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German Pages 150 [152] Year 1983
Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft
Herausgegeben von Klaus Baumgärtner
Peter Blumenthal
Semantische Dichte Assoziativität in Poesie und Werbesprache
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983
Für Alice und
Christian
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Blumenthal,
Peter:
Semantische Dichte : Assoziativität in Poesie und Werbesprache / Peter Blumenthal. Tübingen : Niemeyer, 1983. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 30) NE : GT ISBN 3-484-22030-9 ISSN 0344-6735 ©
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Ruoff, Neustetten. Druck: Becht, Ammerbuch-Pfäffingen.
Inhaltsverzeichnis
VORWORT 1. SEMANTISCHE RELATIONEN 1.1. Dichtung, Dichte und semantische Dichte 1.1.1. Verwendungen des Begriffs „Dichte"
1.2. Paradigmatische und syntagmatische Assoziationen 1.2.1. Assoziationen als Gegenstand der Linguistik?
IX 1 1 3
5 6
1.3. „Semantisch-syntaktische" und „semantische" Relationen . 8 1.4. Lernen, Behalten, Assoziieren 10 1.5. Semantische Dichte und Jakobsons poetische Funktion der Sprache 13 1.6. Eine Typologie der semantischen Relationen 15 1.6.1. Außerhalb des Textes (paradigmatisch)
16
1.6.2. Im Text (syntagmatisch)
18
1.7. Exkurs: Informationsdichte
22
2. OPPOSITION 2.1. Schon im Alten Testament 2.2. Lyrische Dichtung im Mittelalter
26 26 27
2.2.1. Lyrik?
2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7.
27
2.2.2. Altprovenzalische Gedichte
28
2.2.3. Kreuzzugslieder
29
2.2.4. Chanson courtoise
31
2.2.5. Nonsense-Dichtung
31
Exkurs: Petrarca Pascal Lamartine Baudelaire Von der Kameliendame zur modernen Reklamesprache . . .
33 34 36 37 41
V
2.8.
Ein Sonderfall: das Oxymoron
44
3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7. 3.8. 3.9. 3.10. 3.11. 3.12. 3.13. 3.14.
DIE LOGIK DES GEGENSATZES Aussagenlogik, Mengenlehre und Antonymie pvq pwq p vq;p vq pAq Von unglücklicher Liebe . . . und blinder Leidenschaft pvq q; p p; q p A q; p A q pAq p iWrirov hßäv ü^iov. Schön ist's zu sterben, eh' man Todeswürdiges getan. (1412 b)
Im Griechischen lassen die Wörter für „sterben" und „todeswürdig" den gleichen Stamm erkennen. Nach Aristoteles kann man im gleichen Sinn auch sagen: .
(2) Man soll sterben, ohne sich vergangen zu haben. (3) Es ist würdig zu sterben, wenn man nicht würdig ist zu sterben.
Wenn die Formulierungen (1) und (3) mehr Beifall finden als (2), dann — so Aristoteles — unter anderem deshalb, weil sie antithetisch aufgebaut sind. Eine Äußerung erscheine um so geistreicher, je mehr Antithesen, Parallelismen11 und Metaphern sie enthalte. Ein Beispiel für einen besonders wirkungsvollen Satz biete das folgende Zitat, das Antithese und Metapher kombiniert : (4)
Und während sie den Frieden, der den anderen gemeinsam ist, als Krieg gegen ihre privaten Interessen ansehen. (1410 b)
Die Antithese beruht auf einer syntagmatischen Relation, da die beiden durch Bedeutungsopposition verbundenen Wörter in der Redekette vorkommen. Die durch Metapher aktualisierte Relation der Ähnlichkeit ist dagegen paradigmatisch, da sie zwischen einem im Sprechakt realisierten Wort („Krieg" in (4)) und einer ersetzten Bedeutung (etwa „Zustand mit negativen Auswirkungen") besteht 12 . Aristoteles begnügt sich nicht mit der Feststellung, daß bestimmte rhetorische Figuren dem Hörer ein Vergnügen verschaffen, er versucht auch, das Entstehen dieses Lustgefühls durch Überlegungen zur Psychologie des Lernens zu begründen: Auf leichte Weise nämlich zu Wissen zu gelangen, ist für alle von Natur aus angenehm; es sind aber die Worte, die etwas bezeichnen. Folglich sind die Worte, die uns Wissen verschaffen, am angenehmsten. (1410b) 11 Bei Aristoteles iIsokolon. Nach Lausberg besteht das isokolon „in der syntaktischen Entsprechung der Zusammensetzung mehrerer (jeweils mehrgliedriger) Teile eines syntaktischen Ganzen" (§ 336). 12 Vgl. Lausberg §§ 174, 226 ff.
10
Dies geschehe durch die Metapher, die uns schnell (die Metapher ist kürzer als der explizite Vergleich) die Ähnlichkeit zwischen zwei Dingen erkennen lasse. Der diesem Erkenntnisvorgang zugrundeliegende Denkprozeß ist der Aufstieg vom Besonderen zum Allgemeinen („Lernen und Erkenntnis mit Hilfe des Gattungsbegriffs", (1410b)), also Abstrahierung. Daß neben Metaphern auch Antithesen angenehmes, weil leichtes Lernen gewährleisten, liegt daran, daß Gegensätze ohnehin schon in höchstem Maße verständlich sind und in parallelei Anordnung ein noch höheres Maß an Deutlichkeit gewinnen.13 (1410a)
In anderem Zusammenhang nennt Aristoteles einen Grund für die hier erwähnte leichte Verständlichkeit eines Textes: Gut verständlich aber ist die Ausdrucksweise, weil sie leicht zu behalten ist. (1409b)
In diesem Sinne versuchen seit einigen Jahren Psycholinguisten, den Verständlichkeitsgrad eines Textes durch Testen seiner Memorierbarkeit zu ermitteln (Richaudeau S.37ff.). Wenn also mühelos Gelerntes vom Gedächtnis leicht behalten wird, so verwundert es nicht, daß „die schnell und leicht Lernenden sich gut erinnern", wie Aristoteles zu Beginn seiner Spätschrift De memoria (449b) sagt. Die moderne Lernpsychologie verknüpft die von Aristoteles aufeinander bezogenen Fragen des Lernens und Behaltens mit einem weiteren Begriff, dem der Assoziation: Von Schuldifferenzen abgesehen, verwendet jede Lerntheorie und jede Lehre vom Gedächtnis den Begriff der Assoziation in entscheidender F u n k t i o n . ^
Die Grundlage für die Erkenntnis dieser Zusammenhänge hat Aristoteles in De memoria gelegt, wo er beschreibt, wie man in bewußtem Bemühen einen im Gedächtnis festgehaltenen, aber momentan nicht präsenten Eindruck wiederauffinden könne: man solle die Suche von einem Ausgangspunkt her aufnehmen, der zur angestrebten Erinnerung in der Relation der Ähnlichkeit, Entgegengesetztheit oder räumlichen bzw. zeitlichen Nähe stehe (De memoria 451b, 18-20); die unwillkürliche Erinnerung, also die Assoziation, erfolge auf dem gleichen Wege. Von den ersten beiden der genannten Relationen war in der Rhetorik bereits gesagt, daß die ihnen entsprechenden Stilfiguren - Metapher und Antithese— angenehmes Lernen ermöglichen. Mit dieser Fest13 Der Gedanke, daß sich Antithesen leicht behalten lassen, wird im 17. Jh. von der Rhetorik Tesauros wiederaufgenommen (1670, S.442). 14 Fischer-Lexikon Psychologie 1965, S.24.
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Stellung ist im Hinblick auf die Theorie der Denkvorgänge der Kreis zwischen Rhetorik und Seelenkunde (zu der De memoria gehört) geschlossen und aufgezeigt, wie bestimmte sprachlichgedankliche Strukturen nach Aristoteles zum Lustgewinn durch leichtes Lernen, weiterhin zum Behalten und schließlich zum mühelosen Erinnern führen. Aus moderner wissenschaftlicher Sicht gilt nicht nur der von Aristoteles begründete Zusammenhang von Lernen, Behalten und Assoziieren als gesichert; die experimentelle Assoziationspsychologie des 19. und 20. Jahrhunderts hat auch nachgewiesen, daß sich Verknüpfungen von Vorstellungen und Wörtern tatsächlich nach den Assoziationsgesetzen von Opposition, Ähnlichkeit und Kontiguität (Nähe in Raum/Zeit) herausbilden 15 . So wird dunkel ganz überwiegend mit hell assoziiert (Opposition), Ozean mit Meer (Ähnlichkeit) und Tisch mit Stuhl (Kontiguität) 16 . Oppostition, Ähnlichkeit und Kontiguität gelten im Rahmen dieser Arbeit als die drei Möglichkeiten inhaltlicher Ausfüllung sowohl der syntagmatischen als auch der paradigmatischen semantischen Relationen. Wenn wir deren Realisierungen im Text untersuchen, ermitteln wir damit, wie aus den Ausführungen des letzten Abschnitts hervorgeht, dessen Assoziativität. Als in hohem Maße assoziativ werden sich Werbeslogans erweisen, die ja darauf ausgerichtet sind, leicht und schnell aufgenommen und gut behalten zu werden. Assoziativ sind aber auch oft Titel von Büchern, Filmen und Zeitungsartikeln, Aphorismen, Witze, politische „Sprüche", Aussprüche großer Männer, der literarische Zitatenschatz einer Nation, Schlager, Chansons und vor allem lyrische Gedichte. Dagegen kommen wissenschaftliche und normative Texte sowie meist auch deskriptive und narrative ohne semantische Relationen und damit ohne ein die eigentliche Information überlagerndes Netz von Assoziationen aus. Anmerkung. - In Einschränkung dieser letzten Fragestellung sei darauf hingewiesen, daß sich in der Literaturwissenschaft bisweilen Hinweise auf assoziative Strukturen in Prosatexten finden. So vermerkt Friedrich - um hier nur einige mehr zufällige Lesefrüchte zu erwähnen - über einen für Balzac charakteristischen Satztyp: „Die Satzeinheit ist also keine objektive Gegenstandseinheit, sondern eine subjektive Assoziationseinheit" (1966, S.108). Bäehr beobachtet, daß die Geschichten im Heptameron von Marguerite de Navarre deutlicher als die des Decameron assoziativ auseinander hervorgehen (S.6). Als der „as-
15 Hörmann 1977, S.72 ff.; diese Reihenfolge gibt auch die relative Bedeutung der drei Prinzipien an (Lieury S.48 f.). 16 Hörmann 1977, S.76; zur Assoziativität des Oppositionsverhältnisses, vgl. Bally S.344.
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soziative" Autor pai excellence gilt Montaigne (Gray, S.l 94). In ganz anderer Weise durch Assoziativität gekennzeichnet ist das Werk von Marcel Proust, der dem assoziativen Empfinden, Sprechen und Verhalten seiner Person breitesten Raum gewährt (Deleuze, S.68ff; vgl. Kap. 7., Anm. 1). Auf assoziationspsychologischer Grundlage beruht bekanntlich auch die seit Ende des 19.Jahrhunderts im Roman verwandte Erzähltechnik des „stream of consciousness".
1.5.
Semantische Dichte und Jakobsons poetische Funktion der Sprache
Wie verhält sich die Vorstellung der semantischen Dichte, die die Gesamtheit der semantischen Relationen eines Textes repräsentiert, zu Begriffen, mit deren Hilfe man in der bisherigen Forschung Wesensmerkmale gerade von Gedichten gegenüber anderen Textarten abzugrenzen versucht hat? Offensichtlich besteht eine Affinität zur poetischen Funktion der Sprache, wie sie Jakobson in „Linguistik und Poetik" definiert hat und deren Geltungsbereich ebenfalls nicht auf poetische Sprache im konventionellen Sinne beschränkt ist. Typisch für die poetische Funktion ist „die Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen" (1972, S. 108). Soweit hiermit der Wille zu einer raffinierten, sorgfältig ausgearbeiteten Form der Äußerung gemeint i s t 1 7 , darf man annehmen, daß die Rhetorik insgesamt eine Lehre von der poetischen Funktion darstellt. Jakobson mißt aber einer Figur der klassischen Rhetorik, dem (phonetischen/syntaktischen/semantischen) Parallelismus dem „fundamentalen Problem der Dichtung" (1972, S . l 2 3 ) — die entscheidende Bedeutung bei, da er den formalen Rahmen für die Projizierung des Äquivalenzprinzips von der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse biete (S.l 10). Damit ist gemeint, daß in der Poesie alle parallel konstruierten Einheiten, so vor allem die Verse, als nicht nur formal, sondern auch inhaltlich gleichwertig, als symbolisch aufeinander verweisend empfunden werden: diese Einheiten folgen zwar syntagmatisch aufeinander, sie unterliegen aber sämtlich den — sonst nur auf der paradigmatischen Achse geltenden — Prinzipien von Opposition und Ähnlichkeit (= Äquivalenz, S. 110, 124). Zumindest Jakobsons theoretischen Äußerungen zufolge ist der Parallelismus also kein formaler Selbstzweck, son17 Vgl. Coseriu 1980, S.59.
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dem sprachliche Voraussetzung für die poetische Erfahrung der symbolischen Einheit des Seienden: Similarität, die Kontiguität überlagert, verleiht der Dichtung ihre durchgehende symbolische, vielfaltige, polysemantische Essenz, die so schön in Goethes »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" angedeutet wird. (1972, S. 126)
Die Gemeinsamkeiten zwischen Jakobsons Theorie der poetischen Sprachfunktion und den oben skizzierten Überlegungen zur semantischen Dichte liegen in dem — bei Jakobson nicht explizit werdenden - Ansatz an den seit Aristoteles für die Rhetorik fundamentalen Kategorien von Bedeutungsähnlichkeit und -Opposition, wobei für die Bestimmung der semantischen Dichte allerdings noch die Kontiguität hinzukommt. 18 Wesentliche Unterschiede sind darin zu erkennen, daß sich für Jakobson die Analyse des poetischen Textes weitgehend mit der Aufzählung von Parallelismen, Similaritäten und Oppositionen erschöpft, deren Funktion letztlich offen bleibt; es gelingt also in der Praxis doch nicht, die Brücke von den minutiös beschriebenen formalen Strukturen zum theoretisch postulierten Sinngehalt des Poetischen zu schlagen.19 Diese Tatsache, nicht aber die theoretischen Ausführungen Jakobsons in „Linguistik und Poetik", rechtfertigt den Vorwurf Coserius, die Theorie der „poetischen Funktion" gehe am Wesen des Poetischen vorbei und erfasse nur ein rein formales sprachliches Raffinement (Coseriu 1980, 59). Dagegen ermöglicht es der Begriff der „semantischen Dichte", in Anlehnung an Aristoteles die psycholinguistische Funktion der im Text verwirklichten semantischen Erscheinungen von Ähnlichkeit, Opposition und Kontiguität aufzuzeigen und deren Rolle damit in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Eine Anwendung auf einen auch von Jakobson untersuchten Text (Les chats von Baudelaire) in Kapitel 10 wird Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Vorgehensweisen deutlicher hervortreten lassen. Einige im folgenden kurz zu erwähnende Bemühungen, Merkmale poetischer Sprache aus linguistischer Sicht zu fassen, sind mehr oder weniger stark von Jakobsons Theorie beeinflußt 20 oder lassen sich zumindest mit ihr vereinbaren. Letzeres gilt für die Auffassung 18 Kontiguitätsbeziehungen können nach Jakobson besonders in der Prosa des Realismus eine wichtige Rolle übernehmen (1963, S.66 f.). 19 Vgl. die Kritik Posners an Jakobsons und Lévi-Strauss' Interpretation von Baudelaires „Les chats" (Posner S.164-167). 20 Z.B. Kloepfer S.44 ff.
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Bremonds, das Wesen der Lyrik bestehe darin, daß die im Text genannten Dinge einander durch Metapher oder Metonymie evozieren (S.62). Auf die grundlegende poetische Bedeutung der Ersetzungsfiguren weist auch Genette hin (s.o. 1.1.1.). Kibédi Varga verwendet explizit den Begriff der „poésie associative" zur Bezeichnung der seiner Auffassung nach mit Victor Hugo einsetzenden, dritten und letzten Phase der französischen Poesiegeschichte, die er in Symbolismus und Surrealismus kulminieren läßt. Assoziativ sind für ihn die verborgenen Analogien zwischen verschiedenen Wirklichkeiten, die der visionäre Dichter im magischen Wort einzufangen glaubt. „Assoziation" wird in dieser Konzeption nicht als empirisch beschreibbarer, psychischer Mechanismus verstanden, sondern ähnlich wie die semantische Äquivalenz Jakobsons als Zugang zu einer schon metaphysischen Erfahrung der Einheit des Universums: „l'association suppose l'analogie, l'analogie suppose l'unité, une quelconque unité non-divisée et non-hiérarchisée de l'univers" (S.260). Eine abschließende Beobachtung zur Forschungslage steht außerhalb der von Jakobson inspirierten Theorien. Oben war bereits von der lernpsychologischen Relevanz assoziativer Strukturen und ihrer Beziehung zum Gedächtnis die Rede. Die besondere Memorierbarkeit von Gedichten ist in der Dichtungstheorie eine altbekannte und bisweilen neu vorgetragene Tatsache. Als Beleg diene die Bemerkung Pelletiers „que la constatation du caractère mémorisable des structures poétiques est devenue un lieu commun" (S.87). Daß Ursache fur diese Eigenschaft des Gedichts seine Assoziativität sein könnte, wird vom Autor allerdings nicht erwogen. Insgesamt betrachtet finden die im folgenden zu entwickelnden Überlegungen zur assoziativen Struktur von Texten also zahlreiche Anhaltspunkte in der bisherigen Dichtungstheorie. 1.6.
Eine Typologie der semantischen Relationen
Ziel dieses Abschnitts ist es, die Umrisse einer Systematik der semantischen Relationen zu skizzieren, um so vorab einen Überblick über das weitere Vorgehen zu geben. Einzelne Rückgriffe auf hier bereits Gesagtes sind dabei unvermeidlich. Genauere Definitionen, die Diskussion von einzelne Relationen betreffenden Problemen und eine ausführliche Illustrierung durch Beispiele 15
bleibt den Kapiteln 2. bis 7. vorbehalten. Die wichtigste Unterscheidung liegt in der Dimension der Relationen begründet: sind sie auf der paradigmatischen oder auf der syntagmatischen Achse anzusiedeln? Beispiele für beide Möglichkeiten haben wir oben schon kennengelernt. Kommen die Wörter oder Wortgruppen, zwischen denen die Relation besteht, „im Text" vor, so ist diese syntagmatisch; dies trifft für die Antithesen in (1/3/4) zu (s.u. 1.6.2.). 1.6.1. Außerhalb des Textes (paradigmatisch) Dagegen beruhen die Ersetzungsfiguren der Rhetorik, also etwa die Metapher, per definitionem auf einer Relation „außerhalb des Textes": das metaphorisch verwandte Wort Löwe läßt an ein mit ihm durch Ähnlichkeit verbundenes, im Text nicht genanntes Wort denken, z.B. tapfer, erbarmungslos oder wilder Krieger (Lausberg §§ 174f)- Die Metapher kann zudem in einer syntaktischsemantischen Beziehung zu einem Wort stehen, das Gegenstand des Vergleiches ist, also Achill in Lausbergs Beispiel (§ 228): (5) Achill war ein Löwe in der Schlacht.
Die textrelevanten Assoziationen, die von Löwe ausgehen, können dann als die Gesamtheit der den Wesen Achill und Löwe gemeinsamen Merkmale definiert werden. Von einem ersetzten Wort zu sprechen — in Lausbergs Schulbeispiel steht Löwe für wilder Krieger — bildet also eine nur pädagogisch zu rechtfertigende Vereinfachung: die Menge der von einer Metapher ausgelösten Assoziationen ist nicht zu begrenzen und individuell verschieden. 21 Das gleiche gilt für den rein metaphorischen Text, in dem der zu vergleichende Gegenstand nicht genannt wird : 2 2 (6) Ce toit tranquille où marchent les colombes
lautet der berühmte Anfang von Valérys Cimetière marin, der „Dach" für „Meer" und „Tauben" für „Segelboote" setzt. Die für den erstgenannten Metapherntyp kennzeichnende semantischsyntaktische Beziehung fällt hier fort. „Außerhalb des Textes" stehen auch die der Metonymie zugrundeliegenden Relationen. Die Metonymie beruht nicht auf Ähnlichkeit, sondern auf Kontiguität: die Verwendung von „unter mein Dach" für „in mein Haus" setzt einen sachlichen Zusammenhang 21 Vgl. Guiraud 1968, S.481 ; Morier S.650 ff. 22 Morier spricht hier von der „ellipse du comparé" (S.664 f.).
16
zwischen den Designaten von „Dach" und „Haus" voraus. Die literarische Bedeutung von Metonymie und Metapher dürfte sich ganz im Sinne der Aristotelischen Theorie nicht zuletzt aus ihrer hohen Gedächtniswirksamkeit erklären: Ce sont des procédés littéraires parmi les mieux adaptés aux propriétés particulières de notre mémoire. Les rhétoriqueurs de l'antiquité et nos grands auteurs l'avaient intuitivement compris. (Richaudeau S.67)
Weitere Tropen wie Ironie, Periphrase und Litotes werden unten in Kapitel 7. behandelt. Bei einem zweiten Typ von paradigmatischen semantischen Relationen besteht zwischen dem tatsächlich vorhandenen Text und den Inhalten „außerhalb des Textes" kein Verhältnis der Substitution, sondern der Addition: Bedeutungen „überlagern" sich, sei es, weil die einzige mögliche Interpretation eines Satzes mit einem anderen Satz assoziiert wird, sei es, weil ein einzelnes Zeichen oder ein ganzer Satz mehrere Interpretationen zuläßt oder sogar nahelegt. Der erstere Fall ist zum Beispiel bei Verformungen bekannter Zitate gegeben. So hatte ein Artikel der Zeitschrift Die Zeit vom 20.3.1981 über die steigenden Geburtsraten die Überschrift: (7) Nun gebären sie wieder,
die vom Leser natürlich wegen der partiellen Ähnlichkeit in der Formulierung mit Max Frischs Nun singen sie wieder assoziiert wird. Die Form der in (7) enthaltenen semantischen Dichte erschöpft sich zweifellos in der Tatsache der Assoziation, eine — in anderen Fällen durchaus mögliche — inhaltliche Bereicherung wird durch die Anspielung auf den Buchtitel kaum bezweckt. Für solche Anspielungen auf Zitate und Sprachclichés führen wir den Begriff „Evokation" ein (s.u. 6.1.). Der zweite Fall, die beabsichtigte Polysemie oder Ambiguität, erscheint oft in der Form des Wortspiels; solche Doppelsinnigkeit liegt vor im Filmtitel: (8) Die Stoßstange ist aller Laster Anfang,
wobei die obszöne Ambiguität von Stoßstange metaphorischer Art ist, während die von Laster auf Homonymie beruht. Zudem enthält auch (8) eine Anspielung auf einen ähnlich konstruierten, allgemein bekannten Satz, nämlich auf das mit „Müßiggang" beginnende Sprichwort. Die hier erwähnten Formen der Evokation und Ambiguität fassen wir unter dem Begriff der „Überlagerung" zusammen.
17
1.6.2. Im Text (syntagmatisch) Bei der Bearbeitung des sprachlichen Materials hat es sich als sinnvoll erwiesen, die syntagmatischen Relationen in zweifacher Weise unterzugliedern, und zwar zunächst nach den pragmatischen Bedingungen, unter denen Opposition, Ähnlichkeit oder Kontiguität in einem Text auftritt: - entweder setzt der Sprecher voraus, daß der Hörer bereits ein Vorwissen von der jeweiligen Relation besitzt, sei es durch seine Kenntnis des Systems der „langue", sei es durch die Kenntnis der „Welt"; der Sprecher b e n u t z t dann eine für den Hörer potentiell schon vorhandene Relation - oder aber der Sprecher s c h a f f t eine Relation, indem er eine - für den Hörer voraussichtlich überraschende, jedenfalls nicht selbstverständliche Opposition, Ähnlichkeit oder Kontiguität zwischen Wörtern und/oder Dingen ansetzt; hier erscheint etwas in der parole, was vorher nicht schon in der langue war. Mit der Schaffung von Relationen versucht der Sprecher im allgemeinen, seine eigenen — wirklichen oder vorgeblichen - Assoziationen auch dem Hörer mitzuteilen oder sogar aufzuzwingen. Beispiele beider Möglichkeiten finden wir im folgenden Reklametext des Club Méditerranée: (9) La vie au ralenti. La vie très vite. La plage au galop. Ou la plage . . . au soleil.
Wir betrachten hier zunächst die beiden Wendungen au ralenti und très vite. Syntaktisch gesehen sind sie koordiniert, semantisch besteht zwischen ihnen eine Beziehung der Entgegengesetztheit: jeder beliebige Sprecher assoziiert die Vorstellung der Schnelligkeit mit ihrem Antonym. 23 Der Text benutzt also im oben erläuterten Sinne eine bereits vorhandene Relation. Anders steht es um au galop und au soleil. Von einem Antonymieverhältnis in der langue kann hier nicht die Rede sein, und kein Assoziationsexperiment ergäbe eine signifikante Verknüpfung von galop und soleil. Trotzdem führt der analogische Druck der ersten beiden parallel konstruierten Syntagmen {ralenti/vite) in Verbindung mit dem disjunktiven ou dazu, daß der Leser auch zu einer semantischen Polarisierung von galop und soleil neigt. 24 Die Redebedeutungen beider 23 Zur psychologisch fundamentalen Rolle gerade dieser Oppositionsbeziehung: Osgood/ Suci/Tannenbaum S.51. 24 Über die Schaffung von Antithesen durch eine künstliche Konzentration der Aufmerk-
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Wörter bereichern sich dadurch um Nuancen, die aus der Verneinung des anderen Wortes resultieren: galop bekommt den Beigeschmack von erfrischender Kühle, während soleil Nebenvorstellungen von Geruhsamkeit und Trägheit hervorruft. Diese semantische Bereicherung resultiert aus der S c h a f f u n g einer Opposition. Geschaffen ist zweifellos auch — und zwar unabhängig vom ideologischen Standpunkt des Beurteilers — die Opposition in dem von der CDU in Bundestagswahlen verwandten Spruch „Freiheit oder Sozialismus", der die Nähe mancher geschaffener Relationen zur sprachlichen Manipulation deutlich macht. Das gleiche gilt für Slogans wie „Cuba o la muerte". Die Unterscheidung zwischen benutzten und geschaffenen Relationen, die wie für die hier als Beispiel angeführte Opposition, so auch für Ähnlichkeit und Kontiguität gilt, zieht eine Verdoppelung der Zahl der semantischen Relationen „im Text" nach sich. Schon hier sei darauf hingewiesen, daß die Benutzung von Relationen, da sie an das Vorwissen des Hörers anknüpft, grundsätzlich leicht verständliche Texte entstehen läßt — man denke an die Auffassung des Aristoteles über leichtes Lernen; solche Texte kommen dem rhetorischen Ideal der perspicuitas (Klarheit) entgegen. Geschaffene Relationen verlangen dagegen oft eine gewisse interpretatorische Anstrengung des Hörers und ein Einfühlen in die subjektive Gedankenwelt des Sprechers; vor allem in lyrischen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts bilden sie dadurch einen Faktor der obscuritas, einem der perspicuitas entgegengesetzten Ziel der Rhetorik. 25 Eine zweite, weniger grundlegende Untergliederung betrifft die syntaktischen Konstruktionen, in denen semantische Relationen auftreten. Die unter semantischen Gesichtspunkten interessante Unterscheidung ist hier die zwischen — koordinativen Konstruktionen, in denen die durch semantische Relationen verbundenen Wörter syntaktisch auf der gleichen Ebene stehen und sich nicht gegenseitig bedingen — nicht koordinativen Konstruktionen (Prädikation und Detersamkeit auf nur zwei Gegenstände, vgl. Martin S. 70. 25 Uber diese beiden Begriffe vgl. Plett S. 26; Eco S.184f. In der Schaffung von Relationen sieht Lotman - zweifellos zu einseitig - den Schlüssel für das Verständnis poetischer Sprache: „Das Wesen der poetischen Struktur besteht dann darin, daß zuvor nicht synonyme und nicht äquivalente Einheiten in Synonyme und Äquivalente übergeführt werden." (S.193). Voltaire betrachtet das hier „geschaffene Relation" Genannte als Zeichen von Esprit: „C'est l'art ou de réunir deux choses éloignées, (. . .)" (Artikel „Esprit" im Dictionnaire philosophique, S. 211).
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mination), in denen die beiden Wörter oder Wortgruppen verschiedene Funktionen erfüllen und voneinander abhängig sind (ein grammatisch normaler Satz bedarf eines Subjekts u n d eines Prädikats). Die semantischen Verhältnisse der Ähnlichkeit und Entgegengesetztheit, die jeweils gleichgeordnete Inhalte miteinander verbinden, besitzen naturgemäß eine besondere Affinität zu koordinativen Konstruktionen, deren eindeutiges Vorherrschen für moderne Poesie typisch zu sein scheint (Guiraud 1968, S.487). Kontiguitätsbeziehungen sind dagegen nicht präferentiell an eine der beiden Konstruktionsweisen gebunden. Da der syntaktischen Erscheinungsform einer semantischen Relation im Rahmen unserer Fragestellung nur eine sekundäre Bedeutung zukommt, wird diese Unterklassifizierung im folgenden Stemma bei der Numerierung der Relationen nicht berücksichtigt. Eine Differenzierung kann gegebenenfalls mit Hilfe der Kleinbuchstaben a (= koordinativ) und b (= nicht-koordinativ) durchgeführt werden. Am Ende dieses Überblicks ist noch auf eine Besonderheit der Kontiguität einzugehen, die deren weitere Untergliederung nötig macht. Wenn die enge assoziative Bindung Tisch - Stuhl und Stuhl — Tisch (Hörmann 1977, S.76) durch Kontiguität erklärt wird, so bezieht sich dieser Begriff natürlich auf die außersprachlichen Verhältnisse in der Sachwelt (s.o. 1.2.1.). Jakobson unterscheidet aber zu Recht neben dieser Beziehung noch eine „positionelle Kontiguität" (1963, S.62), die das kontextuelle Nebeneinander von Wörtern im Satz meint. In diesem Sinne werden wir im folgenden zwischen „sachlicher" und „sprachlicher" (= „positioneller") Kontiguität unterscheiden. Im Rahmen dieser Arbeit interessieren wir uns besonders für eine Auswirkung habitueller sprachlicher Kontiguität, nämlich für assoziative Verbindungen von Wörtern aufgrund der Tatsache, daß sie in stereotypen Wendungen oder in häufig wiederholten Slogans gemeinsam auftreten. So läßt das Wort Morgenstund vermutlich viele Sprecher des Deutschen an das Sprichwort „Morgenstund hat Gold im Mund" denken, wodurch eine auf sprachlicher Kontiguität beruhende Assoziation von Morgenstund mit Gold entsteht. Aus einem ähnlichen Grund assoziieren wohl die meisten Franzosen hère mit pauvre, denn das 26 Substantiv wird vorzugsweise mit dem Adjektiv konstruiert. 26 Die Wortassoziierung durch den Kontext ist so ausgeprägt, daß sie systematisch in der Fremdsprachendidaktik eingesetzt wird: Seleskovitch empfiehlt ihren Dolmetscher-Stu-
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Das folgende Schema erfaßt die bisher vorgenommenen Unterscheidungen, an denen sich die weitere Kapitelabfolge dieser Arbeit orientieren wird.
semantische Relationen im Text (syntagmatisch)
außerhalb des Textes (paradigmatisch) Überlagerung (Evokation, Polysemie)
Opposition
Ersetzung (Metapher, Metonymie, Ironie usw.)
®
Kontiguität
Ähnlichkeit sprachlich
benutzt
geschaffen
©
© b a
benutzt
geschaffen
CD
0 b
a
benutzt
geschaffen
© bK
a/ ^ Kb
sachlich
©
benutzt'
©
geschaffen
©
a-
Legende: a: semantische Relation zwischen Wörtern mit syntaktisch gleicher Funktion (Koordination) b: semantische Relation zwischen Wörtern mit syntaktisch verschiedener Funktion (Nicht-Koordination)
denten, ein entfallenes Wort der Zielsprache dadurch wieder ins Gedächtnis zu rufen, daß sie einen Kontext bilden, in dem das gesuchte Wort typischerweise vorkommt (S.59); vgl. Bally S.344.
21
1.7. Exkurs: Informationsdichte Wenn wir semantische Dichte informell als Verhältnis einer relativ großen Zahl von semantischen Relationen eines Textes zu einer relativ geringen Zahl von Wörtern definieren, so ergeben sich im Prinzip zwei Möglichkeiten für ihre Erhöhung: eine Vermehrung der Relationen oder eine Verringerung der Zahl der Wörter. Die letztere Situation, eine unterhalb der Erwartungsnorm 27 liegende Zahl von Wörtern, führt unabhängig vom Vorhandensein semantischer Relationen zu einer — nicht mit semantischer Dichte zu verwechselnden — Informationsdichte, d.h. zu einer im Verhältnis zur Länge des Textes großen Informationsmenge. Der klassische Fall von Informationsdichte durch Kürze läßt sich unter dem Begriff der Ellipse („Einsparung nomalerweise nötiger Satzbestandteile"28) zusammenfassen; dabei bezieht sich die Einsparung allerdings nicht nur auf syntaktisch notwendige Elemente, sondern allgemeiner auf Informationen, deren explizite Hinzufügung zum Kern der Mitteilung der Hörer normalerweise hätte erwarten können. „Ellipse" bezeichnet in diesem erweiterten Sinne syntaktische, semantische oder pragmatische Unvollständigkeit einer Äußerung. Elliptisch ist — zumindest bei „naiver" Interpretation des Satzes — die neben einer recht harmlosen Abbildung nur vier Wörter umfassende Büstenhalterreklame: (10) Pour celles qui osent.
