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German Pages 372 Year 2015
Helge Meyer Schmerz als Bild
Für Dieter Warzecha (1934-2005) Ohne ihn wäre diese Arbeit nie entstanden
Helge Meyer (Dr. phil.) ist Lehrbeauftragter im Institut Bildende Kunst und Kunstwissenschaft der Universität Hildesheim, Kunstlehrer am Gymnasium und arbeitet international als Performancekünstler. Zuletzt veröffentlichte der Autor einen Essay zur Performerin Monika Günther in »Performance Saga, Interview«, hrsg. von Andreas Saemann und Katrin Grögel, edition fink, Zürich 2007.
Helge Meyer Schmerz als Bild. Leiden und Selbstverletzung in der Performance Art
Als Dissertation angenommen im Januar 2007 an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart im Fachbereich Kunstwissenschaft. Erstgutachter war Prof. Dr. Hans Dieter Huber, Zweitgutachter war Prof. Dr. Hubert Locher.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Boris Nieslony, »MA-Version IV«, Moltkerei Werkstatt Köln 1993, Foto: Peter Farkas Lektorat: Helge Meyer Satz: tapporaso, Agentur für Kommunikation Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-868-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhaltsverzeichnis Einleitung
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Teil A: Die kunsthistorische Einordnung der Performance 1. Performance Art und ihre kunsthistorischen Ursprünge
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Der Begriff Performance
1.2 Performative Handlungen im Futurismus
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1.3 Dada und seine Folgen
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1.4 Vom Bild zur Handlung
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1.5 Gutai – Performative Aktionen
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1.6 Happening und Fluxus
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Teil B: Fragen zum Bildbegriff und zum Forschungsstand der Bildwissenschaft 2. Grundfragen zum Bildbegriff und zum Forschungsstand der Bildwissenschaft 32 3. Der Bildbegriff in der Performance Art
48
Teil C: Begrifflichkeiten und Definitionen 4. Zeitlichkeit und Wahrnehmung
62
4.1 Zeitlichkeit und Dauer
62
4.2 Wahrnehmung
70
5. Erinnerungsräume und Körperlichkeit
79
5.1 Was ist Erinnerung?
79
5.2 Körper und Präsenz
85
5.3 Schwellenerfahrung und Katharsis
92
6. Performative Ästhetik, Performanz und das Ritual
97
6.1 Performative Ästhetik und Performanz
97
6.2 Aspekte des Rituellen in der performativen Ästhetik 6.3 Performative Ästhetik in Performance Art, im Theater und im Sport
104 111
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Teil D: Der Schmerz als Phänomen 7. Schmerz – Ein menschliches Phänomen
124
7.1
124
Der Schmerz aus medizinischer und neurologischer Sicht
7.2 Schmerzentstehung im Körper
125
7.3 Schmerz als philosophisches Phänomen
127
8. Die Universalität des Schmerzes – Geschichte und Kultur des Leidens
145
8.1 Die Geschichte des Schmerzes
151
8.2 Heilige und Märtyrer – Der Heilige Sebastian und Ron Athey
157
8.3 Der Schmerz der Anderen – Wege der Kommunikation
161
Teil E: Schmerzhafte Bilder in der Performance Art 9. Wichtige Positionen in der Schmerzperformance
176
9.1 Stellvertretend leiden – Gina Pane
179
9.2 Der Körper als Repräsentation von Geschlechterproblematik – Valie Export
185
9.3 Körperwissen und Grenzgänge – Chris Burden
189
9.4 Cleaning the house – Marina Abramovic und Ulay
192
9.5 Leugnung der biologischen Endlichkeit – Stelarc
198
10. Selbstverletzung und Markierung
206
10.1 Selbstverletzung als Ventil – Üdi Da
207
10.2 Das innere und äußere Selbst – Cuttings von Kira O´Reilly
215
10.3 Der Körper als Leinwand – Blutperformances von Franko B
227
10.4 Blut als Repräsentation des Selbst/Bluten als Opfer – Giovanna Maria Cassetta und Billy Curmano 10.5 Kunst des Fleisches – Die chirurgischen Operationen Orlans
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11. Schmerz als Mittel für politische oder soziale Stellungnahmen
244
11.1 Kannibalismus und Auflehnung gegen die Moral – Zhu Yu
245
11.2 Humanismus als Grenzüberschreitung – Yang Zhichao
255
11.3 Poesie und Ekel – Zhang Huan
262
11.4 Leiden als Krisenlösung – Yoyo Yogasmana
268
11.5 Der Eiserne Vorhang – Performance in Osteuropa
273
12. Schmerz als Todesmetapher und Dauerperformances
281
12.1 Tod, Vergänglichkeit und Dauer – Alastair MacLennan und Dan McKereghan
281
12.2 Verwahrlosung und Demut – Annährung an den Begriff „tot“/ Boris Nieslony
292
12.3 Massenmörder und die Sprache der Wunde – Danny Devos aka DDV
299
12.4 Tod als Auslöser von Kultur? – Anja Ibsch
302
12.5 Das Publikum und die Gefährdung des Künstlers – Yann Marussich und Jochen Gerz
309
12.6 Nähe und Distanz – Grenzgänge von Nezaket Ekici
314
13. Identität, Autobiographie und Scheitern – Jüngere Positionen in der Performance Art
324
13.1 Autobiographie als Antrieb – Jamie McMurry
324
13.2 Identität, Politik und Grenzüberschreitung – Julie Andrée T.
329
13.3 „Schmerz schreit nach Heilung“ – BBB Johannes Deimling
333
Resumee
345
Literaturverzeichnis
360
Abbildungsverzeichnis
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Danksagung
Zuerst möchte ich mich für die fachliche Betreuung bei Hans Dieter Huber bedanken. Diese Arbeit wurde nur dank seines Interesses an diesem ungewöhnlichen Thema möglich. Hubert Locher möchte ich ebenfalls herzlich für die Betreuung meiner Dissertation danken. Ich danke ganz herzlich allen Künstlern und Wissenschaftlern, die mir für diese Arbeit bereitwillig Zeit und Material zur Verfügung gestellt haben. Ganz besonders Boris Nieslony, an den ich mich immer wieder mit wichtigen Fragen wenden konnte. Außerdem Anja Ibsch, BBB Johannes Deimling, Alastair MacLennan, Jamie McMurry, Julie Andrée T., Zhu Yu, Zhang Zhichao, Zhang Huan, DDV (aka Danny Devos), Billy Curmano, Marina Abramovic, Dan McKereghan, Nezaket Ekici, Franko B, Kira O´Reilly, Giovanna Maria Cassetta, Yann Marussich, Yoyo Yogasmana, Andre Stitt, Christian Messier, Eric Letourneau und Udi Da. Unterstützung und fachliche Hilfe gaben mir zudem Hartmut Volkmann, Rachel Zerihan, Richard Chapman, Wolfgang Larbig und Thomas Metzinger. Ein besonderer Dank geht an meine Frau Stefanie Pape, die nicht nur viel Geduld mit mir hatte, sondern auch einen Großteil der Korrekturen an der vorliegenden Arbeit vorgenommen hat. Auch meiner Tochter Marie danke ich für das Verständnis, das ihr Vater zu manchen Zeiten nicht ansprechbar war. Meiner Familie (Marion, Rudi, Inge und Karl) möchte ich für die Unterstützung danken, die sie finanziell und in der Betreuung unserer Tochter geleistet hat. Ohne diese Hilfe wäre das Vorhaben mit Sicherheit gescheitert. Meinem Bruder Tim Meyer danke ich für die Gestaltung und Wartung meiner Homepage, die für viele Kontakte meine erste Visitenkarte darstellt. Mathias Begalke danke ich für seinen uneingeschränkten Einsatz beim Lektorat und seine moralische Unterstützung. Der Deutsche Akademische Austausch Dienst ermöglichte mir ein wichtiges Forschungsstipendium, mit dem ich in vier Archiven in Kanada, der Schweiz, in London
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und in Nottingham recherchieren konnte. Besonderer Dank geht hier an Frau Pfaffenhausen. Vor Ort betreuten mich auf sehr sehr großzügige Weise Richard Martel und Nathalie Perrault (Le Lieu in Quebec City, Kanada), Pius Freiberghaus (von Perforum in Pfäffikon, Schweiz), Daniel Brine und Lois Keidan (Live Art Development Agency in London, England) und Stuart Simpson, Josie Akers und Barry Smith (Live Art Archive in Nottingham, England). Das dieses Stipendium zustande kam, verdanke ich mit Sicherheit auch den Gutachten von Hans Dieter Huber, Andreas Hoppe und Gisela Gührs. Ohne Torsten Daniel und Dörte Hinrichs wäre es mir unmöglich gewesen, diese Arbeit zu setzen, zu formatieren und in eine Form zu bringen. Sie haben die gesamte grafische Gestaltung in ihrer Freizeit erledigt und damit sehr viel Zeit und Nerven geopfert. Herzlichen Dank in besonderem Maße!!!! Wenn Monika Lüder nicht vor vielen Jahren eine Entscheidung getroffen hätte, die meinen weiteren Lebensweg beeinflusst hat, wäre mir die Möglichkeit zur Promotion nicht gegeben gewesen. Ich danke ihr hier noch einmal ganz besonders für ihr Vertrauen! Allen Künstlern, mit denen ich in den letzten Jahren Gespräche über diese Untersuchung geführt habe und die mir neue Wege und Inhalte aufgezeigt haben, möchte ich ebenfalls meinen herzlichsten Dank aussprechen.
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Einleitung Bei meiner langjährigen Beschäftigung mit Performance Art in Theorie und Praxis bin ich immer wieder auf ein Phänomen gestoßen, welches mich nachhaltig beeindruckt hat. Das schmerzvolle Handeln, welches von einigen Künstlern auf sich genommen wird, um ein Bild zu erzeugen oder vielmehr selbst Bild zu werden, übt eine ungewöhnlich starke Faszination auf die Betrachter (und so auch auf mich selbst) aus. Schmerzvolles Handeln meint hier auf der einen Seite tatsächliche Selbstverletzung, die von den Künstlern meistens live (und in wenigen Fällen auch nur für die Kamera oder den Fotoapparat) vor Publikum gezeigt wird. Auf der anderen Seite sind aber auch Performances gemeint, die durch extreme Gefährdung oder lange Dauer Assoziationen von Leiden hervorrufen oder verbildlichen. Die performativen Bilder, die hier entstehen, entziehen sich aufgrund ihres Aufführungscharakters einer angemessenen Speicherung auf medialen Trägern und sind somit nur ephemer zu rezipieren. Doch gerade durch das gemeinsame Erleben des Moments der Gefahr oder des Schmerzes durch den Performer und das Publikum entsteht eine komplexe Beziehung zwischen Künstler und Betrachter. Diese Beziehung, die hier im Prozess des Entstehens von Bildern hergestellt wird, ist nach meiner Auffassung einzigartig. Zwar gibt es Berührungspunkte mit theatralen Bild- und Aufführungsformen oder mit Elementen des Sports, doch die Konsequenz der tatsächlichen Zufügung von Schmerz unter der Prämisse der Bildproduktion entfällt in den genannten Disziplinen zum größten Teil. Deutlicher hingegen lassen sich gewisse rituelle Bezüge in den Schmerzperformances erkennen, die deshalb in dem vorliegenden Text eine Rolle für das Verständnis einiger Arbeiten gespielt haben. Nach meiner Überzeugung kann die Performance Art als Übersetzungskunst unterschiedlichster Disziplinen angesehen werden, die sie in einer Art Ballung zu anschaubaren kulturellen Phänomenen in Bewegungsbildern zu verdichten imstande ist, die einer technologischen Vermittlung erst einmal zuwiderlaufen. Das Werkzeug, mit dem die Performance Art diese Übersetzung vornimmt, ist der Körper des Performers im Zusammenspiel mit den Komponenten Zeit und Raum. Der Körper dient dem Performer hier als Element,
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das über seine bloße Erscheinungsform hinausweist, symbolische Funktionen einnimmt und gleichzeitig als Material objekthaft behandelt und hinterfragt wird. Durch den Einsatz dieses Werkzeugkomplexes finden die Performer Eingang in die Empfindung des Betrachters und sind in der Lage, kulturell wirksam zu handeln. Die Grundthese der vorliegenden Arbeit lautet deshalb: Schmerz kann in einem komplexen Prozess innerhalb der Performance Art verbildlicht werden und somit als Kommunikationsgegenstand genutzt werden. Dem eigentlich sprachlosen Schmerz, dessen Vorhandensein beim Leidenden von einem Gegenüber nur geglaubt, jedoch nicht bewiesen werden kann, lässt sich im Livebild der Performance ein Bild zuordnen, welches vom Betrachter nachempfunden werden kann. In der folgenden Untersuchung werde ich deshalb Fragestellungen dreier komplexer Themenfelder miteinander verknüpfen. Zum einen sind es kunstgeschichtliche Grundfragen, die die Kunstform des Performativen, in Folge Performance Art oder Performance genannt, und ihre besonderen Merkmale betreffen. Wie entstand die Disziplin? Was sind ihre phänomenologischen Besonderheiten? Wie ist das Verhältnis zwischen Künstler und Publikum in dieser besonderen Form der Bildproduktion? Das zweite Feld deckt folgerichtig Fragen nach dem Bild ab. Hierbei liegt das Augenmerk zum einen auf der Geschichte des Bildbegriffs. Was ist ein Bild? Woher stammt die komplexe Beziehung zwischen Bild und Betrachter? Wie wirken Bilder? Zum anderen wird der besondere Bildbegriff in der Disziplin der Performance Art untersucht. Grundfragen hierbei sind: Was ist die Besonderheit eines Live-Bildes, dessen Produzent (das schaffende Subjekt) gleichzeitig auch der Bildgegenstand (das dargestellte oder sich darstellende Objekt) ist? Wie beeinflusst der ephemere Charakter des performativen Bildes seine Rezeption? Der dritte Hauptkomplex beschäftigt sich mit dem Phänomen Schmerz. Hier ist auf der einen Seite die größte Entfernung zu kunstgeschichtlichen oder kunstwissenschaftlichen Phänomenen zu verdeutlichen, da Schmerz insbesondere in medizinischen oder neurologischen Wissenschaftsbereichen untersucht wird. Auf der anderen Seite spielt jedoch gerade das Leiden oder der Schmerz eine große Rolle innerhalb nahezu aller Disziplinen menschlicher Kultur. Deshalb habe ich den unterschiedlichsten Sichten auf den
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Schmerz auch besonders viel Raum in dieser Arbeit zugestanden. Es beschäftigen mich hier Fragen wie: Wie wirkt der Schmerz neurologisch? Wie lässt sich Schmerz mitteilen? Welche Rolle spielt Schmerz in existenzialistischen und philosophischen Theorien? Der Anspruch des Textes ist somit eindeutig interdisziplinär und macht sich zur Aufgabe, das Phänomen des Schmerzes als Bild in der Performance Art so weit zu beleuchten, dass sich Ansätze ergeben, die Handlungen der Künstler zu verstehen und kulturell einordnen zu können. Die Untersuchung erhebt dabei nicht den Anspruch auf eine vollständige kunstgeschichtliche Herleitung und Darstellung der Schmerzperformance. Vielmehr bitte ich den Leser in dem Text eine kulturwissenschaftliche Betrachtung des Phänomens zu sehen, bei welcher vom Autor subjektiv jene Aspekte hervorgehoben wurden, die seinem Argumentationsansatz folgen. Insbesondere habe ich deshalb jenen Künstlern viel Raum verschafft, die sich in ihrer aktuellen Arbeit mit dem Untersuchungsgegenstand beschäftigen. Performer, die in der Vergangenheit die Schmerzperformance auf besondere Weise geprägt haben, jedoch kunstgeschichtlich bereits vielfach untersucht worden sind, wurden hingegen nur relativ knapp in die Überlegungen des Textes einbezogen, da ihr Werk interessierten Lesern bereits auf breiter Ebene in anderen Publikationen zugänglich ist. Demgegenüber habe ich Künstlern wie Zhu Yu aus China oder Boris Nieslony aus Deutschland und anderen eine intensive Betrachtung ihrer Bildwelten eingeräumt, da ihre Arbeit als beispielhaft für den hier vorliegenden Untersuchungsschwerpunkt gelten kann und bisher wenig analysiert wurde. Ich habe hier glücklicherweise auf eine Vielzahl von Originalinterviews zurückgreifen können, die ich in den vergangenen Jahren mit ausgesuchten Künstlern führen konnte. Den Originalaussagen der Performer wird deshalb in dieser Arbeit große Aufmerksamkeit gewidmet. An dieser Stelle möchte ich zudem besonders auf die Schwierigkeit hinweisen, das Ereignis Performance in das Medium Fotografie zu übersetzen. Fotos können nie den Ereignischarakter einer Aktion widerspiegeln. Dennoch geben die hier verwandten Abbildungen einen Einblick in die Bildsprache und den Aufbau der behandelten Performances. Sie dürfen jedoch nicht als eigenständiges Kunstwerk verstanden werden.
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Kapitel 1: Performance Art und ihre kunsthistorischen Ursprünge 1.1. Der Begriff Performance In der hier vorliegenden Arbeit untersuche ich die Möglichkeit der Verbildlichung von Schmerz und Leiden in der Performance. Der Bildbegriff steht wie kaum ein anderer Gegenstand im Brennpunkt eines interdisziplinär ausgerichteten kulturwissenschaftlichen Interesses. Bilder hat es in jeder historischen Phase der Zivilisation gegeben. Ihre Wirkung, Deutung und Betrachtung war und ist immer eng verbunden mit der Zeit. Kein Bild lässt sich unabhängig von seinem historischen und sozialen Umfeld betrachten oder gar bewerten. Es ist in der Ausrichtung dieser Arbeit unmöglich, den gesamten aktuellen Diskussionstand der Bildtheorie zu berücksichtigen. Ich werde mich eng an die Fragestellung halten, die für die Lösung oder Klärung meines zentralen Problems relevant erscheint: Wie ist es in der Performance möglich, Schmerz und Leiden zu einem Bild werden zu lassen? In diesem Zusammenhang erscheint es mir wichtig, die Performance als kunsthistorisches Phänomen kurz einzugrenzen. Der Begriff Performance unterliegt vielfältigen Bedeutungen. Im EDV-Bereich bezeichnet er die Leistungsstärke eines Rechners, im Bankwesen steht er für den prozentualen Wertzuwachs des Vermögens einer Investmentgesellschaft oder eines einzelnen Wertpapiers. Noch differenzierter ist der Begriff der Performanz zu betrachten: In der Sprechakttheorie John L. Austins bezeichnet Performanz das ernsthafte Ausführen von Sprechakten. Performative Äußerungen sind hierbei keinen „logisch-semantischen Wahrheitsbedingungen“1 unterworfen, sondern erhalten ihre Bedeutung lediglich in Bezug auf ihre Gelingensbedingungen. „Im Gegensatz zur „konstativen Beschreibung“ von Zuständen, die entweder wahr oder falsch ist, verändern „performative Äußerungen“ durch den Akt des Äußerns Zustände in der sozialen Welt, das heißt, sie beschreiben keine Tatsachen, sondern sie 1 Wirth, Uwe: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2002, S. 9
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schaffen soziale Tatsachen. So bewirkt der deklarative Sprechakt des Standesbeamten kraft seines Amtes, daß sich die Eheleute danach im Zustand der Ehe befinden.“ 2 Exakt dieser Aspekt des Schaffens sozialer Tatsachen spielt für die Kunstform der Performance eine prägende Rolle: Es handelt sich nicht um ein inszeniertes Spiel, sondern um eine tatsächlich vollzogene Handlung mit allen realen Folgen. Insbesondere in Bezug auf schmerzvolle Performances, die einen Großteil der hier vorliegenden Arbeit prägen, bekommt die Konsequenz der performativen Äußerungen dadurch etwas körperlich und sozial Wirksames. Kunstgeschichtlich ist die Performance als Aktionskunst einzuordnen, die sich direkt auf die englische Grundbedeutung des Wortes „performance“ (Aufführung, Vorstellung) zu beziehen scheint. Doch die Übersetzung gibt nicht deutlich genug den Inhalt der Kunstform wieder: Eine Aufführung wird mit theatralen Elementen, mit „Bühnenzauber“ und Illusion assoziiert. Es handelt sich um ein Spiel, dessen Bezüge zur Wirklichkeit je nach Inszenierungsstil variieren. Performance Art hat ihre Wurzeln jedoch weniger im Darstellenden Spiel als im Leben. Inhalt der Kunstform ist menschliches Handeln unter der Prämisse der Bildproduktion. Hierbei setzen die Vertreter der Kunstform ihren Körper als Medium ein: Performance Art ist deshalb als eine Übersetzungskunst zu bezeichnen, die in der Lage ist, kulturelle Phänomene weiterzugeben. Die Auseinandersetzung der Performer mit dem Weltbild geschieht unter Berücksichtigung verschiedenster Disziplinen: Anthropologie, Psychologie, Soziologie, Philosophie und Medizin sind Berührungspunkte, die in verschiedenen Arbeiten sichtbar werden. Teils werden die Erkenntnisse dieser Wissenschaften von den Performern bewusst als Werkzeuge genutzt, um gezielt Bedeutung zu produzieren, andererseits helfen derartige Bezüge Publikum und Kunstkritikern, die Erscheinungen der Performance für sich erklärbar zu machen. Der Grund liegt in der Erscheinungsform der Aktion: Sie ist meist nur einem kleinen Kreis von Anwesenden live zugänglich, da sie auf Einmaligkeit und Unmittelbarkeit hin angelegt ist. Nur wenige Künstler wiederholen ihre Konzepte unverändert oder inszenieren showähnliche Stücke.
2 Vgl. Wirth, Uwe, ebd., S. 10/11
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1.2. Performative Handlungen im Futurismus Mit der Veröffentlichung des ersten Futuristischen Manifestes am 20. Februar 1909 in Paris provozierte die Gruppe um E. F. Tommaso Marinetti sowohl bürgerliche Lebensentwürfe, als auch ästhetische Grundprinzipien. Neben der Forderung nach der Zerstörung der Museen und Bibliotheken, der Verherrlichung des Krieges und der Geschwindigkeit, wurde erstmals der Handlung bzw. der Geste eine künstlerische Bedeutung beigemessen:
„Die Geste wird für uns nicht länger ein festgehaltener Augenblick der universalen Dynamik sein, sie wird vielmehr die Verewigung des dynamischen Gefühls sein.“ 3
Dieser avantgardistische Vorstoß stellte die bisherigen Prinzipien des Kunstbetriebes in Frage und hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. In ihren Aufführungen hielten alltägliche Handlungen wie das Lesen einer Zeitung, das Anschauen einer Uhr oder das Schnauben der Nase Einzug 4. Das Publikum, im Umgang mit derartigen Szenen ungeübt, reagierte häufig mit extremer Ablehnung. Es kam immer wieder zu Tumulten, die aber bald von den Futuristen eingeplant und bewusst forciert wurden, um die Zuschauer aus ihrer passiven Rolle zu zwingen und Denkanstöße zu produzieren. Einen besonderen Schwerpunkt legten die Futuristen auf die Auseinandersetzung mit den Errungenschaften des industriellen Zeitalters: Mit Lärmmusiken und mechanischen Elementen in ihren Ballettstücken fanden sie eine adäquate Form, mit den Innovationen ihrer Zeit künstlerisch in einen Dialog zu treten.
„In der Vergangenheit gab es nur Stille [...], doch mit der Erfindung der Maschine im 19. Jahrhundert wurde der Lärm geboren.“ 5
Die futuristische Bewegung wirkte sich auch in Russland auf die künstlerische Avantgarde aus. Um 1919 forderte der Theaterregisseur Vsevolod Meyerhold den Ausbruch des Theaters aus der „Guckkastenbühne“. Seine Stücke sollten an neuen Orten, wie dem 3 Boccioni, Umberto: Die futuristische Malerei – Technisches Manifest, in: Jappe, Elisabeth: Performance, Ritual, Prozess. Handbuch der Aktionskunst in Europa, München – New York: Prestel Verlag 1993, S. 11 4 Diese Handlungen stammen aus dem Stück „Disconcerted states of mind“ von Giacomo Balla, in einer Beschreibung von Goldberg, RoseLee: Performance Art – From Futurism to the Present, New York: Harry N. Abrams Inc. 1988, S. 28 5 Russolo, Luigi: Die Kunst des Lärms, in: Goldberg, RoseLee, ebd., S. 21, Übersetzung vom Autor
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Markt oder an Deck eines Kriegsschiffes, stattfinden. In diesen frühen Visionen stecken bereits Ansätze von öffentlichen Aktionen im urbanen Raum, wie sie später zum Beispiel von Valie Export 6 oder Günter Brus 7 in Wien durchgeführt werden sollten. In den Plänen Meyerholds zeigten sich zwar noch nicht dieselben Intentionen, die spätere Performances begründeten; der Bruch mit traditionellen Sichtweisen im Bereich der Aufführungskünste ist im Hinblick auf die späteren Entwicklungen der Performance Art jedoch nicht zu unterschätzen. Mit der Entwicklung des Biomechanischen Theaters, einer Bewegungstheorie für Schauspieler, bezog sich Meyerhold genau wie die italienischen Futuristen auf die Folgen der Industrialisierung: Der Körper der Darsteller wurde als Maschine angesehen, die von den Muskeln als Maschinist gesteuert wird. Eine Abfolge von sechzehn Übungen sollte die notwendigen Fähigkeiten zur Darstellung in möglichst effi-
Abb. 1: Valie Export/Peter Weibel: „Aus der Mappe der Hundigkeit“, Wien 1968
zienter, unreflektierter Art und Weise herausbilden. Meyerhold bezog sich mit diesem Körperbild direkt auf Methoden zur Steigerung der Arbeitseffizienz, die durch Frederick Winslow Taylor (1856 – 1918) in den USA geprägt wurden. Meyerhold nannte dies den „Taylorism in theatre“ 8, der es ermögliche, in einer Stunde darzustellen, was zuvor noch vier benötigt habe. Dieser Bezug der künstlerischen Avantgarde auf das gesellschaftlich geprägte Bild des Körpers spiegelt bereits eine Sensibilität für kunstfremde Entwicklungen wider, die in den folgenden Jahren als Verbindung von Kunst und Leben für jede Form der Aktionskunst wichtig werden sollte.
6 Valie Export führte 1968 ihren Partner Peter Weibel auf allen Vieren und angeleint durch die Wiener Innenstadt. (Performance „Aus der Mappe der Hundigkeit“). 7 Brus ging 1965 im Anzug und vollständig weiß bemalt durch Wien. Ein schwarzer Strich, der Brus Körper von Kopf bis Fuß einteilte, suggerierte eine Operationsnaht. (Performance "Wiener Spaziergang") 8 Vgl. Goldberg, Rose Lee, a.a.O., S. 45
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1.3. Dada und seine Folgen Als eine weitere Wurzel der Performance Art können die Aktivitäten der Dada-Bewegung angesehen werden. Hugo Ball und seine Frau Emmy Hennings gründeten 1916 das „Cabaret Voltaire“ in Zürich. Hier fanden tägliche Veranstaltungen statt, die einen interdisziplinären Charakter hatten. In ihrer Konzeption mit dem Begriff des „Gesamtkunstwerks“ bei Wagner vergleichbar, boten die Events ein Vorbild für die späteren Aktionen von John Cage am Black Mountain College in den 50er Jahren. Unter den ständig wechselnden Gästen waren Hans Arp, Tristan Tzara und Richard Huelsenbeck. Durch ihre Herkunft aus unterschiedlichen Kunstgattungen entfaltete sich ein breit gefächertes Programm, das jedoch der gesellschaftlichen Veränderung durch Provokation der künstlerischen Formsprache verpflichtet war. Ziel war es, den festgefahrenen Stilen eine Lebenskunst entgegenzusetzen. Der Schwerpunkt der Dadaisten lag beim ungewöhnlichen Umgang mit Sprache und Poesie. Hugo Ball erfand das Lautgedicht, eine Reihe von Versen ohne identifizierbaren Wortsinn. Der Vortrag von „Karawane“, am 23.06.1916, in einem Kostüm aus Karton, welches Ball wie einen futuristischen Schamanen erscheinen ließ, gehört zu den bekanntesten Ereignissen der Dadaisten. Nachdem das „Cabaret Voltaire“ nach nur fünf Monaten seine Türen schloss, veränderte sich das Bild des Dadaismus. In Berlin fanden 1918 weitaus direktere Provokationen statt. Mit ständigem aggressivem Unterton richteten sich Dada-Aktionen gegen die künstlerischen Aussagen der Expressionisten. Was den Dadaismus, neben seinen interdisziplinären Ansätzen, interessant macht, ist seine Wirkung auf merkantile Gesetze der Kunst. Viele performative Ansätze entsprechen hier der Herangehensweise der Dadaisten: Sie sind aufgrund ihrer ephemeren Erscheinungsweise schwierig oder gar nicht finanziell verwertbar. Außer der Aktion selbst können keine Waren mit Kunstcharakter veräußert werden. Die Marktwerte des Kunstwerkes wurden von den Vertretern der Kunstform in Frage gestellt, ja regelrecht missachtet. Walter Benjamin dazu:
„Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenigsten durch eine grundsätzliche
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Entwürdigung ihres Materials zu erreichen. Ihre Gedichte sind „Wortsalat“, sie enthalten obszöne Wendungen und allen vorstellbaren Abfall der Sprache. [...] Aus einem lockenden Augenschein oder einem überredenden Klanggebilde wurde das Kunstwerk bei den Dadaisten zu einem Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Es gewann taktile Qualität.“ 9
Die Wertigkeit von Kunst mitsamt der Erhabenheit ihrer Aura wurde radikal angegriffen. Einem Ereignis, das den Charakter eines Überfalls hat, muss eine andere Aufmerksamkeit zuteil werden als einem zweidimensionalen Bild. Die Schockwirkung und die direkte Provokation, die von den Dadaisten ausging, sollten und mussten eine gesteigerte Aufmerksamkeit nach sich ziehen. Für Benjamin ist diese Aufmerksamkeit von geradezu evolutionärer Bedeutung:
„Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren.“ 10
Somit bekommt die Kunst der Dadaisten eine gesellschaftliche Dimension, denn die Unmöglichkeit, sich in ein Werk der Dadaisten zu versenken, führe zu einer Ablenkung, die als „Schule sozialen Verhaltens“ gelesen werden könne. Demgegenüber habe die kontemplative Sicht auf die Kunst, mitsamt ihrer Tendenz zur verehrenden Versenkung in der Entartung durch das Bürgertum, zu einem asozialen Verhalten geführt.11 In den 20er und 30er Jahren beinhalteten sowohl die Arbeiten der Surrealisten als auch die Bemühungen Oskar Schlemmers und der Bauhaus-Bühne aktionistische Elemente, deren Bedeutung für die Performance Art jedoch nicht im gleichen Maße zu bewerten ist wie die Auswahl der hier vorgestellten Kunstbewegungen.
