großer Gelehrsamkeit, aber weitgehend ohne polemische Verzerrung tat: Sie verstießen gegen den Geist des Friedens und der Liebe, der es der Kirche lediglich erlaube, ein geistliches Schwert zu führen.23 Diese Streit-

20 Wido von Ferrara, De scismate Hildebrandi, cap. 15, S. 545: Quis umquam christianorum tot bella movit, tot homines interemit? … Quid igitur in iuditio dicturus erit, cum tot occisorum adversus eum sanguis clamabit:“ Vindica, Domine, sanguinem, sanguinem nostrum.“ 21 Wenrich von Trier, Epistola, cap. 7, S. 296: res beati Petri defendendas manu esse; in quo quicunque ceciderit, illius obsequio omnis peccati securitatem vos illi fidenter repromittere, vos pro illo rationem redditurum, quicunque christianum pro Christo non timuerit occidere (Übersetzung nach FSGA 12b, S. 111). 22 Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 241 ff. 23 Vgl. Liber de unitate ecclesiae conservanda, S. 187, 213, 222, 224; Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 242.

2. Der Liber de unitate ecclesiae conservanda

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schrift gilt daher – und wohl zu Recht – als die anspruchsvollste Abhandlung der heinricianischen Seite. Als Leitmotive galten dem Autor die Worte zweier Kirchenväter, die diese Einheit als das höchste zu bewahrende Gut hinstellten. Einmal das Wort des heiligen Augustinus: „Wehe jenen, die die Einheit der Kirche hassen, indem sie sich unterstehen, unter den Menschen Parteiungen zu machen“; zum anderen das dictum des heiligen Cyprian: „Wer nicht die Einheit festhält, hält nicht den Glauben an den Vater und den Sohn, hält nicht das Leben und das Heil.“24 Es ist unmöglich, alle die Stellen zu zitieren und zu diskutieren, in denen der Verfasser mit den einschlägigen Autoritäten nachzuweisen versuchte, dass das Verhalten Gregors und seiner Anhänger den Frieden zerstörte, nicht auf Einheit, sondern auf Spaltung zielte und deshalb allen göttlichen, apostolischen und kirchenväterlichen Forderungen und Mahnungen widersprach. Einige Beispiele müssen genügen. Im angesprochenen Sinne deutete der Autor etwa das Geschehen in Canossa: „Der König aber begab sich nach Italien, um dem römischen Bischof Sühne zu leisten für die Schuld, wegen der er ihn exkommuniziert und ihm schon gleichsam die Herrschaft entzogen hatte. Er legte königlichen Prunk und Gewandung ab und zeigte sich in jeder Beziehung als demütiger Büßer und ließ nicht eher ab, sich in vollem Gehorsam zu demütigen, als bis er in die Huld des Papstes zurückgekehrt war und zur Bestätigung der Wiederversöhnung mit der Kirche aus der Hand des Papstes die heilige Speise des Leibes und Blutes des Herrn empfangen hatte, mit ihm zu Tisch gegangen war und dann in Frieden entlassen wurde“.25 Damit hatte er das Verhalten und die Absichten Heinrichs IV. in Canossa charakterisiert als in jeder Hinsicht vorbildlich für jeden Sünder, der Buße tut. Heinrich hatte ohne Zweifel seinen Beitrag zur Wiederher-

24 Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs IV., 3, S. 592 ff. 25 Liber de unitate ecclesiae conservanda, lib. 1, cap. 6, S. 191: Sed rex profectus est in Italiam satisfacturus Romano pontifici pro culpis, quibus se excommunicaverat et quasi privatum regno iam effecerat, depositoque cultu regio et habitu supplicem se per omnia ac poenitentem obtulit, nec prius omni officio humilitatis impenso destitit, donec in gratiam cum papa rediit et ad comprobandum ecclesiasticae reconciliationis testimonium sacram communionem corporis et sanguinis Domini de manu pontificis accepit, mensam cum eo adiit, ac deinde dimissus est in pace (Übersetzung nach FSGA 12b, S. 295).

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V. Gegenstimmen heinricianischer Parteigänger

stellung des Friedens geleistet. Diesen Frieden aber bewertet der Autor, indem er nun Gregors Handlungen und Absichten beleuchtet, wie folgt: „In einen Frieden freilich, wie ihn Judas heuchelte, und nicht, wie ihn Christus hinterließ. Es war nämlich auch eine Abordnung seiner Feinde anwesend, die mit allen Mitteln versuchten, diesen eben eingegangenen Bund der Versöhnung zu zerbrechen. Ihnen antwortete der Papst mit folgenden Worten: ,Seid nicht besorgt, denn ich gebe ihn euch noch schuldiger zurück.‘ Einen Menschen mit Absicht noch schuldiger zu machen, vor allem einen König, den zu ehren der Apostel Petrus befahl, das nenne ich nicht ,Christi Schafe zu weiden‘. Besonders denjenigen, sage ich, schuldiger zu machen, den seine Schuld reut, das heißt nicht, ein Priester des Herrn zu sein, da der Herr selbst im Evangelium sagt, dass mehr Freude im Himmel sei über einen einzigen reuigen Sünder als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. Wird da nicht auch jenes ehrfurchtgebietende Sakrament des Leibes des Herrn missachtet, an dem der König am Altar zum Zeichen der Versöhnung mit der Kirche teilnahm? Ist doch dieses Sakrament der Barmherzigkeit auch Zeichen der Einheit und Band der Liebe.“26 Ohne große Polemik hat der Autor in seiner Darbietung des Canossa-Geschehens Heinrich IV. attestiert, wie Christus den wahren Frieden angestrebt zu haben, Papst Gregor dagegen, wie Judas einen geheuchelten. Nirgendwo sonst ist dieses böse dictum Gregors, dass Heinrich noch schuldiger zurückgegeben werde, bezeugt. Es kommt aber auch nicht darauf an, ob es historisch haltbar ist. Die Darstellungsabsicht des Autors zielt in jedem Fall darauf, Gregor als Feind des Frie26 Ebd., S. 191 f.: qualem scilicet pacem Iudas simulavit, non qualem Christus reliquit. Aderat enim et legatio hostium suorum quaerentium omnibus modis interrumpere initum hoc reconciliationis pactum, quibus papa rescripsit talibus verbis: Ne solliciti, inquiens, sitis, quoniam culpabiliorem eum reddo vobis. Certe culpabiliorem facere aliquem, praecipue autem regem, quem praecipit Petrus apostolus honorificare, hoc non est oves Christi pascere. Culpabiliorem, inquam, facere praecipue eum, quem poeniteat culpabilem existere, hoc non est sacerdotem Domini esse, cum ipse in euangelio Dominus dicat, gaudium fieri in caelo super uno peccatore poenitentiam agente, quam super nonaginta novem iustis, qui non indigent poenitentia. Nunquid terribile et illud sacramentum corporis Domini contemnitur, quo rex ad altare in testimonium ecclesiasticae reconciliationis communicatur? quod certe sacramentum pietatis signum quoque est unitatis et vinculum caritatis (Übersetzung nach FSGA 12b, S. 295 / 297).

2. Der Liber de unitate ecclesiae conservanda

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dens und der Versöhnung auszuweisen, der seine Hirtenpflichten gröblichst verletzte.27 Ähnlich geht der unbekannte Autor an vielen Stellen vor. So wendet er sich etwa direkt an die Gregorianer: „Seht nur, ihr Parteigänger Hildebrands; um mich so auszudrücken, ihr betreibt seit 18 Jahren und mehr Kämpfe und Aufstände, und noch nicht einmal jetzt neigt ihr dem Frieden oder der Eintracht zu, sondern ,ihr tötet und eifert, führt Krieg und streitet‘ nach dem Wort des Apostels Jakobus (Jakobus 4,2; 3,14–18 das Folgende). ,Wenn ihr aber bittere Eifersucht und Streitigkeiten in euren Herzen hegt, dann prahlt nicht und lügt nicht gegen die Wahrheit. Denn dies ist nicht die Wahrheit, die von oben herabkommt, vom Vater des Lichts, sie ist vielmehr weltlich, tierisch, teuflisch. Wo nämlich Eifersucht und Streit herrschen, da ist Unbeständigkeit und jedes schlechte Werk. Die Wahrheit aber, die von oben stammt, ist zuerst keusch, dann friedliebend, freundlich überredend, übereinstimmend mit dem Guten, voller Barmherzigkeit und guter Früchte, sie urteilt unparteiisch ohne Heuchelei, und die Frucht der Gerechtigkeit wird in Frieden für jene gesät, die Frieden schaffen.‘“28 Angesichts der gregorianischen Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein, die von Gott selbst gegeben ist, kann man schon einigermaßen sicher sein, dass die Charakterisierung des Wesens dieser Wahrheit hier bewusst deshalb so ausführlich gegeben wurde, weil sie gänzlich anders aussah als die Art und Weise der Amtsführung, die man von Gregor kannte. 27 Zur jüngst erschienenen „Streitschrift“ von Fried, Canossa, die eine gänzlich andere Sicht auf die Geschehnisse als bisher üblich plausibel machen will, siehe die Bemerkungen im Vorwort dieses Buches. 28 Liber de unitate ecclesiae conservanda, lib. 2, cap. 6, S. 216: Ecce enim vos, ut ita dicam, particulares Hildebrandi, per hos XIIII aut eo amplius annos praelia et seditiones agitis, et ne adhuc quidem paci vel concordiae acquiescitis, sed, sicut vere ait Iacobus apostolus, occiditis et zelatis, belligeratis et litigatis. Quodsi zelum amarum habetis et contentiones in cordibus vestris, nolite, inquit, gloriari et mendaces esse adversus veritatem. Non est ista sapientia desursum descendens a patre luminum, sed terrena, animalis, diabolica. Ubi enim zelus et contentio, ibi inconstantia et omne opus pravum. Quae autem desursum est sapientia, primum quidem pudica est, deinde pacifica, modesta, suasibilis, bonis consentiens, plena misericordia et fructibus bonis, iudicans sine simulatione, fructus autem iustitiae in pace seminatur facientibus pacem (Übersetzung nach FSGA 12b, S. 383).

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V. Gegenstimmen heinricianischer Parteigänger

An anderer Stelle scheint der Verfasser, als er die bischöflichen Anhänger der Gregorianer charakterisierte, auf Formulierungen anzuspielen, die wir von Bonizo von Sutri kennen: „Indem sie nun göttliche und menschliche Rechte hintanstellten, begann bei solchen Bischöfen Palast und Kurie zu sein; und aus ihrem Mund erging eine so grausame Rede, dass sie ,das Böse gut und das Gute böse‘ nennen, und sie nannten die glückselig, die für die Partei Hildebrands kämpften, sich erhoben und mordeten.“29 Dies erinnert sehr genau an die schon behandelte Seligpreisung derjenigen, die Verfolgung ausüben um der Gerechtigkeit willen, wie sie Bonizo vertrat.30 Da aber ist für den Autor eine Grenze überschritten, die nur Häretiker überschreiten. Bei der Frage der Gewalt im Dienste der Kirche bleibt er unerbittlich. Es ist des Teufels, was die Gregorianer verkünden: „Es sei Aufgabe des Glaubens und der Gläubigen in der Kirche, die zu töten und zu verfolgen, die mit dem exkommunizierten König Heinrich Gemeinschaft hielten, ihn unterstützten und die Bemühungen ihrer Seite nicht aufgeben wollten. Neu und unerhört ist eine solche Verkündigung, da der Kirche kein anderes Schwert erlaubt ist als ,der Geist, der das Wort Gottes ist‘.“31 Der Hersfelder Mönch ist ein hervorragendes Beispiel für die Tatsache, dass sich die Parteien auch im Jahre 1090 noch in ungebrochener Gegnerschaft und mit diametral entgegengesetzten Auffassungen gegenüberstanden.

3. Hugo von Fleury 3. Hugo von Fleury

Wie lange die intensiven Diskussionen um die Fragen der Gewaltanwendung durch die Kirche währten und wie breit die geographische Streuung wichtiger Beiträge war, sei zudem mit dem Beispiel des Hugo von Fleury 29 Ebd., cap. 8, S. 219: Inde, divinis humanisque legibus posthabitis, coepit apud eiusmodi episcopos esse palatium atque curia; et a facie eorum egressa est tam crudelis sententia, ut dicant malum bonum et bonum malum, praedicantes beatos esse, qui pro parte Hildebrandi faciant praelia, seditiones et homicidia (Übersetzung nach FSGA 12b, S. 393). 30 Vgl. dazu oben Einleitung, S. 11. 31 Liber de unitate ecclesiae conservanda, cap. 11, S. 222: cum hoc sit, inquiunt, fidei atque fidelium in ecclesia, occidere scilicet ac persequi eos, quicunque communicantes vel faventes excommunicato regi Henricho noluerunt declinare post partium suarum studia. Nova et inaudita est praedicatio eiusmodi, cum ecclesia non habeat sibi concessum gladium nisi spiritus, quod est verbum Dei (Übersetzung nach FSGA 12b, S. 403).

3. Hugo von Fleury

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gezeigt, der in der Zeit Papst Paschalis II. einen Traktat über die königliche potestas und die priesterliche dignitas verfasste.32 Nach eigener Aussage hat den französischen Mönch vor allem der zweite Brief Gregors VII. an Bischof Hermann von Metz aus dem Jahre 1081 zu einer Widerlegung herausgefordert, die er dem englischen König Heinrich I. widmete. Insofern ist es nicht überraschend, dass er sich von gregorianischen Positionen deutlich unterscheidet, was die Amtsführung eines legitimen Königs und das legitime Verhalten seiner Untergebenen angeht – Themen, die Hugo im vierten Kapitel des ersten Buches ausführlich abhandelt. Königsherrschaft ist für ihn unzweifelhaft gottgewollt und notwendig, weil der König mit seinem terror das ihm untergebene Volk vom Bösen abhält und den Gesetzen unterordnet.33 Dem königlichen terror disciplinae weist Hugo gerade dort Aufgaben zu, wo der Priester mit der Predigt des Glaubens nicht genüge. Im Übrigen weist er auch darauf hin, dass man schlechten Königen gleichfalls untertan sein müsse. Als Beispiele dienen Nabuchodonosor und Saul, und auch der Prophet Elias entzog sich dem König Ahab, nachdem er alle Propheten des Baal mit dem Schwert getötet hatte. Daher sei es geraten, für die Könige zu beten, nicht, sich ihnen zu widersetzen. Auch Moses habe gebetet, nicht gekämpft, als er das Volk durch das Rote Meer führte (Exodus 14,15) und der Pharao mit Wagen und Reitern in den Fluten ertrank. Nur einen Stab (virga) habe Moses gegen den Pharao erhoben. Auch Amalech sei besiegt worden, als Moses lediglich die Arme zu Gott erhob. Jericho sei durch den Klang der Posaunen gefallen. Und als der König Hiskia zusammen mit dem Propheten Jesaja Gott inständig bat (2 Könige 19), schickte der einen Engel in das Lager des Königs Sanherib von Assur und der erschlug in einer Nacht 185 000 Mann. Aus all dem, folgert Hugo, kann man ersehen, dass man schlechten Königen besser mit geistlichen Gebeten als mit weltlichen Waffen widerstehen kann. Auch Ambrosius von Mailand war den Verfolgungen der Kaiserin Iustina mit ständigen Gebeten und nicht mit Waffen begegnet. Dies habe auch Christus selbst gelehrt, und dann bringt Hugo

32 Mirbt, Publizistik, S. 73 f. 33 Hugo von Fleury, Tractatus de regia potestate et sacerdotali dignitate, lib. 1, cap. 4, S. 469: Ideo, inquam, Deus omnipotens caeteris hominibus regem, cui cum eis una nascendi moriendique conditio est, praetulisse cognoscitur, ut et suo terrore sibi subiectum populum a malo coherceat, et ut ad recte vivendum legibus subdat.

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V. Gegenstimmen heinricianischer Parteigänger

die bekannten Herrenworte: „Stecke dein Schwert in die Scheide. Alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen.“ (Matthäus 26,52). Und weiter: „Glaubst du nicht, ich könnte meinen Vater bitten, und er würde mir mehr als zwölf Legionen Engel senden?“ (Matthäus 26,53). Hugo schließt seine Ausführungen mit dem weisen und tröstlichen Hinweis: „Geduldig wartet Gott auf uns Sünder und gibt uns viel Zeit zur Buße. Er gibt uns damit ein Beispiel, wie wir die Schlechten ertragen sollen“.34 All diese Bemerkungen und Beispiele empfehlen den Christen dringend, die Anwendung von physischer Gewalt zu unterlassen und sich dem Gebet und der Hilfe Gottes anzuvertrauen. Hugos Ratschläge widersprechen der Theorie und Praxis der Gregorianer diametral. Auch wenn er gewiss als Heinricianer falsch eingeordnet wäre, zeigt sein Werk, dass es auch außerhalb der politischen Parteiungen Stimmen gab, die die Neuerungen des Reformpapsttums auf dem Gebiete der Gewaltanwendung durch die Kirche strikt ablehnten. Nach dieser exemplarischen Musterung der Argumentation einiger Anhänger der Heinricianer kann man ein doch eindeutiges Fazit ziehen. So wie die Gregorianer alles daransetzten zu belegen, dass der bewaff nete Kampf im Dienst und Auft rag der Kirche gottgewollt und gerechtfertigt sei, so haben ihre Gegner dies mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Argumenten bestritten. Dieses Ergebnis hatte bereits Carl Erdmann formuliert, als er der Entstehung des Kreuzzugsgedankens nachspürte.35 Nach den hier vorgelegten Untersuchungen lässt sich noch ein wenig genauer sagen, warum das so war: Die gregorianische Seite hat in intensiver Weise Belegstellen des Alten Testaments genutzt, um bewaffneten Kampf für den Glauben zu legitimieren; ihre Gegner haben dagegen vorrangig mit Belegen des Neuen Testaments die Friedenspflicht der Christen als Gegenposition begründet. Die neuen Geltungsansprüche des Papstttums in Kirche und Welt, die sich vor allem in einer strikten Verpflichtung aller Menschen zu Gehorsam gegenüber den Geboten des päpstlichen Stuhles manifestierten, haben aber zudem das Problem der Durchsetzung dieser Forderungen aufgeworfen. Zu lösen suchte man es durch die Legitimation 34 Ebd., S. 471: Pacienter etiam nos Dominus quotidie peccantes expectat dans nobis spacium penitendi, ut nostram pacientiam exerceat et informet suo exemplo, quo noverimus quantum nos oporteat tolerare malos. 35 Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 245.

3. Hugo von Fleury

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von Zwang und Gewalt, durch die die Bösen zum Guten genötigt oder mit Gewalt gezwungen werden sollten, wie es Gott selbst im Alten Testament vielfach praktiziert oder befohlen hatte. Dies war ein vorrangiges Beweisziel gregorianischer Streitschriften. Die Umsetzung dieser Theorie in die Praxis gelang den Gregorianern jedoch nicht mit durchschlagendem Erfolg, auch wenn viele gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern Heinrichs IV. unter der Fahne des Kampfes für die Interessen der Kirche geführt wurden. Darüber wird in Kapitel 8 noch einmal zu reden sein. Die ungehorsamen Christen, die Häretiker und Schismatiker, waren jedenfalls zunächst das Problem der Gregorianer, nicht die Heiden, auch wenn diese die Christen im Osten durchaus bedrohten, wie nachdrückliche Hilferufe aus Byzanz in dieser Zeit bezeugen.36 So war es wohl kein großer Schritt der Reformbewegung, noch vor dem Ende der inneren Auseinandersetzungen auch der Bedrohung durch die Heiden im Osten dadurch zu begegnen, dass man die christlichen Krieger zum bewaff neten Kampf gegen diese Feinde der Kirche aufrief. Die hierzu charakteristisch modifizierte Argumentation des Papsttums steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels.

36 Vgl. dazu Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs IV., 2, S. 340 ff.; 4, S. 445.

VI.

Papst Urban II. und die Gewalt gegen Ungläubige auf dem ersten Kreuzzug VI. Papst Urban II. und der erste Kreuzzug

Als schlagendes Beispiel für die Hinwendung der Kirche zur Gewalt in der Zeit des Reformpapsttums wird traditionell und auch heute noch die Kreuzzugsbewegung angeführt, mit der die Kirche die christlichen Ritter Europas in den Kampf gegen die Ungläubigen geschickt habe, zur Befreiung der heiligen Stätten in Palästina. Die Führung dieser Bewegung hatten zunächst eindeutig die Päpste inne, der erste Kreuzzug war ohne die Beteiligung von Königen durchgeführt und durch die Predigten Papst Urbans II. ausgelöst worden; dieser Papst hatte auch die geistlichen und weltlichen Führer der Kreuzfahrerheere bestimmt. Da sich diese Initiative zeitlich unmittelbar an die bisher behandelten Diskurse und Ereignisse anschließt, ist natürlich von besonderem Interesse, inwieweit auch hier gleiche oder ähnliche Argumentationsmuster benutzt wurden, die die Legitimation von Gewalt im Auft rage der Kirche leisteten – nun nicht gegen Ungehorsame, sondern gegen Ungläubige. Seinen Höhepunkt hatte dieser erste Kreuzzug im Juli 1099 in der Eroberung Jerusalems, die ein Massaker zur Folge hatte, in dem die christlichen Krieger die wehrlose muslimische und jüdische Bevölkerung der Heiligen Stadt nach der Einnahme so gut wie vollständig ausrotteten.1

1 Zu diesem Massaker siehe zuletzt Elm, Eroberung Jerusalems; Hay, Gender Bias; Kedar, Jerusalem Massacre; Angenendt, Toleranz und Gewalt, S. 232– 257; mit neuer Bewertung dann ders., Kreuzzüge, bes. S. 330 ff. In diesem Beitrag verwertet Angenendt Aspekte und Einsichten – insbesondere die Vorstellungen von der pollutio heiliger Orte durch Ungläubige, wie sie Psalm 79 zum Ausdruck bringt –, die bereits durch die intensiven Diskussionen beeinflusst sind, die wir in münsterischen Arbeitsgruppen mehrfach über die in diesem Buch vorgetragenen Thesen führten. Für kritische Einwände und viele Anregungen bin ich Arnold Angenendt sehr dankbar, auch wenn deutliche Unterschiede in unseren Akzentsetzungen geblieben sind. Sie betreffen vor allem die Rolle Urbans II. bei der Legitimation gewaltsamer Rache an den Ungläubigen wegen der pollutio der heiligen Stätten, die Angenendt nicht thematisiert.

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VI. Papst Urban II. und der erste Kreuzzug

Durch all dies wird die Frage unabweisbar, mit welchen Argumenten die Kirche die Gewalt gegen die Ungläubigen legitimiert hat. Diese Frage soll im Folgenden exemplarisch darauf fokussiert werden, ob auch das Massaker von Jerusalem zu den Konsequenzen gehörte, die die kirchliche Propaganda für eine gewaltsame Befreiung der heiligen Stätten bewirkte. Ob mit anderen Worten den Kriegern Europas in der Kreuzzugspropaganda, wie sie mit den Predigten Papst Urbans II. zum ersten Kreuzzug einsetzte, eine ähnliche Legitimationsbasis für die Vernichtung der Ungläubigen nahegebracht wurde, wie wir sie für den Kampf gegen die Ungehorsamen bereits kennengelernt haben. Schließlich gehörte Papst Urban II. zum engsten Kreis um Gregor VII. und war mit Sicherheit sehr vertraut mit der neuen Gewalttheorie der Kirche. Eine Verbindung zwischen dem Papst, der 1095 mit seiner Predigt in Clermont-Ferrand den ersten Kreuzzug auslöste, und dem Massaker von 1099 hat man in der bisherigen Forschung jedoch noch nicht hergestellt. Das Massaker wurde nicht in einen inhaltlichen Zusammenhang mit der oder den Kreuzzugspredigten gebracht, mit denen die Erlaubtheit, ja die Gottwohlgefälligkeit des gewaltsamen Vorgehens zur Befreiung der heiligen Stätten propagiert wurde. Das soll im Folgenden geschehen, und zwar dadurch, dass die Argumente rekonstruiert werden, mit denen Urban in seiner Predigt die Legitimität und die Notwendigkeit der gewaltsamen Befreiung der heiligen Stätten begründete, wodurch er der Bereitschaft der Krieger einen gewaltigen Schub gab, sich an das Unternehmen zu wagen. In diesen Argumenten, so sei thesenhaft vorweggenommen, findet sich der Schlüssel, der auch zu erklären hilft, wie es zu dem Massaker an der ungläubigen Bevölkerung Jerusalems kommen konnte. Der Erfolg dieser Predigt steht ja außer Zweifel, wobei nur mit einem Satz darauf hingewiesen sei, dass Urban sich mit einiger Sicherheit nicht allein auf die Wirkung seines Wortes in Clermont-Ferrand verlassen, sondern die Anliegen der Predigt viele Monate zuvor mit kirchlichen und weltlichen Magnaten in Südfrankreich ausführlich besprochen hat. Seine Gesprächspartner wurden dann die weltlichen und geistlichen Führer des Kreuzzuges.2 Es handelte sich mit anderen Worten bei der Predigt in Cler2 Zur Vorbereitung seiner Predigt in Clermont-Ferrand während eines mehrmonatigen Aufenthalts in Südfrankreich siehe Becker, Urban II., bes. Bd. 2, S. 381 ff.; Riley-Smith, Aufruf von Clermont, S. 51 f.

VI. Papst Urban II. und der erste Kreuzzug

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mont mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Inszenierung, deren Absichten zumindest den hochrangigen Zuhörern wohl bekannt waren. Diese Technik der Überzeugungsarbeit durch eine Predigt, der die Angesprochenen, sozusagen von Gott berührt, zustimmen, kennen wir auch durch andere Beispiele, nicht nur aus dem Zusammenhang des Kreuzzugsgeschehens.3 Mit den Argumenten dieser Predigt, so möchte ich aber vorrangig zeigen, hat Urban II. auch und gerade die Gewalt legitimiert, der dann die Bevölkerung Jerusalems, soweit sie ungläubig war, zum Opfer fiel. Damit soll allerdings nicht behauptet werden, dass die Argumentation bereits auf dieses Ziel ausgerichtet war. Man kann indes thesenhaft formulieren, dass Urban mit seiner Argumentation, die dann, wie mehrere Quellen bezeugen, durch andere Kreuzzugsprediger vielfältig verbreitet und wiederholt worden ist, die Rache der Kreuzfahrer an der Bevölkerung Jerusalems geradezu zum Programm gemacht hat. Konkret beabsichtigt dürfte das Massaker damit zwar nicht gewesen sein, es war aber eine naheliegende Folge der intensiven Nutzung der Gewaltpotentiale, die wiederum bestimmte Texte des Alten Testaments boten. Man subsumiert diese Texte heute, wie schon mehrfach betont, unter dem Stichwort der Bannideologie.4 Es handelt sich um Texte, die auch davon handeln, wie Gott seinem auserwählten Volk die Vernichtung der ungläubigen und deshalb unreinen Völker befahl. Da Reinheitsvorstellungen im religiösen Feld allgemein einen hohen Stellenwert haben, ist die Verunreinigung, die pollutio, folgerichtig ein Frevel, der zwingend Vergeltung fordert.5 Diese Potentiale hat Urban in seiner Predigt ganz offensichtlich aktiviert. 3 Zum Inszenierungscharakter der Kreuzzugspredigt Bernhards von Clairvaux, durch die er König Konrad III. im Dom zu Speyer 1146 zur Kreuznahme bewog, siehe Althoff, Demonstration und Inszenierung, bes. S. 248 ff.; Schwarzmaier, Bernhard von Clairvaux, bes. S. 70 ff.; anders Dinzelbacher, Bernhard von Clairvaux, S. 293–296, der wie immer Spontaneität am Werk sieht. Zu anderen „inszenierten“ Predigten siehe Althoff, Spielregeln, S. 177, Anm. 54, u. S. 30, Anm. 24. 4 Vgl. dazu Zenger, Ein Gott der Rache?; ders., Gewalt im Namen Gottes?; Achenbach, Klagegebete; jetzt Schmitt, „Heiliger Krieg“, bes. S. 30 ff. 5 Zur Bedeutung der Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit im religiösen Feld, wie sie nicht nur im Christentum zu beobachten sind, vgl. jetzt eingehend Angenendt, Die Kreuzzüge, bes. S. 330 ff., der jedoch die Rolle Papst Urbans II. bei der Aktivierung der pollutio-Vorstellungen, die in seiner Kreuzzugspredigt in Clermont-Ferrand fassbar ist, nicht behandelt.

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VI. Papst Urban II. und der erste Kreuzzug

Die bisherige moderne Forschung hat einen solchen Zusammenhang nicht hergestellt und thematisiert, sondern das Massaker ganz anders erklärt. Man kommt nicht umhin, wertend zu sagen, dass die Forschung, die vorrangig in christlich geprägten Ländern stattfand, vor allem viel Energie aufgewendet hat, die Tatsache zu „bewältigen“, dass die Kreuzfahrer nach der Eroberung Jerusalems die wehrlose Bevölkerung im wahrsten Sinne des Wortes abgeschlachtet hatten. In islamischen Ländern ist dagegen das Massaker bis heute als Manifestation christlicher Willkür und Barbarei überaus präsent.6 Um die Brutalität des Vorgehens der Kreuzfahrer in Erinnerung zu rufen, seien nur Auszüge aus dem längeren Bericht Wilhelms von Tyrus über das Massaker zitiert. Die Schilderung vermittelt zugleich einen Eindruck davon, wie geplant und organisiert das Geschehen ablief: „Es liefen der Herzog und seine Begleitung mit gezogenem Schwert, beschützendem Helm und vorgehaltenem Schild wie ein Trupp in die Viertel und auf die Plätze, und wen immer sie auffinden konnten, den streckten sie mit der Schärfe des Schwertes nieder, ohne Rücksicht auf Alter und Stand. So groß war das Blutbad der überall Niedergemetzelten und der Haufen der abgeschlagenen Köpfe, das kaum noch ein Weg frei und ein Durchgang möglich war als über die Leichen der Erschlagenen. Auf verschiedenen Wegen drangen unsere Fürsten und ihr Gefolge vor, richteten ein unzähliges Blutbad an und gelangten bis zur Stadtmitte, dürstend nach dem Blut der Ungläubigen und entschlossen zu ihrer Niedermetzelung  … Als sie hörten, dass das Volk im Tempel Zuflucht genommen hatte, marschierten sie allesamt dorthin, drangen mit Mann und Pferd ein, köpften dort schonungslos, wen sie antrafen, und erfüllten alles mit Blut.“7 Man könnte noch eine ganze Weile damit fortfahren, 6 Zu zeitgenössischen islamischen Reaktionen auf das Massaker siehe Maalouf, Heiliger Krieg, S. 52–72; zum Stellenwert des Massakers in der Erinnerung des modernen Islam siehe Waas, Kreuzzüge, Bd. 1, S. 153 f.; Tibi, Kreuzzug und Djihad, S. 113–133. 7 Wilhelm von Tyrus, Chronicon, lib. VIII, cap. 19 f., S. 410–412: Porro dux et qui cum eo erant per vicos civitatis et plateas strictis gladiis, clipeis tecti et galeis, iuncto agmine discurrentes quotquot de hostibus reperire poterant, etati non parcentes aut conditioni, in ore gladii indifferenter prosternebant, tantaque erat ubique interemptorum strages et precisorum acervus capitum, ut iam nemini via pateret aut transitus nisi per funera defunctorum. Iamque pene ad urbis medium diversis itineribus, stragem operantes innumeram, nostri principes per-

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berichtete Details auszubreiten und so deutlich zu machen, dass hier ein kollektiver Wille der Kreuzfahrer zur Vernichtung der gesamten Bevölkerung fassbar wird, der zugleich darauf hinweist, dass man die Aktion beschlossen und vorbereitet haben muss.8 Das aber hat die bisherige Forschung nicht herausgearbeitet. Die Bewältigung dieses ungeheuerlichen Geschehens, das heißt seine Erklärung, Abschwächung und Entschuldigung durch die moderne Forschung, geschah vielmehr auf folgende Weise und mit folgenden Argumenten9: Man erklärte einmal das Massaker ungeachtet aller Brutalitäten für nicht ungewöhnlich, sondern den damaligen militärischen Gepflogenheiten entsprechend, wenn die Verteidiger einer Stadt sich nicht zur Kapitulation bereitfanden. Jerusalem hatte ja nicht kapituliert, sondern war erobert worden. In einem solchen Fall kannte man angeblich keine Gnade. Es soll hier nicht länger darüber diskutiert werden, wie stichhaltig diese Einschätzung eigentlich ist. Man muss aber doch darauf hinweisen, dass zeitnahe Beispiele für diese angeblichen militärischen Gepflogenheiten nicht beigebracht wurden. Überdies ist auff ällig, dass einem Teil der muslimischen Verteidiger Jerusalems sogar der freie Abzug gestattet worden war, während die eigentlich an der Verteidigung der Stadt eher unbeteiligte Bevölkerung Opfer des Massakers wurde.10 venerant et subsequentis populi infinita multitudo, infidelium cruorem sitiens et ad cedem omnino proclivis … audientes quod infra septa templi populus fugiens se contulerat, illuc descendunt unanimes et intromissa tam equitum quam peditum multitudine, quotquot ibi reperiunt, nemini parcentes, obtruncant gladiis, sanguine replentes universa. 8 Ausführliche Darstellungen des Massakers vor allem in den Gesta Francorum, lib. X, cap. 38–39, S. 90–92; Raimund von Aguilers, Historia Francorum, cap. 18, S. 150–151; Fulcher von Chartres, Historia Hierosolymitana, lib. I, cap. 27 u. 28, S. 299–303; Petrus Tudebodus, Historia de Hierosolymitano itinere, lib. XV, cap. 3–5, S. 108–110; Guibert von Nogent, Dei gesta per Francos, lib. VII, cap. 7–10, S. 278–284; Albert von Aachen, Historia Ierosolimitana, lib. VI, cap. 20–30, S. 428–442. 9 Es kann hier keine Dokumentation der Wertungen der internationalen Kreuzzugsforschung geleistet werden. Der Tenor dieser Wertungen sei lediglich mit neueren Arbeiten belegt, die sich ausführlicher mit dem Massaker beschäft igen. Exemplarisch für das Folgende sind zu vergleichen Elm, Eroberung Jerusalems; Kedar, Jerusalem Massacre; Angenendt, Toleranz und Gewalt; ders., Kreuzzüge; Jaspert, Kreuzzüge. 10 Vgl. dazu bereits Waas, Kreuzzüge, Bd. 1, S. 153 mit dem Hinweis, dass den muslimischen Verteidigern der Zitadelle, des sogenannten Davidsturms, von

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Man bezweifelte überdies, dass wirklich die gesamte Bevölkerung getötet worden sei – und tat das mit dem Hinweis, einige Ungläubige hätten doch nach dem Ausweis der Quellen bei der Beseitigung der Leichen der Erschlagenen mitgewirkt. Es habe also Überlebende gegeben. Auch über die Qualität dieses Arguments, wenn es denn überhaupt eines ist, möchte ich mich nicht auslassen. Man deklarierte weiter die Berichte über die Grausamkeiten als Topoi, die vor allem dem Alten Testament entnommen worden seien – und deren Realitätsgehalt deshalb zweifelhaft sei. Es sei unstatthaft, die Schilderungen des brutalen Vorgehens der Kreuzritter als Beschreibungen der Wirklichkeit aufzufassen, da sie alten Darstellungsmustern verpflichtet seien. Und man schob schließlich die Initiative zu diesem Massaker Kriegern in die Schuhe, die nach langen Strapazen und Entbehrungen im Moment des Sieges jegliche Kontrolle über ihr Tun verloren hätten und in Raserei  verfallen seien. Diese Einschätzungen finden sich bis in die neueste Forschung, wie wenigstens kurz an einigen Beispielen dokumentiert sei. Bereits im Jahre 1956 brachte Adolf Waas in seiner zweibändigen und immer noch lesenswerten „Geschichte der Kreuzzüge“ den älteren Forschungsstand zur Erklärung des Massakers auf den Punkt, und zwar besonders ausführlich, als er den emotionalen Ausnahmezustand schilderte, in dem die Kreuzfahrer ihren Zug angetreten und durchgeführt hätten: „Doch erinnern wir uns, daß diese Erregung und Übersteigerung des Gefühls ihren Platz mitten in erbitterten Kämpfen hat. So liegt es nahe, daß sie auch in einem Blutrausch ihre Entladung finden kann. Das tritt am klarsten in Erscheinung bei der Eroberung Jerusalems. Alle Hoff nung, alles Streben war auf diesen Augenblick konzentriert. Ungeheure Anstrengungen waren nötig gewesen, bis man im Besitz der Stadt war. Nun machte man alle Muslime, die man dort fand, hemmungslos nieder. Auch Frauen und Kinder wurden nicht geschont. Die Zahl der getöteten Menschen wird von den Quellen sehr verschieden geschätzt. Die Zahlen schwanken zwischen 100 000 und 10 000. Jedenfalls haben die Franken selbst, wie Wilhelm von Tyrus und andere berichten, Abscheu und Ekel Raimund von Saint-Gilles der freie Abzug ohne Waffen gestattet worden sei. Die dort nicht angegebenen Quellenbelege fi nden sich in: Gesta Francorum, lib. X, cap. 34, S. 92; Raimund von Aguilers, Historia Francorum, cap. 18, S. 151; Fulcher von Chartres, Historia Hierosolymitana, lib. I, cap. 30, S. 308 f.; Petrus Tudebodus, Historia de Hierosolymitano itinere, lib. XV, cap. 4, S. 109.

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darüber verspürt. Selbst wenn die kleinste Zahl richtig ist, bedeutet das schon ein schauerliches Blutbad. Ein besonders häßliches Bild malt Michael der Syrer (also ein christlicher, kein feindlicher Chronist): ,Der Patriarch zog eine Straße entlang und mordete auf seinem Weg alle Ungläubigen. So kam er zur Kirche des Heiligen Grabes, die Hände mit Blut verklebt am Griff seines Schwertes. Dort wusch er sie mit den Worten des Psalmisten: „Der Gerechte freut sich in dem Herren, wenn er solche Rache sieht, die er ausführt. Er wird seine Hände baden im Blute der Gottlosen.“‘ Dann feierte er die heilige Messe und sagte, er habe niemals ein Gott wohlgefälligeres Opfer gebracht. Unmittelbar nach diesen Morden reinigten sich die Kreuzzugsfürsten und traten eine demütige Prozession an. Hier zeitigt also die fromme Erregung der Kreuzfahrer am Punkte ihrer höchsten Steigerung und Erhitzung bei der endgültigen Eroberung der Heiligen Stadt ein schauerliches Blutbad.“11 Fromme Erregung im Moment des Triumphes hat sich also in einem Blutrausch der Krieger entladen. Die Täter selbst haben bald Abscheu und Ekel über ihr Tun empfunden, wie Waas wenig später akzentuiert: „Ja man war sogar im Augenblick überzeugt, ein Gott wohlgefälliges Werk zu tun, da er die Eroberung ja befohlen hatte, bis dann der aufsteigende Ekel Ernüchterung und Abscheu vor sich selbst brachte […] Eine solche religiöse Erregung kann nicht nur die Höhen der Menschen, sondern auch die dämonischen Tiefen des Bösen im Menschen erschließen und hervorquellen lassen.“12 Diese Art der Erklärung ließe sich seither in vielen Varianten belegen. Sie hat zumindest auch die Funktion, mit verschiedenen Argumenten Verständnis für die Handlungsweisen der Täter zu wecken und sie so zu entschuldigen, soweit dies möglich ist. Arnold Angenendt hat 2007 in seinem Buch „Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert“ unter der Überschrift „Waten im Blut“ den neuesten Stand der Erklärungen dokumentiert. Er unterscheidet sich nicht wesentlich von demjenigen, den Waas anbot. Die wichtigste, immer noch herrschende Erklärung sei mit den Worten von John France (1994) zitiert: „However horrible the massacre at Jerusalem: it was not far beyond what common practice of the day meted out to any place which resisted.“13 Zeitnahe 11 Waas, Kreuzzüge, Bd. 1, S. 23 f. 12 Ebd., S. 24. 13 France, Victory in the East, S. 355; siehe auch Elm, Eroberung Jerusalems, S. 44.

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Belege dafür, dass Massaker in dieser Zeit unter den genannten Bedingungen üblich waren, sind alle, die diese Wertung abgaben oder übernahmen, schuldig geblieben. Kaspar Elm unterstreicht das zweite Hauptargument, das Zweifel an der Schrecklichkeit des Geschehens bis heute begründet: Das Massaker werde von den Gewährsleuten „mit Bildern und Worten beschrieben, die ihnen die literarische Tradition zu Verfügung stellte“.14 Mit der literarischen Tradition ist vor allem das Alte Testament gemeint, das Bilder und Vorstellungen bereitgestellt habe, die als Topoi verwandt worden seien, ohne dass die ausgedrückten Gräueltaten wirklich passiert sein müssten: „Weil besonders die Reinigung des Heiligen Landes von heidnischer Besudelung hervorgehoben werden sollte, brauchte es die besondere ,Blutsprache‘“, zitiert Angenendt Elm zustimmend.15 Zwar ist längst bekannt, dass bekannte Formulierungen von Autoritäten, also Topoi, auch benutzt wurden, um einen Sachverhalt möglichst prägnant auszudrücken, dass man also keineswegs davon ausgehen kann, dass solche Topoi inhaltsleer sind. Doch ist die Vorstellung vom „leeren Topos“, wie sie hier durchscheint, sicher nicht ausgerottet und leistet hier gute Dienste bei der Verharmlosung des Geschehens. Man kann sagen, dass die zitierten Abschwächungen, Erklärungen und Entschuldigungen inzwischen herrschende Lehre sind, die zum Handbuchwissen gehört. Ich dokumentiere dies nur mit der zusammenfassenden Wertung der hier behandelten Ereignisse durch Nikolas Jaspert, die die Einschätzung der modernen Forschung wiedergibt: „Zwar dürfte inzwischen als gesichert gelten, dass sich die brutale Ermordung zahlreicher Männer, Frauen und Kinder sowohl muslimischen wie jüdischen Glaubens in die militärischen Gepflogenheiten der Zeit einordnen lässt: Die Verteidiger hatten einer Kapitulation nicht zugestimmt und konnten daher nicht mit Erbarmen rechnen.“16 Diesen Wertungen ist entgegenzuhalten, dass das Massaker zum einen an der an den militärischen Auseinandersetzungen gar nicht beteiligten Bevölkerung verübt wurde, zum anderen fehlen Beispiele für die hier unterstellte Regelhaftigkeit des Verhaltens. Einschlägige Regeln für Belagerungen, Kapitulationen und ihre Verweigerung sind vielmehr 14 Ebd., S. 50. 15 Angenendt, Toleranz und Gewalt, S. 426. 16 Jaspert, Kreuzzüge, S. 42.