Denn was genau wird gewagt und von welcher Seite her droht gegebenenfalls eine Sanktion? Solche möglichen Unklarheiten beseitigt eine nicht-elliptische Parfumreklame schon im ersten Satz: (11) J'ai osé être moi-même malgré les autres (. . .)
Allerdings trägt dieses Parfum den Namen J'ai osé, der sich als elliptische Verdichtung von (11) deuten läßt: zwei Determinanten des Verbs, der „second actant" und ein „circonstant" in der Terminologie Tesnières, sind vom Verb gleichsam resorbiert worden und bestehen nur noch als sous-entendus. In Fachsprachen kann der absolute Gebrauch besonders von Verben so weit gehen, daß der 27 Diese dürfte sich vor allem am Inhalt der Mitteilung orientieren. 28 Lausberg §§317-19. Als Ellipsen, bei denen die Wiederauffindung des Ausgesparten problematisch ist, erscheinen auch einige nach Levin auf „nonrecoverable deletion" beruhende, verdichtete (Condensed) Sätze, die er als Beispiele poetischer Sprache zitiert (1971).
22
Laie die gemeinte Gesamtinformation nicht einmal mehr erahnt; vgl. in der Sprache der Logiker il implique für il implique négation}9 Elliptisch in einem noch weiteren Sinne als (10) sind schließlich Texte, die einzelne Phasen eines Handlungsablaufs oder Argumente innerhalb einer Gedankenkette überspringen. So heißt es in einem Zeitungsartikel zur wirtschaftlichen Lage der Sowjetunion: (12) Tout semble indiquer que la croissance de l'économie continue de se ralentir, à moins que l'amélioration progressive des méthodes de calcul ne permette d'obtenir des chiffres plus „honnêtes". (Le Monde 31.7.1981)
Für alle, die mit solchen Gedankengängen nicht vertraut sind, mag zumindest bei erster Lektüre der Zusammenhang des Konditionalsatzes (à moins que . . .) mit dem Vorausgehenden unklar sein. Hier „fehlen" einige auch im Kontext nicht vorhandene Zwischenüberlegungen: - die eventuell ehrlichen Zahlen sind diejenigen für das laufende Jahr - unter dieser Voraussetzung sind die Zahlen des letzten Jahres falsch - wären sie richtig gewesen, hätten sie nicht unbeträchtlich unter den neuesten Zahlen gelegen. Für den Fachmann wäre solche Explizitheit Zeitverschwendung. Informationsdichte zieht auch über einen großen Teil der Abstrakta in den Text ein, da diese grundsätzlich als Nominalisierungen einen ganzen Satz repräsentieren. 30 Diese geradezu antipoetische Dichte, eine unfreiwillige obscuritas, trägt zur schweren Verständlichkeit des juristischen und administrativen Stils bei. Beispiele für geringe Informationsdichte, also eine überdurchschnittlich hohe Redundanz, finden sich in großer Zahl in der mittelalterlichen französischen Literatur, und vor allem bei den frühen Chronisten 31 , bei denen fast auf jeder Seite die Neigung festzustellen ist, aus unserer modernen Sicht einfache Handlungen als komplex zu betrachten und in ihre einzelnen Phasen zu zerlegen: (13) Quant Ii empereres sut que ce fu voirs, si prist molt de sa gent avec lui, si s'en ala jusques au moustier Sainte Sophie par uns alloirs qui alloient de son palais jusques 29 Lalande unter impliquer. Zur fachsprachlichen Verdichtung („Kondensation") der Aussage im Deutschen - auch durch Ellipse - vgl. Fluck S.56. 30 Porzig 1930, S.72. Nominalisierung bedeutet deshalb Verlust an Explizitheit und verlangt - wie Désirat/Hordé (S. 137) ebenfalls in Bezug auf einen Text aus Le Monde feststellen - immer eine gewisse Vorinformation des Lesers: „Ce mode d'expression ne va pas sans ambiguïté et demande toujours une information préalable du lecteur qui doit rétablir les données absentes." 31 Vgl. Schon S. 54.
23
au moustiei. Quant il vint au moustier, (. . . )
32
Die auf das erste si folgenden Teilsätze sagen nicht mehr als „ging er mit vielen seiner Leute vom Palast zur Sophienkirche Ähnlich redundante Konstruktionen kommen, wenn auch in weniger krasser Form, bei Commynes, dem Historiker des ausgehenden Mittelalters, vor. 33 Die Verbreitung solcher Redundanz in älteren Texten legt den Gedanken nahe, daß es weitgehend von den Lesegewohnheiten, der Sachkenntnis und nicht zuletzt der Weltsicht des einzelnen oder einer Epoche abhängt, was subjektiv als redundant — oder im Gegenteil als elliptisch — empfunden wird. Wenn es der Linguistik gelingen sollte, hier einen objektiven Standpunkt zu definieren, wäre die Frage zu untersuchen, ob und in welcher Weise in der Geschichte französischer Texte Phasen und Gattungen verschiedener Informationsdichte miteinander wechseln.34 Der Exkurs dürfte verdeutlicht haben, daß „semantische Dichte" und „Informationsdichte" trotz der ihnen gemeinsamen Verankerung in Grundbegriffen der Rhetorik zwei voneinander unabhängige Größen bezeichnen: Informationsdichte resultiert aus der Beziehung zwischen Text und Sachverhalt, während semantische Dichte die Intensität innersprachlicher Beziehungen 35 bezeichnet. Alle Kombinationen zwischen den beiden Größen sind möglich. So läßt 32 Robert de Clari S.23. 33 Vgl. ebd. S.953, Zeilen 23ff. 34 Die Auseinandersetzung mit dem Problem der Informationsdichte beginnt in Frankreich im 18.Jh. mit den Grammatikern Buffier und Gamaches. Als Beispiel für eine Verdichtung der Satzinformation empfiehlt so Buffier, die Formulierung „nous ne faisons point de crime que notre propre conscience ne nous le reproche au dedans de nous-même" zu ersetzen durch „il n'est point de crime sans remords" (zitiert nach Brunot VI, S. 1967). In der Tradition des französischen Schuluntenichts, die bei der Verankerung eines bestimmten Stilwillens in der französischen Kulturgemeinschaft eine kaum zu überschätzende Rolle gespielt hat, leben solche Empfehlungen - in teilweise modernisierter Form - fort. Eins der zur Zeit modernsten Schulbücher, verfaßt von dem renommierten Grammatiker Bonnard, zitiert Modelle für eine möglichst ökonomische Ausdrucksweise („densité"), z.B. „je t'approuve" für „j'estime que tu as raison" (S. 113); systematischere Möglichkeiten für eine Verkürzung bietet der im 20. Jh. zu Ehren gekommene Nominalstil, häufig in Verbindung mit kausativen Verben (entraîner im folgenden Beispiel): „Toute évasion entraîne l'envoi au front du commandant du camp ou de ceux de ses subordonnés sur lesquels il arrive à rejeter la responsabilité d'un défaut de surveillance" statt „Chaque fois qu'un prisonnier s'évade, il en résulte que l'autorité supérieure envoie au front le commandant du camp ou certains de ses subordonnés s'il arrive à prouver qu'ils sont responsables du fait qu'un prisonnier a été mal surveillé" (Bonnard S. 115). 35 Die allerdings im Falle der sachlichen Kontiguität außersprachliche Verhältnisse widerspiegeln.
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sich, wie wir noch sehen werden, in den Chansons von Jacques Brei eine hohe semantische Dichte aufzeigen, die mit dem von ihm beklagten Zwang zur Informationsdichte (s.o. 1.) Hand in Hand geht. In beiden Hinsichten „dicht" ist im allgemeinen auch der Aphorismus (s.u. 2.4.). Dagegen weist ein großer Teil der lyrischen Dichtung, soweit sie auf dem Prinzip der Wiederholung beruht, geringe Informationsdichte und große semantische Dichte auf. 36 Für Kenner der Materie geschriebene Texte (vgl. (12)) sind zwar sehr informativ, enthalten aber meist keine „semantischen Relationen". Scherzhafte Wortkreuzungen scheinen auf einer Verbindung von Informationsdichte und semantischer Dichte zu beruhen (s.u. 6.2.). Informationsdichte in einem vageren Sinne - als Berührung verschiedenster Themen auf unerwartet knappem Raum — kann ein Faktor von Komik werden; so im folgenden Witz: Un professeur demande à ses élèves, en composition de rédaction, de traiter simultanément des thèmes essentiels: la religion, les classes sociales, l'amour, le mystère. Il rappelle que la qualité première du style est la concision. Quelques minutes plus tard, du fond de la classe arrive la plus mauvaise élève qui remet sa copie et s'en va. Le professeur y lit: „Nom de Dieu, s'écria la Baronne, je suis enceinte, et je ne sais pas de qui!" (Müller S.40)
36 Groupe M vertritt dagegen die - nur aus einer einseitigen Einengung des Blickfeldes auf einige Formen vor allem moderner Lyrik erklärliche - Auffassung, poetische Sprache sei grundsätzlich durch geringe Redundanz und damit durch einen hohen Informationsgehalt gekennzeichnet: „Dans le langage poétique, plurivoque et surdéterminé, la redondance s'abaisse et, par conséquent, s'accroît la quantité d'information." (1977, S.191). Ähnlich auch Lotman, für den Gedichte nur bei oberflächlicher Betrachtung redundant scheinen; die Erfahrung erweise vielmehr, „daß ein umfangmäßig kleines Gedicht eine Information aufnehmen kann, die in den dicken Bänden eines nicht-künstlerischen Textes nicht unterzubringen wäre" (S.50). Ja, aber dabei handelt es sich wohl nicht um Information im Sinne der Informationstheorie. Lotman unterscheidet offensichtlich nicht zwischen Informationsdichte und semantischer Dichte (s.o. Anm.25). Der französische Philosoph Condillac nahm im 18.Jh. an, die Poesie der ältesten Zeiten sei infolge der Neigung, verzichtbare Wörter auszulassen, sprachlich konzentrierter als die moderne gewesen: „l'usage de sous-entendre des mots y était fort fréquent" (S. 82). Über Informationsdichte (Levy nennt sie „semantische Dichte") als Übersetzungsproblem, vgl. Levy S. 181.
25
2.
Opposition
2.1.
Schon im Alten Testament . . .
Die primäre Rolle der Bedeutungsopposition für die Schaffung semantischer Dichte läßt sich über fast drei Jahrtausende hinweg, vom Alten Testament bis zu modernen Werbetexten verfolgen. Ein besonders charakteristisches alttestamentarisches Beispiel bietet ein Ausschnitt aus dem Buche des Predigers1, hier in französischer Übersetzung zitiert: (14) Il y a pour tout un moment et un temps pour toute chose sous les deux: temps pour enfanter et temps pour mourir; temps pour planter et temps pour arracher le plant; temps pour se taire et temps pour parier; temps pour aimer et temps pour hai'r; temps de guerre et temps de paix.
Der gesamte Abschnitt, eine typische Ausprägung des sogenannten „biblischen Parallelismus" 2 , umfaßt 14 koordinierte, also dem Typ (fa) unseres Schemas zuzurechnende Oppositionspaare. Über die grundsätzliche Bedeutung der Entgegengesetztheit („Antithese") in der Antike und in den neueren europäischen Literaturen unterrichten die Handbücher der Rhetorik 3 . Im folgenden möchte ich ohne den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit einige markante Momente in der Stilgeschichte dieser Relation erwähnen.
1
Allerdings vermutlich in späthebräischer Zeit unter hellenistischem Einfluß entstanden (vgl. E. Dhorme in La Bible II, S.CLVII; zitierter Text dort S.1508f.) 2 Vgl. hierzu Molino S. 79ff. 3 Z.B. Lausberg §§ 386-392. Nach Friedrich ist die Antithese „das älteste Kunst- und Wiikungsmittel aller erhöhten Sprache überhaupt" (1964, S.550).
26
2.2.
Lyrische Dichtung im Mittelalter
2.2.1. Lyrik? Zunächst soll die Herausbildung oppositiver Strukturen in der mittelalterlichen Lyrik Frankreichs kurz nachgezeichnet werden. Daß diese zumindest in ihren älteren Gedichtformen nicht eigentlich „lyrisch" war, erläutert sogar das Vorwort einer französischen Schulausgabe, deren Titel immerhin das Gegenteil anzukündigen scheint 4 . In der Tat besitzen die Chansons d'aube, Pastourelles und Chansons de toile (bezeichnenderweise auch Chansons d'histoire genannt) ganz überwiegend eine narrative, mitunter auch dramatische Struktur, da sie das Fortschreiten eines Geschehens in der Zeit, bisweilen unterstrichen durch wörtliche Rede der handelnden Personen, erzählen5 ; hier ein Beispiel: (15) [Nach der Ankunft eines Boten] Bele Doette tantost le demanda „Ou est mes sires que ne vi tel pieça?" Cil ot tel duel que de pitié plora. Bele Doette maintenant se pasma. Et or en ai dol.6 [Neufranzösische Übersetzung: Belle Douette aussitôt lui demanda: „Où est mon seigneur que je ne vis de longtemps?" Lui eut telle douleur que, de pitié, il pleura. Belle Douette alors se pâma. Et maintenant en ai chagrin.]
Es handelt sich um die 3. Strophe der Chanson de toile von der schönen Douette. Die Wörter und Sätze des Textes sind durch nicht-koordinative, unsymmetrische Relationen miteinander verbunden, sie stehen also nicht auf der gleichen Ebene. Formal läßt sich dies durch Permutationsproben nachweisen: die Vertauschung der Wortgruppen und Sätze ergäbe einen erheblich anderen Sinn, da sich Abfolge und Kausalverhältnis der Ereignisse ändern würden. Damit entbehrt zumindest die semantische Entgegengesetztheit der Typen (Ta) und (5a) der syntaktischen Grundlage. In konträrem Gegensatz zur Struktur von (15) steht die Ballade „Je meurs de soif" von Charles d'Orléans aus dem ausgehenden Mittelalter, in der es heißt : 4 G.Picot in Poésie lyrique au moyen âge, Bd.I, Paris 1965, S.5. 5 Vgl. Frappier S.5. 6 Poésie lyrique au moyen Oge I, S. 94.
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(16) Je gagne temps, et perds mainte semaine; Je joue et ris, (. . .) Je parle trop, et me tais ä grand peine; Je m'esbahis et je suis courageux'J
Hier kann sowohl die Reihenfolge der Verse als auch die der — antonymen — Halbverse ohne Sinnänderung vertauscht werden. Aber neben koordinativen Oppositionspaaren wie gagner — perdre (Typ (fa)) enthält das Gedicht auch nicht auf der gleichen Ebene stehende Gegensätze (Typ (lb)), w i e f r o i d und feu in (17) Tremblant de froid au feu des amoureux.
Welche Etappen liegen nun auf dem Wege von der narrativen Poesie der frühen Zeit zu den im Spätmittelalter möglichen Gedichtstrukturen? Dieser Entwicklung entspricht, grob gesagt, eine erhebliche Steigerung der semantischen Dichte. 2.2.2. Altprovenzalische Gedichte Ansätze zur Ausbildung eines Oppositionssystems finden sich bereits in okzitanischen (provenzalischen) Texten des 12. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt der Gegensatzbildung steht das Ortsadverb lai8, in den modernen französischen Übersetzungen meist mit lä-bas wiedergegeben, das auf einen euphorisch konnotierten Ort verweist, an dem sich der Sprecher nicht befindet; meist ist es der Aufenthalt der erträumten oder realen Geliebten 9 , bisweilen auch die Stätte einer in Erinnerung gerufenen Liebe (Bec S.263), das Paradies (Bec S.130, 267) oder sein provenzalisches Äquivalent auf Erden (Bec S.228). Das negativ konnotierte Gegenwort ist sai (Levy: ,ici, ici-bas'), der Ort des von Liebe und Glück entfernten Sprechers, allgemeiner auch die Erde als Jammertal (Bec S.277) oder der Ort der Schande (Bec S.271). In der idiomatischen altprovenzalischen Wendung sai e lai treten beide Adverbien gemeinsam auf. Levy übersetzt mit „dans ce monde et dans l'autre". Wohl werden sai und lai in den Texten nicht so häufig opponiert, wie Hamlin/Ricketts/Hathaway dies behaupten (S.66). Immerhin finden sich in den Anthologien von Bec und Lommatzsch aber einige Gegensatzbildung dieser Art; Beispiel: 7 Poésie lyrique au moyen âge II, S. 116. 8 Zu seinen Bedeutungen, Lewent 1964; vgl. Kablitz S. 29. 9 Vgl. Bec S.181 („Amour lointain"), 133, 150, 155, 192, 221. Der Topos des „là-bas" läßt sich über Baudelaire (s.u. (44)) bis in die Gegenwart verfolgen: vgl. Breis „Viens mon amour/là-bas ne seraient point ces fous" (S. 123).
28
( 1 8 ) E l'esperitz lai cor Et eu si'm sui sai alhor Lonh de lèis en F r a n s a . 1 0 (Bec S. 192) [ e t mon esprit court là-bas [vers elle], tandis que moi je suis ici, ailleurs, loin d'elle en France.]
In einem Prosatext, der Vita von Bernard de Ventadorn, in der nicht das lyrische Ich, sondern der Biograph spricht, besitzen lai und sai zwar nicht ihre in der Poesie übliche deiktische Funktion, sie behalten aber ihren konnotativen Wert: nach der Trennung von der angebeteten Dame bleibt der Troubadour „de sai tristz e dolens"; Trost findet er schließlich in einem Kloster, wo er in Frieden sein Leben endet: „e lai el fenic [= finit]" (Lommatzsch S.9). Zusammenfassend können wir festhalten, daß im Altprovenzalischen die beiden antonymen Ortsadverbien lai und sai Kristallisationspunkte für die Darstellung der Empfindungen von Lust und Unlust, von Freud und Leid bilden. Vermutlich wurde die Polarisierung beider Wörter als so stark empfunden, daß auch jedes für sich an das entgegengesetzte denken ließ und somit den Text um eine Assoziation bereicherte. In Anlehnung an Beobachtungen der Phonologie und der strukturellen Semantik mag man die Neutralisierbarkeit der Opposition lai /sai erwägen. Als Archilexem, in dem der Gegensatz zwischen lai und sai aufgehoben ist, kommt vor allem die semantisch umstrittene Ortsangabe aizi/aizimen in Frage 11 ; in einer möglichen Interpretation bezeichnet aizi „le lieu d'une conciliation du loin et du près" (Dragonetti S. 143), den idealen Ort „qui n'existe que dans la parole du poème" (S. 147). 2.2.3. Kreuzzugslieder In die altfranzösische Lyrik ziehen oppositive Strukturen besonders über die Chansons de croisade ein, denen Frappier eine Sonderstellung innerhalb der „volkstümlichen Gattungen" (S.5) zubilligt: les chansons de croisade (. . .) possèdent pour la plupart une authenticité lyrique dont il est rare de trouver l'équivalent dans les autres genres. ( S . 7 9 )
In größerer Zahl sind uns diese in enger Beziehung zur politischen Aktualität stehenden Lieder erst seit dem Kreuzzug von 1189 10 Weitere ta/jai-Oppositionen in Lommatzsch S.9f. und 22. 11 Dragonetti 1 9 6 4 ; vgl. Zumthor S . 2 4 1 f ; G h i l S . 2 0 6 f .
29
überliefert. Als Kampflieder verherrlichen sie die Opferbereitschaft der Kreuzfahrer und schmähen die zu Hause Bleibenden. Die Propaganda erfolgt also vorwiegend durch Gegenüberstellung der „Guten" und der „Schlechten", wie in einem Gedicht von Thibaut de Champagne: (19) Or s'en iront cil vaillant bacheler Qui aiment Dieu et l'ennor de cest mont, Oui sagement vuelent a Dieu aler Et Ii morveus, li cendreus demorront; [Maintenant s'en iront les vaillants bacheliers qui aiment Dieu et la gloire de ce monde, ceux qui sagement veulent aller à Dieu; et les morveux, les couards resteront.]! ^
Die daran anschließende Strophe bestimmt die ersteren für den Himmel, die letzteren für die Hölle. Andererseits trägt auch der mutige Kreuzfahrer in sich einen Konflikt, und zwar zwischen der Trauer, seine Geliebte zu verlassen, und der Freude, Gott zu dienen: (20) Bien doit mes cuers estre liez et dolenz 1 "i [Mon cœur a droit d'être joyeux et triste] 1 J
Der Widerstreit der Gefühle spiegelt sich in der geradezu clichéhaften Gegenüberstellung von Herz und Körper: (21) Se li cors vait servir Nostre Seignour, Li cuers remaint du tout en sa baillie. [si le corps va servir Notre Seigneur, le cœur reste en son servage, tout e n t i e r . ] ^
Sämtliche hier beobachteten Oppositionen gehören als Elemente koordinativer Konstruktionen dem Typ (Ta) an.
12 Bédier S . 1 7 2 f . 13 Bédier S.193;vgl. ebd. S.203: „resjoir et doloir". 14 Conon de Béthune, in Bédier S.32. Vgl. Frappier S.87.
30
2.2.4. Chanson courtoise Ganz überwiegend in Koordination erscheint auch, wie die ausführliche Untersuchung von Lavis gezeigt hat 1 5 , das häufige Oppositionspaar joie-dolor in der Chanson courtoise, die nach Frappier die nobelste und raffinierteste der altfranzösischen Lyrikgattungen darstellt (S.92). Anders als die altprovenzalische Liebeslyrik verknüpft die nach deren Vorbild entstandene nordfranzösische Chanson courtoise die Antonymie „Lust-Leid" aber nicht mit einer örtlichen Opposition, sondern mit einer zeitlichen, insofern als eine Form der joie stereotyp mit dem Ausdruck der - als im Gegensatz zum Präsens des lyrischen Sprechens stehenden — Zukunft verbunden ist: le verbe dont joie dépend implique une orientation vers l'avenir, soit par sa signification propre (desirer, esperer, . . .), soit par l'emploi qui en est fait (emploi au futur simple, présence des verbes de modalité vouloir, pouvoir, devoir, etc.). (Lavis S.590)
2.2.5. Nonsense-Dichtung Ein anderer Traditionsstrang der poetischen Verwendung semantischer Gegensätze beginnt mit der Fatrasie, einer Art Nonsense-Dichtung, die Ende des 12. und vor allem im Laufe des 13. Jahrhunderts in der Pikardie blüht. Während der bisher erwähnte Antonymengebrauch in der mittelalterlichen Poesie der Kontrastbildung, d.h. der schärferen Herausarbeitung von Inhalten durch Gegensatzbildung, und damit der perspicuitas dient, zielt semantische Entgegengesetztheit in der Fatrasie umgekehrt auf obscuritas, ja mehr noch, auf Un Verständlichkeit: „La Fatrasie a toujours recherché le texte inintelligible" (Porter S. 102). Die Verknüpfung der Wörter und Sätze erfolgt oft „au fil des associations d'idées" 16 . Insgesamt gesehen enthalten die dieser Gattung angehörenden Gedichte erheblich mehr referentielle Anomalien, also Berichte von „unmöglichen" Geschehnissen und Zuständen, als semantische Ungereimtheiten. Beispiele für diese letzteren auf dem Gebiet der Antonymie sind aber wohl 17 : 15 Lavis 1972; zur Syntax der Antonyme, dort S.217-234;zum Vergleich mit den älteren lyrischen Gattungen, S.592. 16 Picot in La poésie lyrique au moyen âge I, S. 113. 17 Zur Problematik der Unterscheidung zwischen referentiellen und semantischen Anomalien, vgl. Todorov 1966, S. 113ff. Um semantische Anomalie handelt es sich bei (22) nur dann, wenn die unterstrichenen Wörter als entgegengesetzte Werte einer weiblichen Tugendvorstellung verstanden werden. In (22-24) Hervorhebungen von mir.
31
(22) Et une putain pucele Delivree d'un tyrant (Porter S. 128) (23) Uns muiau i vint chanter Sans mot dire a haute haleine. (Porter S. 142) (24) Blanche robe noire (Porter S. 135)
In (22) und (23) stehen die einander widersprechenden Wörter syntaktisch auf verschiedenen Ebenen: pucele und sans mot dire bzw. a haute haleine determinieren das Vorausgehende. In (24) sind die beiden antonymen Adjektive zwar koordiniert, wie etwa liez und dolenz in (20); der inhaltliche Widerspruch ist aber nicht sinnvoll nach dem Interpretationsschema „einerseits — andererseits" oder „teils - teils" aufzulösen. Die syntaktisch-semantischen Modelle von (22) und (23), die unserem Typ (Tb) entsprechen, lassen sich in einer ununterbrochenen poetischen Tradition, vermittelt durch die an die Fatrasie anschließende Gattung des Fatras18, bis ins frühe 17. Jahrhundert und darüber hinaus bis zum Surrealismus verfolgen. Ein Beispiel von Charles d'Orléans ( t 1465) wurde bereits oben (Text (17)) angeführt. In seinem Kapitel über den Topos der verkehrten Welt, der letztlich auf die antiken Adynata („Reihung unmöglicher Dinge in Gedichtform") zurückgeht, zitiert Curtius ein Gedicht von Théophile de Viau ( t 1626), in dem es heißt: (25) Le feu brusle dedans la glace; Le soleil est devenu n o i r ; ^
Wie in (17) sind die antonymen Vorstellungen von Hitze und Kälte auch hier in nicht koordinativer Weise aufeinander bezogen. Der von Curtius nicht erwähnten Fatrasie, aus der oft die naive Freude am Spiel mit dem Unsinn spricht, fehlt zweifellos die metaphysische Dimension von Texten wie (25), die einen „Ausdruck des Grauens" vor dem Chaos dieser Welt darstellen (Curtius S.107).
18 Über die Unterschiede zwischen Fatrasie und Fatras vgl. Porter S. 101 f. 19 Curtius S. 107; Genette 1966, S.19.
32
2.3.
Exkurs: Petrarca
Wegen Petrarcas Bedeutung für die Entwicklung auch der französischen Poesie sei hier ein Blick auf einige sprachliche Strukturen seiner Sonette geworfen. Diese bilden insofern ein Glied in der Formengeschichte der Lyrik Frankreichs, als das italienische Sonett einerseits wesentliche Elemente der Chanson courtoise übernommen hat (Frappier S.8, 102), andererseits petrakistischer Einfluß zahlreiche französische Dichter des 16. Jahrhunderts, darunter Ronsard und Du Beilay, prägte. Noch aus einem anderen Grund verdient Petrarca im Rahmen dieser Untersuchung Beachtung: er vollzog in der Entwicklung seines Individualstiis den für die französische Lyrik der ersten Jahrhunderte charakteristischen Übergang von einer überwiegend nicht-koordinativen, in besonderer Weise narrativen Inhalten angepaßten Syntax zu einer im wesentlichen koordinativen, der Schaffung semantischer Dichte förderlichen Struktur. Auch bei Petrarca zeichnet sich dieser Übergang durch eine verstärkte Verwendung von Antonymiebeziehungen aus. Dámaso Alonso hat mit Hilfe eines einfachen Zählverfahrens zu bestimmen versucht, wieviele semantisch auf der gleichen Ebene stehende Wörter die Sonette des Canzoniere enthalten. Diese Wörter, die sich aufgrund von Ähnlichkeit oder Entgegengesetztheit einem logisch nahen Oberbegriff zuordnen lassen, sind häufig innerhalb des Verses koordiniert, können aber auch in syntaktisch voneinander unabhängigen Sätzen vorkommen. Eine große Zahl der genannten semantischen Beziehungen zeigt für Alonso eine hohe „Komplexität" des Gedichts an; Alonsos Begriff der Komplexität stellt als Summe unserer Relationen (la) und (3a) eine wichtige Teilmenge der semantischen Dichte dar. Da sich die Arbeit an dem 1330 begonnenen Canzoniere über etwa 40 Jahre erstreckt und die Gedichte ungefähr in chronologischer Reihenfolge angeordnet sind, läßt sich an ihnen in groben Zügen die Entwicklung von Petrarcas Stil ablesen. Alonso hat nun entdeckt, daß die Komplexität im ersten Viertel des Canzoniere nur leicht über der in vergleichbaren Gedichten der Stilnovellisten und Dantes liegt, im zweiten Viertel aber in außerordentlichem Maße ansteigt („un enorme e improwiso cambiamento", S.323). Im dritten und im letzten Viertel pendelt sich die Komplexität dann auf eine mittlere Größe ein (S.323-325). Die Ausnutzung der semantischen Relation der Entgegengesetztheit erreicht bei Petrarca Ausmaße (Alonso S. 310-316), wie wir sie 33
aus der italienischen und französischen Literatur bis zu dieser Zeit nicht kennen; eines der bekanntesten Beispiele bietet das Sonett CXXXIV, in dessen erster Strophe bereits 5 Oppositionen des Typs (la) vorkommen: (26) Pace non trovo, e non ho da far guerra; e temo, e spero; e ardo, e son un ghiaccio; e volo sopra '1 cielo, e giaccio in terra; e nulla stringo, e tutto l'mondo abbraccio. [Paix je ne trouve et n'ai à faire guerre, et je crains et espère, et brûle et suis de glace, et vole au ciel et sur la terre gis, et rien n'étreins et tout le monde embrasse.]20
Seltener finden wir auch von Alonso nicht erfaßte Relationen des Typs (lb) , in denen die antonymen Wörter verschiedene Funktionen ausüben, wie innerhalb zweier Oxymora von CCCLI: (27) Dolci durezze, e placide repulse.
Komplizierter liegen die semantischen Relationen in den folgenden Versen des Sonetts CCLXVII, eines der ersten nach Lauras Tod: (28) Et oimè il dolce riso onde uscio '1 dardo di che morte, altre bene ornai non spero! [Hélas le doux sourire d'où jaillit le trait dont mort, et autre bien, ore n ' e s p è r e î j ^ O a
Zwar verhalten sich morte und bene antonym zueinander (Relation (Tb)), das Wort altro reiht den Tod aber unter die „Güter" ein und schafft damit eine Ähnlichkeit (Relation (4a)). Zur Illustrierung verschiedener Formen von semantischer Dichte werden wir im folgenden noch mehrmals auf Petrarca zurückgreifen.
2.4.
Pascal
Während die Bedeutungsopposition in der Poesie Petrarcas und seiner französischen Nachahmer des 16. Jahrhunderts eine wichtige, aber doch nicht die entscheidende Stilfigur darstellt, lebt der französische Aphorismus des 17. Jahrhunderts geradezu von dieser Relation. Bally stellt fest, daß die Antithese einen unentbehrlichen Bestandteil der konzisen und aufgrund ihrer Assoziativität im 20 Vgl. auch die ersten 5 Zeilen von CLXXVIII „ Amor mi sprona", Petrarca S. 158f. ;die Übersetzung Genots orientiert sich an der französischen Sprache des 16. Jahrhunderts (S.51). 20alrreführende Übersetzung! Sinn: „von dem ich Tod, aber kein anderes Gut mehr erhoffe".
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Gedächtnis haftenden maximenhaften Aussprüche bildet, die sich gerade im Französischen großer Beliebtheit erfreuen: Enfin ce même besoin d'associations fixes a pu contribuer à donner aux Français le goût des formules définitives, des maximes frappées comme des médailles (S. 344).
Die Aphorismen der großen französischen Autoren sind deshalb, wie dies die entsprechenden Sammlungen zeigen, in beträchtlicher Zahl zu „geflügelten Worten" geworden. So konnten wir den folgenden Betrachtungen die im Nouveau dictionnaire de citations françaises zusammengestellten Zitate Pascals und zum Vergleich auch La Rochfoucaulds zugrundelegen. Beide Autoren neigen zu den symmetrischen oppositiven Relationen des Typs (Ta) , die häufig sogar durch zwei Antonymenpaare in einem Ausspruch vertreten sind: (29) Vérité au deçà des Pyrénées, erreur au delà. (Pascal 3142) (30) Si vous gagnez, vous gagnez tout; si vous perdez, vous ne perdez rien. (Pascal 3133)
Die Oppositionspaare dieser Sätze (z.B. perdre ¡gagner-, tout/rien) stimmen mit dem allgemeinen Sprachgebrauch überein, sie sind „benutzt". Das doppelte Oppositionsgefüge erlaubt es Pascal aber auch, seiner persönlichen Weltsicht entsprechende Kontraste zu „schaffen" (Typ 2a ); dies gilt für amour und ambition in (31), Dieu und soi in (32): (31) Qu'une vie est heureuse quand elle commence par l'amour et qu'elle finit par l'ambition. (3018) (32) Il faut n'aimer que Dieu et ne hai'r que soi. (3172)
Eine weitere Erhöhung der semantischen Dichte erfolgt durch eine zusätzliche Ähnlichkeitsrelation. Die identischen oder bedeutungsgleichen Wörter sind dann meist chiastisch angeordnet: (33) Il n'y a que deux sortes d'hommes: les uns justes, qui se croient pécheurs: les autres pécheurs, qui se croient justes. (3178) (34) Qu'est-ce que l'homme dans la nature. Un néant à l'égard de l'infini, un tout à l'égard du néant, ( . . . ) (3077)
Diesem Schema fügt das folgende Zitat noch eine weitere Opposition (confusion/tyrannie) hinzu: (35) La multitude qui ne se réduit pas à l'unité est confusion; l'unité qui ne dépend pas de la multitude est tyrannie. (3203)
Zitat (36) kombiniert eine Opposition (perfections/défauts) mit einer Identität (image/image), die sich aber als Wortspiel erweist, da 35
sich image erst von der positiven, dann von der negativen Seite präsentiert und damit seine Fähigkeit zur antonymen Polysemie offenbart: (36) La nature a des perfections pour montrer qu'elle est l'image de Dieu, et des défauts pour montrer qu'elle n'en est que l'image. (3186)
Die weniger „dichten", nur ein Oppositionspaar enthaltenden Sätze Pascals zielen meist darauf ab, die Gemeinsamkeiten von Gegenteilen hervorzuheben: (37) Trop de jeunesse et trop de vieillesse empêchent l'esprit, trop et trop peu d'instruction. (3082)
La Rochefoucauld baut seine Maximen insgesamt gesehen noch systematischer auf Antonymiebeziehungen auf, wobei auch er zusätzliche Ähnlichkeitsrelationen (vgl. (39)) bisweilen in chiastischer Form (vgl. (40)) präsentiert: (38) Chacun dit du bien de son cœur, et personne n'en ose dire de son esprit.