1.4. Vom Bild zur Handlung Mit Jackson Pollock und seinen „Action paintings“ trat nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs das Primat des Handelns erneut in den Blickwinkel der Bildenden Kunst. 9 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp 1963, S. 38 10 Vgl. Benjamin, ebd., S. 39 11 Vgl. Benjamin, ebd., S. 38
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Angesichts dramatischer Ereignisse wie dem Holocaust und den Atombombenabwürfen in Japan nahm eine gewisse Düsternis Einfluss auf die Kunstschaffenden. Die Herstellung von Kunstwerken setzte sich stärker mit den Polen des Erschaffens und der Zerstörung auseinander. Die Freiheit des Individuums und der Selbstbeweis der Existenz in der Spur, die der Schaffensprozess hinterlassen konnte, wurden zu einem neuartigen Bedürfnis nach den Schocks der zerstörerischen Ereignisse rund um den Globus. Das Bewusstsein der potentiellen Zerstörung durch das weltweite Atomwaffenpotential und die Ausweitung der Informationsmedien veränderten die Kunstproduktion. Der Entstehungsprozess von Werken und das Verhältnis zwischen Künstler und Objekt traten stärker in den Vordergrund. Jackson Pollock brachte 1949 das Bild von der Staffelei auf den Boden, träufelte und goss unter Abb. 2: Jackson Pollock, 1950 (aus dem Film von Hans Namuth)
Einsatz seines Körpers Farbflächen auf die Bildfläche. Er machte deut-
lich, dass die Verkörperung einer Aktion in einem Gemälde sichtbar werden kann.
„Beim Action painting im allgemeinen und im Werk Pollocks im besonderen belebt jede Geste die folgenden Bewegungen, indem sie eine nicht-narrative Linearität erzeugt, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die performative Dimension des Malaktes lenkt. [...] Pollocks Aktion kündigte die Auflösung der Grenzen zwischen dem Objekt und der Aktivität seiner Herstellung an.“ 12
12 Schimmel, Paul: Der Sprung in die Leere – Performance und das Objekt, in: Schimmel, Paul (Hrsg.): Out of actions. Zwischen Performance und Objekt 1949 – 1979, Ostfildern: Cantz Verlag 1998, S. 18/19
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Die Fotografien und Filme, die Hans Namuth vom über die Leinwand tänzelnden und mit ausholenden Gesten arbeitenden Pollock machte, trugen zu der Bewertung bei, dass diese Werke den Ursprung der Performancekunst darstellen würden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass erstmals der Künstler selbst beim Schaffensprozess in den Vordergrund des Interesses der Betrachter tritt. Nach Auffassung von Amelia Jones wird hier der „Körper des Künstlers im Akt der Herstellung von Kunst entschleiert.“ 13 Er wird damit auch Teil einer Realität, die ihn mit dem Publikum eint. So verliert der Künstler auf der einen Seite die mystische Aura, die ihm in der Moderne noch anhaftete. Hier hatte der Künstler einen geheimnisvollen, genialischen Charakter und der Schaffensprozess fand immer im Verborgenen statt. Auf der anderen Seite bekamen aber gerade Namuths Dokumente von Pollocks Arbeit eine Komponente, welche die Kunstkritikerin Barbara Rose zu dem Vergleich hinriss, es handele sich um „die Zeugenschaft eines heiligen Rituals, zu welchem das Publikum zuvor keinen Zutritt hatte.“ 14 Sicher wird mit dieser Bewertung eine Grundlage für die Vermutung gelegt, es handele sich bei Pollocks Arbeit um eine erste Performancegrundlage. Doch die Erschaffung des „Performers“ Pollock geht nicht zuletzt auf den wirkungsvollen Charakter der Arbeiten von Hans Namuth zurück. Deren Mythos muss jedoch, meiner Auffassung nach, kritisch betrachtet werden, da zwar eine richtungsweisende Konzentration vom Objekt zur Handlung in Pollocks Arbeitsweise vorgenommen wurde, das entstehende Kunstwerk (ein zweidimensionales Bild) dennoch das unbestrittene Ziel des Prozesses war. Nicht die Aktion selbst ist im Museum zu sehen, sondern die fertiggestellten Drippings, die zwar deutliche Hinweise auf den Herstellungsprozess beinhalten, aber immer noch zweidimensionale Malereien sind. Pollocks Art „im Bild zu sein“ nahm dennoch großen Einfluss auf Künstler wie Carolee Schneemann oder Allan Kaprow, der sich in seinem Artikel „The Legacy of Jackson Pollock“ von 1958 direkt auf den Maler als einen Impulsgeber für die späteren Environments und Happenings bezog.
13 Jones, Amelia: BodyArt/Performing the subject, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 1998, S. 63 14 Vgl. Rose, Barbara, in: Jones, Amelia, a.a.O., S. 63
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1.5. Gutai – Performative Aktionen
Interessant ist in Bezug auf den Weg vom Objekt zum Körper auch die Gutai-Gruppe, deren künstlerischer Ansatz über Jackson Pollocks Arbeiten hinausging. Jiro Yoshihara gründete diese Künstlergruppe 1954 in Japan. Ihre Werke konzentrierten sich noch stärker auf einen Gestus, der von Vergänglichkeit geprägt war. Gleichzeitig beinhalteten ihre Aktionen mehr Destruktivität, was unter Umständen auf die spürbaren Folgen der Atombombenabwürfe in ihrem Land zurückzuführen ist. Das Gutai-Mitglied Kazuo Shiraga unternahm mehrere Aktionen, die er als „Kämpfen mit Schlamm“ bezeichnete. Hierbei wühlte sich der annähernd nackte Künstler durch eine Tonne Lehm, die in einem Hof aufgeschichtet war. Unter den Augen von anwesenden Fotografen und Filmern entstand so ein Kunstwerk, dass Shiraga unter quälend anstrengendem Einsatz seines Körpers entstehen ließ. Saburo Murakami erregte ein Jahr später mit seinem „Durchbruch durch zahlreiche Papierwandschirme“ Aufsehen, bezog er sich hiermit doch direkt auf die japanische Architektur und die traditionelle Kampfkunst. Offensichtlich wie kein anderer Gutai-Vertreter, unterstrich er mit dieser Aktion das Hauptziel der japanischen Avantgardebewegung: Die Zerstörung traditioneller Kunstauffassungen. Mit der DestrukAbb. 3: Kazuo Shiraga: Kämpfen mit Schlamm, 1955
tion der mühevoll aufgespannten Wandschirme provozierte Murakami das Tabu der Unverletzlichkeit des Tafelbildes und tat dies mit aggressivem Einsatz
und unter Gefährdung seines eigenen Körpers. Doch auch bei diesen frühen Aktionen der Gutai-Gruppe stand noch die Herstellung von Objekten im Vordergrund, wenn auch die Handlungen stärker als zuvor vom Körper geprägt waren. Das Subjekt des Künstlers erschuf die Werke zwar als geplante Aktion vor den Augen des Publikums, machte aber durch das Hinarbeiten auf ausstellungswürdige Relikte das Primat des
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Handelns erst zum zweitrangigen Anliegen. Auch Yves Klein löste sich noch nicht von der Produktion von Objekten. Die Herstellung seiner „Anthropometrien“ erweiterte Pollocks „im Bild sein“ um ein entscheidendes Element: Die Körper von Modellen trugen die Farbe als Abdruck ihrer selbst (lebenden Pinseln gleich) auf die Leinwand auf. Angeblich inspirierte Klein ein Besuch in Hiroshima zu diesen Arbeiten, bei welchem er den Schatten eines Mannes sah, der vom Atomblitz in einen Felsen eingebrannt war. Visuell fühlte sich der Maler an die prähistorischen Höhlenmalereien in Lascaux erinnert und knüpfte so eine Verbindung zwischen den rituellen Malereien und dem Abbild der Katastrophe. 1958 ließ Klein erstmals ein unbekleidetes weibliches Modell, welches er zuvor mit blauer Farbe bestrichen hatte, über weißes Papier kriechen. Kleins Konzeption unterschied sich hier jedoch grundlegend von dem Körpereinsatz der Gutai-Gruppe: Wo die Japaner mit
Abb. 4: Yves Klein: Anthropometrie-Performance, 1960
ihrem eigenen Körper eine Textur im Schlamm herstellten oder Wandschirme durchbrachen, zog er sich in die distanzierte Haltung eines Dirigenten zurück.
„Auf diese Weise blieb ich sauber. Ich beschmutzte mich nicht mehr mit der Farbe, nicht einmal die Fingerspitzen. Vor mir und unter meiner Leitung vollendete sich das Werk in Zusammenarbeit mit dem Modell. Ich konnte das Werk bei seiner Geburt in der sichtbaren Welt würdig im Smoking begrüßen.“ 15 Zu bezweifeln ist, ob das Werk tatsächlich in Zusammenarbeit mit dem Modell entstand oder ob es sich nicht um die Wiederholung eines traditionellen hierarchischen Verhältnisses zwischen Maler und Modell handelte, bei dem der weibliche Körper lediglich den Charakter eines passiven Bildobjektes besitzt und nicht wirklich handelt. Spätere Performancekünstlerinnen bewerteten Kleins Arbeiten aus feministischer Sicht als Paradebeispiel für die Rolle, die dem nackten weiblichen Körper in der männ15 Vgl. Klein, Yves, in: Schimmel, Paul, a.a.O., S. 33
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lich dominierten Kunstszene zugeordnet wurde und verurteilten seine Herangehensweise. Als Legende im Bereich selbstgefährdender Körperarbeiten ging fälschlicherweise eine Fotomontage ein, die Yves Klein beim Sprung aus dem zweiten Stock eines Hauses zeigt. Die 1960 von Harry Shunk gefertigte Arbeit „Leap into void“ (Der Sprung in die Leere) suggeriert das Riskieren des eigenen Lebens als eine Aktion der Kunst, ohne das Klein sie tatsächlich durchgeführt hat. Die Bezüge zu Arbeiten von Chris Burden oder Marina Abramovic, die ihren Körper tatsächlich Situationen aussetzten, die dessen Unversehrtheit bedrohten, sind jedoch nicht zulässig: Kleins „Levitationsversuch“ war nur das Produkt einer technischen Manipulation und ist am ehesten noch als Konzeption von Bedeutung für die Künstler, die später auf schmerzhafte Weise ihren Körper als Experimentierfeld einsetzten. Interessant ist im Zusammenhang mit dem legendären Foto lediglich die Erschaffung des mit ihm verbundenen Mythos. Ein typisches Merkmal der Aktionskunst – die Bildung von Legenden, aufgrund der Schwierigkeit, den Abb. 5: Yves Klein: „Der Sprung in die Leere“ (Leap into the void), 1960 (Photomontage von Harry Shunk)
Wahrheitsgehalt zu überprüfen, wenn man nicht selbst bei der Durchführung dabei war – ist bereits in diesem Frühwerk zu beobachten.
Auf andere Weise setzte Carolee Schneemann 1963 ihren eigenen Körper in Relation zu Objekten. Sie wollte ihren Körper als „integriertes Element mit ihrer Environmentarbeit“ verbinden. „Eye/Body“ bietet schon im Titel eine interessante Mehrdeutigkeit: Der „Augenkörper“ Schneemanns ist nackt in verschiedenen Positionen in einer Ateliersituation zu sehen und scheint mit Objekten in Verbindung zu stehen; ist also auch „Anschauungsmaterial“. Auf der einen Seite „schaut“ die Künstlerin mit ihrem eigenen Körper als sinnlichem Wahrnehmungselement in ihre malerischen Arbeiten und bleibt dabei gleichzeitig Künstlersubjekt (Beziehung „I/ich“ – Gleichklang mit „eye/Auge“). Nach eigener Aussage verwendete die Künstlerin ihr „Fleisch als Material“. 16
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Schneemann wollte sich bewusst als weibliche Künstlerin in ihre Malerei und Assemblage einbringen. Sie sah ihren Körper als „[...] erotisch, sexuell, begehrt, begehrend [...] als eine Erweiterung meiner Malerei-Konstruktionen und mich selbst – die Künstlerin – [...] als ursprüngliche, archaische Kraft, die imstande ist, die Energien zu bündeln, welche mein kreativer weiblicher Wille als visuelle Information entdeckt hat.“ 17 Mit diesen Vorstößen feministischer Körperarbeit kann Carolee Schneemann als eine Vorläuferin von Aktionskünstlerinnen wie Valie Export oder Annie Sprinkle angesehen werden. Ihre Arbeit wurde aber nicht im selben Maße gewürdigt wie jene ihrer männlichen Kollegen. Vielmehr geriet sie aufgrund ihres expliziten Körpereinsatzes ins Kreuzfeuer der Kritik. Der bewusste Einsatz des weiblichen, nackten Körpers durch das weibliche Künstlersubjekt wurde nicht im gleichen Maße akzeptiert
Abb. 6: Carolee Schneemann: „Eye Body“, 1963
wie der Einsatz des nackten weiblichen Körpers als Modell/Objekt der männlichen Künstlersubjekte. Aus den hier dargestellten Ansätzen in Bezug auf den direkten Körpereinsatz des Künstlers entwickelten sich in den 50er und 60er Jahren Gruppenbewegungen, auf die ich im folgenden Abschnitt als abschließende kunsthistorische Einführung in die Körper- und Aktionskunst näher eingehen werde.
16 Vgl. Schneemann, Carolee, in: Schimmel, Paul, a.a.O., S. 297 17 Vgl. Schneemann, Carolee, in: Schimmel, Paul, ebd., S. 297
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1.6. Happening und Fluxus Happening und Fluxus gelten als Grundlage für die spätere Entwicklung der Performance Art. Als Urvater beziehungsweise wichtigster Einfluss beider Kunstformen wird wiederum der Amerikaner John Cage bezeichnet. Ursprünglich als Musiker und Komponist bekannt, begann Cage, beeinflusst von östlicher Philosophie und deren Konzentration auf Zufall und Unbestimmtheit, schon bald mit interdisziplinären Aktionen an die Öffentlichkeit zu gehen, die den Grundstein für die Happening – Kunst der Nachkriegszeit legten. 1952 organisierte er am Black Mountain College (an dem Cage einer Lehrtätigkeit nachging) die später als „Theatre Piece No.1“ bezeichnete Aufführung. Es handelte sich um eine simultane Aktion, bei der David Tudor Klaviermusik spielte, Merce Cunningham Tanzimprovisationen darbot, vier der „White Paintings“ von Robert Rauschenberg an Dachbalken aufgehängt wurden und eine Dichterlesung von M. C. Richards auf einer im Raum stehenden Leiter stattfand. Währenddessen wurden Dias und Filme projiziert und Cage selbst las einen Text über Zen-Buddhismus vor.18 Cage öffnete, ähnlich wie die Dadaisten vor dem Krieg, die Grenzen zwischen den Gattungen. Für ihn sollten die Disziplinen nicht in ihren starren Formen existieren, sondern eine Symbiose eingehen, um ein neuartiges Medium entstehen zu lassen, welches sich aus Körperaktionen, Kompositionen akustischer Natur, Literatur und Bildender Kunst zusammensetzte. Aus diesem Grund öffnete Cage seine Klasse auch für Nicht-Musiker, was einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Avantgardekunst der nachfolgenden Jahre hatte, da viele seiner bekannten Schüler die Philosophie und Offenheit ihres Lehrers weitertrugen und in ihre eigenen künstlerischen Konzepte integrierten. Neben der Konzentration auf Ungeplantheit und Zufallsoperationen war bemerkenswert, dass die Zuschauer nicht einer Bühne gegenüber saßen, auf der das Geschehen stattfand, sondern dass die Aktionen mitten zwischen ihnen abliefen und somit die übliche Theaterhierarchie schon auf dieser Ebene durchbrachen. Die Orientierung auf den Prozess innerhalb der Kunst stellte den später immer wieder hervorgehobenen Schulterschluss zwischen Kunst und Leben in den Vordergrund. Wie im Leben, konnten im Ablauf der Aktionen Cages unvorhergesehene
18 Vgl. Schimmel, Paul, ebd., S. 21
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Dinge passieren, die für ihn aber eindeutig zur Zielsetzung seiner Aufführung gehörten, auch wenn sie nicht in Form einer genauen, drehbuchartigen Partitur festgelegt worden waren. Mit diesen frühen Aufführungen legte er den Grundstein für spätere Happeningkünstler wie Wolf Vostell oder Allan Kaprow, der auch zu Cages Schülern gehörte. Durch Kaprow wurde wenig später die Bezeichnung „Happening“ geprägt: In seinen „18 Happenings in Six Parts“ (1959 in der Reuben Galerie in New York durchgeführt) fanden sich im Prinzip ähnliche Elemente wie in Cages „Theatre Piece“ wieder. Das Publikum musste allerdings selbst bestimmen, welche Teile des Stückes es sehen wollte. Die Räume waren durch Folien getrennt und es wurde ein ausgeklügeltes Zeitschema für die Einzelelemente aufgestellt, welches es unmöglich machte, alle Teile des Happenings anzuschauen und einen logischen Gesamtzusammenhang herzustellen. Damit wurden erstmals die Elemente Zeit und Raum als besonders bedeutsam für das Medium der Aktionskunst herausgestellt. Da sich die collagenartig angeordneten Elemente des Happenings simultan in den Abteilen abspielten, wurde mit dem Monopol des Linearen gebrochen. Waren bisher Ereignisse wie Theaterstücke und ähnliche Aufführungen einer logischen, linearen Handlungsführung gefolgt, war dies in Kaprows Happening nicht mehr möglich. In diesem Zusammenhang wurden aktuelle Entwikklungen in den Massenmedien interessant für die Happeningkunst. Der Medientheoretiker Marshall McLuhan sah den historischen Zeitbegriff durch den Übergang vom Buchdruckmedium zum Fernsehmedium ausgehebelt:
„So trete an die Stelle des Eins- nach- dem- anderen des alphabetischen Gutenbergzeitalters (ein Wort nach dem anderen, ein Satz nach dem anderen, eine Seite nach der anderen) das Alles- auf - einmal des nachalphabetischen Fernsehzeitalters, das sich in der Grundtendenz sowohl auf die Gleichzeitigkeit der Reizdarbietung wie auf die Gleichzeitigkeit omnidirektionaler Reizaufnahme durch die Sinnesorgane beziehe.“ 19
Das Happening arbeitete also grundsätzlich als Verbündeter des neuen Medienzeitalters, wobei jedoch der entscheidende Unterschied in der Nähe des Zuschauers zum Geschehen lag, was auch in der Teilnahme der Anwesenden selbst gipfelte. 19 McLuhan, Marshall, zitiert nach Wick, Rainer: Happening, in: Kunstübermittlungsformen, NBK, Berlin 1977, (ohne Seitenangabe)
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„Jeder, der einem Happening begegnet, spielt mit. Es gibt kein Publikum, keine Schauspieler, keine Exhibitionisten, keine Zuschauer, jeder kann sein Verhalten nach Belieben wechseln. Jedem Einzelnen sind seine Grenzen und Verwandlungen überantwortet.“ 20 Damit wurde eine Partizipationsidee formuliert, die auf der einen Seite an die Vorgänge in Ritualen erinnerte, andererseits eine Öffnung der Kunst zur gesellschaftlichen Praxis der Kommunikation forderte. Das Publikum sollte durch Mitdenken partizipieren und auch emotional beteiligt sein und wurde aus diesem Druck heraus bei manchen Aktionen durchaus in physische oder seelische Bedrängnis gebracht.21 Nicht immer hat die Emanzipation des Publikums (das kein Passives mehr sein sollte funktioniert. Der Komponist György Ligeti setzte sich zu einem Vortrag über „Die Zukunft der Musik“ an den Vortragstisch und schwieg acht Minuten lang. Das anwesende Publikum beschimpfte den Vortragenden und forderte seinen Rausschmiss. Die Verweigerungshaltung des Künstlers deckte sich nicht mit den Gewohnheiten des Publikums. Joseph Beuys wurde 1964 auf dem „Festival der Neuen Kunst“ in der Hochschule Aachen (bei einem Happening mit Wolf Vostell, Ben Vautier und anderen) von Studenten angegriffen und geschlagen, nachdem sie die Bühne gestürmt und die Veranstaltung mit Gewalt abgebrochen hatten. Mit dem neuen Rollenverhältnis zwischen Betrachter und Kunstschaffendem konnten nicht alle Besucher umgehen. Die Tradition des bloßen Schauens schien zu tief zu sitzen. Besonders bei Happeningsituationen der Wiener Aktionisten kam es zu massiven Protesten bis hin zum Einsatz staatlicher Gewalt und Verurteilung der Künstler. Doch die gesellschaftlichen Verhältnisse wandelten sich in den 60er Jahren in gleichem Maße, wie die künstlerische Avantgarde versuchte, mit den herrschenden Sehgewohnheiten zu brechen: Die Happenings der Kunstschaffenden mischten sich auf der Straße mit den Studentenunruhen im Pariser Mai 1968 und den medienwirksamen Auftritten von Protestlern in ganz Europa. Zu erinnern ist hier an die Auftritte von Fritz Teufel oder die Kampagnen der Kommune 1, die sich in der Verwendung provokativer Mittel mit vielen Elementen in der Happeningkunst deckten. Der entblößte Körper und die sexuelle Befreiung spielten dabei ebenso eine Rolle wie die Bezugnahme auf politische Ereignisse im Zeitkontext. Der Vietnamkrieg und die 20 Lebel, Jean-Jaques: Grundsätzliches zum Thema Happening, in: Becker, Jürgen/Vostell, Wolf (Hrsg.): Happenings, Fluxus, Pop Art, Nouveau Realisme, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965, S. 358 21 Bei seinem Happening „In Ulm, um Ulm und um Ulm herum“ ließ Wolf Vostell 1964 sein Publikum nach einer mehrstündigen Fahrt mit Bussen, die die Zuschauer zu verschiedensten Aktionen im Stadtgebiet brachten, einfach in einem Steinbruch zurück. Im Jahre 1959 stürzte sich Nam June Paik bei einer Aktion in Düsseldorf auf den im Publikum anwesenden John Cage und schnitt ihm den Schlips ab. Aus: „Performance Ritual Prozess“ von Elisabeth Jappe, München – New York 1993, a.a.O., S. 17 – 18
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Rolle der USA in diesem Konflikt wirkten sich beispielsweise auf Kunstschaffende wie Terry Fox aus. 22 Dass der Kunstform mit dieser tatsächlichen Vermischung von Kunst und Leben etwas von ihrer exklusiven Brisanz genommen wurde, führte in der Folge zur Abnahme der Happeningkultur. Der Begriff des Happenings fand im allgemeinen Sprachgebrauch der 60er Jahre auf ähnlich inflationäre Weise Verwendung wie es heute mit der Bezeichnung Performance passiert. Nicht direkt aus der Happeningbewegung, doch in naher Verwandtschaft zu ihr, entwickelte sich Fluxus. Es gibt in der Entstehung beider Kunstformen keinen linearen historischen Ablauf. Viele Namen tauchen in der Geschichte von Happening und Fluxus auf, wobei jedoch die Unterschiede in der Konzeption beider Formen unterstrichen werden müssen. Wo das Happening großen Wert auf die Partizipation des Publikums legte und seinen prozesshaften Charakter in grob strukturierten, zufällig verlaufenden Szenarien präsentierte, bleibt die Fluxus-Aktion stärker in der Hand des Künstlers und hat oftmals ironische, poetische Züge, die durchaus auch gänzlich immateriell existieren können: Im Stück „No-Play in front of a no-audience“ lieferte Robert Filliou bereits 1962 ein Beispiel für die Nähe zwischen Fluxus und der ebenfalls ephemeren Konzeptkunst:
„Dies ist ein Stück, wo niemand hinkommen soll, um es anzuschauen. Das heißt, das Stück besteht aus dem Nichtkommen eines Jeglichen...Keinem soll gesagt werden, daß er nicht kommen soll...Aber keiner soll kommen, sonst gibt es kein Stück.“ 23 Der Unterschied lag jedoch darin, dass Filliou sich tatsächlich mit seinem Körper an den geplanten Ort begab und somit nicht nur ein Stück Ideenkunst produzierte. Schon im Namen Fluxus, was soviel heißt wie „Fluss“ oder „das Fließende“, zeigt sich die Offenheit der Kunstform, die sich in den unterschiedlichsten Stilen der Vertreter widerspiegelt. Unter der übergreifenden Bezeichnung des Konzertes fanden beispielsweise in Wiesbaden Klavierzerstörungen statt, die mit den traditionellen Erwartungen des Konzertbesuchers brachen. Nach George Maciunas, dem Mitbegründer von Fluxus, waren die 22 In der Aktion „Defoliation“ (Entlaubung) verbrannte Fox 1970 im Garten des University Art Museum in Berkeley eine Anpflanzung von Jasminsträuchern, die nur alle sieben Jahre blühen. Er benutzte einen Flammenwerfer, der auch in Vietnam eingesetzt wurde. Die gesamte Anpflanzung wurde durch diese politisch motivierte Tat zerstört. Aus: Battcock, Gregory und Nickas, Robert: The Art of Performance – A critical anthology, New York: E.P.Dutton 1984, S. 208 23 Vgl. Filliou, Robert in: Jappe, Elisabeth, a.a.O., S. 21
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Ziele soziale nicht ästhetische. Es herrschte der Wunsch vor, „die Verschwendung von Material und menschlichen Fähigkeiten auf sozial konstruktive Ziele zu richten (...)“. Die „Verleugnung des Kunst-Objekts und die ironische Verspottung der Künste“ bildeten hierbei zentrale Anliegen. 24 Ben Vautier stellte in diesem Zusammenhang beispielsweise Urkunden aus, mit denen er den Mitwirkenden bestätigte, dass sie ihm ihre Seele verkauft hätten: Eine Weiterführung des Signieraktes der Ready-mades von Marcel Duchamp oder der „Artists Shit“-Editionen von Piero Manzoni. Der Bruch mit dem traditionellen Kunstwerk wird auch bei sogenannten „Living sculptures“ (Lebenden Skulpturen) deutlich, wie sie neben Ben Vautier (im Schaufenster der Galerie One in London 1962) auch Künstler wie Gilbert und George mit ihrer „Singing Sculpture“ (1970) oder Carolee Schneemann in ihrer Installation „Eye Body“ (1962) vornahmen. Hierbei wurden die Körper der Künstler als zentrale Elemente des Werkes angesehen, was bereits einen Übergang zur späteren Body Art und der Performance allgemein darstellt. Die Übergänge zwischen Fluxus, Happening und Performance Art sind angesichts dieser unterschiedlichen Querverweise fließend und sollen in dieser Arbeit nicht in starren Grenzen definiert werden.
Zusammenfassung Im vorliegenden ersten Kapitel habe ich versucht, einige Ursprünge der Performance zu analysieren, um ihre Bedeutung für die aktuelle Entwicklung der Kunstform aufzuzeigen. Hierbei spielt die Bedeutung der Geste bei den Futuristen eine eben solche Rolle wie der Wandel der Aufführungsorte und die damit einhergehende Veränderung der Publikumswahrnehmung. Die Dadaistenbewegung mit ihren Ansprüchen an eine Vermischung der Gattungsgrenzen und die Provokation der bürgerlichen Kunstrezeption werden als gesellschaftlich relevante Vorläufer der Performance beschrieben. In der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg erläuterte ich die Entstehung von Künstlerpersönlichkeiten wie Jackson Pollock, die den Schaffensprozess in den Vordergrund der Bildproduktion stellten. Daraus ergibt sich ein kurzer Blick auf die Verwendung des
24 Alle Zitate von Maciunas, George, in: Adriani, Götz (u.a.): Joseph Beuys, Köln: DuMont Verlag 1994, S. 51
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menschlichen Körpers als Bildmedium in den „Malaktionen“ von Yves Klein und Carolee Schneemann und den Zerstörungsaktionen der Gutai-Gruppe. Den längsten Abschnitt widmete ich den Entwicklungen unter den Begriffen Happening und Fluxus. Hier wurden ephemere Gesamtkunstwerke unterschiedlichster Gattungen aufgeführt, die keinerlei musealen Verwertungsstrategien mehr zu folgen schienen und auf entschiedene Weise die Elemente Zeit und Raum als Werkzeuge zur Erschaffung eines Bildes nutzten. Was also mit der vorangegangenen kurzen historischen Herleitung der Performance Art gezeigt werden soll, ist die Tatsache, dass menschliches Handeln und dessen Darstellung durch den Künstler und seinen Körper ein wichtiges Anliegen der unterschiedlichsten Kunstströmungen in diesem Jahrhundert darstellte und somit nie von der Bildfläche der Kunstproduktion verschwunden ist. Vielmehr stehen alle behandelten Beispiele in direktem Kontakt mit ihrem zeitgenössischen Publikum und den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer Schaffensphase und bilden somit eine wirksame, alternative Basis, aus der auch die Vertreter der Performance Art heute schöpfen können. Die Verwendung einer Vielzahl von Elementen zur Bildproduktion sind entscheidende Faktoren für die im Fortgang dieser Arbeit beschriebenen Bildphänomene innerhalb der Performance.