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schon in den verschiedenen europäischen Ländern, aus denen die Kreuzfahrer kamen, sehr unterschiedlich.17 Zwar gibt es einen Zusammenhang zwischen Länge und Härte des Widerstands und den Bedingungen der Kapitulation, Beispiele für Massaker an einer nicht aktiv an den Kämpfen beteiligten Bevölkerung sind für die Zeit vor 1099 aber nicht beigebracht worden. Genauso problematisch ist eine zweite Bewertung, die Jaspert ebenfalls aus der modernen Forschung übernimmt: „Auch wissen wir, dass die erschreckenden, immer wieder abgedruckten Schilderungen der von den Kreuzfahrern begangenen Gräuel sich an alttestamentlichen Vorlagen, etwa der Eroberung Jerichos, orientierten. Die Kreuzfahrer selbst stellten sich als neues Volk Israel in biblische Tradition, ähnlich taten es die Chronisten. Ein abgewogener und wissenschaft licher Umgang mit den Quellen kann auch hier vorschnellen Urteilen und Interpretationen vorbeugen.“18 Diese Bewertungen fassen den Forschungsstand gewiss richtig zusammen. Vor dem Hintergrund der hier durchgeführten Untersuchungen zu einem neuen Verhältnis der christlichen Kirche zur Gewalt ist er aber alles andere als das letzte Wort. Eine neue Durchsicht der Quellen führte denn auch zu anderen und entgegengesetzten Ergebnissen, die eine eingehende Begründung verdienen. Hierzu analysiere ich im Folgenden die einschlägige Überlieferung unter zwei Fragestellungen: Wie motivierte einerseits Papst Urban in seiner Kreuzzugspredigt die Krieger zur bewaff neten Pilgerfahrt und mit welchen Argumenten legitimierte er Gewaltanwendung zur Befreiung des Heiligen Landes und der heiligen Stätten? Und wie wurde andererseits das Massaker in Jerusalem von den christlichen Autoren der Zeit dargestellt und gegebenenfalls gerechtfertigt? Beginnen wir mit der berühmten Kreuzzugspredigt Papst Urbans in Clermont-Ferrand. Die Forschung hat seit langem herausgearbeitet, dass vorrangig drei der zeitgenössischen Autoren, die den angeblichen Wortlaut der Predigt Urbans überliefern, wohl tatsächlich als Augen- und Ohrenzeugen des Geschehens angesehen werden dürfen: Balderich, der 17 Vgl. etwa für das deutsche Reich Althoff, Spielregeln, S. 28 f. u. S. 107 ff.; ganz anders sind die Regeln dagegen im normannischen Süditalien oder in England, vgl. dazu Broekmann, Rigor iustitiae, passim, zusammenfassend S. 194 ff. u. S. 371 ff. 18 Jaspert, Kreuzzüge, S. 42.

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spätere Erzbischof von Dol, Robert, der Mönch von Saint-Remi in Reims, und Fulcher von Chartres.19 Das heißt freilich noch nicht, dass sie wirklich den authentischen Wortlaut der Predigt wiedergegeben hätten. Deckungsgleich sind ihre Versionen nämlich nicht. Sie sind vielmehr so unterschiedlich, dass heute die Meinung vorherrscht, man könne den Wortlaut der Predigt des Papstes nicht rekonstruieren. Damit sollte man sich aber nicht zufrieden geben, denn wenn auch nicht der Wortlaut, so ist doch die Substanz der päpstlichen Argumentation in Clermont-Ferrand mit einiger Wahrscheinlichkeit zu rekonstruieren. Die Unterschiede in den Darstellungen könnten sich nämlich dadurch erklären, dass die Autoren aus der wahrscheinlich nicht ganz kurzen Predigt jeweils unterschiedliche Argumente herausgriffen und in den Vordergrund stellten. Daher seien die überlieferten Versionen der Predigt Urbans noch einmal daraufhin analysiert, welche zentralen Aussagen sie machen. Bei mehreren Autoren fällt stark ins Auge, dass Papst Urban Argumente zur Legitimierung der Gewalt aus bestimmten Psalmen des Alten Testaments gewann – und zwar vor allem aus dem Psalm 79. Am ausführlichsten lässt Balderich von Dol Urban mit Psalm 79 argumentieren, nachdem der Papst breit, eindringlich und aufputschend geschildert hat, wie sehr die Christen in Jerusalem und Antiochia unter der Herrschaft der Ungläubigen unterdrückt und allen Plagen ausgesetzt seien; dass die Kirchen, in denen einst die göttlichen Geheimnisse zelebriert wurden, nun als Viehställe dienten; dass die Almosen, die zum Seelenheil der Gläubigen an die Kirchen gegeben waren, nun von den Turci geraubt würden: und das alles an dem Ort, an dem der Erlöser für die Gläubigen gestorben sei und wo er danach noch jährlich das Wunder des Osterfeuers wirke. Nachdem er dies und mehreres andere breit ausgeführt hatte, fasste der Papst nach Balderich sozusagen zusammen: „Es bedrängen uns Tränen und Zittern, es bedrängen uns Schluchzen und Seufzer. Lasst uns wehklagen Brüder, o weh, lasst uns wehklagen und mit dem Psalmisten im Innern weinend aufseufzen. Wir Unglücklichen, wir Unglückseligen, an denen sich die Prophezeiung erfüllt hat (Psalm 79): ,Gott, die Heiden sind 19 Allg. zu Urbans Predigt siehe neben Becker, Urban II., S. 393 ff. (mit der älteren Literatur) neuerdings Cole, Preaching of the Crusades; Constable, Language of Preaching, S. 131 ff.; Maier, Konfl ikt und Kommunikation, S. 13 ff.

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in dein Erbe eingedrungen, sie haben deinen heiligen Tempel entweiht (polluerunt), haben Jerusalem in Trümmer gelegt. Sie gaben die Leichen deiner Diener den Vögeln des Himmels zum Fraß, das Fleisch deiner Frommen den Tieren des Feldes. Sie vergossen ihr Blut wie Wasser rings um Jerusalem und niemand begrub sie.‘ Weh uns, Brüder, wir, ,die wir gemacht wurden unseren Nachbarn zur Schmach und zum Hohn und Spott unserer Umgebung‘, lasst uns mit unseren Brüdern mitleiden und mittrauern, wenigstens mit Tränen.“20 Damit hatte der Papst ausführlich den Psalm 79 zitiert, in dem die Zerstörung des Tempels nach der Eroberung Jerusalems im Jahre 586 v. Chr. beklagt und in dem Gott selbst eindringlich gebeten wird: „ergieße deinen Zorn über die Völker, die dich nicht kennen. Vor unseren Augen sollen die Heiden die Rache erfahren für das vergossene Blut deiner Diener.“21 Diese Verse des Psalms hat Balderich allerdings nicht zitiert. Mit einiger Wahrscheinlichkeit durfte er bei seinen Lesern aber Kenntnisse voraussetzen, die ein noch längeres Zitat in seinem Bericht überflüssig machten. 20 Balderich von Dol, Historia Jerosolimitana, lib. I, a. 1095, S. 13: ecclesiæ in quibus olim divina celebrata sunt mysteria, proh dolor! ecce animalibus eorum stabula prœparantur … Inde violenter abstrahunt Turci quas pro eleemosyna illuc multotiens intulistis oblationes; ibi nimirum multas et innumeras religioni nostræ ingerunt irrisiones. Et tamen illo in loco (non ignota loquor) requievit Deus; ibi pro nobis mortuus est; ibi sepultus est. Quam pretiosus sepulturæ Domini locus concupiscibilis, locus incomparabilis! Neque siquidem ibi Deus annuum prætermittit facere miraculum: quam in diebus Passionis suæ, extinctis omnibus et in Sepulcro et in ecclesia circum circa luminibus, jubare divino lampades extinctœ reaccenduntur … sed instant lacrimæ et gemitus, instant suspiria et singultus. Ploremus, fratres, eia ploremus et cum Psalmista medullitus plorantes ingemiscamus. Nos miseris, nos infelices quorum prophetia ista complete est: Deus, venerunt gentes in hæreditatem tuam: polluerunt templum sanctum tuum; posuerunt Jerusalem in pomorum custodiam; posuerunt mortician servorum tuorum escas volatibilibus cæli, carnes sanctorum tuorum bestiis terræ: Eff uderunt sanguinem eorum, tanquam aquam in circuitu Jerusalem, et non erat qui sepeliret. Væ nobis, fratres! Nos, qui jam facti sumus opprobrium vicinis nostris, subsannatio et illusio his qui in circuitu nostro sunt, condoleamus et compatiamur fratribus nostris, saltem in lacrimis! 21 Psalm 79 (78) nach der Vulgata: 6 eff unde furorem tuum super gentes quae non cognoverunt te … 10nota fiat in gentibus ante oculos nostros ultio sanguinis servorum tuorum qui eff usus est.

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Denn nach der Darstellung Balderichs nutzte Urban die direkt folgende, wieder sehr lange Argumentationskette dazu, seine Zuhörer aufzufordern, aufgrund der geschilderten Lage in die „unbesiegbare Schlachtreihe Christi“ einzutreten, deren Streitern für sehr geringe Mühen eine unvergängliche Krone winke. Er versprach ihnen die Gebetshilfe der Kleriker, deren Aufgabe es sei zu beten, während sie, die Krieger, gegen die Amalekiter zu kämpfen hätten. Sie, die Kleriker, würden wie Moses die Arme zum Gebet ausbreiten, während die Krieger als unerschrockene Kämpfer das Schwert gegen Amalech schwingen sollten.22 Auch hier wird also wieder eine bekannte Szene des Alten Testaments aufgerufen und als Vorbild dargeboten. Halten wir also fest, dass Balderichs Darstellung der Rede Urbans die Argumentation des Papstes ganz darauf ausrichtet, die Verunreinigung der heiligen Stätten durch die Heiden als ein Sakrileg darzustellen, das Christen ehrlos und zum Gespött macht, wenn sie sich nicht aufraffen, diesen Frevel zu rächen. Tun sie dies hingegen, ist ihnen ewiger Lohn gewiss. Belegt wird diese Gewissheit mit der Berufung auf Psalm 79 und auf die Kämpfe der Israeliten gegen die Amalekiter, die sozusagen die Modelle für Gott wohlgefälliges Verhalten liefern. In der Darstellung eines zweiten Ohrenzeugen der Predigt, Robert von Reims, ist diese Stoßrichtung der Argumentation Urbans in sehr vergleichbarer Weise zu finden. Er zitiert zwar nicht den Psalm 79, aber den Psalm 78,8, indem er das Volk der Perser, wie er sie nennt, als eine generatio bezeichnet „mit wankelmütigem Herzen und treulosem Sinn gegen Gott“.23 Dann folgt eine Beschreibung der Taten dieser Ungläubigen, die sich wie eine Konkretion der Klagen des Psalms 79 liest, auch wenn sich keine wörtlichen Übernahmen finden: „(Sie haben) die Länder jener Christen 22 Balderich von Dol, Historia Jerosolimitana, lib. I, a. 1095, S. 15: et sub Jesu Christo, duce nostro, acies Christiana, acies invictissima, melius quam ipsi veteres Jacobitae, pro vestra Jerusalem decertetis … Vos autem qui ituri estis, habebitis nos pro vobis oratores; nos habeamus vos pro populo Dei pugnatores. Nostrum est orare, vestrum sit contra Amalechitas pugnare. Nos extendemus cum Moyse manus indefessas, orantes in cœlum; vos exerite et vibrate intrepidi præliatores in Amalech gladium. 23 Robert von Reims, Historia Iherosolimitana, lib. I, cap. 1, a. 1095, S. 727: gens regni Persarum … generatio scilicet quœ non direxit cor suum, et non est creditus cum Deo spiritus ejus.

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überfallen, mit Schwert, Raub und Feuer verwüstet, die Gefangenen teils in ihr Land verschleppt, teils auch elendiglich abgeschlachtet, die Kirchen Gottes entweder von Grund auf zerstört oder für den Ritus ihrer eigenen Götzen in Beschlag genommen. Altäre besudeln sie mit Unrat, sie beschneiden die Christen und das Blut der Beschneidung gießen sie auf den Altar oder in die Taufbecken. Bei manchen Leuten gefällt es ihnen, sie mit einem besonders schimpflichen Tod zu quälen: Sie durchbohren den Nabel, binden ihn an einen Baumstamm und treiben sie so unter Schlägen herum, bis sie mit heraushängenden Eingeweiden zusammenbrechen.“24 Auch dies ist nur ein Ausschnitt aus der längeren Argumentation des Papstes, die dann in die Aufforderung mündet, aufzubrechen und das Land dem ruchlosen Volk zu entreißen: „Besonders soll euch bewegen das Heilige Grab unseres Herrn Heilands, das im Besitz unreiner Völker ist, und die heiligen Orte, die jetzt unehrenhaft behandelt und unehrerbietig durch deren Unrat besudelt werden … Macht euch auf den Weg zum Heiligen Grab, entreißt den verruchten Völkern dieses Land, macht es euch untertan, jenes Land ist von Gott den Söhnen Israels gegeben, wie die Schrift sagt, ,wo Milch und Honig fließt‘.“25 Trotz aller Unterschiede im Detail ist also auch hier wieder wie bei Balderich ein Grundmuster der Argumentation zu fassen, durch das die Krieger motiviert werden sollen, die Verunreinigung, die Besudelung der heiligen Stätten durch die Ungläubigen an diesen zu rächen und das Land selbst in Besitz zu nehmen, so wie es die Klagen des Alten Testaments vorgeben. 24 Ebd., S. 727 f.: terras illorum Christianorum invaserit, ferro, rapinis, incendio depopulaverit, ipsosque captivos partim in terram suam abduxerit, partimque nece miserabili prostraverit, ecclesiasque Dei aut funditus everterit aut suorum ritui sacrorum mancipaverit. Altaria suis fœditatibus inquinata subvertunt, Christianos circumcidunt, cruoremque circumcisionis aut super altaria fundunt aut in vasis haptisterii immergunt. Et quos eis placet turpi occubitu multare, umbilicum eis perforant, caput vitaliorum abstrahunt, ad stipitem ligant et sic flagellando circumducunt, quoadusque, extractis visceribus, solo prostrati corruunt. 25 Ebd., S. 728: Præsertim moveat vos sanctum Domini Salvatoris nostri Sepulcrum, quod ab immundis gentibus possidetur, et loca sancta, quæ nunc inhoneste tractantur et irreverentur eorum immundiciis sordidantur  … Viam sancti Sepulcri incipite, terram illam nefariæ genti auferte, camque vobis subjicite, terra illa filiis Israel a Deo in possessionem data fuit, sicut Scriptura dicit, quœ lacte et melle fluit.

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Ich verzichte darauf, in allen Einzelheiten nachzuweisen, wie häufig dieses Leitmotiv auch bei Autoren anklingt, die nicht in Clermont anwesend waren, und wie eng es mit den Vorstellungen des Psalms 79 verknüpft ist. Zitiert sei nur noch aus der ausführlichen Darstellung des rund  70 Jahre nach dem Massaker schreibenden Chronisten Wilhelm von Tyrus, der über eine exzellente Kenntnis der christlichen Überlieferung zum ersten Kreuzzug verfügte.26 Daher kann er als Zeuge dafür fungieren, welche Vorstellungen über die Inhalte und Argumente der Predigt Urbans sich im Verlaufe des 12. Jahrhunderts fest- und durchgesetzt hatten. Auch Wilhelm rückt das angesprochene Denkmuster von der Verunreinigung der heiligen Stätten durch die Ungläubigen und der Sühne dieses Frevels durch ihr Blut ins Zentrum seiner Darstellung der Rede Urbans, die die päpstliche Argumentation ganz breit referiert. Folgendes soll der Papst gesagt haben: „Das gottlose Volk der Sarazenen drückt die heiligen Orte, die von den Füßen des Herrn betreten worden sind, schon seit langer Zeit mit seiner Tyrannei und hält die Gläubigen in Knechtschaft und Unterwerfung. Die Hunde sind ins Heiligtum gekommen und das Allerheiligste ist entweiht.“ Es folgt eine klagende Aufzählung vieler Einzelheiten, dann fährt Wilhelm fort: „Wehe uns, die wir in den Jammer der gefahrvollen Zeit versunken sind, von der der fromme König David, sie im Geiste voraussehend, klagend gesprochen hat (Psalm 79): ,Gott, es sind Heiden in dein Erbe eingefallen, sie haben deinen heiligen Tempel verunreinigt‘… Herr, wie lange wirst du zürnen und deinen Eifer wie Feuer brennen lassen? … Wehe uns, dass wir dazu geboren sind, unseres Volkes und der Heiligen Stadt Zerstörung zu sehen, und dazu stillsitzen müssen und die Feinde ihren Mutwillen treiben lassen.“27 26 Zu Wilhelm allg. vgl. Schwinges, Kreuzzugsideologie und Toleranz; Edbury / Rowe, William of Tyre; Möhring, Art. Wilhelm v. Tyrus, sowie Schwinges, William of Tyre. 27 Wilhelm von Tyrus, Chronicon, lib. I, cap. 15, S. 132–134: Sarracenorum enim gens impia et inmundarum sectatrix traditionum loca sancta, in quibus steterunt pedes domini, iam a multis retro temporibus violenta premit tyrannide, subactis fidelibus et in servitutem dampnatis. Ingressi sunt canes in sancta, prophanatum est sanctuarium  … Ve nobis, qui in hanc tam periculosi temporis descendimus miseriam! Quam in spiritu previdens electus a domino David rex fidelis deplorat, dicens: deus, venerunt gentes in hereditatem tuam, polluerunt templum sanctum tuum, et item: populum tuum humiliaverunt et hereditatem

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Danach folgt unmittelbar der Appell an die Krieger, dies eben doch nicht tatenlos hinzunehmen: „Bewaff net euch mit dem Eifer Gottes, liebe Brüder, gürtet eure Schwerter an eure Seiten, rüstet euch und seid Söhne des Gewaltigen. Besser ist es, im Kampfe zu sterben, als unser Volk und die Heiligen leiden zu sehen … Wendet die Waffen, mit denen ihr in sträflicher Weise Bruderblut vergießt, gegen die Feinde des christlichen Namens und Glaubens.“28 Und dann folgen die Versprechungen all der geistlichen Belohnungen für die frommen Werke, durch die die Gnade Gottes sicher erkauft werden kann. Nach dem Schluss der Rede aber berichtet Wilhelm ein nicht unwichtiges Detail: Der Papst habe allen anwesenden Prälaten aufgetragen, nach Hause zurückzukehren und ihre Völker mit großer Dringlichkeit und Sorgfalt auf das von ihm Gesagte zu verpflichten.29 Man darf also wohl gesichert davon ausgehen, dass die Substanz der Predigt Urbans in  unzähligen weiteren Predigten sozusagen vervielfältigt und bekannt gemacht worden ist. Die zitierten Belege dürften ausreichend sein um zu sichern, dass in der Predigt Urbans II. der alttestamentliche Gedanke von der Verunreinigung (pollutio), die die heiligen Stätten in Jerusalem dadurch erleiden, dass Ungläubige dort leben und ihre Religion ausüben, das Kernstück der päpstlichen Argumentation bildete. Aus diesem Frevel leitete der Papst auf der Grundlage des Psalms 79 die Verpflichtung aller christlichen Krieger ab, nach Jerusalem zu ziehen und diesem Zustand mit Gewalt ein Ende zu bereiten, indem sie – was wichtig ist hervorzuheben – die heiligen Stätten mit dem Blut der Ungläubigen von der Besudelung reinigten. Diese Gewalt übten die Krieger als Werkzeuge Gottes aus, verliehen mit ihr dem

tuam vexaverunt: utquid, domine, irasceris in finem, accendetur velut ignis ira tua? … Ve nobis, utquid nati sumus videre corruptionem populi nostri et contritionem civitatis sancte et sedere illic, cum dantur in manibus inimicorum sancta? 28 Ebd., S. 134: Vos igitur, dilectissimi, armamini zelo dei, accingimini unusquisque gladio suo super femur suum potentissime, accingimini et estote filii potentis: melius est enim mori in bello quam videre mala gentis nostre et sanctorum  … arma, que cede mutua illicite cruentastis, in hostes fidei et nominis christiani convertite. 29 Ebd., S. 135: His dictis finem dicendi fecit, precipiens his qui aderant ecclesiarum prelatis ut ad propria reversi cum omni instantia et debita sollicitudine plebes suas ad idem hortentur et invitent diligentius.

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Zorn Gottes Nachdruck und verdienten sich so dessen Belohnungen, wie es die heute sogenannte Bannideologie des Alten Testamentes forderte und versprach.30 So weit der Versuch einer Rekonstruktion dessen, was Urban in Clermont-Ferrand gesagt hat. Ganz ähnliche Gedanken kehren nun aber bei den gleichen Autoren auch in den Beschreibungen des Massakers wieder, wenn sie nämlich davon sprechen, warum es zu dem Massaker kam und kommen musste, und in welchem Bewusstsein die Kreuzfahrer bei diesem Massaker gehandelt haben. Der gerade zitierte Wilhelm von Tyrus bietet eine geradezu programmatische Bewertung der Ursachen des Massakers, die diesem Grundgedanken verpflichtet ist: „Dies (das Massaker) hat sich sicher nach dem gerechten Urteilsspruch Gottes (iusto iudicio Dei) ereignet, dass die, die das Heiligtum des Herrn mit ihren heidnischen Riten entweiht und die den gläubigen Völkern Ungehöriges vergolten hatten, dies mit dem Verlust ihres eigenen Blutes sühnten und das Verbrechen durch das Sühneopfer ihres Todes bezahlten.“31 Eine knappe, aber gleichartige Begründung für das Massaker gibt auch Balderich von Dol, der ausführt: „Sie (die Ungläubigen) wurden mit solchem Hass verfolgt, weil sie den Tempel des Herrn, die Kirche des Heiligen Grabes und den Tempel Salomons und andere Kirchen mit ihren unerlaubten Gebräuchen veruntreut und unanständig entehrt hatten.“32 Auch Guibert von Nogent betont, dass er nie ein größeres Gemetzel an Heiden gesehen und selten davon gelesen habe, aber er hält es für Gottes Werk, der den Heiden eine „verdiente Vergeltung hat zukommen lassen für die vielen Strafen und Tötungen, die sie ihrerseits den Pilgern zugefügt hatten“. Denn es sei doch sicher, dass Gott unter nichts mehr

30 Vgl. dazu jetzt Schmitt, „Heiliger Krieg“, bes. S. 30 ff. 31 Wilhelm von Tyrus, Chronicon, lib. VIII, cap. 20, S. 412: Iustoque dei iudicio id certum est accidisse, ut qui supersticiosis ritibus domini sanctuarium prophanaverant et fidelibus populis reddiderant alienum, id proprii cruoris luerent dispendio et morte interveniente piaculare solverent flagicium. Siehe dazu die Literaturhinweise in Anm. 247. 32 Balderich von Dol, Historia Jerosolimitana, lib. IV, cap. 14, S. 102: Tanto siquidem odio persequabantur eos, quia Templum Domini et Sancti Sepulchri ecclesiam et Templum Salomonis et alias ecclesias suis usibus illicitis peculiaverant ac indecenter contaminaverant.

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gelitten habe als unter dem Zustand, dass Kreuz und Grab (des Erlösers) von gottloser Hand gefangen gehalten worden seien.33 Diesen Stimmen der zeitgenössischen und der späteren Berichterstatter aber geht eine Stellungnahme zeitlich noch voraus, die geistliche und weltliche Anführer der Kreuzfahrer in einem Brief an Urban II. rund sechs Wochen nach der Eroberung Jerusalems abgaben. Als Verfasser des Briefes werden der Erzbischof Dagobert von Pisa, Herzog Gottfried von Bouillon und Graf Raimund von Saint-Gilles genannt, die Urban II. einen längeren Rechenschaftsbericht über den Verlauf des Kreuzzuges gaben, durch den, wie sie eingangs sagen, Gott das an ihnen erfüllt habe, was er in alten Zeiten versprochen hatte.34 Da der Brief ein Schlüsselzeugnis für meine Interpretation darstellt, sei er einigermaßen ausführlich analysiert. Er ist deshalb ein Schlüsselzeugnis, weil er nicht ein Versuch nachträglicher Rechtfertigung des Geschehens ist, sondern ganz augenscheinlich von den Ausstellern im Bewusstsein verfasst wurde, dass ihre Taten – und auch das Vorgehen in Jerusalem – mit den Vorgaben und Vorstellungen des Empfängers dieses Briefes – Urbans II. – vollständig in Einklang stehen würden. Den Kreuzfahrern war, wie der Brief allenthalben deutlich macht, sehr präsent, dass man die Versprechungen Gottes an das Volk Israel, wie sie das Alte Testament bietet, in typologischer Deutung auf die Kreuzfahrer beziehen durfte.35 Dies ist nicht überraschend, denn die Nutzung der heiligen Texte zur Deutung und Bestimmung der eigenen Rolle und Geschichte hatte nicht zuletzt das Reformpapsttum intensiv betrieben. Und man liegt sicher richtig in der Annahme, dass diese Deutungen den Kreuzfahrern

33 Guibert von Nogent, Dei gesta per Francos, cap. 10, S. 283: Tantas gentilium usquam cedes accidisse raro legimus, numquam vidimus, deo eis referente vicem, qui tot pro se peregrinantium penas et mortes, quas tanto fuerant tempore ibidem passi, digna nequissimis retributione restituit. Non enim est quisquam sub deo intellectus, cui estimabile habeatur quanta illic cunctis sancta loca petentibus a gentilium insolentia tormenta, labores atque neces illata constent, quae magis deum certa est fide doluisse credendum quam manu prophana captivatam crucem atque Sepulchrum. 34 Epistula Dagoberti, S. 167–174, S. 168: Multiplicate preces et orationes cum iocunditate et exsultatione in conspectu Domini, quoniam Deus magnificavit misericordiam suam complendo in nobis ea, quae antiquis temporibus promiserat. 35 Vgl. dazu die Erläuterungen des Herausgebers zu diesem Brief ebd., S. 371 ff. mit vielen Hinweisen.

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nicht nur einmal, sondern immer wieder in Predigten und sonstigen Formen der Einflussnahme von den Priestern und Bischöfen nahegebracht wurden, die den Kreuzzug begleiteten. Diese waren ja immer an den Beratungen der Kreuzfahrer beteiligt, die den Fortgang des Kreuzzugs betrafen. Häufig hört man davon, dass sie den Kreuzfahrern die Hilfe Gottes in Aussicht stellten, wenn sie bestimmte Anforderungen zu erfüllen bereit seien.36 Der Brief ist denn auch ein weiteres Zeugnis dafür, wie sehr die Kreuzfahrer unter dem Eindruck christlich-kirchlicher Argumente standen und auf welch fruchtbaren Boden diese Argumente bei ihnen gefallen waren. Im Brief der Anführer des Kreuzzuges ist nämlich immer wieder die Rede davon, wie Gott den Kreuzfahrern half, sie auch durch Misserfolge und Schwierigkeiten auf die Probe stellte oder sogar strafte. Dementsprechend stehen in diesem Brief Aktivitäten der Kreuzfahrer, mit denen sie Gottes Hilfe erlangen wollten, ebenso im Vordergrund der Darstellung wie die Wunder, die Gott für die Kreuzfahrer wirkte. Beten, Fasten und Bußprozessionen werden ebenso hervorgehoben wie Visionen und Wunder, mit denen Gott in das Geschehen eingriff.37 In dieser Tendenz passt der Brief nahtlos zu den vielen erzählenden Quellen, die gleichfalls immer wieder hervorheben, an welchen Einzelheiten man das Eingreifen Gottes in den Verlauf des Kreuzzuges erkennen könne: Visionen und Wunder werden auch dort genauso angeführt wie Bemühungen der Kreuzfahrer, durch Beten, Fasten und Bußübungen die göttliche Hilfe zu sichern. Bezüglich der Belagerung und Eroberung Jerusalems werden in dem Brief dagegen überraschenderweise nur zwei Ereignisse angesprochen. Zunächst einmal: dass die Kreuzfahrer nur durch ihre Demut, die sie auf Anweisung der Priester vor ihrem Angriff in barfüßigen Bußprozessionen um die Stadt nachwiesen, die Hilfe desjenigen erlangt hätten, der selbst demütig in Jerusalem eingezogen war: also die Hilfe Christi. Er sollte ihnen 36 Vgl. beispielsweise die Schilderung des Wilhelm von Tyrus über die Entscheidungsschlacht der Kreuzfahrer vor Antiochia: Chronicon, lib. VI, cap. 16, S. 329. 37 Vgl. Epistula Dagoberti, S. 169: Praeterea etsi principes et reges Saracenorum contra nos surrexerunt, Deo tamen volente facile victi et concultati sunt … aperuit nobis Deus copiam suae benedictionis et misericordiae et induxit nos in civitatem atque Turcos et omnia eorum potestati nostrae tribuit; S. 171 f.: geminibus flexis adiutorem Deum invocavimus, ut, qui in aliis nostris necessitatibus legem Christianorum confirmaverat, in praesenti bello, confractis viribus Saracenorum et diaboli, regnum Christi et ecclesiae a mari usque ad mare usquequaque dilataret.

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die Stadt öffnen, um das Urteil an seinen Feinden zu vollstrecken, was er am achten Tage nach ihrer Prozession tat.38 Nachdem so der Akzent ganz auf die göttliche Hilfe bei dem erfolgreichen Unternehmen der Belagerung und Eroberung Jerusalems gesetzt war, folgt nur noch eine weitere Information: „Und wenn ihr wissen wollt, was mit den Feinden, die dort gefunden wurden, gemacht worden ist, dann sollt ihr wissen, dass im Vorhof und im Tempel Salomos die Unsrigen im Blute der Sarazenen ritten bis zu den Knien der Pferde.“39 Vor dem Hintergrund der in der Predigt Urbans benutzten Argumente, die eben diskutiert wurden, liest sich dieser knappe Hinweis auf das Blutbad, der jedenfalls nicht von Zweifeln über die Rechtmäßigkeit des Tuns geprägt ist, wie eine Vollzugsmeldung, die implizit auf einen Auftrag des Papstes Bezug nimmt oder zumindest davon ausgeht, dass die Nachricht den päpstlichen Erwartungen nicht widerspricht. Diesen Hintergrund der Nachricht scheint man in Rom gut verstanden zu haben, denn der Nachfolger Urbans, Papst Paschalis II., der den Brief entgegennehmen musste, weil Urban 1099 verstorben war, beantwortete das Schreiben im April des Jahres 1100. Die Antwort begann mit dem Satz: „Was der Herr durch den Propheten seinem Volk versprochen hat, erkennen wir durch Euch erfüllt.“40 Es folgt ein langer Lobpreis, dass und wie der Herr seine alten Wunder erneuert habe, und es schließen sich Ermahnungen und Segenswünsche für die Kreuzfahrer an, darunter der folgende: „der Herr möge vollenden, was er begonnen hat, und die Hände der Kreuzfahrer, die er im Blute der Feinde geweiht hat, unverletzt bis ans Ende in überschießender Gnade beschützen“.41

38 Ebd., S. 170 f.: habito consilio, episcopi et principes circinandam esse civitatem nudis pedibus praedicaverunt, ut ille, qui pro nobis in humilitate eam ingressus est, per humilitatem nostram pro se ad iudicium de suis hostibus faciendum nobis eam aperiret. Placatus itaque hac humilitate Dominus, VIII die post humilitationem nostram civitatem cum suis hostibus nobis tribuit. 39 Ebd., S. 171: Et si scire desideratis, quid de hostibus ibi repertis factum fuerit, scitote: quia in porticu Salomonis et in templo eius nostri equitabant in sanguine Saracenorum usque ad genua equorum. 40 Epistula Paschalis II papae, S. 178: Quod per prophetam populo suo Dominus pollicetur, impletum vobis agnoscimus. 41 Ebd.: ut quod coepit adimpleat [Deus] et manus vestras, quas hostium suorum sanguine consecravit, immaculatas usque in finem adfluentissima pietate custodiat.

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Wenngleich es natürlich nicht ausdrücklich gesagt ist, dürfte die Weihe der Hände im Blute der Feinde von den Zeitgenossen und den Kreuzfahrern selbst nicht nur auf das Blutvergießen im Kampf gegen muslimische Heere bezogen worden sein. Dazu hatte das Massaker von Jerusalem ein zu großes Echo ausgelöst, wie wir bis heute ermessen können. Die Kreuzfahrer durften und mussten vielmehr folgern, dass auch die Säuberung Jerusalems mit dem Blute der Ungläubigen die Akzeptanz des Papstes gefunden hatte. Ein kritisches Echo auf dieses Massaker sucht man in den christlichen Quellen denn auch vergeblich. Damit schließt sich gewissermaßen der Kreis der Argumentation, die nicht darauf angelegt war, alle Belege aufzuführen. Präsentiert wurden vielmehr nur die Hauptzeugnisse. Damit ist eine Reihe von Belegen ausgelassen worden, die den Befund hätten weiter bestätigen können. Die wichtigsten Zeugnisse, auf denen die Rekonstruktion letztlich beruht, sind jedoch angeführt worden – und ich denke, dass sie insgesamt ein geschlossenes Bild ergeben. Zusammenfassend sei das Ergebnis noch einmal formuliert: Zeitgenössische wie spätere Quellen erlauben es, zumindest die argumentative Substanz der Predigt Papst Urbans II. in Clermont-Ferrand zu rekonstruieren. Der Papst hat mithilfe alttestamentlicher Textstellen und Vorstellungen ein Modell entwickelt, das die gewaltsame Befreiung der heiligen Stätten aus der Hand der Ungläubigen dadurch legitimierte, dass deren Riten diese heiligen Stätten verunreinigt hatten und dies eine Beleidigung Gottes bedeutete, die Gott erzürnt habe. Um diesen Zorn Gottes zu besänftigen, war es nach Psalm 79 und anderen Stellen des Alten Testaments folgerichtig, dass diejenigen mit ihrem Blute büßten, die diese Verunreinigung verursacht hatten. Wer als Werkzeug Gottes diese Sühne durch Blut ins Werk setzte, handelte Gott wohlgefällig und verdiente sich himmlischen Lohn. Deus lo vult, Gott will es, war so nicht zufällig der Schlachtruf der Kreuzfahrer. Dieses Legitimationsmodell für die Anwendung von Gewalt ist nicht erst ein Produkt späterer Bewältigungsstrategien nach dem Massaker, denn seine Existenz, wie vor allem die Schilderungen von Augenzeugen der Predigt Urbans und der Brief der Kreuzfahrer an den Papst zeigen, lässt sich schon unmittelbar in der zeitlichen Umgebung des Geschehens nachweisen. Es war integraler Bestandteil der päpstlichen Argumentation wie der späteren Rechtfertigungen. Und es war ohne Zweifel ein sehr erfolgreiches Modell, das verbreitet und akzeptiert wurde, denn es wies auch späteren Kreuzzügen immer wie-

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der die Richtung. Dies zeigt nicht nur der bereits zitierte Wilhelm von Tyrus, sondern auch ein Brief Bernhards von Clairvaux, in dem lobend auf das Massaker angespielt wird. Viele Sünder hätten in Jerusalem ihre Sünden unter Tränen bekennen können und Vergebung erlangt, „nachdem durch die Schwerter der Väter die Besudelung durch die Heiden eliminiert worden ist“.42 Auch die Rückeroberung Jerusalems durch die Muslime im Jahre 1187 beweist noch einmal die ungebrochene Wirkmächtigkeit des Denkmodells, weil man auf diese Katastrophe auf christlicher Seite sofort mit Hinweisen auf den Psalm 79 reagierte.43 Nun drohte ja wieder die Verunreinigung der heiligen Stätten durch die Ungläubigen. Wie verbreitet in dieser Zeit in Deutschland die Kenntnis war, dass der Psalm 79 das Leitmotiv der Kreuzzugspropaganda anschlug, mag man auch daran ersehen, dass er in die Kreuzzugsdichtung einging. Im Rolandslied des Pfaffen Konrad, das um 1170 in Regensburg entstand, wird der Psalm nämlich mehrfach benutzt. Hierzu nur ein Beispiel: Im Streitgespräch zwischen Roland und dem Heiden Adalrot vor ihrem Zweikampf wird von beiden aus dem Psalm 79 zitiert. Adalrot (V 4039): „dinen potich wirfe ich in den graben“ (deinen toten Körper werfe ich unbestattet in den Graben), Roland: „dinen botich gibe ich den himeluogelen“ (deinen Leichnam werfe ich den Vögeln des Himmels zum Fraß hin).44 Ein starkes Argument für die These, dass der Psalm 79 und seine Klagen und Forderungen in der Tat von den Päpsten vorrangig herangezogen und genutzt wurden, bietet aber vor allem der Kreuzzugsaufruf 42 So im berühmten Kreuzzugsbrief Nr. 363, in dem Bernhard an die Großtaten der Kreuzfahrer bei der Eroberung Jerusalems erinnert: Bernhard von Clairvaux, Epistula 363, S. 652: Quam multi illic peccatores, confitentes peccata sua cum lacrimis, veniam obtinuerunt, postquam patrum gladiis eliminata est spurcitia paganorum. 43 Vgl. Bühler (Hg.), Kreuzzug Friedrich Barbarossas, S. 65 mit dem Zitat aus der Historia de expeditione Frederici imperatoris, S. 6: Audita tremendi severitate iudicii quod super terram Iherusalem divina manus exercuit, tanto sumus nos et fratres nostri horrore confusi tantisque affecti doloribus, ut non facile nobis occurreret, quid agere aut quid dicere debeamus, quod etiam psalmista deplorat et dicit: Deus venerunt etc. 44 Ich danke Bruno Quast (Münster) herzlich für folgende Hinweise auf Anklänge an Psalm 79 im Rolandslied: V 200 ff., 3894, 4039, 4061, 4239, 4257, 6045 ff., 8500. Der Rolandslied-Kommentar von Kartschoke zu den Versen 200–209 weist auf Psalm 79 hin, darüber hinaus auf die Kaiserchronik 15593 ff. und 15924 ff.

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Papst Innozenz’ III. aus dem Jahre 1213.45 In Briefen, die er in der gesamten Christenheit verbreiten ließ, versuchte Innozenz die Krieger Europas zum Aufbruch ins Heilige Land zu motivieren, da diejenigen, „die treu für ihn (Christus) kämpfen, von ihm glückselig den Siegerkranz erhalten und diejenigen, die in solcher Not nicht den Dienst schuldiger Knechtschaft leisten wollen, am Jüngsten Tag der gerechten Prüfung den verdienten Spruch der Verdammnis ertragen sollen“.46 Er versprach den Kreuzfahrern ferner die Vergebung ihrer Sünden nach Reue und Beichte, formulierte Regelungen für Zinserlasse und andere finanzielle Sicherungen derjenigen, die sich zur Kreuznahme entschließen würden. Und er kündigte an: „Damit es nicht scheint, als bürdeten wir anderen schwere Lasten auf und wollten selbst keinen Finger rühren, verkünden wir öffentlich vor Gott, dass wir selbst mit mutiger Entschlossenheit leisten werden, was wir von anderen verlangen.“ 47 Vor allem aber wusste er, dass für das Unternehmen die Hilfe Gottes nötig war, dass es daher geraten sei, „weniger mit realen Waffen als mit spirituellen zu kämpfen“. Deshalb ordnete er Bittprozessionen an, in denen Männer und Frauen getrennt einmal im Monat Gott anflehen sollten, „dass der barmherzige Gott diese Last der Verwirrung von uns nehme, indem er jenes Land, in dem er alle Sakramente unserer Erlösung vollzogen hat, aus der Hand der Ungläubigen befreit“.48 Diese Gebete

45 Er wurde in ganz Europa verbreitet und von Historiographen verschiedener Länder in ihre Werke inseriert, so von Burchard von Ursberg, Chronicon, dessen Version im Folgenden wiedergegeben ist. Allg. zu Innozenz’ Kreuzzugsvorbereitungen siehe Roscher, Innocenz III., bes. S. 140 ff. 46 Burchard von Ursberg, Chronicon, a. 1212, S. 101: ut, qui fideliter pro ipso certaverint, ab ipso feliciter coronentur, et qui noluerint in tante necessitatis articulo debite servitutis impendere famulatum, in novissimo districti examinis die iuste mereantur dampnationis sententiam sustinere (Übersetzung nach FSGA 18b, S. 269). 47 Ebd., S. 104: Ne autem aliis onera gravia et importabilia imponere videamur, que digito nostro movere nolimus, protestamur coram Deo, quia, quod ab aliis exigimus faciendum, hoc ipsi prompto animo faciemus (Übersetzung nach FSGA 18b, S. 275). 48 Ebd.: oportet in tali conflictu non tam corporalibus armis quam spiritualibus dimicare. Ideoque statuimus et mandamus, ut singulis mensibus fiat generalis processio, seorsum virorum ac mulierum, in humilitate mentis et corporis, cum devota orationum instantia postulantium, ut misericors Deus hoc a nobis auferat obprobrium confusionis, liberando terram illam, in qua universa nostre red-

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sollten mit Fasten und Almosen verbunden werden, damit sie „wie auf Flügeln schneller und leichter zu den Ohren des allmächtigen Gottes fliegen und er uns zur rechten Zeit mild erhört“.49 An jedem Tag „sollen sich alle Männer und Frauen während der Messfeier nach dem Friedenskuss, wenn gerade für die Sünden der Welt die heilsame Hostie geopfert werden soll, demütig zur Erde niederwerfen, und die Kleriker sollen folgenden Psalm mit lauter Stimme singen: ,Herr, es sind Heiden eingedrungen.‘ Wenn der mit dem Vers beendet worden ist: ,Gott steht auf‘, soll der zelebrierende Priester dieses Gebet mit lauter Stimme am Altar singen: ,Deus, qui admirabili‘.“50 Das letztgenannte Gebet hatte Innozenz III. selbst formuliert. Mit diesen Bestimmungen rückte der Papst indes den Psalm 79 erneut ins Zentrum der Kreuzzugsagitation. Die Klage des Psalms über die Verunreinigung der heiligen Stätten durch die Heiden sollte Gott durch die Stimmen der Priester nahegebracht werden, während alle Laien die Dringlichkeit der Bitten mit ihrer Proskynese unterstrichen. Dies war einerseits die intensivste Art, Gottes Hilfe herabzuflehen; andererseits machte sie es den so Bittenden schwer, sich anschließend dem schuldigen Dienst für Christus, dem Kreuzzug, zu entziehen. Wer so um Gottes Hilfe beim Kreuzzug bat, hatte implizit ein Kreuzzugsgelübde abgelegt. Der Papst aber hatte mit der Anordnung dieser liturgischen Bittrituale die Rache für die todeswürdigen Frevel der Ungläubigen an den heiligen Stätten in Jerusalem erneut zur Hauptaufgabe der Kreuzfahrer gemacht. Er dürfte gewusst haben, dass er damit in der Tradition seiner Vorgänger bis hin zu Urban II. stand. Die Konstanz, mit der spätere Päpste bei ihren Kreuzzugsaufrufen immer wieder auf den Psalm  79

emptionis sacramenta peregit, de manibus paganorum (Übersetzung nach FSGA 18b, S. 275). 49 Ebd.: Orationi vero ieiunium et elemosina coniungatur, ut his quasi alis facilius et celerius ipsa volet oratio ad piissimas aures Dei, qui nos clementer exaudiat in tempore oportuno (Übersetzung nach FSGA 18b, S. 275). 50 Ebd.: In singulis quoque diebus intra missarum solemnia post pacis osculum, cum iam pro peccatis mundi offerenda sit hostia salutaris, omnes, tam viri quam mulieres, humiliter prosternantur in terram, et a clericis psalmus iste: „Deus, venerunt gentes“, cantetur alta voce; quo cum hoc versu finito: „Exurgat Deus“ et sacerdos, qui celebrat, orationem istam alta voce super altare decantet: „Deus, qui admirabili.“ (Übersetzung nach FSGA 18b, S. 275 / 77); siehe dazu Roscher, Innocenz III., S. 146 f.