(1994)
(39) Nous aimons toujours ceux qui nous admirent; et nous n'aimons pas toujours ceux que nous admirons. (2046) (40) Il y a des reproches qui louent, et des louanges qui médisent.
(2010)
Der Aphorismus ist nach allgemeiner Auffassung durch eine Verbindung von Kürze und Bedeutungsschwere gekennzeichnet 21 . Lalande definiert ihn als „proposition concise renfermant beaucoup de sens en peu de mots". Der Aphorismus bildet also, wenn wir Gides ebenfalls semantisch dichter — Wesensbestimmung der französischen Klassik folgen, eine typische Erscheinung dieser Epoche: „Le classicisme (. . .) c'est l'art d'exprimer le plus en disant le moins." 22 Im literarischen Aphorismus ergibt sich eine hohe semantische Dichte als Produkt von ausgeprägter Wortarmut und großem semantischen B eziehungsreichtum. 2.5.
Lamartine
So wie für den Aphorismus der Klassik die Ballung von präzise formulierten Antonymien auf engem Raum typisch ist, so fallen die der frühen Romantik zuzurechnenden Gedichte Lamartines umgekehrt durch großflächige Oppositionsstrukturen auf. Zwar konfrontiert auch Lamartine mitunter innerhalb eines kurzen Textabschnitts zwei antonyme Begriffe, wie toujours poussés und jamais . . . jeter l'ancre in der ersten Strophe von Le lac: 21 Zur Bedeutungsgeschichte von „Aphorismus", s. Schalk S. 1-20. 22 Gide S.40.
36
(41) Ainsi, toujours poussés vers de nouveaux rivages, Dans la nuit éternelle emportés sans retour, Ne pourrons-nous jamais sur l'océan des âges Jeter l'ancre un seul jour? (S. 38)
Charakteristischer sind aber mehrere Strophen umfassende, nicht unbedingt auf ein im Text vorkommendes Wortpaar festlegbare semantische Gegensätze zwischen größeren Vorstellungskomplexen. So stellen in L'isolement ( 1818) die 2., 3. und 4. Strophe eine Landschaft (die NATUR) unter euphorischem Vorzeichen dar; die folgende Strophe erbringt einen Bruch, da dieses idyllische Bild von nun an aus der Sicht des dysphorischen ICH umbewertet wird: (42) Mais à ces doux tableaux mon âme indifferente (...)
(S. 3)
Die ausgefeilteste Form solch großflächiger Oppositionen innerhalb der Poesie Lamartines findet sich vermutlich im Gedicht L'Occident (S.341 f., 1830 erschienen), dessen erste Hälfte den Beginn eines Sonnenuntergangs und parallel dazu die elegische Stimmung des betrachtenden Dichters beschreibt; die verwendeten Verben sind durch die Ähnlichkeitsrelation (3a) miteinander verbunden und besitzen als gemeinsamen semantischen Nenner die Vorstellung des Sinkens und Verblassens (abaisser, tomber, plonger, pâlir, défaillir, s'effacer, pâlir, tomber). Die zweite Hälfte des Gedichts schildert die entgegengesetzte Bewegung, das Emporstreben alles noch verbleibenden Lichtes zum westlichen Himmel; die ebenfalls durch Ähnlichkeit verknüpften Schlüsselwörter bezeichnen Licht (éclatant, lumière, feu, lumière, lumière, flamme) und Aufsteigen (voler de la terre, s'élever). Die letzte Strophe verdichtet die großen antithetischen Bereiche („Sinken/Dunkel" RS „Steigen/Licht") zu den beiden antonymen Wortgruppen „la nuit, le jour" und „Flux et reflux" (Relation (fa)). 2.6.
Baudelaire
Sämtliche bisher beobachteten Typen von semantischen Gegensatzbeziehungen finden wir in Baudelaires Fleurs du Mal wieder, die in dieser Hinsicht ein Sammelbecken einer vielhundertjährigen Formengeschichte der Poesie bilden. Es hat denn auch nicht an Versuchen gefehlt, die antithetisch aufgebauten Grundstrukturen von Baudelaires Lexikon aufzuzeigen 23 , wobei aber weniger eine linguistische 23 So ordnet Guiraud den Wortschatz Baudelaires den antithetischen Welten von „azur-
37
Klassifikation als die Beschreibung eines poetisch gestalteten Weltbildes beabsichtigt war. Dieser Abschnitt möchte einen kurzen Uberblick über traditionsgebundene und innovierende Elemente in Baudelaires Verwendung der Antonymierelationen vermitteln. Eine inhaltliche und formale Anlehnung an biblische Modelle (s.o. (14)) findet sich in dem durch strikten Parallelismus gekennzeichneten Gedicht Abel et Caih (CXIX), das die Brüder in 16 Zweizeilern gegenüberstellt: (43) Race d'Abel, chauffe ton ventre A ton foyer patriarcal ; Race de Caïn, dans ton antre Tremble de froid, pauvre chacal!
Der für die altprovenzalische Lyrik typischen Verherrlichung einer unbestimmten Ferne (lai) entspricht Baudelaires là-bas : (44) Mon enfant, ma soeur, Songe à la douceur D'aller là-bas vivre ensemble! (LIII L'invitation au voyage)
Dieses là-bas impliziert, wie Guiraud gezeigt hat (1969, S.93f.), ein antonymes ici. Zahlreich sind auch nicht-koordinative Gegensätze des Typs lb in Form von Oxymora: (45) De terribles plaisirs et d'affreuses douceurs (CXII Les deux bonnes soeurs) (46) la douleur savoureuse (CXXV Le rêve d'un curieux)
„Großflächige" Gegensätze zwischen dem negativ gewerteten Ich und einem euphorisch empfundenen Nicht-Ich kommen u.a. in Elévation (III) und Le mauvais moine (IX) vor. Die ebenfalls bei Lamartine festgestellte textgliedernde Antonymie zweier gegenläufiger Bewegungen bildet sogar ein durchgehendes Strukturprinzip der Fleurs du Mal, wie dies auch Guirauds (1969, S.96, 104) und gaards Ausführungen über die Rolle der vertikalen Dimension bei Baudelaire gezeigt haben: Aufsteigen ist euphorisch, Absinken dysphorisch konnotiert. Es scheint aber, daß dieser Gegensatz nur einen — wenn auch gewichtigen — Sonderfall eines abstrakteren und fundamentaleren Oppositionsverhältnisses darstellt, dem zwischen zwei gouffre" und „mer-paradis artificiels" zu (1969, S.95ff.);vgl. die zahlreichen Schemata zu Baudelaireschen Oppositionsstrukturen in N^jgaard S. 75, 1 0 0 , 1 5 0 f f .
38
„Aktionsarten" in einem weiteren, nicht auf Verben beschränkten Sinne des Wortes: Inchoativa (Beginn, Aufbruch, Auslösung) repräsentieren den positiven Wert, Terminativa (Ende, Ankunft) den negativen. Mit Tesnières Symbolisierung der Bedeutung von Adverbien (S.79) kann man die Inchoativa als Folge von Punkt und Linie ( ) wiedergeben, die Terminativa in umgekehrter Weise (— • ). Das Verhältnis von „Steigen" und „Sinken" bildet einen Teil dieses umfassenderen Gegensatzes auf der Ebene der Aktionsarten; denn einerseits geht die „élévation" (vgl. Gedicht III der Fleurs du Mal) von einer Basis, einem als unglücklich empfundenen Punkt „ici" aus, ist aber als unbegrenzte Bewegung nicht in Bezug auf ein Ende definiert : (47) Envole-toi bien loin de ces miasmes morbides; (Élévation)
das Ziel ist ein Raum, kein Ort: (48) Par-delà le soleil, par-delà les éthers, (ebd.) (49) Tu sillonnes gaiement l'immensité profonde (ebd.)
Andererseits besitzen Tiefe, Abgrund und Hölle einen Endpunkt, einen Boden: (50) J'implore ta pitié, Toi, l'unique que j'aime, Du fond du gouffre obscur où mon coeur est tombé, (XXX De profundis clamavi)
Allerdings kann auch die Höhe als negativer Pol erscheinen, wenn der Himmel nämlich endlich ist und mit einem couvercle oder plafond verglichen wird: LXXVIII Spleen, S. 141 Le couvercle. Im Gedicht geht die terminative Aktionsart der inchoativen grundsätzlich voraus. Hier einige Beispiele 24 , zunächst zu XXXVII Le possédé: (51) Et plonge tout entière au gouffre de L'Ennui; (4. Z e i l e ; - ) Charmant poignard, jaillis de ton étui! (8. Zeile; - )
Zu VII La Muse malade : (52) T'a-t-il noyée au fond d'un fabuleux Minturnes? (8. Z e i l e ; - ) Je voudrais qu'exhalant l'odeur de la santé (9. Zeile; —)
In LVI Chant d'automne
kommt — • durch die Wörter plonger,
24 Das die betreffende Aktionsart ausdrückende Wort wird jeweils unterstrichen.
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tomber, rentrer dans mon être und noch einmal tomber zum Ausdruck; • -— in der letzten Zeile durch départ. Terminativ sind in CXXII La mort des pauvres die Syntagmen C'est le but de la vie, marcher jusqu 'au soir, inchoativ C'est le portique ouvert sur les lieux inconnus (letzte Zeile). Was nun die bisweilen auch isoliert, das heißt ohne ihren Gegenpol vorkommenden Vertreter von — o d e r — angeht, so darf man vermuten, daß für den zumindest intuitiv mit dem semantischen Universum Baudelaires vertrauten Leser das Auftreten einer Aktionsart die Assoziation mit der ihr antonymen impliziert. Die Neuerung dieses Oppositionssystems gegenüber den bis zur Romantik üblichen liegt, wie dies zweifellos auch für weite Bereiche der modernen Lyrik gilt 25 , in seiner größeren Abstraktheit: nicht die einzelnen Lexeme werden in jedem Falle als antonym empfunden, sondern eine durchgehende Oppositionsbeziehung erscheint erst auf der Ebene von Merkmalen (hier inchoativ/terminativ), die der Leser durch Abstraktion aus zwei größeren Gruppen von Wörtern gewinnt. Immerhin sind diese Relationen bereits im lexikalischen System der Sprache angelegt, werden also „benutzt". Ein Beispiel für eine „geschaffene" Opposition des Typs (2a) bieten die Wörter belle und mortels zu Beginn von XVII La Beauté: (53) Je suis belle, ô mortels! Comme un rêve de pierre.
Die Schönheit erscheint im Laufe des Sonetts als kalt und abweisend wie der kalte Stein, und damit auch, der Materie gleich, als unsterblich und ewig: (54) Car j'ai, pour fasciner ces dociles amants, De purs miroirs qui font toutes choses plus belles: Mes yeux, mes larges yeux aux clartés éternelles!
Dieses letzte Terzett verbindet inhaltlich, und lautlich im Reim, die Begriffe von Schönheit (belies) und Unsterblichkeit (éternelles). Damit wird nachträglich auch die semantische Struktur zu Anfang des Gedichts {belle¡mortels) deutlich: da „Schönheit" in eine Ähnlichkeitsbeziehung zu „ ewig" gerückt worden ist, erweist sich „ sterblich", ein gemeinsprachliches Antonym von „ewig", in der Sprache Baudelaires zugleich als Antonym von „schön". Zum Abschluß dieses Überblicks sei daran erinnert, daß Baudelaire bisweilen explizit seine auf Oppositivität beruhenden Assozia25 S.u. 4.5.2., 4.5.3.
40
tionen wiedergibt; so läßt ihn eine häßliche an eine schöne Frau denken: (55) Une nuit que j'étais près d'une affreuse Juive, comme au long d'un cadavre un cadavre étendu, Je me pris à songer près de ce corps vendu A la triste26 beauté dont mon désir se prive.
2.7.
(XXXII)
Von der Kameliendame zur modernen Reklamesprache
In seiner Untersuchung der französischen Reklamesprache mißt Galliot der Antithese trotz ihrer literarisch-rhetorischen Herkunft „un effet toujours très assuré sur la masse" bei (S.480). Daß die gleiche sprachliche Struktur sowohl als „artifice littéraire" (ebd.) wie auch in mitunter recht primitiven Formen der Massenkommunikation Verwendung findet, braucht nicht zu verwundern: das Assoziationspotential der Gegensatzrelation ist nicht an ein qualitatives Niveau gebunden. In diachroner Sicht mag der Übergang bestimmter oppositiver Formulierungen aus dem belletristischen Bereich in die Werbesprache aber auch durch volkstümliche, mehr oder weniger „triviale" Literatur begünstigt worden sein. Ein frühes Beispiel hierfür bietet der 1848 veröffentlichte Roman La Dame aux Camélias von Alexandre Dumas fils. Allein die ersten drei Seiten, auf denen Marie Duplessis („voici une fille ou une duchesse") vorgestellt wird, enthalten 10 Oppositionen des Typs (Ta) , von denen zwei die Entgegengesetztheit explizit hervorheben: „la démarche hardie et décente tout ensemble" (S.7) und „éloquente et rêveuse tout ensemble" (S. 8). All dies schafft, mit den Worten von R. Barthes, „une Littérature qui se voit de loin" (1965, S.61). Von hier ist der Weg zu Formulierungen der heutigen Werbung für Parfüm und Toilettenartikel (s.u. (77/78)) nicht mehr weit. Dumas scheint diesen Stil fiir typisch weiblich zu halten, denn er bemerkt über einen Gesprächspartner der Kameliendame: Il sait parler aux femmes, passant comme elles d'une idée à l'autre, et choisissant les plus opposées. (S.9)
Als gelungenste antithetische Formulierung seines Korpus betrachtet Galliot einen Werbespruch für einen Likör: (56) Fraîche au palais et chaude au cœur.27 26 triste, weil für ihn unnahbar (vgl. Rchois in Baudelaire S.894). 27 S.481. Auf dem gleichen semantischen Prinzip beruht die Selbstdefinition des früheren französischen Premierministers Raymond Barre als „homme carré dans un corps rond".
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Eine Relation des Typs (fa) (fraîche/chaude) induziert hier eine zweite, nicht gemeinsprachliche Antonymiebeziehung zwischen palais und cœur (Typ (fa) ). Weitere Möglichkeiten einer Steigerung der semantischen Dichte über nur eine Opposition hinaus liegen in der Kombination mit anderen semantischen Relationen. So verbindet die folgende Reklame für einen sportlichen Wagen die Antonymie courbes/droites mit der Ähnlichkeitsbeziehung zwischen agresser und violer, wobei diese beiden Verben metaphorisch verwandt werden (Relation (JO)): (57) Un coeur gros de 3 litres pour agresser les courbes et 6 cylindres en ligne pour violer les droites. (Le Monde 8. 11. 1979)
Hohe semantische Dichte weist auch (58) auf, der Einleitungssatz einer Werbung für einen Badezusatz: (58) L'eau douce est devenue dure.
Die Opposition douce/dure wird hier erst durch die Polysemie (Relation nT)) von doux (süß/weich) ermöglicht. Das Auftreten der gleichen Worter in mehreren Relationen, vor allem einer Opposition und einer Beziehung „außerhalb des Textes" (zu unterscheiden von der bloßen Addition voneinander unabhängiger Relationen), bildet geradezu eine Masche der modernen Werbesprache. Sehr gelungen ist in dieser Hinsicht (59) Stella Artois - le sommet du plat pays. (Werbeplakat 1980 und 1981)
mit einer Opposition des Typs (ÎÎ) (sommet/plat pays) und dem — auch — metaphorischen Gebrauch von sommet-, hierzu kommen noch eine Relation der Kontiguität ( (T) ) zwischen der konkreten Bedeutung von sommet und plat pays, da die Referenten beider Wörter in einem sachlichen Verhältnis zueinander stehen, und weiterhin — zumindest für viele Frankophone — eine Anspielung auf Jacques Breis bekanntes Chanson Le plat pays. Auch eine nur scheinbare, wortspielerische Opposition wie inattendu/attendu in (60) kann eine Assoziierung zweier Wörter im Text herbeiführen, da sich die Leser oft erst auf den zweiten Blick darüber klar werden, daß eigentlich kein semantisches Oppositionsverhältnis besteht; unter der eine gewisse Ähnlichkeit hervorhebenden Überschrift „Trois nouveautés pour cette fin d'année" nennt eine Reklame der Firma Lanvin u.a.: (60) Le plus inattendu - un luxueux sac du soir ( . . .) Le plus attendu - Rumeur, dans le classique flacon Lanvin (. . .) (Marie-France, Dezember 1979)
42
Die Verbindung von Opposition und Polysemie stellt wie in (58) auch im folgenden, einem fiktiven optimistischen Arbeitslosen in den Mund gelegten Ausspruch die Voraussetzung für die Entfaltung eines Wortspiels dar: (61) Je travaille au noir qui va bientôt virer au blanc, (politische Werbung, Le Monde April 1981)
Selbst anspruchsvollere journalistische Texte widerstehen nicht immer der Versuchung zur rhetorischen Effekthasche durch semantische Dichte: (62) C'est le 6 août 1945, à 8 h. 15, que la vallée d'Hiroshima, frappée par la foudre atomique, est entrée dans l'histoire mondiale, tout en disparaissant quasiment de (Le Monde, 26.2.1981) la surface de la terTe.
Zu der Gegensatzrelation entrer/disparaître gesellt sich auch hier eine zweite Beziehung (histoire mondiale ¡surface de la terre) die man als Ähnlichkeit („monde"/„terre"), eventuell aber auch als Gegensatz interpretieren kann, insofern als Zeit und Raum als komplementäre Kategorien empfunden werden (s.u. 4.2.). Peinliche Ausmaße nimmt das Grassieren von Antonymien in der Werbung für mehr oder weniger belletristische Literatur an, wo sie geradezu zu den Gesetzen der Gattung gehört 2 8 . Über ein Buch von H. Dufour heißt es u.a.: (63) Toute maternité, tout accouchement est un „cirque", une douleur, une volupté (. . .). Un livre de colère et de tendresse (. . .). Et la jouissance, la souffrance extrême de créer. (F-Magazine, 23. 3.1980)
Einen traurigen Antonymie-Rekord hat die Werbung für den Erfolgsroman von Pascal Jardin, Je te reparlerai d'amour erreicht, die acht Gegensatzpaare enthält: die Heldin ist „infidèle et constante", der Autor „moraliste tendre et féroce" usw. (Le Monde 19. 12. 1975). Bei soviel schwerfälliger Systematik mag man mit dem jungen Romanautor Yves Simon sympathisieren, der unter „Schaffung" eines Oppositionsverhältnisses kurz und bündig als (64) Un enfant de Rimbaud et de Coca Cola
(Le Monde 3. 11. 1978)
vorgestellt wird. Mit diesem Beispiel kommen wir zu einem weiteren, auch von Barthes29 analysierten Gag vor allem werbender, aber auch 28 Weit jenseits der Peinlichkeitsschwelle liegt auch häufig - bei bisweilen bemerkenswert hoher semantischer Dichte - die besonders in Deutschland beliebte Gattung der Wirtshaussprüche, die man auf Holz- oder Tontäfelchen auch in Andenkenläden findet; Beispiel: „Lieber ein Bauch vom Saufen als ein Buckel vom Arbeiten." 29 Barthes 1967, S.229ff.
43
flott journalistischer Sprache im Bereich der Entgegengesetztheit: die Verwendung von Eigennamen als Symbole extrem verschiedener menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten oder Vorlieben. So heißt es in einem Bericht der sich im kurzweiligen Feuilletonstil gefallenden Wochenendbeilage von Le Monde über das Leben von Mönchen in Frankreich: (65) Eux aussi pourtant, comme les héros de Love story, aimaient Mozart et les Beatles, les polars de la „Série noire" ou les films de Jean-Luc Godard. (Le Monde Dimanche, 31. 5. 1981)
Die symbolische Aussagekraft des auch in (66) genannten Eigennamens Mozart wird anscheinend hoch veranschlagt : (66) Elle aime les études et les surprise-parties, Pascal, Mozart et le cool-jazz.^O
Zur Erholung von so viel semantischer Raffinesse zum Schluß nun ein schlichtes historisches Wort von de Gaulle, das im Zusammenhang mit dem Libanon-Krieg im Sommer 1982 in der französischen Presse oft genug zitiert wurde: „Vers l'Orient compliqué, je volais avec des idées simples" (Oster 14577).
2.8.
Ein Sonderfall: das Oxymoron
Wir haben oben (zu (59)) erwähnt, daß zwischen Wörtern eines Textes bisweilen zwei Typen von semantischen Relationen bestehen. Dies ist grundsätzlich beim Oxymoron der Fall, das Opposition und Ähnlichkeit miteinander vermischt. Catulls bekanntes Paradoxon (67) Odi et amo
entspringt, wie Pagliaro ausführt, der Vermutung des Dichters, daß es bei dem „Gegensatzpaar" Liebe und Haß neben der analytisch festgestellten Polarität eine emotional bestimmte Assoziation, vielleicht sogar Kongruenz gebe.-"
Wenn Petrarca von (27) dolci durezze spricht, Baudelaire von (45) affreuses douceurs und (46) douleur savoureuse, so implizieren diese Wendungen, daß sich hinter der Fassade der Gegensätze ein gemein30 Aus einer Modezeitschrift zitiert nach Barthes 1967, S.229. 31 Pagliaro S. 319. In einem größeren metaphysischen Zusammenhang führt Giordano Bruno im 16.Jh. die geheimnisvolle Einheit dieser Gegenteile in expliziter, wenn auch logisch wenig befriedigender Weise aus: „l'amore è un odio, l'odio è uno amore al fine. L'odio del contrario, è amore del conveniente, l'amor di questo è l'odio di quello. In sustanza dumque e radice, è una medesima cosa amore et odio" (Dialogo Quinto, S. 161 ).
44
samer Nenner verbirgt, eine nicht im Sprachsystem offenbare, sondern eine auf der individuellen Erfahrung des Autors beruhende „geschaffene" Ähnlichkeit. Morier weist allerdings zu Recht darauf hin, daß bestimmte Oxymora (etwa soleil noir) durch die literarische Tradition zum Cliché, und damit letztlich zu einem Bestandteil der langue werden können (unter oxymore). Zur Auffindung der Ähnlichkeit ist bisweilen eine metaphorische Deutung beider Glieder des Gegensatzes nötig, etwa im berühmten Wort von der ( 6 8 ) flamme si noire,
das Racines Phèdre auf sich selbst anwendet (Phèdre I, 5). Auch syntaktisch koordinierte Gegensätze können, wenn sie koreferent sind, Oxymora bilden; vgl. (67) und (63) une douleur, une volupté. Das Oxymoron, das also per definitionem zwei semantische Relationen ( (T) + ( 7 ) ) enthält, erfreut sich bei um semantische Dichte bemühten Autoren großer Beliebtheit und stellt schlechterdings eine „solution de la facilité" dar (vgl. (63)). Zur Logik des Oxymorons, s.u. 3.8. Keine doppelte semantische Beziehung, also auch kein Oxymoron, liegt vor, wenn sich die koreferenten Gegensätze als ein „einerseits-andererseits" interpretieren lassen oder sich auf verschiedene Phasen des gleichen Objekts beziehen, wie in ( 6 9 ) Lui, naguère si beau, qu'il est comique et laid!
(Baudelaire: II L'albatros)
Auf der Ebene des puren Gegensatzes bleiben auch die nicht auflösbaren Paradoxien der Unsinndichtung stehen (vgl. (22-24)).
45
3.
3.1.
Die Logik des Gegensatzes
Aussagenlogik, Mengenlehre und Antonymie
Wir haben bisher Gegensatzrelationen vorwiegend unter drei Gesichtspunkten betrachtet: — die Diachronie verschiedener Typen von Oppositionen — das die semantische Dichte steigernde Zusammenwirken einer Opposition mit weiteren Relationen im Satz — das Zusammenfallen von Opposition und Ähnlichkeit in der Beziehung zweier Wörter (Oxymoron). In diesem Kapitel geht es um die Klassifizierbarkeit von im Text aktualisierten Bedeutungsgegensätzen. Eine solche Fragestellung nach der Textlinguistik der Antonymie ist insofern neu, als bisher die im System der langue enthaltenen Oppositionen im Mittelpunkt des Interesses standen 1 . Bei dem im folgenden entwickelten Klassifikationsversuch orientiere ich mich am heuristischen Prinzip einer möglichen Analogie zwischen verschiedenen Arten semantischer Oppositionen und den insgesamt 16 möglichen Beziehungen zwischen zwei Mengen (unter denen sich in Anbetracht der spiegelbildlichen Entsprechungen nur 12 verschiedene Typen befinden). Diesen korrespondieren auch 16 aussagenlogische Operationen zwischen den Sätzen p und q und 16 verschiedene Folgen von vier binären Werten (0000; 0001 usw.). Über die Gleichwertigkeit dieser und anderer Darstellungsweisen innerhalb der Booleschen Algebra berichtet in didaktisch geschickter und allgemeinverständlicher Weise van Hout in einem Werk, das sich die Nutzbarmachung der „modernen" Mathematik für die Grammatikbeschreibung, und vor allem für den grammatischen Schulunterricht zum Ziel gesetzt hat 2 . Jede der so1
Vgl. Lyons' klassische Unterscheidung zwischen „complementary" (male/female), „antonymy" (big/small) und „converseness" (buy/seit) (1969, Kapitel 10.4.) und die daran anschließenden Untersuchungen von Martin (S.59-75) und Gsell 1979. 2 van Hout S. 274ff., vgl. besonders das zusammenfassende Schema S. 286f.
46
eben erwähnten Relationen wird bisweilen auch durch ein Diagramm mit zwei Ellipsen (die Mengen P und Q) innerhalb eines Rechtecks dargestellt, das die Referenzmenge symbolisiert. In den folgenden Diagrammen bezeichnen die nicht schraffierten Flächen leere Mengen. Anmerkung. — An dieser Stelle muß ausdrücklich auf die begrenzten Erkenntnismöglichkeiten unseres Ansatzes in 3.2. - 3.14. hingewiesen werden. Es ist keinesfalls beabsichtigt, sprachliche Oppositionen auf logische bzw. mengentheoretische Beziehungen zu reduzieren oder jene durch diese abzubilden. Ein solches Vorhaben besäße nur dann eine sichere methodische Grundlage, wenn logische Aussagen und Operatoren sowie Mengen und Elemente im Sinne der Mengentheorie eindeutig sprachlichen Größen (Sätzen, Wortbedeutungen, Semen usw.) zugeordnet werden könnten. Inwieweit dies eventuell unter Zuhilfenahme der Modallogik möglich und sinnvoll ist, vermag ich nicht zu beurteilen.3 Wie schon angedeutet, soll hier vielmehr versucht werden, das im mathematisch-logischen Bereich gewonnene Spektrum möglicher Beziehungstypen als Hinweis und Modell für eine mehr oder weniger analog zu denkende Klassifikation sprachlicher Verhältnisse nutzbar zu machen. Sprachliches soll also nicht mit Logischem gleichgesetzt, sondern nur verglichen werden. Jeder Vergleich erfordert aber bekanntlich eine gemeinsame Grundlage. Diese besteht für uns in der Annahme, daß sich die Mengen P und Q des Diagramms in ähnlicher Weise zueinander verhalten können wie Bedeutungen antonymer Wörter (verstanden als Mengen von Merkmalen) oder auch wie die von den Wörtern bezeichneten Mengen von Dingen: sie sind inkompatibel, überschneiden sich, werden beide verneint usw. Innerhalb unseres Vergleichs entspricht die Referenzmenge (das Rechteck) dem „univers du discours"^, das ich im Rahmen der folgenden Untersuchung mit dem Paradigma der antonymen Wörter gleichsetzen möchte. Wenn in manchen Diagrammen die Komplementmenge K der Ellipsen, also der Inhalt des Rechtecks außerhalb der Ellipsen (im folgenden einfach „ Komplementmenge" genannt) leer bleibt (z.B. 3.3.), so entspricht dies im sprachlichen Bereich der Tatsache, daß aus der Sicht des jeweils zitierten Textes weitere, über das Antonymenpaai hinausgehende Elemente des Paradigmas nicht vorhanden sind oder vom Autor ausgeblendet werden. Es obliegt dem Leser zu erschließen, welche Sichtweise des Oppositionsverhältnisses jeweils gegeben ist; diese Bestimmung hängt letztlich von seinem subjektiven Textverständnis ab. Nach dem Gesagten braucht kaum noch präzisiert zu werden, daß der zu entwikkelnde formale Apparat nicht generell für die semantischen Beziehungen der Wörter im lexikalischen System, sondern nur für ihren Gebrauch im gegebenen Text - unter Berücksichtigung des soeben erwähnten paradigmatischen Aspektes - gelten soll. Die Gleichwertigkeit von Mengentheorie und Aussagenlogik erlaubt uns ein zweigleisiges Vorgehen: bisweilen bietet die aussagenlogische Formulierung günstigere Vor3 Einen bemerkenswerten, aber noch nicht ganz überzeugenden Versuch in dieser Richtung wagt die Arbeit von Martin (vgl. meine Besprechung in Zeitschrift fur französische Sprache und Literatur 88 (1978), S.284f). Der Stand der Diskussion läßt insgesamt große Behutsamkeit geboten erscheinen. Ich danke Klaus Baumgärtner für wertvolle Hinweise, die mich (hoffentlich) vor einer allzu unnuancierten Darstellung dieser Problematik bewahrt haben. 4 „Dans la communication linguistique, les interlocuteurs font constamment référence à un univers limité, plus ou moins vaguement convenu. On l'appelle alors univers du discours" (van Hout S. 62). Von Lalande (unter univers du discours) definiert als „ensemble des idées, ou plus exactement des éléments et des classes logiques qui sont pris en considération dans un jugement ou un raisonnement". Vgl. Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie unter universe of discourse (Gegenstandsbereich).
47
aussetzungen für die Erschließung eines sprachlichen Sachverhalts (z.B. der Operator für „entweder - oder", 3.3.), bisweilen die mengentheoretische Formulierung (vgl. den Durchschnitt zweier Mengen, 3.12.). Um ein Höchstmaß an intuitiver Einsichtigkeit zu erreichen, werden meist beide Notierweisen vorgestellt, hinter denen sich also nicht zwei verschiedene Konzeptionen der Semantik verbergen. Im Titel der Unterkapitel erscheinen die aussagenlogischen Symbole.
Wenn die vorstehenden erheblichen Einschränkungen mitbedacht werden — und dies muß wegen zahlreicher vereinfachender Ausdrucksweisen im Verlaufe des ganzen Kapitels geschehen - können wir nun verkürzend formulieren: es soll gelten, daß die Mengen P und Q, repräsentiert durch die Ellipsen, antonymen Wörtern im Text entsprechen; diese können als Mengen semantischer Merkmale, in manchen Fällen (z.B. 3.14.) aber besser extensional als Referenz auf außersprachliche Wirklichkeit verstanden werden. Der Gesamtinhalt des Rechtecks („univers du discours") ist mit dem jeweiligen Paradigma vergleichbar.
3.2.
pvq
Der banalste Fall der Entgegengesetztheit zweier nicht koreferenter Wörter im Text läßt sich darstellen durch das Diagramm
in dem nur der Durchschnitt von P und Q leer ist. Dies entspricht aussagenlogisch der Inkompatibilität (p und q können nicht gleichzeitig wahr sein, also p / \ q ) oder auch der Disjunktion zweier verneinter Sätze (p v q; nicht-p und/oder nicht-q), definierbar durch die folgende Wahrheitstafel, von der ausgehend sich — auch hier in Anlehnung an van Hout - die Beziehung zwischen der aussagenlogischen Formulierung und dem obigen Diagramm verdeutlichen läßt: p wahr wahr falsch falsch
48
q wahr falsch wahr falsch
pvq falsch wahr wahr wahr
Der Satz p v q ist also nur dann falsch, wenn p und q beide wahr sind; dieser „Falschheit" entspricht der leere Durchschnitt von P und Q im Diagramm. Gilt dagegen nur p, ist der Satz wahr; dementsprechend ist P (abgesehen vom Durchschnitt) schraffiert. Das gleiche gilt bei alleiniger Wahrheit von q (Schraffur von Q). Wahr bleibt der Satz auch, wenn p und q beide falsch sind (Schraffur der Komplementmenge K). In Bezug auf das Diagramm können wir auch sagen: etwas kann nicht gleichzeitig P und Q sein, wohl aber entweder P oder Q, oder auch keins von beiden. Ein sprachliches Beispiel, dessen Erläuterung nun notgedrungen pedantisch wirkt, bieten beau und laid in (69) Lui, naguère si beau, qu'il est comique et laid!