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Kapitel 2: Grundfragen zum Bildbegriff und zum Forschungsstand der Bildwissenschaft Das Bild steht bereits in Alt- und Jungsteinzeit in einem Zusammenhang mit magischen oder religiösen Praktiken: Höhlen- und Felsmalereien dienten Jagdritualen oder Initiationsriten. Das religiöse Bild hat verschiedene Funktionen. Es bringt das Göttliche zur Erscheinung und in bestimmten Fällen von Religiosität fallen Bild und göttliche Realpräsenz in der Wahrnehmung der Gläubigen zusammen. Gerade in diesen Kulturen bekommen die Bilder magischen Charakter. In anderen Bereichen soll das religiöse Bild belehren oder zur Meditation einladen, in vielen Fällen jedoch auch einfach die Erinnerung an die göttliche Macht wachhalten. Trotz ihrer Konzentration auf Bücher haben auch die großen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam eine Beziehung zu Bildern. Diese ist jedoch weit komplizierter als sie an dieser Stelle erschöpfend beleuchtet werden könnte, deshalb nur einige kurze Erläuterungen hierzu: Im Judentum herrscht ein Verbot des Gottesbildes, um einem vermeintlichen Götzendienst und der Vielgötterei zuvorzukommen. Jahwe selbst galt als unvergleichlich und unabbildbar. Die Zeloten weiteten das Darstellungsverbot auf jegliche Menschen- und Tierdarstellungen aus oder fassten es noch weiter: als Verbot jeglicher gegenständlicher Bilder. Dagegen spielen Symbole wie der Davidsstern oder die Menora, ein siebenarmiger Leuchter, eine große Rolle im Judentum und tauchen auf vielfältige Weise an sakralen Orten und als Illustrationen auf. Auch im Christentum gibt es das Verbot der Darstellung Gottes. Einige Deutungen des Alten Testaments liefen auch hier auf eine allgemeine Ablehnung von Bildern hinaus. Die bildliche Darstellung wurde dennoch genutzt, indem Christus als Abbild Gottes den unsichtbaren Vater repräsentieren konnte. Zu stark beeindruckte die Wirkmacht der Bilder, so dass man das Einflusspotential nicht ungenutzt ließ. Der Islam zeichnet sich durch eine hohe Bilderfeindlichkeit aus. Mohammed stellte fest, dass Engel kein Haus betreten würden, in welchem sich ein Hund oder ein Bild befinde. Somit wurde den Bildern dieselbe Wertigkeit wie dem Hund beigemessen: beide galten als unrein. Dies führte zu der Annahme, dass die Verfertiger von Bildern verflucht seien. Nur Gott dürfe Wesen bilden und beleben. Diese Überlegung fußt dar-
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auf, dass ein Bild ein sinnloses Unterfangen sei, da es die vergebliche Belebung eines toten Gegenstandes in der Darstellung versuche. Somit ist verständlich, dass insbesondere die Darstellung von lebenden Wesen abgelehnt wurde und teilweise noch abgelehnt wird. Ornamentale Bildprodukte hingegen spielen durchaus eine Rolle im Islam. In Moscheen und in Koranhandschriften befinden sich deshalb üppige Ornamentdarstellungen, jedoch keinerlei animalische oder menschliche Abbilder. Teilweise war die Darstellung dieser Elemente an Orten erlaubt, auf welche man tritt oder auf denen man sich abstützt. 1 Hier wurde die Gefahr der Darstellungen anscheinend durch die Geringschätzigkeit ihrer Behandlung gebannt. Ernst Cassirer bezeichnet den Menschen allgemein als „animal symbolicum“ 2. Cassirer bestimmt ihn als ein Wesen, welches Symbole schafft und welches sich durch eben diese Symbole mit den anderen Mitgliedern seiner Gattung verständigt. Er geht in seinen Überlegungen gar so weit, den Symbolwillen und die Symbolkompetenz des Menschen höher zu bewerten als die Vernunft beziehungsweise die Rationalität. Waren die oben erwähnten Felszeichnungen in ihrer Verwendung und Bedeutung noch klar zugeordnet und eben denen verständlich, die mit ihnen umzugehen hatten, steht die Masse der technisch reproduzierten Bilder heute einer mangelnden praktischen und theoretischen Bildkompetenz gegenüber. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, sind Bilder heute allgegenwärtig und vielfältig verfügbar. Durch diese neue Präsenz fällt es jedoch auch immer schwerer, die Bilder tatsächlich zu sehen – ohne sie zu übersehen –, sie zu verstehen und den Symbolgehalt zu bewerten. Makro- und Mikrobereiche sind heute soweit einsehbar, dass die Bildformen, die hier entstehen, auf eine völlig neue „sichtbare Welt“ verweisen. Die Übertragungsmedien können Bilder nahezu in Echtzeit „befördern“ und sie global zugänglich machen. Die Vernetzung digitaler Systeme und der damit erreichbare Bilderschatz werden zunehmend unüberschaubar. All diese technischen Möglichkeiten ändern jedoch prinzipiell nichts an den Fragen, die sich in Bezug auf die Lesbarkeit eines Bildes stellten und immer wieder stellen: Was heißt es, Bilder zu verstehen und wie verstehen wir sie im Einzelnen? Welche Phänomene sind überhaupt als Bilder zu begreifen? Wie erfahren wir Bilder? 3 In der vorliegenden Arbeit geht es um einen speziellen Bildbegriff, dennoch möchte ich an dieser Stelle einige grundsätzliche Elemente der Bildtheorie und ihrer Geschichte 1 Scholz, Oliver Robert in: Barck, Karlheinz /Fontius, Martin (u.a.) (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2000, Band 1, S. 632–634 2 Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt am Main: S. Fischer 1990, S. 51 3 Vgl. die Fragestellungen von Scholz, Oliver Robert , a.a.O., S. 6684 vgl. Scholz, Oliver Robert , a.a.O., S. 620
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beleuchten. Ich bitte darum, dies als kurzen Exkurs über den aktuellen Forschungsstand zu betrachten und nicht als den Versuch einer vollständigen Untersuchung dieses vielschichtigen Themas. Der Terminus Bild hat sich geschichtlich gewandelt. Ursprünglich waren dreidimensionale Gestaltungen wie Skulpturen, Standbilder oder andere plastische Gestaltungen in die Bezeichnung Bild mit einbezogen. Heute geht man in der Anwendung des Wortes in erster Linie von zweidimensionalen, flächigen Darstellungen aus, sobald vom Bild die Rede ist. Ich möchte den Bildbegriff in dieser Arbeit jedoch weiter fassen und ihn sogar auf das Bewegungsbild oder das Handlungsbild in der Performance ausdehnen. Neben den technisch erzeugten Bildern oder den künstlerischen Artefakten umfasst der Begriff auch natürliche Bilder, hier insbesondere Spiegelbilder, Schatten und Abdrücke. 4 Eine weitere Gruppe stellen innere Bilder wie die Erinnerung, die Vorstellungsbilder oder das Traumbild dar. Insbesondere die Erinnerungsbilder und ihre imaginative Verwandlung innerhalb der eigenen Wahrnehmung spielen aufgrund der ebenfalls ephemeren Erscheinungsweise der Performance für meine Überlegungen eine große Rolle. Oft geschieht die eigentliche Verarbeitung und Bewertung der performativen Bilder erst nach Beendigung der eigentlichen Handlung. Oliver Robert Scholz zieht in seinem Text den Begriff der phantasia (lat. imaginatio), also Vorstellungs- oder Einbildungskraft, 5 heran, um die Fähigkeit zu beschreiben, anhand eines poetischen Textes innere Bilder zu erzeugen und als Rezipient erleben zu können. Diese Vorstellungskraft spielt, wie an anderer Stelle vertieft, ebenso eine große Rolle in der Rezeption eines Bewegungsbildes. Unbestimmtheiten, die in einer Performance erzeugt werden, müssen durch die eigene Einbildungsarbeit geschlossen werden. Gerade die Performance eröffnet trotz ihrer klaren Form und Präsenz eine Vielzahl von Leerstellen oder Unbestimmtheiten. Dies geschieht auf unterschiedlichste Art und Weise. Zum einen spielt die Verwendung des Körpers des Performers eine wichtige Rolle. Die Handlungen werden als persönliche Äußerung imaginiert und es wird versucht, ein Bezug zu der Künstlerpersönlichkeit herzustellen. Andererseits sind repetitive Handlungen ein Auslöser von Assoziationen und Deutungsversuchen. Auch die Verwendung ungewöhnlicher Materialien, ungewöhnlicher Orte, zeitlicher Dauer oder absurder Elemente erzeugt eine Vielfalt von kognitiven Angeboten, die jedoch einer 4 Vgl. Scholz, Oliver Robert, a.a.O., S. 620 5 Scholz, ebd., S. 623
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Eindeutigkeit zuwiderlaufen. So erhält die Performance ihren oftmals irritierenden Charakter und fordert das emotional-kognitive System des Zuschauers heraus. HansDieter Huber bezeichnet gerade die Phänomene in Bildern, die nicht eindeutig bestimmt sind, als die „entscheidenden Auslösemomente“, die das kognitive System aktivieren:
„Die Leerstellen von Bildern sind die entscheidenden Auslösemomente oder Konfigurationen, die das emotional-kognitive System durch ihre Irritation aktivieren. Sie führen zu kognitiven Konstruktionen des Beobachters, die weit über das am Gegenstand Beobachtbare in unvorhersehbarer, unkontrollierbarer und nicht vom Gegenstand abgesicherter Weise hinausgehen. Das bedeutet, dass zu der selektiven Unbestimmtheit von Bildern eine selektive Unbestimmtheit auf Seiten des emotional-kognitiven Systems des Beobachters tritt. Der Beobachter ergänzt, füllt auf, projiziert, imaginiert. Kurzum, er führt diejenigen Prozesse in seinem kognitiven System durch, die Nelson Goodman einmal als Mechanismen der Zerlegung und Zusammenfügung, der Gewichtung, der Ordnung, der Tilgung und Ergänzung sowie der Deformation beschrieben hat.“ 6
Dies meint weiterhin in Bezug auf die Performance, dass die Handlung, die in der Arbeit gezeigt wird, auf unterschiedlich fruchtbaren Boden im jeweiligen Betrachter fällt. Es gibt Zuschauer, deren „Lesekompetenz“ durch die Kenntnis einer Vielzahl von performativen Arbeiten geprägt ist. Andere entdecken die Performance erstmals als Bildphänomen und sprechen anderen Elementen Wichtigkeit zu als „Performanceerfahrene“. Dann wiederum spielen die Hintergründe des jeweiligen Milieus eine entscheidende Rolle in der Wahrnehmung einer Aktion. 7 Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt noch deutlicher auf die Rolle des Betrachters und seine Ko-Präsenz in der Performance eingehen. Der Legende nach stammt das erste künstliche Bild aus der Übertragung eines Schattens auf eine Wand. Plinius berichtet im 35. Buch des Werkes Historia Naturalis von der Sage um die Tochter eines Töpfers, die in einen jungen Mann verliebt war, der eines Tages zu einer Reise aufbrechen musste. In der Abschiedsszene zwischen den Liebenden wird der Schatten des Mannes durch Feuerschein an die Wand einer Kammer 6 Huber, Hans-Dieter: Bild Beobachter Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 87 7 Vgl. Huber: "Ein Milieu umfasst nach allgemeiner Definition die Gesamtheit der natürlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten, die auf einen Menschen, eine Schicht oder eine soziale Gruppe einwirken.", ebd., S. 147
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geworfen. Um die Abwesenheit des Geliebten zu überstehen und der Sehnsucht etwas Physisches zu geben, zeichnet die Frau die Silhouette des Mannes auf der Wand nach. Durch die Spur der Anwesenheit des Vermissten, die als Bild auf der Wand zurück bleibt, versucht die Frau, die unerträgliche Abwesenheit zu bannen. Dies ist somit nicht weniger als ein legendärer Ursprungsakt von Bildproduktion und Malerei. 8 Bereits in dieser Legende zeichnet sich auch die frühe Funktion des Bildes als Stellvertreter oder Erinnerungsobjekt für Verstorbene ab. Dem Kampf gegen Verlust und die fortschreitende Zeit wird im Versuch einer zeitlosen Bannung in etwas Anschaubares Einhalt geboten. Zu dieser Zeit ist die Illusion der Echtheit ein zentrales Anliegen in der Schaffung von Bildern. Sie stehen für etwas nicht Anwesendes, sollen dies aber in möglichst perfekter Weise abbilden. Platon hingegen wertete eben diese Nachahmungsqualitäten in seiner philosophischen Bildreflexion ab. In der Argumentation im Staat 9 macht Platon deutlich, dass die Welt der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände der Vergänglichkeit unterworfen ist, die göttlichen Ideen jedoch ewig und unveränderlich bestehen. Jedes Einzelding in Raum und Zeit ist somit das Abbild eines zugrunde liegenden Urbildes. Auf eindrückliche Art unterscheidet der Philosoph die Wertigkeit von Abbildern anhand des „BettenBeispiels“ 10: Das nicht veränderliche Urbild-Bett, von Gott geschaffen, steht als unwandelbare Idee über allem. Ein Handwerker ist imstande, das sinnlich wahrnehmbare Bett in Raum und Zeit zu erschaffen, nach Maßgabe der Nützlichkeit für die Benutzer und nach einer Idealvorstellung von Handwerkskunst. Der Künstler erschafft jedoch nichts anderes als ein gemaltes Bett, welches sich nicht an der ursprünglichen Idee (des göttlichen Urbildes) orientiert, sondern lediglich die sinnlichen Dinge nachahmt und dieses auch nur aus einem bestimmten Blickwinkel. Somit entsteht ein Gebilde dritten Grades, welches ontologisch bereits degradiert erscheinen muss. Das Wissen des Malers ist nicht mehr an der Nützlichkeit oder an der Funktion orientiert, sondern ausschließlich an der Nachahmung der Form. Der extremen Kritik an der bildhaften Nachahmung steht im Kratylos allerdings eine bildtheoretische Überlegung gegenüber, die auch angesichts des heutigen Forschungsstandes von Relevanz ist. Ein Bild einer Sache darf und kann nicht alle Eigenschaften des Abzubildenden wiederholen, um seinen Bildstatus zu erhalten. In einem 8 Vgl. Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Dresden und Amsterdam: Verlag der Kunst 1998, S. 118 9 Platon, 596e–598d, zitiert nach Scholz: a.a. O., S. 625 10 Vgl. Scholz, ebd., S. 625
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Dialog in Platons Text wird gefragt, ob überhaupt noch von zwei verschiedenen Dingen die Rede sein könnte, wenn eine exakte Verdopplung stattgefunden hat.
„Wenn also „ein Gott nicht nur deine Farbe und Gestalt nachbildete wie die Maler, sondern auch das ganze Innere genau dem deinigen angleichend darstellte [...], kurz alles, was du hast, gerade so noch einmal neben dich stellte? Wäre das dann Kratylos und dann daneben das Bild des Kratylos, oder wären es zwei Kratylos?“ 11
Dahinter steckt die Überlegung, dass ein Bild eine paradoxe Verbindung mit dem Objekt seiner Abbildung eingeht. Es muss diesem Objekt gleichzeitig ähnlich und unähnlich sein. Damit geht eine unüberbrückbare Unvollständigkeit von Bildern einher. Dieser Aspekt ist eminent wichtig für die philosophische Deutung eines performativen Bildbegriffs. Hier entsteht das Bild aus einer originären Handlung, die sich einer Nachahmung zuerst grundsätzlich entzieht. Vielmehr würde, in den Überlegungen Platons weitergedacht, die Performance sich in der zweiten ontologischen Stufe der Abbildungen befinden. Das Bewegungs- und Handlungsbild in der Performance erhebt den Anspruch, sinnlich wahrnehmbar zu sein, in Raum und Zeit eine wirksame Funktionalität zu besitzen. Das Wissen über die Dinge (Handlungen) und ihre Funktionen (Wirkungen) sind in der Performance von zentraler Bedeutung und Notwendigkeit. Der Performer ahmt kein Einzelding der Sinnenwelt nach, sondern erschafft eine ephemer sinnlich wahrnehmbare Bildhandlung, die den Anspruch erhebt, eine Wirksamkeit zu erzielen. Diese Wirksamkeit ist immer beim Produzenten des Bildes selbst vorhanden, da er grundsätzlich selbst das Bild ist. Auch die Zuschauer können in vielen Fällen mit einer, manchmal zeitlich versetzten, manchmal direkten Wirkung des Ereignisses rechnen. An anderer Stelle werde ich mich noch stärker auf diese Wirkungen beziehen. 12 Eine Aufwertung der Nachahmung erfolgt bei Aristoteles, der darin die Möglichkeit sieht, die Natur nachzuahmen oder etwas hinzuzufügen, was sie selbst nicht hervorzubringen vermag. Hierbei spielt die „Seele des Menschen“ 13 eine Rolle, durch welche die Form des Dargestellten verändert wird, bevor sie in die Materie eingeht. Hier werden dem Menschen somit eine Schaffenskraft und eine eigenständige Schaffenskompe11 Platon, Kratylos, 430c, zitiert nach: Scholz, ebd., S. 625 12 Hierbei spielen Begriffe wie Mitgefühl aus dem kognitiv-emotionalen Bereich eine Rolle oder auch der Begriff der Ansteckung, der von Myriam Schaub in einem gleichnamigen Band untersucht wurde. 13 Zitiert nach Scholz, a.a.O., S. 627
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tenz in Bezug auf Bilder beigemessen. Dabei muss das Nachzuahmende nicht zwangsläufig der Realität entsprechen, sondern kann handelnd oder mimetisch idealisiert werden. Nach Meinung von Aristoteles können künstlerische Werke auch eine heilsame Rückwirkung auf die Menschen haben. Die nachahmenden Künste können Grundlage einer Katharsis sein. Dies meint die Befreiung von seelischen Konflikten und Affekten durch eine emotionale Abreaktion nach Anschauung der künstlerischen Bilder oder Ereignisse. Der Begriff der Katharsis und der Wunsch nach einer emotionalen Reinigung sind unter anderem in Performances der Wiener Aktionisten zu finden. Hier nimmt insbesondere Hermann Nitsch an, dass die reinigende Wirkung eines performativen Ereignisses sich auf heilende und befreiende Weise auf die Künstler und Zuschauer übertragen kann. Ich werde in einem späteren Kapitel noch vertiefender auf diese Überlegungen eingehen. In der Spätantike erfährt das künstlerische Bild einen gänzlich anderen Stellenwert. Die Werke der Kunst werden als heilig bezeichnet. 14 Dem Künstler wird die Phantasie zugesprochen, sich Werke selbst auszudenken, ohne auf Nachahmung von Vorhandenem zurückgreifen zu müssen. In Bezug auf die Ideenlehre von Platon wird hier dem Künstler zugesprochen, sich an dem Urbild und seiner Auffassung desselben zu orientieren. Damit entsteht eine eindeutige Aufwertung des künstlerischen Bildes. Am Beispiel der Zeusstatue von Phidias macht Plotin deutlich, dass es nicht notwendigerweise eines Sichtbaren bedarf, um ein vollkommenes Bild zu erschaffen. Phidias konnte die Statue nicht nach einem Vorbild herstellen, sondern bezog sich auf die Idee, wie Zeus erscheinen würde, wäre er dem Auge des Künstlers offenbar geworden.15 Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war das Bild, insbesondere das religiöse Bild, Zentrum einer ständigen Auseinandersetzung. Das Konzil von Nicäa rechtfertigte das Bild als verehrenswürdig: „Der wesensgleiche Sohn gilt als das vollkommene Abbild Gottes, das in seiner Menschwerdung offenbart ist. Was in einem Bild ähnlich ist durch die Form, das ist in der Beziehung zwischen dem Gottmenschen und Gott ähnlich durch die göttliche Natur.“ 16 Somit wurde in der Verehrung der Bilder eine Ehrung der dargestellten Personen oder Gottes gesehen. Die Anbetung der Bilder selbst wurde jedoch weiterhin untersagt. In Kirchen hatten die Bilder jedoch zeitweilig einen sicheren Ort. In Byzanz kommt es im 14 Vgl. Kallistratos, Ekphraseis 148, 27, zitiert nach Scholz, ebd., S. 629 15 Vgl. Plotin, Enneades 5,1, 38; 5,2,12 , zitiert nach Scholz, ebd., S. 632 16 Scholz, ebd., S. 63517 vgl. Scholz, ebd., S. 638
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6. Jahrhundert zur Ikonenverehrung. Hierbei wird es einem Bild zugesprochen, einen Heiligen präsent zu machen. Diese Präsenz wurde geradezu als Verkörperung verstanden, sodass den Bildern hier die Verehrung zuteil wurde, die den Heiligen selbst ursprünglich zugesprochen wurde. Dies führt in den extremsten Ausprägungen zu einer Ikonenfrömmigkeit. Die Ikonoklasten hingegen lehnen einige Jahrhunderte später die Herstellung, Verwendung und Anbetung von Bildern ab und beziehen dieses Verbot auf die Nähe eines solchen Verhaltens zu ketzerischen oder heidnischen Ritualen. Es kommt zu Bilderzerstörungen und der Verfolgung bilderfreundlicher Mönche. Im Mittelalter kommt es zu einem sogenannten Bildersturm, in welchem Andreas Bodenstein genannt Karlstadt die Entfernung aller Bilder fordert und die Bildermacher und Bilderverehrer der Lächerlichkeit preisgeben möchte. 17 Dem bietet Martin Luther die Stirn, indem er die pädagogischen und sozialen Qualitäten des Bildes hervorhebt und dies auf die Illustrationen in der Bibel bezieht. Zudem gesteht er Bildern eine Notwendigkeit zu, indem er deutlich macht, dass selbst bei der Lektüre von Bibeltexten innere, also Vorstellungsbilder, entstünden. Dies legitimiere auch die Darstellung beziehungsweise Umsetzung von Vorstellungsbildern in bildliche Darstellungen.
„Ists nu nicht sunde, sondern gut, das ich Christus bilde ym hetzen habe, Warumb sollts sunde seyn, wenn ichs ynn augen habe?“ 18
In anderen Äußerungen der Zeit wurde das Bild auch verstärkt von seiner Wirkseite betrachtet. Durandus stellte fest, dass die Seele mehr durch das Bild als durch die Schrift bewegt werde. Das historische Geschehen werde vor die Augen gestellt als geschehe es gerade im Augenblick. 19 Diese Argumentation steht selbstverständlich in engem Zusammenhang mit den Thesen der vorliegenden Arbeit. Nicht nur, dass die Performance tatsächlich eine räumliche und zeitliche Einheit mit den Betrachtern bildet, so beansprucht sie nach meiner These auch die intensivere emotional-kognitive Wirkungskraft. Ich werde dies im Verlauf der Arbeit insbesondere auf den Schmerz in der Darstellung beziehen und begründen. In der frühen Neuzeit wird die Frage nach dem Bild mit der Frage nach dem Sehen verknüpft. Optische Theoriebildung beginnt, Einzug in die Forschung zu nehmen. Rene 17 Vgl. Scholz, ebd., S. 638 18 Vgl. Luther: zitiert nach Scholz, ebd., S. 639 19 Vgl. Durandus, Rationale divinorum officiorum 1,2; zitiert nach Scholz, ebd., S. 642
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Descartes beschäftigte sich mit der Anatomie des Auges und integrierte diese in eine mechanische Erklärung für den Sehvorgang. Seine drei Phasen der Wahrnehmung enthalten im dritten Schritt die Bildung mentaler Repräsentationen und fragen hier insbesondere nach der Beziehung zwischen Körper und Geist. In der Renaissance erlangen kunsttheoretische Abhandlungen eine neue Form des Selbstbewusstseins. Perspektivtechniken und die theoretische Beschäftigung mit mathematischen Darstellungstechniken, der menschlichen Anatomie und der Natur setzen neue Maßstäbe für künstlerische Bilder. Die Künstler selbst konnten sich einen Status erarbeiten, der von hohem Ansehen war und ihre Kunstwerke gelten als Anwärter für „die Krone von der Poesie“ 20. Die Überlegenheit des geschriebenen Wortes schien zu verblassen. Das Auge und das Sehen erhielten den Vorzug vor allen anderen Sinnen. Hierbei handelt es sich um eine Entwicklung, die heute geradezu inflationär zugenommen hat. Im Barock treten emblematische Vermischungen auf, die Bild- und Textelemente in einem Werk miteinander verbinden und sich gegenseitig auslegen. Hier zeigt sich eine Beziehung zum Begriff Sinnbild. Durch die Verknüpfung von Bild und Text werden Lebensweisheiten vermittelt und Verhaltensregeln aufgestellt. Das sprachliche Sinnbild, welches auf einer kognitiven Ebene bildhafte Phänomene in Worte „übersetzt“, entsteht erst später. Der Begriff des Sinnbildes ist für diese Untersuchung durchaus von Bedeutung. In der Performance werden durch nicht-sprachliche Handlungen und Bildproduktionen sinnhafte Ereignisse vermittelt. Die Performance zeigt menschliches Handeln in Bildern, vermittelt auf dieser Ebene jedoch ein Angebot an zu entschlüsselndem „Bildsinn“. Die Decodierung der gezeigten Handlungen wird in den seltensten Fällen innerhalb des Bildes mitgeliefert. Vielmehr wird das gezeigte Bild, je nach Beobachterposition, von den Betrachtern in einen möglichen Bezugszusammenhang gebracht. Anhand von konkreten Beispielen werde ich diese These im Verlauf der Arbeit noch belegen. Eine wichtige Schlüsselstellung in der Kunsttheorie nimmt Lessings Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie aus dem Jahr 1766 ein. In dieser Schrift, die eine Reflexion über die Ausdrucksqualitäten von Dichtkunst und Bildender Kunst darstellt, nimmt der Augenblick einen wichtigen Argumentationsschwerpunkt ein. Damit wird dieses frühe Werk der Theorie auch eminent wichtig für die Handlungskunst. Lessing führt an, dass der Maler bei der Dar20 Cennini, Cennino: Il libro dell ´arte, zitiert nach: Scholz, ebd., S. 646 21 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, (Bibliographisch ergänzte Ausgabe), Stuttgart: Reclam Verlag 1987, S. 22–23
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stellung einer Handlung den wichtigsten Moment auswählen müsse, um diesen in ein Bild zu übersetzen. In diesem Moment müssen die Höhepunkte oder die Sinnzusammenhänge dessen, was das Bild in seiner Gesamtheit repräsentieren soll, kulminieren:
„Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann.“ 21
Lessing stellt zudem die These auf, dass ein Bild seine Wirkung unmittelbar auf den Betrachter habe, ein dichterisches Werk jedoch erst nach und nach erarbeitet werden müsse. Den offensichtlichen Vorteilen der Wirkkraft von Bildender Kunst stellt Lessing jedoch die Differenzierungsmöglichkeiten der Poesie gegenüber. Wo die Malerei sich eben nur auf eine spezifische Empfindung konzentrieren könne, sei die Dichtung imstande, Nuancen und Schattierungen von Situationen und Gefühlen auszudrücken.