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rekurrierten, darf daher wohl als starkes Argument dafür gewertet werden, dass dies auch Urban II. bereits getan hatte, wie es die zeitgenössischen Quellen dicht bezeugen. Damit sind jedoch noch nicht alle Spuren genannt, die auf die Bedeutung des Psalms 79 in der Kreuzzugspredigt Papst Urbans II. hinweisen. Ein frühes Echo auf diese Predigt scheint bereits aus den jüdischen Gemeinden im Rheinland zu kommen, deren Mitglieder bekanntlich Opfer von Pogromen bestimmter Kreuzfahrer wurden, noch bevor sich diese auf den Weg ins Heilige Land machten.51 Über diese Geschehnisse haben sich erschütternde Berichte, aber auch Gedichte erhalten, in denen der Psalm 79 immer wieder begegnet. Die Juden flehten in ihrer Not nämlich um die Hilfe Gottes und baten ihn, sie und ihr Schicksal zu rächen. Sie taten dies, indem sie gleichfalls den Psalm 79 zitierten: „Mögest du rächen das vergossene Blut deiner Knechte“, oder: „Vollzieh meine Rache und die Rache für das Blut meiner Frommen“, oder: „Schütte deinen Grimm über die Völker, welche dich nicht erkennen, und über die Königreiche“, oder: „Möge kund werden an den Völkern vor unseren Augen die Rache für das Blut deiner Knechte“.52 So wie der Papst den Psalm 79 benutzt hatte, um Gottes Rache an den Ungläubigen zu fordern, weil sie mit ihren Riten heilige Stätten entweiht und die Christen getötet hatten, so nutzten nun die Juden den gleichen Psalm, um Gottes Rache für das vergossene Blut seiner jüdischen Knechte an den Christen zu fordern. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass sie den Psalm 79 auch und gerade deshalb nutzten, weil sie wussten, dass er in den christlichen Predigten zum Kreuzzug eine herausragende Rolle gespielt hatte. Über die Vorgänge in Clermont waren die Juden in Mainz nämlich ganz offensichtlich informiert, deren anonymer Chronist zunächst vom Aufruf Urbans berichtet, den er „Satan“ und „Papst des bösen Rom“ nennt, ehe er das Ergebnis dieses Aufrufs anspricht: „da hielten sie üblen Rat wider das Volk des Ewigen (die Juden); sie sprachen, warum sollten sie sich abmühen, Krieg zu führen gegen die Ismaeliten um Jerusalem herum, wo doch unter ihnen ein Volk sei, das ihre ,Furcht‘ nicht respektiere, ja dessen Väter sogar ihren Gott gekreuzigt hätten: ,Warum sollten wir sie am Leben lassen, warum sollten sie unter uns weilen? Wir wollen unsere

51 Vgl. hierzu Haverkamp (Hg.), Hebräische Berichte, Einleitung, S. 1 ff. 52 Ebd., S. 16, Anm. 71.

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Schwerter an ihrem Kopf erproben, danach begeben wir uns auf den Weg unseres Irrtums.‘“53 Die Formulierungen lassen es als möglich erscheinen, dass die Mainzer Juden von den den Kreuzfahrern durch Papst Urban gesetzten Zielen und Aufgaben gewusst haben. Aus den sie treffenden Pogromen könnten sie geschlossen haben, dass einige Kreuzfahrer aus der Predigt Urbans eigenmächtig die Konsequenzen gezogen hatten, die Ungläubigen gleich in der Heimat zu vernichten. Zwar ist die Benutzung des Rachepsalms auch unabhängig voneinander denkbar, doch macht die jüdische Argumentation mit diesem Psalm dann besonderen Sinn, wenn sie als Echo auf die christlichen Akzentuierungen verstanden wird. Mit den hier vorgetragenen Beobachtungen und Quellenanalysen erscheint eine Reihe von Einschätzungen zu der Frage revisionsbedürftig, welche Ursachen den ersten Kreuzzug auslösten und die Krieger Europas zu so immensen Anstrengungen motivierten. Damit soll natürlich keiner eindimensionalen Erklärung das Wort geredet werden. Es fällt indes neue Aufmerksamkeit auf die zentrale Botschaft der Predigt Urbans, die bisher bei den auslösenden Ursachen eine eher untergeordnete Rolle spielte. Nun kann man mit Fug und Recht formulieren: Die Argumentation Urbans II. hat mit ihrem alttestamentlich fundierten Insistieren auf der Verunreinigung der heiligen Stätten in Jerusalem durch die Ungläubigen, die Rache und Sühne erfordere, offensichtlich einen Nerv der Zeit getroffen, immense Anstrengungen ausgelöst, aber auch letztendlich ein Massaker bewirkt, das noch heute erschreckt. Dieser Zusammenhang zwischen der Predigt Urbans II. und dem Massaker von Jerusalem wird durch die Erwähnung des Psalms 79 bei Predigt und Massaker hergestellt oder zumindest sehr nahegelegt. Dieser Befund erweitert die Beispiele, die einen direkten Zusammenhang zwischen neuer kirchlicher Gewalttheorie und realer Ausübung von Gewalt belegen. Freilich bleiben auch nach dem Gesagten viele Fragen offen, von denen einige noch angesprochen seien. Über die Wege und die Intensität der Verbreitung dieses kirchlichen Legitimationsmodells für Gewalt sind wir nicht detaillierter unterrichtet. Es gibt aber genügend Anhaltspunkte dafür, dass es schon nach Clermont in unzähligen Predigten vor und auf dem Kreuzzug den Kriegern immer

53 Ebd., S. 298.

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wieder nahegebracht worden ist. Und dies scheint sich bei späteren Kreuzzugsaufrufen und Kreuzzügen fortgesetzt zu haben. Der sicher wirkungsvolle Hinweis auf die Besudelung der heiligen Stätten durch die Ungläubigen und die deswegen notwendige Rache zielte in Clermont-Ferrand wahrscheinlich nicht bewusst darauf, die Bevölkerung Jerusalems zu massakrieren, wenn man die heiligen Stätten zurückgewonnen haben würde. Doch stärkte er das Bewusstsein der Kreuzfahrer, Werkzeuge Gottes zu sein, Gewalt anwenden und seine Rache ausführen zu dürfen, da die Heiden die heiligen Stätten mit ihren Kulten besudelt und so den Zorn Gottes heraufbeschworen hätten. Sühne durch das Blut dieser Heiden war in diesem Verständnis als Reinigungsvorgang gottgewollt und unabdingbar. Es ist nicht bekannt, wer aus diesem Bewusstsein die Konsequenz gezogen hat, nach dem Eindringen in die Heilige Stadt und dem militärischen Sieg über die Verteidiger alle Energien darauf zu verwenden, die heiligen Stätten zunächst mit dem Blute der Ungläubigen zu reinigen, die dort lebten, ehe man die heiligen Stätten dann in aller Andacht verehrte, indem man, selbst vom Blute gereinigt, in weißen Gewändern und mit bloßen Füßen an den Orten umherging, die die Füße des Herrn betreten hatten. Wer auch immer dies war – und die Initiatoren sind sicher unter den Führern der Kreuzfahrer zu suchen  –, durfte sich aber zu solchem Tun berechtigt fühlen und diese Berechtigung aus den Predigten Papst Urbans ableiten. Urban II. wiederum stand genau in der Tradition, durch die in neuer Weise das Potential der heiligen Schriften zur Legitimierung päpstlicher Primatsansprüche genutzt wurde. Es wurde von ebenjenen Päpsten aktiviert, die sich die Freiheit der Kirche vom Einfluss der Laien, vor allem der Könige, auf die Fahnen geschrieben hatten. Die Befreiung von den bisherigen Schutzherren und deren Möglichkeiten, Ordnung mit Gewalt und Zwang aufrechtzuerhalten, zeitigte aber die Konsequenz, selbst Zwang und Gewalt veranlassen zu müssen. Die Kreuzzüge sind also nur ein weiteres, allerdings extremes Beispiel. Die Legitimation fand man auch hier in Geschichten des Alten Testaments, die bezeugen, dass Gott gegen die Feinde seines erwählten Volkes den Bann vollstrecken lässt, wenn er darum inständig gebeten wird.

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Der Einfluss der Gewaltdiskurse auf das Kirchenrecht: Die causa 23 des Decretum Gratiani VII. Der Einfluss der Gewaltdiskurse auf das Kirchenrecht

Die großen Krisen des 11. Jahrhunderts haben ein massives Bedürfnis geweckt, die Berechtigung der eigenen Ansprüche mit den Mitteln der Zeit bestmöglich zu erweisen. Man hatte die durchaus schmerzliche Erfahrung gemacht, dass die üblichen Wege und Mittel, Konsens in mündlich-persönlichen Beratungen herzustellen, nicht ausreichten, weil die Vorstellungen, was man nach den Gewohnheiten richtigerweise zu tun habe, unterschiedlich waren. Die Gegensätze ließen sich endgültig nicht mehr überbrücken, als mit König Heinrich IV. und Papst Gregor VII. das höchste weltliche und das höchste geistliche Amt von Männern ausgeübt wurden, die in ganz unterschiedlicher Hinsicht, aber mit gleich ausgeprägter Entschlossenheit bereit waren, sich von den Bindungen zu lösen, die die Gewohnheiten für ihre Amtsführung vorsahen.1 Vom Ausmaß der diametral unterschiedlichen Weltsichten zeugen die ungeheuren Anstrengungen, die etwa in den Streitschriften unternommen wurden, um aus der Tradition Argumente für die eigenen Positionen zu gewinnen, von denen in Kapitel 4 und 5 einige exemplarisch vorgestellt wurden. Es gibt einigen Anlass, sich die erhaltene Überlieferung nur als die Spitze eines Eisbergs vorzustellen, zu der man sich unzählige gelehrte Anstrengungen und mündliche Diskurse hinzudenken muss, die auf eine bis dahin nie da gewesene Durchforstung der einschlägigen Traditionen hindeuten. In Angriff genommen wurde nach einiger Dauer der Konflikte aber auch die systematische Aufbereitung des einschlägigen Materials, um den dringend nötigen Überblick über die Fülle normativer Texte und ihre teilweise unterschiedlichen Deutungen durch kirchliche Autoritäten zu bekommen. Diese Arbeiten intensivierten den laufenden „Verrechtlichungsprozess“ in Kirche und Welt, um aus der Aporie herauszuführen, die die offensichtliche Unlösbarkeit der vielen Dissense bewirkt hatte. Vielleicht 1 Vgl. Althoff, Heinrich IV., S. 116 ff.; Cowdrey, Gregory VII, S. 129 ff.

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drückt Petrus Crassus, der juristisch gebildete Verteidiger Heinrichs IV., die Grundstimmung, die bei diesem Prozess herrschte, angemessen aus: „Das heutige Menschengeschlecht schreckt vor der Treue, der Gerechtigkeit, der Wahrheit und den übrigen Tugenden … so sehr zurück, dass es sie entweder überhaupt nicht kennt, oder wenn es sie kennt, hasst.“2 Diese Zeitdiagnose macht wohl verständlich, warum man nun in bis dato unbekannter Weise daranging, Normen und Regeln explizit zu formulieren und schrift lich zu fi xieren, die man bis dahin implizit gelassen und im jeweiligen Bedarfsfall unterschiedlichen Findungsverfahren anvertraut hatte. Als ein erster Höhepunkt dieses Prozesses gilt zu Recht das Werk Gratians, das lange in die 40er Jahre des 12. Jahrhunderts datiert und als „[der] Beginn wie die Vollendung des Kirchenrechts“ eingeschätzt wurde.3 Im Augenblick geht man wohl von mindestens zwei Rezensionen des Werkes aus, die in die 1120er und 1140er Jahre datiert werden. Ob beide Fassungen das Werk einer Person, eben Gratians, sind, ist zurzeit unentscheidbar, man schließt nicht aus, dass verschiedene Personen an dem Werk beteiligt gewesen sein können.4 Für uns ist vor allem wichtig, dass die im Folgenden untersuchte causa 23 bereits zu großen Teilen in der älteren Redaktion enthalten war.5 Die kaum zu überschätzende Leistung des als Person wenig greifbaren Gratian, hinter dessen Namen sich auch mehrere Autoren verbergen können, bestand vor allem darin, das in unterschiedlichen Formen in der Kirche vorhandene kirchenrechtliche Material in einer Concordia discordantium canonum gesammelt und unter systematischen Fragestellungen dargeboten und kommentiert zu haben. Aufgenommen wurden so heterogene Texte wie die Beschlüsse von Synoden und Konzilien, Dekrete und Briefe von Päpsten, Äußerungen der Kirchenväter, aber auch viele biblische Erzählungen und dicta. Dies gelang in einer bis dahin nie da gewesenen Vollständigkeit, die ganz gewiss mit den Vorarbeiten zusammenhing, die der große Streit zwischen Kirche und Welt seit dem 11. Jahrhundert bewirkt hatte.6 2 Vgl. Hartmann, Toleranz im Investiturstreit, S. 29. 3 Vgl. Zapp, Art. Corpus iuris canonici, Sp. 264 ff. 4 Vgl. dazu Winroth, Gratian’s Decretum, bes. S. 122 ff. u. S. 175 ff.; zustimmend Landau, Gratian and the Decretum Gratiani, S. 38 ff.; einen aktuellen Überblick über den Stand der Diskussion bietet Thier, Hierarchie und Automomie, S. 3 f. 5 Vgl. dazu Winroth, Gratian’s Decretum, Appendix: The Contents of the First Recension, S. 218 ff. 6 Vgl. dazu Landau, Art. Gratian, Sp. 124 ff.

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Befruchtend wirkten aber auch die Arten der Darbietung und Kommentierung, die Lösungen der durch die Autoritäten aufgeworfenen Probleme vorschlugen oder zumindest Argumente des pro und contra boten. So schuf das Werk die Voraussetzungen für die Entwicklung einer kirchlichen Rechtswissenschaft, die sich nicht zuletzt an der Arbeit mit dem Decretum, durch Glossierung und die Formulierung von Summen herausbildete.7 Für unseren Zusammenhang ist das Decretum Gratiani deshalb von größter Wichtigkeit, weil es sich systematisch mit unserer Leitfrage nach den Bedingungen, unter denen die Kirche Gewalt anwenden dürfe, auseinandersetzte. Dies geschah vorrangig in der causa 23, in der zunächst eine Ausgangslage formuliert ist, aus der Fragen (questiones) generiert werden, die dann mithilfe von kirchlichen Autoritäten und eigenen Kommentaren beantwortet werden. Der Zusammenhang mit unseren Untersuchungen zur Entwicklung einer neuen kirchlichen Gewalttheorie im Umkreis Papst Gregors VII. ergibt sich schon daraus, dass der Autor gerade in dieser causa 23 sehr intensiv eine Kanonessammlung des engen Vertrauten Gregors, Anselms von Lucca, benutzt hat,8 und zwar insbesondere die Ausführungen Anselms in Buch 12 und 13 dieser Sammlung, wo bereits umfangreiches Material zur Beurteilung der Gewaltfrage aufbereitet worden war. Man kann also begründet davon ausgehen, dass es nicht zuletzt Gedankengut des Gregor-Kreises zur Gewaltfrage war, welches geradezu die Basis der Überlegungen „Gratians“ darstellte. Daher scheint ein Versuch lohnend, die Argumentationen und Belegketten zu der Fragestellung, ob man die Bösen dulden oder gegen sie Gewalt anwenden müsse, genauer nachzuzeichnen. Hierzu bietet die causa 23 nämlich detaillierte Positionen. Die in der Forschung häufiger geäußerte Meinung, Gratian habe es dem Benutzer seiner Sammlung überlassen, „sich im Einzelfall für Duldung oder Zwang zu entscheiden“, bedarf dabei einer kritischen Überprüfung. Zweifel an der Unentschiedenheit Gratians, was die Anwendung von Zwang angeht, sind vor allem deshalb begründet, weil die Argumentatio-

7 Siehe dazu die Beiträge in Hartmann / Pennington (Hg.), History of Medieval Canon Law; sowie Helmholz, Spirit of Classical Canon Law. 8 Vgl. dazu Winroth, Gratian’s Decretum, S. 15 f.; zu weiteren Quellen Gratians in der causa 23 siehe auch Hubrecht, Juste guerre, S. 164 ff.; jetzt auch Lenherr, Redaktionsgeschichte, S. 31 ff.; Münster-Swendsen, Canons for the Hawks, S. 59 ff.

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nen gerade in der causa 23 häufig durch entschiedene Urteile abgeschlossen werden.9 Man wird der Darstellungsabsicht und den argumentativen Zielen wohl eher gerecht, wenn man die in der causa 23 angeführten Autoritäten und die Einzelaussagen als eine Beweisführung auffasst, die vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitet und so der Komplexität der Fragestellung und der Diversität der Autoritäten gerecht zu werden versucht. Deshalb seien die Struktur und der Weg der Argumentation in dieser causa im Einzelnen verfolgt.10 Die Problematik stellt „Gratian“ einleitend an einem Fallbeispiel wie folgt dar: „Einige Bischöfe waren mit dem ihnen anvertrauten Volk in Häresie verfallen. Auch die umwohnenden Katholiken versuchten sie mit Drohungen und Peinigungen zur Häresie zu zwingen. Als das der Papst erfuhr, befahl er den katholischen Bischöfen der Nachbarschaft, die vom Kaiser die weltliche Gerichtsbarkeit erhalten hatten, dass sie die Katholiken vor den Häretikern verteidigten und sie nach ihren Möglichkeiten zwängen, zur Wahrheit des Glaubens zurückzukehren. Die Bischöfe nahmen diese Aufträge des Papstes an und begannen Krieger zusammenzurufen und offen und durch Nachstellungen gegen die Häretiker zu kämpfen. Schließlich kehrten diese gezwungenermaßen zur Einheit des katholischen Glaubens zurück, nachdem einige von ihnen getötet, anderen ihr Besitz und ihre kirchlichen Güter geraubt, andere ins Gefängnis gebracht worden waren.“11 Aus dieser Lage ergaben sich für den Autor folgende Fragen: „1.  Ob Kämpfen eine Sünde sei. 2.  Was ein gerechter Krieg sei und wie von den 9 Das Zitat im Text bei Becker, Stellung des kanonischen Rechts zu den Andersgläubigen, S. 104 mit Hinweis auf Walter, Häresie und päpstliche Politik, S. 117, der aber vorsichtiger argumentiert; siehe grundsätzlich auch Schreiner, „Tolerantia“, S. 357 ff.; Angenendt, Toleranz und Gewalt, S. 232 ff. 10 Vgl. dazu Thier, Dynamische Schrift lichkeit, S. 1 ff. mit weiteren Hinweisen. 11 Decretum magistri Gratiani, causa 23, Sp. 889: Quidam episcopi cum plebe sibi conmissa in heresim lapsi sunt; circumadiacentes catholicos minis et cruciatibus ad heresim conpellere ceperunt, quo conperto Apostolicus catholicis episcopis circumadiacentium regionum, qui ab inperatore ciuilem iurisdictionem acceperant, inperauit, ut catholicos ab hereticis defenderent, et quibus modis possent eos ad fidei ueritatem redire conpellerent. Episcopi, hec mandata Apostolica accipientes, conuocatis militibus aperte et per insidias contra hereticos pugnare ceperunt. Tandem nonnullis eorum neci traditis, aliis rebus suis uel ecclesiasticis expoliatis, aliis carcere et ergastulo reclusis, ad unitatem catholicae fidei coacti redierunt. Vgl. dazu Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe, S. 242.

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Söhnen Israels gerechte Kriege geführt wurden. 3. Ob Unrecht an Genossen mit Waffen zurückzuweisen sei. 4.  Ob man Rache nehmen (Vergeltung üben) dürfe. 5.  Ob es eine Sünde sei, wenn Richter oder (Staats-)Diener einen Angeklagten töten. 6.  Ob die Bösen zum Guten zu zwingen seien. 7. Ob Häretikern ihr Besitz und kirchlicher Besitz zu nehmen sei und ob der, der etwas besitzt, das den Häretikern abgenommen wurde, als jemand bezeichnet werden könne, der fremdes Gut besitzt. 8.  Ob Bischöfen und irgendwelchen Klerikern aufgrund eigener auctoritas, oder der des Papstes oder des Kaisers, erlaubt sei, Waffen zu tragen.“12 Mit diesen Fragen setzt sich Gratian dann auf der Basis einschlägiger kirchlicher Autoritäten und eigener Überlegungen auseinander. „Kämpfen“, so beginnen die Ausführungen in questio 1, „scheint der Lehre des Evangeliums fremd“,13 alle Arten des Kämpfens seien verboten. Dies wird mit bekannten Bibelzitaten belegt: „Wenn dich jemand auf die eine Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin.“ (Matthäus 5,39); oder mit dem an Petrus gerichteten Herrenwort: „Stecke dein Schwert in die Scheide, oder glaubst du nicht, dass ich meinen Vater bitten kann, und er wird mir mehr als zwölf Legionen Engel senden.“ (Matthäus 26,52). In diesen wie in mehreren anderen Beispielen, so schließt die Argumentation: „was wird anderes angeordnet, als dass die Rache an den Übeltätern der göttlichen Prüfung vorbehalten wird? … Also ist Kämpfen eine Sünde.“14 Die Sachlage scheint also gleich eingangs zugunsten der Verpflichtung der Christen zu absoluter Gewaltlosigkeit geklärt. Dies bleibt aber nicht so. Gratian referiert nämlich anschließend ausführlich die Argumentationen Augustins, die das Kämpfen in bestimmter Geisteshaltung und aus bestimmten Gründen nicht für sündhaft, sondern für Gott wohlgefällig

12 Decretum magistri Gratiani, causa 23, Sp. 889: (Qu. I.) Hic primum queritur, an militare peccatum sit? (Qu. II.) Secundo, quod bellum sit iustum, et quomodo a filiis Israel iusta bella gerebantur? (Qu. III.) Tertio, an iniuria sociorum armis sit propulsanda? (Qu. IV.) Quarto, an uindicta sit inferenda? (Qu. V.) Quinto, an sit peccatum iudici uel ministro reos occidere? (Qu. VI.) Sexto, an mali sint cogendi ad bonum? (Qu. VII.) Septimo, an heretici suis et ecclesiae rebus sint expoliandi, et qui possidet ab hereticis ablata an dicatur possidere aliena? (Qu. VIII.) Octauo, an episcopis uel quibuslibet clericis sua liceat auctoritate, uel Apostolici, uel inperatoris precepto arma mouere? 13 Ebd., questio 1, Sp. 889: militare alienum uideatur ab euangelica disciplina. 14 Ebd., Sp. 890: in his omnibus quid aliud precipitur, quam ut uindicta delinquentium diuino reseruetur examini? … quod militare peccatum est.

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erklären. Hier fußt er sehr deutlich auf einer im Umkreis Gregors VII. ausgearbeiteten Konzeption. Diese Argumentationen hatte ganz ähnlich schon Anselm von Lucca im 13. Buch seiner Kanonessammlung ausführlich zitiert.15 Er hatte dies unter anderem unter den Überschriften getan: „Über Rache (Vergeltung), die nicht aus Hass sondern aus Liebe geschieht“ bzw. „Dass Kriege mit Wohlwollen geführt werden sollen“. Gratian selbst stellte seinen Autoritäten die These voran: „Die Gebote der Langmut sind nicht durch Ausdrucksweisen des Körpers, sondern durch die Rüstung des Herzens einzuhalten.“16 Damit war ziemlich verklausuliert eine Voraussetzung formuliert, unter der die Anwendung von Gewalt durch Christen gerechtfertigt werden konnte. Gewalt durfte nur in rechter Gesinnung ausgeübt werden, mit patientia, benevolentia und amor. Augustin nannte die Kriege friedlich (pacata), „die aus Eifer für den Frieden geführt werden, damit die Bösen gezügelt und die Guten ermutigt werden“.17 Aus diesen Gründen kam Gratian am Ende der ersten questio zu dem dezidierten Schluss, dass das Kämpfen keine Sünde sei und dass die Gebote der Geduld im Innern und nicht im Äußerlichen bewahrt werden müssten. Das konnte aber nur bedeuten, dass derjenige, der in rechter Gesinnung kämpfte – eben aus Eifer für den Frieden, um die Guten zu schützen und die Bösen in die Schranken zu weisen  –, nicht sündigte, sondern ein Gott wohlgefälliges Werk vollbrachte. Die 2. questio definiert nur den gerechten Krieg nach Isidor von Sevilla: Es sei ein Krieg, der aufgrund einer (herrscherlichen) Verordnung geführt und durch den Unrecht gerächt werde. Außerdem wird postuliert, dass von den Söhnen Israels gerechte Kriege geführt wurden. Interessanter ist die 3. questio, die sich mit der Frage beschäftigt, ob das Genossen angetane Unrecht mit Waffengewalt bekämpft werden dürfe. Wieder beginnt die Beweisführung mit Argumenten und Belegen, die dies verneinen. Christus sei den Nachstellungen des Herodes nicht mit bewaffneten Helfern entgegengetreten, sondern heimlich nach Ägypten entflohen. Auch bei seiner Verurteilung und Kreuzigung habe er nicht auf seine Anhänger gesetzt, die ihm einen großen Empfang in 15 Vgl. Cushing, Papacy and Law, S. 193 f. 16 Decretum magistri Gratiani, causa 23, questio 1, cap. 1, Sp. 894: precepta patienciae non tam ostentatione corporis quam preparatione cordis sunt retinenda. 17 Ebd., cap. 6, Sp. 893: ipsa bella pacata sunt, que … pacis studio geruntur ut mali coherceantur, et boni subleuentur.

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Jerusalem bereitet hatten.18 Dann aber folgen verschiedene Stimmen, die aus unterschiedlichen Perspektiven dafür plädieren, dass man unter bestimmten Umständen gerechtfertigt, ja verpflichtet sei, Gewalt auszuüben. Es findet sich der Gedanke, dass es dem Räuber oder Piraten ja nütze, wenn man ihm seine Glieder verstümmele, da er sie zuvor nicht zu Gutem genutzt habe und jetzt von seinem bösen Tun Abstand nehmen müsse. Und es wird auch das Fazit gezogen, „dass man manchmal den Schlechten entgegentreten muss, da sowohl den Bösen die ihnen genommene Fähigkeit, Unrecht zu tun, nützt als auch den Guten die willkommene Fähigkeit, frei für die Kirche Sorge zu tragen, dienlich ist.  Wer dies nicht tut, stimmt (dem Bösen) zu.“19 Auch dieses Fazit überlässt dem Leser keine eigene Entscheidung, sondern gibt sie dezidiert vor. Auch die questio 4 beginnt mit der Ansicht, dass man keine Vergeltung üben dürfe, und bringt hierfür Argumente mehrerer Autoritäten, die begründen, dass und warum die Bösen ertragen werden müssten. In dieser Hinsicht wird auch das erste Zwischenfazit sehr grundsätzlich formuliert: „Die Bösen sind zu ertragen und nicht mit körperlicher, sondern geistlicher Vergeltung zu strafen.“20 Christus habe nämlich gesagt: „Ihr habt gehört, was im Gesetz (im Alten Testament) gesagt wird: ,Auge um Auge, Zahn um Zahn‘. Ich aber sage euch, widersetzt euch nicht dem Bösen, sondern liebet eure Feinde, tuet Gutes denen, die euch hassen, damit ihr Söhne seid eures Vaters, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse und es regnen lässt über

18 Ebd., questio 3, Sp. 895: Quod uero iniuria sociorum armis propulsanda non sit, exemplis et auctoritatibus probatur. Dominus enim, cum ab Herode quereretur ad interficiendum, non patrocinium sibi quesiuit armorum, cum occulto instinctu posset in eum conuertisse manus Iudeorum, sed fugiens in Egyptum latuit ibi per septennium. Sic etiam, cum a Iudeis lapidibus peteretur, abscondit se, et exiuit de templo. Sic etiam, cum duceretur ad crucem, noluit conmouere aduersus seniores Iudeorum turbam, que nuper ei obuiam processerat, et cum palmis et laudibus eum receperat. 19 Ebd., cap. 10, Sp. 898: Ecce, quod nonnumquam est obuiandum peruersis, et iniuria sociorum armis est propulsanda, ut et malis adempta facultas delinquendi prosit, et bonis optata facultas libere consulendi ecclesiae ministretur. Hoc qui non facit, consentit. 20 Ebd., questio 4, cap. 12, Sp. 902 f.: Ecce, quod mali tollerandi sunt, nec corporali, sed spirituali uindicta sunt puniendi.

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Gerechte und Ungerechte.“21 Angefügt wird eine Weisung des Paulus an die Römer, die in die gleiche Richtung geht. Danach stellt der Autor einander diametral widersprechende Aussagen des alttestamentlichen Gottes und des neutestamentlichen Christus gegenüber. Ersterer wird zitiert mit Exodus 20,5: „Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott. Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Sünden der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation.“ Letzterer antwortet darauf mit der Bergpredigt (Matthäus 5,3): „Selig, die arm sind vor Gott  … selig die Sanftmütigen  … selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ Es folgen mehrere andere Gegenüberstellungen von Aussagen aus dem Alten und dem Neuen Testament, in denen ebenso konträre Positionen vertreten werden. So deutet zunächst einmal erneut alles darauf hin, dass die Gewaltlosigkeit und der Verzicht auf Vergeltung zur unabdingbaren christlichen Grundhaltung erklärt werden. Das bringt auch ein erneut eingestreutes Zwischenfazit zum Ausdruck: „Aus all dem ergibt sich, dass die Bestrafung der Bösen Gott vorzubehalten ist; sie sind nicht körperlich zu strafen, sondern durch häufige Ermahnung und Wohltaten der Liebe zur Umkehr einzuladen.“22 Nach diesen einleitenden Ausführungen folgen aber noch 24 Spalten mit einer ungewöhnlichen Fülle weiterer Argumente, die mit dem mehrfach wiederholten Hinweis auf das dictum Augustins, „Die Bösen sind am Bösen zu hindern und zum Guten zu zwingen“, sowie mit dem deutlich veränderten Fazit enden: „Aus all diesem ergibt sich, dass Strafe nicht aus Liebe zu dieser Strafe, sondern aus Eifer für die Gerechtigkeit zu üben ist. Sie wird nicht aus Hass ausgeübt, sondern damit die Schlechtigkeit zurechtgewiesen wird.“23 Wieder beobachtet man also die Tech-

21 Ebd., cap. 15, Sp. 903: Unde Christus ait in euangelio: „Audistis: quia dictum est in lege, (quem modum ulcionis lex statuit) Oculum pro oculo, dentem pro dente. Ego autem hanc uicissitudinem tollens, et ad mansuetudinem et karitatis perfectionem uos inuitans, dico uobis: Nolite resistere malo, sed diligite inimicos uestros, benefacite his, qui oderunt uos, ut sitis filii patris uestri, qui solem suum oriri facit super bonos et malos, et pluit super iustos et iniustos.“ 22 Ebd.: Ex his omnibus colligitur, quod malorum uindicta Deo reseruanda est, nec sunt corporaliter puniendi, sed crebra ammonitione, et karitatis beneficio ad correctionem inuitandi. 23 Ebd., cap. 54, Sp. 928: Ex his omnibus colligitur, quod uindicta est inferenda non amore ipsius uindictae, sed zelo iusticiae; non ut odium exerceatur, sed ut prauitas corrigatur.

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nik, am Anfang der questio zunächst auf der Grundlage von Aussagen des Neuen Testaments ein allgemeines Ge- oder Verbot zu formulieren, dann aber mithilfe vor allem der Kirchenväter, aber auch des Alten Testaments nachzuweisen, dass dieses Ge- oder Verbot unter bestimmten Bedingungen nicht eingehalten werden muss. Die Quintessenz dieser langen Abhandlung ist nämlich erneut, dass unter bestimmten Bedingungen Gewalt erlaubt und Gott wohlgefällig sei. Zunächst werden Autoritäten, allen voran wieder Augustinus, zitiert, aus denen hervorgeht, dass Bestrafung von Bösem nicht immer, aber unter bestimmten Bedingungen ratsam ist; dass diese Bestrafung überdies in einer bestimmten Gesinnung, nämlich mit „medizinischer Strenge“,24 zu üben sei. Diese Argumente veranlassen den Autor zu dem Schluss: „Sieh also, dass Verbrechen zu strafen sind, wenn es vorbehaltlich des kirchlichen Friedens möglich ist; hier muss man allerdings Unterscheidung walten lassen. Manchmal nämlich ist die Menge der Sünder lange mit Geduld zur Buße zu erwarten, manchmal sind einige zu bestrafen, damit durch ihr Beispiel die übrigen abgeschreckt und zur Buße veranlasst werden.“25 An die Stelle einer grundsätzlichen Ablehnung des Einsatzes von Gewalt ist hier die Überlegung getreten, ob durch Gewaltanwendung bestimmte angestrebte Ziele zu erreichen sind. Dass die Sünden des Volkes an einigen zu strafen sind, belegt der Autor mit den Beispielen des Mose, indem er die auch in den Streitschriften häufiger angeführten Geschichten vom Tanz um das goldene Kalb (Exodus 32) und von der Tat des Pinhas (Numeri 25) anführt, die drastisch zeigen, wie streng im Auftrage Gottes mit Sündern verfahren wurde. Kommentierend unterstreicht er auch hier wieder, „dass die Gebote des Evangeliums bezüglich der Feindesliebe und der Barmherzigkeit nicht so zu verstehen sind, dass Sündern (damit) Straflosigkeit gewährt würde, sondern damit die Zurechtweisung des Sünders und das Heilmittel der Natur (so lange) genutzt wird, bis durch das Urteil des Richters die Hoffnung auf Besserung geraubt und das Treiben der Bösen beendet wird … 24 Ebd., cap. 25, Sp. 910: Medicinali seueritate mali coguntur ad bonum. 25 Ebd., Sp. 911: Ecce, quod crimina sunt punienda, quando salua pace ecclesiae feriri possunt; in quo tamen discretio adhibenda est. Aliquando enim delinquentium multitudo diu per patienciam ad penitenciam est expectanda: aliquando in paucis est punienda, ut eorum exemplo ceteri terreantur, et ad penitenciam prouocentur. Vgl. dazu allg. Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe, bes. S. 257 ff.

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Den Bußwilligen gegenüber müssen wir barmherzig sein, den Verstockten und im Bösen Verharrenden gegenüber dürfen wir nicht barmherzig sein.“26 In diesem Sinne zitiert der Autor auch Ambrosius, der zwischen „gerechter und ungerechter Barmherzigkeit“ unterschieden und sich hierbei interessanterweise auf das Beispiel Sauls berufen hatte, der dem gegnerischen König Agag gegen Gottes Willen Barmherzigkeit erwies und dafür von Gott verworfen wurde (1 Samuel 15). Wir haben in Kapitel 2 bereits gezeigt, dass diese Belegstelle schon für das päpstliche Selbstverständnis Gregors VII. eine zentrale Bedeutung hatte. Auch die anderen zitierten Beispiele aus dem Alten Testament weisen allerdings nachdrücklich darauf hin, wie stark alle Belege und Überlegungen von den in der Gregorianischen Reform entwickelten Positionen beeinflusst sind, die das Alte Testament intensiv genutzt hatten, um eine neue kirchliche Gewalttheorie grundzulegen. Diese Beobachtung wird durch die weitere Argumentation in questio 4 bestätigt. Auf die Differenzierung zwischen Bußwilligen und Verstockten folgt nämlich eine lange Reihe von Belegen, in denen Augustinus die Verfolgung von Häretikern als gerechtfertigt erklärt hatte. Der Autor leitet sie folgendermaßen ein: Der Hinweis des Hieronymus, nach dem die Kirche niemanden verfolge, dürfe nicht so verstanden werden, als ob die Kirche generell niemanden verfolge. Sie verfolge nur niemanden ungerecht. Es sei nämlich nicht jede Verfolgung sündhaft, die Häretiker würden vielmehr vernünftigerweise verfolgt, wie auch Christus die körperlich verfolgt habe, die er aus dem Tempel vertrieb.27 Augustinus hatte ja im Donatistenstreit immer wieder dezidiert Gewalt gegen Häretiker gutgeheißen, was hier mit

26 Decretum magistri Gratiani, causa 23, questio 4, cap. 32, Sp. 914: Precepta uero euangelica de dilectione inimicorum, et misericordia inpendenda proximis  … non eatenus intelligenda sunt, ut peccandi relaxetur inpunitas, sed ut delinquent correctio et naturae ministretur subsidium, donec per sentenciam iudicis, adempta spe correctionis, malorum tollatur exercitium … sicut, inquam, penitentibus, ut dictum est, misericordes esse iubemur, sic inpenitentibus et obstinatis in malo inpendere prohibemur misericordiam. 27 Ebd., cap. 36, Sp. 916: Porro illud Ieronimi, quo ecclesia negatur aliquem persequi, non ita intelligendum est, ut generaliter ecclesia nullum persequatur, sed quod nullum iniuste persequatur. Non enim omnis persecutio culpabilis est, sed rationabiliter hereticos persequimur, sicut et Christus corporaliter persecutus est eos, quos de templo expulit.

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mehreren Belegstellen dokumentiert wird.28 Auch verweist der Autor auf das Beispiel des Mose (Exodus 32) und die Vernichtung der Rotte Korach, von der auch in den Streitschriften mehrfach zu lesen ist, und er kommentiert die biblische Szene dahingehend, dass Moses „keine Grausamkeit, sondern große Liebe veranlasst habe zu tun, was er getan habe“.29 So kann resümiert werden: „Es ist kurz gezeigt worden, dass die Guten die Bösen lobenswerterweise verfolgen, und die Bösen die Guten verdammungswürdig … Dass Vergeltung geübt werden kann, ist gezeigt worden. Nun bleibt zu zeigen, was (an Strafen) verhängt werden darf, und dass jene mehr geliebt werden, die gestraft werden, als die, die ungestraft gelassen werden. Beides wird durch das Zeugnis vieler bewiesen.“30 Auf diese Weise wird die Bestrafung der Bösen zu einem Akt der Liebe. Auch dieser Gedanke war in den Streitschriften bereits zitiert und hervorgehoben worden.31 Zur Bestätigung dieser Ansicht folgen mehrere weitere Aussagen Augustins, die mit den Rubriken gekennzeichnet sind: „Wenn verzögert wird, Sünden zu bestrafen, ruft das den Zorn Gottes hervor“; „Bestrafung, die zur Besserung dient, ist nicht zu behindern“; „Ein Christ darf verfolgen, was der Wahrheit entgegengesetzt ist“; „Die Bösen sind am Bösen zu hindern und zum Guten zu zwingen“.32 Der Autor schließt mit dem schon oben zitierten Fazit, dass es der Eifer für die Gerechtigkeit ist, der Christen zur Bestrafung des Bösen veranlasst.33 28 Vgl. dazu Grasmück, Coercitio, S. 168 ff. 29 Decretum magistri Gratiani, causa 23, questio 4, cap. 44, Sp. 924: Nam eum nulla crudelitate, sed magna dilectione fecisse quod fecit. 30 Ebd., cap. 49, Sp. 926: Breuiter monstratum est, quod boni laudabiliter persecuntur malos, et mali dampnabiliter persecuntur bonos … Quod uindicta inferri possit, monstratum est. Nunc restat ostendere, quod debet inferri, et quod magis diliguntur illi, qui puniuntur, quam qui inpuniti relinquuntur; quod utrumque multorum auctoritate probatur. 31 Siehe oben Kap. IV., S. 97. 32 Decretum magistri Gratiani, causa 23, questio 4, cap. 50, Sp. 926: Ad iram Deus prouocatur, cum peccata puniri differuntur; ebd., cap. 51, Sp. 926: Vindicta, que ad correctionem ualet, non est prohibenda; ebd., cap. 52, Sp. 928: Que ueritati contraria sunt Christianus persequi debet; ebd., cap. 54, Sp. 928: Mali sunt prohibendi a malo, et cogendi ad bonum. 33 Zum Phänomen des Zelotismus siehe allg. Deines, Art. Zeloten, S. 626 ff., der allerdings stark auf die Zeloten des ersten Jahrhunderts nach Christus (Flavius Josephus) abhebt; Schmitt, „Heiliger Krieg“, bes. S. 30 ff.

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Die questio 5 beschäftigt sich mit der härtesten denkbaren Vergeltung, der Verurteilung zum Tode, und fragt, ob es eine Sünde sei, wenn Richter oder andere (Staats-)Diener einen Delinquenten zum Tode verurteilen. Wieder beginnt der Beweisgang mit einer grundsätzlichen Ablehnung: „Dass aber niemandem erlaubt ist, einen anderen zu töten, wird durch jenes Gebot bezeugt, durch das Gott im Alten Testament das Töten verbot, indem er sagte: ,Du sollst nicht töten.‘“34 Dieses Tötungsverbot wird jedoch nur mit wenigen Autoritäten untermauert, die der Autor wie folgt zusammenfasst: „Daraus wird klar, dass die Bösen mit Strafen zu zwingen sind, nicht durch Verstümmelung der Glieder und nicht durch die Todesstrafe.“35 Direkt anschließend bringt er eine ganze Reihe biblischer Zeugnisse, die dem Tötungsverbot widersprechen: „Gott sagte zu Moses: ,Lass die Gottlosen nicht am Leben‘, ,Wer einem Tier beiwohnt, wird mit dem Tode bestraft‘, Ehebrecher oder Gotteslästerer befahl er, mit dem Tode zu bestrafen.“36 Um diese Gebote Gottes und die von ihm geforderten Tötungen zu konkretisieren, ruft der Autor knapp die einschlägigen, schon mehrfach zitierten Geschichten des Alten Testaments auf, Moses und die Rotte Korach, Samuels Tötung des König Agag, Pinhas Durchbohrung des Israeliten und der Medianiterin auf dem Lager. Sie alle, die im Eifer für die göttliche Sache töteten, seien, wie auch noch andere im Alten Testament, nicht Übertreter des Gesetzes (trangressores legis), sondern seine Verteidiger (defensores) genannt worden. Ein Tötungsverbot, so wird differenziert, bestehe nur für Tötung aus eigenem Antrieb; wer in gesetzlichem Auftrag Böse tötet, ist nicht „der himmlischen Heimat entfremdet“.37 Viele weitere 34 Decretum magistri Gratiani, causa 23, questio 5, I. pars, Sp. 928: Quod autem nulli liceat aliquem occidere, illo precepto probatur, quo Dominus in lege homicidium prohibuit, dicens: „Non occides.“ 35 Ebd., cap. 7, Sp. 932: Hinc apparet, quod mali flagellis sunt cohercendi, non membrorum truncatione uel temporali morte plectendi. 36 Ebd.: quod ait Dominus ad Moysen: „Maleficos non patieris uiuere“; item: „Qui coierit cum iumento morte moriatur.“ Adulterii etiam uel blasphemiae crimine notatus inmisericorditer lapidari iubetur. 37 Ebd.: Samuel etiam Agag regem pinguissimum in frusta concidit. Finees quoque Iudeum cum Madianita coeuntem gladio transfixit, quod ei reputatum est ad iusticiam. Similiter nonnulli in ueteri testamento inueniuntur malos trucidasse, nec transgressores legis, sed defensores appellantur. §. 2. Prohibetur ergo illo precepto quisque sua auctoritate in necem alicuius armari, non legis inperio reos morti tradere. Qui enim, publica potestate functus, ipsius legis inperio malos perimit, nec illius precepti transgressor, nec a celesti patria alienus habetur.