Nur zwei entgegengesetzte und nicht miteinander zu vereinbarende Zustände des Albatros werden festgehalten, ohne daß der Text allerdings suggeriert, in der Vorstellungswelt Baudelaires müsse der Albatros entweder häßlich oder schön sein: das potentielle Vorhandensein von anderen - natürlich im Text nicht aktualisierten — Elementen des Paradigmas der ästhetisch wertenden Adjektive wird nicht ausgeschlossen (entsprechend der nicht leeren Komplementmenge). Die gleiche Überlegung gilt auch für nicht konträr entgegengesetzte, sondern nur miteinander kontrastierende 5 Wörter wie amour und ambition in (31).
3.3.
pwq
Wenn dagegen tertium non datur, also neben den beiden antonymen Begriffen eine weitere Möglichkeit ausgeschlossen ist, bleiben der Durchschnitt von P und Q sowie die Komplementmenge leer und wir haben es aussagenlogisch mit einer Alternative zu tun:
5
Kontrastierend im Sinne von Lyons' „incompatibility" (1969, S.458-460).
49
und pécheurs einteilt. Die Grenzen zwischen den beiden bisher genannten Typen sind allerdings in der Realität der Texte oft fließend und interpretationsabhängig: es kommt vor, daß sich der Horizont eines Autors unter subjektiver Ausblendung aller anderen, tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten auf eine Alternative zu konzentrieren scheint 6 ; so suggeriert Baudelaire in (70) Comme d'autres par la tendresse, Sur ta vie et sur ta jeunesse, Moi je veux régner par l'effroi. (LXIII Le revenant)
die durch die vorangehenden 11 Zeilen leicht abzustützende, aber ihm so nicht unterstellbare Auffassung, in der Liebe sei Herrschaft nur durch tendresse oder effroi möglich.
3.4.
p v q; p v q
Während bei der Alternative beide Optionen logisch gleichberechtigt sind, besitzt in der folgenden Situation eine der beiden Möglichkeiten infolge ihrer größeren Extension das Übergewicht:
Im linken Diagramm bildet die leere Teilmenge von Q die markierte Lösung. Als Beispiel möge Pascals Opponierung von „pyrrhonisme" und „dogmatisme" dienen: (71) Voilà la guerre ouverte entre les hommes; où il faut que chacun prenne parti, et se range nécessairement ou au dogmatisme ou au pyrrhonisme; car qui pensera demeurer neutre, sera pyrrhonien par excellence. (. . .) Qui n'est pas contre eux, est excellemment pour eux. (Pascal, Fragment 129, S. 80)
Angenommen, im linken Diagramm repräsentiere P „pyrrhonisme" und Q „dogmatisme". Um sich nun nach Pascal als „pyrrhoniste" zu erweisen, genügt es, sich nicht ausschließlich (also auch unter Vermeidung des Durchschnitts von P und Q) zu Q zu bekennen. Bei allen anderen Lösungen (P, Durchschnitt, Komple6
50
Vgl. MartinS. 70.
mentmenge) gilt „pyrrhoniste" — was zeigt, wie schmal in Pascals Augen die Basis des Rationalismus („dogmatisme") ist.
3.5.
pAq
Die Verneinung beider Möglichkeiten unter Beibehaltung der Komplementmenge, die dem Diagramm
und der Konjunktion der Negationen von p und q (p A q) entspricht, findet sich zum Beispiel in (72) Et jamais je ne pleure et jamais je ne ris. (Baudelaire XVII La Beauté)
In (73) wird nach Verneinung der Oppositionen {chasteté/mariage) eine neutralere dritte Möglichkeit (continence), die der Komplementmenge zuzuordnen ist, auch explizit genannt: (73) Mais que dira-t-on qui soit bon? La chasteté? Je dis que non, car le monde finirait. Le mariage? non: la continence vaut mieux. (Pascal)7
3.6.
Von unglücklicher Liebe . . .
Handelt es sich bei den verneinten Gegensätzen um Alternativen, so erscheint eine Situation (wie in dem oben (26) schon zitierten Sonett CXXXIV Petrarcas) als völlig aussichtslos, weil dilemmatisch: (74) Pace non trovo, e non ho da far guerra; (...)
egualmente mi spiace morte e vita.
Das zugehörige Diagramm weist auch die Komplementmenge als leer auf, da eine dritte Möglichkeit nicht in Frage kommt: 7
Zitiert nach Nouveau dictionnaire de citations françaises, 3159. Die Einengung der Sicht auf die drei Begriffe entspricht einer - allerdings letztlich widersprüchlich scheinenden - „Schaffung" von Relationen.
51
3.7.
. . . und blinder Leidenschaft
Den umgekehrten, in Literatur- und Werbesprache bedeutsameren Fall bildet die totale Bejahung nicht nur des Gegensatzpaares, sondern auch, mehr oder weniger implizit, aller anderen denkbaren Möglichkeiten:
So wie die vorgenannte Situation den logischen Rahmen für die Beschreibung der ausweglosen Liebe abgibt, so eignet sich diese zur Verherrlichung der totalen Liebe: ( 7 5 ) Q u e ce soit dans la nuit et dans la solitude, Q u e ce soit dans la rue et dans la m u l t i t u d e , Son f a n t ô m e dans l'air danse c o m m e un f l a m b e a u . (Baudelaire XLII)
Der Gegensatz solitude:multitude und die analogisch induzierte, geschaffene Opposition nuit.rue laufen auf ein totalisierendes „immer und überall" hinaus. Linguistisch und inhaltlich ähnlich zu beurteilen ist ( 7 6 ) T o u t de toi m'est plaisir, m o r b i d e ou p é t u l a n t ; Sois ce q u e tu voudras, nuit noire, rouge aurore; (Baudelaire XXXVII Le possédé)
Auf einem anderen thematischen Bereich bildet dieser Oppositionstyp das durchgehende Strukturprinzip des Sonetts Le couvercle, das das Ausgeliefertsein aller Menschen vor dem „mystère" behandelt (Baudelaire S. 141). Formal Ähnliches findet man auch in Reklametexten: 52
(77) Un jour folle, un jour grave Toute en rires, puis toute en larmes. Réaliste ou romantique ou encore désinvolte . . ., à votre heure. Soyez vous-même ces jours-là. Pourquoi pas? (Werbung für Monatsbinde von Juvenia, Marie France, Dezember 1979) (78) Etre une femme, c'est aimer la vie. Aimer rire aux éclats et rêver en secret. C'est avoir des passions de femme et des regards d'enfant. (Parfum „Cabriole" von Elizabeth Arden)
Die Strategie dieser Texte, wie die von (66), liegt auf der Hand: sie sollen dem potentiellen Käufer die Illusion vorspiegeln, seine Welt sei nicht der eintönige graue Alltag, sondern die widersprüchliche Fülle menschlicher Möglichkeiten. Die Parfumreklame schlachtet diesen werbepsychologischen Grundgedanken mit einiger Systematik aus 8 .
3.8.
pvq
Ist nicht die Gesamtheit des „univers du discours", sondern nur die Einheit der Gegenteile anvisiert, haben wir es mit der Vereinigung von P und Q bzw. mit der Disjunktion zweier Sätze (p v q, p und/oder q) zu tun:
Sprachüch kommen zwei verschiedene Fälle vor: — sind die Gegensätze nicht koreferent, so insistiert der dem Diagramm entsprechende Satz auf ihrer gemeinsamen Wirkung gegenüber einem Dritten: (79) L'affection ou la haine change la justice de face. (Pascal, Nouveau dictionnaire . . . 3091; vgl. ( 3 7 ) )
Die Konjunktion ou spiegelt hier getreu die Bedeutung des nichtaus8
Blumenthal 1979a, S. 160.
53
schließenden logischen „oder" (= v) wider: zu Ungerechtigkeit führen sowohl affection als auch haine, aber natürlich auch das gemeinsame Auftreten beider Gefühle. — bei Koreferenz der Gegenteile liegt dagegen meist die oben behandelte Struktur des Oxymorons vor 9 . Wie schon ausgeführt, verbindet sich im Oxymoron Ähnlichkeit, repräsentiert durch den Durchschnitt von P und Q, mit Entgegengesetztheit. Diese letzte Relation stellt immer eine Form der Negation dar: die Elemente des Oxymorons verneinen sich zumindest partiell, bevor beide Bedeutungen zu einer Einheit verschmolzen werden. Die für das Oxymoron typische Schaffung eines gemeinsamen Bedeutungskerns (s.o. 2.8.) fehlt in einer anderen Form des Paradoxons, die aber ebenfalls der Vereinigung von P und Q entspricht; ein Beispiel bietet der Werbeslogan der Leihwagenfirma Citer: Réservé à tous (Le Monde 4. 12. 1981). Hier wird nicht etwa „billige" Demokratisierung gepredigt, was einer Verwässerung der Bedeutung von „réservé" gleichkäme (es läge dann eine in Kap.3.9. beschriebene Figur vor). Behauptet wird vielmehr eine „Vereinigung" der happy few — denen normalerweise etwas „reserviert" ist — und der großen Zahl der normalen Sterblichen im Rahmen des Citer-Kundendienstes: „La carte Citer offre des services privilégiés à tous" (ebd.) 1 0 .
3.9.
q; p
Nun gibt es eine Stilfigur, die nur einen Teil des Wirkungsmechanismus des Oxymorons, nämlich die partielle Verneinung der Bedeutung eines Wortes durch ein anderes, beinhaltet. Die Art der semantischen Opposition — und dies muß vor Nennung von Beispielen kurz erläutert werden — ist hier allerdings anders als im Falle des Oxymorons. Bei diesem scheinen sich beide Wörter logisch auszuschließen (vgl. Morier unter oxymoron). Das würde aber nicht für die Begriffe „Hochsommer" und „Kälte" gelten, deren Gegensätzlichkeit nicht primär logisch-semantisch, sondern empirisch begrün9
Der Analyse „p v q" liegt ein bestimmtes Verständnis des Oxymorons zugrunde, das nicht unbestritten ist. Zur Diskussion, vgL Groupe 1970, S.120f und zum Spezialfall der Interpretation von Phèdres flamme si noire Genette 1969, S. 142. Zum Oxymoron bei Baudelaire, Cellier 1965. 10 Eine extreme und besonders brüsk formulierte Variante des Paradoxons findet sich im abschließenden Satz eines Artikels aus Le Monde über die ersten Begegnungen Mitterands mit israelischen Politikern bei seiner Israel-Reise im März 1982: „Tout avait été dit, mais rien n'avait été dit et tout restait à dire." (5.3.1982).
54
det ist: im Hochsommer ist es erfahrungsgemäß eben im allgemeinen warm. Ob nun solche sachlichen Informationen im Sprachwörterbuch ihren Platz haben, weil sie in einem weiteren Sinne doch zur Bedeutung gehören (s.u. Kap.8. Konnotation), oder ob sie ins enzyklopädische Wörterbuch, also ins Konversationslexikon verbannt werden müssen, wie dies die Lexikologen meist entschieden verlangen 11 , darüber scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen. Tatsache ist jedenfalls, daß solche Implikationen für rhetorische Oppositionen nutzbar gemacht werden; im folgenden zwei Beispiele aus den Fleurs du Mal : (80) La froide cruauté de ce soleil de glace (XXX De profundis clamavi) (81) Un soleil sans chaleur (ebd.)
Normalerweise impliziert „soleil" die Vorstellung von Wärme. Die Determinationen de glace und sans chaleur in (80/81) negieren also einen nicht unbeträchtlichen Teil des Bedeutungsgehalts von soleil, was im Diagramm — wenn auch in unbefriedigend bleibender Weise (s.u.) — durch leeres P (= „soleil") bzw. leeres Q (wenn Q = „soleil") dargestellt werden könnte:
Diesem Modell entsprechen auch (82) Des baisers froids comme la lune (LXIII Le revenant) (83) Le mort joyeux (LXXII, Sonettitel)
Die Adjektive negieren hier jeweils semantische Implikationen des Substantivs, etwa die Vorstellung, Küsse seien etwas Erotisches und nicht „kalt". Die Notierung P bzw. Q (p bzw. q) ist insofern bedenklich, als sie nur ein Glied der Opposition aufführt und damit der sprachlichen Situation nicht gerecht wird. Sie gewinnt aber an Plausibilität, wenn man bedenkt, daß in den Zitaten gerade der üblicherweise als wesentlich betrachtete Teil der Bedeutung eines Wortes durch die Determinierung verloren geht oder sogar 11 Vgl. Hausmann S.35ff.
55
in sein Gegenteil verkehrt wird. Eben dies geschieht in einem ganz unpoetischen Bereich typischerweise dann, wenn jemand in der Wahl seiner polemischen Wörter zu weit gegangen ist und nachträglich beschwichtigend behauptet, seine Äußerung sei so nicht gemeint gewesen. Ein treffendes Beispiel hierfür bietet die Erklärung, die sich R.Debray, offizieller Berater von Präsident Mitterand, nach seiner Polemik gegen B.Pivot, den Leiter der literarischen Fernsehsendung „Apostrophes", abzugeben genötigt sah. Debray hatte diese Sendung als „monopole, arbitraire et dictature" bezeichnet. Le Monde vom 21.10.1982 gibt Debrays Entschuldigung wie folgt wieder: (84) Sur les trois mots de „monopole, arbitraire et dictature", le conseiller du président a fait ce commentaire: „Le monopole: oui, le monopole de fait qui n'est pas protégé par une loi, mais par un talent, un talent sans concurrence. (. . .) Arbitraire: oui, inhérent à tout choix. Dictature: non (. . .).
Die gewundene Präzisierung der Redebedeutung von monopole sollte so eine Attacke in ein Kompliment verwandeln, was nur über eine Umwertung und semantische Aushöhlung des Wortes möglich war. Wenn die durch das vorstehende Diagramm bezeichneten Gegensätze nicht koreferent sind, haben wir es mit der in der Werbesprache sehr beliebten (Galliot S.76) Struktur „nur P (und nicht Q)" bzw. „nur Q (und nicht P)" zu tun, die aber rhetorisch nur geringes Interesse besitzt.
3.10. p; q Das gleiche gilt von der umgekehrten Situation, in der nur P (= „alles außer P") bzw. nur Q leer sind.
3.11. p A q ; p A q Ist anders als im Falle des Dilemmas (vgl. (74)) nur das eine Glied der Opposition von nicht koreferenten Wörtern verneint, wird angesichts einer Alternative explizit die richtige Lösung gegeben: (85) Ce que peut la vertu d'un homme ne se doit pas mesurer par ses efforts, mais par son ordinaire. (Pascal, Nouveau dictionnaire . . . 3135) (86) C'est le cœur qui sent Dieu et non la raison, (ebd. 3140)
56
Dem entsprechen in der Aussagenlogik p A q ( p und nicht-q) und in der Mengenlehre
3..12. p A q Ein großer Teil der Pascalschen Fragmente, und darunter wohl die bekanntesten Zitate, entwerfen aber nicht eine Ethik der scharfen Konturen oder der Unversöhnlichkeit (vgl. (33/71) ), sondern predigen einen mittleren Weg der Weisheit, gleich fern von den Extremen (vgl. (73/79)): (87) Deux excès: exclure la raison, n'admettre que la raison, (cbd. 3136)
Diese goldene Mitte wird symbolisiert durch PnQ, also den Durchschnitt beider Mengen :
fortsetzen: (88) Qu'est-ce que l'homme dans la nature. (. . .) Un milieu entre rien et tout. (ebd. 3077; vgl. ( 3 4 ) ) (89) Rien que la médiocrité n'est bon. (Pascal, Fragment 576, Bd.II S.88) (90) L'homme n'est ni ange ni bête, et le malheur veut que qui veut faire l'ange fait la bête. (Nouveau dictionnaire . . . 3155)
„Ni ange ni bête" verweist hier nicht auf die Komplementmenge, sondern hebt das Gemeinsame — oder die Anlage zu beidem — hervor.
57
3.13. p < » q Ist bei der Bildung des Durchschnitts von P und Q die Komplementmenge nicht leer, stehen wir vor der Verneinung der Alternative (s.o. 3.3.):
Aussagenlogisch entspricht dem die Äquivalenz, d.h. die gegenseitige Implikation von p und q (p q). Sprachlich trifft dieses Verhältnis auf manche Identifizierungen von Gegenteilen zu, etwa auf einen den französischen Romantikern unterstellten Wahlspruch: (91) Le laid c'cst le b e a u ^ .
Nach dem obigen Diagramm interpretiert, bedeutet diese Devise, daß es nichts Schönes gibt, was nicht zugleich auch häßlich wäre und umgekehrt. Da hier nur die Alternative verweigert wird, ist die Komplementmenge nicht leer 13 . Die einzelnen Analogien innerhalb des in diesem Kapitel angedeuteten sprachlich-logischen Parallelismus besitzen zweifellos unterschiedlichen Erkenntniswert. Sie bieten aber nützliche Anhaltspunkte für eine Klassifikation der Antonymie im Text und erlauben es somit u.a., die für einen bestimmten Autor typischen Oppositionsverhältnisse herauszuarbeiten. Schließlich mag es bei manchen Interpretationsproblemen auf diesem Bereich nützlich sein zu wissen, welche Deutungsmöglichkeiten theoretisch in Frage kommen.
3.14. „Esprit de finesse" vs „esprit de géométrie" Problematisch und mit Hilfe unserer formalen Mittel nicht adäquat darstellbar ist Pascals bekannte Gegenüberstellung des esprit de finesse und des esprit de géométrie (Fragment 570). Deren heute 12 Vgl. die Karikatur „La grande chevauchée de la postérité" von G.Grandville. 13 Die aussagenlogische Äquivalenz ist auch dann wahr, wenn beide Teilsätze falsch sind.
58
wohl am weitesten verbreitete Interpretation, die nach Verblassen aller Nuancen übrigbleibt, mit denen der Literaturunterricht diese Opposition umgeben haben sollte, besteht in der für das Menschengeschlecht durchaus schmeichelhaften Meinung, Pascal zufolge gehöre im Prinzip jede Person entweder der einen oder der anderen Geistesart an, tertium non datur (p w q; vgl. 3.3.). Manche Zitate Pascals scheinen diese Deutung zu stützen, so der - allerdings nicht von ihm eigenhändig niedergeschriebene — Satz „II y a deux sortes d'esprits" (Fragment 569). Fragment 570 enthält aber die nachträglich dem Manuskript hinzugefügte Bemerkung „Mais les esprits faux ne sont jamais ni fins ni géomètres." Dieses Zitat weist auf eine dritte Gruppe von Menschen hin (tertium datur) und führt uns z u p v q (3.2.) zurück, wobei die esprits faux die Komplementmenge bilden. Die Situation p v q entspricht dem Bild von der Meinung Pascals, das der Zitatenschatz des Dictionnaire de citations françaises widerspiegelt. In Wirklichkeit läßt Pascal aber in seltenen Fällen auch eine Kombination von esprit de finesse und esprit de géométrie zu: „Et ainsi il est rare que les géomètres soient fins et que les fins soient géomètres" (Fragment 570). Diese Gesamtsituation durch eine Vereinigung der beiden Mengen (vgl. 3.7. oder 3.8.) darzustellen, würde eine falsche Vorstellung erwecken, da die Verbindung der konträren Geistesarten, ein mehr oder weniger widerwillig konzedierter Ausnahmefall, auf einer anderen Ebene als die übrigen Möglichkeiten liegt. Pascals Schwanken zwischen zwei Sichtweisen des logischen Verhältnisses beider esprits wird auch an einer von ihm vorgenommenen Korrektur des Manuskripts deutlich: den Satz „ce qui fait que les géomètres ne sont pas fins" (= Inkompatibilität) veränderte er in „ce qui fait que des géomètres ne sont pas fins" (ebd.), was die Möglichkeit einer Kombination von esprit de finesse und esprit de géométrie unterstellt. Die vorstehenden Beobachtungen sollten nicht zuletzt zeigen, daß auch Oppositionen eine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte haben können: der Zustand des Manuskripts läßt die stufenweise Herausarbeitung eines recht differenzierten Oppositionstyps erahnen, der in der literarischen Erinnerungswelt der meisten Franzosen, die dem Text auf der Schule begegnet sind, vermutlich wieder auf ein wenig nuanciertes „entweder — oder" abgesunken ist; der von Oster herausgegebene Zitatenschatz nimmt in diesem Vereinfachungsprozeß eine mittlere Position ein.
59
4.
Ähnlichkeit
4.1.
Explizit oder implizit
Die fundamentale Bedeutung der Erkennung von Ähnlichkeiten in unserer Erfahrung der Wirklichkeit hat Hofstätter so formuliert: Das Sachverhältnis der Ähnlichkeit steht am Beginn eines jeden Ordnungsschemas, auf ihm basieren die meisten unserer induktiven Schlußfolgerungen. (S.54)
In den hier untersuchten Texten spielt Ähnlichkeit als semantische Relation aber eine geringere Rolle, als man dies aufgrund etwa von Jakobsons Äußerungen über den Grundcharakter poetischer Sprache (s.o.) hätte annehmen können, eine geringere Rolle auch als das soeben behandelte Gegensatzverhältnis 1 . Dies liegt nicht etwa an einer zweitrangigen poetischen Bedeutung von Ähnlichkeitsbeziehungen schlechthin, sondern daran, daß diese oft nicht als semantische Relationen im oben definierten Sinne erscheinen, sondern als explizit mit Hilfe von verschiedenen syntaktischen und lexikalischen Mitteln ausgedrückte Inhalte. Einen erheblichen Anteil an diesen Mitteln hat der Vergleich, dessen Funktion eben darin besteht, Ähnlichkeiten zwischen zwei Sachverhalten oder Objekten ausdrücklich hervorzuheben. Frappante Beipiele dafür, daß Vergleichungen durch die Konjunktion comme die Gesamtstruktur des Gedichts beherrschen können, bieten zahlreiche Sonette von Du Bellay („Comme on passe en été . . ."; „Comme le champ semé . . .") und Ronsard („Comme un chevreuil . . „Comme on voit sur la branche . . .") 2 . Die logische Entsprechung des Vergleichs auf der Seite der Entgegengesetztheit, die etwa durch die Konjunktion „anders als" artikuliert werden könnte, gehört nicht zum Kanon poetischer Sprache; die Ähnlichkeit
1
2
60
Ich gehe hier nicht auf die Wiederholungen von identischen Wortstämmen, Wörtern oder Syntagmen ein, die recht banale Grenzfälle von Ähnlichkeit bilden und gemeinhin mit den Begriffen Anapher, Epipher, Gradatio und Refrain gefaßt werden. Lagarde/Michard S.104, 107, 137, 141.
tendiert hier also zur expliziten, die Opposition zur impliziten Darstellung (durch semantische Relationen). Die lexikalischen Möglichkeiten zur vergleichenden Annäherung zweier Wirklichkeiten sind schier unbegrenzt. Sie erfolgt über das Verb in der reklamesprachlich so beliebten „définition-slogan" vom Typ le sport c'est la santé, die den ersten Begriff pseudo-defïnitorisch unter den zweiten subsumiert (vgl. Bellenger S. 38); über das Verb auch in (92) Et l'on peut pour cela te comparer au vin. (Les Fleurs du Mal, XXI Hymne à la Beauté) (93) Les parfums, les couleurs et les sons se répondent, (ebd. IV Correspondances)
und über ein Nomen (miroir) in (94) Homme libre (. . .) La mer est ton miroir (ebd. XIV L'homme et la mer)
Ähnlichkeitsbeziehungen dieser Art liegen wohlgemerkt außerhalb unseres Untersuchungsbereichs. Sie sind wesentlich häufiger und meist auch offensichtlicher als die hier zu beschreibenden semantischen Relationen der Ähnlichkeit, auf die wir zum Beispiel in der folgende Strophe des Gedichts Liberté von Eluard treffen: (95) Sur les sentiers éveillés Sur les routes déployées Sur les places qui debordent J'écris ton nom. (S. 101)
„Ähnlich" sind hier zunächst die beiden parasynonymen Wörter sentier und route, die sich einerseits zusammen mit place im konkreten Sinne als Verkehrswege, andererseits im übertragenen Sinne in Eluards semantischer Welt als Symbole für „Begegnung" den gleichen Begriffsfeldern zuordnen lassen 4 .
4.2.
Verhältnis zu Antonymie und Kontiguität
Bevor wir nun auf verschiedene historische Realisierungen der Ähnlichkeit eingehen, sei eine kurze Betrachtung über ihr logisches Verhältnis zu Antonymie und Kontiguität vorausgeschickt 5 .
3 4 5
Die Vorstellungen von Spiegel und Reflexion werden im Surrealismus zu beliebten Schaltstellen zwischen verschiedenen Realitäten. Zur Bedeutung von .Platz" und .Straße" bei Eluard, vgl. Jean S.60-62, 76. Zum folgenden Raible 1981, Kap. 3.1.2.1. und 3.1.2.2.
61
Antonymie bildet insofern einen Spezialfall von Ähnlichkeit, als ein Gegensatz nur auf der Grundlage einer Gemeinsamkeit möglich ist; so repräsentieren die Wörter „schön" und „häßlich" entgegengesetzte Pole einer Skala ästhetisch wertender Adjektive. Auch Ähnlichkeit und Kontiguität sind begrifflich durchaus vereinbar und können sich sogar gegenseitig bedingen. Der gleiche Sachverhalt mag als Kontiguität oder als Ähnlichkeit verstanden werden. So stehen die Teile eines materiellen Ganzen einerseits in räumlicher Nähe zueinander, andererseits lassen sich ihre Namen dem gleichen Oberbegriff unterordnen, was eine Form von semantischer Ähnlichkeit (Hyponymie) darstellt. Man denke beispielsweise an die im frühen 16. Jahrhundert beliebten Blasons (aufzählende Beschreibungen) des weiblichen Körpers: die genannten Körperteile sind „benachbart" und ihre Bezeichnungen bilden Hyponyme. Die Unschärfe und Subjektivität in der Grenzziehung zwischen den Relationen hat Auswirkungen auf der Ebene der ihnen zugeordneten Stilfiguren: „Die Grenzen zwischen Metonymie und Metapher sind fließend", stellt Lausberg (§ 225) fest. 6 In der Organisation des Wortschatzes entspricht dem die Tatsache, daß das durch Kontiguität entstehende Sachfeld und das auf Ähnlichkeit und Opposition beruhende Wortfeld sich überschneiden (Kielhöfer 1981, S.63). Wie problematisch die Unterscheidung zwischen beiden Relationen bei Abstrakta sein kann, wird am Beispiel von „Zeit" und „Raum" deutlich. Je nach dem - nicht unbedingt auf philosophischer Reflexion beruhenden — Standpunkt des Beurteilers tritt im Verhältnis dieser Begriffe der Aspekt der Ähnlichkeit 7 oder der sachlichen Kontiguität 8 in den Vordergrund. Eine dritte Ursache der Assoziierung beider Wörter kann darin liegen, daß sie zur Bezeichnung mancher Theorien stereotyperweise nebeneinander verwendet werden (sprachliche Kontiguität), z.B. in der „RaumZeit-Welt" der Relativitätstheorie; bezeichnenderweise führt Lalande ein Stichwort Espace-temps auf. Bei Baudelaire erklärt sich das gemeinsame Auftreten von „Raum" und „Zeit" vertretenden Wörtern (s.u. 10.2.) aus einem Gefühl für die ihnen gemeinsame 6 Wie die Grenze theoretisch verlaufen müßte, zeigt Groupe y anschaulich an Hand zweier Diagramme auf ( 1970, S. 118). 7 Vgl. Lalande unter Temps, C: „Milieu indéfini, analogue à l'espace . . . " 8 Wenn Raum und Zeit in ihrer Komplementarität als „grundlegende Existenzformen der Materie" gesehen werden (vgl. Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie unter Raum und Zeit.
62
Eigenschaft des Unbegrenzten (vgl. auch Poulet S.406f): ( 9 6 ) Ils traversent ainsi le noir illimité, Ce frère d u silence éternel. (XCII Les aveugles)
Prévert verdeutlicht in Le Jardin sowohl die Ähnlichkeit von Raum und Zeit (beide enthalten extrem große und kleine Einheiten) als auch ihre Gegensätzlichkeit, insofern als die im Gedicht realisierte Abfolge „große Zeiteinheit — kleine Zeiteinheit - kleine Raumeinheit — große Raumeinheit" chiastisch, und damit antithetisch (vgl. Lausberg § 392) konstruiert ist: ( 9 7 ) Des milliers et des milliers d ' a n n é e s Ne sauraient suffire Pour dire La petite seconde d ' é t e r n i t é O ù t u m'as embrassé Où j e t'ai embrassée Un matin dans la lumière de l'hiver A u parc Montsouris à Paris A Paris Sur la terre La terre qui est un astre. (Prevert S. 195)
Die Entgegengesetztheit von Raum und Zeit unterstreicht auch ein Sprachwissenschaftler, der von einer „dichotomie fondamentale de la pensée, l'espace et le temps" spricht (G.Moignet: Systématique de la langue française, Paris 1981, S. 55). Da Antonymie ein Sonderfall von Ähnlichkeit ist und diese bisweilen mit Kontiguität zusammenfällt, müssen sich auch Antonymie und Kontiguität verbinden können. Zitat (98) wird dies konkret nachweisen. 4.3.
Hinweise zur Diachronie
Antonymie läßt sich zwar, wir wir gesehen haben, logisch von Ähnlichkeit ableiten, innerhalb der Poesiegeschichte Frankreichs erscheint das Prioritätsverhältnis zwischen beiden Relationen aber umgekehrt: Ähnlichkeit als semantische Relation tritt in den frühesten Gedichten nicht selbständig, sondern nur als Funktion von Entgegengesetztheit auf. Mehr oder weniger ausgeprägte Ähnlichkeitsstrukturen kommen in den Gedichten des 12. und 13. Jahrhunderts oft dadurch zustande, daß sich die Glieder von aneinandergereihten Antonymenpaaren jeweils Oberbegriffen oder abstrakteren Kategorien wie „positiv" und „negativ" zuordnen 63
lassen. Dies gilt in Ansätzen schon für das rätselhafte 9 Gedicht Farai un vers de dreyt nien des 1071 geborenen Guillaume de Poitiers; die meisten der dort verwandten Oppositionspaare unterliegen der gleichen polaren Wertung 10 : „positiv" joyeux familier bien agréer droit
/ / / / /
„negativ" triste revéche mauvais déplaire tort
Auch die folgenden Zeilen aus den um 1195 entstandenen Vers de la mort des Mönches Helinand opponieren eine „positive" Wortgruppe (rose, grain, farine, purs vins) einer negativen: (98)
Mörz desoivre rose d'espine Paille de grain, bren de farine Les purs vins de faus armoisiez.' '
Eine zusätzliche semantische Relation besteht hier in der Kontiguität von rose/espine, paille/grain und bren/farine. Rutebeufs in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfaßtes Spottgedicht auf die Beginen (Dit des Béguines) führt eine systematische Gegenüberstellung von „Weltlichem" (linke Vershälfte) und „Sakralem" (rechte Vershälfte) durch: (99)
Sa parole est prophétie; (...) S'el pleure, dévotion; S'elle dort, elle est ravie; S'el songe, c'est vision; (...) Cet an pleure et cet an prie, (. • •) Or est Marthe, or est Marie; (Poésie lyrique au moyen âge II, S. 72f.)
Ähnliche Zuordnungsmöglichkeiten können in den bereits oben zitierten Ausschnitten aus (16) Je meurs de soif und (26) Face non trovo beobachtet werden. Nach dem gleichen Prinzip stellt Du Beilay in den Terzetten seines bekannten Sonetts Heureux qui comme Ulysse Rom seinem heimatlichen Anjou gegenüber. Solche Ähnlichkeiten zwischen aufeinanderfolgenden Oppositionspaaren sind zu einem der häufigsten Konstruktionsprinzipien 9 Vgl. aber die Deutung von Rieger 1975. 10 In der folgenden Liste stütze ich mich auf die Übersetzung von Jeanroy. 11 Zitiert nach Sabatier S. 204. Polarisierte Ähnlichkeit und Kontiguität mischen sich in noch komplexerer Weise (da die Vereinigung der Gegensätze in der Person des Dichters behauptet wird) in Les Fleurs du Mal LXXXIII LTieautontimoroumenos, 6. Strophe.
64
des modernen Chansons geworden. Man denke etwa an Les grands principes von Guy Béart oder an Voir von Jacques Brei: (100) Voir la rivière gelée Vouloir être au printemps Voir la terre brûlée Et semer en chantant (...) Voir le gris des faubourgs Vouloir être Renoir (S.74)
Hier enthalten jeweils zwei Zeilen einen negativ und einen positiv gewerteten Pol einer Situation. Die Umkehrung dieser Aufeinanderfolge von Oppositionspaaren, nämlich die Opponierung zweier Gruppen von bedeutungsähnlichen Wörtern, haben wir schon im Gedicht L'Occident von Lamartine kennengelernt (s.o. 2.5.). Beide Konstruktionsweisen stellen ein sicheres Rezept für die Erreichung einer hohen semantischen Dichte dar, was sie, wie dies im modernen Chanson offensichtlich ist, leicht zu einer routinehaften Technik werden läßt. Eine Mischform mit noch weiter gesteigerter semantischer Dichte bietet Edith Piafs Et pourtant, das ähnliche Opponierungen bedeutungsähnlicher Wortgruppen aneinanderreiht (S. 142f). Innerhalb der hier skizzierten literarischen Tradition der Verbindung von Ähnlichkeits- und Gegensatzbeziehungen ist auch der Beginn des Gedichts Les Collines von Apollinaire zu sehen: (101)
Au-dessus de Paris un jour Combattaient deux grands avions V un était rouge et 1' autre noir Tandis qu' au zénith flamboyait L'éternel avion solaire L' un était toute ma jeunesse Et P autre c' était P avenir Ils se combattaient avec rage Ainsi fit contre Lucifer L' Archange aux ailes radieuses Ainsi le calcul au problème Ainsi la nuit contre le jour Ainsi attaque ce que j' aime Mon amour ainsi P ouragan Déracine P arbre qui crie
(S.171)
Über die Bedeutung von Gegensätzen im Gesamtwerk des Dichters sind wir gut unterrichtet (vgl. Lautenbach S.23ff). Im zitierten Text finden sich fünf oder sechs Oppositionen, teils geschaffene, teils benutzte; z.B. rouge/noir, Lucifer/Archange, nuit/jour etc. Diese Antonymenpaare sind nun durch Koreferenz (L'un ..., Et l'autre...) 65
oder explizit angegebene Ähnlichkeit (Ainsi...) miteinander verbunden. Unklar bleibt aber, in welcher Weise die analoge Zuordnung erfolgen soll: bezieht sich etwa jeunesse auf rouge (parallele Konstruktion) oder auf noir (Chiasmus)? Auch eingehende Deutungen des Gedichts führen hier kaum weiter (vgl. Schleifenbaum S. 177f). Der interpretierende Leser ist gezwungen, selbst verschiedene auf Ähnlichkeit beruhende Klassenbildungen zu erproben und die Grade der Analogie zwischen den einzelnen Wörtern zu vergleichen. Die für Apollinaire typische Ambiguität der Formulierung (s.u. 6.4.) erhöht also letztlich die Zahl der zumindest potentiellen semantischen Relationen und damit die semantische Dichte des Textes.