„Nichts nötiget hiernächst den Dichter sein Gemälde in einen einzigen Augenblick zu konzentrieren. Er nimmt jede seiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem Ursprunge auf, und führet sie durch alle mögliche Abänderungen bis zu ihrer Endschaft.“ 22
Ich möchte nun die These aufstellen, dass sich die Performance der Wirkungsintensität der Bildenden Kunst (im Lessingschen Sinne) sicher weiß, jedoch aufgrund ihrer Möglichkeit, Handlungen über den statischen Moment hinaus in Bewegungsbilder umsetzen zu können, einen eher der Poesie (im Lessingschen Sinne) zuzuordnenden Ausdrucksschatz hat. Die Performance ist ebenso wie das gemalte Bild und die Plastik imstande, auf das Publikum zu wirken, da sie sich natürlicher Zeichen bedient. Der Umweg über die kognitive Dechiffrierung von abstrakten Schriftzeichen entfällt. Die direkte Einwirkung von menschlicher Handlung, welche einem Publikum präsentiert wird, hat die Möglichkeit, auch Perspektivenwechsel, Veränderung, Bewegung und differente emotionale Zustände visuell zugänglich zu machen. 21 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, (Bibliographisch ergänzte Ausgabe), Stuttgart: Reclam Verlag 1987, S. 22–23 22 Lessing, ebd., S. 27
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Im 19. und 20. Jahrhundert setzt der Siegeszug von Massenmedien ein. Zudem werden Bilder technisch vervielfältigt und sind somit gleichzeitig an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten einem Publikum zugänglich, welches weitaus bilderfahrener ist. Nach Crary „vollzieht sich gewissermaßen eine Neubewertung der visuellen Erfahrung: Man spricht ihr eine beispiellose Mobilität und Austauschbarkeit zu und löst sie aus allen festen Bezugspunkten und Orten.“ 23 Erfindungen wie Guckkasten, Panorama, Diorama und nicht zuletzt Camera Obscura verändern das Sehen und auch den Betrachter. Crary sieht als wichtigen Aspekt der Camera Obscura beispielsweise die Funktion, „den Akt des Sehens vom Körper des Betrachters zu lösen, das Sehen zu entkörperlichen. Die Camera obscura verleiht dem monadischen Blick des Individuums Authentizität und Legimität.“ 24 Mit der Camera obscura werden wissenschaftliche Theorien überprüft und neu aufgestellt, das Individuum bleibt jedoch als Körper von den Sehvorgängen seltsam ausgespart. Es befindet sich als nahezu körperloses, betrachtendes Auge in einem dunklen Raum, durch den Licht hineindringt. Der mechanische Apparat suggeriert eine vernunftgeordnete, wahrheitsgemäß sichtbare Welt, die zwar für jeden zugänglich erscheint, jedoch von einer sinnlichen Auseinandersetzung abgetrennt ist. Könnte man die Camera obscura als den Beginn einer körperfeindlichen Medienentwicklung und somit auch einer körperfeindlichen Bildwahrnehmung durch technische Medien bezeichnen? Die „Phantasmagoria“, eine Laterna magica, die etwa um 1790 oder 1800 benutzt wurde, 25 ging einen Schritt weiter. Durch das Prinzip der Rückprojektion warf sie ein Bild auf eine Wand, ohne das die Zuschauer die Quellen der Projektion, die Laternen, sehen konnten. Adorno bezeichnet später Phantasmagoria als „die Verdeckung der Produktion durch die Erscheinung des Produkts.“ 26 Der Scheincharakter der Projektion erhebt den Anspruch der absoluten Wahrhaftigkeit, ohne jedoch auf Abbildlichkeit zu verzichten. Hier war die Maschine bewusst verschleiert worden, um eine geheimnisvolle Wirkung zu erzielen, die jedoch den Anspruch einer sachlichen Wahrheit hatte. Den Bildern ist bereits hier nicht mehr zu trauen. In einem Rückschluss auf die „Produktion“ eines Bildes in der Performance möchte ich hier die Behauptung aufstellen, dass die Performance auf bewusste Art und Weise anti-phantasmagorisch arbeitet. Im Verlauf einer performativen Arbeit wird das Bild in einem Prozess vor den Augen des Publikums hergestellt, verändert und 23 Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden: Verlag der Kunst 1996, S.25 24 Crary, ebd., S. 49–50 25 Crary, ebd., S. 136ff 26 Adorno, zitiert nach Crary, ebd., S. 136
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nicht zuletzt als Handlung gezeigt. Hierbei sind in den meisten Fällen alle Produktionsabläufe des Bildes vor Publikum sichtbar. Das Material (immer zumindest der Körper des Künstlers) wird vor den Augen der Anwesenden behandelt und es wird mit ihm gehandelt. Es vollzieht sich ein Ereignis, dessen zeitliche und räumliche Entwicklungsgeschichte bewusst nicht verborgen wird und somit kein Illusionscharakter von diesen Handlungen ausgeht. Explizit in der Schmerz-Performance kann diese offene Sichtbarmachung aller Handlungsschritte (der Schnitt, der Schlag, der Schrei, die Wunde) zu einer intensiveren Wirkung führen als es illusionäre Erscheinungen vermögen. Als bahnbrechende Erfindung bricht die Fotografie in die Entwicklung der Bildmedien ein. Necéphore Niépce, Louis Daguerre und Willam Henry Fox Talbot gelten als die Erfinder der Fotografie. Waährend Niépce bereits 1826 erste Aufnahmen eines Blickes aus seinem Fenster gelangen, entwickelte Daguerre wenige Jahre später die nach ihm benannte Daguerreotypie, bei der ein positives, seitenverkehrtes Bild auf einer Platte mittels Quecksilberdämpfen sichtbar gemacht werden konnte. Das Verfahren entwikkelte sich weltweit zu einer Sensation, es handelte sich jedoch bei jeder Aufnahme um ein Unikat. Erst Fox Talbot gelang 1839 ein Verfahren, mit welchem man beliebige Abzüge von einem belichteten Negativ anfertigen konnte. Als im Anschluss George Eastman im Jahr 1888 eine günstige Kamera erfand, mit welcher jeder Interessent selbst Fotografien anfertigen konnte, war die Fotografie endgültig zum Bildmedium für die Masse geworden. 27 Was bedeutete diese Entwicklung für die Wahrnehmung von Bildern? Bilder hatten nun endgültig jeglichen heiligen oder magischen Charakter verloren. Ihre Herstellung war in Form von Schnappschüssen für jedermann möglich und erste Manipulationen am Bildinhalt konnten durch Mehrfachbelichtung und ähnliche Verfahren vorgenommen werden und den Wahrheitsgehalt einer Fotografie in Frage stellen. Das Bild als Kunstwerk verliert hier seine „Aura“. Walter Benjamin sah in der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken den „Verfall“ des „Kultwertes“ eines Bildes zugunsten eines „Ausstellungswertes“. 28 Für Benjamin ergab sich daraus eine Emanzipierung des Kunstwerkes. Es konnte aus einem Abhängigkeitsverhältnis mit dem Ritual befreit werden und wurde für jeden zugänglich. Auf der anderen Seite bedeutete eine Fotografie auch das Festhalten eines unwiederbringlichen Augenblicks, „durch den zumindest unbewußt der eigene Alterungsprozess und das absehbare 27 Vgl. Scholz, a.a.O., S. 658–659 28 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Illuminationen, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1977, S. 154
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Lebensende mit thematisiert wird.“ 29 Hier trifft sich, besonders in Bezug auf die Porträtfotografie, der Wunsch nach Dauer des eigenen Ichs mit einem unaufhaltsamen Moment der Vergänglichkeit und damit einer Todesallegorie, welche Fotografien grundsätzlich inhärent sind. Roland Barthes beschreibt diesen Vorgang der Todesannährung in seinem Essay „Die helle Kammer“ auf bestechende Weise:
„[...] Doch wenn ich mich auf diesem aus dieser Operation hervorgegangenen Gebilde erblicke, so sehe ich, daß ich GANZ UND GAR BILD geworden bin, das heißt der Tod in Person; die anderen – der ANDERE – entäußern mich meines Selbst, machen mich blindwütig zum Objekt, halten mich in ihrer Gewalt, verfügbar, eingereiht in eine Kartei, präpariert für jegliche Form von subtilem Schwindel [...]“ 30
Das Eintreten in die Objekthaftigkeit des Bildes setzt Roland Barthes mit dem Tod gleich. Der Abgebildete ist im Moment der Bildwerdung der „Tod in Person“. Später setzt er die Fotografie mit der Katastrophe gleich. 31 Die Unausweichlichkeit der eigenen Sterblichkeit ist in Form einer bedrohlichen Realitätsbezeugung in jeglichem fotografischen Abbild enthalten. Mit der Ausbreitung der Fotografie beginnt ein Prozess des Denkens in Bildern. Durch diese neue Form der Auseinandersetzung mit der Realität scheint sich eine wissenschaftliche oder kognitive Aneignung der Umwelt in Bildern zu vollziehen. Die Sichtbarkeit eröffnet neue Ordnungsmöglichkeiten. Das Bild trennt sich jedoch durch diese „Entkörperlichung“ vom realen, sinnlichen Ich ab. Es bleibt ein anschaubares, doch nicht durchdrungenes Objekt. Für Bilder von Körpern, beispielsweise in der Pornographie, bedeutet dies eine Reduzierung auf seine Bestandteile, die geradezu maschinelle Züge annimmt. Die Beherrschung des Körpers durch das Bild macht ihn verfügbar und beherrschbar. 32 Männliche Omnipotenzvorstellungen werden hier auf einer imaginären Ebene verwirklicht. Gerade in Bezug auf das Frauenbild bekommt dieser Umstand eine Bedeutung, die ich noch anhand der Arbeiten von Valie Export in Hinblick auf eine schmerzhafte Auseinandersetzung erläutern werde. In der aktuellen Debatte über die Theorie des Bildes wird aus den unterschiedlichsten Disziplinen auf Bildphänomene Bezug genommen. Die Semiotik versteht Bilder als Zei29 Kleinspehn, Thomas: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit, Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag 1989, S. 262 30 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 1989, S. 23 31 Vgl. Barthes, ebd., S. 106 32 Vgl. Kleinspehn, a.a.O., S. 289
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chen und somit als Elemente von semantischen, syntaktischen oder pragmatischen Zeichensystemen. Hier werden Bilder in Hinblick darauf untersucht, was sie von anderen Zeichen, zum Beispiel den sprachlichen Zeichen, unterscheidet und was diese Unterscheidung ausmacht.33 In der Philosophie beschäftigt sich beispielsweise Nelson Goodman mit Fragen nach der Exemplifikation in Bildern. Seiner Meinung nach können Bilder durch eine Kopplung von „Besitz und Bezugnahme“ zu beispielhaften Vermittlungsinstanzen werden.34 Phänomenologische und psychologische Ansätze versuchen hingegen, die Bilder in ihrer Wirkung zu analysieren. Was ist das Spezifische an der Wahrnehmung von Bildern? Wie geht diese wahrnehmende Erfahrung vonstatten? 35 In verschiedenen Disziplinen wird eine bildwissenschaftliche Forschung entwickelt, die sich mit den zentralen Fragestellungen in interdisziplinärer Form auseinandersetzen möchte. Diese sollte in naher Zukunft auf eine eigene Disziplin, die Bildwissenschaft, hinauslaufen. Dazu gehört selbstverständlich eine interdisziplinär formulierte Definition des Begriffs Bild. Klaus Sachs-Hombach und Klaus Rehkämper haben dieses Anliegen wie folgt formuliert:
„Bilder verstehen wir diesem Ansatz gemäß als Zeichen, die in einem System geordnet und bestimmten kommunikativen Absichten unterstellt sind, deren Verwendung zur Übermittlung einer wie auch immer gearteten Botschaft aber von Wahrnehmungskompetenzen profitiert, die im Kern nicht eigens gelernt zu werden brauchen. Genau hierin scheinen uns die Stärken und auch die Schwächen der Bilder zu liegen. Wir schlagen als Ausgangspunkt daher vor, Bilder im Rahmen eines zeichentheoretischen Ansatzes und insbesondere in Verbindung mit psychologischen und psychologisch relevanten Untersuchungen zu analysieren. Soweit dies ein sinnvolles Unternehmen ist, liefert es einen weiteren Grund für die Zusammenführung der Bildforschungen in eine allgemeine Bildwissenschaft.“ 36
Sachs-Hombach und Rehkämper verweisen im weiteren Verlauf ihres Textes auf Aspekte des Bildes, die eine allgemeine Bildwissenschaft als schwieriges Unterfangen erscheinen lassen: sowohl die begrenzte Bildfläche mitsamt ihrer eigenständigen Zeichenwelt als auch das hohe Illusionspotenzial, begründet in der unsicheren Grenze zwischen Darstellung und Dargestelltem, lassen Bilder mehrdeutig und äußerst kom33 Vgl. Scholz, a.a.O., S. 668 34 Vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuchverlag 1997, S. 59–63 35 Vgl. Scholz, a.a.O., S. 667 36 Rehkämper, Klaus/ Sachs-Hombach, Klaus: Aspekte und Probleme der bildwissenschaftlichen Forschung – eine Standortbestimmung, in: Rehkämper/ Sachs-Hombach (Hrsg.): Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildhafter Darstellungsformen, (Reihe "Bildwissenschaft", Band1), Magdeburg: Scriptum Verlag 1999, S. 9–20
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plex erscheinen. Es bedarf, nach Sachs-Hombach und Rehkämper, spezieller Rahmenvorgaben, um die hohe semantische Fülle von Bildern angemessen verstehen zu können. 37
Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde der Wandel des Bildbegriffs im Allgemeinen dargestellt. Ich habe mich dabei stark auf die Sichtweise von Oliver Robert Scholz gestützt, der in seinem Text zum Bild in dem Sammelband Ästhetische Grundbegriffe eine historische Entwicklung des Bildbegriffs anbietet, der ich mich weitestgehend angeschlossen habe. Ergänzt habe ich Scholz Sichtweise mit speziell auf die Performance Art anzuwendenden Gedanken. Hierbei treten zum Beispiel die Leerstellen innerhalb von Bildern als die entscheidenden Auslösemomente für die Arbeit des emotional-kognitiven Systems in den Blickpunkt meiner Untersuchung. Hans Dieter Hubers Gedanken zu diesem Komplex sind hierbei in meine Argumentationen eingeflossen. Überlegungen zur Indexikalität einer performativen Handlung und erste Gedanken zu ihrer Wirksamkeit spielen ebenso eine Rolle in diesem Kapitel wie Lessings Überlegungen zu Poesie und Bildender Kunst. Ich stelle hier die These auf, dass die Bilder in der Performance über den Wirkungsgrad eines statischen Bildgegenstands hinaus weisen und sich poetischer Qualität bedienen. Ein kurzer Exkurs zur Entwicklung erster Massenmedien und erster technischer Bildproduktionen setzt sich zudem mit dem Charakter einer Projektion und Reproduktion auseinander. Ich entwickle hier den Gedanken, dass die Performance Art imstande ist, antiphantasmagorisch zu arbeiten. In einem letzten Abschnitt bringe ich den Gedanken der Fotografie als Todesallegorie in das Feld meiner Argumentation. Das Bild in der Performance Art kann als Gegenpol zur Entkörperlichung in der Fotografie gesehen werden und setzt sich gerade mit intensiven Grenzbereichen wie Schmerz und Tod auseinander. Die aktuellen Positionen und der Ruf nach einer Allgemeinen Bildwissenschaft werden von mir kurz anhand der Untersuchungen von Klaus Sachs-Hombach und Klaus Rehkämper dargestellt. 37 Vgl. Rehkämper/ Sachs-Hombach, ebd., S. 9–20
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Hier wird der Mehrdeutigkeit und Illusionskraft der Bilder gedacht und die Suche nach speziellen Rahmenbedingungen für eine Bildwissenschaft betont. Gerade die Performance bietet hier ein Feld, dessen Bilder bisher kaum in eine bildtheoretische Diskussion Eingang gefunden haben. Ich werde nun im Verlauf des nächsten Kapitels versuchen, einen angemessenen Definitionsansatz für das Bild in der Performance Art zu finden.
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Kapitel 3: Der Bildbegriff in der Performance Art Im folgenden Kapitel werde ich einen Bildbegriff definieren, der spezifisch für die Erscheinungen von Bildern in der Kunstform Performance Art ist. Hierbei werde ich zuerst den Begriff des Bildes und das Auftreten von Bildern näher erläutern, um dann, unter Zuhilfenahme verschiedener Ansätze aus der Phänomenologie und der Kunstgeschichte, einen Bildbegriff zu erarbeiten, der sich auf die lebenden Bilder in der Aktionskunst anwenden lässt. Bilder sind überall. Bilder haben ihren Ursprung in magischen Praktiken, sie dienten und dienen einer besonderen Form der Kommunikation. Sie sind ein wichtiges Werkzeug für die Weltaneignung: Durch das Erschaffen von Bildern wird etwas in Besitz genommen. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Bilder vervielfacht: Das Fernsehen hat sich zum Produzenten einer schier unkontrollierbaren Bilderflut gewandelt, die Großbildleinwände sind in das Stadtbild als Bildverbreiter integriert worden. Mobiltelefone versenden Fotos und Kurzfilme in Echtzeit. Sämtliche Lebensbereiche werden von Bildern unterfüttert und in Bildern repräsentiert. Die Illusionskraft und Illusionsmacht der Bilder wird von den Betrachtern kaum noch hinterfragt oder thematisiert. Dabei produzieren die Bilder eher Zweifel an der Existenz dessen, was sie zu zeigen scheinen. Im Hollywoodkino scheint es keine Grenzen der Darstellbarkeit mehr zu geben: Die erfolgreichsten Filme der letzten Jahre bestehen zu einem Großteil aus computergenerierten Szenen oder gar künstlichen Protagonisten (zum Beispiel „Jurassic Park“ von Steven Spielberg, die „Matrix“ – Filme der Gebrüder Warchowski oder die „Herr der Ringe“ – Trilogie von Peter Jackson mit der virtuellen Figur des „Gollum“). Zweifel an der Echtheit von Bildern der Nachrichten füllen mittlerweile die Medien (zum Beispiel bei der Ergreifung von Saddam Hussein im Nachkriegsirak). Nach den Ereignissen des 11. September 2001 erschienen unzählige Verschwörungstheorien (besonders im Internet), die sich mit der Idee beschäftigten, Teile der Anschläge seien inszeniert worden. Medieninszenierungen spielen auch eine zentrale Rolle in Politik und Gesellschaft (Gerhard Schröder erhielt den zweifelhaften Titel „Medienkanzler“). Nahezu in Echtzeit werden Kriege, Gerichtsverhandlungen und Unglücke als Bilder in die ganze Welt
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gesendet. Dennoch scheinen diese an Bedeutung und Wirkung zu verlieren: Wir haben uns an ihre ständige Begleitung gewöhnt, nehmen sie kaum noch bewusst wahr und interessieren uns nur gering für ihre Referenzialität. Die neuen Medien, insbesondere das Internet, vermögen der Gesellschaft ein Gefühl von sozialer Existenz zu vermitteln, wenn es zu virtuellen Treffen im Cyberspace kommt. Diese Begegnung scheint im realen Alltag mehr und mehr zu verarmen. Hans Belting bezeichnet den Ort dieser Treffen als „gemeinsames Nirgendwo“ 1, wo eine imaginäre Existenz möglich wird, die nicht mehr an physische Orte gebunden ist. Im Verlauf des Kapitels werde ich zeigen, dass das Bild in der Performance Art diesem Zustand durch die unmittelbare körperliche Anwesenheit des Bildsubjekts extrem entgegenwirkt. Bilder sind von jeher mehrdeutig. Schon etymologisch ist der Bildbegriff vielfach besetzt: bilidi (althochdeutsch) heißt einerseits (Wunder)-Zeichen, Wesen, Gestalt und andererseits Bild, Abbild, Nachbildung (derselbe Doppelsinn findet sich ebenso im griechischen eikon und im lateinischen imago). Einerseits liegt also eine Betonung auf dem, wodurch etwas Gestalt gewinnt, in sein Wesen kommt und zur vollen Entfaltung seiner Wunderkraft gelangt. Hier ist das Bild identisch mit dem was es zeigt, es befindet sich, nach Dietmar Kamper, in einer „magischen Ordnung der vollen Präsenz.“ 2 Andererseits ist es das, was ein Urbild nachbildet oder bezeichnet. Es bewegt sich auf der Ebene der Mimesis und ist höchstenfalls ähnlich. Es befindet sich in einer „Ordnung der zur Leere tendierenden Repräsentation.“ 3 Ein noch größerer Abstand zur Realität ist in der Simulation zu finden. Hier ist das Bild völlig in den Bereich der Täuschung übergegangen. Es gibt keinen Referenten mehr für das bildhaft dargestellte Objekt. Zurzeit haben Simulationen einen Grad erreicht, der ein Höchstmaß an Bildkompetenz einfordert, um überhaupt bemerkt zu werden. Simulation ist Illusion und unterwirft den Betrachter der Täuschung, nicht selten auch der lustvoll vollzogenen Selbsttäuschung. Die Auswirkungen dieser Entwicklung sind im Moment kaum zu überblicken. Dietmar Kamper sieht hierin eine massive Störung und eine Wiederkehr der platonischen Bilderhöhle:
„Die Menschen leben heute nicht in der Welt. Sie leben nicht einmal in der Sprache. Sie leben vielmehr in ihren Bildern, in den Bildern, die sie sich von der Welt, von sich 1 Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe einer Bildwissenschaft, München: Fink 2001, S. 85 2 Kamper, Dietmar: Bild, in: Wulf, Christoph (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim und Basel: Beltz Verlag 1997, S. 589 3 Vgl. Kamper, ebd., S. 589
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selbst und von den anderen Menschen gemacht haben, die man ihnen von sich selbst, von der Welt und von den anderen Menschen gemacht hat. Und sie leben eher schlecht als recht in dieser imaginären Immanenz. Sie sterben daran. Es gibt beim Höchststand der Bildproduktion massive Störungen. [...] Also wäre es an der Zeit, aus der selbstproduzierten Bilderhöhle, die dabei ist, sich zu verschließen, auszubrechen. [...] Also wäre der entgegengesetzte Weg der übertriebenen Ekstase angezeigt. Man sucht den Ausgang durch die Bilder hindurch. Man sucht ein Jenseits der Bilder in den Bildern selbst aufzufinden.“ 4
Wie könnte dieser Ausbruch „durch die Bilder hindurch“ aussehen? Ich werde versuchen zu zeigen, dass eine Rückkehr zu einer ursprünglichen Wertigkeit von Bildern als Referenz für kulturelle und soziale Identität eine Möglichkeit zur Schärfung des Bild-Bewusstseins bieten kann. Die Performance Art stellt für mich das geeignete Werkzeug für diese Rückführung des Bildbegriffs dar. Die Tafelbilder oder auch die bewegten Medienbilder können als Angebote verstanden werden, die eben auch zu der, von Kamper gemahnten, imaginären Immanenz führen können. Die Bilder des Körperwissens, die zu Erinnerungen geworden sind, sind jedoch mit tatsächlichen Erfahrungen verbunden, die in Raum und Zeit gemacht wurden. In der Performance ist es der Agierende, der mit seinem Körper in einem selbst definierten Zeitraum ein ephemeres Bild in einem Raum erschafft. Dieses Bild entsteht und vergeht in dem Prozess der Handlung. Lediglich Relikte des Bildes, eher Schatten, denn echte Elemente des eigentlichen Bildes, vermögen eine Erinnerung an das Bild im Moment seiner Präsenz zu geben. Seine Anwesenheit, seine Sichtbarkeit ist an die Aktion des Performers gebunden und ohne ihn nur noch in Aufzeichnungsmedien festzuhalten. Diese haben aber keine der prägenden Elemente mehr, die für den besonderen Bildbegriff in der Handlungskunst notwendig sind. Sie sind vielmehr eine Spur des Geschehenen. Zum Konzept der Spur, wie Emmanuel Levinas es formuliert, lässt sich sagen, dass sie immer Zeichen der Abwesenheit von etwas ist, was jedoch unwiderruflich vorhanden war (z.B. die Spur im Sand). Das, was die Spuren hinterlassen hat, ist jedoch nicht mehr da. Levinas definiert sein Konzept folgendermaßen:
4 Vgl. Kamper, ebd., S. 591
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„In der Spur ist eine absolut vollendete Vergangenheit vorübergegangen. In der Spur bestätigt sich ihr unumkehrbares Vergangenes. [...] Die Spur ist das Einrücken des Raumes in die Zeit, der Punkt, an dem die Welt sich zu Vergangenheit und Zeit beugt.“ 5
In bezug auf die Relikte der Performance Art, seien sie Fotos, Filme oder Gegenstände, gilt, dass sie unumgänglich zur Vergangenheit gehören und keine Bedeutung mehr für den eigentlichen künstlerischen Ausdrucksprozess mehr haben. Ihre Präsenz kann einzig und allein als Repräsentation zweiten Grades bezeichnet werden. Es besteht nur noch eine Dokumentationsbeziehung zum künstlerischen Akt. Selbst die Videodokumentation ist nicht imstande, die „Illusion des Lebens“ 6 entstehen zu lassen und das Bild im gleichen Maße aus dem Rahmen zu lösen und ins Leben zu überführen, wie es eben die Live-Aktion vermag. Nur wenn sich die Zeit des Betrachters mit der Zeit des Performers deckt, wenn die Anwesenheit des Zuschauers in der Performance gegeben ist, kann es zu der Begegnung kommen, die die Besonderheit des Bildbegriffs in der Performance Art prägt. Empfindung von Zuschauer und Performer geschehen parallel in einer gemeinsamen Erfahrung von Dauer. Emmanuel Levinas Formulierungen zu den Begriffen Präsenz und Urimpression erscheinen mir an dieser Stelle zwingend, um der Definition des Bildbegriffs in der Performance hinzugefügt zu werden:
„Die Zeit ist nicht nur die Form, die die Empfindungen aufnimmt und die sie ins Werden hineinzieht, sie ist das Empfinden der Empfindung; das Empfinden der Empfindung ist nicht bloße Koinzidenz des Empfindens und des Empfundenen, sondern eine Intentionalität und daher ein geringster Abstand zwischen dem Empfinden und dem Empfundenen, eben zeitlicher Abstand. Ein betonter Augenblick, lebendig, absolut neu – die Urimpresssion. Schon entfernt sie sich von der Nadelspitze, auf der sie zur absoluten Präsenz gedeiht; und durch diese Entfernung präsentiert sie sich, festgehalten für eine neue punkthafte Präsenz.“ 7
Das Bild, welches von den Performern geschaffen wird, existiert in diesem Moment der Urimpression. Als ein Ereignis, ein starker, sinnlicher Eindruck, hat es kurz seine absolute Präsenz. Da Performance eine ephemere Erscheinung darstellt, treffen Levinas Beschreibungen auf sie zu wie auf keine andere Kunstform: Ist die Live-Arbeit beendet, 5 Levinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, 3. unveränderte Auflage, Freiburg im Breisgau, München: Alber 1992, S. 232/233 6 Vgl. Belting, a.a.O., S. 186 7 Vgl. Levinas, a.a.O., S. 168/169
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findet die Entfernung zum Bild der Performance im Zuschauer selbst statt. Das Bild selbst existiert nicht mehr körperlich. Es wird von der Ebene der Präsenz in die kognitive Ebene des Erinnerns und Bewertens übertragen: Es wird zur punkthaften Präsenz in der Vergangenheit, zur Spur! Damit eignen sich die Betrachter das Bild jedoch selbst an. Es erlangt eine eigene Qualität in der kognitiven Sphäre eines jeden Betrachters. In nachfolgenden Kapiteln werde ich noch stärker auf die Prozesse der Wahrnehmung und der Erinnerung von Performance-Bildern eingehen. Nun gibt es meiner Meinung nach zwei Formen von Spuren in der Performance: zum einen sind es die tatsächlichen Relikte (zum Beispiel die Glasscherben, durch welche Chris Burden in seiner Aktion Abb. 7: Chris Burden: „Through the night softly“, Los Angeles 1973
„Through the night softly“ von 1973
gekrochen war oder ein Tisch voller Objekte aus der Performance „Rhythm 0“ von Marina Abramovic aus dem Jahre 1974). 8 Zum zweiten sind es die oben bereits angedeuteten Spuren in den Köpfen der Zuschauer, die Nachbilder der Performance, die individuell weiterverfolgt werden. Hierbei ist noch einmal zu unterstreichen, dass zwei Betrachter jedoch grundsätzlich auch zwei verschiedene Blicke auf eine Performance richten. Deckt sich die Erinnerung der Betrachter, sind sich die inneren Bilder ähnlicher. Haben die Personen, die einer Performance beiwohnen, unterschiedliche kognitive Strukturen, werden sich die erlebten Bilder weniger ähneln. Die Körperlichkeit der Kunstform spielt eine immense Rolle in ihrer Wahrnehmungsweise: Die Verkörperung einer Bildidee und die Darstellung menschlichen Handelns verweisen immer auf den Leib. Die Begegnung des Körpers des Performers mit dem Körper des Zuschauers in geteiltem Raum und geteilter Zeit macht eine Form der Empathie möglich. Das Wissen um die Verwandtschaft im Besitzen eines Leibes macht 8 Die Ausstellung "Out of Actions" im Östereichischen Museum für angewandte Kunst in Wien (vom 17.06.–06.09.1998) beschäftigte sich mit den Relikten von Aktionskunst, um der Kunstform nahezukommen. Es konnte sich meiner Meinung nach jedoch nur um eine Mystifizierung von Objekten handeln, nicht um eine Darstellung der Inhalte der Aktionskunst.