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Autoritäten beweisen dann, dass vielmehr diejenigen, die den Fürsten und Machthabern, die solche Tötungen von Amts wegen ausführen, Treue und Anerkennung verweigern, aus der Gemeinschaft auszuschließen sind.38 Der Autor bringt zur Verstärkung dieses Gedankens einen aktuellen Beleg Papst Urbans II., der einen Bischof angewiesen hatte, diejenigen, die Exkommunizierte töten, nicht als Mörder, sondern als solche, die „aus Eifer für die heilige Mutter Kirche brennen“, Buße tun zu lassen.39 Es ist angesichts der hier nur knapp referierten Argumentation nicht überraschend, dass der Autor zusammenfassend unterstreicht, dass man „die Bösen nicht nur züchtigen, sondern auch töten dürfe“. Vielmehr schreitet er in seiner Differenzierung zu der Frage voran, ob die, die Böse töten, ohne die legitime Gewalt dazu zu haben, sich strafbar machen.40 Auch hier bietet er eine reiche Fülle von Belegen dafür, dass Gott Sünden manchmal durch Unwissende, manchmal durch Wissende straft. So können etwa assyrische oder babylonische Despoten Werkzeuge Gottes sein, wie der Prophet Jesaja (10,5) von Assur sagte, der nicht wusste, dass er „die Rute des Zornes Gottes“ sei. Gleiches gilt für Nabuchodonnosor, für Antiochus, für die Römer und viele andere, wie in einem ungewöhnlich langen Kommentar belegt wird.41 Diese Ausführungen leiten zu questio 6 über, die noch einmal der Frage gewidmet ist, „ob die Bösen zum Guten gezwungen werden dürfen“. Der Autor hält dies schon in seinen einleitenden Sätzen für offenkundig und thematisiert es wohl nur deshalb noch einmal, um ein weiteres Problem zu lösen. Ihm ist nämlich bewusst, dass Gott erzwungenen Dienst verachtet und nur den liebt, der ihm fröhlich dient, was wohl im Sinne von freiwillig und ungezwungen zu verstehen ist. Hier wird vor allem die Liebesbotschaft des Neuen Testaments verwertet, dass die Liebe keine Furcht kenne, Zwang aber Furcht bedeute. Daraus

38 Ebd., cap. 25, Sp. 938: Preterea, sicut principibus et potestatibus fidem et reuerentiam exhibere cogimur, ita secularium dignitatum amministratoribus defendendarum ecclesiarum necessitas incumbit. Quod si facere contempserint, a communione sunt repellendi. 39 Ebd., cap. 47, Sp. 945: Non enim eos homicidas arbitramur, quos, aduersus excommunicatos zelo catholicae matris ardentes, aliquos eorum trucidasse contingit. Siehe dazu Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe, S. 261. 40 Decretum magistri Gratiani, causa 23, questio 5, cap. 47, Sp. 945. 41 Ebd., Sp. 946 f.

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wird zunächst gefolgert, dass man die Bösen nicht zum Guten zwingen dürfe.42 Doch ist dies wieder nicht das letzte Wort, denn der Autor findet bei Augustin Überlegungen, die es erlauben, dem Zwang eine heilsame Wirkung zu attestieren und es seiner Wirkung zuzuschreiben, dass das Gute schließlich geliebt wird. Wenn nämlich durch die Furcht vor Strafe das Böse aus dem Bereich der Gewohnheiten ausgeschlossen wird, blühe das Gute auf, weil es anstelle des Bösen Gewohnheit werde. Und dadurch dienen die vom Bösen Abgehaltenen Gott schließlich freiwillig und aus Liebe.43 Auch an diesem Beispiel wird wieder deutlich, dass „Gratian“ keinesfalls dem Leser verschiedene Möglichkeiten zur Entscheidung überlässt, sondern dezidiert für bestimmte Lösungen plädiert, die den Einsatz von Vergeltung, Strafe und Gewalt im Dienste und Interesse der Kirche für legitim und gottgewollt erklären. Argumenten, die gegenteiligen Lösungen das Wort reden, wird zwar eingangs der Beweisführungen häufiger grundsätzlich zugestimmt, ihre Stichhaltigkeit für konkrete Situationen wird jedoch verneint. Die Frage der questio 7 nach dem Umgang mit dem Besitz von Häretikern beschäftigt den Autor wohl deshalb nur sehr kurz, weil der Häretikerproblematik die anschließende causa 24 gewidmet ist. Die Antwort auf die Frage, ob Häretikern ihr Besitz zu entziehen sei, wird dennoch unzweideutig gegeben: Es ist ganz bestimmt (liquido) erlaubt.44 In gleicher Entschiedenheit wird auch die Frage der questio 8 beantwortet: Selbst zu den Waffen greifen dürfen Bischöfe und Kleriker nicht. Der Geistliche hat  nur das gladium spirituale zu führen, „die Waffen des Bischofs sind Tränen und Gebete“.45 Aber Geistliche dürfen natürlich andere zum Waffengebrauch anhalten und ermahnen, und zwar zur Verteidigung der Unterdrückten und zur Bekämpfung der Feinde Gottes.46 Die Belege für 42 Ebd., Sp. 949. 43 Ebd., Sp. 950: Sed quia humanae naturae est et ea, que in dissuetudinem ducuntur, abhorrere, et consueta magis diligere, flagellis tribulationum cohibendi sunt mali a malo, et prouocandi ad bonum, ut, dum timore penae malum in dissuetudinem ducitur, abhorreatur, bonum uero ex consuetudine dulcescat. 44 Ebd., Sp. 953. 45 Ebd., questio 8, I. pars, Sp. 953: Arma episcopi lacrimae sunt et orationes. 46 Ebd., cap. 6, Sp. 954: Sacerdotes propria manu arma arripere non debent; sed alios ad arripiendum, ad oppressorum defensionem, atque ad inimicorum Dei oppugnationem eis licet hortari.

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diese Aufgabe der Geistlichen bieten vor allem einschlägige Aktivitäten und Aussagen der Päpste nicht zuletzt in der Karolingerzeit und im 11. Jahrhundert. Auch wenn bei diesem close reading der causa 23 die Vielzahl der dort zusammengetragenen Autoritäten nur sehr unvollständig besprochen werden konnte, scheint eine durchgehende Tendenz der Argumentation unübersehbar: Die Argumentationsketten enden so gut wie immer mit dem Ergebnis, dass Strafe, Vergeltung, Tötung legitime Mittel sind, um die Bösen zum Guten zu zwingen und damit ihre Interessen und die der Kirche zu wahren.47 Die Beobachtung, dass gegenteilige Argumente häufig eingangs referiert und in ihren Ansprüchen gewürdigt werden, ist hervorzuheben, weil sie beweist, dass dem Autor die Stellungnahmen der Tradition in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit bekannt waren. Als Ergebnis ist jedoch festzuhalten, dass diese die Gewaltlosigkeit präferierenden Aussagen nicht gleichberechtigt neben denjenigen stehen, die Gewalt legitimieren. Vielmehr wird immer wieder argumentiert, dass erstere Aussagen keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können, sondern bestimmte Bedingungen Sonderregelungen nötig machen, die eben doch Vergeltung, Bestrafung und sogar Tötung erlauben. Erinnert sei an die programmatische Frage, die bereits Bonizo von Sutri in seinem Liber ad amicum stellte und beantwortete: „Ist es dem Christen erlaubt, für die Wahrheit mit Waffen zu kämpfen?“ 48 Dieser Traktat macht schlagend deutlich, welchen Stellenwert die Beantwortung dieser Frage schon für das Amtsverständnis der Kirchenreformer hatte. Bonizos Antwort war die gleiche wie die „Gratians“: Es ist erlaubt. Mehrfach war zudem auf die engen Überschneidungen hinzuweisen, die Gratians Autoritäten und Wertungen mit denen aufweisen, die ein anderes Mitglied des Gregor-Kreises, Anselm von Lucca, in seiner KanonesSammlung aufbot. Da auch in anderen Streitschriften die Autoritäten bereits begegnen, die Gratian zur Grundlage seiner Argumentation machte, scheint unabweisbar, dass diese Argumentation stark von den Diskursen des Gregor-Kreises beeinflusst ist. Das, was dort als neue Haltung der Kirche zur Gewalt in unterschiedlichsten Texten erarbeitet wurde, hat Gratian systematisiert, aber in den grundsätzlichen Zielrichtungen der Stellungnahme nicht entscheidend verändert, sondern übernommen. Es 47 Vgl. Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe, bes. S. 258 ff. 48 Siehe oben Kap. IV., S. 76 f.

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VII. Der Einfluss der Gewaltdiskurse auf das Kirchenrecht

dürfte in unserem Zusammenhang genügen zu dokumentieren, wie viele der von Gratian in der causa 23 benutzten patristischen Autoritäten bereits in den drei in Kapitel 4 analysierten Streitschriften der Vertrauten Gregors VII., Bonizos von Sutri, Anselms von Lucca und Manegolds von Lautenbach, zitiert wurden. Die folgende Tabelle weist aus, wie groß der Überschneidungshorizont zwischen in diesen Streitschriften herangezogenen Autoritäten und denen ist, die Gratian in seiner causa 23 verwandte. Es wurde allerdings darauf verzichtet, die teilweise sehr langen Texte erneut zu präsentieren. Gewaltlegitimation durch kirchliche Autoritäten, gregorianische Streitschriften und das Decretum Gratiani: Autorität Ambrosius, Epist. 20, § 7, ad Marcellinam

Streitschrift

Anselm von Lucca, Liber contra Wibertum, S. 521 Manegold von LautenAugustinus, Tract. in bach, Ad Gebehardum euang. Ioann., tract. 11 liber, cap. 37, S. 375 Manegold von LautenAugustinus, De ciuit. bach, Ad Gebehardum Dei, I, 20 (17 Friedberg) liber, cap. 38, S. 376 f. Manegold von LautenAugustinus, De serm. bach, Ad Gebehardum Domin. in Monte I, 37 f. liber, cap. 40, S. 380 Manegold von LautenAugustinus, Epist. 153, bach, Ad Gebehardum § 19 liber, cap. 39, S. 380 Anselm von Lucca, Liber Augustinus, Epist. 173 contra Wibertum, S. 524 Anselm von Lucca, Liber contra Wibertum, S. 523; ohne wörtliches Zitat: Augustinus, Epist. 185 Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, lib. 2, S. 576, sowie indirekt zitiert lib. 9, S. 619 Anselm von Lucca, Liber contra Wibertum, S. 524; Augustinus, Epist. 189 Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, lib. 9, S. 618 f.

Decretum Gratiani c. 23, qu. 8, cap. 21, Sp. 959 f. c. 23, qu. 4, cap. 39, Sp. 919 f.

c. 23, qu. 5, cap. 9, Sp. 934

c. 23, qu. 4, cap. 51, Sp. 926 f.

c. 23, qu. 5, cap. 4, Sp. 930 c. 23, qu. 4, cap. 38, Sp. 917 f.

c. 23, qu. 4, cap. 42, Sp. 922 f.

c. 23, qu. 1, cap. 3, Sp. 892

VII. Der Einfluss der Gewaltdiskurse auf das Kirchenrecht Autorität

Streitschrift

Cyprian, De catholicae ecclesiae unitate, c. 6

Anselm von Lucca, Liber contra Wibertum, S. 521 Anselm von Lucca, Liber contra Wibertum, S. 522

Cyprian, Epist. 69, c. 3 Hieronymus, Comment. ad Ezech., lib. 3, c. 9

Anselm von Lucca, Liber contra Wibertum, S. 524

Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum Hieronymus, Comment. liber, cap. 39, S. 378; in Ieremia, IV, 22 Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, lib. 9, S. 619 Innozenz I., Epist. 6 ad Manegold von LautenExsuperium, Episcopum bach, Ad Gebehardum Tolosanum, c. 3 (Epist. liber, cap. 39, S. 377 3, Friedberg) Innozenz I., Epist. 6 ad Manegold von LautenExsuperium, Episcobach, Ad Gebehardum pum Tolosanum, c. 5 liber, cap. 39, S. 377 f. (Epist. 3, Friedberg) Pelagius I., Epist. ad Valerian. patric.

Anselm von Lucca, Liber contra Wibertum, S. 524

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Decretum Gratiani c. 24, qu. 1, cap. 19, Sp. 972 c. 24, qu. 1, c. 31, Sp. 978 c. 23, qu. 5, cap. 29, Sp. 939

c. 23, qu. 5, cap. 31, Sp. 939

c. 23, qu. 4, cap. 45, Sp. 924 c. 23, qu. 4, cap. 45, Sp. 924

c. 23, qu. 5, cap. 42, Sp. 941 f.

VIII.

Gewaltrhetorik und Gewalt

1. Das Problem VIII. Gewaltrhetorik undProblem Gewalt 1. Das

Die bisherigen Kapitel und die dort in chronologischer Abfolge diskutierten Aspekte benötigen in mehrfacher Hinsicht eine systematische Aufbereitung, die zumindest in Ansätzen versucht werden soll. Die bisherigen Untersuchungen haben wohl den Beweis erbracht, dass in den Auseinandersetzungen des 11. und 12. Jahrhunderts die Frage der Anwendung von Gewalt im Dienste und Auftrag der Kirche ein vieldiskutiertes und kontroverses Thema war. Bei der Diskussion um das Vorgehen sowohl gegen unkeusche Priester als auch gegen Simonisten, Schismatiker, Häretiker und Tyrannen wurde die Option der Gewaltanwendung von den unterschiedlichsten Autoren der gregorianischen Partei vielfach ins Spiel gebracht und mit der Autorität biblischer Belege, den Äußerungen der Kirchenväter und mit historischen exempla zu legitimieren versucht. Dieser Rückgriff auf die Tradition und die Kirchengeschichte geschah in der erklärten Absicht, Handlungsanweisungen für aktuelles Verhalten zu geben. Schlagend nachgewiesen wird dies durch die schon mehrfach in Erinnerung gerufene Frage Bonizos, des Bischofs von Sutri: „Ist es dem Christen erlaubt, für die Wahrheit mit Waffen zu kämpfen?“, die er dahingehend beantwortete, dass, „wenn es jemals für einen Christen erlaubt gewesen ist, Gewalt anzuwenden, dann gegen die Heinricianer in besonderer Weise“.1 Damit gingen die Gregorianer weit über den defensiven Gedanken einer bewaffneten Verteidigung der Kirche gegen die Angriffe von Ungläubigen hinaus, entfernten sich auch von den traditionellen Positionen Augustins zur Rechtfertigung des „gerechten Krieges“, indem sie den offensiven Kampf gegen Ungehorsame legitimierten und durch die Anwendung des Häretikerbegriffs auf Ungehorsame die Möglichkeit schufen,

1 Vgl. oben Kap. IV. 1, S. 77.

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VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt

„die Bösen zum Guten zu zwingen“.2 Die wichtigsten Grundlagen der Legitimation aber bildeten Geschichten des Alten Testaments, in denen sich Protagonisten gegen Gottesfrevler ereiferten und dadurch den Gotteszorn gegen diese Frevler besänftigten – und zwar häufig genug durch die Anwendung brutaler Gewalt. Hierfür wurden sie nach den biblischen Erzählungen von Gott reich belohnt, was sein Einverständnis mit der Anwendung von Gewalt nachdrücklich unterstrich, die er nicht selten auch selbst befohlen hatte.3 Diese Beispiele wurden von den Anhängern des Reformpapsttums nicht nur einfach zitiert, sondern bewusst als Richtschnur für Verhalten in der Gegenwart präsentiert und propagiert. Die Gegenprobe ergab einen gleichen Befund. Die Gegner der Gregorianer, die ihre Positionen gleichfalls in vielen Schriften fi xierten, erhoben einen Hauptvorwurf gegen ihre Kontrahenten: dass diese Frieden und Eintracht zerstörten, indem sie ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen versuchten, Untergebene gegen ihre Oberen bewaffneten und so die gottgewollte Ordnung angriffen.4 Für ihre Zwecke griffen diese ganz vorrangig auf die Belege des Neuen Testaments zurück, die Friedens- und Nächstenliebe nach dem Vorbild Christi propagierten und so zur Richtschnur erhoben, dass man Gegner und Feinde als Christ nicht zu bekämpfen, sondern demütig zu ertragen habe. Gregor VII. hielten sie vor, dass er im Jüngsten Gericht gewärtigen müsse, dass die in seinem Auft rag Erschlagenen Gott um Rache für ihr Blut anflehen würden. Dass ein Papst die Verantwortung für die Tötung von Christen übernahm, war für viele Autoren schlicht eine Ungeheuerlichkeit.5 Nun besteht zwischen der rhetorischen Rechtfertigung und Propagierung der Legitimität von Gewalt und der Umsetzung solcher Argumentation in reale physische Gewalt gegen Gegner noch ein Unterschied. Dies gilt insbesondere für das religiöse Feld, auf dem der Kampf gegen das Böse auf vielfältige Weise rhetorisch, nicht unbedingt aber mit weltlichen Kriegswaffen geführt wird. Die Möglichkeit metaphorischer und 2 Vgl. Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 5 ff. u. S. 21 ff.; siehe dazu auch oben Kap. IV. 2, S. 91 und Kap. VII., S. 154, 157. 3 Das einschlägige Material bieten die Kapitel 2 bis 6. Zur heutigen Bewertung der einschlägigen Geschichten durch die alttestamentliche Forschung vgl. Schmitt, „Heiliger Krieg“, bes. S. 30 ff. 4 Siehe die Belege in Kap. V. 5 Siehe dazu insbesondere die Ausführungen Wenrichs von Trier in Kap. V., S. 102 ff.

1. Das Problem

167

allegorischer Verwendung einschlägiger Termini war bekanntlich Allgemeingut kirchlicher und monastischer Tradition.6 Dies macht die Bewertung des Redens über Gewalt in religiösen Feldern durchaus schwierig. Nicht ganz so dicht wie die Belege für die Omnipräsenz derartiger Gewaltrhetorik sind denn auch Nachrichten über Ereignisse, bei denen der Umschlag dieser rhetorischen Offensiven in reale Anwendung physischer Gewalt zur Durchsetzung kirchlicher Ziele und Interessen sicher zu beobachten ist. Die verschiedenen Felder, auf denen die Gewaltrhetorik zur Anwendung kam, sind in unterschiedlichem Ausmaß von begleitendem Ausbruch realer Gewalt erfasst worden. Die Frage der unkeuschen Priester und der durch Simonie besudelten Kirchenämter, die schon Petrus Damiani und Humbert da Silva Candida zu martialischen Aufrufen veranlasste, hat lediglich in Italien, und hier an bestimmten Orten wie etwa in Mailand, auch gewalttätige Aktionen nach sich gezogen.7 Nördlich der  Alpen haben Aufforderungen zur Gewaltanwendung, wie sie etwa Gregor VII. 1075 an die süddeutschen Herzöge richtete,8 augenscheinlich weniger Wirkung gehabt. Dagegen ist der bewaffnete Kampf gegen Ungehorsame, die wie Heinrich IV. und seine Anhänger als Schismatiker und Häretiker aufgefasst wurden, nördlich wie südlich der Alpen über lange Zeit bekanntlich mit großer Erbitterung geführt worden, auch wenn er immer wieder von Phasen der Verhandlung und der Versuche eines Ausgleichs unterbrochen wurde. Auf diesem Felde können die Wirkungen der Gewaltrhetorik vielfach beobachtet werden: Sie hatten physische Gewalt nicht nur zum Ziel, sondern auch zum Ergebnis. Allerdings führten hier, etwa in den Auseinandersetzungen der Sachsen mit Heinrich IV., in erster Linie politische Kontroversen und Gegensätze zu den Konflikten; sie wurden erst sekundär, etwa durch päpstliche Gehorsamsforderungen, zusätzlich zu Konflikten mit religiösen Streitpunkten. 6 Zur bereits frühchristlichen Vorstellung, dass christliches Leben ein Kampf gegen das Böse sei, vgl. für die Antike Harnack, Militia Christi, bes. S. 12 ff.; für das Mittelalter Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 10 ff.; zum Mönchtum vgl. Fichtenau, Lebensordnungen, S. 318 ff. 7 Vgl. dazu bereits Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs IV., passim, bes. Bd. 1, S. 438 ff., 537 ff, 557 ff.; Bd. 2, S. 104 ff., 473 ff. Neuerdings Keller, Pataria und Stadtverfassung, S. 331 und 339 ff. 8 Vgl. Register Gregors VII., lib. II, Nr. 45, siehe dazu oben Kap. II., S. 48.

168

VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt

Dennoch sind Zweifel erlaubt und auch schon geäußert worden, ob man nicht zwischen der hierbei benutzten Gewaltrhetorik und der Ausübung realer physischer Gewalt zu unterscheiden habe, ob man die Zitate aus gewalttätigen Geschichten der Bibel bei der Beschreibung mittelalterlicher Konflikte nicht missverstehe, wenn man sie wörtlich nehme. Schließlich ist im Mittelalter die Lehre vom vierfachen Schriftsinn Grundlage der Bibelinterpretation gewesen.9 Man kann in der Tat biblische Geschichten immer auch allegorisch interpretieren. Gregor VII. hat ein solches Verständnis selbst am Beispiel des von ihm häufig benutzten Bibelzitats „Verflucht sei, wer sein Schwert vom Blute freihält“ (Jeremia 48,10) erläutert: Priester, die sich scheuten, Sünder zu ermahnen und zurechtzuweisen, verhielten sich analog zu Kriegern, die versäumten, ihr Schwert zu nutzen.10 Die martialische Formulierung bekommt so einen ganz anderen Sinn. Ein solches allegorisches Verständnis steht in einer langen christlichen Tradition, die den Kampf gegen die Sünde und das Böse zwar als spirituellen Kampf auffasste, ihn aber in der Terminologie kriegerischer Kämpfe beschrieb. In ähnlicher Weise kann man auch die Mahnung, die Petrus Damiani brieflich der Markgräfin Adelheid zukommen ließ – sie solle „das Haupt des Teufels mit dem Zeichen des Kreuzes durchbohren und den Verursacher der Wollust, der die Kleriker von den himmlischen Freuden ausschließt, zerschmettern“ –, kaum als Aufforderung zu realer Gewalt auffassen, auch wenn sie noch so martialisch klingt.11 Schließlich war der Teufel als Zielscheibe realer Gewalt kaum greifbar. Auch Papst Innozenz III. bietet ein gutes Beispiel für allegorisch gemeinte Gewaltrhetorik. Bei der Eröff nung des IV. Laterankonzils 1215 hielt er nämlich eine Predigt vor der versammelten Geistlichkeit, in der er unter anderem die Befreiung Jerusalems zu einer der Hauptaufgaben der Christenheit seiner Zeit machte. Seine Argumentation sicherte er intensiv mit Belegen aus der Bannideologie des Alten Testaments. So nutzte er den Auftrag Moses an die Leviten („jeder erschlage seinen Bruder, Freund und Verwandten“ Ex 32,27), wie er bereits von den gregorianischen Autoren 9 Vgl. dazu allg. Smalley, Study of the Bible; Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung; Bohn (Hg.), Typologie. 10 Register Gregors VII., lib. II, Nr. 45, S. 131, die weitere Benutzung dieses Zitats durch Gregor ist dokumentiert ebd., S. 645. 11 Vgl. dazu oben Kap. III., S. 65.

1. Das Problem

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immer wieder herangezogen worden war. Vor allem aber stellte sich der Papst selbst nach Hesekiel 9,2–11 typologisch in die Reihe des „Mannes mit dem Leinengewand und dem Schreibzeug an seinem Gürtel“. Diesem befahl Gott, durch Jerusalem zu gehen und ein Tau (T) auf die Stirn der Männer zu zeichnen, die über die in der Stadt begangenen Gräueltaten, die auch Gott erzürnt hatten, stöhnten und weinten. Sie sollten verschont, alle anderen dagegen von sechs Helfern des Mannes mit dem Schreibzeug getötet werden, auch die Frauen und Kinder. So sollten auch heute, folgert Innozenz, die Priester auf Grund der pontificalis auctoritas dem summus pontifex folgen und jeden, der nicht das Tau auf der Stirn trage, „durchbohren“: allerdings mittels „Interdikt und Suspendierung, Exkommunikation und Absetzung“.12 Hiermit wird sehr deutlich, dass Innozenz den biblischen Beleg allegorisch verstanden wissen wollte und keinesfalls realer Gewaltanwendung des Klerus das Wort redete. Mit ähnlichen Überlegungen hat man in neuerer Zeit in der Kreuzzugsforschung Berichte über angebliche Gewaltexzesse der Kreuzfahrer in ihrem Realitätsbezug in Zweifel gezogen.13 Die biblischen Bücher, namentlich etwa die der Makkabäer, böten eine „Blutsprache“, die zur Beschreibung auch mittelalterlicher Kämpfe herangezogen worden sei. Man habe „alttestamentliche Parallelen der Makkabäer-Kriege zu beschwören, ja zu übertreffen“ versucht,14 wenn man Belege zitierte wie: „(Judas Makkabäus) erschlug ihre gesamte männliche Bevölkerung mit scharfem Schwert, zerstörte die Stadt völlig und ließ sie plündern. Dann marschierte er über die Leichen der Erschlagenen hinweg durch die Stadt.“ (1 Makkabäer 5,51); oder: „Sie richteten in ihr (der Stadt Kaspin) ein unbeschreibliches Blutbad an, so dass ein zwei Stadien breiter See, der neben der Stadt lag, von dem Blut, das in ihn geflossen war, angefüllt zu sein schien.“ (2 Makkabäer 12,16). In der Tat fassen wir hier eine Eigenart mittelalterlicher Argumentations- und Streitkultur, die auf moderne Menschen irritierend wirkt. Sie beruht auf typologischem Denken, das davon ausgeht, dass im Heilsge12 Den Hinweis auf diese wichtige Stelle verdanke ich Stefan Weinfurter, vgl. schon Ders., Der Papst weint, S. 123 f. Die Predigt bietet Richard von S. Germano, Chronicon, S. 62–70, die zitierte Stelle percutiatis, interdicendo vel suspendendo, excommunicando et deponendo, S. 69. 13 Vgl. dazu oben Kap. VI., S. 125 ff. 14 So Angenendt, Toleranz und Gewalt, S. 426 mit Hinweis auf Hehl, Die Kreuzzüge, S. 240, und Elm, Eroberung Jerusalems, S. 50.

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VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt

schehen viele Ereignisse späterer Zeiten präfiguriert sind: Gott wirkt seine alten Wunder neu oder verhängt die alten Strafen.15 Solche Präfigurationen erkannte man mittels einer intensiven Nutzung von Analogiemöglichkeiten, was wir heute für eine inadäquate und gefährliche Art der Beweisführung halten. Wenn zeitgenössische Ereignisse den in der Bibel geschilderten ähnelten, konnte und durfte man sie im Mittelalter aber darstellen wie jene, und dies tat man nicht selten dadurch, dass man die biblischen Vorbilder länger oder kürzer wörtlich ausschrieb. Auf diese Weise konnte man Zeitgenossen auffordern, zu handeln wie ein neuer David, Moses, Pinhas oder Samuel. Man konnte aber auch Gegner diffamieren, sie seien ein neuer Saul, Sisara oder Herodes, und ihre Taten mit den gleichen Worten beschreiben, wie sie die Taten der biblischen Vorbilder boten. Es versteht sich, dass derartige Darstellungstechnik Zweifel am Realitätsgehalt des Berichteten weckt. Seit langem aber wird in der modernen Forschung auch diskutiert, ob man derartige Berichte lediglich als „leere“ Topoi aufzufassen und dementsprechend zu verwerfen habe.16 Man hat dagegen eingewandt, dass Topoi benutzt würden, weil man sich die Autorität etwa von Offenbarungstexten zunutze machen wollte, die eine bestimmte Situation bereits optimal beschrieben hatten. So aufgefasst war ein Topos also alles andere als leer. Sein Wahrheitsgehalt wurde durch die Anlehnung an eine Autorität vermittelnde Vorlage beglaubigt. Angesichts solcher Diskussionen scheint es geraten, die Frage nach dem Zusammenhang bzw. Unterschied von Gewaltrhetorik und realer Gewalt für unser Untersuchungsgebiet noch einmal grundsätzlich anzugehen, nachdem in den einzelnen Untersuchungskapiteln die Argumentationen vorgestellt wurden und dabei nicht immer entschieden wurde, ob es sich „nur“ um Gewaltrhetorik in dem eben beschriebenen allegorischen Sinne handelte oder ob die Äußerungen auf die Beschreibung realer Anwendung physischen Zwanges hindeuteten oder diese bewirken wollten. 15 Vgl. dazu Ohly, Typologie. 16 Vgl. Quadlbauer, Art. Topik; siehe dazu bereits Beumann, Widukind von Korvei, S. XI mit dem bedenkenswerten Hinweis, dass ein Topos nicht leer sein müsse, sondern eine Art und Weise sei, etwas mithilfe einer Autorität differenziert zum Ausdruck zu bringen, „eine literarische Erinnerung zu wecken, eine Gedankenverbindung auszulösen, um so dem Gesagten mit rein formalen Mitteln einen Sinn zu verleihen, der über den der nackten Worte hinausgeht.“

1. Das Problem

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Selbst in der Frage der Behandlung unkeuscher Priester, bei der der rhetorische Aufwand viel größer zu sein scheint als seine Wirkung, ist jedoch gut bezeugt, dass die Rhetorik keineswegs immer und nur allegorisch aufzufassen ist. Vielmehr wurde von den Kirchenreformern die Anwendung physischen Zwanges gegen den ungehorsamen Klerus wirklich gefordert und unterstützt. Dies zeigt sich deutlich etwa im Verhältnis der Reformpäpste zu dem Führer der Mailänder Pataria, Erlembald. Schon Papst Alexander II. übergab, unter Mitwirkung Hildebrands, des damaligen Archidiakons der römischen Kirche, vor den Kardinälen Erlembald bei seinem Rombesuch eine prächtige Fahne und zeichnete ihn hiermit als miles sancti Petri aus.17 Er sandte ihn auch, wie aus der Darstellung Arnulfs von Mailand zu entnehmen ist, mit dem alttestamentlich formulierten Auftrag nach Mailand zurück, nun „mit Skorpionen zu züchtigen“, wo sein verstorbener Bruder Landulf noch „mit Geißeln gestraft“ habe (1 Könige 12,11), bzw. auch das „wie die Heuschrecke zu vertilgen“ (Joel 1,4), was man bisher noch übrig gelassen habe.18 Es konnte kein Zweifel bestehen, dass mit solchen Aktionen und Aufträgen realer Gewalt der Weg bereitet und Rückendeckung gegeben wurde. Gregor VII. hat als Papst bekanntlich diese Förderung Erlembalds fortgesetzt und ihn gerade wegen seines teilweise gewalttätigen Kampfes gegen den ungehorsamen Mailänder Klerus intensiv unterstützt. Das Vertrauensverhältnis war so groß, dass er Erlembald 1073 über neueste Entwicklungen informierte und ihm etwa mitteilte, Heinrich IV. habe ihm (Gregor) außergewöhnliche Versprechen des Gehorsams gesandt, und auch mehrere italienische Bischöfe zur Unterstützung Erlembalds aufforderte, den er in diesem Zusammenhang strenuissimus Christi miles nannte.19 Nach Erlembalds Tod machte Gregor 1078 die an dessen Grabe geschehenen Wunder publik und versuchte so, dessen Kanonisation vorzubereiten, die sein Nachfolger Urban II. durch die Translation des Leichnams noch beförderte. Dies alles taten die Päpste in vollem Bewusstsein und aufgrund der Tatsache, dass sich der mailändische Adelige als Anführer der Pataria in der Tat 17 Vgl. dazu Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 127 ff. mit Anm. 90 und den einschlägigen Quellenbelegen. 18 Vgl. Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium, lib. III, cap. 14, S. 187. 19 Vgl. Register Gregors VII., lib. I, Nr. 25–28, die Bezeichnung ebd., lib. I, Nr. 27, S. 45.

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VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt

für ihre Sache „ereifert“ und die Ziele des Reformpapsttums mit Waffengewalt durchzusetzen versucht hatte. Hierbei hatte es bewaffnete Auseinandersetzungen und Tote auf beiden Seiten gegeben, der Kampf war von der Pataria aber durchaus offensiv geführt worden. Die biblisch begründete Gewaltrhetorik mündete also zumindest in Oberitalien in offensive Gewaltakte, die von der Kirche nachhaltig gutgeheißen und unterstützt wurden. Auch auf anderen Feldern hat die moderne Forschung bereits zur Genüge herausgearbeitet, dass namentlich Gregor VII. und sein Kreis Gewaltrhetorik deshalb einsetzten, um Anhänger zur Anwendung realer Gewalt im Dienste der Kirche zu ermuntern. Schon Carl Erdmann hat ja ein Kapitel seines Buches über die Entstehung des Kreuzzugsgedankens den „Kriegsplänen“ Gregors gewidmet, die der Papst gegen den Normannen Robert Guiskard, gegen Philipp I. von Frankreich, gegen Heinrich IV., gegen Wibert von Ravenna, den Gegenpapst, schmiedete, von seinem geplanten Orientzug zur Unterstützung der dortigen Christen ganz zu schweigen.20 Angesichts des bereits dort zusammengetragenen Materials, das durch spätere Forschungen ergänzt und bestätigt wurde,21 ist die Entschlossenheit Gregors VII. und seines Kreises, für die christliche Religion und die Durchsetzung ihrer Ziele physische Gewalt anzuwenden, ausreichend nachgewiesen. In Kapitel 5 ist zudem bereits akzentuiert worden, dass die Stoßrichtung der Vorwürfe, die Gegner Gregor VII. machten, sehr zielbewusst darauf fokussiert war, ihm zur Last zu legen, dass er Laien dazu aufwiegele, dass die Belange des heiligen Petrus mit Gewalt zu verteidigen seien.22 Im Folgenden soll daher der Akzent auf die Frage gelegt werden, inwieweit diese Haltung als allgemeine Auffassung der Anhänger der gregorianischen Partei gelten kann, inwieweit sie auch den Laien erfolgreich vermittelt werden konnte und inwieweit deshalb die Gewaltrhetorik in der Tat die Hemmschwelle für Anwendung von Gewalt gesenkt und Blutvergießen konkret verursacht hat. Überdies scheint es auch nötig, die unter20 Vgl. Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 145–165, dort S. 161 auch die Wertung Gregors als „kriegerischste[r] Papst, der je auf dem Stuhle Petri gesessen hat“. 21 Vgl. nur Robinson, Gregory VII and the Soldiers of Christ, S. 161–192; Cowdrey, Gregory VII, Kap. 10.6: Kings, Knights, and Warfare, S. 650 ff.; ders., Gregory VII and the Bearing of Arms, S. 21 ff.; Blumenthal, Gregor VII., S. 123 ff. 22 Vgl. oben Kap. V., S. 102 ff.

2. Gott als Gewaltakteur

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schiedlichen Formen und Inhalte dieser Gewaltrhetorik vorzustellen und zu analysieren. Diese Frage lässt sich vor allem am Beispiel der Kämpfe zwischen Heinricianern und Gregorianern sowohl im Reich als auch in Italien behandeln, da die Gregorianer in diesen Auseinandersetzungen davon ausgingen, dass ihre Gegner Schismatiker und Häretiker seien, die man mit allen Mitteln bekämpfen dürfe und müsse. Hier findet sich daher ein breites Spektrum der Verbindungen von Gewaltrhetorik und realer physischer Gewaltanwendung, in dem auch genügend konkrete Situationen der Gewaltanwendung Gegenstand der Berichterstattung und der Bewertung sind. Da dies unter Zuhilfenahme biblischer Geschichten oder religiöser Vorstellungshorizonte geschieht, die zur Legitimation dienen, lässt sich so der Zusammenhang von religiöser Gewaltrhetorik und physischer Gewaltanwendung diskutieren.

2. Gott als Gewaltakteur 2. Gott als Gewaltakteur

Begonnen sei mit Hinweisen auf Fälle, in denen gregorianische Autoren den Tod von Anhängern Heinrichs IV. als Ergebnis aktiven göttlichen Eingreifens in das Geschehen und als Beweis göttlicher Rache für deren sündhaftes Verhalten darstellten. Diese Sichtweise hatte nicht zuletzt die Funktion, die Legitimität der Gewaltanwendung gegen Schismatiker und Häretiker dadurch zu beweisen, dass Gott selbst durch sein gewalttätiges Eingreifen gegen Heinricianer sozusagen die Richtung vorgegeben hatte. Nicht zufällig beobachteten Autoren beider Seiten plötzliche Todesfälle im Zeitraum der gesamten Auseinandersetzung genau und interpretierten sie in dem Sinne, dass himmlische Eingriffe der gerechten Sache geholfen hätten. Schon Bruno argumentierte in seinem „Buch vom Sachsenkrieg“ im Zusammenhang seiner Schilderung des Osterfestes 1076 in Utrecht, dass Bischof Wilhelm spöttisch von der Kanzel verkündet habe, Gregors Bann gegen Heinrich IV. habe keine Wirkung. Deshalb aber sei er von Gott mit einer Krankheit geschlagen worden und wenige Tage später verstorben.23 23 Bruno, De bello Saxonico, cap. 74, S. 76: derisorie, quod rex esset excommunicatus, indicavit, sed hanc excommunicationem nichil valere  … confirmavit. Sed quantum valeret, in se ipso coactus est agnoscere  … Nam in ipso loco  … ipse mala valetudine corripitur, in qua usque ad miserandum miserae vitae finem

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VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt

Ausführlich schildert Bruno in diesem Zusammenhang, dass der Bischof vor seinem Tode noch zur Einsicht gekommen sei und Heinrich IV. die Botschaft habe zukommen lassen: „dass er selbst, ich und alle Begünstiger seiner Botschaft auf ewig verdammt sind“.24 Dies hatte Wilhelm nach ihm in den Mund gelegter Aussage angeblich daran erkannt, dass um sein Sterbebett nur Teufel standen, um seine Seele abzuholen. In den folgenden Kapiteln versammelt Bruno dann die Todesfälle von sieben geistlichen und weltlichen Anhängern Heinrichs IV., die gleichfalls eines plötzlichen oder gewaltsamen Todes gestorben seien, den Gott verursacht habe – und zieht daraus die Folgerung: „Es ist ja offenkundig, dass fast alle Vertrauten und Anhänger Heinrichs einen ebenso elenden Tod gefunden haben, ja einen umso elenderen, je treuer sie ihm ergeben waren. Denn diese Treue war in Wahrheit Treulosigkeit.“25 Mit dieser Sammlung beweist er die Intensität, mit der Gott durch Gewalt die Sache der gerechten Partei förderte. In ebenso dramatischer Weise schildert auch Berthold von der Reichenau in der zweiten Fassung seiner Chronik die Bannung Bischof Heinrichs von Speyer und seinen plötzlichen Tod im Jahre 1075 als Folge wunderbaren göttlichen Eingreifens: „An demselben Tag und in derselben Stunde, da er in Rom rechtmäßig seiner Würde und seines Bistums enthoben und gebannt wurde, wurde er auf wunderbare Weise, als er sich in Speyer wie gewöhnlich nach einem köstlichen Mahl von der Tafel erhob, am Hals auf tödliche Weise von einem so starken Stechen gewürgt, dass er danach nur selten ein Wort hervorbringen und mit Mühe sein Leben bis zum nächsten Morgen verlängern konnte. Nach dem Mittag wurde er, gefährlich genug, durch den bittersten Tod vom Bistum und zugleich von seinem Leben abgesetzt, damit durch dieses Wunder die Kraft und die Wahrheit des göttlichen Wortes bezeugt würde: ,Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein.‘ Siehe, schon ist das Schwert Petri gezückt … welches von allen Simonisten jetzt und immerdar umso mehr gefürchtet werden sollte, als es detinetur. Es folgen dann bis cap. 81 weitere Beispiele dafür, dass Gott Anhänger Heinrichs IV. durch einen plötzlichen Tod strafte. Die Geschichte vom Tod Wilhelms von Utrecht findet sich ähnlich auch bei Lampert von Hersfeld, Annales, a. 1076, S. 258 f. 24 Bruno, De bello Saxonico, cap. 74, S. 76: quod ipse et ego et omnes eius iniquitati faventes damnati sumus in perpetuum. 25 Ebd., S. 77: Cum manifestum sit omnes fere Heinrici familiares et fideles aeque miseras mortes incurrisse, et eos miseriores, qui fuerant illi fideliores; qua fides illa vere erat perfidia.

2. Gott als Gewaltakteur

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keinen anderen Schild der Verteidigung gibt als die vollkommene Reue, durch welche der unermüdliche, durchdringende und unentrinnbare Rächer abgewehrt werden kann.“26 Mit diesem Rächer war Gott gemeint. Göttliche Rache als Ursache ihres plötzlichen Todes sah Berthold zum Jahre 1077 auch beim Patriarchen Sigehard von Aquileja und bei Bischof Embriko von Augsburg. Ersterer hatte angeblich Heinrich IV. mit einem gefälschten Brief Gregors VII. zu unterstützen versucht, „worauf er plötzlich zu rasen anfing mit wahnsinniger Wut“; kurz danach hauchte er seinen Geist aus als abschreckendes Beispiel für Lügner und Abtrünnige.27 Sigehards Tod kommentiert Berthold mit Zitaten aus zwei Psalmen: „O wie sehr ist Gott, der Herr der Rache, zu fürchten.“ (Psalm 93,1) und: „O wie furchterregend ist er in seinen Gerichten über die Menschenkinder.“ (Psalm 65,5). Bischof Embriko dagegen ereilte angeblich deshalb ein plötzlicher Tod, weil er das heilige Abendmahl als Prüfung dafür genommen hatte, dass König Heinrichs Sache die gerechte sei und nicht die König Rudolfs. Mit seiner Tötung des Bischofs machte Gott nach der Logik dieser Argumentation klar, dass Heinrichs Sache eben nicht die gerechte war. Dieses göttliche Urteil tat Embriko vor seinem Tode angeblich noch selbst kund und Herzog Welf meldete den Vorfall Gregor VII.28 Die vorgebliche Einsicht der von Gott mit dem Tode Bestraften verstärkte natürlich das Argument. Die Beispiele sind nur eine Auswahl aus mehreren gleichgearteten, wobei übrigens auch die Gegenseite sich Todesfälle unter den Gregorianern in gleicher Weise zunutze zu machen versuchte. Das bekannteste Beispiel ist hier sicher der Tod Rudolfs von Rheinfelden selbst, der von Anhängern Heinrichs IV. ebenfalls als Gottesurteil gedeutet wurde, wozu die Rudolf in der Schlacht an der Elster abgeschlagene Schwurhand einigen Anlass gab, weil sie auf den Eidbruch verwies, den Rudolf begangen hatte.29 Auch ihm 26 Berthold, Chronicon (Forma secunda), a. 1075, S. 223 (Übersetzung nach FSGA 14, S. 83). Auch Lampert von Hersfeld, Annales, a. 1075, S. 228 erwähnt als Todesursache eine plötzlich erscheinende Pustel am Hals des Bischofs, bringt sie jedoch nicht in einen Zusammenhang mit dessen Bannung. Dafür erwähnt er aber detailliert eine Vision von dessen Nachfolger Huzmann, der angab, gesehen zu haben, wie der Bischof von drei Männern zunächst wegen seiner bösen Taten gegen Speyer verurteilt, dann enthauptet worden war. 27 Berthold, Chronicon, a. 1077, S. 279 (Übersetzung nach FSGA 14, S. 153 f.). 28 Ebd., S. 280 f. 29 Vgl. die Dokumentation der Diskussionen beider Seiten bei Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs IV., Bd. 3, S. 339 ff.