4.4.
Probleme der unvermischten Ähnlichkeit
Nicht mit Oppositivität vermischte Ähnlichkeit von Wörtern scheint in poetischer Sprache relativ selten zu sein: hier drohen offensichtlich Redundanz und Fadheit, denen etwa die mittelfranzösische Ballade Solitude von Christine de Pisan nicht völlig entgangen ist 1 2 . In der oben (95) zitierten Strophe aus Eluards Liberté wird diese Gefahr durch den Bedeutungsüberschuß der Symbol ^route/sentier/place aufgefangen. Eine syntaktisch bedingte Verfremdung (Lausberg §334) und damit Vorbeugung gegen Monotonie durch einfaches Aneinanderreihen von Ähnlichem stellt das besonders bei Petrarca und den Petrarkisten beliebte Rapport-Schema dar, das zwei oder mehr Serien bedeutungsähnlicher Wörter enthält; dabei stehen die Wörter einer Serie untereinander im gleichen semantischen Verhältnis („Rapport") wie die ihnen syntaktisch zugeordneten Wörter der weiteren Serie 1 3 . Das folgende, auch von Alonso (S.336ff.) behandelte Beispiel stammt aus Petrarcas Canzoniere: (102) Amor m'ha posto come segno a strale, corne al sol neve, come cera al foco, e come nebbia al vento; [Amour m'a mis comme cible à la flèche, comme au soleil la neige, comme cire au feu, et comme brume au vent;]
(CXXXIII, S.158f.)
Der „Rapport" kann verdeutlicht werden durch die Gleichung: strale: segno = soi : neve = foco : cera 12 Poésie lyrique au moyen Sge II, S.102f; zur Ähnlichkeit zwecks amplificatio, vgl Faral S.67. 13 Vgl. Curtius S. 290; Lausberg § 335.
66
Die Ähnlichkeitsbeziehung besteht hier nicht nur zwischen einzelnen Wörtern (z.B. strale, sol und foco als „Liebeswaffen"), sondern auch, wie durch = angedeutet, in den Verhältnissen. Aber auch die Ähnlichkeit in (102) ist wegen der semantischen Relation der sachlichen Kontiguität zwischen „Liebeswaffen" und „Opfern der Waffen" nicht wirklich unvermischt.
4.5.
Geschaffene Ähnlichkeit
Ähnlichkeiten der beobachteten Art lassen sich alle dadurch definieren, daß Wörter nach dem spontanen Empfinden des durchschnittlichen Sprechers einem Oberbegriff (linguistisch: einem „Archilexem") oder einer allgemeineren Kategorie (einem „Klassem") zugeordnet werden können. Solche Ähnlichkeiten sind bereits in der Struktur des Lexikons angelegt und werden vom Dichter nur „benutzt". Eine ungleich größere Bedeutung besitzt in modernen semantisch dichten Texten, besonders in denen des 20. Jahrhunderts, „geschaffene" Ähnlichkeit. Diese bildet aufgrund ihres subjektiven Charakters den Versuch einer partiellen Neukategorisierung der Realität, die uns bereits durch unsere Wahrnehmungsgewohnheiten und das lexikalische System der Muttersprache in kollektiver Weise vorkategorisiert ist. Zwei große Fallgruppen sind zu unterscheiden: das Gemeinsame wird entweder durch ein unterstelltes Allgemeineres (Oberbegriff, Archilexem, Klassem) oder durch ein in den Wörtern enthaltenes semantisches Merkmal repräsentiert. Es sei allerdings gleich hinzugefügt, daß die scheinbar präzise Terminologie („Klassem", „Merkmal" (=„Sem")) nicht über eine gewisse Schwäche der strukturellen Semantik hinwegtäuschen sollte: diese Begriffe sind noch nicht so definiert worden, daß sich zweifelsfrei ermitteln ließe, was in Bezug auf ein bestimmtes Wort Klassem und was Sem ist. Mangels schärferer Erkenntnis scheint auch hier zumindest vorläufig die opportune Lösung in der Annahme zu bestehen, daß die Übergänge fließend sind. 4.5.1. Koordination von Disparatem Der erste Fall läßt sich an Voltaires Ausspruch (103) Je savais du latin et des s o t t i s e s . ^ 14 Zitiert nach Seguin S. 12.
67
exemplifizieren. Die Koordination von latin und sottises genügt, um den Leser zur Suche nach Gemeinsamkeiten zu veranlassen, denn „toute coordination requiert une certaine unité de sens entre les termes qu'elle coordonne" (Cohen 1966, S. 168). In der von Voltaire anvisierten „unité de sens" wird latin von der negativen Bedeutung des Wortes sottises miterfaßt oder sogar als Spezialfall von sottises verstanden. Die poetische Wirkungsmöglichkeit solcher Konstruktionen wird an dem von Cohen zitierten (1966, S.177) schönen Vers von Garcia Lorca (104) Sucia de besos y aiena [Sale de baisers et de sable]
deutlich, oder an Lausbergs Camus-Zitat (105) Un décor étrange de silence, d'eau et de pierres. (§325, „semantisch kompliziertes Zeugma")
Die grundlegende Bedeutung des in Frankreich seit der Romantik systematisch verwandten poetischen Verfahrens, disparate Wörter zu koordinieren, um so die Suche nach Analogien zu erzwingen, ist schon ausführlich analysiert worden 1 5 . Das gleiche Prinzip findet in der Textsorte „Witz" Verwendung: (106) C'est une hôtesse de l'air sensationnelle. Elle s'approche du passager et elle lui dit: - Thé, café, coca-cola ou moi?
(Nègre, Witz Nr.282)
Als vom Text suggerierter Oberbegriff fungiert hier die Vorstellung des Konsumierbaren 1 6 . Geschaffene Ähnlichkeit als Quelle der Komik kommt auch in den Witzen vom Typ „Was ist der Unterschied zwischen . . . ?" zur Geltung: (107) Quelle différence y a-t-il entre Nounours à la télé et la pilule? Aucune: tous les deux disent „Au revoir" aux petits enfants.
(Petitjean S. 13)
Der Witz gerät zum Sarkasmus in Bismarcks angeblichem Ausspruch (vgl. Die Zeit vom 27. 8. 1982): „Wer weiß, wie Gesetze und Würste zustande kommen, der kann nachts nicht mehr ruhig schlafen." Auch oder kann Unzusammenhängendes koordinieren, so in dem (über mehrere deutsche Städte zu hörenden) Spruch: „In Münster regnet es oder die Glocken läuten." Die Reklamesprache läßt sich dieses Mittel zur Erreichung semantischer Dichte nicht entgehen. Im Werbetext einer Reiseagentur, die sich in ihrem Profil offensichtlich von Organisatoren braver Familienund Gesellschaftsreisen abheben möchte, heißt es: 15 Besonders Cohen 1966, S.165-198; vgl. auch Todorov 1966, S.118. 16 Zum komischen Effekt der .falschen" Koordination, vgl. Guiraud 1976, S. 28.
68
(108) Pour certains c'est le sexe ou l'héroïne pour nous, c'est le voyage.
(Nouvel Observateur 802, 1980)
Zwar ist hier durch die Gegenüberstellung von certains und nous auch eine oppositive Komponente angelegt, im wesentlichen soll aber wohl voyage aufgrund eines gewissen Ähnlichkeitsbezugs (Oberbegriff „évasion") an der Aura von sexe und héroïne teilhaben und damit entbanalisiert werden. Ob die Ähnlichkeit zwischen sexe, héroïne und voyage als „benutzt" oder „geschaffen" empfunden wird, hängt weitgehend vom persönlichen Hintergrund und vor allem von der literarischen Bildung des Interpreten ab. Der Leser von Baudelaires Fleurs du Mal und Paradis artificiels wird in (108) das Wiederaufleben eines Clichés, und damit eine benutzte Ähnlichkeit zu erkennen glauben. Das Prinzip der logisch inkohärenten Aufzählung wird schließlich auch in der politischen Rhetorik benutzt, wie der folgende Satz Mussolinis zeigt: (109) Io Ii invito ad uscire e cercarsi più liberté, più aria, più umanità, più socialismo. (25.11.1914, zitiert nach Leso S.146)
4.5.2. Gemeinsames Sem Bei der zweiten Fallgruppe liegt die Ähnlichkeit in einem Sem, genauer gesagt, in einem vom Dichter „entdeckten" gemeinsamen semantischen Merkmal von Wörtern, deren Referenten verschiedenen Wirklichkeitsbereichen zugehören. Dieses Sichtbarmachen von gemeinsamen Semen ist in Frankreich als poetisches Verfahren wohl erst durch den Surrealismus in Mode gekommen. Betrachten wir als einführendes Beispiel die zweite Strophe von Jacques Breis Chanson Le plat pays: (110) Avec les cathédrales pour uniques montagnes Et de noirs clochers comme mâts de cocagne Où des diables en pierre décrochent les nuages Avec le fil des jours pour unique voyage Et des chemins de pluie pour unique bonsoir Avec le vent d'ouest écoutez-le vouloir Le plat pays qui est le mien.
(S.121)
Das in der Alltagssprache irrelevante gemeinsame Element von clochers, mâts, fil des jours und chemins besteht in der Linearität, die vertikal, zeitlich oder horizontal realisiert wird. Diese Dimensionen bleiben allerdings isoliert, setzen sich nicht zu einem räumlichen Ganzen zusammen. Die Linearitäten symbolisieren also Eindimen69
sionalität, deren Trostlosigkeit durch wiederholtes unique unterstrichen wird. Die Ähnlichkeit ist insofern „geschaffen", als sie im Sprachsystem keine Rolle spielt: der Sprecher stellt bei seiner sprachlich bestimmten Kategorisierung der Welt normalerweise nicht die Referenten der genannten Wörter aufgrund ihres gemeinsamen Merkmals zusammen. Bisweilen knüpft geschaffene Ähnlichkeit nicht einmal mehr an ein objektiv vorhandenes Sem an, sondern erklärt sich nur noch aus der den Worten und Dingen vom Autor verliehenen symbolischen Bedeutung, wie in einer Strophe von Liberté: (111) Sur la vitre des surprises Sur les lèvres attentives Bien au-dessus du silence J'écris ton nom.
(Eluard S. 102)
Im Wort vitre, ähnlich wie in fenêtre, klingt für Eluard die Möglichkeit an, den anderen sichtbar zu machen, ihn zu enthüllen 1 7 . Daß lèvres ebenfalls eine Hindeutung auf Kommunikation und Kontakt enthält, ist leicht nachvollziehbar. Dieses symbolische Bedeutungselement beider Wörter weist damit in die gleiche Richtung wie der Inhalt der dritten Zeile: die Überwindung des Schweigens. In Texten wie (110/111) kann die Entdeckung der in der Semiotik auch Isotopie (s.u. 6.5.) genannten Wiederholung identischer Seme zu dem „plaisir spirituel" führen, das Greimas vor allem in der Beobachtung zweier Isotopieebenen innerhalb des gleichen Textes zu erkennen glaubt 1 8 . 4.5.3. Analogischer Druck Ist Schaffung von Ähnlichkeit, so wie die von Entgegengesetztheit (s.o. (9) ), auch durch analogischen Druck erreichbar? Die folgenden beiden Verse aus Poésie ininterrompue: (112) Comme une pluie entre deux feux Comme une larme entre deux rires
(Eluard S. 124)
enthalten im Ansatz ein Rapport-Schema zwischen den Substantiven: pluie : feux = larmes : rires Zwischen pluie und larme besteht aufgrund des Merkmals „Wasser" eine semantische Affinität, die dem Leser suggeriert — und hier 17 J e a n S . 6 8f. 18 Greimas 1966, S.71.
70
wirkt der analogische Druck —, auch zwischen den beiden anderen Substantiven eine Gemeinsamkeit zu suchen. Nun haben R.Jean und J.P.Richard gezeigt, daß rire und jeu in Eluards Wortschatz eine Schlüsselrolle besitzen 19 : feu steht auch für — insbesondere erotisch bestimmte — Lebensfreude, rire für „bonheur et plaisir dans l'amour" (Jean S.76); beide Wörter werden auch in anderen Gedichten aufeinander bezogen (Richard 1964, S. 118). Als systemsprachliches Argument für eine Gemeinsamkeit zwischen feu und rire ließen sich noch die Kombinationsmöglichkeiten beider Substantive mit dem Verb éclater anfügen 20 . Unsere Überlegungen zu den letzten Zitaten dürften verdeutlicht haben, daß weite Bereiche der geschaffenen Ähnlichkeit den vornehmlichen Untersuchungsgegenstand der thematischen Literaturkritik bilden.
4.6.
Verbindung mit Metaphorik und Kontiguität
Eine weniger hermetische und auch in der modernen Sprache der Reklame und der Massenmedien gängige Erscheinungsform der Ähnlichkeitsrelation liegt in ihrer Kombination mit einer Ersetzungsfigur, besonders der Metapher — oft unter Einmischung eines Oppositionsverhältnisses (vgl. auch 2.7.). So lautet der Text einer Cognac-Reklame, auf der man neben einem gefüllten Glas eine Männer- und eine Frauenhand in zarter Berührung sieht: (113) Une larme de Courvoisier pour un flot de souvenirs. (Nouvel Observateur 802,1980)
Der familiäre metaphorische Ausdruck une larme de wird im Petit Robert umschrieben mit „très petite quantité de liquide"; metaphorisch ist auch die Wendung un flot de souvenirs. Die semantische Relation der Ähnlichkeit zwischen larme und flot beruht auf dem beiden Wörtern gemeinsamen Sem „Flüssigkeit". Die semantische Dichte wird noch durch die hinzukommende Gegensatzrelation zwischen larme und flot (kleine vs große Menge) erhöht. Während es sich bei der Beziehung larme/flot um benutzte Ähnlichkeit bzw. Opposition handelt, bildet die von den Werbefachleuten angestrebte Annäherung von Courvoisier und souvenirs, die unter dem analogischen Druck der Relation larme/flot 19 Jean S.59, 74-76; Richard 1964, S.118f.; vgL Kloepfer S.94-97. 20 Zu rire/éclater vgl. die Zitate bei Richard 1964, S. 119, Jean S. 76.
71
erfolgt, eine geschaffene Ähnlichkeit. Die Verbindung von eventuell mit Oppositivität vermischter Ähnlichkeit und Metaphorik ist eine der stilistischen Hauptattraktionen einer Reihe von französischen Magazinen fur ein weibliches und sich eher jung fühlendes Leserpublikum, wie 20 ans, F-Magazine und auch Marie Ciaire. Hier der Vorspann eines Artikels aus 20 ans: (114) Comment passer du cachet d'aspirine au caramel en brûlant l'étape de l'écrevisse à l'Anglaise? Comment éviter qu'une jeune fille en fleur se transforme en vieux loup de mer après un mois de vacances au soleil? En huit questions, 20 ans a mis un spécialiste du soleil sur le gril. (Juli 1980, S.51)
Schon der erste Satz bietet ein Musterbeispiel dieser Gattung: die Ähnlichkeitsrelation zwischen den metaphorisch gebrauchten Wendungen cachet d'aspirine, Caramel und écrevisse beruht auf ihrem gemeinsamen Oberbegriff „Eßbares". Gelungen ist, nebenbei bemerkt, auch die durch den Kontext bedingte Resemantisierung der durch Idiomatisierung verblaßten Metapher brûlant (l'étape). Im Titel des Artikels: En plein soleil gardez la tête froide.
liegt eine Kombination von Metaphorik ( t ê t e ! f r o i d e ) und Antonymie (soleilIfroid) vor, während der letzte Satz wiederum idiomatische Metaphorik (sur le gril) mit Ähnlichkeit („Hitze" als gemeinsames Merkmal von soleil und gril) verknüpft. Selbst die Nachrichtensendungen von France-Inter schrecken nicht vor dem billigen Effekt der hier besprochenen semantischen Dichte zurück: (115) Les Toulousains qui voient rouge et broient du noir devant la peinture rose. (5. Mai 1981)
Die semantische Konstruktion des ersten Satzes von (114) bildet einen Sonderfall der „fortgesetzten Metapher", der „métaphore filée" 2 1 > die sich, allerdings ohne die für (114) typische Überfrachtung mit Sprachclichés, auch in der Poesie findet: (116) Quel Dieu, quel moissonneur de l'étemel été Avait en s'en allant négligemment jeté Cette faucille d'or dans le champ des étoiles.
Diese berühmten letzten Zeilen aus Victor Hugos Gedicht Booz endormi (in La Légende des Siècles)22 , die metaphorisch auf den Mond (Cette faucille d'or) verweisen, enthalten Wörter, die zwei 21 Vgl. Morier unter simile. Riffaterre 1969, S.48 zur Assoziativität. 22 Auch von Guiraud 1968, S.478f. und Cohen 1966, S.224 analysiert.
72
verschiedenen inhaltlichen Bereichen zugehören, einem „himmlischen" (Dieu, éternel, étoiles) und einem „ackerbaulichen" (moissonneur, été, faucille, champ). Die Ähnlichkeitsbeziehung, die hier schwächer ausgeprägt ist als in (114), erschöpft sich in diesem recht vagen, teilweise auch auf Kontiguität 23 gestützten Verweis auf ein Wort- bzw. Sachfeld. Erst der den Text durchziehende Kontrast zwischen den beiden Feldern läßt die Gemeinsamkeiten zwischen den jeweils semantisch zusammengehörenden Wörtern hervortreten. Nicht ohne Skrupel möchte ich hier an der Nahtstelle der Kapitel über Ähnlichkeit und über Kontiguität Beispiele für einen wohl relativ neuen und noch wenig abgenutzten Typ von Werbetexten einführen, der wegen seiner Komplexität auch an verschiedenen anderen Stellen dieses Buches, und vor allem im Kapitel über Konnotationen, eingeordnet werden könnte: (117) Vin de Pays ist steile Mittagssonne und Rast unter Bäumen ist Kopftuch und verschmitzter Blick ist Krug und frisches Weißbrot ist französischer Landwein ist Leben und Lebenlassen. (Freundin 20, 1982)
Syntagmatische Ähnlichkeit erscheint hier allerdings nicht in Form von semantischen Relationen; sie wird vielmehr explizit durch die Kopula ist behauptet, deren genaue semantische Funktion aber nicht in allen Fällen leicht zu ermitteln ist. Bei den hervorgehobenen Wörtern Vin de Pays und französischer Landwein drückt sie ohne Zweifel einen Sonderfall von Ähnlichkeit aus, nämlich Äquivalenz. Von diesem eindeutigen semantischen Verhältnis geht ein analogischer Druck auf die übrigen isi-Beziehungen aus, so daß auch etwa auf die Beziehung zwischen Vin de Pays und steile Mittagssonne ein Verdacht von partieller Ähnlichkeit fällt, der den interpretierenden Leser nach einem möglichen tertium comparationis suchen läßt und ihm eventuell den Weg zu einer metaphorischen Erklärung andeutet. Andererseits besteht aber zwischen Vin de Pays und Mittagssonne ¡Rast/Krug/Weißbrot usw. eine Beziehung der Kontiguität, die durch das Reklamephoto (Winzer und Winzerin vor einer sonnigen südfranzösischen Weinlandschaft) ausdrücklich hervorgehoben wird. Das Prinzip dieses Typs semantischer Dichte liegt also in der Einbindung von Kontiguität in Ähnlichkeitsbezüge. Das gleiche semantische Modell, das 23 Hamon bezeichnet die métaphore systèmes métonymiques" (S. 165).
filée treffend als „mise en équivalence de deux
73
eine enge Entsprechung von Text und Bild verlangt, findet sich auch in der folgenden Auto Werbung: „Une Opel au petit matin, c'est la rosée qui glisse sur ses lignes aérodynamiques, c'est une porte qui se ferme dans un bruit étouffé (. . L'Expansion 1980). Tau und Wagentür stehen als Berührendes bzw. Teil in Kontiguität zum Auto, sie werden aber zugleich auch durch c'est in eine vage Ähnlichkeits- oder Identitätsbeziehung gerückt. Die in (117) angedeutete, aber nicht wirklich durchgeführte Metaphorik (ob das Prädikat steile Mittagssonne ein „eigentlich" gemeintes Wort ersetzt, bleibt zweifelhaft) sowie die anders geartete „Symbol"-Beziehung zwischen Vin de Pays und Leben und Lebenlassen, in der nun umgekehrt das Subjekt zum Zeichen für etwas zu werden scheint, werden in Abschnitt 8.5. (Konnotation) genauer behandelt.
74
5.
Kontiguität
5.1.
Sachliche Kontiguität heißt nicht „Beschreibung"
Wie schon ausgeführt (1.6.2.), ist die semantische Relation der Kontiguität begrifflich komplexer als Opposition und Ähnlichkeit, da sie sowohl sprachlich widergespiegelte Verhältnisse der Außenwelt als auch rein Innersprachliches umfaßt („sachliche" vs „sprachliche" Kontiguität). Beispiele für die Erreichung semantischer Dichte durch sachliche Kontiguitätsbeziehungen wurden bereits mehrfach angeführt (4.2.; (98/102)). Das schon in mittelfranzösischer Lyrik verwandte Prinzip der Nennung von Teilen eines Ganzen, z.B von Körperteilen im Blason, findet sich auch in modernen poetischen Texten wieder. So lautet eine Strophe des schon öfter zitierten Gedichts Liberté: (118) Sur mon chien gourmand et tendre Sur ses oreilles dressées Sur sa patte maladroite J'écris ton nom. (Eluard S. 101)
Guy Béart besingt in seinem Chanson Que j'aime „ta voix", „ta main", „ton corps" und „tes yeux" (SS. 165f.). In Toulouse1 erwähnt Claude Nougaro einige Wahrzeichen und charakteristische Orte der Stadt: (119) L'eau verte du canal du Midi Et la brique rouge des Minimes (...) L'église Saint-Sernin illuminée le soir
Aufzählungen dieser Art könnten mit Beschreibungen (im Sinne der Rhetorik) verwechselt werden, insofern als sich auch Texte des deskriptiven Typs auf Gegenstandsbereiche richten, deren Elemente durch räumliche Zusammengehörigkeit gekennzeichnet 1
Abgedruckt in Vogel S. 81 f.
75
sind 2 . Der Unterschied liegt in der stilistischen Intention des Autors und ist insofern mit objektiven linguistischen Kriterien kaum zu fassen: die rhetorische Figur der descriptio zielt auf Anschaulichkeit (evidentia) des mehr oder weniger systematisch entworfenen Gesamtbildes 3 , während Texte von der Art (98/102/ 118/119) den Leser nicht nach der Devise ut pictura poesis zur Mitschau einladen wollen, sondern die Aktivierung assoziativer Verbindungen zwischen den Bezeichnungen einzelner Teilelemente erstreben. Im Gegensatz zu den soeben aufgeführten Zitaten scheint mir — subjektiv — Beschreibung im angegebenen Sinne des Wortes vorzuliegen in Georges Moustakis Chanson Le Métèque, das ebenfalls Körperteile nennt, aber mit dem Ziel eines anschaulichen Gesamtbildes; hier ein Ausschnitt: (120) Avec ma gueule de métèque De juif errant de pâtre grec Et mes cheveux aux quatre vents Avec mes yeux tout délavés Qui me donnent l'air de rêver^
Die hier vorgeschlagene Unterscheidung spielt in dem im übrigen grundlegenden Werk von Hamon (Introduction à l'analyse du descriptif) keine Rolle; der Autor neigt zu einer quantitativen Ausweitung und apologetischen Aufwertung der Deskription, die für ihn infolge ihres „réseau sémantique à forte densité" grundsätzlich poetische Züge trägt 5 . Formal unterscheidet sich die Kontiguitätsbeziehung nur dann von der Beschreibung, wenn die miteinander assoziierten Wörter nicht zum gleichen semantischen Paradigma gehören. Dies gilt für défaite und Sainte-Hélène in dem Chanson Une (le von Serge Lama, aus dem hier die zweite und vierte Strophe zitiert werden 6 : (121) Ce serait là, face à la mer immense Là sans espoir d'espérance Tout seul face à ma destinée Plus seul qu'au cœur d'une forêt Ce serait là dans ma propre défaite Tout seul sans espoir de conquête Que je saurais enfin pourquoi Je t'ai quittée moi qui n'aime que toi.
2 3 4 5 6
76
Vgl. Todorov 1968, S.131f. Vgl. Lausberg § 369; Plett S.50ff. Zitiert nach Vogel S.89. S.167f.; siehe auch S.7, 265. Lama S.140f.; auf dieses Chanson hat mich eine Seminararbeit von Mlle C.Esnaid aufmerksam gemacht.
Ce serait là, face à la mer immense Là pour venger mes vengeances Tout seul avec mes souvenirs Plus seul qu'au moment de mourir Ce serait là au cœur de Sainte-Hélène Sans joie, sans amour et sans haine Que je saurais enfin pourquoi Je t'ai quittée moi qui n'aime que toi.
Innerhalb einer Struktur, in der die beiden Strophen Zeile für Zeile aufeinander bezogen werden, kann die kausale Kontiguität (die Niederlage von Waterloo verursachte die Verbannung) zwischen défaite und Sainte-Hélène nicht verborgen bleiben. Sie fällt um so mehr auf, als sie von den zahlreichen vorausgehenden semantischen und syntaktischen Ähnlichkeitsrelationen absticht. Im Gegensatz zu diesen ist die genannte - ohne jeden Zwiefel ebenfalls „benutzte" — Kontiguität nicht von der Struktur des Lexikons her, sondern nur aufgrund der Weltkenntnis des Hörers erfaßbar.
5.2.
Sprachliche Kontiguität
Eine Assoziation aufgrund von innersprachlicher Kontiguität liegt in den ersten Zeilen des Chansons Les filles et les chiens von J.Brei vor: (122) Les filles C'est beau comme un jeu C'est beau comme un feu (S. 154)
Die syntaktisch voneinander völlig unabhängigen Reimwörter jeu und feu werden vom Hörer assoziativ aufeinander bezogen; dies aber nicht nur wegen ihrer lautlichen Ähnlichkeit und nicht, wie défaite und Sainte-Hélène, infolge einer sachlichen Beziehung zwischen den Referenten, sondern weil die Bedeutungen „Spiel" und „Feuer" in der idiomatischen Wendung jouer avec le feu im gleichen Syntagma vorkommen und damit in sprachlicher Kontiguität stehen. Wie im Falle von (121) ist auch in (122) die auf Kontiguität beruhende Assoziation in einen durch Ähnlichkeitsbeziehungen geprägten Kontext eingebettet. Da nicht nur die in der Redekette anwesenden Wörter jeu und feu assoziiert werden, sondern auch der gesamte zitierte Ausschnitt mit der zum Kontext passenden, aber „außerhalb des Textes" stehenden Einheit jouer avec le feu, bietet (122) zudem ein Beispiel für Evokation: s.u. 8.1. 77
5.3.
Verbindung mit Polysemie und Metaphorik
Auch Kontiguität tritt häufig in Verbindung mit einer Relation „außerhalb des Textes", vor allem Polysemie und Metaphorik, auf. Ein Beispiel hierfür bietet die Aktualisierung der Polysemie des Adjektivs ferme im nächsten Zitat, dem Titel einer Werbung für hautstraffende Massierbürsten, das, wenn auch prosaischer, in der semantischen Struktur mit (122) vergleichbar ist: (123) Soyez ferme avec vos fesses. (Marie-France, Februar 1980)
Das Bild zeigt eine weibüche Person damit beschäftigt, den betreffenden Körperteil zu bearbeiten. Ferme wird hier in seiner übertragenen Bedeutung gebraucht und empfiehlt energisches Vorgehen. Der Slogan ist aber darauf hin angelegt — und hier liegt ein Anklang an die soeben behandelte „sprachliche" Kontiguität — daß die Leserin ferme im konkreten Sinn auch mit fesses assoziiert, was schon wegen der häufigen Verbindung des Adjektivs mit den Namen anderer Körperteile (z.B. poitrine ferme) naheliegt. Der erste Satz des auf den Titel folgenden Werbetextes nimmt geschickt beide Bedeutungen von ferme wieder auf: „Pour avoir un corps mince et ferme il faut le vouloir et agir." Hier ein ähnlich gelagertes Beispiel aus der Autowerbung: (124) La vivacité toute latine de la Fiat 127 en a fait la voiture la plus vendue en Europe. Et ce n'est pas la 127 Sport qui a ralenti le mouvement. (F-Magazine, 26.4.1980)
Die Verneinung von ralentir le mouvement im Prädikat des letzten Satzes bezieht sich inhaltlich auf den Verkaufserfolg; andererseits wird der Gedanke an unvermindert hohe Geschwindigkeit, nunmehr im wörtlichen Sinne, auch leicht mit der Vorstellung des sportlichen Autos („127 Sport") assoziiert. Diese letztere Relation beruht auf einem sachlich vorgegebenen Zusammenhang, also auf Kontiguität. Der folgende, wegen hoher semantischer Dichte bemerkenswerte Ausspruch des Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes nützt geschickt die — sachliche — Kontiguität zwischen Bauer und der eigentlichen Bedeutung der hier metaphorisch in idiomatischen Wendungen vorkommenden Wörter Sau und Schwein aus: (125) Die Bauern werden moralisch zur Sau gemacht und fiskalisch zum Sparschwein. (Heeremann, 5.2.1981)
Die besondere Dichte von (125) beruht neben der Kontiguität und Metaphorik auf der Ähnlichkeit Sau/Schwein und der leicht angedeuteten Opposition moralischIfiskalisch. Momentanes Wörtlichnehmen einer Redewendung ist auch die 78
Voraussetzung für die Wahrnehmung einer Kontiguität im Werbeslogan für einen Damenstrumpf: (126) Schöne Beine auf Schritt und Tritt (Plakat Frühjahr 1981)
Das Bild zeigt eine aus dem Schritt gekommene Truppe von Soldaten, die den Kopf nach den Beinen einer Frau verdrehen. Beine steht in sachlicher Kontiguitätsbeziehung zu den wörtlichen Bedeutungen von Schritt und Tritt. Eine solche wortspielerische Beziehung besteht auch zwischen toupet und cheveux in der Überschrift eines Artikels des Canard enchaîné, der sich über die angebliche Unverfrorenheit von Präsident Giscard d'Estaing mokiert: (127) Moins il a de cheveux, et plus il a de toupet. (16.3.1981)
In poetischen Texten ist die in Werbeslogans und „Sprüchen" so beliebte Kombination von Kontiguität und Ersetzungsfiguren ausgesprochen selten, wohl weil ihr der Beigeschmack des Komischen oder nur Spielerischen anhaftet. Immerhin hat Baudelaire im Rahmen einer von der Kritik als „jeu subtil" 7 gerühmten fortgesetzten Metapher drei durch Kontiguität verbundene Wörter (caravane, citerne, boire) eingeführt (vgl. (117)): (128) Quand vers toi mes désirs partent en caravane, Tes yeux sont la citerne où boivent mes ennuis.
5.4.
(XXVI Sed non satiata)
Geschaffene sachliche Kontiguität
Darunter verstehe ich die fiktionale Einordnung von Gegenständen, die im normalen Lauf der Welt nichts miteinander zu tun haben, in einen sachlichen, vorzugsweise räumlichen Zusammenhang. Die poetische Kraft dieses Verfahrens glaubten die Surrealisten, wenn nicht entdeckt, so doch systematisch ausgenutzt zu haben. Im Manifeste du surréalisme von 1924 schreibt Breton: Le surréalisme repose sur la croyance à la réalité supérieure de certaines formes d'associations négligées jusqu'à lui, (. . .) (S.40)
Ein Modell fur eine auf „Schaffung" von Kontiguität ausgerichtete Form solchen Assoziierens nennt Lautréamont in einem von den Surrealisten gern zitierten Text: 7
Vgl. Pichois in Baudelaire S. 885. Dort auch nähere Erläuterungen zu den metaphorischen Bedeutungen von caravane und citerne; ich betrachte das semantische Verhältnis dieser Wörter als Kontiguität, und nicht als Ähnlichkeit, da mir die ihnen gemeinsame „Konkretheit" (ebd.) ein zu vager gemeinsamer Nenner zu sein scheint.