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die Bilderfahrung zu einer Besonderen. Erst durch den Leib kann es zur Bewusstwerdung von Welt kommen:
„Das Subjekt steht dem Objekt gegenüber, und es ist mit von der Partie; die Leiblichkeit des Bewußtseins an der Welt, die es konstituiert; aber diese Leiblichkeit geschieht in der Empfindung. Die Empfindung ist beschrieben als das, was „am“ und „im“ Leib empfunden wird, als das, wodurch in aller sinnlichen Erfahrung „der Leib mit dabei ist.“ 9 Abb. 8: Marina Abramovic: „Rhythm 0" Neapel 1974
Ohne Leiblichkeit gibt es keine Objekterfahrung. Edmund Husserl beschreibt diese Erfahrungen als „Empfindnisse“. Durch jene wird die Beziehung zum Objekt „verleiblicht“. Den Leib bezeichnet Levinas in Folge allerdings nicht nur als „Lagerstätte und Träger“ der Empfindnisse, sondern als „Organ der freien Bewegung, Subjekt und Sitz kinästhetischer Empfindungen.“10 Dadurch erlangt das Subjekt Mobilität. Erst durch den Leib gelingt es dem Subjekt, Realität für sich zu erfahren. Die Wirklichkeit wird in Form von Gesichtspunkten wahrgenommen, die das Subjekt frei einnehmen kann:
„Das Subjekt bewegt sich in eben dem Raum, den zu konstituieren es im Begriff ist. Das Subjekt hält sich nicht in der Unbeweglichkeit des Absoluten, wo das idealistische Subjekt seinen Platz hat; es findet sich hineingezogen in Situationen, die sich nicht in Vorstellungen auflösen, die es sich von diesen Situationen machen könnte.“ 11
Das Subjekt handelt mit dem Leib, es erarbeitet sich Situationen und verkörpert diese 9 Vgl. Levinas, a.a.O., S. 157 10 Vgl. Levinas, a.a.O., S. 177 11 Vgl. Levinas, a.a.O., S. 178
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Handlungen in Bildern. Damit wird dem Menschen als Träger einer Art kulturellen Gedächtnisses eine wichtige Rolle in der Übertragung von Bildern beigemessen. Es ist den technischen Bildmedien nicht gegeben, die in ihnen dargestellten Bilder dynamisch zu verwandeln. Erst die subjektive Umdeutung, das Vergessen oder die Neuinterpretation durch die Einverleibung der Bilder macht sie zu einem Teil der Kultur. Hier liegt ein wichtiger Aspekt in Bezug auf das Bild in der Performance: Zum einen ist der Performer selbst als Leib in der Aktion und produziert durch seine Arbeit ein Bild, geprägt von seinen subjektiven Vorstellungen. Diese vermitteln sich dem Künstler selbst durch die Empfindnisse, die der Performer in seiner Aktion durchlebt. Er handelt leiblich und erarbeitet sich in der Situation eine bildhafte Darstellung. Da die Performance immer ein Prozess ist, der nicht in letzter Konsequenz geplant werden kann, wird der Performer oftmals hineingezogen in die Situation. Seine Vorstellungen sind nur bis zu einem gewissen Grad erfüllbar, er begibt sich in ein Risiko, ohne exakt zu wissen, was er als Subjekt letzten Endes aus der Aktion gewinnen wird. In Bezug auf das Thema dieser Arbeit, den Schmerz, bekommt dieser Aspekt noch eine besondere Brisanz: Der Grad der Selbstgefährdung ist nicht in jedem Fall überschaubar. Das Bild ist immer Resultat einer persönlichen und kollektiven Symbolisierung. Das meint, dass alles, was wir wahrnehmen, in unserer Vorstellung, in einem kognitiven Akt, zu einem Bild gewandelt wird, welches von den kulturellen Grundsätzen der Gesellschaft, in welcher wir leben, geprägt wird. Dazu kommen unsere persönlichen Werte und Urteile. Nun entsteht das Bild in uns, es ist von einem äußeren zu einem inneren Bild geworden. Ich bezweifle, dass es überhaupt rein äußere Bilder geben kann. Alles wird bereits gefiltert und bewertet, sobald es in die Verarbeitung unserer Wahrnehmung gerät. Nelson Goodman verweist in Bezug auf diese Tatsache auf einen Ausspruch von Ernst Gombrich:
„Ernst Gombrich sagt, das unschuldige Auge gibt es nicht. Das Auge beginnt immer schon erfahren seine Arbeit, es wird von seiner eigenen Vergangenheit und von alten und neuen Einflüsterungen beherrscht.“ 12
Nun verdoppelt sich das Ereignis für den Betrachter noch einmal: Für den Zuschauer gilt 12 Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997, S. 19
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ähnliches wie für den Performer. Eine Situation bietet ihm ein bildhaftes Ereignis, bei dem er sich als Subjekt gemeinsam mit dem Hersteller des Bildes, dem Performer-Subjekt, in einer räumlich und zeitlich konstituierten Situation befindet. Er erlebt sinnlich die Wirkung des performativen Bildes – und zwar in besonderer Weise: Herstellung und Wirkung des performativen Ereignisses fallen in einer Koexistenz zusammen. Der Zuschauer ist in absoluter Präsenz mit dem Entstehungsprozess des Bildes durch den Performer verbunden. Sein Leib ist teilweise gar kinästhetischen Empfindungen ausgesetzt,sofern die Performer dies intendieren. Es begegnen sich somit im Bild der Performance Art immer mindestens zwei Formen von subjektiver Empfindung: die des Herstellers des Bildes und die des Betrachters. Zudem ist der Betrachter auch nie allein, sondern befindet sich in einem Umfeld anderer Betrachter, einer spezifischen sozialen Gruppe. 13 Hier liegt ein eminenter Sonderfall in Bezug auf das Bild in der Performance Art vor. Medien, deren Herstellung sich nicht zeitlich mit ihrer Rezeption deckt, vermögen diese Besonderheit nicht zu produzieren. Philippe Dubois bezeichnet in seinem Text: „Schattengeschichten und Spiegelmythologien – Der Index in der Kunstgeschichte“ die Performance Art als Kunst des „reinen Index“:
„Bei all diesen Versuchen ist es [...] der Referent als solcher in seiner raum-zeitlichen Materialität, der zum Abbild seiner selbst wird. Die physikalische Nähe zwischen dem Zeichen und seinem Gegenstand wird hier zu einer totalen Identifikation. In solchen Fällen wird der Inhalt des Werks (als äußerer, in einer Mitteilung ausgedrückter Referent) vollständig evakuiert. Das Werk sagt uns nichts anderes als das, wodurch es zum Werk wird. Die ganze Semantik der Mitteilung liegt einzig und allein in ihrer Pragmatik (nicht das Produkt oder das Resultat zählt, sondern der Akt selbst, durch den etwas stattfindet – und dieser Akt ist ebensosehr ein Akt des Künstlers wie ein Akt des Betrachters). Deshalb hat man diese Praktiken auch als konsumatorische oder verausgabende bezeichnet: was uns vorgeführt wird, verweist auf kein Außen und ereignet sich hier und jetzt, weshalb es auch danach (oder davor) und anderswo nichts (mehr) gibt. Keinen Rest. Alles ist im Augenblick und am Ort der Referenz konsumiert worden. Einzig und allein unter uns. Hier hat man es mit Experimenten zu tun, die gewissermaßen eine Art Absolutheit der indexikalischen Logik verwirklichen.“ 14
Wie ich bereits im vorausgegangenen Text angeführt habe, möchte ich Dubois Aussa13 Auf die Besonderheit von Zuschauermilieus und den verschiedenen sozialen Gruppenzusammenhängen werde ich an späterer Stelle noch genauer eingehen. 14 Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Dresden/Amsterdam: Verlag der Kunst 1998, S. 112
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ge in einigen Punkten ergänzen und auch kritisieren: Es handelt sich bei den Bildern der Performance durchaus um die Vermittlung von Inhalten, die über den Entstehungsprozess des Werks hinausgehen. Der von Dubois bezeichnete „Rest“ findet jedoch, meiner Auffassung nach, in der Rezeption des Betrachters statt. Hier kommt der Begriff der Repräsentation noch einmal deutlich in das Gesichtsfeld meiner Untersuchung: Repräsentation ist als Darstellung von etwas zu bezeichnen, was nicht zwingend im Hier und Jetzt anwesend ist, aber dennoch als präsent gezeigt werden soll. Allgemein gesagt, ist Repräsentation eine codierte, immer auch symbolisch und kollektiv wirksame, zeichenhafte Referenz. Für das Bild in der Performance Art ließe sich sagen, dass die Aktionen und Handlungen die Repräsentation auf ein Minimum reduzieren. Dies meint, dass die Elemente, die nicht in absoluter Präsenz vorhanden sind, reduziert werden. Anders als beispielsweise im Theater, wo gewisse Bühnenutensilien „für etwas“ stehen (hier sei stellvertretend und aus naheliegenden Gründen Kunstblut genannt, welches für echtes Blut steht.), sind die Materialien in der Performance identisch mit dem, was sie zeigen. Falls menschliches Blut in einer Performance benutzt wird, handelt es sich nicht um die Repräsentation menschlichen Blutes, sondern um echtes Blut. Dies bedeutet, auf den in den bildhaften Zeichen transportierten oder angebotenen Inhalt bezogen, jedoch nicht, dass sich das Gezeigte darin erschöpft, präsentes Bild zu sein und keine emotionalen, sozialen und politischen Zeichen zu transportieren. Gerade durch die Unmittelbarkeit des menschlichen Handelns und die oftmals rituelle Nutzung von Symbolen öffnen sich Möglichkeiten der inhaltlichen Aufladung, die in ihrer Präsenz die Wirksamkeit von anderen Kunstformen übersteigen können. Die Fotografie, die Malerei und der Film bewegen sich auf einer anderen Ebene. Das, was in den Bildern zu sehen ist, ist im Moment ihrer Betrachtung größtenteils abwesend und kann nur im Bild anwesend sein. Damit ergibt sich eine interessante Analogie zwischen Bild und Tod: Die Theorie, dass das Schaffen von Bildern immer eine Auflehnung gegen die Unweigerlichkeit des eigenen Todes sei, erscheint mir in diesem Zusammenhang als sinnvolle Überlegung. Das Beängstigende am Tod ist, dass er imstande ist, den lebenden Körper in ein unbelebtes Bild zu verwandeln. Der Körper wird somit in eine unerträgliche Abwesenheit gedrängt. Als letzte Möglichkeit erscheint nun die
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Repräsentation in anwesenden Bildern. Diese verweisen jedoch immer bereits auf die oben beschriebene Abwesenheit des toten Subjekts. Die Repräsentation in Bildern erscheint als Flucht vor der Todesfurcht, als Versuch, etwas Vergängliches ins Unendliche zu transformieren. So erscheint das Bild als Illusion und gewissermaßen auch als Garant der Unsterblichkeit. Das Bild, gewissermaßen als Double des Körpers, gibt dem verschwundenen Körper ein Medium zurück. Die Performance Art nimmt nach meiner Auffassung eine Sonderstellung in dieser Thematik ein: Sie formuliert quasi das Bewusstsein um den Tod, indem sie sich auf das dem Untergang geweihte ephemere Bild einlässt. Somit möchte ich das Bild in der Performance Art als Möglichkeit bezeichnen, sich mit der Unweigerlichkeit der Abwesenheit auseinanderzusetzen, obwohl sie geradezu das Medium der Anwesenheit ist. Diese scheinbare Paradoxie ist meiner Meinung nach wichtig für die gesamte Überlegung in dieser Arbeit. In Bezug auf die Arbeiten von Boris Nieslony, Alastair MacLennan und anderen werde ich zu einem späteren Zeitpunkt noch detaillierter auf diesen Gedanken eingehen. Was unterscheidet nun die Erscheinung des Bildes in der Performance Art inhaltlich von den Erscheinungen in Bildern des Alltags oder Bildern, die durch anderes körperliches Agieren entstehen, wie z.B. im Sport? Die Performer produzieren bewusst Bilder mit Hilfe des Werkzeuges Performance und schaffen eine Interpretation des Seins in Kommunikation mit ihrem Weltbild. Ich benutze an dieser Stelle bewusst den Begriff Werkzeug anstatt des Begriffs Medium, da ich dadurch die Einflussnahme der Performance auf die Umwelt betonen möchte. Ich werde nun kurz die Begriffe Werkzeug und Weltbild für meine Definition des Bildes in der Performance erläutern. In der Evolution spielt die Nutzung von Werkzeugen als Hilfsmittel zur Einflussnahme auf die Umwelt eine wichtige Rolle. In den Theorien von Andre Leroi-Gourhan besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem aufrechten Gang des Menschen und der daraus resultierenden Befreiung der Hand: Die gezielte Herstellung von Werkzeugen und deren Mitführung erhöhen die Flexibilität und die Lebensqualität. Letztendlich basieren auch höhere Intelligenz und die Entwicklung der Sprache als technische Geste und lautlichem Symbol auf dieser Veränderung. Für Leroi-Gourhan gilt jedoch, dass das „Werkzeug real nur in der Geste existiert, in der es technisch wirksam wird.“ 15 15 Leroi-Gourhan, Andre: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 1980, S. 296
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Damit wird der Werkzeuggebrauch untrennbar mit der Geste der Handlung in Beziehung gesetzt. Elaine Scarry erweitert die Werkzeugdefinition in einer Weise, die sich dann direkt auf die Performance anwenden lässt:
„Durch Werkzeuge und durch Akte des Erzeugens findet der Mensch Eingang in die Empfindung der anderen. Sehen heißt etwas sehen, und derjenige, der dieses Etwas gemacht hat, hat damit in das Sehen eines anderen, in das Objekt seiner Wahrnehmung, Eingang gefunden.“ 16
In Bezug auf diese Arbeit ergibt sich nun, dass die Performance als Werkzeug bezeichnet werden kann, da sie technisch in dem Moment ihrer absoluten Präsenz wirksam wird, also in der realen Geste ihrer Existenz. Des Weiteren ist die Performance als Werkzeug ein Akt des Erzeugens, der fähig ist, Eingang in die Wahrnehmung von anderen zu erlangen. Inhaltlich wird das Werkzeug Performance jedoch erst wirksam, wenn es sich mit einem Weltbild auseinandersetzt. In einem Text über den Begriff des Weltbildes äußerte sich der Philosoph Martin Heidegger:
„Was ist das – ein Weltbild? Offenbar ein Bild von der Welt. Aber was heißt hier Welt? Was meint da Bild? Welt steht hier als Benennung des Seienden im Ganzen. Der Name ist nicht eingeschränkt auf den Kosmos, die Natur. Zur Welt gehört auch die Geschichte. Doch selbst Natur und Geschichte und beide in ihrer sich unterlaufenden und sich überhöhenden Wechseldurchdringung erschöpfen nicht die Welt. [...] Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen.“ 17
Heidegger prägt den Begriff des „Im Bilde sein“ und meint damit ein „Gerüstetsein“ und „sich darauf Einrichten“ des Menschen in Bezug auf dieses Weltbild. Er sieht hierin die Subjektwerdung des Menschen:
„Jene Art des Menschseins beginnt, die den Bereich der menschlichen Vermögen als den Maß- und Vollzugsraum für die Bewältigung des Seienden im Ganzen besetzt.“18
Der Mensch setzt sich in die Szene, wird gar zur Szene selbst: 16 Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1992, S. 263 17 Heidegger, Martin: Holzwege, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1950, S. 82 18 Vgl. Heidegger, ebd., S. 84
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„Der Mensch wird der Repräsentant des Seienden im Sinne des Gegenständigen.“ 19
In der Performance ist der Künstler als Leib selbst das Bild und lässt es an sich und mit seinem Körper entstehen. Der Performer setzt sich als handelndes, leibliches Subjekt mit sich selbst und der Welt als Bild auseinander. Dies umschließt auch politische, soziologische und anthropologische Fragestellungen. Der Bezug zwischen Bild und Körper war bis zum Aufkommen der Digitalfotografie ein unumstößlicher. Wo ein Bild von etwas Realem (sei es beispielsweise ein Porträt oder eine Landschaftsdarstellung) gemacht wurde, gab es einen realen Referenten, der irgendwann, irgendwo existiert hat. 20 Heute ist dieser Bezug aufgelöst. Die Bindung des Imaginären an eine außerbildliche Wirklichkeit ist im digitalen Zeitalter nicht mehr vorhanden: Die Rechenleistungen von Computern ermöglichen die vollständig simulierte Herstellung von Bildern – auch von Körperbildern! Digitale Bilder verlieren damit ihre Geschichtlichkeit. Sie können in einem isolierten Bereich ohne jeglichen Bezug zu ihrer Entstehungszeit und ihrer sozialen Umgebung hergestellt werden Anders ist es mit den Bildern, die wir an unserem Körper oder mit unserem Körper herstellen: Hier wird der Körper zum Trägermedium oder zum Bild selbst! Hans Belting bezeichnet das Ornament als „mediale Technik im Dienst der Bildgenese des Körpers.“ 21 Er sieht darin die Möglichkeit, den Körper der Natur zu entziehen und in eine symbolische Ordnung einzugliedern. Ich würde soweit gehen zu behaupten, dass die Performance imstande ist, den Körper zum Bildträger und zum Bildproduzenten zu machen und damit dem Körper eine Rolle in der symbolischen Ordnung zuzuordnen. Der Körper selbst ist nicht mehr sicher: Seit der Entschlüsselung der menschlichen DNA ist die künstliche Erschaffung von Menschen in vorstellbare Nähe gerückt. Genmanipulation im pränatalen Bereich ist als Möglichkeit bereits durchdacht. Die Bilder, die in den Medien von erstrebenswerten Körpern gemacht werden, sind oft manipuliert, geschönt, simuliert. Es scheint einen zunehmenden Wandel im Verhältnis zwischen Körper und Bild gegeben zu haben: die Bilder richten sich nicht mehr nach den Körpern, von denen sie gemacht werden, sondern die Körper versuchen, den Bildern gleich zu werden. Viele Arbeiten, mit denen ich mich im Verlauf dieser Untersuchung beschäftigt habe, 19 Vgl. Heidegger, ebd., S. 84 20 Selbstverständlich gab es in der Malerei und anderen Kunstformen auch fantastische Darstellungen von Fabelwesen und Ähnlichem. Es geht an dieser Stelle jedoch um den Bezug zwischen Realität und ihrem Abbild. 21 Vgl. Belting, a.a.O., S. 35
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spiegeln eine Auseinandersetzung mit diesem neuen Körperbild wider. Ihnen ist gemeinsam, dass sie die Performance als Ausdrucksmittel wählen, in welcher der Körper nicht von seinem Bild abgelöst werden kann. Hans Belting nennt den Menschen gar den „Ort der Bilder“ 22, der von den selbst erzeugten Bildern besetzt wird und ihnen ausgeliefert ist:
„Seine Bilderzeugnisse aber beweisen, daß der Wandel die einzige Kontinuität ist, über die er verfügt. Die Bilder lassen keinen Zweifel daran, wie veränderlich sein Wesen ist. So kommt es, dass er die Bilder, die er erfindet, bald wieder verwirft, wenn er den Fragen nach der Welt und nach sich selbst eine neue Richtung gibt. Die Ungewissheit über sich selbst erzeugt im Menschen die Neigung, sich als anderen und im Bilde zu sehen.“ 23
In Bezug auf das Bild in der Performance ist dies eine treffende Formulierung in doppelter Hinsicht: der Künstler erzeugt mit seinem Körper als Trägermedium (als Ort) das Bild und gleichzeitig wird der Betrachter zum weiteren Ort, aufgrund der Bezüge, die er mit Hilfe seiner körpereigenen Bilderzeugung (der erinnernden Verknüpfung mit den inneren kollektiven und persönlichen Symbolen) herstellt. Die Bilder schreiben sich somit sowohl dem Künstler als auch dem Betrachter ein.
Zusammenfassung In diesem Kapitel habe mich um die Verschärfung meiner Gedanken zum spezifischen Bildbegriff in der Performance Art bemüht. Grundgedanke ist hier, dass Bildern nicht zu trauen ist angesichts der technologischen Möglichkeiten zur Simulation von Bildwelten. Erst der Weg durch die körperliche Erfahrung „durch die Bilder hindurch“, wie Dietmar Kamper von mir zitiert wird, eröffnet eventuell eine Möglichkeit zur tatsächlichen, sinnlichen Wahrheitsüberprüfung von Bildgegenständen. Emmanuel Levinas Gedanken zur Spur bekommen in diesem Kapitel eine Bedeutung, um die Begriffe der Präsenz und der Urimpression auf die Performance Art anwenden zu können. Hier klingt eine Kritik an der Möglichkeit zur Dokumentation von performativen Vorgängen 22 Vgl. Belting, a.a.O., S. 12 23 Vgl. Belting, ebd., S. 12
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an. Ich vertiefe dann bereits vorher angeklungene Überlegungen zum indexikalischen Charakter der Performance und entwickle das scheinbare Paradoxon, dass das Bild in der Performance Art sich trotz seiner sinnlichen Anwesenheit als lebendiger Körper mit der Unweigerlichkeit der Abwesenheit auseinandersetzt. Auch der Werkzeuggedanke, der mir in Bezug auf die Bilder in der Performance wichtig erscheint, wird mit Blick auf die Überlegungen Andre Leroi-Gourhans erläutert. Performance kann hier als Akt des Erzeugens gesehen werden. Dieser Akt geschieht in Auseinandersetzung mit dem Weltbild. Bei diesem Begriff beziehe ich Gedanken Heideggers zu diesem Thema in meine Überlegungen ein. Anhand der verschiedenen Definitionen, die ich für die Betrachtung des Bildbegriffs in der Performance Art entwickelt habe, zeigt sich eine Reihe von Besonderheiten, die mit Körperlichkeit, Zeitlichkeit und Kognition in Beziehung stehen. In den folgenden Kapiteln werde ich mich mit weiteren wichtigen Begriffen wie Erinnerung, Zeitlichkeit und Wahrnehmung beschäftigen, um ein theoretisches Gerüst zu entwickeln, welches meine Hauptargumentation zu tragen imstande ist.
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Kapitel 4: Zeitlichkeit und Wahrnehmung 4.1. Zeitlichkeit und Dauer „Performance hat auch etwas zu tun mit dem Glück, etwas zu sehen. Das Glück wird nicht kleiner, wenn das, was zu sehen ist, vorüber ist. Performance hat etwas zu tun damit, daß Kunst etwas Ähnliches ist wie Yoghurt – daß sie ein Verfallsdatum hat. Normalerweise ist Kunst das Gegenteil von Yoghurt – sie fängt an gut zu werden, wenn der Yoghurt schlecht wird.“ 1
Wie im vorangegangenen Kapitel bereits thematisiert, spielen Zeitlichkeit und Dauer in der Wahrnehmung des spezifischen Bildes in der Performance Art eine wichtige Rolle. Im folgenden Kapitel werde ich darstellen, was das Phänomen Zeit in Bezug auf die Performance interessant macht. Welche Bedeutungen haben Dauer und Zeit für den Betrachter? Wie gelingt es Performern Zeitlichkeit erfahrbar zu machen? Norbert Elias schreibt, dass die Menschen Zeitbestimmungen brauchen, „weil sich Positionen und Abläufe, die in dem unaufhörlichen Fluß der Geschehensabfolge ihren Platz nacheinander haben, nicht nebeneinander und direkt miteinander vergleichen lassen.“ 2 Daraus ergibt sich, dass das Phänomen, welches Zeit genannt wird, Geschehensabläufe in Beziehung zueinander setzt. 3 Die Geschehensabläufe selbst sind sinnlich wahrnehmbar, wie beispielsweise die körperlichen Handlungen in einer live aufgeführten Performance. Ihre zeitliche Verankerung zunächst nicht, denn sobald etwas in der Zeit als Gegenwart wahrgenommen wird, ist es nicht mehr als Gegenwart zu kommunizieren, da es bereits Vergangenheit geworden ist. Dies gilt insbesondere für die Akte in der Performance, da es sich um ephemere Phänomene handelt, die nicht als dauerhafte Kunstwerke angelegt sind. Um die Beziehung zwischen verschiedenen Abläufen kommunizieren zu können, werden die Wahrnehmungen durch das Symbol der Zeit geordnet. Sie werden auf einer zeitlichen Skala zueinander in Beziehung gesetzt. Phänomenologisch argumentiert, befinden sich jedoch auch Vergangenheit und Zukunft in einer untrennbaren Beziehung zur erlebten Gegenwart. Ernst Pöppel unterstreicht dies in dem folgenden Zitat: 1 Gerz, Jochen: Das Opfer der Kunst, in: Janeke, Christian (Hrsg.): Performance und Bild. Performance als Bild, Berlin: Philo und Philo Fine Arts 2004, S. 188 2 Elias, Norbert: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 1988, S. XVII 3 Ebd., S. XVII ff. 4 Pöppel, Ernst: Lust und Schmerz. Über den Ursprung der Welt im Gehirn, Berlin: Sammlung Siedler 1993, S. 77
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„Vergangenheit ist uns nur präsent als ein gegenwärtiger Gedächtnisinhalt und Zukunft ist nur als gegenwärtige Erwartung des Kommenden gegeben.“ 4
Damit wird deutlich, dass unsere Wahrnehmung grundsätzlich präsenter Natur ist, was einen interessanten Aspekt in der Betrachtung der Performance darstellt. Denn diese Präsenz, dieses „In-Beziehung-Setzen“ von Geschehensabläufen, ist in der Performance in bewegten Bildern spürbar und sichtbar. Die Zeit, die nach Elias dazu dient, das „erlebbare, aber nicht mit den Sinnen wahrnehmbare Erinnerungsbild“ 5 kommunizierbar zu machen, erfordert meiner Meinung nach in der Betrachtung der Kunstform Performance ein besonderes Augenmerk, das in ihrem Prozesscharakter begründet liegt. So ist es gerade hier nicht möglich, eine Dimension der Vergangenheit oder einen Aspekt der Zukunft sichtbar zu machen, da das Ereignis, die Aktion, keinen dauerhaften Werkcharakter für sich beansprucht, sondern als vergängliches Projekt im Hier und Jetzt durchgeführt wird. Dennoch kann die Performance Zeit in gewisser Weise spürbar werden lassen. Ausgedehnte Handlungen oder Prozesse, die das Verstreichen von Zeit verdeutlichen, lassen Betrachter und Performer eine gemeinsame Erfahrung von Dauer machen. Aber auch die kurzen, schlaglichtartigen Aktionen, die in, auf die Spitze getriebenen, Höhepunkten erscheinen, lassen den Aspekt der Zeit spürbar werden. Hier jedoch in der Umkehrung der Dauer als Moment der intensiven Plötzlichkeit. 6 Die Zeit ist als absolute Gegenwart und Präsenz der Agierenden erlebbar. Die geteilte Zeit mit den Betrachtern lässt die Handlung der Performer erscheinen. Ich beziehe mich hier auf einen Text von Walter Seitter, in welchem er sprachliche Äußerungen mit Handlungen und diese mit dem Begriff Erscheinung gleichsetzt. 7 Mit Erscheinung betitelt Seitter ein „Etwas“, welchem eine gewisse Ereignishaftigkeit innewohnt, indem es „Erscheinung von etwas – als etwas – und für etwas (etwen)“ 8 wird. Das Interessante am Begriff der Erscheinung für die Performance Art ist der Zusammenhang mit der Zeitlichkeit, die im Prozess der Entstehung der Performance beziehungsweise des Bildes innerhalb der Performance verdeutlicht wird: Hier erscheint nicht etwas bereits vorher (in einem Bereich der Vergangenheit) Entstandenes, sondern es entsteht ein lebendes Bild als Präsenz vor den Augen von Zeugen. Erika Fischer-Lichte spricht in einem anderen Zusammenhang von „Zeit-Inseln“ 9, die 5 Elias, a.a.O., S. XVIII 6 Als Beispiel sei hier eine Performance von Zbiegniew Warpechowski (gezeigt unter anderem auf der documenta 8, 1980 in Kassel) genannt, in welcher er sich einen Nagel durch die Handfläche treibt. Diese Performance dauerte nur wenige Sekunden und wurde ohne Prolog oder Epilog in ihrer schockhaften Plötzlichkeit aufgeführt, auch um der Dokumentation und damit der Speicherung in der Zeit zuvorzukommen. Vgl. Jappe, Elisabeth: Performance. Ritual. Prozeß. Handbuch der Aktionskunst in Europa, München und New York: Prestel Verlag 1993, S. 37 7 Seitter, Walter: Von der Widerspenstigkeit der Erscheinungen, in: Belting, Hans und Gohr, Siegfried (Hrsg.): Die Frage nach dem Kunstwerk unter den heutigen Bildern, Ostfildern: Cantz Verlag 1996, S. 117ff 8 Ebd., S. 119 9 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen., Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2004, S.231
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gleichsam aus dem kontinuierlichen Fluss der verstreichenden Zeit auftauchen und auf besondere Weise präsent werden. Sie bezeichnet damit die Erscheinung von Handlungen in der Wahrnehmung des Betrachters, wobei es durch die Ereignishaftigkeit der Aktion möglich wird, Zeit für einen Moment zu verräumlichen, sodass eine Handlung im Raum zur Aufmerksamkeit auffordert. Hierzu möchte ich noch den Begriff des „Erscheinungsraums“ 10 hinzuziehen: In der Performance ist der Erscheinungsraum geöffnet, in welchem durch menschliches, zeitgebundenes Handeln ein Bild entsteht. Dies meint, dass die Betrachter der Erscheinung nicht wie von außen beiwohnen, sondern den dauerhaften Prozess miterleben und nicht selten mitgestalten (mehr zu diesem Aspekt im Kapitel über performative Ästhetik). Man kann also sagen, dass Performance Art einen besonderen Erscheinungsraum schafft, in welchem Handlungen als Zeit-Inseln in die Wahrnehmung des Betrachters gelangen und somit als präsente Phänomene in der Gegenwart, der Zeit im Hier und Jetzt, erlebt werden. Doch zunächst noch einmal zurück zu einer allgemeinen Betrachtung des Begriffs der Zeit. Elias weist darauf hin, dass Zeit in der Vergangenheit soziologisch die Bedeutung von Koordination und Integration zufiel. Hierbei bestimmten zentrale Figuren wie Priester oder Könige die „rechte Zeit“, zu der Dinge getan werden mussten. 11 Heute sind Dauer und „rechte Zeit“ keiner vergleichbaren Bedeutung mehr unterworfen. Die Zeitstrukturen in unserer modernen, westlichen Gesellschaft sind kaum noch an natürliche Abläufe oder jahreszeitliche Bedingungen gebunden. Vielmehr bestimmen gegensätzliche Elemente wie Arbeitszeit und Freizeit die Abläufe unseres Lebens. Grundsätzlich werden jedoch eher kurze Zeitabschnitte (wie eine Stunden- oder Minuteneinteilung) als Einheiten betrachtet, wohingegen in archaischen Gesellschaften größere Zeitspannen wie der Wechsel der Jahreszeiten und dadurch beeinflusste Erntezeiten eine lebensbestimmende Koordinate darstellten. Der Grund liegt in der zunehmenden Urbanisierung und Kommerzialisierung, durch welche die Synchronisation der steigenden Zahl menschlicher Tätigkeiten notwendiger wurde. Elias verweist hier auf die „ordentliche, wiederkehrende Zahlung von Steuern, Zinsen, Löhnen und die Erfüllung vieler anderer Verträge und Verpflichtungen.“ 12 Durch das neue Zeitkonzept wird Zeit zunehmend mathematischer. Das Konzept der Uhr (mit Minuten- und Sekundenzeiger) verändert die Wahrnehmung von Zeit. Elias bezeichnet die Zeit als „Regula10 Ebd., S. 122 11 Vgl. Elias, a.a.O., S. 19 12 Ebd., S. 21
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tor sozialer Ereignisse“ 13, wobei jedoch der Uhr eine fast mystische Bedeutung zukommt:
„Besonders in urbanen Gesellschaften werden Uhren in einer Weise hergestellt und verwendet, die an die Herstellung und Verwendung von Masken in vielen prä-urbanen Gesellschaften erinnert: Man weiß, daß sie von Menschen gemacht sind, aber sie werden erlebt, als ob sie eine außermenschliche Existenz repräsentieren. Masken erscheinen als Verkörperung von Geistern, Uhren erscheinen als Verkörperungen der „Zeit“; die Standardredewendung in bezug auf sie lautet: Sie zeigen die „Zeit“ an.“ 14
Das Gegenkonzept zur Uhr stellt jedoch der Bezug zur „richtigen Stimmung“ dar, in welcher ein Geschehen stattfindet. Ich möchte behaupten, dass die Zeit in der Performance dem entspricht, was Elias mit einer Beschreibung eines Tanzrituals von PuebloIndianern (in Anlehnung an einen Bericht von Edward T. Hall) zu definieren versucht. Eine Gruppe von Amerikanern wartet auf den Beginn eines Weihnachtstanzes. Die Kälte und die unwirtliche Uhrzeit machen das Warten für die Gäste mehr und mehr unerträglich. Gespräche über den Beginn des rituellen Tanzes werden von wiederholten Blicken auf die Uhr begleitet:
„Plötzlich, als die Weißen fast am Ende ihrer Kräfte waren, wurde die Nacht durch die tiefen Klänge der Trommeln, Klappern und singender Männerstimmen durchbrochen. Ohne Vorwarnung hatte der Tanz begonnen.“ 15
Der Beginn des traditionellen Tanzes wurde, nach Meinung von Elias, erst dann begonnen, als die Gemeinschaft der Indianer ihr Zeitempfinden mit einer „richtigen Stimmung“ 16 synchronisieren konnte. Der Tanz dient in der Kultur des Naturvolkes der Kommunikation mit der Geisterwelt und ist deshalb an ein Zeitkonzept gebunden, welches physikalisch nicht messbar erscheint. Der Zusammenprall der gegensätzlichen Zeitwahrnehmung der unterschiedlichen Kulturen erscheint mir vergleichbar mit der Verschiebung des Zeitempfindens, die einem Publikum zugemutet wird, welches einer dauerhaften Performance beiwohnt. Ich spreche hier etwa von Arbeiten, die sich über eine „schmerzhafte“ Dauer von meh13 14 15 16
Ebd., S. 93 Ebd., S. 95 Hall, Edward T., in: Elias, ebd., S. 119 Ebd.
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reren Stunden hinziehen können (wie zum Beispiel bei Alastair MacLennan 17). HansThies Lehmann spricht im Zusammenhang mit dem Theater von einem „Widerstand gegen die soziale Zerstückelung und Parzellierung der Zeit“ 18. Von einer durativen Ästhetik ist sicher auch in den oben genannten Arbeiten von MacLennan zu sprechen: Dehnungen, Pausen und totaler Stillstand setzen einen Kontrapunkt zur „Fragmentierung der Erfahrungs-Zeit“:19
„Je mehr unser tägliches Leben standardisiert, stereotyp und einer immer schnelleren Reproduktion von Konsumgegenständen unterworfen erscheint, desto mehr muß die Kunst ihm sich verpflichten und jene kleine Differenz entreißen.“ 20
Die Differenz liegt, gerade in der Performance, in der veränderten Zeitwahrnehmung. Die Differenz, die zwischen dem normalen Umgang mit Zeit (inklusive dem ungeduldigen Blick auf die Uhr) und der „richtigen“ Zeit in einer Performance Abb. 9: Boris Nieslony: "Koan - Daily Life Plot", Interakcje Festival, Polen 2002
entsteht, ist von Bedeutung für diese Untersuchung. Erfahrungszeit wird in
Dauerperformances nicht nur für den Künstler schmerzhaft gedehnt, sondern lässt auch den Betrachter in eine andere Wahrnehmung und Nutzung von Zeit eintauchen, die sich erst einmal grundsätzlich von der Zeit im Alltag unterscheidet. Wenn Boris Nieslony etwa in einer seiner „Koan“-Performances 21 fast unbekleidet auf dem Boden liegt und sich über einen sehr langen Zeitraum Weizenkörner aus einer Schüssel in die Öffnung seines Ohres füllt bis die Körner aus der Ohrmuschel herausquellen, scheint die Zeit stillzustehen. Die Handlung des Aufnehmens eines einzelnen Weizenkorns wird mit bedächtiger Ruhe und hoher Konzentration vorgenommen. Dadurch wird dem Bild, welches bei dieser einfachen körperlichen Tätigkeit entsteht, eine skulpturale Qualität verliehen. In 17 Alastair MacLennan arbeitete zum Beispiel in der Arbeit "Bury the veil" 1986 in der Franklin Furnace Gallery in New York Non Stop über 50 Stunden. In der Performance "Neither Nor" performte MacLennan sogar 120 Stunden ohne Pause in der Galerie Third Eye Centre in Glasgow 18 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999, S. 331 19 Ebd. 20 Deleuze, Gilles, zit. nach Thies-Lehmann, ebd., S. 337 21 Nieslony zeigte diese Arbeiten unter anderem in Rom im Jahr 2001
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vielen Dauer-Performances kann deshalb, in meiner Auffassung, Hans-Thies Lehmanns Begriff der „Zeitskulptur“ 22 verwendet werden. Durch extrem verlangsamte Bewegungen oder dauerhafte Unbeweglichkeit (wie etwa bei Abramovic/Ulay in „Nightsea Crossing“23) erhält das Handlungskonzept etwas Skulpturales, es gefriert für die Dauer der Performance. Aber auch in diesen Bildern der scheinbaren Ereignislosigkeit steckt eine Transformation. Anthony Howell beschreibt diesen Aspekt in seinem Text „Against the image“ auf relevante Weise:
„In any live show, we are witnessing an event which unfolds before us in time. And from the performer´s point of view there is a temporal and physical
Abb. 10: Abramovic/Ulay: „Nightsea Crossing“ Museum van Hedendaagse Kunst, Gent 1984
development, however „static“ the appearance of the event. A freeze in a single position, for instance, must be maintained. What was easy to do for half a minute becomes more difficult after five minutes. The business of sustaining the pose becomes fraught with tension, and this tension accumulates during the pose, so the last part of stillness adopted is in many cases more stressful than its start.[...] And so the performer is always aware that the presentation of the work is occuring in time [...].“ 24
Diese scheinbare Ereignislosigkeit ist also keine.Wir sind Zeugen einer Veränderung und erleben eine atmende,sich minimal bewegende Skulptur,die ihrem Produzenten ein Höchstmaß an Konzentration und Präsenz abverlangt. Gelingt die Präsentation dieser Präsenz, „the image will look after itself“ 25, gelingt also auch das Bild als solches.Trotz dieser Bildwerdung über einen längeren Zeitraum bewahrt sich die „duration-performance“ ihren besonderen ephemeren Bildstatus: nach dem Ende der Arbeit verschwindet die Skulptur mit ihrem Trägerkörper und hinterlässt Spuren ausschließlich in der Wahrnehmung ihrer Betrachter. 22 Ebd., S. 331 23 Marina Abramovic und Ulay zeigten diese Arbeit insgesamt 90 Tage lang zwischen 1982 und 1986. Die beiden Künstler saßen sich während der gesamten Öffnungszeiten eines Museums schweigend an einem Tisch gegenüber ohne sich zu bewegen. Sie waren damit als lebende Skulptur aus der realen Zeit herausgelöst und dennoch auf besondere Weise präsent im Raum. 24 Howell, Anthony: Against the image, in: Janeke, Christian, a.a.O., S. 169 25 Ebd.