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VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt

wurde von heinricianischen Autoren die Einsicht auf dem Todesbett attestiert, dass ihn Gott auf diese Weise für seinen Eidbruch gestraft habe. Zu hören sind in dieser Zeit allerdings auch besonnene Stimmen, die warnend und grundsätzlich darauf hinweisen, dass man kaum Nero, Herodes und Pilatus für seliger als die Apostel Petrus und Paulus, den Apostel Jakobus bzw. Christus halten könne, weil sie diese jeweils überlebt hätten.30 Nichtsdestotrotz haben aber Todesfälle und andere als Himmelszeichen deutbare Erscheinungen dann deutliche Wirkungen gezeitigt, wenn sie – wie in Utrecht 1076 gegen Heinrich oder 1080 beim Tod Rudolfs angesichts einer gegenteiligen Prophezeiung Papst Gregors – besonders eindeutig zu sein schienen.31 Die Behauptung eines gewaltsamen und tötenden Eingreifens himmlischer Mächte in die Auseinandersetzungen zwischen Heinricianern und Gregorianern wurde jedenfalls von beiden Seiten mit großem Eifer als Argument benutzt, weil sie jeweils Gott auf ihrer Seite unterstützend tätig sahen und dieses Argument Zeitgenossen vertraut und plausibel war. Es entfaltete eine gewiss schwer messbare Wirkung auf die Bereitschaft der Krieger zu eigener Gewaltanwendung. Da dieses Argument jedoch häufiger und in eindringlicher Weise genutzt wurde, ist es wohl berechtigt, auf sein Potential zur Motivation der Krieger und zur Senkung ihrer Hemmschwelle bei der Gewaltanwendung hinzuweisen. Das Bewusstsein „Gott will es“, das durch solche Vorstellungen erzeugt wird, haben kurze Zeit später bekanntlich die Kreuzfahrer zu ihrem Schlachtruf verdichtet.32

3. Stimulation der Kampfbereitschaft und des Siegeswillens vor der Schlacht 3. Stimulation der Kampfbereitschaft und des Siegeswillens

Zur Motivation der Krieger und zur Vergrößerung ihres Vertrauens auf Gottes Hilfe im Kampf dienten auch Anrufungen Gottes unmittelbar vor einer Schlacht, die bestimmte alttestamentliche Bitten oder Klagen wiederholten. Die martialische Sprache dieser Klagen, die die Vernichtung der Feinde fordert und drastisch beschreibt, erfüllte wohl eine ähnliche 30 So argumentiert etwa Herrand von Halberstadt gegen Walram von Naumburg in De causa Heinrici regis, S. 290, 2 ff. 31 Vgl. dazu bereits Althoff, Heinrich IV., S. 141 ff. und 170 ff. 32 Siehe schon oben Kap. VI., S. 140.

3. Stimulation der Kampfbereitschaft und des Siegeswillens

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Funktion wie das „Kriegsgeschrei“, mit dem sich Krieger für den Kampf aufputschten. Ein Beispiel bietet das Heer Rudolfs von Rheinfelden 1080 vor der Schlacht an der Elster, dessen Krieger der schon aufgestellten Schlachtreihe Heinrichs langsam entgegengingen, wie Bruno ausführlich berichtet: „dann zogen sie in Schlachtordnung langsam den Feinden entgegen. Die Bischöfe aber ermahnten alle anwesenden Kleriker, andächtig den 82. Psalm zu singen. Die beiden Heere trafen bei dem Sumpf Grona zusammen, doch bot er keinen Durchgang und beide Heere machten unschlüssig Halt. Unter Schmähungen forderten sie sich gegenseitig auf, zuerst den Übergang zu wagen, doch beide blieben unbeweglich an den Ufern stehen.“33 Hier ist zunächst einmal interessant, dass Bischöfe und Kleriker die schon aufmarschierende Schlachtreihe begleiteten und sie sozusagen in die Schlacht führten. Noch interessanter aber ist der Text des von den Klerikern in dieser Situation angeblich gesungenen Psalms: „Schweig doch nicht, o Gott, bleib nicht stumm. Sieh doch, deine Feinde toben, die dich hassen, erheben das Haupt. Gegen dein Volk ersinnen sie listige Pläne und halten Rat gegen die, die sich bei dir bergen. Sie sagen: ,Wir wollen sie ausrotten als Volk, an den Namen Israel soll niemand mehr denken.‘ Ja, sie halten einmütig Rat und schließen ein Bündnis gegen dich. (Dann folgt die Aufzählung vieler Feinde Israels.) Mach es mit ihnen wie mit Midian und Sisera, wie mit Jabin am Bach Kishon, die du bei En-Do’r vernichtet hast. Sie wurden zum Dung für die Äcker  … Mein Gott, lass sie dahinwirbeln wie Staub, wie Spreu vor dem Wind! Wie das Feuer, das ganze Wälder verbrennt, wie die Flamme, die Berge versengt, so jage sie davon mit deinem Sturm und schrecke sie mit deinem Wetter! Bedecke mit Schmach ihr Gesicht, damit sie, Herr, nach deinem Namen fragen. Beschämt sollen sie sein und verstört für immer, sollen vor Schande zugrunde gehen. Sie sollen erkennen, dass du es bist. Herr ist dein Name. Du allein bist der Höchste über der ganzen Erde.“ (Psalm 83). 33 Vgl. Bruno, De bello Saxonico, cap. 122, S. 115: et tunc ordinati hostibus obviam paulatum progredieruntur. Episcopi vero clericos omnes, qui aderant, ut psalmum LXXXII multa devotione cantarent, ammonebant. Exercitus autem uterque ad paludem, quae vocatur Grona, convenerunt, et quia sine vado palus erat, exercitus ambo dubitantes ibi substiterunt et alteros alteri, ut priores ad se transeant, opprobriis increpantes, utrique suam ripam immoti tenuerunt. Psalm 82 nach mittelalterlicher Zählung entspricht Psalm 83 nach heutiger.

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VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt

Die Erwähnung solcher Anfeuerung der Krieger durch biblische Texte von zweifellos anspornendem Inhalt liegt noch ein paar Jahre früher als die in Kapitel 6 bereits behandelte Kreuzzugspredigt Papst Urbans, die den in seiner inhaltlichen Aussage ganz vergleichbaren Psalm 79 in ihren Mittelpunkt stellte, mit dem die Krieger Europas dann in der gesamten Kreuzzugszeit zum Aufbruch nach Jerusalem motiviert wurden.34 Die Rezitation beider Psalmen hat ja gemeinsam, dass die Bittsteller Gott aufrufen, seine Hilfe bei der Vernichtung der Feinde nicht zu versagen, sondern diese Feinde wieder die Kraft seiner Rache spüren zu lassen, so wie er es früher für sein auserwähltes Volk getan hatte. Wir hören aber auch von anderen religiösen Vorbereitungen auf Schlachten oder Belagerungen,35 die schon in früheren Kriegen des Mittelalters nicht unbekannt waren.36 Da Urban vier Jahre nach der Schlacht an der Elster längere Zeit als Legat Gregors VII. in Sachsen weilte, könnte er durch solche Vorbilder sogar zur Nutzung eines Psalms bei seiner Predigt in Clermont stimuliert worden sein.37 Vielleicht war das aber auch gar nicht nötig, weil die Eignung der Psalmen für diese Zwecke viel bekannter war, als wir es noch ermessen können. Die im Psalm genannten, von Gott vernichteten Feinde Israels wie Sisara und Jabin wurden ja auch in anderen Texten der Gregorianer dieser Zeit beschworen – und Heinrich IV. wurde namentlich mit Sisara gleichgesetzt, da man für ihn ein gleiches Schicksal erhoffte.38 Dass mit solcher Gebetsaktion der Kleriker jedenfalls reale physische Gewalt der Krieger gegen die Heinricianer ausgelöst werden sollte, kann nicht zweifelhaft sein. Sie sollte vielmehr wie in biblischen Tagen mit der Hilfe Gottes geschehen, durch die so viele Gottesfeinde vernichtet worden waren. Ein vergleichbares Beispiel, wie vor einer Schlacht durch Gebete und Symbole die Bereitschaft der gregorianischen Krieger zur Gewaltanwendung gesteigert wurde, bietet die Bernoldschronik zum Jahre 1086. Die gregorianischen Truppen belagerten in diesem Jahr Würzburg, das Heinrich IV. mit einem großen Heer zu befreien versuchte. Daraufhin hoben die fideles sancti Petri „die Belagerung auf und zogen ihm zwei 34 35 36 37 38

Vgl. Kap. VI., S. 79 ff. Vgl. dazu Kap. VI., S. 138. Vgl. dazu Scharff, Kämpfe der Herrscher und der Heiligen, bes. S. 175 ff. Vgl. dazu Becker, Urban II., S. 66 ff. Vgl. dazu oben Kap. IV., S. 84.

3. Stimulation der Kampfbereitschaft und des Siegeswillens

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Meilen weit entgegen. Sie vertrauten nicht so sehr auf ihre Anzahl als auf die Barmherzigkeit Gottes und die Gerechtigkeit des heiligen Petrus und nicht so sehr auf ihre Waffen als auf die Kraft des heiligen Kreuzes. Deshalb ließen sie auch ein sehr hohes Kreuz, das auf einem Wagen aufgerichtet und mit einer roten Fahne geschmückt war, bis auf das Schlachtfeld mit sich führen. Auch kamen Herzog Welf mit seiner Kriegerschar und die Magdeburger Kriegerschar unter Zurücklassung der Pferde zu Fuß. Als man soeben kämpfen wollte, warfen sich alle auf die Erde und durchdrangen den Himmel mit einem Gebet, welches der ehrwürdige Magdeburger Erzbischof dort für sie unter vielen Tränen und Seufzern darbrachte.“39 Auch hier fällt wieder die Beteiligung der Kleriker am Geschehen unmittelbar vor Beginn des Kampfes ins Auge. Angesichts der Tränen und Seufzer des Magdeburger Erzbischofs bei dem Bittgebet ist man wohl berechtigt, hier gleichfalls einen Bitt- und Klageruf der Art anzunehmen, wie sie die Psalmen 79 und 83 und viele andere boten. Da nach den Aussagen Bernolds die Krieger mit diesem Gebet den Himmel durchdrangen, ist ihre aktive Teilnahme am Gebet wahrscheinlich. Die Proskynese aller Krieger bemerkt Bernold jedenfalls ausdrücklich, der zudem betont, sein Bericht beruhe auf eigener Augenzeugenschaft. Die Wirkung dieser Vorbereitung blieb übrigens nicht aus: „Als sie dann im Namen des Herrn angriffen, richteten sie unter den Feinden ein unglaubliches Gemetzel an, so dass man neun ziemlich große Leichenhaufen sah, nicht gerechnet diejenigen, welche in Feldern und Wäldern auf der Flucht gefallen waren.“ 40 Der Sieg, so schreibt Bernold weiter, sei „keineswegs irgendeiner menschlichen, sondern allein göttlicher Kraft zuzuschreiben“, da die fideles sancti Petri nur 10 000, die Heinricianer aber mehr als 20 000 Krieger zur Verfügung gehabt haben sollen.41 Dennoch war die Zahl der Toten auf der Seite der Gregorianer verschwindend niedrig, auf der anderen Seite extrem hoch. 39 Vgl. Bernold, Chronicon, a. 1086, S. 459: cum autem iam iam congressuri essent, omnes in terra prostrati celum oratione penetraverunt, quam pro eis ibidem reverentissimus Magideburgensis archiepiscopus cum multis lacrimis et gemitibus eff udit (Übersetzung nach FSGA 14, S. 351). 40 Ebd.: Igitur in nomine Domini congressi, incredibilem hostium stragem fecerunt, ita ut VIIII nimium altae congeries cadaverum ibi viderentur, praeter illos, qui per campos et silvas fugitantes occubuerunt. 41 Ebd., S. 460 (Übersetzung nach FSGA 14, S. 353).

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VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt

Die heinricianischen Quellen beschönigen die Niederlage in dieser Schlacht übrigens nicht, sprechen aber von anderen Vorkommnissen als Bernold.42 Der unbekannte Hersfelder Autor des Liber de unitate ecclesiae conservanda hat die besonders aktive Beteiligung des Magdeburger Erzbischofs Hartwig auf seine Weise zu einem Vorwurf verdichtet, der in seiner Art und Weise die Gewissheit der Gregorianer akzentuiert und problematisiert, mit der Unterstützung Gottes zu kämpfen. Hartwig habe einen gefangenen Mainzer Geistlichen voller Hohn zu den Leichen der getöteten Anhänger Heinrichs geführt und geprahlt: „Sieh doch, jetzt wird klar, wo die Gerechtigkeit ist, da unserer Seite der Sieg zufiel.“ 43

4. Kontroversen um Wege zum Frieden 4. Kontroversen um Wege zum Frieden

Spätestens seit Carl Erdmanns Forschungen ist akzeptiert, dass Papst Gregor VII. in sehr direkter Weise militärische Dienste von Adligen und ihren Vasallen forderte, auch wenn er damit durchaus nicht immer Erfolg hatte.44 Dass diese Dienste Gewalt im Auftrage und Dienste der Kirche einschlossen, kann angesichts vieler in diesen Kontext gehörenden Äußerungen Gregors und seines Kreises nicht mehr zweifelhaft sein; dass sie von vielen Zeitgenossen als Abkehr vom Evangelium und seinen Maximen verurteilt wurden, ist ebenfalls bereits vielfach betont worden.45 Diese Diskrepanz zwischen den Auffassungen der Gregorianer und Heinricianer wird besonders deutlich in zwei Auseinandersetzungen über dieses Thema, in die sowohl gelehrte Kleriker wie hochgestellte Laien involviert waren. Das erste Beispiel stammt aus dem Jahre 1094 oder 1095 und betrifft einen Friedensvorschlag des Bischofs Walram von Naumburg an den Landgrafen Ludwig von Thüringen, den im Auftrage des Landgrafen der gregorianische Bischof Herrand von Halberstadt energisch zurückwies.46 42 Vgl. die ausführliche Quellendarbietung bei Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs IV., Bd. 4, S. 126–130. 43 Liber de unitate ecclesiae conservanda, cap. 28, S. 251: Ecce modo apparet,ecce modo apparet, ubi iustitia sit, cum apud nos victoria sit. 44 Vgl. Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, bes. S. 185–211; Cowdrey, Gregory VII, S. 650–658. 45 Siehe dazu bereits oben Kap. V. 46 Vgl. Walrami et Herrandi epistolae de causa Heinrici regis, S. 285–291, siehe dazu Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs IV., Bd. 4, S. 437–440.

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Walram hatte den Landgrafen in seinem Schreiben zunächst darauf aufmerksam gemacht, dass vor allem Eintracht (concordia) und Gerechtigkeit (iustitia) für das Reich nützlich und erstrebenswert seien. Wer aber durch das Schüren von Zwietracht andere zum Blutvergießen reize, sei ein Mann des Blutvergießens und Teilhaber dessen, „der immer nach Blut dürstend umhergeht und sucht, wen er verschlingen könne“.47 Mit den einschlägigen biblischen Zitaten belegte Walram dann, dass Gott die Liebe sei, der Teufel dagegen der Hass; dass es keine Gewalt gebe außer von Gott und dass derjenige, der sich der von Gott eingesetzten Gewalt, also dem König, widersetze, sich Gottes Ordnung widersetze. Hierauf schlug Walram dem Landgrafen vor, er wolle sich mit Vertretern der Gregorianer unter den Augen des Landgrafen zu direktem Austausch der Argumente treffen und dabei das Zeugnis Christi und der Kirchenväter vertreten. Vom Urteil des Landgrafen solle es abhängen, ob er sich der Meinung der Gegner anschließe oder den Landgrafen für den Kaiser gewinne. Mit dieser Bereitschaft hatte schon im Jahre 1081 Bischof Gebhard von Salzburg als Sprecher der Gregorianer die heinricianischen Bischöfe zu einem colloquium über König Heinrich IV. und die Frage bewegen wollen, ob dieser noch rechtmäßig König sein könne.48 Man könnte also meinen, dass hier ein Verfahren vorgeschlagen wurde, auf dass sich die Gregorianer aus mehreren Gründen einlassen konnten: Zum einen glaubten sie ja gewiss, dass sie über viele und gute Gründe verfügten, Heinrich nicht als König anzuerkennen; zum anderen sollte dem Urteil des Landgrafen, also einem ihrer Anhänger, überlassen bleiben, wer in dem Disput den Sieg davongetragen habe. Herrand ließ sich jedoch in keiner Weise auf den Vorschlag ein. Vielmehr kanzelte er Walram im Auftrage des Landgrafen in hocherregt wirkender Sprache und unter Einsatz unzähliger biblischer Belege ab, „dass er nicht erröte, Heinrich König zu nennen und Vertreter der Ordnung. Ob Ordnung nach seiner Meinung das Recht gebe, Verbrechen zu begehen, Göttliches und Menschliches in Verwirrung zu bringen, die eigene Gemahlin in einem für alle Zeiten unerhörten Verbrechen zur 47 Walrami et Herrandi epistolae de causa Heinrici regis, S. 286: Qui autem intestina grassando dissensione ad humani sanguinis alios irritat eff usionem, profecto vir sanguinum est atque illius particeps, qui nostrum sanguinem sitiens semper circuit, quaerens quem devoret (1 Petrus 5, 8). 48 Vgl. Bruno, De bello Saxonico, cap. 127, S. 121.

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Hure zu machen?“ 49 Danach zählte er weitere Verbrechen und Vergehen Heinrichs auf, schilderte, welche Bischofskirchen er simonistisch verkauft habe, und kam zu dem Schluss: „daher ist Herr Heinrich ein Häretiker“.50 Mit diesem Beweis aber rechtfertigte er den Hass, den man gegen Heinrich habe, es sei ein Hass aus pietas (Liebe): „Den Hass gegen ihn (Heinrich) bieten wir Gott als großes Opfer dar, indem wir mit dem Psalmisten sagen: ,Soll ich die nicht hassen, Herr, die dich hassen, die nicht verabscheuen, die sich gegen dich erheben? Ich hasse sie mit glühendem Hass, auch mir sind sie zu Feinden geworden.‘“51 Es kann nämlich nach Herrand nicht sein, dass man mit denen Frieden habe, die Gegner Gottes sind, schließlich habe auch Christus gesagt: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (Matthäus 10,34). Dies sei nötig, so kommentiert Herrand, „damit der Frieden des Teufels zerstört werde“.52 Unversöhnlich schließt er auch seine Ausführungen: „Unsere Freunde schlummern, aber wenn du sie durch dein Gezänk aufgeweckt haben solltest, werden sie gezwungen sein, unter den Vollkommenen ihre Weisheit auszudrücken, und dann werden so viele und so schwere Blitze gegen dich kommen, dass sie dir ewiges Schweigen auferlegen werden.“53 Die briefliche Auseinandersetzung bietet ein gutes Beispiel für die Komplexität des in Frage stehenden Problems. Obgleich Herrand in seiner schroffen Ablehnung des Verhandlungsangebots Walrams nirgendwo von konkreter physischer Gewalt spricht, öff nen seine Ausführungen den Blick 49 Vgl. Walrami et Herrandi epistolae de causa Heinrici regis, S. 288: quod non erubescis dominum Henricum regem dicere vel ordinem habere. An ordo tibi videtur ius dare sceleri … divina et humana confundere … uxorem propriam scelere omnibus seculis mundi inaudito lupanar facere? Mit letzterer Anschuldigung ist der Vorwurf gemeint, Heinrich habe seine Gemahlin Praxedis / Adelheid von seinen milites vielfach vergewaltigen lassen, siehe dazu Althoff, Heinrich IV., S. 213 ff. 50 Walrami et Herrandi epistolae de causa Heinrici regis, S. 289, Z. 11: ergo dominus Henricus hereticus est. 51 Ebd., S. 289, Z. 16 ff.: Cuius odium pro magno sacrificio Deo offerimus, dicentes cum psalmista: „Nonne, qui oderunt te, Domine, oderam; et super inimicos tuos tabescam? Perfecto odio oderam illos; inimici facti sunt michi.“ 52 Ebd., S. 289, Z. 32: Nimirum ut destruatur pax diaboli. 53 Ebd., S. 291, Z. 43.

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für wesentliche Voraussetzungen von Gewalt im Auftrage der Kirche. Indem er Heinrich IV. und seine Anhänger einerseits zu Häretikern deklariert, andererseits den Hass auf Gottesfeinde, zu denen Häretiker zweifellos gehören, zu einem Akt der Liebe aufwertet und dies mit biblischen Belegen untermauert, beseitigt er implizit auch Hemmschwellen zur Anwendung von Gewalt. Der Frieden des Teufels, so nutzt er auch das Herrenwort des Neuen Testaments, muss durch das Schwert bekämpft werden. Dass Landgraf Ludwig diese Polemik in seinem Namen verfassen ließ, zeigt, dass er sich diese Argumente zu eigen machte. Aus entgegengesetzter Perspektive schrieb Wenrich von Trier vorwurfsvoll an Gregor VII., dass er Laien zum Blutvergießen ermuntere, die auf eine solche Erlaubnis zur Sünde doch nur warteten.54 Hiermit beschrieb er den Sitz im Leben, den die Gewaltrhetorik der Gregorianer mit einiger Sicherheit hatte: Sie nahm den ohnehin kampfeslüsternen Kriegern die Hemmung, die das christliche Tötungsverbot bewirken sollte. Wenn die Kirche für bestimmte Gewalt sogar geistliche Belohnungen in Aussicht stellte, sie zumindest für Gott wohlgefällig hielt, war die Wahrscheinlichkeit, diese Hemmung herabzusetzen, jedenfalls groß. Dennoch bleibt das Schreiben Herrands und Ludwigs wie viele andere Erzeugnisse der Gregorianer zunächst einmal eine rhetorische Position und Argumentation. Die Tatsache, dass sächsische und andere Gregorianer trotz solcher scheinbar völlig kompromisslosen Positionen in dieser Zeit mehrfach Frieden mit Heinrich geschlossen und noch häufiger darüber mit ihm verhandelt haben, mahnt dazu, die Funktion solcher Argumentationen differenziert zu sehen.55 Sie sollten den eigenen Standpunkt festschreiben und absichern, den Gegner einschüchtern, die eigenen Anhänger ermutigen und gegen gegnerische Einlassungen wappnen.56 Positionen, und seien sie auch noch so programmatisch formuliert, konnte man zugunsten von Kompromissen aber auch wieder verlassen, wie nicht nur die Geschichte Heinrichs IV. vielfach zeigt.

54 Vgl. dazu oben Kap. V., S. 102. 55 Zu den Friedensverhandlungen Heinrichs IV. mit den Sachsen 1088 sowie mit den Reichsfürsten 1097 siehe Althoff, Heinrich IV., S. 207 f. und 221 ff.; zu den sonstigen Aktivitäten und Beziehungen Bischof Herrands vgl. Borgolte, Klosterreform in Sachsen, S. 244–251. 56 Reiches Material dazu bei Suchan, Königsherrschaft im Streit, bes. S. 176–291.

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VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt

Eine weitere Auseinandersetzung um die Berechtigung der Kirche, zur Gewaltanwendung auffordern zu dürfen, wurde mit anderen Fronten geführt als das gerade behandelte Beispiel. Im Jahre 1103 war Papst Paschalis II. derjenige, der durch einen brieflichen Vorstoß Gewaltanwendung im Dienste der Kirche im Bistum Lüttich forderte, was eine grundsätzliche Reaktion Sigeberts von Gembloux auslöste, der sich bereits mehrere Jahrzehnte zuvor gegen gregorianische Positionen geäußert hatte und kirchliche Zwangsmaßnahmen ablehnte.57 Auch jetzt brachte er wieder grundsätzliche Gesichtspunkte vor, die den gregorianischen Neuerungen ihren Widerspruch zu biblischen und patristischen Postulaten vorhielten. Papst Paschalis II. hatte in einem Brief den gerade vom ersten Kreuzzug heimkehrenden Grafen Robert von Flandern aufgefordert, gegen die exkommunizierten Pseudo-Kleriker in der Lütticher Diözese vorzugehen, wie er es schon in der Diözese Cambrai getan habe. Es sei die legitime Aufgabe des miles, dass er die Feinde seines Königs drängend verfolge. Gerecht sei es nämlich, dass die, die sich von der katholischen Kirche trennten, durch die Katholischen auch von den Pfründen der Kirche getrennt würden.58 Überall, wo er könne, solle Robert daher Heinrich, das Haupt der Häretiker, und seine Anhänger mit allen Kräften verfolgen. Dies trage er ihm und seinen milites zur Vergebung ihrer Sünden und zur Erlangung der Freundschaft (familiaritas) des Apostolischen Stuhles auf, damit er durch diese Mühen und Triumphe mit Gottes Hilfe zum himmlischen Jerusalem gelange.59 So der Auftrag und die Argumentation des Papstes, die an Robert von Flandern gerichtet war. Sigebert fehlte es weder an Gelehrsamkeit noch an Mut, dem Papst das Verwerfliche dieses Auftrags deutlich vor Augen zu führen. Abschließend 57 Vgl. Mirbt, Publizistik, S. 12 f.; Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs IV., Bd. 5, S. 187 f.; Beumann, Sigebert von Gembloux, S. 100 ff. 58 Vgl. Leodicensium epistola adversus Paschalem papam, S. 452, Z. 1 f.: Hoc est legitimi militis, ut sui regis hostes instantius persequatur. Gratias ergo prudentiae tuae agimus, quod preceptum nostrum in Cameracensi parrocia executus es. Id ipsum de Leodicensibus excommunicatis pseudoclericis precipimus. Iustum est enim, ut qui semet ipsos a catholica aecclesia segregaverunt per catholicos ab ecclesiae beneficiis segregentur. 59 Ebd., Z. 11 f.: Hoc tibi ac militibus tuis in peccatorum remissionem et apostolicae sedis familiaritatem precipimus, ut his laboribus et triumphis ad caelestem Ierusalem Domino prestante pervenias.

4. Kontroversen um Wege zum Frieden

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formulierte er selbst sein Fazit wie folgt: „Welches Fenster des Übeltuns hast du dadurch den Menschen geöffnet!“ 60 Zuvor aber hatte er jeden Satz des päpstlichen Schreibens im Lichte der Autoritäten geprüft und verworfen. Er vergleicht den Papst mit dem Engel des Herrn, den David „mit gezogenem Schwert über Jerusalem stehen sah. Wir aber, die Töchter der römischen Kirche, sehen den römischen Bischof, der der Engel des Herrn ist, mit gezücktem Schwert über der Kirche stehen. David bat, dass das Volk nicht getötet werden möge. Unser Engel (sc. der Papst) betet, indem er Robert das Schwert darreicht, dass wir getötet werden.“ 61 Damit nutzte Sigebert eine Geschichte aus dem 2. Buch Samuel (24,14–17), die davon erzählt, dass Gott den Engel zurückhielt, bevor er Jerusalem vernichtete, nachdem David bekannt hatte, dass er es war, der gesündigt hatte, und nicht das Volk. Nach Sigebert tut der Papst das Gegenteil. In Kapitel 4 beschäftigt sich Sigebert mit dem Dank, den der Papst Robert dafür zollte, dass dieser seinen Auftrag in Cambrai ausgeführt hatte. Sigebert dagegen drückt den Betroffenen sein brüderliches Mitleid aus. Dann aber wendet er gegen den Papst das Wort des Jesaja: „Weh denen, die unheilvolle Gesetze erlassen und unerträgliche Vorschriften machen, um die Armen im Gericht zu unterdrücken und in den Gerichtsfällen der Niedrigen meines Volkes Gewalt zu verüben, um die Witwen auszubeuten und die Waisen auszuplündern.“ (Jesaja 10,1 f.). Und nach der Schilderung aller Untaten, die im Bistum Cambrai durch das gewaltsame Eingreifen Graf Roberts verübt wurden, fügt er die Überlegungen an: „ob man sich über all das mehr wundern soll oder daran leiden, weiß ich nicht. Welcher Mensch mag entscheiden, für wen dies gefährlicher ist, für den Befehlenden oder den Gehorchenden, und für wen dies schädlicher ist, für den Täter oder das Opfer? Wir jedoch, wie vom Donner gerührt durch die Neuartigkeit der Dinge, klagen: Woher mag dies neue Exempel genommen sein, dass der Prediger des Friedens mit seinem Mund und der Hand eines anderen der Kirche den Krieg bringt?“ 62 60 Ebd., S. 464, Z. 28: Quantam fenestram maliciae per hoc patefecisti hominibus. 61 Ebd., S. 452, Z. 21 ff.: Vidit olim David angelum Domini stantem extent gladio super Ierusalem. Nos, filiae Romanae ecclesiae, ecce videmus Romanum praesulem, qui est angelus Domini, stantem extento gladio super aecclesiam. David orabat, ne populus occideretur: angelus noster porrigens R(ober)to gladium orat, ut occidamur. 62 Ebd., Z. 29 ff.: super his mirandum an magis sit dolendum nescio. Cui hoc magis sit periculosum, iubenti ac obedienti, cui hoc magis sit dampnosum, facienti ac

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VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt

Obgleich er damit seine Meinung zum Vorgehen des Papstes schon deutlich genug kundgetan hat, zieht Sigebert zusätzlich ein Herrenwort und die Auslegung dieses Wortes durch Augustin heran. „Jesus lehrt: ,Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann weise ihn unter vier Augen zurecht, dann mit zwei oder drei Zeugen, dann mit der Gemeinde. Wenn er die Gemeinde nicht hört, sei er für dich wie ein Heide oder wie ein Zöllner.“ (Matthäus 18,15–17) Augustinus hatte nach Sigebert in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass das Urteil Jesu härter sei als die Tötung mit dem Schwert, das Verbrennen oder der Tod durch wilde Tiere, denn es ziehe auch den Ausschluss aus dem Himmel nach sich.63 Trotz seiner Härte aber hatte das dictum Christi Gewalt zur Zurechtweisung von Sündern nicht als Option genannt. In Kapitel 9 seines Traktats vergleicht Sigebert Papst Paschalis dann mit dem Gotenkönig Alarich, der milder gewesen sei als der Papst, da er die Kirchen Roms schonte und von der Tötung der Menschen absah. „Ihn (sc. Paschalis), der Prediger des Friedens hätte sein müssen, hat der Eifer für Gott (zelus Dei) so verzehrt, dass er auch gegen die Freunde des Friedens das Schwert des Krieges in Anspruch genommen hat.“ 64 Und immer wieder stellt Sigebert nach solchen Überlegungen insistierend die Frage: „Von wo hat der apostolische Herr die auctoritas, dass er außer dem geistlichen Schwert gegen seine Untergebenen das andere Schwert des Todes führt?“ 65 Für unseren gesamten Argumentationszusammenhang ist schließlich wichtig, dass Sigebert in Kapitel 12 an das Zitat aus dem Brief des Papstes, Robert könne „Gott kein wohlgefälligeres Opfer bieten als die Verfolgung der Pseudo-Kleriker“, den Vorwurf anschloss, Paschalis falle mit dieser Aussage zurück in den Eifer (zelus) des Pinhas. Er wolle ferner das tun, was Moses tat, als er die Hände der Leviten im Blut ihrer Brüder

pacienti, quis homo discernet? Nos, attoniti hac novitiate rerum, querimus: unde sit hoc novum exemplum, ut praedicator pacis suo ore et alterius manu inferat aeclesiae bellum? 63 Vgl. ebd., S. 455, Z. 3 mit Anm. 1, wo angeführt wird, dass man den Augustinus-Beleg nicht verifizieren konnte. 64 Ebd., S. 460, Z. 36 ff.: Eum, qui deberet esse praedicator pacis, zelus Dei adeo comedit, ut etiam in amicos pacis distringat gladium belli. 65 Ebd., S. 461, Z. 27 f.: unde haec auctoritas apostolico, ut praeter spiritualem gladium exerat in subiectos alterum occisionis gladium.

5. Ergebnisse

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weihte.66 Überdies weist er noch mit Exodus 10,1 f. darauf hin, dass die Söhne Aarons vom Feuer verzehrt wurden, als sie Gott ein unerlaubtes Feuer darbrachten. Damit zog er zur Zurückweisung kirchlicher Gewalt wohl bewusst Bibelstellen heran, die von den Gregorianern dazu genutzt worden waren, kirchliche Gewalt zu legitimieren, wie in früheren Kapiteln ja gerade an den hier benutzten biblischen Geschichten erläutert wurde.67 Man kann hieraus ein doch ziemlich genaues Wissen Sigeberts über die Argumente der Gregorianer ableiten, mit denen diese ihre Legitimation von kirchlicher Gewalt biblisch begründeten. Dadurch erweisen sich die vielen rhetorischen Fragen des Autors, er wisse nicht, wie man bestimmte Dinge einschätzen solle, als Rhetorik, die für den informierten Leser immer wieder den Finger in die Hauptwunden legte. Trotz aller rhetorischen Volten kann dabei nie zweifelhaft sein, dass Sigebert die vom Papst befohlene und gelobte reale Gewalt anprangert, die gegen die Gegner der Kirche angewandt worden war bzw. werden sollte. Die Reformer hatten von den Propheten des Alten Testaments die Legitimation für diese Gewalt genommen, daher ist es gewiss kein Zufall, dass Sigebert seinen Traktat mit einer Invektive des Propheten Micha gegen die „habgierigen Propheten“ schließt: „So spricht der Herr gegen die Propheten: Sie verführen mein Volk. Haben sie etwas zu beißen, dann rufen sie: Friede. Wer ihnen aber nichts in den Mund steckt, dem sagen sie den Heiligen Krieg an.“ (Micha 3,5). Sigebert brauchte nach seinen Beweisführungen dieses Zitat gar nicht mehr explizit auf die Gregorianer zu  beziehen. Es war jedem halbwegs verständigen Leser seines Traktats ohnehin klar.

5. Ergebnisse 5. Ergebnisse

Insgesamt hat der Versuch, das Verhältnis der Gewaltrhetorik in den Schriften der streitenden Parteien zur real angewendeten Gewalt im Streit zu bestimmen, die schon in den früheren Kapiteln erarbeiteten Befunde im Wesentlichen bestätigt. Nicht immer, aber häufig genug zielt die Argu66 Ebd., S. 463, Z. 17 ff.: Apostolicus, qui hoc sacrificium belli indicit R(oberto) filio suo, vellet puto redire ad zelum Finees, vellet facere quod fecit Moses, ut manus levitarum consecret in sanguine fratrum suorum. 67 Siehe dazu oben Kap. III., S. 58 ff.

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VIII. Gewaltrhetorik und Gewalt

mentation der gregorianischen Parteigänger direkt auf die Legitimierung realer Gewaltanwendung im Dienste und Auft rag kirchlicher Akteure. Man kann also sagen, dass das Vorbild Gregors VII. Schule gemacht hat. Auch die Unterstellung, Gott selbst räche Sünden durch einen plötzlichen Tod der Sünder, wurde gerade im akuten Stadium der Konflikte zu einem wirkungsvollen Argument beider Seiten. Dies bietet einen weiteren Beleg dafür, dass Gewaltanwendung für die gerechte Sache im Denken der Zeit einen festen Platz hatte. Die Beispiele unmittelbar vor Schlachten praktizierter Bittgebete und Klagen, die aus dem Arsenal alttestamentlicher Rachepsalmen schöpften, verstärken den Eindruck eines direkten Zusammenhangs zwischen Legitimation und Ausübung von Gewalt, der in den herangezogenen Beispielen aktiv von Bischöfen hergestellt wurde. Ist einerseits also die Beweislage eindeutig, so ist andererseits aber auch darauf hinzuweisen, dass die Gegenposition, die die Verpflichtung der Christen zum Gewaltverzicht betonte, immer präsent blieb und vielfach wortmächtigen Ausdruck fand. Dieses Dilemma ist mit den Mitteln der Zeit nicht gelöst worden.

IX.

Die „Häresie des Ungehorsams“ im 12. und 13. Jahrhundert: Ein Ausblick

1. Das Problem IX. Die „Häresie des Ungehorsams“ im 12. und 1. 13.Das Jahrhundert Problem

Die Forderung der Reformpäpste, dass alle Christen einschließlich der Bischöfe, Könige und Kaiser päpstlichen Geboten zu gehorchen hätten und dass Ungehorsam gegen diese Gebote mit Häresie gleichzusetzen sei, hat sich in dieser Abhandlung als Ausgangspunkt für das Verständnis einer folgen- und konfliktreichen Entwicklung erwiesen.1 Mit dem Vorwurf der Häresie des Ungehorsams haben Gregor VII. und sein Anhang den Kampf gegen Heinrich IV. geführt und aus diesem Vorwurf auch die Legitimation zur Anwendung von Gewalt abgeleitet. Otmar Hageneder hat diesen Zusammenhang in mehreren seiner Arbeiten bereits akzentuiert und auf seine Bedeutung für das Verständnis des „hierokratischen“ Papsttums hingewiesen, ohne jedoch die Basis dieser Vorstellungen in der Benutzung der Bannideologie des Alten Testaments zu sehen.2 Hierokratisch meint in diesem Zusammenhang die Vorstellung von päpstlicher Suprematie, der die weltliche Gewalt untergeordnet ist. Da von hierokratischen Ambitionen des Papsttums aber weit über die Zeit Gregors VII. hinaus gesprochen werden kann, drängt sich die Frage auf, wie lange die Rede von der Häresie des Ungehorsams eingesetzt wurde und ein wirkungsvolles Argumentationsmuster der Päpste geblieben ist. Es soll im Folgenden daher der Wirkungsgeschichte dieser Vorstellung nachgegan-

1 Vgl. dazu vor allem oben Kap. II., S. 47 ff. Unter der Fragestellung, inwieweit hierbei von Säkularisierung zu sprechen ist, verfolgt diese Entwicklung jetzt auch Hartmann, Gregor VII. und die Könige, S. 101 ff. mit vielen auch hier relevanten Beobachtungen. 2 Vgl. dazu Hageneder, Häresie des Ungehorsams, bes. S. 33 ff.; ders., Häresiebegriff, bes. S. 58 ff.

190 IX. Die „Häresie des Ungehorsams“ im 12. und 13. Jahrhundert

gen werden, um damit zugleich zu prüfen, welche Nachhaltigkeit die gregorianischen Neuerungen erreichten. Zunächst einmal ist aber darauf zu verweisen, dass sie auch eine Vorgeschichte hatten. Rudolf Schieffer hat nämlich gerade jüngst den weiteren Rahmen abgesteckt, in den diese päpstliche Forderung nach Gehorsam gehört.3 Schon seit dem 10. Jahrhundert ist die sich zunehmend intensivierende Entwicklung zu beobachten, dass europäische Potentaten ihre Herrschaftsgebiete dem Heiligen Stuhl übertrugen, die Päpste damit quasi zu Oberherren ihrer Herrschaften machten, um so den nötigen Rückhalt für die Selbständigkeit ihrer Herrschaftsbildung zu bekommen. Die Initiative hierzu ging durchaus nicht in erster Linie von den Päpsten aus. Im 11. und 12. Jahrhundert regelten Könige und andere Herrscher von Sizilien und Spanien bis Skandinavien, von England bis Polen und Ungarn vielmehr ihr Verhältnis zu Rom in ähnlicher Weise, was in der Forschung vor allem als Lehnsbeziehung gedeutet wurde, wofür es gute Gründe gibt. Jedenfalls fungierte der Papst in unterschiedlicher Weise als eine Art Oberherr, der Anrecht auf Abgaben und Dienst reklamieren konnte, zumeist allerdings nur in symbolischen Dimensionen. Der Papst als Oberherr war ganz offensichtlich akzeptabler als die Abhängigkeit von einem benachbarten König oder dem Kaiser. Die päpstliche Forderung nach Gehorsam, wie sie Gregor VII. in vielen Fällen akzentuierte,4 scheint bei diesen Beziehungsaufnahmen noch im Hintergrund zu bleiben. Man kann aber schon sagen, dass sie vorsichtig umschrieben wurde. So etwa, wenn König Sancho Ramirez von Aragon in einem Brief an Papst Urban formulierte: „Ich habe mich und mein Reich in Gottes und seine (des Papstes) potestas übergeben (tradidi).“5 Diese Aussage wirft ja unmittelbar die Frage auf, welches Verhältnis und welche Verpflichtungen derjenige einging, der sich und sein Reich in die potestas eines anderen tradierte. In anderen Fällen versprachen Päpste den Königen gegen die Zahlung eines Zinses Schutz (tutela); oder sie verboten kraft ihrer Anordnung, dass die unter ihrem Schutz Stehenden an Leib oder Ehre geschädigt würden; die Schutzsuchenden dagegen nannten den Papst ihren dominus, versprachen Treue und dass „ich unverändert alles 3 Schieffer, Papsttum und neue Königreiche, S. 69–80 mit den zentralen Quellen und der einschlägigen Literatur. 4 Vgl. die Belege bei Cowdrey, Gregory VII, S. 555 ff. und oben Kap. II., S. 50 ff. 5 meque regnumque meum in Dei et eius potestate tradidi; zitiert nach Schieffer, Papsttum und neue Königreiche, S. 72, Anm. 11.

1. Das Problem

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erfüllen werde, was mir deine verehrungswürdige Heiligkeit auferlegt, dass ich in allem und durch alles dem apostolischen Stuhl die Treue bewahren und was in diesem Reich sowohl der apostolische Stuhl als auch dessen Legaten bestimmt haben und bestimmen werden, unverändert befolgen werde.“6 Rudolf Schieffer nennt das Verhalten dieser Potentaten „ostentative Ergebenheit“ und rückt die Verhaltensweise damit in große Nähe zum Gehorsam.7 Aus solcher Verpflichtung konnte aber auch schnell häretischer Ungehorsam werden, wenn Könige hartnäckig und länger versäumten, ihre Pflichten zu erfüllen, und sich so der „Verachtung der Schlüsselgewalt“ (contemptus clavium)8 schuldig machten, wie man die Häresie des Ungehorsams später, im 13. Jahrhundert, zu nennen pflegte. Dieses Problem hatten nicht nur die deutschen Könige und Kaiser. Es lohnt sich daher zu verfolgen, welchen Stellenwert der Vorwurf des „häretischen Ungehorsams“ der Könige und Kaiser gegenüber den Päpsten nach dem Tode Heinrichs IV. noch hatte. Ob sich mit anderen Worten die beschriebene Intensität der Gehorsamsforderung unter Gregor VII. als temporäre Ausnahmeerscheinung erweist oder längerfristig wirkte. Überdies steht aber in Frage, ob die in dieser Zeit von den Gregorianern propagierte und praktizierte Anwendung von konkreter physischer Gewalt eine Ausnahmeerscheinung blieb, weil nur die Adelsopposition gegen Heinrich IV. und die kirchliche Reformbewegung sich zu einer Koalition zusammenfanden, die bereit war, den heiligen Petrus mit ihren Waffen zu verteidigen und die Bösen zum Guten zu zwingen.9 So viel sei vorweggenommen: Die Auseinandersetzungen, die in der Gehorsamsfrage ihre Wurzel hatten, dauerten noch lange Zeit an bzw. brachen immer wieder auf. Sie entzündeten sich nicht zufällig häufig an Fragen des Zeremoniells, da etwa bei den Begegnungen von Päpsten und Kaisern öffentlich das wechselseitige Verhältnis symbolisch hergestellt werden musste.10 Die neuen Geltungsansprüche der Päpste auf Vorrang 6 Kanonessammlung des Kardinals Deusdedit, III, c. 278, zitiert nach Schieffer, Papsttum und neue Königreiche, S. 77, Anm. 32, dort auch weitere Literaturhinweise. 7 Ebd., S. 77. 8 Siehe dazu unten S. 207 f. 9 Vgl. dazu Giese, Der Stamm der Sachsen, bes. S. 149 ff.; Fenske, Adelsopposition, bes. S. 38 ff.; Weinfurter, Canossa, bes. S. 54 ff. 10 Vgl. dazu Hack, Empfangszeremoniell, bes. S. 504 ff.; Althoff, Inszenierung verpflichtet, S. 63 ff.