79
Il est beau comme [ . . .]; et surtout comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d'une machine à coudre et d'un parapluie! (6.3., S. 322)
Die geschaffene Kontiguität besteht hier in der lokalen Beziehung zwischen den drei genannten disparaten Gegenständen. Zur Schaffung von Kontiguität muß in vielen Fällen auch die surrealistische Technik des „cadavre exquis" führen: jemand schreibt einen Satz auf ein Stück Papier, faltet es und läßt seinen Nachbarn weiterschreiben. Während geschaffene Ähnlichkeiten und Oppositionen dem Leser zuvor nicht bewußt gewordene Beziehungen zwischen Dingen aufdecken und ihn dadurch an der subjektiven Weltsicht des Autors teilhaben lassen können, insofern also grundsätzlich eine kognitive Funktion besitzen, dienen geschaffene Kontiguitäten zumindest vordergründig dem in der Rhetorik wohlbekannten Ziel der Verfremdung 8 . Deren qualitatives Niveau ist weitgespannt und reicht vom harmlos-freundlichen Schockeffekt — „épater le bourgeois" — bis zur phantastischen Vision einer anderen Welt. Wo innerhalb dieser Spannweite ein konkreter Text mit poetischem Anspruch - denken wir etwa an „Après le déluge" aus Rimbauds Illuminations - einzuordnen ist, wird im allgemeinen jeder Leser fur sich entscheiden müssen. Diese Frage stellt sich nicht bei offensichtlich in humoristischer Absicht geschaffenen Kontiguitäten, wie Boris Vian sie liebt: (129) — Ce pâté d'anguille est remarquable, dit Chick. Qui t'a donné l'idée de le faire? - C'est Nicolas qui en a eu l'idée, dit Colin. Il y a une anguille - il y en avait, plutôt - qui venait tous les jours dans son lavabo par la conduite d'eau froide. (S.18)
Diese Geschichte vom Aal in der Wasserleitung, und vor allem ihr Fortgang, erinnert an einen vergleichbaren semantischen Mechanismus bei einer bestimmten Gruppe von Witzen 9 . Über die fundamentale und hinlänglich bekannte Bedeutung von geschaffener Kontiguität in der surrealistischen Malerei braucht hier kein Wort verloren zu werden. Ein Beispiel für die insgesamt gesehen seltene Verwendung dieses Prinzips in der graphischen Werbung bietet eine Anzeige der „Action internationale contre la faim" (Le Monde 19.6.1981), die eine fast die ganze Seite einnehmende gespreizte Hand mit einem weit geöffneten Mund in der inren Handfläche zeigt. 8 9
80
„Die Verfremdung ist die seelische Wirkung, die das Unerwartete als Phänomen der Außenwelt im Menschen ausübt." (Lausberg § 84). Vgl. einige Witze der Rubrik „Absurde" in Nègre.
5.5.
Geschaffene sprachliche Kontiguität
Im einfachsten Falle bedeutet diese Form von Kontiguität, daß Wörter, die auf der Ebene der langue semantisch in keiner spezifischen Beziehung zueinander stehen, in Devise, Parole oder Slogan miteinander verbunden werden und infolge häufiger und einhämmernder gemeinsamer Nennung (Kontiguität) im Gedächtnis des Hörers zu einem Assoziationskomplex verschmelzen. Im 11. Kapitel werden wir auf einige Beispiele für eine solche, auf Wiederholung beruhende Schaffung sprachlicher Kontiguität aus der Werbesprache eingehen. Berühmte Beispiele aus dem politischen Bereich sind „liberté, égalité, fraternité", „travail, famille, patrie" und „Algérie française". Die sprachliche Kontiguität kann dazu führen, daß jedes einzelne Element einer solchen Verbindung semantisch durch einen konnotativen Verweis auf seinen Kollokationspartner angereichert wird und zur Identifizierung mit ihm tendiert: allein Algérie kann schon an française bzw. France denken lassen (s.u. 8.3.) 1 0 . Das Prinzip eines weiteren Typs von geschaffener sprachlicher Kontiguität liegt nicht in der clichébildenden Wiederholung, also im systematischen Aufbau einer Assoziation, sondern im Gegenteil in der Überraschung des Hörers durch ein syntagmatisches Nebeneinander von Wörtern (Kontiguität), das im Widerspruch zu einer durch Sprachsystem oder Sprachnorm bedingten Erwartung steht und insofern „geschaffen" ist (z.B. (130) pays en voie d'appauvrissement). Um den Unterschied zwischen den beiden Typen noch schärfer zu fassen: im ersten Fall wird ein Sprachcliché aufgebaut, im zweiten wird ein solches demontiert. Unerwartet muß im letzteren Fall wohlgemerkt nur die Kombination der Wörter sein, nicht aber unbedingt die Inbezugsetzung der entsprechenden Referenten, die schon in 5.4. behandelt wurde. Wohl bildet der Verstoß gegen kombinatorische Erwartungsnormen einen Wesenszug mehrerer rhetorischer Figuren, so von Katachrese 11 und Metapher, die Weinrich als Wort in einem ihm fremden, „konterdeterminierenden" Kontext definiert hat 1 2 ; aber auch Metaphern können in den allgemeinen Sprachgebrauch übergehen, verblassen und sich damit den sprachlichen Erwartungsnormen einfügen. Dagegen erscheint der Bruch dieser Normen immer 10 Dem französischen Slogan in politischer Propaganda und kommerzieller Werbung hat Reboul (1975) aus ideologiekritischer Sicht eine schöne Monographie gewidmet; s. dort besonders S.28f„ 39-42 und eine Liste von Slogans S. 150-153. 11 Im Sinne von Kayser S.l 12 (Beispiel: „Kartoffeln pflücken"). 12 Weinrich S.311, 319ff., 341.
81
dann als besonders flagrant, wenn ein Wort nicht nur in dem betreffenden Kontext unerwartet ist, sondern sich darüber hinaus die Hörererwartung fest auf ein bestimmtes anderes Wort richtete. Da diese Form geschaffener sprachlicher Kontiguität meist in Verbindung mit „Überlagerung" (Relation ( 9 ) ) auftritt, werden wir erst im nächsten Kapitel näher auf sie eingehen. Dem zweiten hier genannten Prinzip geschaffener sprachlicher Kontiguität entsprechen auch zwei Schreibweisen, die in der französischen Poesiegeschichte Experiment und Episode geblieben sind: Tristan Tzaras Collage-Technik, die vom Zufall bestimmte Zusammenwürfelung von Wörtern (vgl. Raible 1 9 7 2 , S . 3 5 ) , und Apollinaires Konversationsgedichte, die Fetzen verschiedener Gespräche aneinanderreihen.
82
6.
Uberlagerung
6.1.
Evokation
Im Falle der Überlagerung läßt eine im Text vom Hörer/Leser identifizierte Bedeutung eines Segments (Wort oder Syntagma) an eine dem gleichen Paradigma zugehörige, sie „überlagernde" Bedeutung denken, ohne daß allerdings wie bei der Metapher und Metonymie ein Ersetzungsverhältnis zwischen den Zeichen bestünde. Zwei Formen sind zu unterscheiden: die beiden, meist assoziativ verbundenen Bedeutungen gehören zum gleichen Segment, und dann handelt es sich um aktualisierte Polysemie bzw. Ambiguität 1 (s.u. 6.4.). Oder aber sie entsprechen zwei verschiedenen Wörtern; ein einfaches Beispiel für diesen letzteren Fall bietet die Überschrift eines Le Monde-Artikels über Belgien: (130) Un pays en voie d'appauvrissement
(2.4.1981)
Üblicherweise erscheint in dieser Konstruktion anstelle von appauvrissement das Wort développement, das deshalb durch(130) evoziert wird; da sich beide Wörter antonym zueinander verhalten, assoziiert man sie um so leichter. Ein Segment von (130) steht also in einer semantischen Relation mit einem Wort „außerhalb des Textes". Evoziert wird nicht unbedingt ein einzelnes Wort, sondern bisweilen auch die negative oder positive Komplementäraussage. So erinnern Edith Piafs Verse (131) La plus belle fille du monde Peut toujours donner plus qu'elle n'a.
(Piaf S. 125)
an die negative sprichwörtliche Formulierung „ne peut donner que . . Entsprechendes gilt für die 3. und 4. Zeile aus Boris Vians Chanson Le déserteur2 :
1
Zu Begriff und poetischer Funktion von Ambiguität, vgl. Empson. Zum Verhältnis zwischen diesen Begriffen, s.u. 6.4. 2 Zitiert nach Chanson française contemporaine S.40.
83
(132) Si vous me poursuivez Prévenez vos gendarmes Que je n'aurai pas d'armes Et qu'ils pourront tirer.
Zwei Überlagerungen, darunter eine eindeutig antonymische, liegen in der bereits zitierten Anzeige der „Action internationale contre la faim" (5.4.) vor: (133) 500 millions de non consommateurs,
die den Titel des Magazins 50 millions de consommateurs evoziert. In allen genannten Fällen wird die Assoziierung mit einem Inhalt außerhalb des Textes durch den Austausch eines Bestandteils einer clichéhaften Wortbindung erreicht, also durch den Bruch in der Vorhersagbarkeit des unmittelbaren Kontexts: das Auftauchen vonappauvrissement in (130) ist aus rein innersprachlichen, von der Referenzebene unabhängigen Gründen ungewöhnlich. Diesen Typ der Überlagerung, der ein Effekt von „geschaffener Kontiguität" (vgl. 5.5.) ist, nenne ich „Evokation". Die Figur wird im Kanon der klassischen Rhetorik zwar nicht beschrieben, entspricht aber dem wohldefinierten Ziel der Verfremdung (Lausberg §§ 84-90) 3 . Hier noch zwei weitere, reklamesprachliche Verwendungen von Evokation 4 : (134) Votre signe extérieur de culture: le Littré.
(Nouvel Observateur 802, 1980)
lautet eine Werbung für das bekannte Wörterbuch, unter Anspielung auf die steuerrechtliche Formulierung „signe extérieur de richesse". Die semantische Relation zwischen Überlagertem und Überlagerndem {culture/richesse) kann je nach Geschmack als Opposition oder Ähnlichkeit empfunden werden. Anders steht es in dieser Hinsicht um einen Werbeslogan für den Fiat 127 Top: (135) Elle est italienne jusqu'au bout des roues.
(F-Magazine, 26. April 1980)
Innerhalb der ausgenutzten idiomatischen Wendung wäre „jusqu'au bout des ongles" zu erwarten gewesen ; roues wird also von ongles überlagert, mit dem es aber nicht wie die Wörter in (130-132) durch 3 Die hier „Evokation" genannte Erscheinung ist bisher am ausführlichsten und scharfsinnigsten von Riffaterre (1971a) beschrieben worden, der im Durchschimmern eines Cliches, Sprichworts, Zitats oder auch von im Sprachsystem vorgegebenen Strukturen wie Antonymien und Deflnitionselementen eine entscheidende Quelle der Literarität eines Textes zu erkennen glaubt: der dichterische Satz verweist auf mehr oder weniger verborgene Stereotype. Vgl. auch Riffaterre 1971, S.168f über die Auffrischung von Cliches. Unsere Beispiele (130), (133), (134ff) zeigen allerdings, daß Evokation (bei Riffaterre unter dem Oberbegriff „surdetermination") keinesfalls nur ein Wirkungsprinzip belletristischer Literatur darstellt. 4 Vgl. Galliot S.503, 531; Croupe jx 1977, S. 31; Kerbrat-Orecchioni S. 126-128.
84
Opposition, sondern durch Ähnlichkeit verbunden ist: Räder und Fuß- oder Fingernägel befinden sich jeweils an den „Extremitäten". Ein wichtiges unterscheidendes Merkmal von ongle und roue, nämlich „ ± zu einem belebten Ganzen gehörig", dient in (135) dazu, eine weitere, auf Polysemie beruhende Überlagerung deutlich zu machen: Elle est italienne bezieht sich sowohl auf die in der Reklame abgebildete Frau wie auch auf das Auto 5 . Evokation ist also auch ein Mittel zur Bewußtmachung einer im Satz angelegten Polysemie, das den Leser zu einer nachträglichen Umorientierung der bei der Lektüre der ersten Wörter aufgebauten „Isotopie-Ebene" veranlaßt 6 . Das die gewohnte sprachliche Kontiguität brechende Wort steht nicht grundsätzlich, wie man aus den bisherigen Zitaten schließen könnte, am Ende der Wortgruppe; dies beweist das von Kloepfer (S.98) treffend interpretierte Beispiel (136) Un Africain ä Paris,
das mit dem Titel des erfolgreichen Films Un Américain ä Paris kontrastiert. Das evozierende und das evozierte Wort sind nicht zwangsläufig durch Opposition oder Ähnlichkeit verbunden (s.o. (7)). So lautet der Titel eines Aufsatzes aus Le Monde, der die sechs bekanntesten Bewerber um die französische Präsidentschaft porträtiert: (137) Six personnages en quéte de pouvoir.
(8./9. März 1981)
Die Anlehnung an den Namen des Pirandello-Stücks dient nicht einer semantischen Inbezugsetzung von pouvoir und auteur, sondern der Bewußtmachung der vom Verfasser beabsichtigten Mehrdeutigkeit von six personnages-, es sollte nämlich suggeriert werden, daß diese Affinitäten mit den Personen eines Schauspiels besitzen. Der gleiche semantische Mechanismus liegt im Titel des Buches (138) La passion selon SAINT-JUSTE
von Yves Michaion vor. Intendiert wird hier weniger eine Relation Saint-Juste/Saint-Jean als die Polysemie von passion. Nicht nur die Ersetzung von Elementen einer festen Wortverbindung, sondern auch ihre Umstellung kann eine Evokation auslösen. Wenn Jacques Brei singt: (139) Les Etats se muent en anonymes sociétés,
5 6
(S. 58)
Vgl. den Slogan für die „Sport"-Version des gleichen Autos: „Les belles italiennes ont toujours le sang chaud." (F-Magazine, 26. April 1980). Zu einer „réévaluation rétrospective" in der Terminologie von Groupe,» (1977, S.52).
85
so beklagt er nicht nur die Anonymität der modernen Gesellschaft, sondern auch die Allmacht einer bestimmten, durch die sociétés anonymes („Aktiengesellschaften") repräsentierten Wirtschaftsordnung. Wenn schließlich Raymond Barre auf einer Wahlveranstaltung die angebliche Verschwendungssucht der Regierung Mitterands mit dem Sarkasmus „verbiage et gaspillage sont les deux mamelles de la générosité socialiste" anprangert (Le Monde 19. u. 20.Sept. 1982), so wirkt dieser Satz auch ohne jede zusätzliche Relation schon durch die bloße Anspielung auf den allen Franzosen vertrauten Ausspruch von Sully („pâturage et labourage sont les deux mamelles dont la France est alimentée"). Ein Oppositionsverhältnis liegt hier weniger im Text als in den Eigenschaften der durch Barres Bemerkung involvierten Personen (und damit im unterstellten Vorwissen von Barres Zuhörern): hier die eiserne Sparsamkeit des Finanzministers von Heinrich IV, dort die zweifelhafte Großzügigkeit der sozialistischen Politiker.
6.2.
Exkurs: Wortkreuzungen
Trotz teilweiser Ähnlichkeit mit bisher erwähnten Fällen von geschaffener Kontiguität verlangen Wortkreuzungen — gemeint sind die absichtlichen und scherzhaften, nicht der unfreiwillige Lapsus — nach einer komplexeren Erklärung. Hier zunächst einige Beispiele aus einem Buch von A.Finkielkraut: Le Petit Fictionnaire (Editions du Seuil, 1981), zitiert nach einem Vorabdruck in Le Monde Dimanche vom 11.10.1981: ALTIPUTE: prostituée des stations de sports d'hiver. AUTORAOÛT: coutume française de passer en famille, en voiture, et sur une route sans croisements, le mois le plus chaud de l'année. BÊBÊTUDE: torpeur du nourrisson après la tétée. ÊTËROGENE: se dit de toute personne, créature ou partie du corps qui devient sensuelle à la belle saison. HEBDROLM AD AIRE : chameau qui rit tous les lundis. RHINOFÊROCE: gros mammifère corné et connu pour son extrême méchanceté dès qu'il attrape un rhume.
Die Ähnlichkeit mit den Beispielen (130ff) liegt darin, daß eine unerwartete Zeichenfolge, wenn auch nur innerhalb der orthographischen Worteinheit, den Leser unmittelbar an die vertraute, erwartbare denken läßt. Die Unterschiede bestehen in der phonetischen Ähnlichkeit oder Gleichheit der beiden vertauschten Zeichen 86
(rhinocéros und -féroce), vor allem aber in der Tatsache, daß diese nicht nur miteinander assoziiert, sondern auch semantisch addiert werden: wenn wir der Definition folgen, setzt sich die Bedeutung von rhinoféroce aus den Elementen „rhino-", „rhinocéros" und „féroce" zusammen. Zur Wortkreuzung gehören also Assoziativität und Informantionsdichte im oben definierten Sinne (1.7.). Die gleiche Analyse gilt im Prinzip auch für die scherzhafte Auflösung einer festen Wendung durch Hinzufügung eines Wortes, so wenn ein Bericht über die Beerdigung Sadats die Allgegenwart von „agents peu secrets" erwähnt (Le Monde 13.10.1981). Der im Leser evozierte Gedanke an den Begriff „agent secret" bleibt hier nicht spielerische Asssoziation, sondern leistet wirkliche Information, da es sich bei den genannten Personen tatsächlich um Geheimagenten handelt, die ihren Namen allerdings kaum verdienen.
6.3.
Exkurs: Rettung ins Cliché
Gemeinsame Eigenschaft der in 6.1. diskutierten Beispiele ist die Auflösung einer festen Wortverbindung, die man in einigen Fällen auch als Flucht aus einer an dieser Stelle clichéhaften Sprachnorm erklären kann. Unter den besonderen Bedingungen des Dialogs erscheint auch der umgekehrte Vorgang, die Rettung ins Sprachcliché, die vorgebliche Wiederherstellung eines festen Syntagmas ausgehend von einem seiner Bestandteile. Proust benutzt dieses Verfahren in Un amour de Swann zur Charakterisierung des in der Konversation unsicheren und leicht dümmlichen Ehepaars Cottard: (140) „A ce point de vue-là, c'était extraordinaire, mais cela ne me semblait pas d'un art, comme on dit, très .élevé', dit Swann en souriant. - Elevé . . . à la hauteur d'une institution", interrompit Cottard en levant les bras avec une gravité simulée. (S.88) (141) -
Cette blague! dit Odette. Blague à tabac? demanda le docteur. (S.96; vgl. S.85, 89)
Psychologische Hintergründe und gesellschaftliche Intention des Cliché-Tics hat Proust im folgenden Abschnitt dargestellt, der eine Gesellschaft beim Dîner beschreibt: (142) „Redonnez de la sole normande à Monsieur, vous voyez bien que la sienne est froide. Nous ne sommes pas si pressés, vous servez comme s'il y avait le feu, attendez donc un peu pour donner la salade."
87
Mme Cottaid, qui était modeste et parlait peu, savait pourtant ne pas manquer d'assurance quand une heureuse inspiration lui avait fait trouver un mot juste. Elle sentait qu'elle aurait du succès, cela la mettait en confiance, et ce qu'elle en faisait était moins pour briller que pour être utile à la carrière de son mari. Aussi ne laissa-t-elle pas échapper le mot de salade que venait de prononcer Mme Verdurin. „Ce n'est pas de la salade japonaise?" dit-elle ä mi-voix en se tournant vers Odette. Et ravie et confuse de l'à-propos et de la hardiesse qu'il y avait à faire ainsi une allusion discrète, mais claire, à la nouvelle et retentissante pièce de Dumas, elle éclata d'un rire charmant d'ingénue, peu bruyant, mais si irrésistible qu'elle resta quelques instants sans pouvoir le maftriser. „Qui est cette dame? elle a de l'esprit", dit Forcheville. (S. 90f.)
Wenn Voltaires Candide im Gespräch mit einem holländischen Prediger ähnlich reagiert, so nicht aus dem Wunsch, durch Esprit zu glänzen, sondern weil die Erziehung durch den braven Philosophen Pangloss in ihm bestimmte sprachliche Reflexe geschaffen hat: (143) Cet orateur, le regardant de travers, lui dit: „Que venez-vous faire ici? y êtesvous pour la bonne cause? - Il n'y a point d'effet sans cause, répondit modestement Candide, tout est enchafné nécessairement et arrangé pour le mieux." (Voltaire S. 15Of.)
Texte des Typs (140-143) haben natürlich den Leser semantische Dichte entstehen zu vielmehr, daß für einen in der Erzählung ein bestimmtes Wort semantische Dichte Assoziationen auslöst 7 .
6.4.
nicht die Aufgabe, für lassen. Sie signalisieren auftretenden Sprecher besitzt, da es in ihm
Polysemie und Ambiguität
Nun lebt aktualisierte Polysemie nicht nur im Schatten der Evokation, sondern kann auch aus eigener Kraft erscheinen, wie in der folgenden Margarine-Reklame: (144) Planta. Des cailles à la cuisse légère. (Femmes d'aujourd'hui, August 1980)
Das Bild zeigt zart gebratene Wachteln. Die in (144) wörtlich zu nehmende Wendung cuisse légère läßt natürlich jeden Frankophonen an die übliche, bildhafte Bedeutung („leichtlebige Frau") denken. Hier überlagert also die erotische Assoziation die kulinarische Grundbedeutung. Die semantische Relation zwischen beiden Bedeutungen dürfte Ähnlichkeit sein, oder Kontiguität aus der Sicht derer, für die Liebe durch den Magen geht. 7
88
In Les jeux de mots untersucht Guiraud vergleichbare Reaktionen unter der Überschrift „L'enchaînement par automatisme" (S.31-34).
Zu dick aufgetragen, weil durch die erste Zeile schwerfällig expüzit gemacht, ist die Polysemie der zweiten Zeile der Werbung für den Büstenhalter „Modèle de Lou": (145) Un soutien gorge malin comme un homme: vous vous croyez libre, il vous tient bien.
Der Text schließt auch noch mit dem penetranten Satz: „C'est une sensation rare. Comme seuls les hommes savent en donner." Ebensowenig wie zur Evokation gehört zur Polysemie immer eine zusätzliche semantische Relation zwischen den beiden Bedeutungen. Diese fehlt häufig beim wortspielerischen Witz; Beispiel: (146) „ Enseignez-moi donc, disait un pauvre diable, le chemin qui mène à la fortune. - Rien de plus facile, lui répond quelqu'un, prenez à droite, prenez à gauche, prenez de tous les côtés . . . Voilà tout." (zitiert nach Guiiaud 1976, S. 10f.)
Zu den Mitteln der Verdeutlichung von Polysemie zählt neben Evokation (135/137) und Vergleich (145) auch die syntaktische Verbindung eines polysemen Wortes mit zwei aus verschiedenen inhaltlichen Bereichen stammenden Wörtern (ambiguisierender Kontext). Beispiele für diese Erscheinung finden sich in den Fleurs du Mai. (147) O Beauté, dur fléau des âmes, tu le veux! Avec tes yeux de feu, brillants comme des fêtes, Calcine ces lambeaux qu'ont épargnés les bêtes! (LV Causerie)
Im Mittelpunkt der Polysemie steht hier das Wort feu, das in Verbindung mit yeux und fêtes die positive Vorstellung des Strahlenden erweckt, dessen negative, an „Zerstörung" anknüpfende Bedeutungselemente aber durch calcine hervorgehoben werden. In den folgenden Versen Jacques Breis ergibt sich die Polysemie von acheter aus seinen semantisch-syntaktischen Beziehungen einerseits zu vendre, andererseits zu honneur und sainteté: (148) Rien ne se vend mais tout s'achète l'honneur et même la sainteté ça va. (S.58)
Zu einer nachträglichen Bewußtmachung einer allerdings sehr spezifischen - Form von Ambiguität kommt es auch in einem von dem Logiker R.Blanché erzählten Scherz. Witzbolde brachten unter dem auf Plakaten zu lesenden Spruch (149) L'alcool tue lentement.
die Bemerkung an: „On n'est pas pressé." Sie gaben also vor, das die Art und Weise präzisierende Adverb lentement als restriktiv 89
im Sinne von „ L'alcool ne tue que lentement" verstanden zu haben, was eine Warnung in einen Ausdruck des Bedauerns (mangelnde Schnelligkeit) ummünzt. Beispiele für syntaktische Mehrdeutigkeit, zu deren Bezeichnung der Oberbegriff „Ambiguität" besser geeignet ist als der üblicherweise für die Wortsemantik reservierte Begriff der Polysemie, finden sich in großer Zahl bei dem 1918 verstorbenen Dichter Appolinaire. Ein wichtiges, auch schon von Mallarmé verwandtes Mittel zur Ambiguisierung des Textes bildet das Weglassen der Interpunktion. Marinetti hatte es 1912 im „Supplément au Manifeste technique de la Littérature futuriste" mit der folgenden Überlegung empfohlen, die in bildkräftiger Sprache ein Rezept für die Schaffung semantischer Dichte enthält : Les m o t s délivrés de la p o n c t u a t i o n r a y o n n e n t les u n s sur les autres, entrecroisent leurs magnétismes divers, suivant le d y n a m i s m e i n i n t e r r o m p u de la pensée. (S. 190)
Das vermutlich bekannteste Gedicht Apollinaires, Le pont Mirabeau, bietet mehrere Beispiele für die hier gemeinte, von der Syntax her auf die Satzsemantik einwirkende Ambiguität: ( 1 5 0 ) Sous le p o n t Mirabeau coule la Seine Et nos a m o u r s Faut-il qu'il m ' e n souvienne La joie venait t o u j o u r s après la peine ( S . 4 5 , 1 . Strophe)
Die 2. Zeile kann zumindest bei erster Lektüre leicht zusammen mit la Seine als Subjekt von coule verstanden werden, was inhaltlich durchaus sinnvoll wäre und durch die 1. unter (151) zitierte Zeile abgestützt werden könnte — der Singular des Verbs steht einer solchen Interpretation nicht entgegen (vgl. Bégué/Lartigue S. 70). Erst die Lektüre der 3. Zeile, der nos amours als Objekt zugeordnet ist, klärt die syntaktischen Beziehungen auf und läßt die Interpretation der 2. Zeile als Enjambement ausscheiden. Ähnlich zu beurteilen ist die 3.Strophe: ( 1 5 1 ) L ' a m o u r s'en va c o m m e cette eau c o u r a n t e L ' a m o u r s'en va C o m m e la vie est lente Et c o m m e l'espérance est violente
(ebd.)
Die Analogie zur Struktur der 1. Zeile legt zunächst die Lektüre L'amour s'en va comme la vie nahe, die auch hier durch den Fortgang des Textes korrigiert wird. Ein weiteres Beispiel dieser Art betrifft die viert- und drittletzte Zeile des Gedichts. Die ursprüngliche und die korrigierte Interpretation „überlagern" sich hier 90
jeweils, ohne allerdings dem gleichen semantischen Paradigma zuzugehören (vgl. Anfang von 6.1.).
6.5.
Zum Begriff „Isotopie"
Der von Greimas und seinen Schülern in Bezug auf seine heuristische Nützlichkeit und inhaltliche Neuheit gewiß überschätzte Begriff der Isotopie („itérativité de classèmes" bzw. „recurrence de catégories sémiques" in zwei oder mehreren Wörtern eines Textes 8 ) wird, wenn er nicht eine völlig banale Bedeutung haben soll, sinnvollerweise wohl nur dann verwendet, wenn ein Text mehrere Isotopie-Ebenen besitzt, seine Wörter also mehrere, jeweils miteinander kombinierbare Bedeutungen haben. Insofern deckt er in der klassischen Rhetorik wohlbekannte, nur teilweise in 6.1. und 6.4. behandelte Stilfiguren a b 9 . Soweit die durch „Isotopie" bezeichnete Pluralität der möglichen Interpretationen auf dem Prinzip der Ersetzungsfiguren (s. nächstes Kapitel) beruht, handelt es sich um Erscheinungen, die auch schon die mittelalterliche Lehre von den vier Bibelsinnen thematisiert hat 10 . Ich schlage die Bezeichnung „parasitäre Isotopie" für die oben in 4.6. aufgeführten wortspielerischen Verbindungen von Ähnlichkeit mit einer Ersetzungsfigur vor. Wenn, um ein weiteres Beispiel zu nennen, eine Fernsehsendung über die Todesstrafe unter dem Titel „La peine de mort agonise-t-elle?" läuft, so liegt Isotopie aufgrund von Semgemeinschaft zwischen den miteinander assoziierten Wörtern mort und agoniser vor. Da agoniser aber im übertragenen Sinn {Petit Robert: „être près de sa fin") verwendet wird, ist diese Isotopie nicht grammatische Voraussetzung für das Zustandekommen einer sinnvollen Mitteilung, sondern vom Standpunkt der Information her überflüssig. Aber gerade das Überflüssige, Parasitäre kann die eigentliche Daseinsberechtigung einer Formulierung ausmachen, so in San-Antonios Roman und dem Film mit dem gleichen Titel Un éléphant, ça trompe énormément (trompe = „täuscht" oder „Rüssel"), der im Deutschen matt und recht sinnlos Ein Elefant irrt sich gewaltig heißt. 8 9
Greimas/Courtes 1979 unter isotopie. Über Polysemie als rhetorische Figur („äquivokes Verhältnis"), Lausberg §§ 145-152; Ulmann S. 215ff. 10 Vgl. Plett S.91f.
91
7.
Ersetzungsfiguren
7.1.
Metapher, Metonymie, Periphrase
Die innerhalb unserer Klassifikation letzte Erscheinungsform von semantischer Dichte, die Ersetzungsfiguren oder Tropen der klassischen Rhetorik, wird hier wegen der überaus umfangreichen literatur- und sprachwissenschaftlichen Forschung zu diesem Problem nur noch kurz gestreift. Wie schon erwähnt (1.6.1.), lassen sich auch die beiden wichtigsten Ersetzungsfiguren, Metapher und Metonymie, aus den bisher zugrundegelegten, auf der paradigmatischen Achse wirkenden Basisrelationen ableiten: die Metapher beruht auf einer Ähnlichkeit zwischen den Bedeutungen oder Referenten des ersetzten und des ersetzenden Wortes, die Metonymie auf einer Kontiguitätsbeziehung 1 . Es soll hier kurz gezeigt werden, daß sich die Periphrase und ihre auf Eigennamen angewandte Variante, die Antonomasie, auf eine innersprachliche Form von Kontiguität stützen. Die Umschreibung von Paris durch la capitale de la France entspricht dem Ersatz eines verbum proprium durch eine Angabe, die ein Merkmal der genannten Sache zum Inhalt hat (vgl. Lausberg § 186). Dieses Merkmal ist Teil eines Ganzen, nämlich der Gesamtmenge der Merkmale von „Paris". Die im Beispiel genannte Umschreibung kann also aus dem Prinzip des pars pro toto erklärt werden, wobei die Kontiguität der Teile aber nicht, wie in Synekdoche und Metonymie (z.B. 1
92
Vgl. Lausberg §§ 228-231, 216-225. Metapher und Metonymie können auch miteinander kombiniert werden; daß eine solche Verquickung und gegenseitige Verstärkung der beiden Stilfiguren geradezu ein Prinzip von Prousts Bildersprache ist, hat Genette überzeugend dargelegt und dabei auf die grundlegende Bedeutung dieser Verbindung für Gedächtnis und Assoziation hingewiesen: „Ohne Metapher, so sagt Proust (ungefähr), keine wirkliche Erinnerung. Wir fügen für ihn (und für alle) hinzu: ohne Metonymie keine Erinnerungsverknüpfung, keine Geschichte, kein Roman. Denn in der Metapher findet sich die verlorene Zeit wieder, aber in der Metonymie wird sie neu belebt und in Bewegung gebracht ( . . . ) . " (1975, S.400).
Dach für Haus) auf der Ebene der Realität, sondern auf der der semantischen Merkmale liegt.
7.2.
Ironie, Litotes, Euphemismus, Hyperbel
Eine paradigmatische Verwendung der Opposition stellt die Ironie dar, die explizite Aussage des Gegenteils vom implizit Gemeinten. In verneinter Form erscheint der antonyme Inhalt in der Litotes, die einen superlativischen Grad „durch die Negation des Gegenteils" umschreibt (Lausberg § 211), so in Roxanes Liebeserklärung (152) Va, je ne te hais point. (Corneille: Cid III, 4)
Auf einem Typ von Antonymie beruht auch der Euphemismus, der ein „verbotenes" Wort durch ein „erlaubtes" ersetzt (Lausberg § 177). Der Ort der Hyperbel, also der Ersetzung eines angemessenen durch einen übertriebenen Ausdruck (Plett S.76), innerhalb unserer bisher verwandten Kategorien wird deutlich, wenn wir uns die zwischen dem positiven und dem negativen Pol eines Gegensatzpaares (z.B. „gern haben": „nicht mögen") gezogene Linie über einen der Pole hinaus verlängert vorstellen; eine solche auch über die Glaubwürdigkeit hinausgehende Aussage (Lausberg § 212) könnte in unserem Beispiel „unsterblich lieben" oder „abgrundtief hassen" sein. Der Verwendung der Hyperbel liegt also logisch die Vorstellung einer Skala von graduellen Gegensätzen zugrunde.
7.3.