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Hierbei lasse ich eventuelle Dokumentationen im Bereich Film oder Fotografie außerhalb meiner Überlegungen, da es sich hierbei nicht um das hier zu untersuchende Medium der Live Performance handelt. Für die Untersuchung von Zeitlichkeit eines Bildes in der Performance Art sind auch die Theorien von Henri Bergson (1859 – 1941) von Bedeutung. Der oben bereits eingeführte Begriff der Dauer spielt hier eine wichtige Rolle. Bergson bezeichnet die Dauer als „psychologische Erfahrung.“ 26 Sie ist ein „Übergang und ein Wandel; ein Werden, aber ein Werden, das dauert und ein Wandel, der selbst Substanz ist.“ 27 Dauer ist, so verstanden, nicht nur „gelebte Erfahrung, sie ist bereits erweiterte, sogar überschrittene Erfahrung, Bedingung von Erfahrung.“ 28 Denn was uns die Erfahrung liefert, ist immer ein „raum-zeitliches Konglomerat.“ 29 In einem persönlichen Gespräch zitierte die Performerin Marina Abramovic den Künstler John Cage und machte die Aussage, dass erst nach einer Phase der Dauer, ja der Langeweile, eine Aufmerksamkeit entstehe, die der Wahrnehmung von Kunst eine besondere Qualität gebe. Die Intensität einer Handlung erhält durch die Fortschreibung in der Zeit ein höheres Maß an Bedeutung. In Bezug auf den Erfahrungswert oder die Erfahrungsbedingung von Dauer heißt dies, dass ein „Werden“ von Bedeutungsqualität parallel zum Fortschreiten von Zeit verläuft und durch sie bedingt ist. Dies ist insofern interessant als man überlegen könnte, ob gerade in den Performances die Bilder durch ihre Verankerung in der Zeit zur Realität in unserem Bewusstsein werden: Das Bewusstsein ist durch das Wissen um den Entstehungsprozess einer unmittelbaren Handlung geschärft und das Gesehene wird zum Ereignis. Bergson geht in seinen Überlegungen weiter und sagt, es gebe echte Wesensunterschiede nur innerhalb der Dauer, während der Raum lediglich der Ort, die Umgebung und das Gesamtfeld gradueller Unterschiede ist. 30 Erst die Dauer in ihrer Prozesshaftigkeit kann die Wahrnehmung dahingehend verändern, dass wesentliche Unterschiede erfahren werden. Bergson wird in diesem Zusammenhang mit dem Satz: „Ich muß das Schmelzen des Zuckers erst abwarten.“ 31 zitiert. Hier geht eine Veränderung der Seinsweise des Zuckers vonstatten, die nur in der Dauer denkbar ist. Auch in der Performance gelangen die Bilder erst in der Dauer zu dem, was sie sind: das Abbild einer Veränderung. Wobei hier erneut von zwei Standpunkten auf diese 26 Deleuze, Gilles: Henri Bergson zur Einführung, 3. Auflage, Hamburg: Junius 2001, S. 53 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 47 31 Ebd.
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Veränderung geschaut werden muss: Ein Performer, der ein „duration piece“ (eine dauerhafte, lange Performance) zeigt und durchlebt, wie beispielsweise Alastair MacLennan in seinen bis zu mehreren Tagen dauernden Arbeiten, unterzieht sich sowohl einer physischen als auch psychischen Veränderung während der Dauer der Aktion. In einem Interview äußerte sich der Künstler deutlich zu diesem doppelten Effekt. Ich werde später in der Arbeit noch vertiefender auf den Aspekt der „duration pieces“ und speziell auf die Arbeiten von MacLennan eingehen. Auch beim Rezipienten wird diese Veränderung durch den zeitlichen Aspekt deutlich: Die Wahrnehmung der Arbeit verändert sich, der Blick fokussiert sich auf die Performance und Aspekte gelangen in die Perzeption, die bei einem Objekt, welches nur räumlich, jedoch nicht auf einer zeitlichen Ebene existiert, nicht zutage treten können. Diese dauerhafte Wahrnehmung wird von Georges Didi-Huberman in Bezug auf die Bildbetrachtung als „schwebende Aufmerksamkeit“ 32 bezeichnet. Der Rezipient schiebt den Augenblick hinaus, in welchem Schlüsse gezogen werden,„damit die Interpretation Zeit genug hätte, um sich über mehrere Dimensionen zu erstrecken.“ 33 Huberman bezieht sich in dieser Aussage zwar auf die Kategorie der Freskenmalerei, der zeitliche Aspekt der Wahrnehmung und der Auswertung des Gesehenen lässt sich jedoch ebenfalls und in besonderem Maße auf die Ereignisse der Performance anwenden. Was bedeuten diese Aspekte in Bezug auf die Performance Art? Wie bereits erwähnt, ist das Erleben und Erlebbarmachen von Zeit ein wesentlicher Aspekt in den Aktionen der Performancekünstler. Es handelt sich meiner Meinung nach eindeutig um eine andere Zeit als die mathematisch messbare Zeit. Die Definition, die Henri Bergson für die Dauer verwendet (einen Moment tatsächlicher Veränderung), kann für mich als Synonym für die Zeit in der Performance angesehen werden.
32 Didi-Huberman, Georges: Vor einem Bild, München und Wien: Carl Hanser Verlag 2000, S.23 33 Ebd., S. 23
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4.2. Wahrnehmung Wie nehmen wir diesen Moment allerdings wahr? Was sind die wichtigen Aspekte, die eine Wahrnehmung innerhalb des Aufführungsprozesses einer Performance zu etwas Besonderem machen? Hierzu sollte zuerst einmal geklärt werden, wie Wahrnehmung funktioniert. Interessant ist, dass die Wahrnehmungspsychologie davon ausgeht, dass Wahrnehmung nicht das Objekt ist, welches wir vor uns sehen, sondern das Objekt um etwas vermindert: Vermindert um all das, was nicht in unser Interesse fällt. 34
„Ein Ding erkennen [...] heißt, mit ihm eins werden: diese Einheit ist nur dann möglich, wenn Subjekt und Objekt, wenn der Erkennende und das Erkannte von gleicher Natur, wenn sie Glieder und Teile ein und desselben Lebenszusammenhangs sind. Jede sinnliche Wahrnehmung ist der Akt einer solchen Verschmelzung und Wiedervereinigung.“ 35
Faktisch bedeuten diese Aussage von Ernst Cassirer und die vorangegangene Überlegung aus der Wahrnehmungspsychologie, dass wir selbst die Produzenten unserer Wahrnehmung und damit die Architekten unseres Bewusstseins sind. Wie wird jedoch etwas für unser Bewusstsein von Interesse? Hans Dieter Huber sagt, ein Bild „entsteht erst im tatsächlichen Vorgang der Beobachtung.“ 36 Es ist nicht ein bereits Gegebenes, sondern entsteht erst in der Wahrnehmung des Betrachters durch subjektive Beschreibung und selektive Zuordnung von Bildelementen. Aus dieser Annahme lässt sich schließen, dass die Funktionsweisen unseres Gehirns nur bestimmte Wahrnehmungsimpulse in unser Bewusstsein dringen lassen. Zunächst ist Aufmerksamkeit ein wichtiger Aspekt. Gerhard Roth bezeichnet sie als „generellen Zugang zum Bewusstsein.“ 37 Alles, worauf wir nicht unsere Aufmerksamkeit richten, entgleitet unserem Bewusstsein oder ist nur schwach wahrnehmbar. Die hier vorgestellten Kunstaktionen sind meiner Meinung nach imstande, durch ihre physische Auffälligkeit und Dauer ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit zu fordern und damit in einer besonderen Weise in das Bewusstsein von Beobachtern zu gelangen. 34 Vgl. Deleuze, a.a.O., S. 37ff 35 Cassirer, Ernst, zitiert nach: Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19.Jahrhundert, Dresden und Basel: Verlag der Kunst 1996, S. 48 36 Huber, Hans Dieter, a.a.O., S. 139 37 Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Neue, vollständig überarbeitete Ausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2003, S. 205
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Doch um Informationen überhaupt in unsere kognitive Wahrnehmung gelangen zu lassen, müssen Ereignisse als „neu“ und „wichtig“ eingestuft werden. 38 Es scheint ein vorbewusst arbeitendes System im Gehirn zu geben, welches alle Wahrnehmungseindrücke vorfiltert und jene, die als „unwichtig“ klassifiziert werden, nicht in Gedächtnisbereiche vordringen lässt. Auch die Einordnung von „wichtig“ und „bereits bekannt“ führt nur zu einer „Aktivierung von Verarbeitungsinstanzen“, 39 die bereits vorher mit diesen Aspekten befasst waren und somit die Beschäftigung mit solchen Wahrnehmungen eher unbewusst geschieht. Einzig die Klassifizierung „neu“ und „wichtig“ führt zur Aktivierung des „langsam arbeitenden Bewusstseins- und Aufmerksamkeitssystems.“ 40 Der Neurologe Ernst Pöppel unterstützt diese Annahme ebenfalls:
„Wahrnehmung ist nicht passives Reagieren auf Reiz-Konstellationen, sondern ein Auswählen solcher Umweltereignisse, die aufgrund der individuellen Bedürfnislage oder einer Erwartung als bestätigt erlebt werden. Die neuronale Ausstattung des Gehirns bedingt von vorneherein, daß unsere Wahrnehmungserlebnisse durch erwartete Reaktionsweisen oder Einstellungen inhaltlicher Art mitgeprägt werden.“ 41
Aus diesen Versuchsergebnissen in der Psychologie schließt Hans Dieter Huber für die Bildwissenschaft:
„Bilderfahrung ist also in einen Horizont von Möglichkeiten eingebettet, aus dem tatsächliche Beobachtung eines Beobachters als Operation des Unterscheidens und Bezeichnens eine ganz bestimmte Möglichkeit als tatsächlichen Zustand realisiert. Dabei ist zu bedenken, dass diese Konstruktion stets anders ausfallen könnte, das heißt kontingent ist. [...] Das auslösende Moment in der Beobachtung eines Bildes trifft also in der inneren Modellierung des kognitiven Systems auf eine Projektionsoberfläche, auf der nur dasjenige adaptiert und assimiliert werden kann, was aufgrund der inneren Struktur der kognitiven Teilzustände zu diesem Zeitpunkt möglich ist. Der Rest an Perturbation, Provokation oder Irritation läuft leer am Beobachter vorbei.“ 42
38 Vgl. Roth, ebd., S. 238ff 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Pöppel, Ernst: Lust und Schmerz. Über den Ursprung der Welt im Gehirn, Berlin: Sammlung Siedler 1993, S. 54 42 Huber, a.a.O., S. 141
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Aus den hier genannten Punkten ergibt sich eine Argumentation für die Wirksamkeit des Bildes in der Performance Art. Wenn gerade die genannten Aspekte unserer Wahrnehmung imstande sind, „neue kognitive Netzwerkeigenschaften“ 43 zu ermöglichen und jede Differenz das Individuum zu einem ständigen Lernprozess herausfordert, bietet die Performance mit ihrer Prozesshaftigkeit und den oftmals verrätselten Bildfolgen einen immensen Anreiz für die Wahrnehmung. Selbstverständlich muss, wie bereits oben gesagt, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit investiert werden. Grundsätzlich ist jedoch zuerst von Bedeutung, dass eine wahrnehmende Offenheit gegenüber den Phänomenen vorhanden ist:
„Wahrnehmen, das heißt: mit einem Schlage eine ganze Zukunft von Erfahrungen in einer Gegenwart engagieren, welche uns jener nie bindend versichert, es heißt: glauben an eine Welt. Diese Offenheit zur Welt ist es, die [...] die Verwirklichung der WahrNehmung erst möglich macht [...].“44
Maurice Merleau-Ponty verknüpft hier einige interessante Begriffe mit der Wahrnehmung. Zum einen setzt er die Erfahrungen mit einer Zeitleiste in Verbindung. Wahrnehmung wird erst ermöglicht, indem Erfahrungen ausgelebt werden. Dazu benötigt der Mensch eine offene Herangehensweise an eine mögliche Zukunft. Ohne diese Offenheit zur Welt gibt es kein Wachstum der Existenz. Merleau-Ponty formuliert den Gedanken des „Zur-Welt-seins“, der mir in diesem Zusammenhang passend erscheint:
„Der Reflex, insofern er dem Sinn einer Situation sich öffnet, die Wahrnehmung, insofern sie jeder erkenntnismäßigen Gegenstandssetzung zuvor eine Intention unseres ganzen Seins verkörpert, sind Weisen der präobjektiven Sicht, die wir als das ZurWelt-sein bezeichnen.“ 45
Die oben beschriebene präobjektive Sicht, das Zur-Welt-sein, klingt auch bei Marcel Mauss in dem Gedanken an, dass der Körper das erste und wichtigste Wahrnehmungsinstrument darstellt. Bevor eine kognitive Leistung vorgenommen werden kann, ist es der Leib, der DA ist. Merleau-Ponty nennt das Phänomen, als drittes zwischen Psychischem und Physiologischem, die „Existenz.“ 46 Des Weiteren bezeichnet er Existenz 43 Huber, ebd., S. 142 44 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: Walter de Gruyter Studienbuch 1974 (Photomechanischer Nachdruck), S. 345 45 Ebd., S. 104 46 Ebd., S. 149
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und Zur-Welt-sein als „Subjekt der Wahrnehmung.“ 47 Leib und Existenz beziehungsweise Zur-Welt-sein können nicht geschieden werden, da beide „einander wechselseitig voraussetzen, der Leib geronnene oder verallgemeinerte Existenz, die Existenz unaufhörliche Verleiblichung.“ 48 Auf eine einfache Formel gebracht, formuliert Merleau-Ponty dies noch deutlicher: „Mein Leib ist da, wo er etwas zu tun hat.“ 49
Die Wahrnehmung ist erst dann imstande tätig zu werden, wenn es etwas gibt, was sie affektiv berührt. Bleibt dies aus, gibt es keine Wahrnehmung! Ebenso finden wir diesen Gedanken in Bezug auf den Schmerz. Der Körper „läuft mit“, bleibt unbewusst, bis eine Störung oder ein Affekt ihn ins „Anwesend-sein“ bringen. Dann bekommt der Leib etwas zu tun, wie Merleau Ponty sagt. Auch Elisabeth List formuliert dies in ihrem Text zur Subjektivität. Sie macht deutlich, dass der sinnliche Leib in unserer Aufmerksamkeit nicht ständig wahrnehmbar und präsent ist und dennoch, wie auch Merleau-Ponty formuliert, eng mit der Existenz verschränkt ist.
„In unserem gewöhnlichen, durch die symbolische Ordnung regulierten Tätigsein ist der lebendige Körper abwesend, außerhalb des Lichtkegels unserer Aufmerksamkeit. Aber die elementaren Sinnschemata unserer leiblichen Existenzweise prägen unbemerkt dennoch die Sinnstrukturen auch des bewußten und sprachlich artikulierten Erfahrungsraums als projizierte Metaphern, nicht nur die Erfahrung des eigenen Körpers. Denn dass wir überhaupt etwas verstehen, wahrnehmen, erkennen können, verdanken wir unserer Körperlichkeit.“ 50
Aus den Aussagen von Merleau-Ponty und List ergibt sich, dass die leibliche Existenz die rational wahrnehmbare Umwelt übersteigen kann, um mit möglichen Welten zu rechnen. Diese möglichen Welten, durch das Subjekt der Wahrnehmung modifiziert, sind imstande, die unmittelbare Umwelt zu transzendieren. Der handelnde Mensch kann sich also zwischen wirklicher und möglicher Welt entscheiden und sich somit eine Situation zueignen und modifizieren. Das macht das Subjekt als leiblich Handelndes aus: Transzendenz. Danach streben auch die hier untersuchten Performer. Durch 47 Ebd., S. 358 48 Ebd., S. 199 49 Ebd., S. 291 50 List, Elisabeth: Grenzen der Verfügbarkeit. Die Technik, das Subjekt und das Lebendige, Wien: Passagen Verlag 2001, S. 75/76
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die Veränderung der Wahrnehmung wollen sie Einfluss auf ihre Umwelt (und auf sich selbst als wahrnehmendes Subjekt) nehmen. Charles Taylor schreibt in seinem Text „Leibliches Handeln“ über eine in dem oben genannten Zusammenhang wichtige grundsätzliche Vorgehensweise des Subjekts. Die erste Öffnung zur Welt ist Wahrnehmung, wie bereits oben beschrieben. Diese vollzieht sich aber sofort als die Wahrnehmung eines potentiell handelnden Subjekts, was bedeutet, dass alle Aspekte der Welt auf ihre Handlungsoptionen hin wahrgenommen werden:
„Vielmehr beziehen sich oben und unten darauf, wie man sich im Feld bewegt und wie man darin handelt. Denn die Dimension oben/unten hat Bedeutung für mich als einen leiblich Handelnden, der in einem Schwerefeld Tätigkeiten ausübt. Ich muß mich aufrecht halten, um zu handeln, oder wenigstens meine Stellung mit der Anziehungskraft in Balance bringen. Oder anders: das Feld ist nach oben und unten dimensioniert, weil es das Feld eines Handelnden dieser bestimmten Art ist, weil es sich als Feld möglicher Handlungen aufbaut.“ 51
Hier schließt sich der Kreis des Exkurses in die Phänomenologie der Wahrnehmung. Zusammenfassend ist noch einmal zu verdeutlichen, dass jede Wahrnehmung von einem leiblich handelnden Individuum unter verschiedenen Voraussetzungen geschieht. Wahrnehmung verlangt eine prinzipielle Offenheit zur Welt, die sich aus der leiblichen Existenz und psychischen Verfasstheit zusammensetzt. Die Handlungsoptionen eines Selbst werden in den Akt der Wahrnehmung mit einbezogen. Dies verändert wiederum bereits den Vorgang der Wahrnehmung selbst. Des Weiteren ist der Leib zwar immer als Existenz an der Wahrnehmung beteiligt, gerät aber im alltäglichen Tätigsein selten in den Vordergrund des Wahrnehmungsvorgangs. Die Möglichkeit zur Transzendenz lässt das Individuum eine potentielle Umwelt modifizieren und modellieren. Alle hier genannten Aspekte der Wahrnehmung beziehen sich nicht nur auf den Performer als Subjekt, sondern auch auf den Betrachter. Daraus ergibt sich, dass die Kunstform Performance sowohl auf Seiten der Beobachter, als auch auf Seiten der Künstler eine ausgefeilte prosodische Kompetenz 52 benötigt. Hierbei handelt es sich in meiner Definition um das „Wie“ etwas getan wird. Ich entlehne den Begriff der proso51 Taylor, Charles Leibliches Handeln, in: Metraux, Alexandre und Waldenfels, Bernhard: Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München: Wilhelm Fink Verlag 1986, S. 198 52 Vgl. Pöppel, a.a.O., S. 60
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dischen Kompetenz aus der Sprachwissenschaft. Hier bezeichnet die Prosodie der Sprache alles, was mit Intonation, Betonung und Sprachmelodie gemeint ist. Nach Pöppel verläuft über die Prosodie die maßgebliche Vermittlung von Gefühlen. Ich behaupte, dass über die Art und Weise wie Bilder in der Performance Art eingesetzt werden, eine erhebliche Vermittlung von Inhalten und Gefühlen geschieht. Nicht zuletzt der ephemere Charakter des Ereignisses schuldet ein anderes Sehen. Jonathan Crary weist darauf hin, dass bereits im 19. Jahrhundert durch die Farbenlehre Goethes Zeitlichkeit als unumgänglicher Faktor des Sehvorgangs erkannt wurde. In Goethes Beschreibungen wurde deutlich, dass Sehen auch an einen zeitlichen Aspekt geknüpft ist, der untrennbar mit dem Körper zusammenhängt. Sehen wird zu etwas Anderem als die Betrachtung eines einzelnen, fixen Bildobjekts:
„Das sich in der Zeit als veränderlich erfahrende Subjekt wird synonym mit dem Akt des Sehens und löst das cartesianische Ideal eines Betrachters ab, der vollständig und ausschließlich auf ein Objekt konzentriert ist.“ 53
Auch das nachfolgende Zitat von Friedrich Wilhelm Schelling verdeutlicht, dass Wahrnehmung, wie ich sie oben in Bezug auf Roth und Huber beschrieben habe, im Ansatz bereits weitaus früher als zeitlicher und subjektiver Prozess verstanden wurde:
„Wir leben nicht im Schauen; unser Wissen ist Stückwerk, d.h., es muß stückweise, nach Abtheilungen und Abstufungen erzeugt werden, welches nicht ohne alle Reflexion geschehen kann. [...] In der äußeren Welt sieht ein jeder mehr oder weniger das nämliche und kann es doch nicht aussprechen. Ein jedes Ding durchläuft, um zu seiner Vollendung zu gelangen, gewisse Momente: eine Reihe aufeinanderfolgende Prozesse, wo immer der spätere in den früheren eingreift, bringt es zu seiner Reife.“ 54
Im Prinzip argumentiert Schelling hier wie Huber. Die „Momente“, die ein „jedes Ding“ in seinem Verständnis durchlaufen muss, um zu „seiner Vollendung zu gelangen“, sind gleichzusetzen mit den „Operationen des Unterscheidens und Bezeichnens“ bei Huber. Crary zitiert in diesem Zusammenhang auch eine Definition Johann Friedrich Herbarts zum Thema Bewusstsein. Herbart sehe das Bewusstsein als „potentiell chaotisches 53 Crary, S. 104 54 Schelling, Friedrich Wilhelm, zitiert nach Crary, ebd., S. 104
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Eindringen äußerer Einflüsse. Die Vorstellungen von Dingen und Ereignissen in der Welt seien niemals Abbildungen der äußeren Realität, sondern das Ergebnis wechselseitiger Prozesse im Subjekt, in dem eine neue und ältere oder simultane Vorstellungen sich verbinden, sich gegenseitig abschwächen, unterdrücken oder miteinander verschmelzen. Der Geist spiegelt Wahrheit also nicht wider oder reflektiert sie, sondern extrahiert sie aus einem fortwährenden Prozeß des Aufeinanderstoßens und Verschmelzens von Vorstellungen.“ 55 Dies ließe also durchaus die Behauptung zu, dass unterschiedliche Betrachter eines Bildes (hier im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung eines prozesshaften Bewegungsbildes) niemals die gleichen Vorstellungen von diesem Bild haben können. Vielmehr spiegeln sich in der Bewertung und Wahrnehmung eines jeden Individuums seine persönlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten und Erfahrungen wider. Dieser Prozess ist wiederum eng mit dem Zeitbegriff verknüpft, was nun den Kreis zum Beginn dieses Kapitels schließt. Pöppel zeigt in diesem Zusammenhang anhand von Experimenten auf, dass unser Konzept von Gegenwart sich auf den Bereich von zwei bis drei Sekunden bezieht. Hier tritt ein „Qualitätssprung im Erleben“ 56 auf. In der Beschreibung verschiedener Versuchsanordnungen stellt er unter anderem fest, dass Menschen beim Sprechen natürliche Spracheinheiten von etwa zwei bis drei Sekunden bilden, unabhängig von Lebensalter oder Profession. 57 Bis zu diesem Indifferenzpunkt (also zwischen zwei und drei Sekunden) wird die Zeit als Präsenzzeit, also als subjektive Gegenwart verstanden. Reize, die länger als zwei bis drei Sekunden dauern, können als Ganzes nicht in unserem Bewusstsein gehalten werden, sie werden deshalb subjektiv verkürzt, um als Einheit wahrgenommen werden zu können. Nur die Möglichkeit der Wahrnehmung einer subjektiven Gegenwart führt zu dem, was wir Bewusstsein nennen.58 Dieser Gedanke lässt mich noch einmal zurückkommen auf die „Urimpression“ bei Levinas, die punkthafte Präsenz der Gegenwart, die sofort wieder von einer neuen erlebten Präsenz in die Vergangenheit gedrängt wird. Betrachten wir die Ereignisse in einer Performance unter diesem Gesichtspunkt, würden auch hier die subjektiv als Gegenwart wahrgenommenen Einheiten zwei bis drei Sekunden dauern. Da es sich bei der Performance um einen fortlaufenden Entwicklungsprozess handelt, der mit einer Vielzahl von Bedeutungsebenen 55 56 57 58
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Herbart, Johann Friedrich, zitiert nach Crary, ebd., S. 106 Vgl. Pöppel, a.a.O., S. 82 Ebd., S. 81ff Vgl. Pöppel, S. 82
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und ephemeren Bildstrukturen arbeitet, produziert das Bewusstsein ständig neue Einheiten der Präsenz.
„Halten wir also fest, daß in unserer Wahrnehmung, besser: in unserem wahrnehmenden Bewußtsein jeweils nur ein Inhalt sein kann und daß diesem Figur-Grund-Phänomen eine zeitliche Organisationsstruktur zugrundeliegt, die verursacht, daß eine Figur nur bis zu wenigen Sekunden als geschlossene Einheit erlebt wird, daß dieses Erlebnis aber auch viel kürzer sein kann, wobei es eine untere zeitliche Grenze zu geben scheint.“ 59
Diese Tatsache macht die Performance Art mit all ihren Brüchen und Kippmomenten zu einer besonders anspruchsvollen Aufgabe für unsere Wahrnehmung.
59 Pöppel, ebd., S. 165
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Zusammenfassung Im zurückliegenden Kapitel habe ich den Zeitbegriff in Bezug auf die Performance Art untersucht. Hier kann der Begriff der Erscheinung für die Präsenz einer Aktion in der Körperkunst entliehen werden. Performance schafft einen Erscheinungsraum, in welchem Handlungen als besondere Zeit-Inseln in die Wahrnehmung der Betrachter gelangen können. Als Gegenkonzept zur Einteilung von Zeit in Minuten - oder Sekundenkomplexe erläuterte ich das Konzept der richtigen Zeit, welches sich einer Messbarkeit entzieht und stärker mit der Notwendigkeit von Dauer zusammenhängt. Henri Bergsons Theorien zur Bedeutung von Dauer als Werden spielen hier ebenso eine Rolle wie der skulpturale Charakter von Endurance -Performances bei Marina Abramovic oder Alastair MacLennan. Grundsätzlich habe ich Zeit, beziehungsweise Dauer, als Moment der Transformation definiert. Im zweiten Abschnitt des Kapitels wurde ein Konzept der Wahrnehmung erläutert, welches eng an einen Zeitbegriff geknüpft ist. Mit Bezügen zur Wahrnehmungspsychologie und der Neurologie komme ich zu dem Schluss, dass sämtliche Wahrnehmungsprozesse von Bildern (sei es in der Performance Art oder anderswo) grundsätzlich im Zusammenhang mit einer individuellen Bedürfnislage und Erfahrung stehen. Der Begriff der prosodischen Kompetenz wurde von mir als Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit Performance Art aus der Sprachwissenschaft entlehnt. Abschließend habe ich den Bogen zurück zur Zeitlichkeit geschlagen, um deutlich zu machen, dass Präsenz und Gegenwart Konzepte sind, deren Dauer rein neurologisch äußerst gering zu sein scheint. In diesem Zusammenhang werden dann auch Konzepte des Erinnerns wichtig, mit denen ich mich im weiteren Verlauf der Arbeit beschäftigen möchte.
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Kapitel 5: Erinnerungsräume und Körperlichkeit 5.1 Was ist Erinnerung? Für das Rezipieren der Performances spielt Erinnerung eine wichtige Rolle, da außer unzureichenden Dokumentationen, die nie imstande sind, die gesamte sinnliche Ebene der Arbeiten einzufangen, nichts von der Aktionskunst zurückbleibt. Einzig die Spuren im Gedächtnis des Zuschauers sind von längerer Dauer. Um Erinnerung und Gedächtnis als Begriffe besser nutzen zu können, habe ich im folgenden Abschnitt versucht, diese für mein Vorhaben zu spezifizieren.