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führten folgerichtig zu neuen Akzenten in den rituellen Teilen der PapstKaiser-Begegnungen, die in Arbeiten des Gregor-Kreises argumentativ vorbereitet worden waren.11 All dies soll und kann hier nicht im Einzelnen verfolgt werden, da auch die nächsten Jahrhunderte voll von Konfl ikten zwischen Kaisertum und Papsttum waren, die teilweise immer noch mit der in diesem Buch diskutierten Problematik zusammenhängen. Die Konzentration gilt daher ausschließlich dem Weiterwirken gregorianischen Gedankenguts und hier insbesondere der Häresie des Ungehorsams. Auf diese Weise ergeben sich auch Argumente für die Beantwortung der Frage, wie nachhaltig und wirkmächtig die Anstöße der „gregorianischen Revolution“ waren.

2. Das Thema im 12. Jahrhundert 2. Das Thema im 12. Jahrhundert

Am Beginn der Auseinandersetzungen Heinrichs IV. mit seinem Sohn 1105 / 06 steht eine deutliche Stellungnahme von Seiten Heinrichs V., die die päpstliche Gehorsamsforderung akzeptierte, was offensichtlich die entscheidende Voraussetzung für seine Zusammenarbeit mit dem päpstlichen Stuhl bildete. In beiden Versionen der Chronik Ekkehards von Aura gehört diese Nachricht zu den wichtigsten Fakten, die der Chronist über Anfang und Verlauf der Erhebung des Königssohnes gegen seinen Vater erzählt. Ekkehard von Aura hat zweimal als Anhänger Heinrichs V. und Augenzeuge der Geschehnisse über die Vorgänge von 1105 berichtet, zuerst in folgender Weise: „Zunächst verurteilte er die oben genannte Irrlehre (das durch Heinrich IV. verursachte Schisma, weswegen Paschalis im Jahre 1102 den Kaiser erneut gebannt hatte) und versprach dem Bischof des Apostolischen Stuhles den schuldigen Gehorsam (debitam oboedientiam), danach schloss er ein Bündnis mit den bayerischen Fürsten und einigen Adligen aus Alemannien sowie Ostfranken, und von dort begab er sich zu den Sachsen.“12

11 Das zeigt sich etwa in der Einführung des Strator-Dienstes und vor allem des kaiserlichen Kusses der päpstlichen Füße, der mittels Präzedenzfällen als adäquate Form der Unterordnung durchgesetzt und 1111 von Heinrich V. zum ersten Male ausgeführt worden sein soll; vgl. Althoff, Inszenierung verpflichtet, S. 68 ff.; allg. zum Fußkuss Schreiner, Art. Fußkuss, Sp. 1063 ff. 12 Ekkehard von Aura, Chronica I, a. 1105, S. 190 / 1.

2. Das Thema im 12. Jahrhundert

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In einer überarbeiteten Fassung, die er Heinrich V. selbst widmete, stellte Ekkehard den Sachverhalt dann noch ausführlicher und positiver für den jungen König dar. Im Zentrum der Darstellung stehen aber die gleichen Akzente: „Zunächst vereinte er sich durch Bischof Gebhard von  Konstanz, den damaligen Stellvertreter Papst Paschalis’, mit dem römischen Stuhl, indem er den schuldigen Gehorsam versprach; danach wandte er sich zusammen mit einigen bayerischen, alemannischen und ostfränkischen Adligen zu den Sachsen.“13 Heinrich V. hat also Papst Paschalis II. genau das versprochen, was Gregor VII. zum neuen Anspruch des Papsttums erhoben hatte: Gehorsam. Seinen Vater hat er dann mit nachhaltiger Unterstützung des Papsttums gestürzt und dabei zunächst konsequent die Rolle eines „treuen Sohnes der Kirche“ eingenommen. Dies konkretisierte sich nicht zuletzt darin, dass er dem Papst durch Boten versprach, das Reich niemals ohne dessen Erlaubnis und Konsens übernehmen zu wollen.14 Er erhielt die Unterstützung Paschalis’ II. dann auch unter der Bedingung, „dass er dem Papst und seinen Nachfolgern jenen Gehorsam leiste, den die Könige und Kaiser den rechtgläubigen Vorgängern des Papstes bewiesen“.15 Damit dürfte Paschalis den Gehorsam im Auge gehabt haben, den die Gegenkönige Rudolf von Rheinfelden und Hermann von Salm seinem Vorgänger versprochen hatten, wie Gregor VII. in seinem Register an zwei Stellen selbst hervorhebt.16 Der Anfang einer neuen, auf Gehorsam gegründeten Beziehung zwischen salischem Königtum und Papsttum ist bei der Übernahme der 13 Kaiserchronik II, a. 1105, S. 226 / 7. 14 Vgl. Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs V., Bd. 6, S. 215 ff. mit einer ausführlichen Dokumentation der Quellen; neuerdings vor allem Servatius, Paschalis II., S. 169 ff. 15 Vgl. das diesbezügliche Schreiben Paschalis’ in Chronica Monasterii Casinensis, lib. IV, cap 36, S. 502: Si enim … plena mentis devotione sibi suisque legitimis successoribus obedientiam exibere curasset, quam sive reges sive imperatores catholicis suis predecessoribus exibuerunt. 16 Zum Gehorsam König Rudolfs vgl. Register Gregors VII., lib. VII, Nr. 140, S. 485: Qui rex Rodulfus festinanter ad me misso nuntio indicavit se coactum regni gubernacula suscepisse, tamen sese paratum mihi omnibus modis oboedire; zu Hermanns Gehorsamsversprechen vgl. ebd., lib. IX, Nr. 3, S. 576: Et quodcumque mihi ipse papa preceperit, sub his videlicet verbis: per veram oboedientiam fideliter, sicut oportet Christianum, observabo. Siehe dazu SzabóBechstein, Libertas ecclesiae, S. 148 u. S. 153 ff. mit weiteren Beobachtungen zum Stellenwert von oboedientia für Gregor VII.

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Herrschaft durch Heinrich V. aber nur scheinbar gelungen. Bald schon entzündeten sich an der Frage des Investiturrechts neue Streitigkeiten, die schon 1107 in Chalons während eines Frankreichbesuches Paschalis’ II. zu einem heftigen Zusammenstoß des Papstes mit einer Gesandtschaft Heinrichs V. führten. Abt Suger von Saint-Denis berichtet ausführlich über das anmaßende und lärmende Auftreten dieser Gesandtschaft, die bereits gedroht habe: „Nicht hier, sondern in Rom wird mit Schwertern diese Streitfrage zu Ende geführt werden.“17 Das hörte sich nicht danach an, als ob das Bewusstsein, dem Papst Gehorsam leisten zu müssen, tief verankert gewesen sei. Die zitierte Drohung machten Heinrich V. und sein Heer nach weiteren erfolglosen Verhandlungen in Rom im Jahre 1111 bekanntlich wahr, als sie nach dem Scheitern des Versuches einer radikalen Trennung von Kirche und Königtum – durch Rückgabe aller Schenkungen und Privilegien seitens der Kirche als Voraussetzung für einen vollständigen Investiturverzicht der Könige – den Papst und die Kardinäle gefangen nahmen und so die Kaiserkrönung Heinrichs und ein „Pravileg“ erpressten, sich aber dafür im Gegenzug die Bannung Heinrichs V. einhandelten.18 Vom Gehorsam des Königs war in diesem Zusammenhang verständlicherweise nicht die Rede, der Gewalt des Reichsheeres stand die päpstliche Seite vielmehr hilflos gegenüber. Man hört allerdings auch keine Aufrufe, auf die königliche Gewalt mit Gewalt der milites sancti Petri zu reagieren, und ebenso wenig gegen Heinrich V. den Vorwurf, mit seinem Ungehorsam Häresie zu begehen. Es dauerte dann bis zum Jahre 1119, ehe unter Papst Calixt II. anlässlich eines in Reims abgehaltenen Konzils über mehrere Vermittler erneut Verhandlungen mit Heinrich V. über den Verzicht auf die Investitur der Bischöfe und über seine Wiederaufnahme in die Kirche geführt wurden. Sie scheiterten nach einigen Hoff nung machenden Ansätzen, doch ist hier wieder auff ällig, dass vom Gehorsam des Kaisers gegenüber dem Papst nicht die Rede war.19 Umso überraschender ist es, dass kurz danach bei 17 Vgl. Suger, Vita Ludovici grossi, S. 60: Non hic, inquiunt, sed Rome gladiis hec terminabitur querela; vgl. Minninger, Clermont, S. 134 ff. 18 Zu den Vorgängen vgl. Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs V., Bd. 6, S. 138–230; Minninger, Clermont, S. 159 ff.; Servatius, Paschalis II., bes. S. 238; in den weiteren Horizont des 12. Jahrhunderts gestellt bei Weinfurter, Papsttum, Reich und kaiserliche Autorität, S. 77 ff. 19 Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs V., Bd. 7, bes. S. 118–137; Minninger, Clermont, S. 176 ff.

2. Das Thema im 12. Jahrhundert

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Friedensverhandlungen im Reich, die Heinrichs Konflikt mit Erzbischof Adalbert von Mainz und den Sachsen im Jahre 1121 gütlich beenden sollten, sich eine Schiedskommission mit je zwölf Vertretern beider Parteien auf einen auch schrift lich fi xierten Schiedsspruch verständigte, der die Gehorsamsfrage gleich am Anfang beantwortete: „Der Herr Kaiser soll dem apostolischen Stuhl gehorchen.“20 Diese Einigung weltlicher und geistlicher deutscher Fürsten auf ein Ende der langen Auseinandersetzung zeigt, wie wirkmächtig die gregorianische Forderung immer noch war: So sehr im bald darauf geschlossenen Wormser Konkordat auch darauf geachtet wurde, Interessen des Kaisers auf Beteiligung an der Bischofseinsetzung zu berücksichtigen,21 dass er dem Papst zu gehorchen hatte, stand wohl quasi als Präambel über der ganzen Problemlösung. Wie ernst es die Fürsten mit dieser Entscheidung meinten, ergibt sich schlagend auch daraus, dass sie eine Schwureinung bildeten, die geschlossen gegen Heinrich V. vorgehen wollte, falls er die getroffene Entscheidung nicht anerkennen sollte.22 Der Gehorsam des Königs und Kaisers gegenüber dem Papst war damit zu einer Forderung geworden, die nicht nur aus Rom, sondern ebenso von einer repräsentativen Gruppe der Reichsfürsten erhoben werden konnte, wenngleich sie nicht mit dem Hinweis verknüpft war, dass Ungehorsam den Tatbestand der Häresie erfüllte. Dieser Zusammenhang dürfte den Beteiligten jedoch bewusst gewesen sein. Es ist nur folgerichtig, dass im Jahre 1125 die Frage der Nachfolge des kinderlosen Kaisers Heinrich V. entscheidend davon beeinflusst wurde, ob die Kandidaten, die zur Wahl standen, Gewähr dafür boten, dass sie zum Gehorsam gegenüber dem Apostolischen Stuhl bereit waren. Dies machte Lothar von Supplingenburg, den sächsischen Herzog und langjährigen erfolgreichen Gegner der Salier, zu einem aussichtsreichen Kandidaten der päpstlichen Anhänger. Nach der Vita des Salzburger Erzbischofs Konrad, dem Lothar in Sachsen gegen Heinrich V. Zuflucht geboten hatte,

20 Vgl. MGH Constitutiones 1, Nr. 106, S. 158: Domnus imperator apostolici sedi obediat. 21 Zum Zustandekommen und zu den Bestimmungen des Wormser Konkordats vgl. Minninger, Clermont, S. 189 ff., die jedoch die Würzburger Beschlüsse und ihren Zusammenhang mit dem Wormser Konkordat nicht thematisiert. 22 Vgl. dazu Althoff, Häupter des Staates, bes. S. 136 ff.

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war Herzog Lothar „der Einzige, der mit seinem Land Sachsen gegenüber der römischen und apostolischen Kirche den Gehorsam bewahrte“.23 Im Bericht über die Mainzer Königswahl des Jahres 1125, dessen unbekannter Verfasser ein entschiedener Vertreter der kirchlichen Seite war, wird analog dazu betont, dass man in Mainz festgelegt habe: „welche Rechte der königlichen Gewalt, welche Freiheiten dem Priestertum des himmlischen Königs, das heißt der Kirche, zukommen sollten“.24 „Der kaiserlichen Würde aber sollte zustehen, den frei gewählten, kanonisch geweihten, durch das Zepter mit den Regalien belehnten (Bischof), ohne Preis jedoch, feierlich zu investieren und ihn durch Eide fest zu verpflichten zu treuem und gerecht-loyalem Dienst, vorbehaltlich der Vorgaben seines Standes.“25 Die Königswähler von Mainz haben bei der Wahl Lothars damit offensichtlich keinen Wert darauf gelegt, eine wie auch immer geartete Pflicht zum Gehorsam des Königs gegenüber dem Papst im Rahmen der Erhebung zum Ausdruck zu bringen und so zur Verpflichtung zu machen. Von Verstimmungen über diese fehlende Akzentsetzung hören wir nichts. Das intendierte Verhältnis von königlicher / kaiserlicher und päpstlicher Gewalt kam dann aber 1131 rituell zum Ausdruck, als König Lothar Papst Innozenz II. in Lüttich erstmals begegnete. Abt Suger von SaintDenis hat das Empfangsritual eingehend beschrieben und bewertet: „Ihm (Papst Innozenz) kam Kaiser (!) Lothar in der Stadt Lüttich mit einer großen Versammlung von Erzbischöfen, Bischöfen und Großen des Deutschen Reiches feierlich entgegen, vor der Kathedrale leistete er ihm demütig den Strator-Dienst, eilte in der Mitte der Prozession zu Fuß ihm entgegen, in der einen Hand einen Stab zur Verteidigung (des Papstes), mit der anderen Hand den Zügel des weißen Pferdes greifend, führte er 23 Vita Chunradi, cap. 12, S. 70: cum solus cum terra sua, id est Saxonia, sancte Romanae atque apostolice ecclesie servabat oboedientiam. Ausführlich zu Lothars Verhältnis zu Heinrich V. siehe Bernhardi, Lothar von Supplinburg, S. 14 ff. 24 Vgl. Narratio de electione Lotharii, cap. 6, S. 511: quid iuris regiae dignitatis imperium, quid libertatis reginae caelestis, id est ecclesiae, sacerdotium habere deberet, stabili ratione prescribitur. 25 Ebd.: habeat imperatoria dignitas electum libere, consecratum canonice, regalibus per sceptrum, sine precio tamen, investire sollemniter, et in fidei suae ac iusti favoris obsequium, salvo quidem ordinis sui proposito, sacramentis obligare stabiliter.

2. Das Thema im 12. Jahrhundert

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ihn wie einen Herrn.“26 Man spürt in den Formulierungen des gelehrten Abtes, dass er mit seiner Beschreibung der Szene die rituelle Unterordnung Lothars unter den Papst akzentuieren wollte, der damit als dominus des Herrschers ausgewiesen wurde. Als Lothar allerdings erheblich später, vor seiner Kaiserkrönung 1134, Papst Innozenz II. einen Eid leistete, war in diesem von Gehorsam wieder nicht die Rede.27 Zwischenzeitlich war auch immer wieder zu bemerken, dass Lothar recht massiv das alte Investiturrecht der Bischöfe für sich reklamierte, was einen deutlichen Widerspruch zu allen Gehorsamsversprechungen gegenüber dem päpstlichen Stuhl bedeutete.28 Zu schwereren Konflikten oder gar zum Bruch mit dem Papsttum ist es im Falle Lothars jedoch nicht gekommen. Die Zeit seines Nachfolgers, Konrads III., kann man verhältnismäßig kurz behandeln, da es zu einer persönlichen Begegnung dieses Herrschers mit einem Papst gar nicht kam. Konrad wurde bekanntlich nicht zum Kaiser gekrönt, auch wenn dies mehrfach beabsichtigt war. Dennoch war dieser erste Staufer auf dem Thron gerade zum Ende seiner Regierung in Verhandlungen mit der Kurie verwickelt, die die Vorbereitungen seines Romzugs zur Kaiserkrönung betrafen.29 Allerdings haben sich keine Nachrichten über konkrete Kontakte mit Papst Eugen III. erhalten, der König Konrad vorsichtig behandeln musste, da dieser eine wichtige Größe in einer komplizierten Mächtekonstellation war, zu der der sizilische und der französische König, der byzantinische Kaiser, aber 26 Suger, Vita Ludovici, S. 136: Cui cum imperator Lotharius in civitate Leodii cum magno archiepiscoporum et episcoporum et Teutonici regni optimatum collegio celeberrime occurrisset, in plantea ante episcopalem ecclesiam humillime se ipsum stratorem offerens pedes (pedester?) per medium sanctae processionis ad eum festinate, alia manu virgam ad defendendum, alia fraenum albi equi accipiens tamquam dominum deducebat. 27 Vgl. MGH Constitutiones 1, Nr. 115, S. 168: Ego Lotharius rex promitto et iuro tibi domino pape Innocentio tuisque successoribus securitatem vite et membri et male captionis, et defendere papatum et honorem tuum, et regalia sancti Petri que habes manutenere, et que non habes iuxta meum posse recuperare. Man merkt der Eidesformel an, dass die Behandlung Papst Paschalis’ II. durch Heinrich V. 1111 noch nicht vergessen war. 28 Vgl. dazu Bernhardi, Lothar von Supplinburg, S. 358 ff. u. S. 477 ff.; Benson, Bishop-Elect, S. 252 ff.; Crone, Untersuchungen zur Reichskirchenpolitik Lothars III., S. 251 ff. 29 Vgl. dazu Bernhardi, Konrad III., S. 886 ff.

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auch die Stadtkommune in Rom gehörten, die durchaus andere Interessen hatte als der Papst. Äußerungen über die Gehorsamsproblematik sind wohl deshalb auch nicht überliefert. Die Römer wurden in dieser Zeit von Arnold von Brescia bestärkt, ihre Interessen selbstbewusst zu vertreten. Vielleicht war dieser auch der Verfasser eines Briefes an Konrad III., in dem Konrad 1149 Optionen geboten wurden, die Gehorsam gegenüber dem Papsttum unnötig machten. „Mit ihrer Hilfe (sc. des Senates und Volkes von Rom) werdet ihr die Engelsburg erobern und es dahin bringen, dass ohne euren Willen niemals wieder ein Papst in Rom eingesetzt wird. So war es zur Zeit des seligen Gregor (I.), der ohne Zustimmung des Kaisers Mauritius nicht Papst sein konnte, und so blieb es bis zu den Zeiten Gregors VII. Und dies war meiner Meinung nach von Nutzen, damit nicht Mord und Krieg in der Welt durch Priester geschehe. Denn sie sollen nicht das Schwert und den heiligen Kelch zugleich tragen, sondern predigen und der Predigt durch ihr gutes Beispiel Kraft verleihen, nicht aber sich an Kampf und Streit in der Welt beteiligen.“30 Hier artikulierten sich politische Meinungen, denen das, was Gregor VII. und sein Kreis in Bewegung gesetzt hatten, noch sehr präsent war. Sie schätzten es aber ganz deutlich als Fehlentwicklung ein und hatten für hierokratische Vorstellungen kein Verständnis. Es ist auffällig, wie genau die in den Streitschriften der Heinricianer bereits vorgebrachten Argumente gegen die gregorianische Hinwendung zur Gewalt hier wiederkehren.31 Das Papsttum hatte in der engeren Umgebung Konrads aber auch einen Vertreter, der sich mühte, den König auf päpstliche Positionen einzuschwören. Das war der Abt Wibald von Stablo und Corvey, der Papst Eugen III. mehrfach darüber informierte, wie intensiv er den König im päpstlichen Sinne beeinflusst habe: „Ich habe getan, was mir der Kanzler auftrug. Dem Manne (sc. Konrad), der wohl durch den Hochmut und die Unbotmäßigkeit der Griechen etwas verderbt war, nicht aber durch sein Bündnis mit ihnen, habe ich durch längeres Zusammensein mit ihm und durch beständige Rede heilsame Demut und Gehorsam eingeflößt. Die entgegenstehenden Meinungen anderer aber habe ich bisweilen mit Strenge

30 Vgl. Briefbuch Abt Wibalds, Nr. 199 (J 216), S. 91 f. Vgl. dazu Bernhardi, Konrad III., S. 778 f. 31 Vgl. oben Kap. V., S. 115 f.

2. Das Thema im 12. Jahrhundert

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zurückgewiesen.“32 Trotz solcher Unterstützung dürfte es für Papst Eugen in der komplizierten Kräftekonstellation der Mitte des 12. Jahrhunderts kaum möglich gewesen sein, den deutschen König aus der Ferne allzu streng auf seine Gehorsamsverpflichtung festzulegen. Dass Ungehorsam gegen päpstliche Gebote Häresie sei und dementsprechende Folgen hätte, ist in dieser Zeit gar nicht mehr formuliert worden. Auch in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts findet man kein direktes Anknüpfen an die gregorianische Auffassung von der Häresie des Ungehorsams zur Disziplinierung der Herrscher. Von Gehorsam gar nicht die Rede war im Konstanzer Vertrag, den Friedrich Barbarossa schon 1153 durch Unterhändler mit Papst Eugen III. vereinbaren ließ. Er stellte sehr allgemein die paritätische Wahrung der wechselseitigen Interessen und Ehre sicher, bedurfte aber in vielerlei Hinsicht der Konkretion. Dass der Papst in dieser Situation die Gehorsamsfrage nicht aufwarf, kann nicht überraschen.33 Im sogenannten Alexandrinischen Schisma, der mehr als 15-jährigen Kirchenspaltung durch die Auseinandersetzung um die Anerkennung Papst Alexanders III., die Friedrich Barbarossa seit 1160 lange und hartnäckig verweigerte, hätte es eher nahegelegen, den Staufer mit diesem Argument zu konfrontieren.34 Die Haltung des Kaisers hätte die päpstliche Seite schon als hartnäckigen Ungehorsam und damit als Häresie angreifen können. Papst Alexander III. hat dies jedoch allem Anschein nach nicht getan. Seine weitgehend gleichlautenden Briefe an den Erzbischof Eberhard von Salzburg und den Bischof Arnulf von Lisieux, mit denen er im Jahre 1160 die Bischöfe über seine Exkommunikation Friedrich Barbarossas und ihre Gründe in Kenntnis setzte, sparen zwar nicht mit heft igen Vorwürfen gegen den Kaiser, nennen ihn tyrannus, sprechen von seiner Verstockheit (pertinacia) und verdammungswürdigen Anmaßung (praesump32 Briefbuch Abt Wibalds, Nr. 223 (J 252), S. 49–52: Fecimus, quod iussit, et homini non federe contracto, set fastu et inobedientia Grecorum aliquantulum corrupto longa cohabitatione et assidua collocutione humilitatis et obedientiae bonum instillavimus et aliquorum verba familiaritatis ausu severius interdum repressimus. Vgl. dazu Bernhardi, Konrad III., S. 805. 33 Zum Vertrag siehe jetzt Görich, Friedrich Barbarossa, S. 224 ff. 34 Vgl. dazu Laudage, Alexander III., bes. S. 103 ff.; neuerdings mit erweiterter Perspektive Görich, Friedrich Barbarossa, S. 393–440; siehe auch Johrendt, The Empire and the Scism.

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tio), werfen ihm vor, dass er die Kirche in äußerste Knechtschaft bringen wolle, die Formel von der Häresie des Ungehorsams wird jedoch nicht benutzt.35 Und als Alexander III. im Jahre 1162 erneut einen Brief an Erzbischof Eberhard richtete und ihn um Vermittlung in dem sich immer mehr verhärtenden Streit bat, beschwor er eindringlich seine Bereitschaft, den Kaiser in der Liebe des Herrn zu lieben und ihn auf jede Art und Weise zu ehren, wenn dieser nur bereit sei, an die Seite der Mutter Kirche zurückzukehren. Er wolle zudem alles vergessen, was vorgefallen sei, so als ob Friedrich ihn und die Kirche Gottes in keiner Weise beleidigt hätte.36 Dies sind durchaus andere Töne, als sie Gregor VII. angeschlagen hatte. Als allerdings das Schisma im Jahre 1177 nach langer Dauer und durch komplizierte Verhandlungen von hohen kirchlichen Vertretern beider Seiten gütlich beigelegt wurde und Friedrich endlich den von ihm so lange bekämpften Alexander III. in Venedig anerkannte, berichten die beiden wichtigsten Gewährsleute mehr oder weniger deutlich, dass Friedrich noch vor der Lösung der Exkommunikation dem Papst Gehorsam versprach.37 Danach nahm man sich in Venedig dann mehrere Wochen Zeit, in denen Friedrich Barbarossa immer wieder mittels ritueller Handlungen deutlich machte, dass er nun dem Papste treu und gehorsam sein würde: Er küsste Alexander nicht nur mehrfach die Füße, führte mehrfach den Strator-Dienst durch, führte den Papst an der Hand in die Kathe35 Vgl. Alexandri epistolae, Nr. 19 und 20, Sp. 88–92. 36 Ebd., Nr. 62, Sp. 134: Quod si omnipotens Deus ei per suam ineffabilem gratiam inspiraverit, quod ad sinum matris vellet Ecclesiae tota intentione redire, nihil temporale nobis contingere posset in saeculo, quod acceptius et gratius haberemus, et ipsum, sicut tantum et tam sublimem principem, sincera curaremus in Domino charitate diligere, et modis omnibus honorare. Nos … hanc omnino gerimus voluntatem, quod si converti voluerit, et catholica Ecclesiae inhaerere, quidquid nobis laesionis, impugnationis et gravaminis irrogatum, ita oblivioni trademus, tanquam si nos et Ecclesiam Dei in nullo penitus offendisset. 37 Vgl. dazu Boso, Vita Alexandri III., S. 439: post promissam quoque obedientiam venerabili pape Alexandro … ipsum (sc. Friedrich) a sententia excommunicationis pariter absolverunt; bei Romuald von Salerno, Chronicon, a. 1177, S. 283 ff. wird das Gehorsamsversprechen nicht erwähnt, es findet sich aber die Bitte Barbarossas an Alexander, er wolle supplex et deuotus eine von Alexander zelebrierte Messe hören; vgl. zum gesamten Geschehen in Venedig Althoff, Friedrich Barbarossa als Schauspieler?, S. 8 ff.; Görich, Friedrich Barbarossa, S. 444; in beiden Beiträgen auch die Belege zu den rituellen Handlungen.

3. Innozenz III. und die Zeit des Thronstreits

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drale, trieb wie ein Kirchendiener die Laien aus dem Chor, trat bei der Predigt Alexanders direkt unter die Kanzel, um jedes Wort zu hören, er übergab dem Papst auch reiche Geschenke und suchte ihn in dessen Privatgemächern zu vertraulichen Gesprächen auf. All diese Handlungen machten sein neues Verhältnis zum Papst symbolisch deutlich und verpflichteten den Kaiser für die Zukunft auf ein Verhalten, das durch Ehrerbietung (reverentia) und Gehorsam (oboedientia) charakterisiert war. Die Forderung der Päpste nach dem Gehorsam der Könige und Kaiser war also nicht vergessen.

3. Innozenz III. und die Zeit des Thronstreits 3. Innozenz III. und die Zeit des Thronstreits

Die Frage nach dem Verhältnis des Papstes zu den deutschen Königen und Kaisern stellte sich erneut und in aller Schärfe, als im Jahre 1198 die Doppelwahl des Staufers Philipp von Schwaben und des Welfen Otto IV. einen langjährigen Thronstreit auslöste. Es war abzusehen, dass in dieser Situation der Entscheidung des Papstes für einen der beiden Gewählten eine große Bedeutung zukommen würde und das Papsttum diese Situation zu einer grundsätzlichen Fixierung der wechselseitigen Rechte und Pflichten beider Institutionen nutzen würde.38 Dies war umso wahrscheinlicher, als 1198 mit Innozenz III. ein kanonistisch nicht unbedarfter Papst auf den Stuhl Petri gelangt war, der mit dieser Situation denn auch umzugehen wusste. Es dürfte daher nicht überraschen, dass bei den Bemühungen der beiden Gewählten um Anerkennung durch Innozenz die Frage ihrer Bereitschaft, dem Papst Gehorsam zu leisten, keine geringe Rolle spielte. Allerdings stand sie, wie vorweg betont sei, nicht wie bei Gregor VII. explizit im Mittelpunkt der Forderungen und Verlautbarungen. Man erkennt ihre Bedeutung erst dann, wenn man die Korrespondenzen Innozenz’ mit den beiden Thronkandidaten daraufhin untersucht, wie die Forderung nach und die Bereitschaft zu Gehorsam in den einschlägigen Zeugnissen thematisiert wird. 38 Zum Thronstreit und seinen hier interessierenden Dimensionen vgl. grundsätzlich Kempf, Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III.; Laufs, Politik und Recht bei Innozenz III.; Krieb, Vermitteln und Versöhnen; Kamp, Friedensstifter und Vermittler, S. 222 ff.; zuletzt Stürner, 13. Jahrhundert, S. 156–175.

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Der Papst ließ sich bekanntlich Zeit, ehe er sich für einen der beiden Streitenden entschied. Dies gab für beide Anlass, sich mehrfach durch Briefe und Gesandte an Innozenz zu wenden und hierbei auch die Bereitschaft zum Gehorsam zum Ausdruck zu bringen. Philipp von Schwaben tat dies allerdings deutlich zurückhaltender als Otto IV. In Philipps erstem Brief an Innozenz, den die Legaten des Papstes, die lange am Hof des Staufers verweilt und verhandelt hatten, zurückbrachten, ist in der Adresse des Briefes ausschließlich von seiner Sohnesliebe (filialis affectio) und nicht von der Bereitschaft zum Gehorsam die Rede. Im Brief spricht der Staufer zwar von der reverentia, die er dem Papst und der römischen Kirche zu zollen bereit sei, keineswegs aber benutzt er den Begriff Gehorsam und überdies erwähnt er nicht einmal die Tatsache, dass es eine strittige Königswahl gegeben hatte.39 Der Papst sollte lediglich das aufmerksam aufnehmen, was seine Gesandten ihm von Philipp zu berichten hatten. Dass hierunter die Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber päpstlichen Geboten gewesen sein könnte, ist nicht eben wahrscheinlich, weil Philipp diese Bereitschaft ja auch direkt hätte ansprechen können. Diese Ausgangslage änderte sich auch im nächsten Jahr nicht, als wieder Gesandte Philipps in Rom einen Brief des Staufers übergaben, dessen Grußformel sich erneut auf die Beteuerung der Sohnesliebe beschränkte. Immerhin brachten die Gesandten mündlich zum Ausdruck, dass der devotissimus filius, Philipp, seinen geistlichen Vater, Innozenz, mit aller Ernsthaftigkeit zu lieben und zu fördern wünsche.40 Das war Innozenz aber ganz augenscheinlich nicht genug der Unterordnung, denn er belehrte die Gesandten sehr grundsätzlich und ausführlich unter Heranziehung vieler Bibelstellen in einer Konsistorialansprache über das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt: „Dem göttlichen Gesetz gemäß werden sowohl die Könige wie die Priester gesalbt. Aber die Könige von den Priestern, nicht die Priester von den Königen. Wer salbt, ist größer als der, welcher gesalbt wird, jener überragt diesen an Würde  … Den Fürsten wird die Macht auf Erden, den Priestern aber auch die Macht im Himmel verliehen; jenen nur über den Leib, diesen auch über die Seele. So viel die Würde der Seele den Leib überragt, ebenso viel überragt die Würde des Priestertums die des Königtums.“ 41 39 Vgl. Epistola ad Innocentium III, MGH Const. II, Nr. 2, S. 2 f. 40 Vgl. Legatio ad pontificem, MGH Const. II, Nr. 4, 5, S. 4 f. 41 Responsio Domini Papae facta nuntiis Philippi in consistorio, RNI, Nr. 18,

3. Innozenz III. und die Zeit des Thronstreits

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Innozenz hat hier Gedanken wiederholt und variiert, mit denen bereits Gregor VII. den päpstlichen Vorrang begründet hatte, aber Gregors entscheidende Argumente und Begründungen nicht benutzt.42 Dennoch konnte eigentlich nicht mehr zweifelhaft sein, was die Könige den Päpsten zu zollen hatten, wenngleich Innozenz es hier nur implizit anspricht, indem er den höheren Rang des Priestertums herausarbeitet.43 Ganz anders als die zitierten Äußerungen Philipps lasen sich von Anfang an diesbezügliche Beteuerungen Ottos IV., die schon im Zusammenhang seiner Wahlanzeige an den Papst im Juli 1198 auftauchen. Er verwies auf seine und seiner Vorfahren Bereitschaft zu Ergebenheit (devotio) und Folgsamkeit (obsequium) gegenüber dem Apostolischen Stuhl, die signifi kant von dem Unrecht unterschieden seien, das Philipp ebenso wie sein Vater und Bruder diesem angetan hätten.44 Schon in den Grußadressen seiner Briefe an Innozenz bot Otto dem Papst die „kindlich ergebene Zuneigung mit der schuldigen Ergebenheit“ (filialia deuotionis affectum cum debita reuerentia, Nr. 3), „mit aller Treue und Demut Unterordnung, kindliche Liebe und Ergebenheit (cum omni fidelitate et humilitate, subiectionem, filialem dilectionem et reuerentiam, Nr. 19), „die schuldige Ehrerbietung und treue Unterordnung (debitam deuotionem et fidelem subiectionem, Nr. 53), „die schuldige Unterordnung und Ehrerbietung mit kindlicher Liebe“ (debitam subiectionem et reuerentiam cum filiali dilec-

S. 45 ff.: Licet autem tam reges quam sacerdotes ungantur ex lege divina, reges tamen unguntur a sacerdotibus, non sacerdotibus a regibus. Minor est autem qui ungitur quam qui ungit, et dignior est ungens quam unctus (S. 46) … Principibus datur potestas in terris, sacerdotibus autem potestas tribuitur in coelis. Illis solummodo super corpora, istis etiam super animas. Unde quanto dignior est anima corpore, tanto dignius est etiam sacerdotium quam sit regnum (S. 48). 42 Vgl. dazu vor allem Gregors Ausführungen in seinem zweiten Brief an Bischof Hermann von Metz, Register Gregors VII., lib. VIII, Nr. 21, S. 544–563; siehe dazu Cowdrey, Gregory VII, bes. S. 615 ff. 43 Er deutet damit bereits Gedanken an, die er wenig später in seiner Deliberatio de tribus electis ausführlicher entwickelte, siehe dazu unten Anm. 50. 44 Vgl. Littere regis Ottonis ad dominum papam, RNI, Nr. 3, S. 10 ff.: Petimus ergo et cum instantia paternitati vestrae supplicamus quatinus fidem ac devotionem nostrum considerantes, merita quoque patris et auunculi nostri regis Anglie, qui numquam ab obsequio ecclesie Romanae recesserunt, ad memoriam reuocantes, iniurias etiam Philippi, ducis Sueuie, quondam ducis Tuscie, et patris et fratris eius non dissimulantes, nos regiam dignitatem adeptos ad imperii consecrationem dignemini (S. 12).

204 IX. Die „Häresie des Ungehorsams“ im 12. und 13. Jahrhundert

tione, Nr. 81 und 160).45 Interessanterweise verschwinden diese Ergebenheits- und Unterordnungsadressen in den drei Briefen Ottos an den Papst, die er nach dem Tode Philipps schrieb.46 Als Ergebnis schon der ersten Kontaktaufnahme wurde von den Gesandten des Welfen in Zusammenwirken mit Innozenz III. überdies ein Eid Ottos formuliert, der später erweitert und von Otto urkundlich bestätigt ins Thronregister Innozenz’ übernommen wurde.47 Der Brief beginnt mit der Formulierung: „Ich Otto, durch Gottes Gnade König der Römer und immer Augustus, verspreche und schwöre dir, meinem Herrn Papst Innozenz“. Es folgen detaillierte Versprechungen zu den territorialen Rekuperationsforderungen der Päpste in Mittelitalien, zur Wiedererlangung Siziliens und einiges mehr; entscheidend dürfte aber wohl der Satz sein: „Dir, meinem Herrn Papst Innozenz, und deinen Nachfolgern werde ich allen Gehorsam und Ehrerbietung (oboedientiam et honorificentiam) erweisen, die ergebene und katholische Kaiser dem apostolischen Stuhl zu erweisen gewohnt sind.“ 48 Hier ist also konkret von Gehorsam die Rede, der in den Adressen der Briefe eher umschrieben wurde. Mit einer ganz ähnlichen Formel hatte auch schon einer der Gegenkönige gegen Heinrich IV., Hermann von Salm, bei seinem Amtsantritt dem Heiligen Stuhl Gehorsam versprochen.49 Es ist nur folgerichtig, dass Innozenz III. bei der Begründung seiner letztendlichen Entscheidung für Otto IV., die in mehreren Varianten an unterschiedliche Adressaten überliefert ist, die Frage des Gehorsams zu einem vorrangigen Argument für seine Entscheidung machte. Zunächst erläuterte Innozenz seine Gründe in einer Konsistorialansprache vor den Kardinälen, teilte sie dann in mehreren Schreiben auch Otto IV. und allen

45 Die im Text angegebenen Nummern beziehen sich auf Regestum Innocentii III papae super negotio Romani imperii (RNI), hg. v. Kempf. 46 Vgl. RNI, Nr. 187, 190, 193. 47 Vgl. Iuramentum prius Innocentio III praestitum, MGH Const. II, Nr. 16, S. 20 f.; erweitert in RNI, Nr. 77, S. 209 ff.; zu den Einzelheiten siehe Krieb, Vermitteln und Versöhnen, S. 77 f. 48 Ebd., S. 4 f.: Ego Otto Dei gratia Romanorum rex et semper Augustus tibi domino meo Innocentio pape tuisque successoribus et ecclesiae Romnae spondeo, polliceor, promitto et iuro … Tibi etiam domino meo Innocentio papae et successoribus tuis omnem obedientiam et honorificentiam exhibebo, quam devoti et catholici imperatores consueverunt exhibere sedi apostolicae. 49 Vgl. dazu oben S. 193 Anm. 16.

3. Innozenz III. und die Zeit des Thronstreits

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Fürsten im Reich mit.50 Er begründete seine Entscheidung ganz wesentlich mit der Feststellung, dass Otto einem Geschlecht (genus) entstamme, das der Kirche immer ergeben (devotus) gewesen sei, Philipp dagegen einem Geschlecht von Verfolgern (genus persecutorum) der Kirche. Mit ersterem meinte er die männlichen und weiblichen Vorfahren des Welfen, beginnend mit Lothar von Supplingenburg und Wilhelm dem Eroberer, mit letzterem die Salier und die Staufer, deren Verfolgungen der Kirche auch im Einzelnen aufgeführt werden.51 Es kann kaum zweifelhaft sein, dass mit der Charakteristik Ottos und seiner Vorfahren als devoti gegenüber der römischen Kirche auch die Bereitschaft zum Gehorsam gemeint war. Die Stellungnahme Innozenz’ III. für Otto IV. hat den Thronstreit bekanntlich nicht entschieden, da die deutschen Fürsten ihre Entscheidung nicht von der päpstlichen abhängig machten. Folgerichtig sind wiederholt massive Versuche des Papstes zu beobachten, seinen favor apostolicus für Otto wirksam werden zu lassen.52 Für unseren Zusammenhang interessant sind vor allem Schreiben, in denen Innozenz unter Hinweis auf 1 Samuel 15,22 ff. zum Gehorsam gegenüber seinen Weisungen auffordert und Exkommunikation und Absetzung von Bischöfen wegen Ungehorsams androht, die seinen Kandidaten nicht zu unterstützen bereit waren. Damit ist nachgewiesen, dass Innozenz die Bedeutung dieses von Gregor VII. aktivierten biblischen Belegs für die Legitimation päpstlicher Forderungen

50 Vgl. RNI, Nr. 29, 32 und 33, S. 74 ff.; siehe dazu zuletzt Stürner, 13. Jahrhundert, S. 162 ff. mit der neueren Literatur. 51 Die ausführlichen Argumentationen finden sich einmal in der Deliberatio domini pape Innocentii super facto imperii de tribus electis (RNI, Nr. 29) in Bezug auf Philipp und seine Vorfahren (S. 83 f.) wie auf Otto und seine Vorfahren (ebd., S. 90): cum Otto et per se devotus existat ecclesie et ex utraque parte trahat originem ex genere devotorum: ex parte matris de domo regum Anglie, ex parte patris de prosapia ducum Saxonie, qui omnes ecclesie fuere deuoti, et specialiter Lotarius imperator proauus eius, qui bis pro apostolico sede honore Apuliam est ingressus et in obsequio ecclesie Romane decessit: ei manifeste fauendum, et ipsum recipiendum in regem, et premissis omnibus que pro honorificentia ecclesie Romane debent premitti, ad coronam imperii euocandum. In ganz vergleichbarer Weise argumentiert Innozenz in seinem Schreiben an die deutschen Fürsten (RNI, Nr. 33) hinsichtlich des Staufers und seines Geschlechts (S. 107) bzw. Ottos und seiner Vorfahren (S. 109). 52 Zur Bedeutung des favor apostolicus seit Gregor VII. vgl. Krieb, Vermitteln und Versöhnen, S. 91 ff.; Stürner, 13. Jahrhundert, S. 166 f. mit weiterer Literatur.

206 IX. Die „Häresie des Ungehorsams“ im 12. und 13. Jahrhundert

nach unbedingtem Gehorsam zweifelsohne noch bewusst war. In scharfen Worten tadelte er mit diesem Beleg nämlich sowohl den Erzbischof Ludolf von Magdeburg wie an anderer Stelle den Erzbischof Adolf von Köln und drohte ihnen die Exkommunikation an.53 Allerdings hat er diese Drohung nicht gegen einen der beiden Könige gerichtet, was nach dem Vorbild Gregors VII. ja gerade nahegelegen hätte, der Heinrich IV. explizit wegen seines Ungehorsams exkommuniziert hatte.54 Dennoch blieb das Thema Gehorsam auch in der weiteren Korrespondenz des Papstes mit den Königen auf der Tagesordnung. Innozenz nahm gezwungenermaßen wieder Verhandlungen mit Philipp auf, als sich die Waagschale trotz der päpstlichen Unterstützung Ottos zugunsten des Staufers zu neigen begann. Auch der Staufer hatte nun dazugelernt. Aus dem Jahre 1206 datiert nämlich ein Schreiben Philipps an den Papst mit einem sehr weitgehenden Versöhnungsangebot, das in neuer Weise die Verpflichtung zum Gehorsam anspricht, die der Staufer nun erfüllen will: Nachdem er zunächst feierlich die Binde- und Lösegewalt des Papstes nach Matthäus 16,18 und die unbeschränkte Gewalt (plenitudo potestatis) des Papstes anerkannt hat, der nur von Gott und nicht von Menschen gerichtet werden dürfe, verspricht Philipp wegen aller Vorwürfe, die der Papst gegen ihn habe, „sich wie euer ergebener (devotus) Sohn gehorsam (obedienter) eurem Urteil (discretio) und Befehl (ordinatio) zu unterstellen“.55 Und er schließt seinen Brief im Vertrauen darauf, dass der Papst, nun im Wissen der vollen Wahrheit, Philipps „Gehorsam und Ergebenheit“ mit väterlicher Liebe beantworten werde. Gewiss war dies ein Verhandlungsangebot, es schlug aber gänzlich neue Töne an, die der Staufer bis dahin vermieden hatte. Aus diesem An-

53 Vgl. RNI, Nr. 109, S. 271 (Ludolf von Magdeburg): cum obedientia preferatur uictimis et idolatrie inobedientia comparetur mit anschließendem Zitat 1 Samuel 22 f.; RNI, Nr. 116, S. 288: Ipse (sc. Adolf von Köln) uero non attendens quod, sicut obedientia uictimis antefertur, sic inobedientia idolatrie comprobatur, obedientie lora disrupens inobedientie uitium non uitauit, sed contra preceptum nostrum et proprium iuramentum, corruptus pecunia, sicut fertur, dominum suum temerarius prodidit. Vgl. überdies RNI, Nr. 113, S. 281 mit einem weiteren Hinweis auf 1 Samuel 15,23 gegen Adolf von Köln. 54 Vgl. oben Kap. II., S. 46. 55 Vgl. RNI, Nr. 136, S. 323: Super omnibus autem aliis que nobis obicere decreueritis, sicut deuotus filius uester obedienter nos discretioni et ordinationi uestre submittemus.