Benutzt vs geschaffen
Auch für die Ersetzungsfiguren läßt sich unsere Unterscheidung zwischen benutzten und geschaffenen Relationen aufrecht erhalten, wie am Beispiel der Metapher kurz erläutert sei. Neben unmittelbar einleuchtenden Metaphern (benutzte Ähnlichkeit) stehen in fast allen Epochen der Dichtungsgeschichte, insbesondere aber im Surrealismus und den Bewegungen, aus denen er geschöpft hat, Metaphern, die weithergeholte Ähnlichkeiten konstruieren. Breton erhebt dieses Vorgehen zum Programmpunkt : [l'image] la plus forte est celle qui présente le degré d'arbitraire le plus élevé (. . .), celle qu'on met le plus longtemps à traduire en langage pratique. (S.53, vgl. S.34)
Den Extremfall der von Breton angesprochenen Willkür bildet der 93
für weite Bereiche der modernen Dichtung charakteristische Metapherntyp, bei dem die Identität des zu Vergleichenden, also des „eigentlich" Gemeinten, unsicher wird. In diesen Fällen verliert die schlichte und herkömmliche Bestimmung der Metapher als Ersetzungsfigur ihre Gültigkeit, denn selbst die Existenz eines ersetzten Wortes ist fraglich. Morier spricht von dieser Figur, die er „métaphore essentielle" nennt, mit dem Tone des Bedauerns: „II arrive malheureusement que le message poétique ne soit plus qu'un message chiffré dont on a perdu la clef." 2 Als Beispiele könnten surrealistische Gedichte in fast beliebiger Zahl angeführt werden; Morier zitiert folgende Verse von Eluard (ebd.): (1S3) Il fait une nuit de moineaux Que le feu déchire et dévore
Die essentielle Metapher bildet insofern einen mächtigen Faktor semantischer Dichte, als sie den Interpreten veranlaßt, in seinem Gedächtnis auf der Suche nach dem Gemeinten versuchsweise eine Fülle von möglichen Ähnlichkeitsrelationen abzutasten. Sie ist also Quelle hoher Ambiguität und führt zu Überlagerungen (s.o. 6.4.). Insgesamt gesehen konnten wir die verschiedenen Tropen auf der Grundlage einer kleinen Zahl von Relationen als Ergebnisse von Assoziationsvorgängen charakterisieren.
2
94
S.670; vgl. Friedrich 1956, S.152. Diese Figur ist für Morier ein Spezialfall der Metapher mit „ellipse du comparé" (s.o. Beispiel (6) und Anm.22 in Kapitel 1.).
8.
Konnotation
8.1.
Kritik eines inflationär verwandten Begriffs . . .
Wie läßt sich der Ort der Konnotation im bisher entworfenen System semantischer Dichte bestimmen? Alles hängt von der Definition dieses aus der scholastischen Logik in die Linguistik übernommenen Begriffs ab, der seit zwei Jahrzehnten zu einem der Lieblingswörter des geisteswissenschaftlichen Jargons avanciert ist und auch in der gehobenen Umgangssprache Verwendung findet. In den meisten der mitunter widersprüchlichen Definitionen von „Konnotation" lassen sich zwei Konstanten feststellen: die Angabe, es handle sich um ein „zusätzliches" Bedeutungselement — und hier liegt die Rechtfertigung für die Frage nach dem Beitrag zur semantischen Dichte —, sowie die Auffassung, die Konnotation sei mehr oder weniger individuell oder subjektiv. Weniger regelmäßig wird auf den emotionalen Charakter der konnotativen Bedeutung hingewiesen. Die genannten drei Definitionselemente führt der Trésor de la langue française auf (unter connotation): Signification affective d'un terme qui n'est pas commune à tous les communicants et s'ajoute aux éléments permanents du sens d'un mot (dénotation).
Diese den Sprachgebrauch widerspiegelnde und insofern einem dictionnaire de langue angemessene Definition wirft in linguistischer Sicht mehrere Fragen auf: — ist es zweckmäßig, den Gegenbegriff „Denotation" auf die „éléments permanents" (= distinktive Merkmale?) einzuschränken 1 ? — sind alle nicht permanenten Elemente der Bedeutung affektiv? Und gehören gegebenenfalls die nicht affektiven nicht zur Konnotation? — ist mit den heute bekannten Entdeckungsprozeduren die objektive Zuordnung eines Bedeutungselementes zu Konnotation 1
Vgl. V i o n S . 1 8 0 .
95
oder Denotation überhaupt möglich 2 ? — wird „ Konnotation" nicht durch eine Aufnahme all dessen, was nicht denotativ im angegebenen Sinne ist, begrifflich überdehnt und zum Sammelbecken heterogener Erscheinungen? Kritiken des letzteren Typs faßt der Dictionnaire de linguistique (1973) mit folgenden Worten zusammen: On a légitimement reproché au concept de connotation d'être un „fourre-tout", où l'on dépose tout ce qui relève de l'intuition et n'est pas analysable dans la signification d'une unité, (unter dênotation})
Hieraus wird konsequent auch auf die Fragwürdigkeit des Begriffs der „dênotation" geschlossen (ebd.). Bei der in den Wörterbuchdefinitionen deutlich werdenden Vagheit von „Konnotation" ist es nicht verwunderlich, daß der Begriff von einzelnen Linguisten sehr unterschiedlich verwendet wird. Einen maximalen Bedeutungsumfang schreibt ihm Kerbrat-Orecchioni in ihrer Monographie La connotation zu: die Konnotation eines Worters umfaßt alle Bedeutungselemente, die nicht „constants et distinctifs" sind (S. 181); konnotativ sind aber auch die meisten der hier behandelten „benutzten" semantischen Relationen, und zwar sowohl diejenigen „im Text" (bei Kerbrat-Orecchioni in praesentia, S. 123) als auch die „außerhalb des Textes" (in absentia, S.125); als konnotativ gelten so Ironie (S.134ff.), Kalauer (S. 140ff.) und Metapher (S.149ff.); hinzu kommen u.a. lautlich bedingte Konnotationen. Kurz, dieses Wort wird zum Oberbegriff für die meisten von der Rhetorik behandelten Gegenstände und einiges mehr. Hierin ist grundsätzlich kein Nachteil zu sehen, wenn Klarheit über den damit verbundenen weitgehenden Verlust an Informationsgehalt besteht. Die Gefahr liegt nur darin, daß Konnotation trotz ihrer beim gegenwärtigen Stand recht nichtssagenden Bedeutung vor allem in der Literaturwissenschaft mit der unberechtigten Aura (man möchte sagen: „mit der Konnotation") wissenschaftlicher Exaktheit und Fortschrittlichkeit verwendet wird 4 . 2 Bestritten von Greimas/Courtès 1979, unter virtulme und Hörmann: „Wo liegt bei Wörtern wie ,Liebe' und .Freiheit', .Jesus' und .Tier', .weinen' und .müde' die Grenze zwischen Denotation und Konnotation?" (1976, S. 100). 3 Vgl. den kritischen Artikel connotation in Galisson/Coste 1976. 4 „ce que la sémiologie moderne appelle une connotation', läßt Genette in seine Erläuterungen zum Bedeutungsmechanismus der Tropen einfließen (1964, S.53). Vor allem Cohen mutet dem Wort mehr zu, als es leisten kann (1966, besonders S. 204-225). Vgl. dagegen den behutsamen Umgang mit diesem Begriff bei Kloepfer S.89ff.
96
In einem eingeschränkteren Sinne spricht Martinet von Konnotation. Zwar setzt er die Konnotationen eines Wortes gleich mit tout ce que ce terme peut évoquer, suggérer, exciter, impliquer de façon nette ou vague, chez chacun des usagers individuellement ^,
die anschließend angeführten Beispiele weisen aber alle in eine präzise Richtung: Konnotationen entstehen für Martinet durch Assoziierung eines Wortes bzw. des von ihm bezeichneten Gegenstandes mit einer Gesamtsituation, innerhalb derer dem Sprecher das Wort — vor allem im Kindesalter — vertraut geworden ist oder seine besondere Aufmerksamkeit erregt hat. So kann lampe auch noch für den Erwachsenen (un)gemütliche Stimmung im Familienkreise „konnotieren" (S.1291). Die Konnotation beruht also nach Martinet auf einer individuell erlebten Kontiguität im Referenzbereich, die ein Wort mit einer semantischen Relation „außerhalb des Textes" versieht. Dies gilt auch für die aus der belletristischen Literatur gewonnenen Konnotationen, die aus der Inbezugsetzung von fiktiven Wirklichkeiten abgeleitet werden.
8.2.
. . . und Vorschläge für eine Deflation
Aus Martinets Untersuchung möchte ich den Vorschlag übernehmen, Konnotationen als paradigmatische Assoziationen zu betrachten. Ist der Bedeutungsumfang von „Konnotation" und „paradigmatische Assoziation" nun identisch, wie dies manche Definitionen nahelegen? Wenn ja, so wären zu den Konnotationen auch jene rein individuellen und subjektiven Assoziationen zu zählen, die der Sprecher mit diesem oder jenem Wort verknüpft, ohne sie jedoch dem Hörer mitteilen zu wollen; oder die der Hörer empfindet, ohne sie als vom Sprecher intendiert anzusehen. Die linguistische Beschreibung der Konnotation würde damit in individualpsychologischen Zufälligkeiten versinken und ihr wissenschaftliches, das heißt hier auf Erforschung des Allgemeinen gerichtetes Interesse verlieren. Konnotationen können also nur dann einen sinnvollen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung bilden, wenn für sie der Anspruch auf intersubjektive Bedeutung gilt. In diesem Sinne spricht Eco von ihrer Institutionalität (S. 108) und Ducrot betont: Si l'on peut parler de langage connotatif, c'est donc dans l'exacte mesure où l'emploi 5
Martinet S. 1290.
97
des connotations obéit à un code déterminé, où il y a une règle du jeu sur laquelle tout le monde s'accorde. (S. 220)
Die Notwendigkeit der im Einzelfall schwierigen Abgrenzung der Konnotation gegenüber individuellen Assoziationen hebt auch Kloepfer hervor (S.91). Offen bleibt eben noch die Frage nach der Art der von Ducrot genannten Spielregeln. Angesichts dieser Schwierigkeit möchte ich versuchen, den Begriff der Konnotation aus den vagen Gefilden der Semiologie (vgl. Anm.4) in den Schoß der für ihn zuständigen traditionellen Disziplin, nämlich der Rhetorik, zurückzuführen. Dort ist er in Bezug auf diejenigen Figuren zu definieren, die ebenfalls auf paradigmatischen Assoziationen beruhen: Überlagerung (Relation (9)) und Tropen (Relation (To)). Der Vorschlag für eine präzisierende Neudefinition geht dahin, Konnotationen teils auf der Grundlage von Überlagerungen (Evokation/Polysemie), teils als nicht vollständig durchgeführte, auf „halbem Wege" stehengebliebene Ersetzungsfiguren zu erklären. Die Spielregeln für den Gebrauch der Konnotation sind bei dieser Sicht der Dinge in den meisten Fällen so alt wie die Rhetorik. Die Unterkapitel 8.3.-8.5. werden zeigen, daß sich beträchtliche Teile des bisher als Konnotation Bezeichneten der hier zur Diskussion gestellten neuen Begriffsbestimmung zuordnen lassen.
8.3.
Konnotation zwischen Evokation und Trope
Wie oben in 6.1. erläutert, liegt der Evokation (Relation (¥)) die Schaffung von sprachlicher Kontiguität (Relation (6 j ) zugrunde: ein im Kontext überraschend auftretendes Wort läßt an das eigentlich zu erwartende denken, ohne es allerdings zu ersetzen. Dagegen haben wir es im Falle der Ersetzung gemäß unserer Definition nicht mit Evokation, sondern im allgemeinen mit einer Trope wie der Metapher zu tun, die anders als die Evokation durch Bildhaftigkeit gekennzeichnet ist. Im folgenden soll nun eine Figur dargestellt werden, die wie die Evokation auf geschaffener sprachlicher Kontiguität beruht, aber wie die Metapher zu einer — allerdings nicht bildhaften — Ersetzung führt. Gemeint ist der seit Hjelmslev wohl am häufigsten beschriebene, oft „stilistisch" genannte Konnotationstyp, der im unerwarteten Auftauchen eines einer anderen Sprache oder einem anderen Unterkode der gleichen Sprache entstammenden Wortes in einem Text be98
steht 6 ; konnotiert werden dann Wörter oder Vorstellungen, die mit der ursprünglichen Sprache oder Sprachebene des Wortes verknüpft sind. Eine solche Konnotation bringt in einem von Ducrot verwandten Beispiel (S.217) ein Franzose zur Geltung, der in der Absicht, jemandem von unerlaubtem Parken abzuraten, sagt: „le stationnement ici est verboten". Über das deutsche Wort im französischen Satz, das einen Bruch der kontextuellen Erwartung mit sich bringt, ziehen für den französischen Hörer neben der sachlichen Angabe „interdit" auch eine Reihe von clichéhaften Vorstellungen über den sozialpsychologischen Ursprungskontext dieses Wortes („une certaine image conventionnelle de l'Allemagne") in die Gesamtinformation ein, so daß sich zur Bedeutung „interdit" z.B. der konnotierte Nebensinn „rigoureusement" gesellt. Der Teil — hier das isolierte deutsche Wort — erinnert also an das Ganze, seinen (angenommenen) üblichen deutschen Kontext. Der Vorgang läßt sich damit auch als eine auf bloßes Assoziieren beschränkte Ellipse (kontextuelle pars pro ioio-Beziehung) beschreiben, die in einen fremden (hier fremdsprachigen) Kontext eingebettet wird. Von Konnotation im definierten Sinne kann aber nur dann die Rede sein, wenn das fremde Wort an die Stelle eines im betreffenden Kontext „normalen" tritt, der Sprecher also eine Wahlmöglichkeit besaß. Vorstellungen, die der Europäer mit Wörtern wie Iglu, Geisha oder Kasbah verbindet, haben dagegen nichts mit Konnotationen zu tun, sondern nur mit einer wirklichen oder vermeintlichen, im allgemeinen jedenfalls vagen Kenntnis des Bezeichneten. Konnotationen sind weder mit Unklarheit über den Sachverhalt noch mit Lokalkolorit zu verwechseln. Dies gilt auch für die angeblich konnotativen Assoziationen, die Kloepfer in dem von Eco übernommenen Satz „Cet homme vient de Bassora" dem Namen der irakischen Stadt zuschreibt (S.92). Konnotativer Rückverweis auf den ursprünglichen Kontext kommt nach verbreiteter Forschungsmeinung auch dadurch zustande, daß ein Wort aus seinen typischen Kollokationen (z.B. „ oraison dominicale") herausgelöst und mit anderen Wörtern kombiniert wird, zu denen keine spezifische Bindung besteht (z.B. „édition dominicale"): „dominical" connote (même dans une expression comme „l'édition dominicale du 6
Kerbrat-Orecchioni S. 94ff., wo auch einige von Hjelmslev, Bally, Ulimann und Mounin genannte Beispiele aufgeführt werden.
99
Progrès") les rites ecclésiastiques du dimanche; „ancillaire" connote les amours ainsi qualifiées. (Kerbrat-Orecchioni S. 118)
Von den in Kapitel 6. zitierten Evokationen, etwa (135) . . . jusqu'au bout des roues, unterscheiden sich diese u.a. durch einen erheblich geringeren Verfremdungseffekt. Im Falle von ancillaire mag man auch erwägen, ob der erotische Anklang nicht schon infolge der „contagion" (Bréal 7 ) durch benachbartes amours zu einem Definitionsmerkmal des Wortes geworden ist. Der Petit Robert entscheidet sich für diese Interpretation, während Lexis noch definiert: „relatif aux servantes". Bei der Frage „Konnotation oder Bedeutung?" spielt also auch der diachrone Geichtspunkt eine Rolle. Konnotation auf der Grundlage der enttäuschten Kontexterwartung und der pars pro toto-Beziehung kann schließlich auch durch zielstrebig geschaffene und verbreitete Sprachclichés — eine Form geschaffener sprachlicher Kontiguität (s.o. 5.5.) — entstehen. Der semantische Prozeß umfaßt zwei Phasen: den Aufbau der stereotypen Wendung; seine Reduzierung auf ein Wort. Dieses erinnert dann an das Gesamtcliché. Guiraud führt ein Beispiel aus der politischen Propaganda der Französischen Revolution an: A force de recontrer dans les textes et les discours l'idée de Loi et de Patrie associées aux mêmes mots, impliquées dans les mêmes situations, on finit par les identifier.^
Identifizierung bedeutet natürlich auch gegenseitiges Assoziieren bei isolierter Verwendung eines der Wörter.
8.4.
Konnotation als Polysemie
Den „connotations par polysémie" räumt Kerbrat-Orecchioni theoretisch eine bedeutende Rolle ein (S.204), nennt aber selber kaum überzeugende Beispiele (S. 110, 116). Im Text aktualisierte Polysemie zieht Konnotation als einen möglichen, aber keineswegs zwangsläufigen Effekt nach sich; Polysemie ist sinnvollerweise nur dann als konnotativ zu betrachten, wenn die zusätzlich bewußt werdende Bedeutung die primär gemeinte tatsächlich beeinflußt und um „ko-notierte" Elemente bereichert. Dies ist neben einigen oben zitierten Beispielen (vgl. (144/145) ) im folgenden Werbe7 8
Vgl. Ulimann S. 246. Guiraud 1966, S.88. Guiraud faßt hier Überlegungen aus einer mir nicht zugänglichen Arbeit von Belin-Milleron zusammen (La réforme de la connaissance, 1942).
100
spruch für ein alkoholfreies Rasierwasser der Fall: (154) Supprimez votre premier alcool du matin. (Nouvel Observateur 802, 1980)
Die beiden im Bewußtsein des Lesers mobilisierten Bedeutungen von alcool sind (wenn auch natürlich nicht in dieser Formulierung) „liquide obtenu par la distillation" (Lexis, alcool 1.) und „toute boisson à base de ce liquide" (ebd. alcool 3.). Die letztere bietet die Grundlage für die Entstehung einer Konnotation, da zur enzyklopädischen Definition des alkoholischen Getränks auch das Moment des Gesundheitsschädlichen gehört; diese negative Vorstellung überträgt sich in ( 154) als konnotiertes Element nicht zuletzt unter dem Einfluß von supprimez auf die eigentlich gemeinte Bedeutung („Weingeist"). Die Wirkung von (154) wäre optimal, wenn der Slogan der Ligue antialcoolique, „l'alcool tue", ins Gedächtnis gerufen würde. In der Werbung wird die konnotationsspendende Bedeutung des polysemen Wortes oft durch ein Bild verstärkt; so in einer Reklame für ein Haarentfernungsmittel: (155) J'AIME LA DOUCEUR . . . Pour avoir les jambes lisses longtemps longtemps, je m'épile (. . .) (20 ans, Mai 1980)
Das Bild zeigt im Vordergrund die enthaarten Beine eines Mädchens, an das sich zärtlich ein junger Mann anlehnt. Die primär gemeinte douceur ist natürlich die der Haut. Das Bild läßt aber auch den Gedanken an „Sanftheit/Zärtlichkeit" anklingen. Die vom Werbetexter angestrebte Beziehung zwischen beiden Bedeutungen kann Ähnlichkeit oder auch kausal verstandene Kontiguität sein („Mädchen mit enthaarten Beinen finden sanfte Verehrer"). In jedem Falle verleiht (155) der primär gemeinten Bedeutung von douceur eine erotische Konnotation. Dem Bild kommt auch in einer Sympathie-Werbung des ChemieUnternehmens Rhône-Poulenc eine wichtige Aufgabe zu: (156) Les nouvelles colonies françaises. (L'Expansion 1980, Nr. 6)
Es geht hier nicht um ein Kolonialreich, sondern um im Bild in starker Vergrößerung gezeigte „colonies de micro-organismes en voie de développement". Diese wirken nun bei flüchtiger Betrachtung wie üppig bewachsene Südseeinseln und verstärken damit den Gedanken an die „eigentlich" nicht gemeinte Bedeutung von colonie. Der dadurch erreichte konnotative Zusatz zur Bedeutung 101
„micro-organisme" Reichtums".
ist ungefähr „Vergrößerung
des nationalen
Auf Polysemie beruhende Konnotationen werden nicht nur in kommerzieller Absicht eingesetzt. Ihre Eigenart, mehr zu verstehen zu geben, als explizit und offiziell gesagt wird, läßt sie dort als nützlich erscheinen, wo sich der Sprecher diplomatischer Zurückhaltung befleißigen möchte. Dies gilt für den folgenden Satz aus einem Leitartikel von Le Monde (12./13. Juli 1981) zum Thema des afghanischen Widerstandes gegen die Sowjets: (157) Les Occidentaux, en particulier la France, iront-ils jusqu'à apporter un soutien matériel et politique à la résistence, autrement à lui fournir les moyens de CONQUÉRIR sa reconnaissance en tant que partie prenante à tout règlement? (Hervorhebung von mir)
Um die delikate Frage möglicher Waffenlieferungen nicht ausdrücklich anzusprechen, ergeht sich der Text in Umschreibungen, in denen conquérir die abgeschwächte Bedeutung „obtenir au prix d'efforts ou de sacrifices" besitzt (Lexis, conquérir 4.). Hinzu kommt aber in diesem Kontext unter dem Einfluß der Hauptbedeutung des Verbs („acquérir par les armes", Petit Robert, conquérir 1.) eine unüberhörbare militärische Konnotation.
8.5.
Konnotation als gebremste Ersetzungsfigur
Ein dritter Typ von assoziationssemantischen Erscheinungen, die in der Forschung bisweilen als Konnotationen gelten, läßt sich als potentielle und nicht konsequent durchgeführte Trope (vor allem Metapher oder Metonymie) beschreiben: das im Text vorkommende Wort ersetzt nicht wirklich ein anderes, „eigentlich" gemeintes, aber es läßt auf Grund von Ähnlichkeit oder Kontiguität — also den Voraussetzungen für die Möglichkeit der Trope — an ein solches denken. Um bei einem bewährten und schlichten Beispiel zu bleiben: wer das Wort Löwe metaphorisch benutzt, meint (eventuell) „wilder Krieger"; wer aber konnotierend vom Löwen spricht, meint auch den Löwen, möchte im Hörer aber außerdem die Vorstellung vom Krieger erwecken 9 . Der Analyse solcher, vor allem 9
Mit Kloepfers Worten: „Anders als bei semantischen Verfahren wie Metapher und Metonymie bleibt das primäre, im Text anwesende Zeichen ganz für sich funktionsfähig." (S.90).
102
in der modernen Lyrik systematisch verwendeten Konnotationen hat sich, wie schon oben im Zusammenhang mit einigen Schlüsselwörtern Eluards angedeutet (vgl. (111)), die thematische Literaturkritik angenommen. Eine durch den Kontext abstützbare Auflistung von Konnotationen in Eluards Gedicht Pour vivre ici hat Kloepfer vorgeschlagen 10 , zum Beispiel: nid fleurs fourrures fetes
- Geborgenheit, Wärme ü - Schönheit, Freude - Wärme, Schönheit, Luxus - Freude, Geselligkeit
Da die einzige „Spielregel" für die Verwendung dieser Konnotationen in der vagen Erfordernis besteht, daß das im Text vorkommende Zeichen auch als Metapher oder Metonymie für den assoziierten Inhalt dienen könnte, ist die Garantie für ihre intersubjektive Gültigkeit erheblich schwächer als bei den Konnotationen durch Polysemie. Der in diesem Abschnitt behandelte Konnotationstyp reicht zweifellos weiter in die Literaturgeschichte zurück, als im modernen Gewand auftretende Analyseverfahren dies glauben machen könnten. Ein großer Teil der hier „Konnotation" genannten stilistischen Erscheinungen wird in einer traditionelleren Terminologie mit dem ebenfalls vagen rhetorischen Wort „Symbol" belegt 12 . Auch hinter dem recht mysteriösen literaturwissenschaftlichen Begriff der Chiffre (nach G. von Wilperts Sachwörterbuch eine „Stilfigur des Wirklichkeitsschwundes") verbirgt sich möglicherweise nichts anderes als bei den Voraussetzungen für ihre Möglichkeit stehengebliebene Metaphern und Metonymien.
8.6.
Konnotation — eine Erscheinung der parole
Wenn man, wie hier vorgeschlagen, Konnotationen als Varianten und Spezialfälle rhetorischer Figuren beschreibt, so können sie nur Erscheinungen der parole, und nicht der langue, darstellen. Es sei noch einmal betont, daß Konnotationen nur ein Konstrukt der 10 S.96; ähnlich Hardt zu einem Gedicht Victor Hugos (S.50f.). 11 Nid könnte aufgrund von Similarität auch an „trautes Heim" denken lassen; Kloepfer scheint dagegen ausschließlich Kontiguitätsbeziehungen anzusetzen. 12 Das ich in dieser Arbeit in Ermangelung eines besseren bisweilen verwende. Vgl. Lausberg §§192, 423, wo die Symbolbeziehung in Zusammenhang mit Metonymie, Synekdoche und Metapher gestellt wird. Siehe auch Kloepfer S.97f.
103
Linguisten bilden, nicht aber ein klar umrissenes Phänomen in der Sprachwirklichkeit. Dort gibt es in dem von uns untersuchten Bereich nur Bedeutungen und Relationen; einige von ihnen als konnotativ zu bezeichnen, ist im Prinzip willkürlich und ausschließlich eine Frage der terminologischen Zweckmäßigkeit — letztlich eine Konzession an den Sprachgebrauch. Dieses Kapitel hatte zum Ziel, den Teil dieses Sprachgebrauchs, für den sich ein gemeinsamer Nenner findet (Beziehung zu rhetorischen Figuren), auf eine solidere begriffliche Grundlage zu stellen. Die semantischen Größen, die Osgood mit seinem bekannten Testverfahren (Einordnung von isoliert vorgegebenen Wörtern auf Skalen zwischen Gegensatzpaaren wie „gut" vs „schlecht", „stark" vs „schwach" usw.) ermittelt 13 , haben nichts mit den hier definierten Konnotationen gemeinsam. Denn ein solcher Test fördert im besten Falle Inhalte zu Tage, die unabhängig von einem Gebrauch in der parole mit einem Wort verbunden sind. Konnotationen in unserem Sinne sind also keineswegs als affektive Nebenbedeutungen eines Wortes („emotive or affective component additional to its central meaning" 14 ) zu verstehen. Gehören solche Inhalte, soweit sie real vorhanden sind und nicht erst durch einen keinen Ausweg lassenden Testaufbau aus den Testpersonen herausgepreßt werden, nicht vielmehr zu einer detaillierten Definition? Dieses Problem der lexikographischen Erfassung von möglichen Nebenbedeutungen, das sich nach der Zuweisung der davon zu unterscheidenden Konnotationen zur parole ergibt, soll hier anhand von drei Wörtern kurz erläutert werden. Als erstes Beispiel für den Nutzen, den die explizite Aufnahme nicht zur „zentralen Bedeutung" gehörender semantischer Elemente ins Wörterbuch erbringen könnte, sei das Verb nächtigen angeführt. Ein französischer Assistent für Germanistik erklärte einmal seinen Studenten, nächtigen besitze eine „erotische Konnotation". In der Tat scheint es, daß dieses Verb von Deutschen (der österreichische Sprachgebrauch weicht hier wohl ab: vgl. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache von R.Klappenbach/W.Steinitz, (Ost-)Berlin 1977 unter nächtigen) zwar nicht grundsätzlich, aber doch mit signifikanter Häufigkeit auf erotische, meist am Rande der bürger13 Osgood/Suci/Tannenbaum 1957. 14 Lyons 1977, S.176. Vgl. aber seine Kritik an der linguistischen Verwendung von emotive und affective in ders. 1969, S.449.
104
liehen Moral liegende Sachverhalte angewandt wird: man „nächtigt" normalerweise nicht im Hause der Eltern oder beim Ehepartner, sondern bei der Geliebten bzw. dem Liebhaber. Aus der Definition bei Klappenbach/Steinitz („die Nacht verbringen") geht diese Bedeutungskomponente nicht hervor; wohl weist ein zitiertes Beispiel in diese Richtung: „das gemeinsame Nächtigen der Verlobten". Ein Wörterbuch, das sich nicht auf eine vage Paraphrasierung oder auf die Nennung angeblich bedeutungsunterscheidender Züge beschränken möchte, sollte in die Definition auch solche zweifellos nicht permanenten, aber nicht schon deshalb zur Konnotation werdenden Bedeutungselemente aufnehmen. Das übliche Verfahren, diese im Wörterbuchartikel nur implizit durch die Auswahl der Zitate anklingen zu lassen, bleibt unbefriedigend, da vor allem der nicht muttersprachliche Benutzer des Lexikons den Repräsentativitätsgrad der Beispiele nicht abzuschätzen vermag. Eine Reihe von einleuchtenden literarischen Illustrationen für die hier vertretene Auffassung, man möge dem Wörterbuch geben, was des Wörterbuchs ist, führt Riffaterre (1971a) an, u.a. das romantische Thema der harmonica (im Sinne von „Glasharmonika"). Mme de Staël und Chateaubriand, und nach ihnen George Sand und Baudelaire, verbanden harmonica, wie zahlreiche Kontexte beweisen, mit der Vorstellung von Melancholie, ja von seelischem Schmerz. Wenn man von modernen Wörterbuchdefinitionen wie der des Robert ausgeht, die sich mit einer technischen Beschreibung begnügen, könnte man in diesen Inhalten eine „Konnotation" zu sehen versucht sein. Riffaterre unterstreicht dagegen, daß die zeitgenössischen Definitionen ausdrücklich auf den besonderen Gefühlswert der Harmonika-Musik hinwiesen 15 . Wer heute z.B. den Robert befragt, kann diese Information nur noch aus dem im Wörterbuchartikel aufgeführten literarischen Zitat von Chateaubriand erschließen. Solange allerdings die lexikologische Orthodoxie bestimmt, daß die Definition im Gegensatz zur Bedeutungsbeschreibung (aber wo ist diese zu finden?) ihrem Wesen nach nur die inhaltsunterscheidenden Züge („les traits conceptuels pertinents", Rey S. 42) aufführen darf, nicht aber die übrigen „traits caractéristiques", bleibt bei der Redaktion des Wörterbuchartikels in der Tat kaum eine andere 15 „Les définitions de l'époque signalent toujours l'effet presque douloureux que les vibrations de l'harmonica exerçaient sur les nerfs." (1971a, S.139f.).
105
Möglichkeit, als die Information über wichtige nicht inhaltsunterscheidende Charakteristika in den Beispielteil abzuschieben. Dies gilt auch, um einen letzten Fall zu erwähnen, für das Merkmal „fécondité" des Wortes lapine (von Rey-Debove S.280 als Konnotation bezeichnet), das der Dictionnaire du français contemporain durch den Beispielsatz „la lapine peut avoir 3 ou 4 portées par an" anklingen läßt. Wenn Konnotation nun tatsächlich erst in der parole entsteht, wird der als komplementär gedachte Begriff der Denotation überflüssig (s.o. 8.1.) und muß seinen vermeintlichen Geltungsbereich an Bedeutung abtreten 1 6 , die allerdings nicht mit der aus platzökonomischen und teilweise doktrinären Gründen knapp gehaltenen Wörterbuchdefinition zu verwechseln ist. Daß auch die nach unserem Verständnis konnotativen Bedeutungselemente eine affektive Relevanz haben können, ja aufgrund ihrer Verwandtschaft mit rhetorischen Figuren sogar haben müssen — schließlich gehören movere und delectare zu den Zielen der klassischen Rhetorik - , sei hier unbestritten. Zu welcher Begriffsverwirrung die unkritische Verwendung des griffigen und auch journalistisch attraktiven Wortes connotation führen kann, soll hier abschließend am folgenden, einem Aufsatz von J.Cellard in Le Monde vom 12.7.1981 entnommenen Zitat verdeutlicht werden. Der Artikel behandelt typische Unterschiede zwischen Gemeinwortschatz und Fachvokabular. Ces noms techniques, que nous nommerons désormais „termes" pour simplifier, ne comportent à peu près jamais de connotation, c'est-à-dire d'environnement culturel, historique, social ou personnel, alors que cette connotation est très fréquente pour les mots du vocabulaire général.
Bleiben wir bei den von Cellard gewählten Beispielen acétylène und fibrillation: wenn uns diese Wörter soziokulturell, historisch oder psychologisch nichts „sagen", dann nicht, weil sie keine Konnotationen besitzen - diese können ohnehin erst im Kontext auftreten —, sondern einfach, weil wir ihre Bedeutung nicht kennen und anscheinend als Durchschnittssprecher auch nicht zu kennen brauchen 17 . Für die jeweiligen Fachleute besitzt die Bedeutung dieser 16 Erst recht zur Bedeutung, genauer zur begrifflich-logischen Struktur der Wortbedeutung, gehören die von Eco angesetzten „Konnotationen" aus Hyponymie und Hyperonymie (S.110). Vgl. auch Vions Plädoyer für eine Erweiterung des Bedeutungsbegriffs (S.180). 17 Die Wörter finden sich nicht im Dictionnaire du français contemporain.
106
Wörter möglicherweise sogar affektive Komponenten, etwa „schlecht/gefährlich" im Falle von fibrillation (Petit Robert: „contractions rapides et désordonnées des fibres musculaires, spécialement de celles du muscle cardiaque"). Hinsichtlich des Begriffspaars Bedeutung/Konnotation läßt sich für die Fachtermini wohl feststellen, daß eine mögliche Quelle für Konnotativität bei ihnen entfällt: sie sind im allgemeinen nicht polysem.
107
9.
Statt einer Zusammenfassung: semantischer Dichte
9.1.