„Erinnerung bedarf immer eines Anstoßes; nach Heiner Müller geht Erinnerungsarbeit von Schocks aus.“ 1
Ich nehme diesen Gedanken Müllers als Ansatz, um über die Nachhaltigkeit von Gesehenem nachzudenken. Selbstverständlich bleiben grundsätzlich Bilder in unseren Köpfen, die uns beeindruckt haben: Bilder, die unsere Wahrnehmung „gestört“ haben, die eine Differenz zum Alltag darstellten. In Bezug auf den Schock ist der Weg zum Trauma (man denke hierbei an die offensichtliche Traumatisierung durch die Vielzahl der Bilder des 11.September 2001) nicht weit. Performancekünstler wollen selbstverständlich nicht traumatisieren. Sie wollen jedoch durchaus eine Differenz zum durch Massenmedien eingeübten „flüchtigen Eindruck“ setzen. Hierbei bedienen sich gerade die Künstler, die im Hauptteil dieser Arbeit untersucht werden, schockhafter Szenarien. Oftmals erscheinen gerade solche Bilder schockierend und aufwühlend, die mit dem kulturell erlernten Umgang mit dem Körper brechen. Dies tun in jedem Fall die Performer, die sich mit selbst zugefügtem Schmerz beschäftigen. Als grundsätzliche Definition für Kultur bietet sich für mich eine Beschreibung an, die Aleida Assmann in ihrem Buch „Erinnerungsräume“ mit Bezug auf die Kultursemiotiker Jurij Lotman und Boris Uspenskij wiedergibt. Hierbei wird Kultur als „nicht vererbbares Gedächtnis des Kollektivs“ 2 definiert. Das Gedächtnis setze sich nicht einfach fort, sondern werde immer wieder neu ausgehandelt, vermittelt und angeeignet: 1 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck 1999, S. 18 2 Ebd., S. 19
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„Individuen und Kulturen bauen ihr Gedächtnis interaktiv durch Kommunikation in Sprache, Bildern und rituellen Wiederholungen auf. Beide, Individuen und Kulturen, organisieren ihr Gedächtnis mit Hilfe externer Speichermedien und kultureller Praktiken.“ 3
Ich würde nun soweit gehen, die Performance als besonders geeignetes Medium zu bezeichnen, um menschliches Handeln und seine Beweggründe in Auseinandersetzung mit anderen kulturellen Praktiken erinnern und in ein kulturelles Gedächtnis überführen zu können. Es ist jedoch von zentraler Bedeutung, dass die Überführung einer Performance ins kulturelle Gedächtnis nicht mit einer Form der Ablagerung gleichgesetzt wird, sondern nur als durch den Körper des Performers und seine Aktionen existierende Handlung zu begreifen ist. Ein Beispiel: Der Performer Boris Nieslony beschäftigt sich in seiner Performance „Koan – daily life plot: Übersetzen 1“ mit Gesängen südamerikanischer Indianer. Dazu steht der Künstler in einem Performanceraum und handelt gestisch zu einem Band, auf welchem akustisches Tonmaterial zu hören ist, bei dem sich die Indianer „treffen, um energetische Zustände zu richten, zu stimmen“ 4. Nieslony bemüht sich, das Gehörte in den Klängen durch Gesten in seinem Körper zu übersetzen. Hierbei spielen für Nieslony anthropologische Phänomene eine Rolle:
„[...] Was ich eher glaube, ist, dass es eine individuelle Motorik gibt, die zwischen verschiedenen archaisch anthrophen(sic!) Mustern (Schichten der Kommunikation, Befindlichkeit, Gefühlen, Stimmungen etc.) oszilliert. Es ist ein Wissen, dass jedes Mal neu vergegenwärtigt werden muss. [...] Gestik der Bedeutung wird von Menschen in einem sozialen Kontext mimetisch erlernt. Sie repräsentieren. Weitere Gestik – ebenso mimetisch erlernt- aber in tieferen Schichten, betrifft menschliches Verhalten, eher animalisches Verhalten. Diese Gestik wird eher unbewusst, durch übersetzen, angeeignet. [...] Handeln ist ein schöpferisches Erweitern der eigenen Möglichkeiten. Das „Übersetzen“ ist für mich – theoretisch und praktisch – die Suche (richtiger – das Herausarbeiten) nach den Ursachen der Strukturen, die ethnographisch, anthropologisch und kulturell die Möglichkeiten des Menschen erweitern.“ 5
3 Ebd. 4 Boris Nieslony in einem Interview, das mir von dem Künstler zugesandt wurde. Undatiertes Manusskript. 5 Ebd.
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Nieslony sieht sich als Performer also zum einen in der Position des Trägers, in welchem bestimmte Grundmuster bereits angelegt sind. Diese erscheinen ihm als geeignetes körperliches Mittel, um ein „fremdes“ Ritual in seine eigene Gestik zu übersetzen und für ein Publikum zur Anschauung zu bringen. Nieslony betrachtet sich hierbei jedoch nicht als Wissender, sondern eher als Suchender. Seine gezeigte Arbeit geht wiederum in den Kreislauf einer kulturellen Praxis ein, da sie als gezeigtes Bild erneut in das Gedächtnis der Betrachter Einzug hält. In archaischen Gesellschaften oblag es den Schamanen oder Hohepriestern, für die Gesellschaft notwendige Rituale am Leben zu halten und diese mit der Gemeinschaft in nützliche Handlungen zu übersetzen. Welchen Übersetzungsmedien vertrauen wir
Abb. 10a: Boris Nieslony: "Koan, Daily Life Plot: Übersetzen 1", Transart- Communications, Nove Zamky 2002
heute unsere kulturellen Güter an? Sind Aufzeichnungsmedien wie Film, Computer oder auch nur das Buch imstande, mit derselben Vehemenz und Nähe kulturelle Errungenschaften und ethische Wertmaßstäbe zu transportieren, wie es eine gemeinschaftliche rituelle Handlung vermochte oder auch heute noch vermag? Der Begriff des Rituals bedeutete ursprünglich Gottesdienst, er wird jedoch seit der Jahrhundertwende auf symbolische Handlungen im Allgemeinen angewandt. Rituale sollen eine Gruppenidentität herstellen oder aufrechterhalten. Nach E. Durkheim gibt es, wann immer Menschen zusammenkommen, „eine natürliche Tendenz, ihre Handlungen aufeinander abzustimmen, zu koordinieren, zu standardisieren und zu wiederholen.“6 Das gemeinsame Handeln erzeuge ein Gefühl der Teilnahme an etwas Überindividuellem. Hier werden die Identitäten des Einzelnen zugunsten einer Gruppenidentität in etwas Höheres transzendiert. Durkheim nannte dies das „Heilige“ und die Symbole, die dieses Gefühl repräsentierten, wurden zu heiligen oder religiösen Symbolen. Sie wurden zu „kollektiven Repräsentationen.“7 6 Belliger, Andrea und Krieger, David (Hrsg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 15 7 Ebd.
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Diese Formen der kollektiven Repräsentationen lassen sich in Ritualen innerhalb moderner Gesellschaften ebenso finden wie in der Kunst und insbesondere in der Performance Art, wie ich noch zu zeigen versuchen werde. Ich möchte an dieser Stelle eine Ritualdefinition von Jan Platvoet ausführlich zitieren, deren Bezug zu der Ritualvorstellung, die mir eine Nähe zur Performance Art aufzuweisen scheint, sehr nah kommt:
„Ein Ritual ist eine Reihenfolge stilisierten sozialen Verhaltens, das von normaler Interaktion durch seine besondere Fähigkeiten unterschieden werden kann, die es ermöglichen, die Aufmerksamkeit seiner Zuschauer – seiner Gemeinde wie auch eines breiteren Publikums – auf sich zu ziehen, und welche die Zuschauer dazu bringt, das Ritual als ein besonderes Ereignis, das an einem besonderen Ort und/oder zu einer besonderen Zeit, zu einem besonderen Anlass und/oder mit einer besonderen Botschaft ausgeführt wird, wahrzunehmen. Dies wird dadurch erreicht, dass das Ritual geeignete, kulturell spezifische, übereinstimmende Konstellationen von Kernsymbolen benutzt. Das Ritual führt mehrere redundante Transformationen dieser Symbole durch. Dies geschieht mittels multimedialer Performance, die eine reibungslose Übertragung einer Vielzahl von Botschaften – einige offen, die meisten aber implizit – und von Reizen gewährleistet. Damit werden aber auch die strategischen Ziele – die meisten latent, manchmal aber auch offenkundig – jener erreicht, die das Ritual aufführen. Diese Ziele beziehen sich im Fall vereinheitlichter Gemeinden auf die Teilnehmer ad intra und im Fall pluralistischer Situationen auch auf Teilnehmer ad extra.“ 8
Diese Ritualdefinition hat eine eindeutige Nähe zum Ereignis in der Performance Art: Auch hier wird mit der Transformation von Symbolen in Handlungsbilder gearbeitet. Die Besonderheit einer spezifischen Zeitstruktur und die Errichtung oder Definition eines herausgehobenen Ortes spielen im Gemeinschaftserlebnis einer Performance zentrale Rollen. Auch kann man von strategischen Zielen in einer Performancearbeit sprechen. Nicht zuletzt die in dieser Arbeit angesprochenen extremen Körperaktionen wollen durch ihre Intensität oder Intentionen ein Publikum für sich gewinnen oder zur offenen Reflexion provozieren. 8 Platvoet, Jan: Das Ritual in pluralistischen Gesellschaften, in: Krieger/Belliger, a.a.O., S. 187
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Weshalb ich an dieser Stelle auf das Ritual eingegangen bin, hängt mit dem Kulturbegriff zusammen, der weiter oben mit dem Begriff des Gedächtnisses verknüpft wurde. An anderer Stelle in dieser Arbeit wird der Begriff des Rituals, insbesondere in Bezug auf sein Transformationspotential, noch einmal untersucht. Ich bezeichne die Performance als ausgezeichnetes Mittel, um ein kulturelles Gedächtnis aufzubauen, auszuweiten und zu hinterfragen. Neben der Schrift und der Sprache kann auch der Körper als Medium gelten. Die Performance ist die Körperkunst schlechthin, insbesondere der Aspekt der Kunstform, mit welchem ich mich in dieser Arbeit explizit befasse. Der Körper ist imstande, die Erinnerungsprozesse nicht nur psychisch, sondern auch somatisch zu verankern. Wir können in diesem Zusammenhang von einem Körperwissen sprechen. Dieses Körperwissen ist ebenso formbar wie neuronales Wissen. Neues kann erlernt werden, bereits Vorhandenes kann qualitativ neu bewertet werden. Performer befinden sich grundsätzlich in Auseinandersetzung mit ihrem Körper. Er ist Medium, Arbeitsmaterial und Grundlage für das herzustellende Bild. Durch Handeln werden Erinnerungen in den Körper überführt. Sie werden verkörpert, eingeschrieben oder gar eingebrannt. Später werde ich anhand der Arbeiten von Orlan, Kira O´Reilly, Franko B und anderen noch gezielter auf das „Markieren“ des Körpers mit Erinnerungen eingehen. Diese Vorgänge werden einem Publikum gezeigt, welches nun seinerseits die gesehenen Bilder, zunächst in ein emotional-kognitives Gedächtnis, speichert. Dabei handelt es sich eindeutig um die Form eines „bewohnten Gedächtnisses.“ 9 Dies meint, dass es sich um ein identitätssicherndes oder gar identitätsschaffendes Gedächtnis handelt, welches „lebendigen Trägern mit parteiischen Perspektiven“ 10 gehört. Diese Form des Gedächtnisses ist mit seinem Träger verbunden, verfährt selektiv, indem es subjektiv erinnert und vergisst. Nur daraus können Werte vermittelt werden, aus denen „ein Identitätsprofil und Handlungsnormen“ 11 abgeleitet werden können. Dem bewohnten Gedächtniskonzept steht das unbewohnte Gedächtnis gegenüber, welches „losgelöst von einem spezifischen Träger“ 12 zu existieren imstande ist, wie beispielsweise in der Geschichtswissenschaft. Hier werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft radikal voneinander getrennt, alle Elemente sind von gleichem Interesse und es gibt somit keine subjektiven Auswahlkriterien für das Bewah9 Assmann, a.a.O, S. 133 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd.
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ren der Erinnerung. Vielmehr geht es um eine objektive Ermittlung von Wahrheit, die jedoch nicht an Werten und Normen interessiert ist. Assmann beschreibt damit den grundsätzlichen Unterschied zwischen Erinnern und Speichern. Im Fall des Erinnerns bekommt auch Zeitdimension eine Bedeutung: Die Zeit greife aktiv in den Gedächtnisprozess ein und es komme zu einer Verschiebung zwischen „Einlagerung und Rückholung.“ 13 Man erinnert sich oder eben nicht. Bei der Speicherung gibt es jedoch eine exakte Übereinstimmung zwischen Input und Output. Assmann setzt also die Verkörperung von Erinnerung der Entkörperung von einem historischen Geschichtsgedächtnis gegenüber. 14 Mit einem Zitat von Friedrich Georg Jünger wird in meiner Auffassung ein zentraler Aspekt für die Rezeption von Performance in diesem Zusammenhang verdeutlicht:
„Die Inhalte des Gedächtnisses kann ich mir beibringen, wie sie mir beigebracht werden können. Erinnerungen aber kann ich mir weder beibringen, noch können sie mir beigebracht werden.“ 15
Wenn ich die Performance unter diesem Gesichtspunkt betrachte, ergibt sich für mich, dass ich zwar die Inhalte einer Performance „beigebracht“ bekommen kann. Es ist möglich, eine Arbeit in einer Form zu beschreiben, dass mir ein Eindruck des Stattgefundenen vermittelt wird. Die Erinnerung an eine Performance, das sinnliche Erlebnis und die Rezeption in der Zeit, in welcher die Performance vor meinen Augen stattgefunden hat, ist jedoch eine verkörperte Erfahrung und lässt sich eindeutig nur rein subjektiv erfahren. Performance lässt sich nicht speichern. Sie widersetzt sich dieser Form der Einlagerung, bei welcher der „Input und der Output“ gleichzusetzen sind. Vielmehr ist die Differenz zwischen Einlagerung und Rückholung nach der Rezeption einer Performance der entscheidende Aspekt, der diese Kunstform von anderen Bildkonzepten unterscheidet. Welche Rolle spielt nun der Körper in diesem Zusammenhang?
13 Assmann, S. 29 14 Ebd. 15 Jünger, Friedrich Georg, zitiert nach Assmann, a.a.O., S. 29
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5.2. Körper und Präsenz „Der Künstler stellt am eigenen Körper und mit dem eigenen Körper Bilder her, um sich durch diese „Realpräsenz“ gegen die Krise der analogen und mimetischen Bilder zu behaupten. Zugleich lehnt er sich mit der eigenen Körperlichkeit (und Körpererfahrung) gegen das Monopol der medialen Realität auf, welche die Körperwelt so stark usurpiert. Endlich aber, in einer dritten Hinsicht, sucht der Künstler damit das Problem der Verkörperung zu lösen, welche immer das Problem der Bilder gewesen ist. Statt im gewohnten Werk weist er im eigenen Körper auf sich selbst, um den Betrachter zur Aufmerksamkeit zu zwingen. Damit aber nimmt er zugleich das Verwandlungsrepertoire in Anspruch, welches die Verkörperung charakterisiert. Metamorphose, Bildwerdung und Verkörperung sind komplementäre Akte.“ 16
Über den Körper und seine Erscheinungsbilder zu schreiben, erscheint angesichts der Vielzahl von Herangehensweisen und Richtungen aus denen auf den Körper geschaut werden kann, als umfassendes Problem: Zwischen Verschwinden und Zerstückelung, Wiederkehr und Repräsentation ergibt sich in den unterschiedlichsten Disziplinen ein verwirrendes Bild. Hinausgehend über die physiologische Beschaffenheit, den organischen Aufbau und seine sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten, hat der Körper als Symbol, als Träger von gesellschaftlichen Regeln und Normen und als „Schlachtfeld [...] für einen unkörperlichen Willen zur Macht“ 17 herzuhalten. Eine vollständige Behandlung all dieser Bereiche kann und soll die vorliegende Arbeit nicht leisten. Deshalb werde ich mich im folgenden nur mit den Phänomenen im Zusammenhang mit dem Körper beschäftigen, die für die Performance Art, und hier insbesondere in Bezug auf die Schmerzperformance, wesentlich von Bedeutung sind. Es hat ein immer größer werdender Distanzierungs- und Abstraktionsprozess zwischen dem Menschen und seinem Körper stattgefunden, der auch durch aktuelle Fitness-, Mode- und Körperschmuckphänomene (Tätowierungen /Piercing etc.) nicht wirklich durchbrochen wird. In der aktuellen Aufwertung des Gesundheitsmotivs, das sich besonders in einer geradezu inflationären Zunahme von Themenzeitschriften wie „Fit for Fun“, „Men’s Health“ etc. 18 niederschlägt, schwingt eine ständige Suche nach 16 Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe einer Bildwissenschaft, München: Fink 2001, S. 90 17 Kamper, Dietmar und Wulf, Christoph: Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1982, S. 13 18 Vgl. Jakobs, Hans-Jürgen: Apfelpo statt Orangenhaut, in: Der Spiegel, 14/1999, S. 111
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dem leistungsfähigen, perfekten, besten Körper mit. Hier taucht ein Leistungsprinzip auf, das den durchtrainierten, schönen Körper als Futteral, als maschinenartigen Träger des inneren Selbst versteht. In der Performance Art kommt dem Körper eine andere Bedeutung zu. Er erhält durch den geplanten Einsatz des Künstlers eine Funktion, die über sein bloßes Erscheinungsbild hinausgeht. Es wird in der Kunstform ständig auf die Doppelfunktion des Körpers zwischen „Leib-Sein“ und „Körper-Haben“ hingewiesen. Plessner beschreibt unter diesen Bezeichnungen das exzentrische Verhältnis des Menschen zu seinem Körper: „Der Mensch ist immer zugleich Leib... und hat diesen Leib als seinen Körper.“ 19
Aus diesem Aspekt ergibt sich, dass der doppeldeutige Charakter unseres Körpers uns ermöglicht, unseren Körper als Mittel zu sehen und ihn als unwichtig (oder unwahrnehmbar) abzutun. Doch die Außensicht wird dadurch gebrochen, daß wir gleichzeitig dieser Leib sind und seinen unbewussten und autonomen Leistungen und Affekten unterworfen sind. Für die Künstler, die sich in der Performance Art explizit mit dem Körper auseinander setzen, ergibt sich hieraus eine spannende Aufgabe. Gerhard Johann Lischka hierzu:
„Als Motor dient dabei die Spannung zwischen dem Körper, dem Geist und der Seele, sie führt zu Vorstellungen, die in die Tat umgesetzt werden und zu Taten, die Vorstellungen speisen.“ 20
Hier wird der Körper in seiner Funktion als Schnittstelle zwischen Individuum und Welt verstanden. Wie ich im Verlauf der Arbeit weiterhin zeigen werde, dient der Körper als Träger und Produzent eines Bildes hier auf vielfältige Weise als Dialogfeld. Neben der individuellen Selbstdarstellung der Künstler durch verschiedene Experimente innerhalb des persönlichen Modells von „Selbstfindung und Fremddefinition, die live stattfindet“ 21, beschäftigen sich die Künstler mit gesellschaftlichen Disziplinierungsmaßnahmen, die sich auf den Körper und seine psycho-soziale Verfassung auswirken (wie z.B. Valie Export oder Gina Pane) oder mit den Folgen einer politischen Einflussnahme auf den Menschen als Mitglied einer Gesellschaft (wie z.B. Yoyo Yogasmana oder Zhu 19 Plessner, Helmuth: Philosophische Anthropologie, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1970, S. 5 20 Lischka, Gerhard Johann: Schnittstellen, Bern: Benteli Verlag 1997, S. 77 21 Lischka, ebd, S. 77
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Yu). Entgegen der extrem dualistischen Trennung zwischen Leib und Seele, die besonders mit dem Namen Descartes verbunden ist, möchte ich den Körper (hier besonders die Haut als Ort der Begegnung) mit Rückbezug auf das folgende Zitat von Michel Serres als Ort der „Vermischung“ zwischen Selbst und Welt verstehen:
„Die Haut ist eine kontingente Mannigfaltigkeit; in ihr, durch sie und mit ihr berühren die Welt und mein Körper einander, das Empfindende und das Empfundene; sie definiert deren gemeinsame Grenze. Kontingenz meint nichts anderes als gemeinsame Berührung: Welt und Körper schneiden, streicheln einander darin [...] ich vermische mich mit der Welt, wie sie sich mit mir vermischt.“ 22
In dieser Erklärung der Funktion der Haut steckt eine nutzbare Definition für das Verständnis der Performance Art: Gerade in den Schnittstellen und Brüchen steckt das Interesse der Performer. Die Künstler vermischen ihre Körper mit der Objektwelt beziehungsweise objektivieren ihren Körper bewusst, um die Grenze, die von der Haut repräsentiert wird, zu dehnen oder gar zu sprengen. Sie nutzen ihren Körper, der diesen Bruch bereits in sich vereint, um die notwendigen Fragen auf der Ebene der Leiblichkeit zu stellen. Insbesondere sind hier Künstler wie Orlan zu erwähnen, die in der Manipulation ihres Körpers bis hin zur totalen chirurgischen Veränderung ihres Äußeren geht. Auch Kira O´Reilly, die in ihren Cutting- Performances immer wieder die von Serres so treffend beschriebene Berührung mit der Welt durch Schnitte in ihre eigene Haut vornimmt, stellt Fragen in ihren Performances, die sich mit diesen Problemstellungen beschäftigen. Bevor diese Schritte allerdings vorgenommen werden können, muss der Leib als Phänomen der Wahrnehmung und wahrgenommenes Phänomen noch einmal deutlich untersucht werden. Es gibt nach Maurice Merleau-Ponty eine intersubjektive Übereinstimmung im Leibgefühl von Individuen. Dies ist für die Fragestellungen dieser Arbeit von Bedeutung. Als Prototyp gilt Merleau-Ponty dafür die Weise wie sich zwei Hände berühren:
„Meine rechte Hand wohnte dem Eintreten der aktiven Berührung bei meiner linken 22 Serres, Michel: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1993, S. 103
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Hand bei. In derselben Weise geschieht es, daß der Leib des anderen Menschen sich von mir belebt, wenn ich jemandem die Hand drücke oder sie einfach betrachte.“ 23
In der Berührung mit dem Anderen erkennt der Mensch seine eigene Leiblichkeit und die Übereinstimmung mit anderen Leibern. Bernhard Waldenfels benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff des „getasteten Tastenden.“ 24 Die getastete Hand ist zugleich die tastende und umgekehrt. Der Richtungswechsel zwischen Tastendem und Getastetem geschieht dauernd hin und her. Das Gegenüber und ich „sind wie die Elemente einer einzigen, beiden gemeinsamen Leiblichkeit.“ 25 Die geteilte Möglichkeit der sinnlichen Empfindung des Gegenübers macht also die Wahrnehmung des Anderen erst möglich und führt damit auch zu der für diese Untersuchung wichtigen Intersubjektivität.
„Ich empfange mich vom Anderen, ich fertige ihn mit meinen eigenen Gedanken: Das ist kein Scheitern der Wahrnehmung des Anderen, sondern eben das ist die Wahrnehmung des Anderen.“26
Exakt dieses Fertigen des Anderen kraft meiner Gedanken und meiner sinnlichen Wahrnehmung ist eine wichtige Grundlage für das leibliche Handeln in der Performance Art und für die Empathie der Betrachter.
„[...] Das Körperschema ist ein Scharnier zwischen dem, wie ich „für mich“, und dem, wie ich „für Andere“ bin. „Ich für mich“ und „ich für andere“ sind nicht extreme Formen, die eine Antithese bilden [...], sondern die Leiblichkeit, das Für-mich-sein, impliziert ein Für-die-anderen sein, denn ein seiendes Wesen ist zugleich ein Wesen, das gesehen wird. Der Blick der Anderen kommt nicht irgendwann zufällig hinzu, sondern Leiblich-sein heißt Sichtbar-sein, Sehen heißt Sichtbar-sein, Tasten heißt Tastbarsein, auch Verletzbarsein. Dieser Bezug zum Anderen ist immer mit da, selbst wenn er in der einzelnen Situation nicht eigens hervortritt.“ 27
Dieser Aspekt ist den Vertretern der Performance Art nicht nur bewusst, sondern dies macht die Performance zu einer Form der Kunst, die den Gedanken des „Scharniers“ untersucht, um damit Aussagen kultureller, politischer oder sozialer Natur treffen zu 23 Merleau-Ponty, Maurice, zitiert nach Levinas, Emmanuel: Über die Intersubjektivität, in: Metraux, Alexandre und Waldenfels, Bernhard (Hrsg.): Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 1986, S. 51 24 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2000, S. 36 25 Merleau-Ponty, a.a.O., S. 51/52 26 Ebd., S. 52 27 Waldenfels, a.a.O., S. 122
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können. Die Gemeinschaft in dem Empfindungsvermögen bietet die Grundlage für die Intensität in der Wahrnehmung einer Performance, insbesondere bei der Wahrnehmung einer Schmerzperformance. Es ist der wahrnehmenden Person möglich, den Rückschluss auf das eigene Empfinden durch Intropathie 28 vorzunehmen. Durch Rekonstruktion des Gesehenen sind wir imstande, die Intensität der Wahrnehmung leiblich zu empfinden. Neurologisch ist dieser Aspekt in Bezug auf die Spiegelzellentheorie von Christian Keysers interessant. Der oben zitierte Satz „Ich empfange mich vom Anderen“ ist in meinen Augen ein zentraler Satz für die Wirkung des Bildes von Schmerzperformances. Durch die Beobachtung der Handlungen findet das Gleichsetzen meiner eigenen Leiblichkeit mit der Leiblichkeit des Agierenden statt. Ich nehme also den Anderen nicht einfach nur wahr (sei es visuell oder auditiv), sondern ich erfühle das Gegenüber. Zu dieser Evidenz des Anderen formuliert Merleau-Ponty:
„Meinen Leib erfahre ich als Vermögen gewisser Verhaltensweisen und einer gewissen Welt, ich bin mir selbst nicht anders gegeben denn als ein gewisser Anhalt an der Welt; und eben mein Leib ist es, der den Leib des Anderen wahrnimmt, und er findet in ihm so etwas wie eine wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen, eine vertraute Weise des Umgangs mit der Welt; und wie die Teile meines Leibes ein zusammenhängendes System bilden, bilden somit auch der fremde Leib und der meinige ein einziges Ganzes, zwei Seiten eines einzigen Phänomens, und die anonyme Existenz, deren Spur mein Leib in jedem Augenblick ist, bewohnt nunmehr die beiden Leiber in eins.“ 29
Diese Erfahrung des Anderen kann sich in Form einer Ansteckung auf das Gegenüber auswirken. Der Begriff der Ansteckung ist von Bedeutung für die Wahrnehmung einer schmerzhaften Performancearbeit. Er erinnert an die körperliche Wirkung eines Einflusses von außen, dem wir nicht intellektuell gegenübertreten können. Vielmehr werden wir in der Phase der Ansteckung von einem Phänomen überwältigt oder zumindest berührt. Mirjam Schaub und Nicola Suthor grenzen in der Einleitung zu ihrem Sammelband „Ansteckung“ 30 den Topos der Rezeption als „individuelle Form der Aneignung und Verarbeitung“ 31 theoretischen oder künstlerischen Materials von der 28 Intropathie meint hier Einfühlung; ähnlich dem Begriff der Empathie aus der Psychologie. Intropathie soll „unterstreichen, daß unsere Fremderfahrung letztlich nicht auf Wahrnehmung beruht, sondern auf einem originären Mitpathos.", aus: Institut für Existenzanalyse und Lebensphänomenologie (Hrsg.): Kleines phänomenologisches Lexikon, 2.Auflage, Berlin 2003, S. 5 29 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: Walter de Gruyter Studienbuch 1974, (Photomechanischer Nachdruck), S. 405 30 Schaub, Mirjam/Suthor, Nicola/Fischer-Lichte, Erika (Hrsg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München: Wilhelm Fink Verlag 2005 31 Ebd., S. 9
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direkten Faszination der Ansteckung ab. Scheinen die Rezipienten noch weitestgehend die Kontrolle über die Weiterverarbeitung des Gegenstandes in ihrer Wahrnehmung zu haben, ist der angesteckte Betrachter unmittelbar, plötzlich und in besonderer Weise emotional, ja geradezu körperlich betroffen. Ich verwende Ansteckung im Zusammenhang mit den Arbeiten in dieser Untersuchung, weil mir viele Eigenschaften eine deutliche Verbindung zu den Phänomenen in der Performance Art und insbesondere der Schmerzperformance zu zeigen scheinen. Zunächst besteht eine Parallele in der ambivalenten Doppeldeutigkeit des Begriffs. Eine Ansteckung kann zu einer Krankheit führen. Ein Virus breitet sich aus, schwächt den Körper und gefährdet das Individuum. Zum anderen sind jedoch auch positiv besetzte emotionale Zustände wie Begeisterung und Freude mit dem Phänomen zu beschreiben. Interessant ist hier der Zeitbezug, den Schaub und Suthor auch in ihrem Text verdeutlichen: Im medizinischen Bereich spricht man von Virulenz. Dies bezeichnet die flüchtige Phase der Wirksamkeit, in der ein Virus das Potential zur Ansteckung in sich trägt. 32 In meiner Auffassung liefern bereits diese beiden Eigenschaften einen Bezug zur Performance. Wie bereits an anderer Stelle erläutert, vermag das Bild in der Performance auf eine andere Art und Weise zu berühren, ja zu „infizieren“ als ein zweidimensionales Bild. Durch die Mehrdimensionalität der sinnlichen Eindrücke und die Unmittelbarkeit des Ereignisses werden die Betrachter nicht zuallererst in intellektueller Weise gefordert, sondern in weitaus stärkerem Maße „hineingezogen“ in das Geschehen. Sie erfahren das Bild als live entstehenden Prozess, dessen Körperlichkeit eine empathische Wirkung auf den Betrachter haben kann. Hier sehe ich eine deutliche Nähe zum Phänomen der Ansteckung. Das Widerfahrnis einer körperlichen Aktion ähnelt dem einer virulenten Faszination. Die Flüchtigkeit, mit welcher eine Ansteckun zu voller Wirksamkeit gelangen kann, ähnelt wiederum dem ephemeren Charakter in der Körperaktion. Auch hier ist die Wirksamkeit an die Elemente Raum, Zeit und Körper gebunden und kann erst zu ihrer vollen Entfaltung gelangen, wenn die Betrachter präsent sind. Die Deckungsgleichheit in den Beschreibungen der Phänomene lässt den Schluss zu, dass Performance Art auf die Wahrnehmung der Betrachter eine anstekkende Wirkung haben kann. Hier greift auch die Formulierung Hegels, der in der Vergiftung ein Synonym für die 32 Ebd., S. 10
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Weiterentwicklung des Lebendigen sah. Seiner Meinung nach sei Vergiftung, also die verwandelnde Berührung durch das Andere, das Fremde, der unmittelbaren Verwandlung des Geistes durch die Anschauung gleichzusetzen. 33 Hegel unterstreicht damit die positive Konnotation der Ansteckung und macht deutlich, dass eine Kontamination durchaus von Nutzen für den Organismus sein kann. Kant geht in seinen Überlegungen noch weiter. Er versteht unter Affizierung alles, was das Bewusstsein anregt und behauptet, dass dieses mitunter auch die Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber stimuliert. 34 Ich teile diese Auffassung, da zum Beispiel Alastair MacLennan in einem mit ihm geführten Interview deutlich darauf verweist, dass der Umgang mit schmerzvollen oder todesnahen Bildern der als drohend empfundenen Kontingenz und Todesgewissheit den Stachel raubt. Die Auseinandersetzung und körperliche Nähe dieser Bilder in den Performances kommen einer „Erschütterung des Seelenlebens“ 35 gleich und vermögen geradezu körperlich zu bedrängen. Sowohl die bereits genannten Philosophen Hegel und Kant als auch die Autoren des Sammelbandes sehen in dieser Auslösung von körperlichen Reaktionen bei den Betrachtern eine Möglichkeit der Bildung und der Selbstwahrnehmung. Erika Fischer-Lichte bezieht Ansteckung in ihrem Beitrag im Sammelband „Ansteckung“ noch differenzierter auf das Zuschauen. Mit einem Verweis auf das Konzept der Katharsis untersucht sie die Wechselwirkung zwischen Schauspieler und Betrachter. Der schauende Blick des Zuschauers auf das Geschehen im Theater führe zu „leidenschaftlicher Erregung“ 36 und anschließend zu einer Transformation, die die geschaute Leidenschaft der Agierenden auf der Bühne in den Zuschauerraum zu übertragen vermag. Katharsis beinhaltet nun einen Reinigungsprozess, welcher durch die Auslebung der geschauten Leidenschaften durch das Betrachten vollzogen wird. Die Abreaktion unerfüllter Leidenschaft im Betrachter kann allein im Schauen erfolgen. Wichtigstes Element, welches diese Abreaktion ermöglicht, ist die körperliche Ko-Präsenz der Betrachter und der Agierenden. Was allerdings Fischer-Lichtes Konzept deutlich von meinen Argumenten die Performance Art betreffend, unterscheidet, ist die Konzentration auf den semiotischen Leib des Schauspielers. Dieser Leib, der dem phänomenalen Leib gegenübersteht, steht einzig der Darstellung einer Figur im Stück zur Verfügung. Der phänomenale, also tatsächliche Leib des Darstellers sollte in diesem Rollenbild 33 34 35 36
Hegel, Friedrich Wilhelm, zitiert nach Schaub/Suthor, ebd., S. 13 Kant, Immanuel, zitiert nach Schaub/Suthor, ebd., S. 15 Schaub,/Suthor, ebd., S. 14 Fischer-Lichte, Erika: Zuschauen als Ansteckung. Katharsis oder Ansteckung, in: Schaub/Suthor, ebd., S. 37
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aufgehen, ja geradezu verschwinden. 37 Alles, was in der Performance Art von Bedeutung ist, soll in dem Konzept der zwei Leiber im Theater eben nicht in den Vordergrund treten: die Verletzlichkeit des Leibes, das Alter, die körperlichen Gebrechen oder die erotische Anziehungskraft. Einzig die Figur soll imstande sein, den Betrachter in die Zustände der Leidenschaft zu versetzen. In der Performance Art steht wiederum ausschließlich der phänomenale Leib im Vordergrund. Es wird keine Rolle gespielt und es gibt keinerlei Verbergung somatischer Besonderheiten. Vielmehr stützt sich ein Großteil der Kraft der Performance Art auf die Tatsache, dass der betrachtete Körper über dieselben phänomenalen Eigenschaften verfügt wie der Körper des Betrachters.