3. Innozenz III. und die Zeit des Thronstreits

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gebot spricht ein sehr genaues Wissen, welche grundsätzlichen Ziele dem Papst besonders wichtig waren.56 Und dazu gehörte allem Anschein nach in vorderster Linie die Gehorsamsfrage. Innozenz reagierte denn auch sehr charakteristisch in einem Brief an den Patriarchen Wolfger von Aquileja, der wohl als Vermittler zwischen Philipp und ihm fungiert hatte: Die Antwort Philipps enthalte „katholische Wahrheit“ ebenso, wie sie „fromme Ergebenheit“ zeige.57 Auf dieser Basis war Innozenz bereit, aktiv an einer Friedenslösung des Thronstreits mitzuwirken und dabei Philipps Interessen zu berücksichtigen.58 Die Ermordung des Staufers hat weitere Schritte verhindert sowie die alleinige und allgemeine Anerkennung Ottos als König und zukünftigen Kaiser bewirkt. Dieser verfasste daher 1209 ein feierliches Manifest, in dem er sein zukünft iges Verhältnis zur römischen Kirche detailliert festlegte. Es beginnt mit der Versicherung, Otto wolle dem „hochehrwürdigen Vater und Herrn“ Innozenz und seinen Nachfolgern „jeden Gehorsam, Ehrerbietung und Verehrung mit immer demütigem Herzen und ergebenem Sinn darbieten, wie es unsere königlichen und kaiserlichen Vorgänger hinsichtlich der Vorgänger des Papstes getan haben“.59 Dass Otto wenig später all diese Versprechungen brach und der Thronstreit in eine dritte Phase eintrat, war hier kaum abzusehen, ist aber für unsere Leitfrage nicht zentral.60 Immerhin hat Innozenz III. auf diesen massiven Bruch aller Eide und Verträge, den Otto IV. mit seinem Ausgreifen auf Süditalien beging, in ganz charakteristischer Weise reagiert, die auch von späteren Päpsten übernommen wurde. Er beschuldigte den Kaiser nämlich der „Verachtung der päpstlichen Schlüsselgewalt“, wie sie aus Matthäus 16,18 abzuleiten sei: „Wir haben nämlich gehört, dass er (Otto) gegen die Bestimmung des Evangeliums die Schlüssel des Himmelreiches verachtet, die der Herr Jesus Christus dem heiligen Petrus übereignete, damit das, was dieser auf Erden binden oder lösen werde, auch im Himmel

56 Vgl. dazu Krieb, Vermitteln und Versöhnen, S. 172 ff. 57 Vgl. RNI, Nr. 137, S. 324: Responsionem autem ipsius gratam in multis habemus, tum quia sapit catholicam ueritatem, tum quia piam deuotionem ostendit. 58 Vgl. dazu Stürner, 13. Jahrhundert, S. 172 ff. 59 Vgl. RNI, Nr. 189, S. 400: omnem obedientiam, honorificentiam et reuerentiam semper humili corde ac deuoto spiritu impendemus, quam predecessores nostri reges et imperatores catholici uestris antecessoribus impendisse noscuntur. 60 Vgl. Stürner, 13. Jahrhundert, S. 180 ff.

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gebunden oder gelöst sei.“ 61 Diese Verachtung der päpstlichen Schlüsselgewalt bestand nach Innozenz auch darin, dass Otto an Messfeiern teilnahm, obwohl er exkommuniziert war. Das gab Innozenz die Berechtigung, ihn als Häretiker zu betrachten.62 Dieser Vorwurf des contemptus clavium wurde nun wohl anstelle der „Häresie des Ungehorsams“ zum Zentralbegriff einschlägiger Auseinandersetzungen, er wird uns bei Friedrich II. wiederbegegnen. Im Thronstreit spielte, wie gezeigt, die Gehorsamsfrage insgesamt eine wichtige Rolle. Sie stellte ein wesentliches Kriterium dar, das mitentscheidend dafür war, welchem Kandidaten die päpstliche Gunst, der favor apostolicus, zuzuwenden sei. Es war derjenige, dessen Worte und Taten, aber auch dessen Herkunft Gewähr dafür boten, dass er die Gehorsamsforderung der Päpste akzeptieren und umsetzen würde. Es scheint, als habe Otto IV. schon früh gewusst, dass diese Bereitschaft die Voraussetzung für die päpstliche Unterstützung sei, während Philipp in der ersten Phase des Streits sich in dieser Hinsicht sehr zurückhielt. Dass er diese Haltung 1206 änderte, ist wohl ein starkes Argument dafür, dass von der Bereitschaft zum Gehorsam wirklich viel abhing. Insgesamt hat Innozenz diese Forderung allerdings nicht so offensiv eingesetzt, wie es Gregor VII. getan hatte. So taucht der Gehorsam häufiger als Angebot der Kandidaten denn als Forderung Innozenz’ auf. Selbst die Bannung Ottos IV. wurde nicht mit seiner „Häresie des Ungehorsams“ begründet, was zweifelsohne möglich gewesen wäre, sondern mit dem Vorwurf, die Schlüsselgewalt der Päpste missachtet zu haben. Diese Strategie des Papstes sollte aber nicht dazu verleiten zu übersehen, dass seine Vorstellungen von den Befugnissen und Vorrechten der päpstlichen Würde sich weitgehend mit denen Gregors VII. deckten, er äußerte sie nur nicht mit der gleichen Vehemenz und Unerbittlichkeit wie sein Vorgänger, sondern sowohl behutsamer als auch präziser.63 Die von ihm benutzten Formeln von der plenitudo potestatis, über die der Papst verfüge, und vom 61 Vgl. Hageneder, Häresiebegriff, S. 72 mit Anm. 94. 62 Böhmer, Acta imperii selecta, Nr. 922, S. 632: nos eum hereticum esse divino iudicio decernimus; vgl. Hageneder, Häresiebegriff, S. 72 f. mit weiteren Hinweisen. 63 Vgl. dazu allg. Kempf, Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III., bes. S. 181 ff., der das umstürzend Neue der Gedanken Gregors VII. aus der Idee der Verantwortlichkeit für die christianitas abzuleiten versucht, die die Zeit bis Bonifaz VIII. beherrscht habe.

4. Friedrich II., die Päpste und die „Häresie des Ungehorsams“ 209

contemptus clavium, der Verachtung der päpstlichen Schlüsselgewalt, die Matthäus 16,19 sozusagen auf den Begriff brachte, machten denn auch Schule, wie die nächsten Ausführungen zeigen werden.64

4. Friedrich II., die Päpste und die „Häresie des Ungehorsams“ 4. Friedrich II., die Päpste und die „Häresie des Ungehorsams“

Innozenz III. hat auf den Vertrags- und Vertrauensbruch Ottos IV. sofort reagiert und den jungen Staufer Friedrich II. als dessen Gegenspieler aufgebaut. Die Einzelheiten müssen hier nicht verfolgt werden.65 Für unsere Fragestellung ist vor allem wichtig, dass Innozenz den neuen Thronprätendenten auf genau die Zusicherungen zu verpflichten suchte, die Otto IV. gemacht, aber nicht eingehalten hatte. So wiederholte etwa der Treueeid Friedrichs gegenüber Innozenz an entscheidender Stelle die Formel, die auch Otto beeidet hatte: „Dir, meinem Herrn Papst Innozenz, und deinen Nachfolgern werde ich jeden Gehorsam und Ehrerbietung erweisen, den die ergebenen und rechtgläubigen Kaiser dem apostolischen Stuhl zu erweisen gewohnt sind.“ 66 Das gleiche Versprechen findet sich, eingeleitet durch geradezu emphatische Formulierungen, auch in der berühmten Egerer Goldbulle Friedrichs von 1213, in der Friedrich Papst Innozenz noch einmal Dank abstattete für die Unterstützung, die dieser ihm hatte zukommen lassen: „Wir haben vor Augen eure immensen und unzähligen Wohltaten, liebster Herr und verehrungswürdigster Vater, Beschützer und Wohltäter, unser Herr Innozenz, durch Gottes Gnade verehrungswürdiger höchster Priester, durch dessen Wohltat, Mühsal und Schutz wir mit Leben erfüllt, beschützt und zugleich gefördert worden sind, nachdem unsere Mutter Konstanze seligen Angedenkens uns geboren hatte.“ 67 Hierauf folgt dann direkt das schon zitierte Gehorsamsversprechen. 64 Zur plenitudo potestatis siehe Pennington, Pope and Bishops, S. 43 ff. 65 Vgl. dazu Baaken, Ius Imperii, bes. S. 111 ff.; Hucker, Otto IV., S. 291 ff.; Stürner, Friedrich II., S. 132 ff. mit Hinweisen auf die ältere Literatur. 66 Vgl. MGH Const. II, Nr. 49, 50, S. 62: Tibi etiam domino meo Innocentio pape et successoribus tuis omnem obedientiam et honorificentiam exhibebo, quam devoti et catholici imperatores consueverunt sedi apostolici exhibere; siehe dazu Laufs, Politik und Recht bei Innozenz III., S. 289 ff.; Stürner, Friedrich II., 1, S. 159 f. 67 Vgl. MGH Const. II, Nr. 47, S. 58.

210 IX. Die „Häresie des Ungehorsams“ im 12. und 13. Jahrhundert

Damit stellt die Forderung von Gehorsam in der Anfangsphase Friedrichs weiterhin die Grundlage zumindest der päpstlichen Vorstellungen von der Zusammenarbeit mit den Königen und Kaisern dar: Den Inhabern der Schlüsselgewalt gebührte von allen Menschen einschließlich der Herrscher Gehorsam, wie es zuerst Gregor VII. eingefordert hatte. Friedrich II. hat sich diesem Anspruch nicht entzogen. Auch von ihm sind die Päpste in dieser Hinsicht aber schwer enttäuscht worden. Die deutsche Forschung hat häufig die problematische Formulierung vom „Endkampf“ Friedrichs II. mit den Päpsten benutzt, um die Dramatik der Auseinandersetzungen hervorzuheben, die nach mehrfacher Exkommunikation 1245 zur Absetzung Kaiser Friedrichs durch Papst Innozenz IV. und das Konzil von Lyon führten.68 Die Vorgänge, die bekanntlich auch erhebliche publizistische Anstrengungen beider Seiten auslösten, in denen die Gegenpartei mit allen rhetorischen und polemischen Mitteln ins Unrecht gesetzt und diffamiert wurde, sollen hier nicht detaillierter dargestellt werden. Die Gehorsamsforderung wird dabei allerdings von den späteren päpstlichen Gegnern Friedrichs II., das heißt vor allem von Gregor IX. und Innozenz IV., nicht mehr in der direkten Weise erhoben, wie wir das seit Gregor VII. verfolgen konnten. Das heißt aber nicht, dass man auf diese Forderung verzichtet hätte, im Gegenteil. Man hatte für sie nur einen anderen Begriff gefunden, der nun in die päpstlichen Anklagen gegen den Kaiser Einzug hielt: Als contemptus clavium, als Verachtung der päpstlichen Schlüsselgewalt, wie sie Matthäus 16,18 ff. zum Ausdruck brachte, ließen sich die vielen Vergehen Friedrichs II. gegen die römische Kirche am besten zusammenfassen.69 Dieser Begriff dominiert daher die päpstlichen Anklagen gegen Friedrich. Der Vorwurf der Häresie gründete nicht mehr einfach auf Ungehorsam, sondern auf der Verachtung der päpstlichen Binde- und Lösegewalt. Aus dieser Gewalt resultierte die Vorstellung von der päpstlichen plenitudo potestatis, einer allgemeinen und allumfassenden Gewalt, deren geistliche und weltliche Befugnisse dennoch unterschieden wurden:70 Die weltlichen Befugnisse sollten nämlich nur de jure und nicht de facto ausgeübt werden, was bedeutete, dass der Papst sich 68 Vgl. dazu bereits oben Einleitung, S. 26. 69 Vgl. dazu Hageneder, Häresie des Ungehorsams, S. 30 ff. 70 Vgl. dazu bereits Watt, Theory of Papal Monarchy, S. 75 ff.; Kempf, Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III., S. 296 ff. Vgl. dazu auch unten S. 212.

4. Friedrich II., die Päpste und die „Häresie des Ungehorsams“ 211

nur eine prinzipielle oberste Entscheidungsgewalt in weltlichen Bereichen reservierte. Gregor IX. formulierte nach seiner Exkommunikation Friedrichs II. und deren Zurückweisung durch den Kaiser 1239 in seiner berühmten Enzyklika („Es steigt aus dem Meere die Bestie voller Namen der Lästerung“) den Vorwurf der Häresie mit der Beschuldigung, der Kaiser erkenne die Binde- und Lösegewalt der römischen Kirche nicht an: „Denn indem er in seinen Briefen hartnäckig behauptete, dass er durch uns, den Statthalter Christi, nicht mit der Fessel des Bannes gebunden werden könne, und damit versichert, dass der Kirche die vom heiligen Petrus und seinen Nachfolgern überlieferte Binde- und Lösegewalt fehle … indem er somit die Ketzerei bestätigt, umstrickt er sich durch sein eigenes Zeugnis und zeigt damit, wie übel er auch von den sonstigen Sätzen des wahren Glaubens denkt.“71 Auch in der Absetzungsbulle, die Innozenz IV. 1245 in Lyon formulieren ließ, wird entsprechend akzentuiert: „Verdientermaßen ist gegen ihn (Friedrich) der Verdacht der häretischen Verderbtheit entstanden, als er dem Urteil der Exkommunikation verfiel und … die Schlüssel(gewalt) der Kirche verachtete, indem er sich Messen zelebrieren oder besser, soweit es an ihm war, das Göttliche profanieren ließ und beständig versicherte, dass er die Urteile Papst G(regors) nicht fürchte.“72 Die neue Argumentation mit dem contemptus clavium zeitigte Wirkung, wie die Tatsache beweist, dass Friedrich selbst 1244 in den Verhandlungen vor seiner Absetzung indirekt eingestand, dass der Papst zumindest in geistlichen Angelegenheiten die volle (Schlüssel-)Gewalt über ihn besitze: Er habe das von Gregor IX. gegen ihn gefällte Urteil gar nicht zur

71 Vgl. MGH Epistolae saeculi XIII, Bd. 1, Nr. 750, S. 653: in eis (sc. litteris) constanter proponens quod per nos, tanquam Christi vicarius, vinculo excommunicationis astringi non potuit. Sicque affirmans non esse apud ecclesiam a Domino beato Petro et eius successoribus ligandi atque solvendi traditam potestatem, dum heresim asserit, proprio sibi argumento concludit, consequenter ostendens quod male sentiat de ceteris fidei orthodoxe articulis (Übersetzung nach Van Eickels / Brüsch [Hg.], Kaiser Friedrich II., S. 359 f.). 72 Vgl. MGH Const. II, Nr. 400, S. 511, § 8, Z. 36: Merito insuper contra eum de heretica pravitate suspitio est exorta, cum postquam excommunicationis sententiam … claves ecclesie comtempserit et contempnat, sibi faciens celebrari vel potius quantum in eo est prophanari divina, et constanter asseveraverit  … se prefati G. pape sententias non vereri.

212 IX. Die „Häresie des Ungehorsams“ im 12. und 13. Jahrhundert

Kenntnis erhalten und deshalb treffe ihn der Vorwurf von der Verachtung der Schlüsselgewalt nicht. Er wisse vielmehr sehr wohl und glaube getreulich daran, „dass der Papst über uns und über alle christlichen Könige und Fürsten, Priester und Laien, in geistlichen Dingen die volle Gewalt (plenitudo potestatis) hat, insofern jemand Sünder ist, was Gott verhüte“.73 Innozenz IV. hat die im Kern schon auf Innozenz III. zurückgehenden Geltungsansprüche des Papsttums auf die plenitudo potestatis weiterentwickelt und sie dahingehend präzisiert, dass sie in weltlichen Angelegenheiten nur de jure bestehe, nicht de facto ausgeübt werden solle.74 Im Normalfall waren weltliche Instanzen die Inhaber von potestas, der Papst konnte diese aber in bestimmten Situationen übernehmen. Wann das nötig war, blieb seiner Entscheidung vorbehalten.75 Diese Differenzierung zwischen de jure und de facto war keinesfalls ein Verzicht, sondern überließ der weltlichen Gewalt die Ausübung der potestas sozusagen im Alltagsgeschäft, behielt sich aber die Übernahme dieser potestas in wichtigen Fällen vor. Dass die Päpste so die gesamte weltliche Gewalt nach Belieben lahmlegen konnten, haben schon Kanonisten des späteren 13. Jahrhunderts gesehen und in diesem Zusammenhang von absurditas gesprochen.76 Mit der Denkfigur vom contemptus clavium, der Verachtung der Binde- und Lösegewalt des Papstes, war die Vorstellung von der Häresie des Ungehorsams also keineswegs ad acta gelegt. Sie wurde vielmehr enger an eine der zentralen Bibelstellen angebunden, mit denen schon Gregor VII. die neuen Geltungsansprüche des Papsttums begründet hatte. Zugleich aber kann man sicher nicht sagen, dass die Hierokraten damit eindeutig das Feld beherrscht und die Dualisten, die auch der weltlichen Gewalt ihren Rang und ihre Aufgaben zuordneten, verdrängt hätten. Wie schon im 11. und 12. Jahrhundert haben die Päpste vielmehr unterschiedlichen Gebrauch von ihrer Schlüsselgewalt gemacht und de facto nicht 73 Vgl. MGH Const. 2, S. 343, Z. 16 f.: quod tam super nos quam super omnes christianos reges et principes, clericos et laicos habet summus pontifex, quantuscumque peccator et prevaricator existat, quod Deus avertat, in spiritualibus plenitudinem potestatis. Siehe dazu Hageneder, Häresie des Ungehorsams, S. 30. 74 Vgl. ebd., S. 32 mit Anm. 12. 75 Vgl. hierzu bereits Kempf, Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III., S. 263 ff. 76 Siehe dazu Hageneder, Häresie des Ungehorsams, S. 32 mit Anm. 14 und Hinweis auf Heinrich von Segusio, den sogenannten Hostiensis.

4. Friedrich II., die Päpste und die „Häresie des Ungehorsams“ 213

sehr häufig oder gar ständig in die weltlichen Dinge eingegriffen. Dass die von Gregor VII. maßgeblich geprägten Geltungsansprüche trotzdem immer noch die gelehrten Diskussionen wie die praktischen Maßnahmen der Päpste bestimmten, zeigen die konkreten Rekurse auf die Häresie des Ungehorsams und das Samuel-Zitat ebenso wie die neu entwickelten Vorstellungen von der plenitudo potestatis und dem contemptus clavium. Noch Bonifaz VIII. bezeichnete in seiner berühmten Bulle Unam Sanctam die Unterordnung unter den römischen Pontifex als eine „heilsnotwendige Voraussetzung“ (de necessitate salutis) für jeden Christen. Diese Überordnung ergebe sich zwingend (veritate dictante) aus der Jurisdiktionsgewalt der geistlichen Gewalt über die weltliche.77 Er nutzte hierzu das Bild von den Schafen, die zu weiden seien (Johannes 21,17), und es sei niemand von dieser Hirtenpflicht der Päpste ausgenommen – so hatte auch schon Gregor VII. argumentiert.78 Und er zitierte Matthäus 16,19, um zu folgern: „Wer sich also dieser von Gott so geordneten Gewalt widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung.“ Deshalb müsse „alle menschliche Kreatur dem Papst in Rom untertan sein, wenn sie das Heil ihrer Seele retten“ wolle.79 Hier scheint der gregorianische Standpunkt also noch unverrückt und präsent, obschon spätestens mit Bonifaz VIII. die Epoche der „päpstlichen Weltherrschaft“ de facto endet.

77 Vgl. Les registres de Boniface VIII, Sp. 888–890, hier Sp. 889: Nam veritate testante, spiritualis potestas terrenam potestatem instituere habet, et judicare, si bona non fuerit … Ergo si deviat terrena potestas, judicabitur a potestate spirituali, sed si deviat spiritualis minor, a suo superiori. Si vero suprema a solo Deo, non ab homine poterit judicari. Siehe dazu allg. Ullmann, Bulle Unam Sanctam. 78 Vgl. Les registres de Boniface VIII, Sp. 889. Zu Gregor siehe oben Kap. II., S. 44. 79 Vgl. ebd., Sp. 890: Quicumque igitur huic potestati a Deo sic ordinate resistit, Dei ordinationi resistit … Porro subesse Romano Pontifici omni humane creature declaramus, dicimus, et diffinimus omnino esse, de necessitate salutis.

X.

Zusammenfassung

1. Zum allgemeinen Horizont der hier diskutierten Problematik X. Zusammenfassung 1. Zum allgemeinen Horizont der hier diskutierten Problematik

Dieses Buch verfolgte ein ganz konkretes Ziel. Alle Aufmerksamkeit war auf die kritische Prüfung und Beantwortung einer Leitfrage gerichtet, die im 11. Jahrhundert im Umkreis des Reformpapsttums gestellt wurde: „Ist es dem Christen erlaubt, im Interesse des Glaubens mit Waffen zu kämpfen?“ Mehrere Autoren des 11. Jahrhunderts beantworteten die Frage mit großer Entschiedenheit positiv. Dieser ungewöhnliche Befund hätte die Forschung eigentlich dazu veranlassen sollen, die Argumente und Beweisführungen zur Kenntnis zu nehmen, die diese Antwort untermauerten. Es wäre zudem dringlich gewesen, die Voraussetzungen und die praktischen Konsequenzen der hier fassbaren neuen Einstellung der Kirche zur Gewalt zu erforschen. Erstaunlicherweise ist dies jedoch nicht geschehen. Dass die eben zitierte Frage Bonizos in den größeren Zusammenhang eines neuen Verhältnisses der Kirche zur Gewalt gehört, das breit theologisch begründet wurde, ist bisher nicht ins Blickfeld der Forschung gerückt. Das Thema der Legitimation und Anwendung von Gewalt durch die christliche Kirche im Mittelalter verengt man vielmehr nach wie vor auf die Kreuzzüge und die Ketzerbekämpfung, ohne den wahrscheinlich gemeinsamen Wurzelgrund dieser Erscheinungen in der gregorianischen Gewalttheorie zu erkennen.1 Es wurde übersehen, dass die seit Gregor VII. entwickelte und verbreitete Gewalttheorie der Kirche sehr allge1 Zu den Kreuzzügen siehe oben Kap. VI.; zur Gewalt gegen Ketzer, die in diesem Buch nicht thematisiert wird, vgl. nur Kolmer, Ad capiendas vulpes; Moore, Formation of a Persecuting Society; Oberste, Der „Kreuzzug“ gegen die Albigenser; Peters, Folter; Ragg, Ketzer und Recht; Segl (Hg.), Anfänge der Inquisition im Mittelalter. Es bleibt noch zu prüfen, in welchem Ausmaß die gregorianischen Theorien noch die spätere kirchliche Haltung zu den Ketzern beeinflussten.

216

X. Zusammenfassung

mein angelegt war und grundsätzlich gegen alle die gerichtet werden konnte, die sich Ungehorsam gegen Anordnungen des Apostolischen Stuhls zuschulden kommen ließen.2 Für diese Einschätzung haben die hier vorgelegten Untersuchungen viel Belegmaterial zusammengetragen und versucht, Zusammenhänge aufzuzeigen. Sie bieten damit aber auch Argumente zur Beantwortung der Frage, warum die Reformbewegung des 11. Jahrhunderts im Allgemeinen und Gregor VII. im Besonderen ein so ausgeprägtes Sendungsbewusstsein entwickelten und mit so großer Entschiedenheit ihre Neuerungen durchzusetzen versuchten: Sie hatten in der Bannideologie des Alten Testaments, ergänzt um Belege aus dem Neuen Testament, ein Legitimationskonzept gefunden, das ihre neuen Geltungsansprüche perfekt absicherte. Es bestand aus den Säulen Binde- und Lösegewalt, Gehorsamsforderung, Deklarierung von Ungehorsam als Häresie und der Legitimation gewaltsamen Vorgehens gegen Ungehorsame mithilfe der milites sancti Petri, weil Ungehorsame eben Häretiker waren. Für all diese Säulen hatte man in der Bibel wie bei den Kirchenvätern fundierende Geschichten gefunden, die sich zu einem stimmigen Konzept vereinigen ließen. Dieses Konzept aber hat die päpstliche Politik über einen längeren Zeitraum bestimmt und es war durchaus erfolgreich, wie wir an der Gehorsamsforderung bis ins 13. Jahrhundert verfolgen konnten, während der Einsatz von milites sancti Petri nur relativ kurz zu beobachten war. Man wird die Frage wohl nicht entscheiden können, ob nach dieser neuen Legitimation von Seiten des Papsttums konkret gesucht wurde oder ob erst die Lektüre der hier diskutierten Geschichten und ihre Exegese nach und nach das Potential erschlossen, das sie für aktuelle Problemlagen bereitstellten. Die Energie, mit der man das Konzept nutzte, zeugt jedenfalls von der absoluten Gewissheit der Gregorianer, im Einklang mit dem göttlichen Willen zu handeln. Daraus entsteht Sendungsbewusstsein und Unbeirrbarkeit. Der Chor derjenigen, die diese Theorie im 11. Jahrhundert verkündeten, wie derjenigen, die gegen sie opponierten, kann als vielstimmig und unüberhörbar bezeichnet werden. Er war für die explosionsartige Ver2 Diese Beschränkung auf Kreuzzüge und Ketzerbekämpfung bezeugt noch der auf der Höhe des gegenwärtigen Forschungsstandes geschriebene Überblick über die Geschichte des Christentums „zwischen Bibel und Schwert“ von Angenendt, Toleranz und Gewalt (2007).

1. Zum allgemeinen Horizont der hier diskutierten Problematik 217

mehrung von Schrift lichkeit ebenso mitverantwortlich wie für die Herstellung neuer Formen von „Öffentlichkeit“ und von „Propaganda“.3 Im Ergebnis wurde der Vorwurf der „Häresie des Ungehorsams“ wie der „Verachtung der Schlüsselgewalt“ zu einer scharfen Waffe des Papsttums in der politischen Auseinandersetzung. Dies dürften die Untersuchungen gleichfalls deutlich gemacht haben. In den Auseinandersetzungen um das dualistische oder hierokratische Verhältnis von geistlicher und weltlicher Macht, das in vielfacher Hinsicht die Forschung beschäftigt hat, war jedenfalls die Frage der Legitimität von Gewalt ein umkämpftes Thema. Sie richtete sich nicht nur gegen Ungläubige und Ketzer, sondern wurde auch gegen Christen angewandt, die gegenüber dem Apostolischen Stuhl Ungehorsam an den Tag legten. Hierzu gehörten die unkeuschen Priester ebenso wie die Simonisten, vor allem aber die als Schismatiker und Häretiker gebrandmarkten Anhänger Heinrichs IV. und des Gegenpapstes Wibert-Clemens. Zwar sind die militärischen Auseinandersetzungen der Gregorianer mit diesen Gruppen vielfach behandelt worden, die Legitimation der Gewalt aus den heiligen Schriften wurde indes nicht thematisiert. Erst sie liefert jedoch einen Schlüssel zum Verständnis der Vorgänge. Man kann nun über mögliche Gründe spekulieren, die den blinden Fleck im Urteil der bisherigen Forschung verursachten. Durch Jahrhunderte hat sich eine internationale Forschung so intensiv mit der Geschichte gerade des hochmittelalterlichen Papsttums beschäft igt, dass sowohl „Apologeten“ wie „Denunzianten“ des römischen Papsttums eigentlich auf die Legitimation der „revolutionär“ neuen Geltungsansprüche dieser Institution im 11. Jahrhundert hätten stoßen müssen.4 Offensichtlich standen der Erkenntnis jedoch Hindernisse im Weg, über die jetzt nicht spekuliert werden soll. Sie hängen vielleicht einfach damit zusammen, dass zum Verständnis der einschlägigen Argumentationen Kompetenzen sehr verschiedener Fächer zusammengeführt werden müssen, was nur durch Zusam3 Vgl. dazu bereits Erdmann, Anfänge der staatlichen Propaganda; Melve, Inventing the Public Sphere. 4 Ich rufe diese ungute Dichotomie (vgl. Einleitung, Anm. 61) hier noch einmal in Erinnerung, weil ich der Überzeugung bin, dass natürlich auch beim Papsttum eine kritische Distanz zum Gegenstand nötig und möglich ist, die sich nicht auf eine apologetische oder denunziatorische Grundhaltung reduzieren lässt.

218

X. Zusammenfassung

menarbeit möglich ist.5 Zudem war die Gewaltfrage nicht das einzige Problem, das in der Zeit der Kirchenreform intensiv diskutiert wurde. Wir haben uns in diesem Buch ganz auf sie beschränkt, während die mittelalterlichen Diskutanten sie mit anderen Fragen vermengten: Darf der Papst Könige exkommunizieren und sogar absetzen; darf man mit Exkommunizierten Gemeinschaft pflegen; kann der Papst eidliche Bindungen lösen; sind die Weihen von simonistischen und von unkeuschen Priestern sowie die von ihnen gespendeten Sakramente gültig? Damit sind nur einige von den Fragen benannt, die mindestens ebenso im Vordergrund der Diskussionen standen wie die Gewaltfrage. In dieser Gemengelage konnte deren Bedeutung leicht übersehen oder als allegorische Gewaltrhetorik unterschätzt werden. Es lohnt sich also wohl nicht, von dieser Forschungslücke größeres Aufheben zu machen. Mit diesem Buch ist sie auch keineswegs geschlossen, sondern eine bisher übersehene Perspektive eröffnet. Man kann auch darüber nachdenken, warum gerade jetzt die Legitimation von Gewalt durch die Kirche aufgefallen ist. Ein Zusammenhang mit dem religiös begründeten Terrorismus der Gegenwart, der eine Debatte über das Gewaltpotential monotheistischer Religionen befördert hat, liegt einigermaßen nahe.6 Auch auf die aus verschiedenen Gründen gestiegene Aufmerksamkeit für die katholische Kirche und das Papsttum ist zu verweisen, die Themen wie Unfehlbarkeit, Zölibat, römischen Zentralismus und Hierokratie wieder stärker zum Gegenstand öffentlicher Diskurse machte. Diese Phänomene werden von populärwissenschaft lichen und kirchennahen Autoren zum Teil noch heute als Errungenschaften dargestellt, die sich vor allem dem Wirken Papst Gregors VII. verdankten und ein Nachweis für dessen historische Größe seien.7 Gregor VII. steht bei 5 Es sei noch einmal dankbar darauf hingewiesen, wie sehr die hier vorgelegten Forschungen von der interdisziplinären Zusammenarbeit im Forschungsverbund „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ profitierten. Siehe dazu das Vorwort dieses Buches. 6 Vgl. Assmann, Mosaische Unterscheidung (2003); dazu die Beiträge in Walter (Hg.), Gewaltpotential des Monotheismus (2005); Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt (2006); Fürst (Hg.), Friede auf Erden? (2006); Flaig, ,Heiliger Krieg‘ (2007); Schreiner / Müller-Luckner (Hg.), Heilige Kriege (2008). 7 Ein Beispiel hierfür ist etwa die 2003 erschienene Biographie von Dag Tes-

1. Zum allgemeinen Horizont der hier diskutierten Problematik 219

ihnen als Symbol für die auf Petrus, den Felsen, gegründete Kirche, deren Lehre sich bis heute nicht grundlegend verändert habe. Solcher Einschätzung widersprechen die Ergebnisse unserer Untersuchungen allerdings deutlich. Die Akzente, die Gregor VII. und die Reformer setzten, waren neu und beinhalteten massive Veränderungen kirchlicher Theorie wie Praxis. Durchgesetzt und verstetigt haben sich einige dieser Akzente, darunter die Primats- und Gehorsamsforderung der Päpste. Die Gewalttheorie, die im Kern von Priestern befohlene, aber von Laien ausgeübte Gewalt im Interesse der Kirche legitimierte, setzte sich in der Praxis dagegen nicht durch, vor allem ließ sie sich nur schwer in der christlichen Kriegergesellschaft selbst anwenden. Sie wurde daher bald stillschweigend aufgegeben bzw. modifiziert. Selbst die Kämpfe gegen Heinrich IV. wurden ja als religiös motivierte Konflikte gegen Schismatiker und Häretiker erfolgreich adressiert, obgleich sie auch oder sogar vorrangig andere Ursachen hatten. Es waren schließlich nicht nur und nicht einmal in erster Linie Probleme mit der Kirche, die die Herrschaft Heinrichs IV. in die Krise stürzten.8 Gegen staufische Könige, denen keine geballte Opposition der weltlichen Führungsschicht entgegenstand, haben die Päpste christliche Krieger als milites sancti Petri nur noch sehr bedingt gewinnen können und das auch nicht öfter ernsthaft versucht. Eine als wesensmäßig zu deklarierende Affinität der christlichen Kirche zur Gewalt ist aus den hier vorgelegten Forschungen also nicht unbedingt abzuleiten. Man sollte aber die besondere Affinität der gregorianischen Epoche zur Gewalt im Dienste und Auftrag der Kirche auch nicht bagatellisieren. Der durch die Entdeckungen in den heiligen Schriften ausgelöste Eifer führte zu Zuspitzun-

sore, Gregorio VII., in der bes. S. 227 f. alle vom Autor positiv gewerteten Wesenszüge des heutigen Katholizismus (Zölibat, Unfehlbarheit, römischer Zentralismus) zu Errungenschaften erklärt werden, die Gregor VII. zu verdanken seien. Ich danke Herrn Dr. Frank Jodl (Siegen) sehr herzlich für den Hinweis auf dieses Buch. Bei dem Autor handelt es sich um einen italienischen Orientwissenschaft ler und Kirchenhistoriker, der neben einem Buch über den gegenwärtigen Papst ein weiteres unter dem Titel „Der Heilige Krieg in Christentum und Islam“ veröffentlicht hat (2004), das die „profunde Spiritualität“ religiös motivierter Glaubenskrieger und Terroristen der Geschichte wie der Gegenwart, muslimischer wie christlicher, positiv würdigt und gegen die Dekadenz westlich säkularisierter Werte in Stellung bringt. 8 Vgl. dazu Althoff, Heinrich IV., passim.

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X. Zusammenfassung

gen, denen weder die Kirche noch gar die Welt sich gänzlich verschreiben wollten. Sie ließen wohl auch zu extrem das Pendel in die hierokratische Richtung ausschlagen. Dennoch hinterließen sie deutliche Spuren in der römisch-katholischen Kirche bis heute. So weit die Bemerkungen zu einigen allgemeinen Fragen, die durch die hier vorgelegten Forschungen aufgeworfen werden.

2. Ergebnisse der Untersuchungen 2. Ergebnisse der Untersuchungen

Zusammenfassend hervorgehoben werden sollen zum Schluss einige Aspekte, die für ein vertieftes Verständnis der behandelten Phänomene selbst hilfreich sein können. Zunächst einmal ist erneut zu betonen, wie unvorbereitet die mittelalterliche Welt auf die gregorianischen Neuerungen – und hierbei insbesondere auf die päpstliche Gehorsamsforderung in Kirche und Welt – war. Man richtete sich bis dahin in allen Bereichen des Lebens nach den „Gewohnheiten“, verständigte sich auf allen Ebenen mittels mündlich-persönlicher Beratung auf diese Gewohnheiten.9 Gerade im Bereich der Führungsschichten stellte der Anspruch auf Beteiligung und Mitwirkung an der „Findung“ und Festlegung dieser Gewohnheiten vor der Mitte des 11. Jahrhunderts eine wesentliche Maxime dar. Das galt für Kirche und Welt, auch wenn in der Kirche der Rekurs auf Schrift lichkeit intensiver war als in den weltlichen Herrschaftsordnungen. Nicht die Entgegennahme von Befehlen und Gehorsam, sondern die Partizipation bei der Herstellung von Konsens durch Beratung prägte die Interaktionen von Königtum, Adel und Kirche im Hohen Mittelalter. Auch wenn solche Konsensherstellung wenig mit protodemokratischen Verfahren zu tun hatte, lebte sie von dem Gedanken der Verpflichtung durch freiwillige Zustimmung, ohne die Gebote es schwer hatten, ihre Geltungsansprüche durchzusetzen. Weder erteilten die Könige Adligen und Freien Befehle, die diese gehorsam befolgten, noch die Päpste den Bischöfen oder den Königen. Mit dem Reformpapsttum und seinen Neuerungen aber leiteten gebildete Kleriker aus den heiligen Texten des Christentums Vorrechte 9 Weiterführende Beobachtungen, Reflexionen und Problematisierungen zum zentralen Thema mittelalterlichen Verständnisses von „Gewohnheiten“ bietet Pilch, Rahmen der Rechtgewohnheiten.

2. Ergebnisse der Untersuchungen

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und Gebote ab, die bis dahin niemand den bestens bekannten Texten entnommen hatte. Diese Gebote verkündeten sie zudem mit dem Anspruch auf absoluten Gehorsam und unter Deklarierung von Ungehorsam als Häresie. Dieser neue Geltungsanspruch wurde aus den heiligen Texten selbst generiert und zielte vor allem auf Angehörige der weltlichen und geistlichen Führungsschicht, auf Könige, Herzöge und Bischöfe, die bisher ihr Rang vor kirchlicher Strafgewalt weitestgehend geschützt hatte. Zugleich machte man Ernst mit der Bestrafung für die Übertretung dieser neuen Gebote, und zwar unabhängig von Rang und Stand. Man überließ die Bestrafung nicht Christus beim Jüngsten Gericht, sondern schloss selbst Könige aus der Kirche aus. Dies alles geschah, indem sich die Päpste in neuer Weise als Träger jener Schlüsselgewalt verstanden, deren Entscheidungen auch im Himmel grundsätzlich bindend waren und deren Beachtung auf Erden daher rigoros eingefordert werden konnte. Zudem aber hatten sie an Beispielen des Alten Testaments entdeckt, dass Gott bedingungslosen Eifer für seine Sache forderte und reich belohnte. Diesen biblischen Eifer gegen Gottesfrevler nahm man zum Vorbild für das Verhalten gegen die vermeintlichen Gottesfrevler der eigenen Gegenwart und legitimierte damit den Einsatz von Gewalt im Auftrage und Dienste des Papsttums. Um solche Neuerungen im religiösen und politischen Alltag durchzusetzen, bedurfte es gewiss eines ausgeprägten Sendungsbewusstseins und einer großen Hartnäckigkeit, wie sie Gregor VII. ja auch von Freunden wie Feinden attestiert wird. Man musste mit Widerständen rechnen und mit ihnen fertigwerden. In der Forschung wurde schon verschiedentlich gefragt, wodurch dieses Sendungsbewusstsein der Reformer und die ausgeprägte Heilsgewissheit Gregors VII. begründet gewesen seien.10 Nach unseren Untersuchungen bietet sich die Antwort an, dass das Bewusstsein, im Einklang mit Gottes Willen zu handeln, durch die Ergebnisse der gregorianischen Bibelexegese eine feste Stütze bekam. Man hatte im Alten Testament eine Fülle von Belegen gefunden, die sich auf die eigene Situation beziehen ließen und aus denen man ein Konzept für päpstliche Rechte und Aufgaben in der Gegenwart ableiten konnte. Die wichtigsten dieser Belege bezeugten eine aktive Rolle der Priester bei der Ausübung gottgewollter 10 Vgl. etwa Tellenbach, „Gregorianische Reform“, S. 108 ff.; Schieffer, Gregor VII., S. 33 ff.; ders., Gregor VII. Ein Versuch über die historische Größe, S. 99.

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X. Zusammenfassung

Gewalt gegen Frevler und Gottes Einverständnis mit dieser aktiven Rolle. Zwar nahm man nicht wie der Prophet Samuel selbst das Schwert in die Hand, aber man beauftragte die fideles und milites sancti Petri mit dieser Ausübung und versicherte ihnen, dass sie damit eine gottgewollte Aufgabe erfüllten. Geradezu folgerichtig hat man aus den Gewaltgeschichten der heiligen Texte die Gewissheit gezogen, dass im Einsatz für die gerechte Sache gewaltsameMittel erlaubt seien. Schließlich beauftragte ja Gott selbst in den neu genutzten biblischen Geschichten seine Auserwählten mit der unnachsichtigen Vernichtung seiner Gegner. Je stärker der Zorn Gottes erregt war, desto mehr Eifer (zelus) erwartete er von seinen Getreuen zur Besänftigung dieses Zorns. Und dieser Eifer erstreckte sich in erster Linie auf die vollständige physische Vernichtung der Gottesfrevler durch Gewalt. Diese Botschaft alttestamentlicher Geschichten nahm man sich in der Kirchenreform zum Vorbild. Verschiedene Autoren formulierten diese Konsequenz der gregorianischen Theorie explizit: Wenn es jemals für die Kirche erlaubt war, Gewalt anzuwenden, dann jetzt gegen die Anhänger König Heinrichs IV. Und sie deklarierten den Einsatz von Gewalt im Interesse der Kirche als ein verdienstvolles, gottgefälliges Werk, für das geistliche Belohnungen im Jenseits zu erwarten seien.11 Die Kreuzzugsbewegung übernahm diese Argumentation wie auch die Technik ihrer Fundierung mittels zentraler biblischer Belege, in diesem Fall mit dem Psalm 79. Wir haben nicht mehr untersucht, inwieweit die Intensivierung der Ketzerbekämpfung seit dem endenden 12. Jahrhundert noch der gleichen legitimierenden Technik verpflichtet ist. Es spricht aber viel dafür, auch wenn die legitimatorischen Grundlagen zur Anwendung von Gewalt nun nicht mehr biblische Geschichten, sondern Dekrete der Päpste lieferten. Man kann den Grundlagen dieser neuen Gewalttheorie gedankliche Konsequenz und eine stringente Beweisführung nicht absprechen, wenn man das Axiom akzeptiert, dass aus einzelnen Geschichten der Bibel und aus dicta der Traditionsquellen des Christentums Normen und Handlungsanweisungen für christliches Verhalten generiert werden können. Dies war die von allen Akteuren in den religiösen und politischen Feldern der hier in Frage stehenden Zeit geteilte Überzeugung. Die von den gregorianischen Autoren vorrangig genutzten Belege akzentuierten dabei nicht zufällig die Rolle von Priestern, die im Auft rag und mit der Billigung Gottes selbst Ge11 Vgl. oben Kap. IV., S. 81, 91, 95.