Assoziation
Prinzipien und Probleme
Als entscheidende Voraussetzung für die Entstehung semantischer Dichte haben wir das Vorhandensein von — gegenüber der Organisationsform „normaler" Texte — zusätzlichen, assoziativen Strukturen festgestellt, die sich über die Regeln der Kombinatorik auf der syntagmatischen Achse und über die der Selektion auf der paradigmatischen Achse hinwegsetzen. Die Grundregel der syntagmatischen Achse ist Funktionalität: jeder Satzteil besitzt in bezug auf bestimmte andere und direkt oder indirekt auf die gesamte Äußerung eine syntaktische Funktion, z.B. die des Subjekts oder die des Prädikats. Damit erscheint die Kombination der Wörter im Satz als geordnetes Ganzes von Relationen. Dagegen erlaubt es das Assoziationsprinzip, die Wörter eines Satzes oder Textes nicht kraft ihrer Funktion, sondern ausschließlich kraft ihrer inhaltlichen Substanz aufeinander zu beziehen, und zwar aufgrund der Relationen von Opposition, Ähnlichkeit und Kontiguität. Die Grundregel der paradigmatischen Achse ist Selektion: in einer sprachlichen Äußerung gelangt jedes Wort erst durch Negation der übrigen Elemente seines Paradigmas zu Bedeutung; bei Polysemie (also im Normalfall) müssen sich Sprecher und Hörer für eine Interpretation entscheiden. Im Gegensatz zu diesem eindimensionalen Modell läßt das Assoziationsprinzip mehrere Bedeutungen des realisierten Wortes oder andere Elemente seines Paradigmas in die Gesamtinterpretation der Äußerung eingehen 1 . Insgesamt betrach1
Baithes geht noch erheblich über diese Feststellung hinaus; zum Status des Wortes in moderner Lyrik schreibt er: „ Le Mot est ici encyclopédique, il contient simultanément toutes les acceptions parmi lesquelles un discours relationnel lui aurait imposé de choisir." (1965, S.44).
108
tet läuft semantische Dichte also auf eine relative Schwächung der Rolle der Syntax gegenüber derjenigen der Semantik hinaus, gleichbedeutend mit einem Zurücktreten der Zwänge des Satzbaus zugunsten freierer Beziehbarkeiten zwischen den Wörtern. Ob hier eine notwendige Bedingung lyrischer Dichtung liegt, wage ich nicht zu beurteilen. Sicher ist aber, daß die Futuristen mit ihrer im Posaunenton verkündeten Forderung, die Syntax zu zerstören, um endlich die Wörter zu befreien, nur den Extrempunkt einer seit Jahrhunderten zu beobachtenden Tendenz der Dichtung deutlich gemacht haben 2 .
9.2.
Eindringen der langue in die parole
Soweit semantische Dichte auf „benutzten" Relationen beruht, läßt sie sich nicht nur negativ als Verstoß gegen die Gesetze normaler Sprache definieren, sondern auch positiv als Einführung einer anderen Ordnung; diese ist zweierlei Ursprungs: — die Gesetze der Assoziation (Opposition, Ähnlichkeit, Kontiguität) bilden zugleich auch Organisationsprinzipien des Wortschatzes innerhalb des Systems der langue: die Gliederung des Wortschatzes orientiert sich einerseits an der referentiellen Kontiguität, dem Prinzip des „Sachfeldes", andererseits an Opposition und Ähnlichkeit, den Prinzipien des „Wortfeldes". Daß zwischen Assoziativität und Wort- und Sachfeld eine enge Beziehung besteht, ergibt sich nicht nur als logische Schlußfolgerung, sondern ist auch empirisch erwiesen 3 ; - im Wortschatz existieren nicht nur Relationen und Felder, sondern auch deren Elemente, die einzelnen Wörter; anders als in der parole sind diese in der langue, da per definitionem durch keinerlei Kontext determiniert, typischerweise polysem (vgl. Anm. 1). 2 Marinetti S. 185,188. Die Möglichkeiten, die zur gleichen Zeit Proust der französischen Syntax abgewann, sind der Ästhetik der futuristischen Wortreihung diametral entgegengesetzt. Trotzdem scheint es nicht völlig abwegig, unter linguistischen Gesichtspunkten eine Berührung der Extreme zu vermerken, läßt doch die übermäßige Kompliziertheit des syntaktischen Beziehungsnetzes in vielen Sätzen Prousts nicht nur den eiligen Leser leicht resignieren; um so mehr wird seine Aufmerksamkeit an den semantischen Relationen der Opposition, Ähnlichkeit und Kontiguität haften bleiben, deren Wahrnehmung nicht unbedingt einer syntaktischen Analyse bedarf (Milly, S. 160f., 183 -185). 3 Vgl. Kielhöfer 1981, SS.57ff.
109
Aus den vorstehenden Überlegungen folgt, daß Assoziativität im Text, also semantische Dichte, aus dem Eindringen von Strukturen der langue (Felder und Polysemie) in die parole resultiert. Die gedächtnispsychologische Relevanz dieses Vorgangs erklärt sich aus der Beziehung zwischen der Organisation des Wortschatzes (Lexikons) und dem Aufbau des Gedächtnisses 4 , gemäß dem psycholinguistischen Postulat, daß sich im Funktionieren des Gedächtnisses, so wie dies vom Psychologen untersucht wird, die gleichen Strukturen manifestieren, welche der Linguist annimmt, wenn er sein Lexikon so konstruiert, wie es für die Zwecke seiner Grammatik erforderlich ist. (Hörmann 1976, S. 142)
Die hier skizzierten, auch schon von Aristoteles gesehenen (s.o. 1.4.) Zusammenhänge können wir kurz so formuüeren: semantische Dichte mobilisiert das Gedächtnis — gleichgültig, ob dieses seinerseits (wie in manchen psychologischen Schulen 5 ) auf ein Assoziationsnetz zurückgeführt wird oder nicht. Wenn semantische Dichte auf einer Angleichung der parole an die lexikalischen Strukturen der langue beruht und deren System Ähnlichkeit mit der Organisation des Gedächtnisses besitzt, wird verständlich, warum viele semantisch dichten Texte zugleich einprägsam und relativ leicht behaltbar sind: durch Anpassung an die langue entsprechen sie zugleich den Strukturen des Gedächtnisses. Mit den Worten eines Psychologen: „Plus la structure de l'information à mémoriser est conforme à l'organisation en mémoire, meilleure est la mémorisation." (Lieury, S.133) 6 .
9.3.
Umdenken
Diese Überlegungen gelten aber, wie zu Eingang von 9.2. schon angedeutet, nur für Dichte durch benutzte Relationen. Geschaffene Relationen führen in den Text nicht ein zusätzliches Ordnungsprinzip ein, sondern gleichsam eine Anti-Ordnung: der Autor schlägt dem Hörer/Leser eine individualistische, von den sprachlichen und 4 5 6
Schon Saussure bemerkte zu den „rapports associatifs" (= „paradigmatiques"): „leur siege est dans le cerveau". (S. 171). Vgl. Lieury S.40, 47. Die hier entwickelten Thesen über semantische Dichte und Poetizität berühren sich möglicherweise mit Coserius - allerdings bisher kaum explizit ausgeführter - Ansicht, dichterische Sprache sei volle Aktualisierung aller Zeichenrelationen, „ Verweilen bei dem in der Sprache selbst Gesagten", ja „Sprache schlechthin" (1980, S.llOf). Siehe aber unten 9.3.
110
konzeptuellen Gewohnheiten der Sprachgemeinschaft her nicht zu rechtfertigende Sichtweise vor, indem er Wörter durch unübliche Ähnlichkeits- oder Gegensatzrelationen aufeinander bezieht, sie durch Unterstellung unerwarteter Oberbegriffe umkategorisiert und verblüffende sprachliche oder referentielle Kontiguitäten herstellt kurz, indem er sich in Ansätzen eine private langue zubilligt. Sprachliche Dichte braucht sich also nicht nur auf vorhandene Strukturen zu stützen, sie kann im Extremfall auch ein anarchisches Prinzip enthalten und zum Umdenken zwingen. Dort, wo dem in relationaler Hinsicht neuen Zeichengebrauch ein Einbruch ins Sprachsystem gelingt, liegt ein Fall von „Innovation" - im Sinne Kloepfers — vor 7 .
9.4.
Ist semantische Dichte meßbar?
Eine klare und eindeutige Beantwortung dieser Frage fällt schwer. Die Antwort müßte „ja" lauten, wenn es sinnvoll wäre, sämtliche semantischen Relationen eines Textes zu addieren und, um ihre relative Häufigkeit zu ermitteln, etwa durch die Gesamtzahl der Wörter zu teilen. Rein rechnerisch steht einem solchen Vorgehen nichts im Wege; sinnvoll wäre es aber nur dann, wenn der betreffende Text nur einen oder zumindest nur ähnliche Typen von semantischen Relationen enthielte, etwa Oppositionen (Typ ( 7 ) / ( 2 ) ) , benutzte syntagmatische Relationen ( ( T ) , ( T ) , ( T ) , ( 7 ) ) oder Ersetzungsfiguren ( ( 9 ) / (To) ). Andernfalls besäße der genannte Quotient wegen der Zusammenfassung von zu verschiedenen Erscheinungen eine nur sehr beschränkte, kaum mit in gleicher Weise gewonnenen Werten vergleichbare Aussagekraft. Vergleichbarkeit kann aber immer dadurch erreicht werden, daß sich die Auszählung auf einen Faktor semantischer Dichte beschränkt, wie D. Alonso dies bei seiner Ermittlung der Häufigkeit der eng verwandten Relationen (Ta) und (5a) inPetrar7
S.48f., 83ff. Die Ergebnisse der von Friedrich in seinem bekannten Werk über die Struktur der modernen Lyrik so genannten „kreativen" oder „diktatorischen Phantasie" (1956, S.39ff., 61 ff., 104f.) haben nur wenig mit den hier behandelten geschaffenen Relationen gemeinsam. Diese letzteren stellen vor allem neue Beziehungen zwischen Wörtern her, während die diktatorische Phantasie in der Vision des Dichters Wirklichkeit zerstört und eine irreale „neue Welt" schafft (S.41f.). Geschaffene Relationen und diktatorische Phantasie überschneiden sich allerdings im Bereich der geschaffenen sachlichen Kontiguität (s.o. 5.4.), die wohl auch als Erklärungsprinzip für das von Friedrich besprochene Gedicht Marine von Rimbaud herangezogen werden könnte (a.a.O. S.64f.). Zum Sonderfall von nicht „schöpferischen" geschaffenen Relationen, s.u. 11.4.
111
cas Canzoniere getan hat (s.o. 2.3.). Will man sich einen Gesamtüberblick verschaffen, bleibt als methodisch unbedenklicher Weg nur die Ausdehnung dieses Vorgehens auf alle Faktoren, d.h. die zahlenmäßige Aufschlüsselung des Beitrags jeder einzelnen Relation zur semantischen Dichte. Aber selbst bei diesem Verfahren bleiben qualitative Unterschiede innerhalb einer Relation unberücksichtigt. Daß solche existieren, ist immer wieder deutlich geworden, reicht die qualitative Skala semantischer Dichte doch von gelungenen Kreationen über viel Konfektion bis zu nur für den Schlußverkauf produzierter Ware (Beispiele in 2.7.). Ein weiteres Problem einer quantitativen Arbeitsweise besteht darin, daß verschiedene Hörer oder Leser in einem Text nicht unbedingt die gleiche Anzahl von semantischen Relationen ermitteln. Zwar sind bei den benutzten Relationen der Subjektivität des Interpreten Grenzen gesetzt, da sich mit Hilfe von guten Wörterbüchern (AnalogieWörterbücher eingeschlossen) im großen und ganzen die Tatsächlichkeit einer Ähnlichkeits-, Gegensatz- oder Kontiguitätsbeziehung nach den Maßstäben der langue verifizieren läßt. In vielen Fällen bedarf es aber bei der Feststellung geschaffener Relationen vor allem in moderner Dichtung einer gewissen Vertrautheit mit der semantischen Welt des Autors (s.o. 4.5.2.) oder der Kenntnis der jeweils demontierten literarischen Clichés und Traditionen (6.1.), so daß die Erfassung sämtlicher von einem Autor intendierten Relationen schließlich über die Kapazität des normalen Sterblichen hinausgeht und in den Zuständigkeitsbereich des von Riffaterre apostrophierten idealen Lesers, des „archilecteur" (1971, S.327), zu geraten droht. Ist semantische Dichte nun in einem wissenschaftlich vertretbaren Sinne des Wortes „meßbar"? In manchen Texten wohl kaum, in anderen gewiß - aber mit Vorsicht und ohne Überschätzung des esprit de géométrie. Der Nutzen einer Messung könnte wie im Falle der Informationsdichte (s.o. 1.7.) in der Möglichkeit liegen, ein recht objektives Instrument für die Beobachtung literaturgeschichtlicher Entwicklungen oder gattungsspezifischer Merkmale im Bereich der Semantik zu gewinnen. Sie dürfte auch dem Reklamefachmann ein Kriterium (unter mehreren) für die Abschätzung der Wirksamkeit von Werbetexten an die Hand geben. Entsprechendes gilt für den Texter von Schlagern und Chansons.
112
10.
Anwendung: Les chats von Baudelaire
10.1.
Probleme einer empirischen Ermittlung von Assoziationen
Nach Behandlung der einzelnen semantischen Relationen sollen nun ein literarischer Text (Kap. 10.) und ein reklamesprachliches Korpus (Kap. 11.) hinsichtlich ihrer semantischen Dichte beschrieben werden. Zunächst möchte ich am Beispiel eines oft interpretierten Gedichts von Baudelaire zwei verschiedene Methoden zum Auffinden von Assoziationen, eine Untersuchung von R.Wolff und einen eigenen Versuch, vorstellen. Hier das Gedicht: (158)
LES CHATS Les amoureux fervents et les savants austères Aiment également, dans leur mûre saison, Les chats puissants et doux, orgueil de la maison, Qui comme eux sont frileux et comme eux sédentaires. Amis de la science et de la volupté, Ils cherchent le silence et l'horreur des ténèbres; L'Êrèbe les eût pris pour ses coursiers funèbres, S'ils pouvaient au servage incliner leur fierté. Ils prennent en songeant les nobles attitudes Des grands sphinx allongés au fond des solitudes, Qui semblent s'endormir dans un rêve sans fin; Leurs reins féconds sont pleins d'étincelles magiques, Et des parcelles d'or, ainsi qu'un sable fin, Êtoilent vaguement leurs prunelles mystiques. (Les Fleurs du Mal, LXVI)
Wolff hat versucht, die Bestimmung der Assoziationen dieses Textes auf experimentellem Wege zu objektivieren: eine Gruppe von französischen Studenten wurde gebeten, Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den aufgelisteten Lexemen des Gedichts zu markieren, wobei allerdings der Wortlaut des Textes mitberücksichtigt werden sollte; der Kernsatz der Instruktion an die Testgruppe lautet: But de votre exercice: regrouper tous ces mots en „familles", en fonction de leur similitude de sens, qui leur est donnée par la place ou ils se trouvent dans le poème. (S. 98)
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Die Auswertung der Fragebögen ergibt als besonders häufig empfundene Ähnlichkeiten die Beziehungen zwischen den Wörtern (S. 100f.): 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
amoureux science orgueil étincelle ténèbres Ërèbe silence or aimer
-
aimer (häufigste Beziehung) savant fierté étoiler horreur coursier f u n è b r e solitude étoiler ami
Es handelt sich dabei großenteils um unabhängig von dem mitzuberücksichtigenden Gedichttext bedeutungsähnliche Wörter. Dies gilt zweifellos für 1., 2., 3., 9., wohl auch für 4. und 7., wenn auch im letzteren Fall die syntaktische Beziehung einen Einfluß gehabt haben mag, ähnlich wie bei 5. Falls solitudes (= „désert" 1 ) von den Testpersonen richtig verstanden worden ist — das Wort erscheint im Fragebogen leider im Singular — wäre seine Beziehung zu „silence" auf dem 7. Platz als referentielle Kontiguität zu verstehen. Die Zuordnung anderer Wörter ist dagegen eindeutig kontextbedingt (sprachliche Kontiguität), so die Beziehung von saison und mûr mit einer mittelstark ausgeprägten „Ähnlichkeit". Für Wolff stellt diese Orientierung an Kontiguitätsbeziehungen eigentlich einen Verstoß der Versuchspersonen gegen die Versuchsinstruktion dar, in der verlangt worden war, das verbale Material aufgrund semantischer Ähnlichkeit zu ordnen. (S. 62)
Das mit einem gewissen mathematischen Aufwand gewonnene Hauptergebnis liegt in der Konstruktion von 9 „semantischen Äquivalenzklassen"; damit sind die auf Ähnlichkeit beruhenden Gruppierungen von Wörtern des Gedichts um Leitbegriffe wie „Liebe/Sexualität", „Katzen" und „Geheimnis" (die Adjektive mystique und magique umfassend) gemeint (SS.59-61). Wolff nimmt unter Berufung auf Jakobsons Theorie der poetischen Funktion an, daß die Äquivalenzklassen „die inhärente Textpoetizität" steigern (S.83). Überzeugend wirkt in dieser Arbeit die Qualität der mathematischen Verarbeitung von empirisch gewonnenen Daten. Fraglich scheint dagegen, ob diese Daten im Hinblick auf die poetologische Problemstellung wirklich signifikant sind. Wenn Beziehungsreich1
Pichois in Baudelaire S.959.
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tum erfaßt werden soll und die diesem zugrundeliegenden Assoziationen nach Ähnlichkeit, Kontrast und Kontiguität erfolgen (Wolff S.44), ist nicht einzusehen, wieso der Test sich auf das Abfragen von Ähnlichkeitsbeziehungen beschränkt. Denn diese spielen im allgemeinen in der Konstitution poetischer Texte eine wesentlich geringere Rolle als Entgegengesetztheit. Im übrigen bleibt die Testinstruktion, die nach Ähnlichkeit der Wörter aufgrund ihrer Stellung im Gedicht fragt (s.o.), recht unklar. Soll eine Ähnlichkeitsrelation zwischen Wörtern nur dann markiert werden, wenn der Text sie einander annähert? Die Reaktionen der Testpersonen lassen nicht auf eine solche Interpretation schließen, denn gerade Wörter mit hohem Ähnlichkeitsmaß (science/savant, orgueil/fierté, silence/solitude) sind im Text syntaktisch nicht aufeinander bezogen. Andererseits mag die zitierte Klausel manche Studenten veranlaßt haben, Wörter schon aufgrund ihrer sprachlichen Kontiguität als „ähnlich" zu bezeichnen.
10.2.
Assoziativität als Teil der semantischen Gesamtstruktur
Der im folgenden unternommene Versuch einer Beschreibung von Assoziationen in Les chats basiert weder auf einem Test, noch auf einem mathematischen Verfahren zur Berechnung der relativen Assoziationsdichte. Im Gegensatz zu der Untersuchung von Wolff liegt das Schwergewicht auf der im wesentlichen intuitiven Feststellung von Oppositionsverhältnissen, deren grundlegende Bedeutung für die Entstehung von Assoziationen schon im zweiten Kapitel dargelegt wurde. In Teilen der nachstehenden Beschreibung lehne ich mich an Riffaterres Interpretation des Gedichts an, die wiederholt auf die Assoziationen des Textes eingeht 2 . Die erste Zeile des Gedichts enthält die im Frankreich des 19. Jahrhunderts geradezu clichehafte Opposition zwischen amoureux und savants, die nach Riffaterre (S.330f.) in der Mythologie dieser Zeit zwei diametral entgegengesetzte Archetypen des Menschen 2
„Les Chats de Baudelaire", in Riffaterre 1971, S. 307-364. Damit im folgenden nicht meine möglichen Irrtümer Riffaterre angelastet werden, weise ich bei allen von ihm übernommenen Beobachtungen auf den angegebenen Artikel hin. Riffaterres Beitrag geht von einer Kritik an der bekannten Interpretation der Chats von Jakobson und Lévi-Strauss aus. Daß in dieser Interpretation gerade die der Semantik gewidmete Teiluntersuchung erhebliche Schwächen aufweist, hat Posner gezeigt (S. 168-171).
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bezeichnet. Diese psychologische Opposition spiegelt sich in der Ambivalenz der Katzen {puissants et doux, Riffaterre S.334) wider und wird erneut in der 5. Zeile (science/volupté) aufgegriffen. Nicht koordinativ ist anders als das Vorgenannte die Verbindung des Prädikats cherchent mit dem Objekt horreur in der 6. Zeile, die einen semantischen Kontrast „entre un désir et l'objet non désirable de ce désir" ausdrückt (Riffaterre S. 340). Die Gesamtvorstellung von „Finsternis", zu der mehrere Wörter der 2. Strophe mit ihrer eigentlichen Bedeutung oder durch metaphorische Ähnlichkeit bzw. metonymische Kontiguität beitragen {ténèbres, Êrèbe, funèbres), kontrastiert mit Hinweisen auf „Licht" (étincelles/étoilent) in der letzten Strophe und läßt ein Bild von „lumière dans l'obscurité" entstehen (Riffaterre S.349). Die Antithese „Dunkel" - „Licht" geht Hand in Hand mit dem versteckten Gegensatz zwischen der durch Erèbe und coursiers funèbres in Form von Ersetzungsfiguren vertretenen Vorstellung der Hölle und der des Himmels, die metonymisch in étoilent anklingt. Diese vertikale Achse zwischen enfer und ciel steht im Mittelpunkt von Guirauds schon oben in 2.6. zitierter Beschreibung des „stilistischen Feldes" der Fleurs du Mal. Die zweite Strophe stellt nicht nur Pole für die Opposition „Dunkelheit" — „Licht" und „Hölle" — „Himmel" bereit. Durch Kontrast mit der Sexualmetaphorik der 12. Zeile (Riffaterre S.348f.), in der das Adjektiv fécond vor allem den Gedanken an die Entstehung von Leben wachruft, werden in der zweiten Strophe auch die in Êrèbe und funèbres enthaltenen Vorstellungen des Todes mobilisiert. Die Opposition zwischen den beiden Terzetten beruht auf dem Merkmal „± Ausdehnung": die Unendlichkeit des Raumes (fond des solitudes) und der Zeit (rêve sans fin) steht in Gegensatz zum extrem Kleinen (étincelles, parcelles) — man denke an Pascals „deux infinis". Damit verbindet sich eine weitere Antonymie: die Sphinx wird bei Baudelaire bisweilen mit Gefühlskälte und Sterilität assoziiert (vgl. Gedicht XVII und XXVII der Fleurs du Mal)-, diese Eigenschaft bildet den Gegenpol zu den schon erwähnten Bildern der 12. Zeile. Bisher haben wir zwei Gruppen von Oppositionspaaren aufgefunden, die untereinander noch recht unverbunden erscheinen: — in den ersten 5 Zeilen die Gegenüberstellung von zwei Typen von Menschen, denen zwei Eigenschaften der Katzen entsprechen; 116
— im Rest des Gedichts Oppositionen zwischen Dunkelheit und Licht, Hölle und Himmel, Tod und Leben, unendlich Großem und Kleinem, Sterilität und Fruchtbarkeit. Ein formaler Unterschied zwischen diesen Oppositionen liegt in ihrer syntaktischen Realisierung: neben koordinierten - und aufgrund dieser Symmetrie auch augenfälligeren — Gegensätzen stehen nichtkoordinierte, wobei hier noch zu unterscheiden ist zwischen syntaktisch miteinander verknüpften Antonymen (chercher/l'horreur) und den übrigen (z.B. „Dunkelheit"/,,Licht"), die zudem noch durch das erste Terzett getrennt sind. Diesen verschiedenen syntaktischen Typen, die im Gedicht in der genannten Reihenfolge erscheinen, entsprechen Unterschiede im Evidenzgrad der Opposition. Während der Gegensatzcharakter von koordinierten Wörtern wie amoureux und savants lexematisch explizit und in hohem Maße evident ist, springt die Antonymie der verschiedenen Wortarten angehörenden Lexeme chercher und horreur schon weniger ins Auge: der Gegensatz, obwohl ebenfalls „benutzt", erscheint erst auf der abstrakteren Ebene der Merkmalanalyse (chercher „positiv", horreur „negativ"). Eine noch geringere Evidenz besitzt die auch syntaktisch nicht mehr explizite Opposition zwischen „Tod" und „Leben", da sich dieser letztere Begriff erst assoziativ aus dem Gesamtinhalt der — zudem metaphorisch formulierten - Zeile 12 ergibt. Ähnliches gilt für die Erschließung des Pols „Himmel", der metonymisch (also durch Kontiguität) an etoilent anknüpft. Die Relationen „Tod" : „Leben" und „Hölle" : „Himmel" stellen Assoziationen zweiten Grades dar, da zumindest ein Gegensatzpol durch eine Ersetzungsfigur gebildet wird, die ihrerseits schon aus einer — allerdings paradigmatischen — Assoziation hervorgeht 3 . 3
Die Assoziationen zweiten und höheren Grades beruhen linguistisch auf Äquivalenzen von Äquivalenzklassen, deren Problematik für die Textinterpretation Posner so beschreibt: „Man kann über einem gegebenen Text ständig neue Äquivalenzklassen höherer Stufe dadurch bilden, daß man die Äquivalenzklassen niederer Stufe unter gewissen Gesichtspunkten höherer Stufe in Beziehung zueinander bringt. (. . .) Selbst bei Beschränkung auf den Zeichenträger und Vernachlässigung aller textfremden Gesichtspunkte kann ein Interpret niemals behaupten, er habe ,das Ganze' mit all seinen Merkmalen erfaßt. (. . .) Freilich werden die Textmerkmale von einer bestimmten Stufe ab immer uninteressanter, je weiter sich der Interpret bei ihrer Konstruktion von der Basis der Pyramide, den Primärinformationen des Zeichenträgers entfernt." (S. 157f.). Die hier beschriebenen Assoziationen entstehen entweder auf der „Basis der Pyramide" oder schließen unmittelbar daran an. Einige von Jakobson/Lévi-Strauss angesetzte, aber unter dem Gesichtspunkt der ¡angue recht zweifelhafte und auch nicht als „geschaffen" erscheinende Äquivalenzen
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Wir können also festhalten, daß die syntaktische Explizitheit der Oppositionen zusammen mit ihrer semantischen Evidenz innerhalb des Gedichts in drei Stufen abnimmt. Die hier erwähnten, für die assoziative Struktur des Gedichts zweifellos bedeutsamen Gegensatzrelationen erscheinen in Wolffs Ähnlichkeitsmatrix (SS. 100f.), wenn überhaupt, so nur mit sehr geringen Werten. Das Abfragen von Wortähnlichkeiten vermag eben nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Beziehungsreichtum des Textes zu beleuchten. In einem zweiten Durchgang sollen nun die Ähnlichkeitsbeziehungen im Gedicht beschrieben werden. Dabei handelt es sich nur zum kleineren Teil um „semantische Relationen" im definierten Sinne. Häufiger und für die Gedichtsstruktur wichtiger sind die expliziten, syntaktische oder lexikalische Mittel verwendenden Annäherungen verschiedener Wirklichkeiten, wie sie schon oben in 4.1. beschrieben wurden, zum Beispiel: — également (Z.2) unterstreicht die Gemeinsamkeiten zwischen amoureux und austères ; — die Wiederholung von comme eux in Z.4 betont die Affinität zwischen den beiden Menschentypen und den Katzen (Riffaterre S.335); in die gleiche Richtung zielt auch das diese Wortgruppen verbindende Verb aiment (Z.2) und die inverse Beziehung in Z. 5 ; nach Riffaterre ist amis hier ein „stéréotype poétique pour désigner toute parenté ou toute affinité usuelle" (S. 337); — das Prädikat von Z.9 und 10 (prennent les attitudes) paraphrasiert „ressembler" und hebt explizit die Ähnlichkeit zwischen Katzen und Sphinx hervor. Ausdrücklich affirmierte Ähnlichkeiten verbinden also vor allem Menschen und Katzen, Katzen und Sphinx. Die Betrachtung der auf semantischen Relationen beruhenden Ähnlichkeit erbringt keine grundlegend neuen Aspekte: — die Affinität zwischen den beiden Menschentypen und den Katzen wird durch die Bedeutungsverwandtschàft einiger auf sie finden in unserer Darstellung keine Berücksichtigung; so die angeblichen Beziehungen reins féconds - amoureux, vermittelt durch volupté, und prunelles - savants, vermittelt durch science (S.300); dies gilt auch für die Äquivalenzklassen sehr hoher Stufe, die durch die von den Autoren zur Kennzeichnung der Textprogression verwandten Begriffe réel, irréel und surréel begründet werden (S. 299).
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referierender Wörter, nämlich amoureux fervents (Menschen)/ volupté (Katzen) und savants (Menschen)lscience (Katzen) unterstrichen; — der Begriff der Dunkelheit erscheint nach Riffaterre (S.341) in der 2. Strophe in vier aus rhetorischer Sicht synonymen Wörtern: ténèbres, horreur, funèbres, Êrèbe\ — auf die von Baudelaire empfundene Ähnlichkeit von Raum und Zeit aufgrund ihrer Unbegrenztheit wurde schon oben (4.2.) hingewiesen; — étincelles und parcelles enthalten das semantische Merkmal des sehr Kleinen. Zur Beurteilung der assoziativen Rolle von sphinx müssen weitere Texte herangezogen werden; sphinx taucht in mehreren Gedichten der Fleurs du Mal im gleichen Kontext wie bejahte oder verneinte Wörter für „ewig" auf: jamais, éternel (XVII), à jamais (XXVII), sans fin (LXVI). Wenn also das Wort sphinx aufgrund seiner Eigenbedeutung und seines Kontextes an „Ewigkeit" denken läßt, so kann man doch an keiner Stelle nachweisen, daß es als rhetorische Ersetzungsfigur für diesen Begriff steht. Im 8. Kapitel haben wir derartige semantische Verhältnisse als „konnotativ" bezeichnet. Der konnotierte Inhalt „Ewigkeit" kann von Ähnlichkeit (Länge der Ausdehnung in Zeit) oder Kontiguität (Alter der Sphinx als Teil der Ewigkeit) abgeleitet werden. Die Assoziation „Sphinx"/„Frigidität" (s.o.) beruht dagegen eindeutig auf Ähnlichkeit. Referentielle Kontiguitätsbeziehungen als Quelle von Assoziationen scheinen in Les chats nur in Metonymien vorzuliegen 4 . Überlagerung durch Ambiguität (s.o. 6.4.) findet sich in der 5. und 6. Zeile, da bei der ersten Lektüre nicht gleich klar wird, ob sich ils auf amoureux ¡savants, auf die Katzen oder auf beides bezieht (Riffaterre S. 336). Pichois kommentiert diese Stelle mit den Worten: „Ambiguïté qui a pour fonction de confondre encore les savants et les chats" 5 . Eine weitere Ambiguität bietet nach der von Pichois (ebd.) zusammengefaßten Meinung mancher Interpreten das Syntagma eût pris pour der 7. Zeile, das zunächst sowohl im Sinne von „verwechseln mit" als auch von 4
5
Z.B. ßrebe - „Dunkelheit" (Riffaterre 341). Bei einigen von Riffaterre als Metapher oder Metonymie bezeichneten Stilfiguren mag man sich fragen, ob wirklich Ersetzung, oder nicht vielmehr Konnotation im Sinne von Abschnitt 8.5. vorliegt. Ich gehe diesem interpretatorischen Problem nicht nach, da in jedem Falle Assoziativität und semantische Dichte gegeben sind. In Baudelaire S. 95 8.
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„nehmen als" verstanden werden könne. Die Zeichnung S.121 resümiert die für die Gesamtstruktur wichtigsten Oppositions-und Ähnlichkeitsbeziehungen. Besteht die Relation zwischen Lexemen, erscheinen diese in ihrer im Text vorliegenden Form. In den übrigen Fällen werden die jeweiligen Bedeutungen in Anfuhrungsstrichen auf Deutsch aufgeführt; es handelt sich dabei um — semantische Merkmale von Wörtern des Gedichts (z.B. „klein"); — Oberbegriffe mehrerer Wörter (z.B. „Licht"); — metaphorisch, metonymisch oder konnotativ suggerierte Bedeutungen. Zwischen manchen Wörtern bestehen mehrere Typen von Relationen. Wie weit das Schema davon entfernt ist, die sprachlichen Voraussetzungen sämtlicher sich möglicherweise aus der Lektüre des Gedichts ergebenden Assoziationen zu erfassen, geht schon aus den in Anm.3 (S. 11 I i ) aufgeführten linguistischen Gründen hervor. Wenn wir nun das Gedicht aufgrund dieses Schemas zu gliedern versuchen, werden drei nach semantischen Kriterien bestimmbare Blökke deutlich: — die Zeilen 1-5 stellen Relationen zwischen einer zweipoligen menschlichen Sphäre und den Katzen her; — ein mittlerer Block (Zeilen 6-11) enthält Wörter mit negativ wertender Bedeutungskomponente; — der dritte Block (Zeilen 12-14) stellt diesen die entsprechenden Wörter mit positiv wertender Bedeutungskomponente gegenüber. Assoziative Beziehungen (semantische Relationen) sind besonders stark innerhalb des ersten Blocks sowie zwischen dem zweiten und dritten ausgeprägt. Die semantische Verbindung zwischen dem ersten Block und dem Rest des Gedichts gewährleisten einerseits explizite Ausdrücke der Ähnlichkeit (zwischen chats und coursiers, chats und sphinx), andererseits das in dieser Arbeit von unserer Fragestellung nicht erfaßte textgrammatische Instrument der Koreferenz, die u.a. die Überschrift Les chats mit Les chats (Z.3), Iis (Z.6), les (Z. 7), Iis (Z.9), und Leurs (Z. 12) verknüpft. Die durchgehende Präsenz der Katzen im Gedicht wird also nicht durch das Mittel der Assoziation erreicht. In einer hier keineswegs angestrebten Gesamtinterpretation 120
würde
Assoziativität (Opposition, Ähnlichkeit) und explizite Ähnlichkeit in Baudelaires Les chats Symbole:
< >
* Opposition c
Ähnlichkeit als „semantische Relation" explizite Ähnlichkeit (s.o. 4.1.)
Zeilen 1 -5
amoureux
-7> . savants
V
chats
volupté , < r Zeilen 6-7
coursiers fúnebres „Hölle" ^ ^
' „Tod
Zeilen 9-11
.Finsternis"
- — sphinx
I
„Sterilität unendlich groß"
Zeilen 12-14
féconds > -
-