2. Ergebnisse der Untersuchungen

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walt angeordnet oder sogar ausgeübt hatten – und sich so besonders als Vorbild für die Priester der Gegenwart eigneten. Sendungsbewusstsein und Heilsgewissheit der Gregorianer ergaben sich also wohl nicht zuletzt aus den Argumenten, die man aus den heiligen Texten und der Tradition für die Legitimation der eigenen Positionen gewinnen konnte. Erinnert sei noch einmal an drei Belege, die wesentliche Stützen der Gewalttheorie sind: Die Geschichte der Verwerfung König Sauls durch den Propheten Samuel (1 Samuel 15,22 ff.) begründete nicht nur die Verpflichtung zu unbedingtem Gehorsam gegenüber den Befehlen Gottes, auch wenn es Vernichtungsbefehle waren. Sie zeigte zudem, dass Gott sich der Priester bediente, um den Königen Anweisungen zu geben, denen diese zu gehorchen hatten, wenn sie sich nicht des Verbrechens der Idolatrie schuldig machen wollten. Und sie führte schließlich vor Augen, dass Priester selbst zum Schwert griffen und die Feinde Gottes vernichteten, um den Befehlen des Herrn Nachdruck zu verleihen. Dieses schärfste Argument zur Legitimierung kirchlicher Gewalt ist aber nur sehr verdeckt genutzt worden. Gregor VII. zitierte nur den ersten Teil dieser Geschichte, und zwar zum ersten Mal im Januar des Jahres 1075, als er in seinem Kampf gegen die simonistische Häresie und die Unzucht der Kleriker weder vom König noch von den Bischöfen des Reiches die nötige Unterstützung bekam; danach spielte er in dichter Folge mehr als zwanzig Mal mehr oder weniger ausführlich darauf an. Dies spricht sehr dafür, dass er von der Überzeugungskraft der Geschichte durchdrungen war – wie auch viele seiner Anhänger, die sie gleichfalls nutzten. Trotz allen Abstands ist es auch heute noch nachvollziehbar, dass er gerade dieser Geschichte in der Krise seines Pontifi kats, wie sie durch das Verhalten Heinrichs IV. im Jahre 1075 heraufbeschworen worden war, Handlungsanweisungen für sein Verhalten gegenüber den zeitgenössischen Feinden Gottes entnahm und sie neben Matthäus 16,18 ff. über die Binde- und Lösegewalt der Päpste zur Grundlage seiner hierokratischen Vorstellungen und Argumentationen machte. Es scheint hier angebracht, nachdrücklich daran zu erinnern, dass Gregor selbst die Gewalttat des Propheten Samuel gegen den König Agag nicht zitierte. Ist er hier bewusst vor dem letzten Schritt der Ausdeutung dieser Geschichte zurückgeschreckt? Vergleichbares gilt für die Geschichte des Israeliten Pinhas (Numeri  25), der sich so für Gott und gegen seinen mit einer Medianiterin Unzucht treibenden Landsmann ereiferte, dass er die beiden während

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X. Zusammenfassung

ihres Beischlafs tötete. Dafür belohnte Gott ihn und seine Nachkommen mit dem Priesteramt. Auch hier kann man nachvollziehen, welchen Wert die Geschichte gerade für Personen gehabt haben wird, die sich im Kampf gegen klerikale Unzucht ereiferten. Auch diese Geschichte hat Gregor selbst aber nicht benutzt. Gleiches gilt für die Leviten, die aufgrund der von Moses übermittelten Aufträge Gottes ihre Verwandten erschlugen (Exodus 32,26 ff.), weil diese um das goldene Kalb getanzt hatten. Manegold und andere nahmen sie als Beispiel dafür, dass man auch heute die Feinde des Papsttums und der Kirche töten dürfe und gerade dadurch ein „Diener Gottes“ sei.12 Gregor selbst hat diese Geschichte in seinen Briefen ebenfalls nicht genutzt. Die grundsätzliche Logik all dieser Beweisführung war nicht neu, sondern an anderen Beispielen der Bibel schon vielfach praktiziert worden: Die biblischen Akteure boten mit ihrem Handeln auf vielen Gebieten Vorbilder oder auch abschreckende Beispiele, die von den Klerikern den Laien schon immer nahegebracht worden waren. Nun aber entdeckte man die Gewaltanwendung für die Sache Gottes und forderte auch hier zur Nachahmung auf. Dieses Potential der biblischen Geschichten haben die Gregorianer in neuer Weise aktiviert und gegen „die Bösen“ gerichtet. Sie waren nicht mehr bereit, wie vor ihnen viele Generationen, die Urteile über menschliche Sünden Gottes Richtspruch zu überlassen. Und sie fanden bei diesem Vorstoß in den Texten der späten Kirchenväter einschlägige Belege für die Legitimation von Gewalt gegen Häretiker, mit denen sie gleichfalls argumentierten. Nicht nur aus moderner Sicht wird man allerdings die Einseitigkeit der Auswahl von Bibelstellen monieren, die blind zu sein scheint für Wesenszüge der christlichen Religion, die andere Zeitgenossen gegen die gregorianische Gewalttheorie in Stellung brachten. Die Gebote der Nächsten- und Feindesliebe, die Anweisungen Christi, auf Gewalt zu verzichten, waren in dieser Zeit ja keineswegs von allen vergessen worden. In Kapitel 5 sind die Friedens- und Liebesgebote der Bibel vorgestellt worden, mit denen bereits Zeitgenossen den Gregorianern das Verwerfliche, ja Verbrecherische ihres Tuns vorhielten und Gregor darauf hinwiesen, dass er im Jüngsten Gericht Rechenschaft über die in seinem Auft rag Erschlagenen ablegen müsse.13 Durchschlagende Wirkung scheinen die Autoren 12 Vgl. oben Kap. IV., S. 95 f. 13 Vgl. dazu Kap. V., S. 102.

2. Ergebnisse der Untersuchungen

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mit diesen Argumenten aber nicht erzielt zu haben, zumindest nicht bei der päpstlichen Partei. Interessanterweise ist keine Äußerung von gregorianischer Seite bekannt, mit der die Verpflichtung zu Gewaltlosigkeit, Nächsten- und Feindesliebe grundsätzlich abgelehnt und zurückgewiesen worden wäre. Man übertönte die Gegner vielmehr mit den Hinweisen, dass es Gott wohlgefällig, ja Gottesdienst sei, die Feinde Gottes zu bekämpfen. Als die Diskussion mit dem Decretum Gratiani dann eine stärkere juristische Note bekam, begann die Unterscheidung ihren Siegeszug, die den Weg für die Anwendung von Gewalt in genau bestimmten Fällen freimachte. Gerade auf dem Gebiet des Umgangs mit Ketzern scheinen die gregorianischen Anstöße ihre nachhaltigste Wirksamkeit entfaltet zu haben. Die Gleichsetzung von Ungehorsam mit Häresie, wie es 1 Samuel 15,22 ff. vorgab, eröffnete die Möglichkeit der Anwendung von Gewalt gegen Ungehorsame, weil diese mit Ketzern gleichgesetzt werden konnten.14 Nur ansatzweise konnte in dieser Untersuchung noch verfolgt werden, wie es um die Nachhaltigkeit der gregorianischen Anstöße bestellt war. Die Beobachtung, dass sie in komprimierter Form Eingang vor allem in die causa 23 des Decretum Gratiani fanden, warnt davor, diese Einflüsse gering zu schätzen.15 Die Stichproben zur Geschichte der Gehorsamsforderung in den Papst-Kaiser-Beziehungen des 12. und 13. Jahrhunderts belegten gleichfalls klar, dass die hierokratischen Tendenzen der Gregorianer auch bei den großen Juristenpäpsten des 13. Jahrhunderts wie Innozenz III., Gregor IX. und Innozenz IV. durchaus weiter wirkmächtig blieben und deren Politik gerade in den Konflikten mit den Kaisern bestimmten.16 Das hat die bisherige Forschung auch bereits deutlich betont. Im die Exkommunikation begründenden Vorwurf des contemptus clavium, der Verachtung der päpstlichen Schlüsselgewalt, konkretisierte und verstetigte sich die juristische Summe der gewaltigen theologischen Anstrengungen der Gregorianer, die aus vielen heiligen Texten die hierokratische Stellung des päpstlichen Amtes herausgearbeitet, gleichermaßen aber Wege gewiesen hatten, diese Suprematie auch mit Gewalt zu etablieren und zu behaupten. Im Zuge dieser Entwicklung, die als Verrechtlichung 14 Vgl. dazu Lambert, Ketzerei im Mittelalter, bes. S. 72 ff.; Auffarth, Die Ketzer, bes. S. 19 ff. 15 Vgl. oben Kap. VII. 16 Vgl. oben Kap. IX.

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X. Zusammenfassung

gewiss richtig beschrieben ist, verlor die hierokratische Bewegung jedoch ihre umstürzlerische Kraft, was sich vorrangig daran zeigt, dass keine milites sancti Petri mehr gegen die exkommunizierten Könige oder Bischöfe aufgeboten wurden. Gewaltausübung gegen Feinde der Kirche, wenn man von Kreuzzugsunternehmen einmal absieht, trat im Vergleich zu den Verhältnissen der Zeit Gregors VII. sehr deutlich zurück. Dieser Befund lenkt den Blick noch einmal zurück auf den Anfang: Die Gregorianer wurden in einer historischen Situation aktiv, in der die Kirche dem Einfluss der Laien in hohem Maße ausgeliefert war. Man ist leicht geneigt, viel dieser neu entwickelten Energie der kirchlichen Protagonisten auf die traumatische Erfahrung der Synode von Sutri 1046 zurückzuführen. Der rigorose Eingriff Heinrichs III. in den Streit um den päpstlichen Stuhl hatte offensichtlich eine große Entschlossenheit der Reformer zum Ergebnis, einen Zustand zu beenden, der die gesamte Kirche zu einem Herrschaftsinstrument der Kaiser und Könige zu machen drohte. Wie traumatisch Sutri auch immer gewesen sein mag: Die historische Leistung des Reformklerus, dessen Wirken vom salischen Kaiser Heinrich III. nach Sutri ermöglicht und gefördert worden war, bestand jedenfalls nicht zuletzt darin, den Einfluss der Laien und auch der Kaiser in der Kirche zurückgedrängt zu haben.17 Die zumindest von einigen damit angestrebte „Entweltlichung“ der Kirche – ein heute wieder aktueller Begriff – gelang aber nicht bzw. nur sehr unzureichend. Und man kann auch Zweifel haben, wie ernsthaft sie angestrebt wurde. Am konkretesten fassbar werden Versuche einer grundsätzlichen Abkehr der Kirche von der Welt wohl in dem beabsichtigten Vertrag Papst Paschalis’ II. mit Heinrich V. im Jahre 1111, als der Papst entschlossen war, dem König alle an die Kirchen gemachten Schenkungen und Privilegierungen seiner Vorgänger zurückzuerstatten, wenn dieser im Gegenzug auf eine Einmischung in kirchliche Angelegenheiten, vorrangig auf die Besetzung der Bistümer, verzichten würde. Hier erreichte die Bereitschaft der Kirche zur „Entweltlichung“ sicher ihr größtes Ausmaß. Doch schon die Vertragsverlesung ging im allgemeinen Protest und Tumult unter, und es waren nicht nur Laien, die protestierten. Von Gregor VII. ist solche Bereitschaft zur „Entweltlichung“ nicht überliefert. Er scheint eher besessen von dem Gedanken gewesen zu sein, seiner Amtsautorität die Welt und die Könige unterzuordnen und eine 17 Vgl. dazu Schieffer, Gregor VII., S. 101.

2. Ergebnisse der Untersuchungen

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Hierokratie zu errichten, die alle auf den Gehorsam gegenüber dem Stellvertreter Christi verpflichtete. Erst die späteren Juristenpäpste differenzierten diese Herrschaft als nur de jure, nicht de facto.18 Mit dieser Unterscheidung beanspruchten sie eine prinzipielle Suprematie, nicht die tatsächliche und täglich wirksame Herrschaftsgewalt. Sie konkretisierten dies bezeichnenderweise dahingehend, dass sie in allen den Päpsten wichtigen Fragen ein Eingreif-, ein Approbations- oder Prüfungsrecht reklamierten, das die Päpste zur letztlich entscheidenden Institution gemacht hätte, ohne dass diese sich um die Tagesgeschäfte hätten kümmern müssen. Auch das blieb freilich weitgehend Theorie. Gregor VII. aber verwiesen seine hierokratischen Ziele und Absichten nachdrücklich auf die Notwendigkeit, die neuen Normen und Prinzipien auch durchsetzen zu müssen. Heinrich IV. erwies sich als ein hartnäckiger, seine legalen wie illegalen weltlichen Möglichkeiten voll ausreizender Gegenspieler, der sich von Mahnbriefen allein nicht wirklich beeindrucken ließ. So war es wohl neben seinem radikalen Sendungsbewusstsein, das durch die Lektüre des Alten Testaments gestärkt wurde, die Eigendynamik der politischen Konflikte, die Gregor auf den Weg der Legitimation von Gewalt für seine als gerecht erachtete Sache führte und damit zur Hintanstellung, besser Verleugnung zentraler Botschaften des Christentums. Hier ist noch einmal der denkbare Einwand zu thematisieren, es handele sich doch „nur“ um Gewaltrhetorik, die in den Gregor zugeschriebenen Texten greifbar sei. Die Aussagen der Gregor-Texte seien zumeist allegorisch zu verstehen und hätten nicht real ausgeübte physische Gewalt zum Ziel. Dieser Einwand ist zwar schwer zu entkräften, aber er ist es. Deshalb wurde in Kapitel 8 eigens der Versuch unternommen, unter verschiedenen Aspekten zu verdeutlichen, wie nahe in der fraglichen Zeit Gewaltrhetorik und physische Gewaltanwendung beieinanderliegen. Die dort diskutierten, aber auch viele andere Beispiele lassen nur den Schluss zu, dass die jeweils verwendete Gewaltrhetorik zumindest auf die Motivierung zu Gewalt und die Legitimierung realer Gewalt zielte, dass ferner viele Berichte der Zeit Fälle realer Gewaltanwendung thematisieren und rechtfertigen und dass Kontroversen über die Legitimität realer Gewalt im Dienste der Kirche wirklich geführt wurden. Dies alles spricht nicht dafür, dass wir Nachrichten falsch verstanden hätten, die lediglich allegorisch gemeint gewesen seien. 18 Vgl. dazu oben Kap. IX., S. 212.

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X. Zusammenfassung

Man kann heute kaum noch darüber streiten, ob die Mittel, die Papst Gregor VII. einsetzte, durch den Zweck geheiligt wurden: So argumentierten viele Gregorianer. Mehrheitsfähig ist heute sicher die Meinung, dass selbst die gerechte Sache durch solche Mittel unheilbar geschädigt wird, was schon die zeitgenössischen Gegner unterstrichen. Gerade letztere Argumentation findet in den heiligen Texten des Christentums eine starke Stütze, doch Gregorianer scheinen von solchen Argumenten unbeeindruckt geblieben zu sein. Was aber hat Gregor VII. bewogen, mit solcher Unbedingheit ein Projekt zu verfolgen, das Theorie und Praxis der christlichen Kirche entscheidend veränderte? Mehr als Annäherungen an die Motive und Antriebskräfte der Hauptakteure scheinen kaum möglich. Der Versuch einer Erklärung führt wohl vor allem zu einem Amtsverständnis Gregors, das die sogenannte päpstliche Schlüsselgewalt wirklich ernst nahm: Alle päpstlichen Entscheidungen wurden nach dem reformerischen Verständnis von Matthäus 16,18 ff. auch im Himmel verbindlich. Diese Gewissheit setzte zugleich voraus, dass Gott keine Fehlurteile oder -entscheidungen päpstlicher Amtsträger zustande kommen ließ. Nur in diesem Bewusstsein der Unfehlbarkeit, wie sie auch in Satz 22 des Dictatus papae zum Ausdruck kommt, konnte man darangehen, die neu entdeckte Wahrheit der heiligen Texte in Gebote und Verbote zu gießen und diese auch konsequent durchzusetzen. Trotz einiger Ungereimtheiten kann man wohl die Politik Gregors VII. und auch seiner Nachfolger nicht verstehen, wenn man nicht in Rechnung stellt, dass diese von ihrer direkten Verbindung zum Himmel zutiefst überzeugt waren. Gregor VII. brachte diese Überzeugung bei der zweiten Bannung Heinrichs IV. in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, als er die Apostelfürsten Petrus und Paulus öffentlich in einer Predigt aufforderte, König Heinrich IV. sofort zu stürzen und zuschanden werden zu lassen. Und dabei auch noch einen knappen Termin setzte, bis zu dem das geschehen solle, ansonsten brauche ihm niemand mehr zu glauben.19 So handelt nur jemand, der die Worte Christi von der Binde- und Lösegewalt wörtlich nimmt und zutiefst von ihrer Wahrheit überzeugt ist. Die vielen anderen biblischen Geschichten und ihre Verwendung für eine neue Gewalttheorie der Kirche bildeten nur weitere Bausteine auf diesem Fundament, durch das die Päpste zwar nicht die Weltherrschaft errangen, aber doch einer Epoche ihren Stempel aufdrückten. 19 Vgl. dazu Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs IV., Bd. 3, S. 257 f.

2. Ergebnisse der Untersuchungen

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Dieser neuartige Umgang mit den heiligen Texten und der Tradition im Hochmittelalter hat der römischen Kirche aber auch Folgen beschert, die bis heute nachwirken: Zu nennen ist die Zölibatsfrage ebenso wie die Unfehlbarkeit des Papstes und der römische Zentralismus. Diese Errungenschaften der Reformzeit verdankten sich, wie gezeigt, dem Sendungsbewusstsein einer Institution, die sich durch Christus im Besitz der Schlüsselgewalt und der Wahrheit wusste und deshalb auch nicht irren konnte, weil sie göttlicher Hilfe und Inspiration überaus gewiss war. Ein solches Bewusstsein aber lässt für Korrekturen und Änderungen getroffener Entscheidungen wenig bis gar keinen Raum. Dennoch ist man in der katholischen Kirche seit langem in der Gewaltfrage erheblich von den gregorianischen Vorbildern abgewichen. Päpsten wird zwar noch das Schweigen zur Gewalt vorgeworfen – im 20. Jahrhundert vornehmlich im Falle von rechten Diktaturen. Gewaltakteure mithilfe einer militia sancti Petri waren sie selbst bald nach Gregor aber nur noch sehr bedingt. Dieser Wandel ist jedoch – was wichtig und auch symptomatisch ist – weitgehend stillschweigend geschehen. Es hat zu keiner Zeit eine ausdrückliche Abkehr und Distanzierung von den gregorianischen Positionen gegeben. Vielmehr hat die römische Kirche ihr Verhältnis zur Gewalt, das alles andere als konstant war, später nur sehr unzureichend aufgearbeitet. Da auch die historische Forschung dies nicht leistete, ist der eigenartige Befund entstanden, dass für die Zeit der „päpstlichen Weltherrschaft“ vom 11. bis 13. Jahrhundert ein blinder Fleck blieb. Man unterschätzte oder übersah die Intensität der Hinwendung der Kirche dieser Zeit zur Gewalt und ihre gravierenden Folgen, weil man ein Verständnis weder für ihre theoretische Begründung mithilfe des Alten Testaments noch für den Zusammenhang der Theorie mit der praktischen Politik entwickelte. So ist es wohl auch erklärlich, dass das Papsttum und die römisch-katholische Kirche sich im I. Vatikanischen Konzil (1870/71) explizit und implizit wesentliche Geltungsansprüche des hochmittelalterlichen Papsttums zu eigen machten und mit der Unfehlbarkeit der Päpste, ihrem Jurisdiktionsprimat und mit rigorosen Gehorsamsforderungen gegenüber allen Gläubigen sozusagen eine Renaissance der gregorianischen Ideen ins Werk setzten, deren Nachwirken bis heute andauert.20

20 Vgl. Pottmeyer, Unfehlbarkeit und Souveränität, S. 360 f.

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Register

Abk.: atl. = alttestamentlich; Bf. = Bischof; Ebf. = Erzbischof; Gem. = Gemahlin; Gf. = Graf; Hl. = Heiliger; Hzg. = Herzog; Kg. / Kgn. = König / Königin; Ks. / Ksn. = Kaiser / Kaiserin; Mgf. / Mgfn. = Markgraf / Markgräfin; P. = Papst; S. = Sohn.

Personen und Orte Aaron, atl. Bruder des Mose: 70 f. Abjatar, atl. Priester: 107, 109 f. Abigail, atl. Frau Davids: 65 Abischag, atl. Dienerin Kg. Davids: 110 Adalbert I., Ebf. von Mainz († 1137): 195 Adalrot, Heide im Rolandslied: 141 Adelheid, Mgfn. von Turin, Schwiegerm. Ks. Heinrichs IV. († 1091): 61, 64 f., 168 Adelheid, Ksn., Gem. Ks. Heinrichs IV. († 1109): 182 Adolf I. von Altena, Ebf. von Köln († 1220): 206 Arnold von Brescia, Kanoniker († 1154): 198 Adonija, atl. Sohn Kg. Davids: 107, 109 f. Agag, atl. Kg. von Amalek: 47, 50, 63, 66, 70, 89 f., 156, 158, 223 Ahab, atl. Kg. von Israel: 60, 66, 117 Alarich I., Kg. der Westgoten († 410): 186 Alexander II., P. († 1073): 64, 80, 171 Alexander III., P. († 1181): 29, 199–201 Ambrosius, Kirchenvater, Bf. von Mailand († 397): 79, 117, 156 Amos, atl. Prophet: 69 Amazja, atl. Priester von Bethel: 69

Register Personen und Orte

Anselm II., Bf. von Lucca († 1086): 76, 85–92, 111, 149, 152, 161–163 Antiochia: 130 Antiochus IV., Kg. des Seleukidenreiches: 159 Arnulf, Bf. von Lisieux († 1182): 199 Asarja, atl. Priester: 69 f. Augustinus, Kirchenvater, Bf. von Hippo († 430): 11, 67, 79, 82, 84, 88 f., 93 f., 97, 113, 151 f., 154–157, 160, 165, 186 Baal Pegor, moabitische Gottheit: 59, 66 Balderich von Bourgueil, Ebf. von Dol († 1130): 129 f., 132 f., 136 Barak, atl. Heerführer Israels: 64 Benedikt von Nursia, Ordensgründer († 547): 29 Ben-Hadad II., atl. Kg. von Aram: 60, 66 Bernhard, Abt von Clairveaux († 1153): 123, 141 Bernold von Konstanz, Geschichtsschreiber († 1100): 179 f. Berthold von der Reichenau, Geschichtsschreiber († 1088): 174 f. Berthold I., Hzg. von Kärnten († 1078): 51

248

Register

Betsabe, atl. Mutter Kg. Salomos: 110 Bileam, atl. Wahrsager: 66 Bonifatius, princeps: 79, 83 Bonifaz VIII., P. († 1303): 213 Bonizo, Bf. von Sutri, Geschichtsschreiber: 11–14, 76–80, 82–85, 89 f., 116, 161 f., 165, 215 Bruno von Merseburg, Geschichtsschreiber: 173 f. Byzanz: 119 Canossa: 26, 48, 113 Calixt II., P.(† 1124): 194 Cambrai: 185 Christus, Jesus Christus: 14, 17, 30, 40, 42–45, 68, 89, 95, 102, 114, 152–154, 156, 176, 207, 221, 224, 228 f. Christophorus, Abt in Cremona: 80 Clermont-Ferrand: 122, 129 f., 140, 146, 178 Constantius II., röm. Ks. († 361): 78 Cremona: 80 Cyprian, Kirchenvater, Bf. von Karthago († 258): 88, 113, 163 Dagobert, Ebf. von Pisa († 1107): 137– 140 David, atl. Kg. von Juda und Israel: 63, 89, 134, 185 Debora, atl. Prophetin und Richterin: 64 Eberhard, Ebf. von Salzburg († 1164): 199 f. Ekkehard von Aura, Geschichtsschreiber († 1126): 192 f. Elia, atl. Prophet: 63, 96, 117 Eli, atl. Priester: 59 f. Embriko, Bf. von Augsburg (†1077): 175 Erlembald, Führer der Mailänder Pataria († 1075): 64, 171 Ermogines, Präfekt: 79 Esther, atl. pers. Kgn.: 65 Eugen III., P., († 1153): 197–199

Friedrich I. Barbarossa, Ks. († 1190): 199–201 Friedrich II., Ks. († 1250): 26, 208–212 Fulcher von Chartres, Geschichtsschreiber († 1127): 130 Gebhard III., Bf. von Konstanz, päpstl. Legat († 1110): 193 Gebhard, Ebf. von Salzburg († 1088): 93, 104, 181 Gottfried III., Hzg. von Oberlothringen, Mgf. von Tuszien († 1069): 66 Gottfried von Bouillon, Hzg. von Niederlothringen, Kreuzfahrer († 1100): 137–140 Gratian, Kanonist: 18, 29, 85, 90, 148– 152, 160–163 Gregor I. der Große, P. († 604): 29, 49, 51, 84, 198 Gregor VII, P. († 1085): 11–15, 17 f., 20–30, 33, 39–46, 48–53, 55, 57, 63 f., 72, 75–78, 83, 85 f., 88, 92 f., 95, 98, 100–104, 106–109, 111–115, 117, 122, 147, 149, 152, 162, 166–168, 171 f., 175 f., 180, 183, 188–191, 193, 198, 200 f., 203, 205 f., 208, 210, 212 f., 215 f., 218 f., 221, 223 f., 226–228 Gregor IX., P. († 1241): 210 f., 225 Guibert von Nogent, Geschichtsschreiber († um 1125): 136 f. Guitmund, Bf. von Aversa († um 1095): 30 Hagar, atl. Nebenfrau Abrahams: 82 f., 85 Hartwig, Ebf. von Magdeburg († 1102): 179 f. Heinrich I., Kg. von England († 1135): 117 Heinrich III., Ks. († 1056): 16, 42, 80, 226 Heinrich IV., Ks. († 1106): 13, 17, 24, 44, 46, 48 f., 51, 65, 75, 84, 87, 92, 99–101, 107–109, 111, 113 f., 116, 147, 167, 172– 178, 181–184, 189, 191 f., 222, 227 f.

Personen und Orte Heinrich V., Ks. († 1125): 192–195, 226 Heinrich, Bf. von Speyer († 1075): 174 Herodes I., Kg. von Judäa, Galiläa und Samaria: 152, 176 Hermann, Bf. von Metz († 1090): 44, 48 f., 117 Hermann, Gf. von Salm, Gegenkg. († 1088): 193, 204 Herrand, Bf. von Halberstadt († 1102): 180–183 Hesekiel, atl. Prophet: 72, 86 Hieronymus, Kirchenvater († 420): 69, 79, 84, 156 Hiskija, atl. Kg. von Juda: 117 Hugo von Fleury, Geschichtsschreiber und Streitschriftautor: 116–118 Humbert da Silva Candida, Kardinal († 1063): 20, 67–72, 98, 167 Huzmann, Bf. von Speyer († 1090): 175 Innozenz I., P. († 417): 163 Innozenz II., P. († 1143): 196 f. Innozenz III., P. († 1218): 25, 29, 142 f., 168 f., 201–209, 212, 225 Innozenz IV., P. († 1254): 26, 210–212, 225 Isaak, atl. S. Abrahams: 82 f. Isidor, Bf. von Sevilla, Kirchenvater († 636): 152 Ismael, atl. S. Abrahams: 82 f. Iustina, röm. Ksn. († 388): 79, 117 Jabin, atl. Kg. von Kanaan: 177 f. Jaël, atl. Gem. des Heber: 65, 84 Jakobus, der Ältere, Apostel: 176 Jerusalem: 86, 121, 124–128, 130 f., 134 f., 137 f., 143–146, 153, 168 f., 178, 185 Jesaja, atl. Prophet: 62, 117, 159, 185 Jesus Christus (siehe Christus) Joab, atl. Feldherr Kg. Davids: 107, 109 f. Josua, atl. Anführer der Israeliten: 45 Judas Ischariot, Apostel: 114 Judit, atl. Gem. des Manasse: 65

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Konrad II., Ks. († 1039): 79 Konrad III., Ks. († 1152): 123, 197 f. Konrad der Pfaffe: 141 Konrad I., Ebf. von Salzburg († 1147): 195 Konstanze I., Kgn. von Sizilien, Gem. Ks. Heinrichs VI. († 1198): 209 Korach, atl. S. Jizhars: 70 f., 88, 157 f. Kunibert, Ebf. von Turin († 1082): 61, 63 Landulf, Bruder Erlembalds: 171 Leo IX., P. († 1054): 57 Lothar von Supplingenburg, Ks. († 1137): 195–197, 205 Ludolf, Ebf. von Magdeburg († 1205 / 6): 206 Ludwig, Gf. in Thüringen: 180 f., 183 Lüttich: 184, 196 Lyon, Konzil von 1245: 26, 210 Mailand: 167, 171 Mainz: 144 f., 196 Manegold von Lautenbach, Streitschriftautor († nach 1103): 76, 93– 97, 104–111, 162 f., 224 Mathilde, Mgfn. von Tuszien († 1115): 13, 65, 77, 84 Maurikios, röm. Ks. († 602): 198 Micha, atl. Prophet: 187 Michael der Syrer, syr. Patriarch, Chronist († 1199): 127 Mose, atl. Prophet und Anführer der Israeliten: 58–60, 66, 69–71, 81 f., 88 f., 91, 95 f., 117, 132, 155, 157 f., 168, 186, 224 Nebukadnezar II., Kg. von Babylon: 117, 159 Nero, röm. Ks. († 68): 176 Nikolaus II., P. († 1061): 20, 57 f., 60 Odo, Abt von Cluny, († 942): 61 Otto IV., Ks. († 1218): 201–209

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Register

Paschalis II., P. († 1118) 117, 139 f., 184, 186, 192–194, 226 Paulus, Hl., Apostel: 49, 103, 176, 228 Paulus I., Patriarch von Konstantinopel († um 350): 79 Pelagius I., P. († 561): 163 Petrus, Hl., Apostel: 13, 17, 22, 42–44, 49, 81, 87, 95, 102 f., 114, 176, 179, 191, 207, 211, 228 Petrus Crassus, Jurist und Streitschriftautor: 148 Petrus Damiani, Kardinalbf. von Ostia († 1072): 57–67, 98, 167 f. Philipp I., frz. Kg. († 1108): 172 Philipp von Schwaben, dt. Kg. († 1208): 201–208 Pinhas, atl. Priester, S. Eleasars: 58–60, 96, 155, 158, 186, 223 Pontius Pilatus, röm. Präfekt von Judäa: 176 Praxedis (siehe Adelheid, Ksn., Gem. Ks. Heinrichs IV.) Raimund IV. von Saint-Gilles, Hzg. von Toulouse († 1105): 137–140 Reims: 194 Robert Guiscard, Hzg. von Apulien († 1085): 172 Robert II., Gf. von Flandern († 1111): 184 f. Robert, Abt von St. Remi bei Reims, Geschichtsschreiber († 1122): 130, 132 Roland, Gf. der bretonischen Mark († 778): 141 Rudolf von Rheinfelden, Hzg. von Schwaben, dt. Gegenkg. († 1080): 48 f., 51, 175–177, 193 Salomo, atl. König von Israel: 107, 109 f. Samuel, atl. Prophet: 46–50, 52, 63, 66, 70, 90, 97, 158, 222 f. Sanherib, Kg. von Assur: 117 Sancho Ramirez, Kg. von Aragon und Navarra († 1094): 190

Sarah, atl. Gem. Abrahams: 82 f., 85, 87 f. Saul, atl. Kg. von Israel: 46 f., 50, 52, 60, 63, 66, 70, 89, 97, 117, 156, 223 Sigebert von Gembloux, Geschichtsschreiber († 1112): 184–187 Sigehard, Patriarch von Aquileja († 1077): 175 Simri, atl. Simeoniter: 96 Simson, atl. Richter: 65 Sisera, atl. Feldherr Kg. Jabins: 64 f., 84 f., 177 f. Suger, Abt von Saint-Denis († 1151): 194, 196 Sutri, Synode von: 16, 42, 226 Theodosius I., röm. Ks. († 395): 79 Urban II., P. († 1099): 25, 33, 64, 121– 123, 129, 131–137, 139 f., 143–146, 159, 171, 178, 190 Usija, atl. Kg. von Juda: 69 f. Utrecht: 176 Valentinian I., röm. Ks. († 375): 79 Valentinian II., röm. Ks. († 392): 79 Venedig: 26, 200 Walram, Bf. von Naumburg († 1111): 180–182 Welf IV., Hzg. von Bayern († 1101): 48, 175, 179 Wenrich von Trier, Bf. von Piacenza († um 1095): 93 f., 102–104, 106–109, 111 f., 183 Werner, Ebf. von Magdeburg († 1078): 45 Wibald, Abt von Stablo und Corvey († 1158): 198 Wibert, Ebf. von Ravenna, Gegenp. Clemens III. († 1100): 48, 77, 85–88, 111 f., 172 Wido, Bf. von Ferrara († nach 1099): 85, 111

Sachen Wilhelm, Bf. von Utrecht († 1076): 173 f. Wilhelm I. der Eroberer, engl. Kg. († 1087): 205 Wilhelm, Ebf. von Tyrus, Geschichtsschreiber († 1186): 124, 126, 134– 136, 141

251

Wolfger von Erla, Patriarch von Aquileja († 1218): 207 Würzburg: 178 Zacharias, atl. Prophet: 69 Zadok, atl. Priester: 107

Sachen Amt (officium): 106 auctoritas pontificalis: 169, 186

Exkommunikation / Exkommunizierte: 51, 94, 159, 205

Bannideologie: 52 f., 73, 98, 123, 136, 168, 189, 216 Barmherzigkeit, gerechte und ungerechte: 156 Beratung: 40 Besudelung, heidnische: 128, 133, 141, 146 Binde- und Lösegewalt, päpstliche: 12, 22, 32, 42 f., 45 f., 206, 211, 216, 221, 223, 228

favor apostolicus: 205, 208 fideles sancti Petri: 178 f. Friedens- und Feindesliebe: 11, 105, 155 Friedenspflicht, der Christen: 118

Sachen

Circumcellionen, Ketzersekte: 79 colloquium: 49, 57, 181 Concordia discordantium canonum (Gratian): 148 Decretum Gratiani: 17, 34, 149, 162, 225 Dictatus Papae: 14, 30, 46, 228 dignitas, priesterliche: 117 Donatisten: 79, 94 Egerer Goldbulle: 209 Eifer für Gott (zelus Dei): 52, 59, 79– 81, 135, 154, 157–159, 186, 221 f. Einheit, der Kirche: 112 f. Eintracht (concordia): 101, 115, 166, 181 Ehrerbietung (reverentia): 201–204, 207, 209 Enthaltsamkeit, der Kleriker: 56 Ergebenheit (devotio): 203, 207

Gehorsam: 23, 28–30, 34, 39, 41 f., 45–49, 53, 95, 102, 112 f., 118, 167, 171, 191–198, 200 f., 204–210, 216, 221, 223, 227, 229 Gerechter Krieg: 151 f. Gewaltlosigkeit: 151, 154 Gewaltrhetorik: 17, 34, 51, 55, 72, 82, 90, 167 f., 170, 173, 183, 187, 227 Gewalttheorie, der Kirche: 13, 18, 35 f., 145, 156, 215, 219, 222–224, 229 Gewohnheiten (consuetudines): 14, 40, 42 f., 147, 160, 220 ,Gregorianer‘: 25, 27, 35, 99, 107, 112, 115 f., 118 f., 166, 172 f., 175 f., 178– 181, 183 f., 187, 191, 216 f., 223, 226 Gottesfrevel / -frevler: 57, 60 f., 68, 72, 166, 221 f. Gottesurteil: 175 Götzendienst: 30, 41, 47 f., 52 Häresie / Häretiker: 22, 28 f., 41, 45–47, 52 f., 56, 65, 67, 72, 79, 81–84, 90 f., 98, 116, 119, 150 f., 156, 160, 165, 167,

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Register

182 f., 189, 199, 208, 211, 216 f., 219, 223 f. Häresie des Ungehorsams: 34, 189, 191 f., 194 f., 208, 212 f., 216 f., 221, 225 Heiden: 83, 97, 119, 132, 143 Heiliger Krieg: 187 ,Heinricianer‘: 35, 42, 93 f., 97–100, 107, 118 f., 165, 173, 176, 178–181, 198 Hierokratie / hierokratisch: 21 f., 218, 225–227 Idolatrie: 29 f., 47, 49, 53, 90, 95 Juden: 144 f. Jurisdiktionsprimat des Papstes: 32, 229 Kanonessammlung: 149 Kirchenrecht: 148 Konkubinen, der Priester: 61 Konzil, I. Vatikanisches: 229 Kreuzzug / -sbewegung / -sgedanke: 16, 28 f., 33, 121, 145 f., 215, 222 Kreuzzugsdichtung: 141 Kreuzzugspredigt: 129 Leviten, israelit. Stamm: 82, 95, 168, 186, 224 libertas ecclesiae: 15, 27, 32 Liber ad amicum (Bonizo von Sutri): 11, 76 Liber contra Wibertum (Anselm von Lucca): 85, 92 Liber de unitate ecclesiae conservanda (Streitschrift): 180 Liber Gomorhianus (Petrus Damiani): 57 Massaker, von Jerusalem 1099: 122–125, 128 f., 136, 140 f., 145 militia / milites sancti Petri: 15 f., 32, 171, 194, 216, 219, 222, 226, 229

Nächstenliebe: 101, 166 Nikolaitismus: 53, 82 Ottonen, sächsische Kg.e und Ks.: 68 Pataria, relig. Bewegung in Mailand: 80, 171 f. pax (Christi): 100 f., 115, 166 plenituto potestatis: 32, 206, 208, 210, 213 pollutio, hl. Orte 씮 Verunreinigung: 121, 123, 131, 135 pontifex, summus: 169 Posaunen von Jericho: 45, 117, 129 potestas 씮 Gewalt: 31 f., 44, 117 Primatsanspruch, päpstlicher: 22 Revolution, päpstliche: 20 Rubrik: 91, 93, 157 Schisma / Schismatiker: 90 f., 94, 98, 100 f., 119, 165, 167, 173, 217, 219 Schisma, Alexandrinisches: 199 Simonie / Simonisten: 20, 53, 56, 67–72, 82, 101, 165, 167, 174, 217 Stratordienst: 196, 200 Streitschriften des Investiturstreits: 75 f., 161, 162, 198 Sühne, durch Blut: 134, 136, 140, 146 Suprematie, päpstliche: 11, 14, 16, 34, 42, 67, 72, 189, 225, 227 Tempel Salomos: 139 terror disciplinae, königlicher: 117 Tötungsverbot, des Dekalogs: 158, 183 Tyrann: 165 Unfehlbarkeit, des Papstes: 218, 229 Ungehorsam: 29 f., 41, 46 f., 49, 51–53, 60, 70, 73, 98, 104, 165, 167, 189, 199, 205, 216 Ungläubige: 121 f., 133–135, 141–143, 145 f., 165

Verzeichnis der Bibelstellen Unkeuschheit, der Priester: 82, 101, 165, 167, 171, 217, 223 Unterordnung (subiectio): 203 Verachtung der Schlüsselgewalt (contemptus clavium): 191, 207–213, 217, 225 Verfolgung (persecutio): 82 f., 88, 91 f. veritas 씮 Wahrheit (Christi): 13, 30, 42, 100 Verunreinigung, heiliger Orte: 123, 132–135, 140 f., 143, 145 violentia 씮 Gewalt: 31

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Wahrheit (Christi): 12 , 14, 40, 42 f., 45, 53, 77, 79, 115, 150, 157, 161, 165 Weltherrschaft, päpstliche: 24, 27, 213 Werkzeuge Gottes: 135, 140, 146, 159 ,Wibertisten‘, Anhänger des Gegenpapstes Clemens: 77 Worms, Synode von, 1076: 100 f. Worms, Konkordat von, 1122: 195 Zauberei: 47 Zelotismus: 52, 59 Zölibat: 56 f., 218 Zorn Gottes: 47, 50, 60–62, 66, 72, 94, 131, 136, 146, 157, 159, 166, 222 Zweigewaltenlehre: 16, 25

Verzeichnis der Bibelstellen Altes Testament Gen 21, 10–18: Ex 10, 1 f.: Ex 14, 15: Ex 20, 5: Ex 32, 26–29:

83 187 117 154 60, 81, 95, 155, 157, 168, 224 Num 16: 70 f.; 88 Num 25, 4–14: 58 f., 63, 97, 155, 223 Num 31, 15ff: 66 Deut 19, 21: 89 Deut 28, 30: 69 Ri 4, 6–9: 65 Ri 4, 17–21: 84 Ri 4, 21: 65 Ri 15, 4–5: 65 1Sam 2, 22–24: 59 1Sam 13, 13: 70 1Sam 15, 22 ff.: 23, 28, 34, 53, 95, 156, 205, 213, 223 1Sam 15, 32–33: 63, 97 1Sam 18, 27: 63 2Sam 24, 14–17: 185 1Kön 2, 13–35: 107, 110

Verzeichnis der Bibelstellen

1Kön 12, 11: 1Kön 18, 40: 1Kön 20, 33–38: 1Kön 20, 42: 2Kön 19: 2Chr 26, 16–19: Jdt 12 f.: 1Makk 5, 51: 2Makk 12, 16: Ps 7, 16: Ps 17, 38: Ps 65, 5: Ps 78, 8: Ps 79: Ps 83: Ps 93, 1: Jes 3, 16–25: Jes 10, 1 f.: Jer 48, 10: Ez 5, 5–10: Ez 9, 2–11: Jo 1, 4: Am 7, 17: Mi 3, 5:

171 63 66 60 117 70 65 169 169 106 88 175 132 130–132, 135, 141, 143 f., 178 f., 222 177, 179 175 63 185 51, 168 87 169 171 69 187

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Register

Neues Testament Mt 5, 3: Mt 5, 39: Mt 10, 34: Mt 16, 18 ff.:

Mt 26, 52–53:

154 151 182 22, 43, 46, 53, 206 f., 209 f., 213, 223, 228 118, 151

Joh 14, 6: Joh 21, 17: Röm 13: Jak 3, 14–18: Jak 4, 2: 1Petr 3, 9: 1 Petr 5, 2:

53 213 66 115 115 103 f. 105

Informationen Zum Buch »Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden«? Nicht in den Augen aller Kirchenvertreter des Hochmittelalters. »Es seien die selig zu preisen, die Verfolgung ausübten um der Gerechtigkeit willen«, schrieb etwa im 11. Jahrhundert Bischof Bonizo von Sutri. Der Historiker Gerd Althoff belegt in seinem neuen Buch: Diese Ungeheuerlichkeit aus der Feder eines Geistlichen, der eigentlich Barmherzigkeit und Güte predigen sollte, entsprach der Strategie und dem Selbstverständnis des Reformpapsttums. Damals kämpften die Päpste insbesondere mit den deutschen Königen im Investiturstreit um Macht und Einfluss. Christliche Geistliche formten – vorgeblich unter Berufung auf Augustinus und andere Kirchenväter – die Lehre um, bis sie als normative Grundlage und Legitimation für Gewaltanwendung taugte.

Informationen Zum Autor Gerd Althoff lehrt Mittelalterliche Geschichte an der Universität Münster.