5.3. Schwellenerfahrung und Katharsis Interessant ist in diesem Zusammenhang das Theaterkonzept von Antonin Artaud. Er sah im Theater eine Parallele zur Pest. Der Betrachter begibt sich in einen krisenhaften Schwellenzustand, aus dem er entweder als geheilt oder als „tot“ hervorgeht. 38 Artaud ist mit dieser Konzeption nicht ohne Grund einer der Bezugspunkte für Performance Art. Seine Kritik bezog sich auf die herrschenden kulturellen, sozialen, politischen und technologischen Auffassungen seiner Zeit. Insbesondere der Verlust des „totalen Menschen“ 39, der dem „Logozentrismus, Rationalismus und Individualismus“ 40 gewichen ist, will Artaud mit seinem „Theater der Grausamkeit“ intensive „Trancezustände“ 41 und Grenzüberschreitungen entgegensetzen. Kritisch gelesen, erscheinen die Rufe nach Raserei und dem Wunsch nach Leiden im Sinne Artauds eventuell etwas radikal und pathetisch. Dennoch möchte ich deutlich machen, dass sich auch die hier untersuchte Kunstform mit ihrem Angebot an intensiven Darstellungen von Schwellenerfahrungen seitens der Performer für diese Überwindung der rationalen Grenzen eignet. Hermann Nitsch argumentiert in seinen Schriften zum „Orgien Mysterien Theater“ in Bezug auf die Katharsis ganz ähnlich.
„[...] vieles an tiefe und intensität unseres empfindungsspektrums wird von der zivilisation verhindert, verboten und dadurch verdrängt. ein rückhaltloses ausempfinden 37 Vgl. Fischer-Lichte, ebd., S. 38ff 38 Artaud, nach Fischer-Lichte, ebd., S. 43 39 Ebd., S. 44 40 Ebd., S. 43 41 Ebd.
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befreit uns von verdrängungen, kann verdrängtes nach aussen reissen und bewusst machen. dies wird noch verstärkt durch eine analytisch angelegte dramaturgie, die in die tiefe lotet und tiefliegende, mythen bedingende verdrängungen aufdeckt. ursachen von kollektivträumen und kollektivneurosen der menschheit enthüllen sich und befreien uns von deren zwängen. [...]“ 42
Nitsch geht in seiner Argumentation teilweise soweit, dass er die Institutionalisierung seines „Orgien Mysterien Theaters“ mitsamt seinen Abreaktionsspielen als Prophylaxe gegen den Krieg betrachtet. 43 Nach Oswald Wiener, einem Mitglied der Wiener Gruppe, die man als einen literarisch orientierten Vorläufer der Aktionisten ansehen könnte, handelte es sich bei den Arbeiten von Nitsch und den übrigen Mitgliedern des Aktionismus um eine „Politik der Erfahrung“ 44. Es ging in ihren Arbeiten darum, Sinn zu erschaffen. Dieser warte jedoch nicht auf Entdeckung, sondern werde erzeugt. Bei der Erschaffung von Sinn bekommt besonders die sinnstiftende Geste eine herausgehobene Funktion. Sie bildet die Grundlage für Kommunikation und Bedeutung. Was Nitsch von der Arbeitsweise seiner Vorbilder unterschied, war einer-
Abb. 11: Hermann Nitsch: „4. Aktion", 1963
seits die Öffentlichmachung des Prozesses, andererseits die inhaltliche Ausrichtung der Malereien und Aktionen. Hier traten kulturelle Phänomene wie die Riten der katholischen Kirche, der Dionysos-Kult oder die psychoanalytischen Theorien von Sigmund Freud und die Tiefenpsychologie von C. G. Jung in den Vordergrund. Seine provozierenden Tierzerreißungen und Blutbeschüttungen verbanden klassische Mythen und synästhetische Schockwirkungen mit einem Symbolgehalt, der die konservative österreichische Gesellschaft spaltete. Bei seiner ersten Aktion, die den Schritt von der Malerei zum Ereignis ging, ließ sich Nitsch 42 Nitsch, Hermann: Bluttext zur Malaktion beim Sechstagespiel des Orgien Mysterien Theaters von Hermann Nitsch, vorgetragen am 4. August 1998 am Schüttboden von Schloss Prinzendorf , Quelle: www.nitsch.org, 21.09.2005 (Schreibweise im Original belassen) 43 So äußerte sich Herman Nitsch ganz aktuell im Zusammenhang mit einer Arbeit am Burgtheater. Quelle: http://oe1.orf.at/inforadio/55936.html?filter=5 44 Wiener, Oswald, in: Schimmel, Paul: Out of actions, a.a.O., S. 170
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im weißen Hemd an ein Kreuz binden und von Otto Mühl mit Blut überschütten. Die Identifikation des Malers mit der Christusfigur und die provokative Verwendung der Materialien, die sonst nur noch symbolisch in der Liturgie der Kirche auftauchen, unterstrichen einen Opfergestus, der bei Nitsch immer wieder auftaucht. Es handelt sich um ein Element, welches sich in vielen anderen Schmerzperformances finden lässt, zum Beispiel bei Gina Pane, wie ich im weiteren Verlauf der Arbeit zeigen werde. In seiner 4. Aktion (1963) kreuzigte er ein geschlachtetes Lamm und wühlte im Leib des blutenden Tieres. Die Bezüge zum Dionysos-Mythos, in welchem die Zerreißung von Tieren durch seine Anhänger der ekstatischen Rückkehr zur Natur entspricht, sind unübersehbar. In Dionysos sieht Nitsch den Rausch-Gott, der als Wegweiser für eine Rückbesinnung auf die sinnlichen Qualitäten des Menschen gelten mag:
„[...] mit den antiken dionysoskulten war bereits ein ereignis gegeben, das demonstrativ die menschliche psychologische organisation aufforderte, ekstatisch zu leben, um in die metaphysische tiefe unserer eigenen entfaltungsmöglichkeiten einzudringen. [...] plötzlich Abb. 12: Herman Nitsch: „6-Tage-Spiel des Orgien-Mysterien-Theater“, Schloss Prinzendorf, 1998
aufsteigende energien, vitalitätsansprüche verändern den
menschen, begeistern, berauschen ihn, bestimmen ihn, seine bisherigen lebensmöglichkeiten zu erwetern, die grenzen des normalen bewusstseins, der normalen registrationsmöglichkeit werden hier besonders ekstatisch, extrem erweitert. auch durch die hilfe von wein und drogen.“ 45
In seinen Inszenierungen wird ein Gesamtkunstwerk angestrebt, welches die Zuschauer und Teilnehmer mit allen Sinnen fordern soll:
45 Nitsch, Hermann: Das Orgien Mysterien Theater, Salzburg und Wien: Residenz Verlag 1990, S. 48/49
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„neben der visuellen empfindung war das registrieren der gerüche und der temperaturen der flüssigkeiten wesentlich. zusätzlich mussten sich die zuschauer gegenseitig objekte weitergeben. rohes fleisch wurde in mit lauem wasser gefüllten holztrögen durch die zuschauer getragen. diese sollten das feuchte fleisch befühlen, betasten, damit im lauwarmen wasser herumplanschen. [...] auch die zuschauer sollen sich an der zerreissung und zerstückelung des tieres beteiligen. [...] der ausdruckswille will zur wirklichkeit, zum konkret sich ereignenden, dynamisch exzessiven geschehen. der abreaktionsdrang versucht sich endlich aus seiner verdrängung zu befreien und zu seinem totalen sich – ereignen zu gelangen.“ 46
Die drastische Motivwahl beziehungsweise Materialverwendung ergibt sich für Nitsch aus der Notwendigkeit des schockartigen Durchbruchs zu den verschütteten Trieben. Diese wurden, durch die Gesellschaftsnormen auf den Körper und die Seele schädigende Art und Weise, in kontrollierte Bereiche abgedrängt. Nitsch ist der Meinung, unsere Gesellschaft benötige, genau wie ehemals als primitiv bezeichnete Stammesgesellschaften,eine gemeinschaftliche und individuell erlebbare Möglichkeit zur Katharsis. Dieser Begriff meint ein körperlich und psychisch reinigendes Sichbefreien von seelischen Konflikten durch Abreaktion, wobei sich aufgestaute Schmerz-, Angst-, Zorn- oder Trauergefühle lösen sollen. Mit seinem Orgien Mysterien Theater will Nitsch Mythos und Ritual wieder die Qualität zurückgeben, „zwischen sozialer Organisation und den biologischen Rhythmen der menschlichen Existenz zu vermitteln.“ 47 Mit diesem kurzen Exkurs in die Denk- und Arbeitsweise von Hermann Nitsch schließt sich der Kreis meiner Argumentation in Bezug auf den Begriff der Ansteckung. Durch die Teilnahme an den Spielen und Festen in seinem „Orgien Mysterien Theater“ will Nitsch die Gesellschaft leiblich „infizieren“, um letztendlich eine Befreiung erreichen zu können. Wie ich im Verlauf der Arbeit zeigen werde, wird diese Herangehensweise an die sinnliche Kraft der Performance Art auch von anderen Künstlern geteilt.
46 Nitsch, ebd., S. 26/27 47 Scheff, Thomas J.: Explosion der Gefühle. Über die kulturelle und therapeutische Bedeutung kathartischen Erlebens, Weinheim und Basel: Beltz Verlag 1983, S. 107
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Zusammenfassung Auf den letzten Seiten habe ich den Begriff der Erinnerung in seiner Bedeutung für die Wahrnehmung einer Performance untersucht. Ich habe die Kunstform in diesem Zusammenhang als besonders geeignetes Medium definiert, welches allerdings nur leiblich existent sein kann und damit zu einem ephemeren Phänomen wird. In einem kurzen Exkurs über ein Übersetzungskonzept von anthropologischen Grundmustern in der Arbeit des Performers Boris Nieslony erläuterte ich den Repräsentationsbegriff in Bezug auf rituelle Handlungen. Ich kam zu dem Schluss, dass Performance Art, ebenso wie das Ritual, imstande ist, strategische Ziele zu verfolgen. Performance kann als Mittel angesehen werden, ein kulturelles Gedächtnis aufzubauen, auszuweiten und zu hinterfragen. Hierbei spielt der Leib eine eminent wichtige Rolle. Nur die lebendigen Träger in der Performance können das Wissen in einer Art Verkörperung überliefern. Im folgenden Abschnitt des Kapitels habe ich deshalb den Körper und seine Erscheinungsbilder betrachtet. Plessners Modell des „Leib-Seins“ und „Körper-Habens“ führten mich zu den Konzepten Maurice Merleau-Pontys, der die Intersubjektivität als menschliches Phänomen von der Möglichkeit zur exzentrischen Positionalität ableitete. Das Zur-Welt-Sein steht in engem Zusammenhang mit dem Anderen, dessen Leib ich als Teil meiner eigenen leiblichen Realität zu erkennen imstande bin. Anschließend betrachtete ich dann den Begriff der Ansteckung, der in engem Zusammenhang mit der Empathie für das Gegenüber steht. Ansteckung wählt den Weg nicht über den Intellekt, sondern wirkt geradezu körperlich. Als vertiefendes Beispiel für ein Konzept der Ansteckung innerhalb der performativen Kunst habe ich abschließend die Konzepte des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch untersucht, der mit seinen ganzheitlichen, extrem sinnlichen Performances Betrachter und Teilnehmer durch kathartische Erlebnisse von gesellschaftlichen und psychosozialen Hemmungen befreien will.
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Kapitel 6: Performative Ästhetik, Performanz und das Ritual 6.1. Performative Ästhetik und Performanz „Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the circulation of representations of representations: once it does so, it becomes something other than performance. To the degree that performance attempts to enter the economy of reproduction, it betrays and lessens the promise of its own ontology.“ 1
Das hier vorangestellte Zitat von Peggy Phelan macht einen wesentlichen Aspekt der performativen Ästhetik auf eindrückliche Weise deutlich: Die Bilder innerhalb der Performance Art sind ephemer. Das übergeordnete Wesensmerkmal ist ihre Vergänglichkeit. Jede Speicherung oder Dokumentation zerstört sozusagen den natürlichen Aggregatszustand einer Performance und macht sie zu etwas anderem. Hieraus ergibt sich selbstverständlich ein Problem in der Rezeption und Analyse. Nur Werke, die bei der Aufführung live gesehen werden konnten, entsprechen somit dem Untersuchungsgegenstand in vollem Umfang. Jegliche Form der Dokumentation bietet der Analyse nur eine Repräsentation. Mit dem Wissen um diese Tatsache muss auch die vorliegende Arbeit wahrgenommen werden. Es gibt keine Möglichkeit, diesem, von Phelan so treffend beschriebenen, Dilemma zu entkommen. Im folgenden Kapitel werde ich die Grundelemente einer performativen Ästhetik beschreiben und ihre Besonderheit in Bezug auf den Kernaspekt dieser Untersuchung, die Bilder in der Performance Art, herausstellen. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts sehen Kunstkritik, Philosophie und Soziologie eine performative Wende (performative turn) in allen künstlerischen Bereichen (Literatur, Theater, Kunst und Musik). Der Werkcharakter verschwindet hinter dem Bedürfnis, eine Aufführung als Ereignis zu inszenieren. In diesem Verständnis der performativen Aufführung spielen auch die Zuschauer eine entscheidende Rolle als mit prägende Elemente des Ereignisses. Der Zuschauer verlässt seine passive Position als stiller Rezipient und wird als handelnder Akteur (im weitesten Sinne) von den Künstlern in ihrer Inszenierung eingeplant. 1 Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, London/New York: Routledge 1993, S. 146
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Was bedeutet dieses neue Verständnis des Zuschauers und seiner Bedeutung für das Gelingen oder Durchführen einer Performance? Welche besondere Form der Ästhetik spielt eine Rolle, sobald die Zuschauer Teilnehmer geworden sind? Mit diesen Fragen werde ich mich, nach einer Begriffsdefinition des Terminus „performativ“, im weiteren Verlauf dieses Kapitels beschäftigen. Der Begriff der Performanz wurde von John L. Austin erstmals 1961 in seinem Aufsatz „Performative Äußerungen“2 verwendet, um in der Sprechakttheorie spezifische Sprachverwendungen zu bezeichnen, deren Bedeutung erst durch ihren Gebrauch vollzogen wird. Austin ging davon aus, dass durch das Äußern bestimmter Worte konventionelle Prozeduren vollzogen werden. Beispielsweise führt die Vollzugsformel eines Standesbeamten: „Hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau“ zu einer tatsächlichen Handlung, die einen veränderten Zustand in der sozialen Welt der beteiligten Protagonisten nach sich zieht. 3 Im Zentrum steht also das praktische Vollziehen von Handlungen durch Worte. 4 Austin unterschied in einer weiterführenden Analyse lokutionäre Akte (etwas sagen), illokutionäre Akte (etwas tun, indem man etwas sagt) und perlokutionäre Akte (etwas dadurch tun, dass man etwas sagt). Der perlokutionäre Akt umfasst also jene Sprechhandlungen, welche Wirkungen auf Gefühle, Gedanken oder Handlungen der Hörer, des Sprechers oder anderer Personen haben und in der Absicht ausgeführt werden, diese Wirkungen hervorzubringen.5 Die Performance Art wäre meiner Meinung nach somit eindeutig bei den perlokutionären Akten einzuordnen.
„Suchen wir das Performative im Fadenkreuz dieser begrifflichen Nachbarschaften zu begreifen, so scheint es bei ihm also um praktisches Vollziehen, körperliches Äußern bzw. Aufführen, präzisierendes Selbstdeuten und kommunikatives Wirken zu gehen." 6
Die aufgezählten Elemente in dem oben aufgeführten Zitat von Michael Göhlich sind wesentlich für die Performance Art. Hier überschneiden sich die semiotischen und die ästhetischen Merkmale des Performativen. Im weiteren Verlauf des Textes bezeichnet Göhrlich ein Charakteristikum des Performativen als a-rational: Die Betonung des Vollziehens. Denn dem Performativen sei „eigen [...], dass ihm kein Planen, keine Zweckset-
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2 Der Originaltext erschien 1961 in einem Sammelband unter dem Titel: Philosophical Papers, in der Oxford University Press. Auf deutsch: Schulte, Joachim (Hrsg.): John L. Austin: Gesammelte philosophische Aufsätze, Stuttgart: Reclam 1986 3 Vgl. Wirth, Uwe (Hrsg.): Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2002, S. 10 4 Interessant ist in diesem Zusammenhang der bekannteste Text Austins mit dem Titel: How to do things with words London/Oxford (1975), der den Vollzug einer Handlung durch Worte bereits im Titel trägt. 5 Vgl. Wirth, a.a.O, S. 13 6 Michael Göhlich: Performative Äußerungen, in: Wulf, Christoph/ Göhlich, Michael/ Zirfas, Jörg (Hrsg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim und München: Juventa Verlag 2001, S.28
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zung, keine rationale Intention zugehören. Relevant ist hier nicht, was beabsichtigt ist, sondern was geschieht und wie es geschieht.“ 7 Wie ich im Verlauf dieser Arbeit zeigen werde, geht die Performance Art jedoch über das A-Rationale hinaus, indem durchaus kommunikatives Wirken mit einer Intention verbunden wird. Doch zunächst zurück zu grundsätzlichen Merkmalen des Performativen. Dieter Mersch führt in diesem Zusammenhang den eminent wichtigen Begriff der „Setzung“ ein.8 Er schreibt vom „Sichsetzen einer Handlung jenseits und unabhängig von Intentionalität und deren Erfüllung.“ 9 Damit wird der Handlung zuvorderst ein Ereignischarakter beigemessen, ohne bereits eine maßgebliche Deutungsvorgabe durch eine bestimmte Absicht oder ein bestimmtes Motiv vorauszusetzen. Damit wird der Blick auf das „Wie“ und noch nicht in erster Instanz auf das „Was“ gerichtet. Jemand bewegt sich also in oder durch performative Äußerungen. Er verhält sich und agiert mit dem Körper auf kommunikative Weise. Als Beispiel seien hier das Händeschütteln oder die rügende Bewegung mit dem Zeigefinger genannt. Diese performativen Äußerungen können, nach Austin, entweder gelingen oder nicht gelingen. Bewertungskonzepte wie wahr oder falsch greifen nicht in Bezug auf diese Äußerungen. 10 In Bezug auf das Bild in der Performance Art ist in diesem Zusammenhang wichtig, ob es gelingt oder nicht: Kommt es zu einer schlüssigen, stimmigen Setzung? Funktioniert oder gelingt das Bild als ästhetisches Projekt? Diese Fragestellungen suchen noch nicht nach einer möglichen inhaltlichen Deutung und einer intellektuellen Interpretation des Bildes. Gerade in Bezug auf körperliches Handeln kann die interpersonelle Kommunikation auch immer anders gedeutet werden, als sie ursprünglich intendiert war. In Anwesenheit Anderer ist verbales und nonverbales Verhalten nie ein linearer Akt, sondern immer „Teil zirkulärer Kommunikation.“ 11 Grundsätzlich ist bei der Interpretation einer performativen Handlung immer der kommunikative Aspekt mit dem anwesenden Publikum mitzudenken. In der Systemtheorie Niklas Luhmanns 12 beispielsweise spielt der Begriff der Kontingenz eine tragende Rolle. Hiermit ist die prinzipielle Offenheit menschlicher Lebenserfahrungen gemeint. Eine wahrgenommene Situation oder ein Bild wird von unterschiedlichen Individuen aufgrund ihrer persönlichen Unterscheidungen oder Konstruktionen von Wirklichkeit wahrgenommen 7 Göhrlich, ebd., S. 31 8 Mersch, Dieter: Life-Acts. Die Kunst des Performativen und die Performativität der Künste, in: Lischka, G.J. und Weibel, Peter: Act! Handlungsformen in Kunst und Politik, Bern: Benteli Verlag 2004, S.52 9 Ebd, S.52 10 Vgl. Göhlich, a.a.O., S.32ff 11 Ebd., S.36 12 Vgl. Göhlich, S. 33ff
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und könnte deshalb auch immer anders sein. Diese Erschwerung von Kommunikation zwischen sozialen Individuen spielt gerade in der Performance Art mit ihren Leerstellen eine wichtige Rolle und birgt nicht zuletzt das Risiko der Missinterpretation. Doch gerade diese Aspekte, um noch einmal mit Dieter Mersch zu argumentieren, sind die Herausforderung in der Rezeption von Performance Art. Mersch sieht in der performativen Kunst nicht mehr die „Form abgeschlossener und deutbarer Gestalten“, nicht mehr den „Sinn“ und „das Symbolische“, sondern vielmehr den Prozess und die Schaffung von „Ereignisräumen, die begangen und erkundet“ werden müssen. Dadurch ist es möglich, diese Kunst zu „erleben“, aufzunehmen und zu „beantworten“. 13 Ich habe an anderer Stelle in dieser Arbeit bereits über den Aspekt gesprochen, dass ein Weg, „durch die Bilder hindurch“ gelingen müsse, um tatsächlich ihrer habhaft werden zu können und ihr Kommunikationspotential aufzunehmen. Mersch setzt bei einem ähnlichen Punkt an und eignet sich deshalb hervorragend, um meine Argumentation zu unterstützen. Der Aspekt des „Beantwortens“ bezieht sich für mich eindeutig auf die spezielle Rolle, die das Publikum in einer Performance innehat. Es stellt sich gerade in Selbstverletzungsperformances die Frage, wie der Zuschauer sich in der neuartigen performativen Situation verhalten soll. Bisher geltende Normen und Verhaltensoptionen verlieren hier vollständig ihre Gültigkeit. Erika Fischer-Lichte stellt in ihrem Buch "Ästhetik des Performativen“ das Verhalten eines Zuschauers im Theater dem Verhalten einer Person im Alltagsleben gegenüber und kommt zum logischen Schluss, dass scheinbar gleiche Handlungen (der "Mord“ an Desdemona auf der Bühne oder die Gewalttat in der Öffentlichkeit) völlig gegensätzliche Reaktionen beim Betrachter auslösen. 14 Auf der einen Seite wird die theatralische Handlung als solche erkannt und trotz ihres Gewaltpotentials nicht als Handlungsimpuls rezipiert. In der Performance Art führt die Betrachtung von tatsächlicher Verletzung allerdings zu anderen Zuschauerreaktionen. Anhand einer Performance, in welcher sich die Künstlerin Marina Abramovic verschiedenen Selbstgeißelungen 15 aussetzte, kommt FischerLichte zu dem Schluss, dass Aktionen dieser Art den Zuschauer „zwischen die Normen und Regeln von Kunst und Alltagsleben, zwischen ästhetische und ethische Postulate“ 16 versetzen. In einer Alltagssituation würde der ethische Grundsatz der Einmischung, das heißt, der Unterbindung von Gewaltausübung gegen sich oder andere gelten. In 13 Mersch, a.a.O., S. 48 14 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen., Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2004, S. 10–11 15 Abramovic trank in ihrer Performance "Lips of Thomas" (24.10.1975, Galerie Krinzinger, Innsbruck) 1 Liter Rotwein, aß 1 Kilo Honig, geißelte ihren nackten Körper mit einer Peitsche, schlitzte sich mit einer Rasierklinge einen fünfzackigen Stern auf den Bauch und legte sich am Schluß auf einen Eisblock, der unter einer Wärmelampe positioniert war.(Beschreibung nach Fischer-Lichte, ebd., S. 9 16 Ebd., S. 11
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einer Aufführungssituation beispielsweise im Theater gilt jedoch, dass die Gewalt nicht echt ist, sondern eine gespielte Gewalt dargestellt wird. Die Konsequenzen der Bühnenhandlung reichen nicht bis in den Alltag hinein. Fischer-Lichte behauptet nun, dass die Anwesenheit in einer Performance wie der von Marina Abramovic zu einer Transformation der Zuschauer führt, welche echte Konsequenzen für die Aufführung und für die Zuschauer nach sich ziehen. Die Betrachter werden von ihrem Dasein als Rezipienten in ein handelndes Element des gesamten Ereignisses verwandelt. Im Falle der Abramovic Performance griff das Publikum ein, nachdem sich die Künstlerin für längere Zeit auf den Eisblock gelegt hatte und ihre Bauchwunde stark zu bluten begann. Bereits im Verlauf der Aktion hatten Zuschauer durch verschiedene Körperreaktionen (Anhalten des Atems, Aufstöhnen etc.) ihre innere Beteiligung deutlich gemacht. Es schien den Anwesenden nicht möglich, eine Distanz zum Geschehen aufzubauen. Vielmehr nahm die Invol-
Abb. 13: Marina Abramovic: "Lips of Thomas", Innsbruck 1975
viertheit ein Maß an, welches zum eigenen Handeln führte: Das Publikum verhielt sich nicht mehr wie passive Zuschauer, sondern wie aktive Teilnehmer und trug die Künstlerin vom Eisblock fort. Damit setzten sie der Performance ein Ende.17 Performative Ästhetik macht also etwas anderes aus dem Zuschauer. Performative Ästhetik vermag demnach Transformationen bei dem Künstler und dem Publikum hervorzurufen. Dieter Mersch spricht in diesem Zusammenhang von einem „Übertritt der Kunst in den sozialen und öffentlichen Raum.“ 18 Er sieht in der Performance einen „Interventionismus oder eine >Ethik der Praxismein Bauch gehört mir< identifiziert nämlich wiederum die Frau das Ich als Körper, genau das, was die männliche Definition der Frau ohnehin will. Wenn Frauen gegen die Auflösung des Körpers sind, wie sie in der extrakorporalen Befruchtung eingeleitet wird, dann bestätigen sie also die männliche Identifizierung der Frau als Körper. Die Frau muss sich daher vom Körper und den Bildern der Frau lösen.“ 24
Den Zusammenhang zwischen Materialität,
Abb. 38 und 39: Valie Export: „Eros/ion", Amsterdam 1971
Sprache und deren Bedeutung erforschte Export 1971 mit der Performance „Eros/ion“. Mit ihrem nackten Körper rollte sich die Künstlerin zuerst über eine auf dem Boden liegende Glasscheibe. Anschließend wiederholte sie den Vorgang und rollte mit ihrem Körper über Glasscherben, die der Menge der Scheibe entsprachen.
„gleiches material evoziert gleiche bedeutung. zustandsänderungen des materials ändern auch die bedeutung des materials. glas als scheibe bedeutet: transparenz. glas als scherben bedeutet: läsion. dieser minimalen varianz entspringt der kunstcharakter, der erkenntnischarakter ist. eine semantische analyse durch eine körperdemonstration.“ 25
In dieser Performance benutzte Export ihren Körper als Zeichen. Sie setzte ihn ein, um eine Codierung von semantischer Bedeutung offen zu legen und riskierte damit gleichzeitig die Verletzung des Kontextes, in welchem weibliche Körper vom männlichen Betrachter gesehen werden wollen. Die Gefahr der Verletzung des ungeschütz24 Export, Valie: Das Reale und sein Double: Der Körper, Bern: Benteli Verlag 1987, S. 35 25 Katalog: Split: Reality VALIE EXPORT, Wien: Katalog des Museums moderner Kunst Stiftung Ludwig 1997, S. 77. (Kleinschreibung wurde von der Autorin gewählt.)
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ten weiblichen Körpers löste beim anwesenden Publikum ablehnende Reaktionen aus. Solange Export über die intakte Scheibe rollte, geschah nichts. Erst als sie den Körper mit der verletzenden Eigenschaft des veränderten Materials in Kontakt brachte, wollten die Zuschauer die Performance beenden. Für Valie Export ging damit die doppelte Analysefunktion ihrer Aktion auf: Auf der einen Seite untersuchte sie die semantische Bedeutung von Kontextveränderungen, andererseits traf ihre Analyse des männlichen Blicks genau den erwarteten Nerv. Die Erwartung der Männer, einen nackten weiblichen Körper zu sehen, wurde von Valie Export diesbezüglich gebrochen. Die Suggestion einer Verletzung des begehrten Körpers fiel nicht in das Schema des männlichen Blicks. Auf diese Weise setzte Valie Export, unter Zuhilfenahme präziser künstlerischer Ausdrucksmittel, ihren nackten weiblichen Körper in selbst bestimmter Weise ein. Ihre gesamte Körperarbeit fußt auf der Methode, den nackten oder bekleideten weiblichen Körper aus seinen Repräsentations- bzw. Objektfunktionen herauszulösen. Dass Export dazu gerade den nackten weiblichen Körper nutzt, der in den industriellen Verwertungen genau dem Objekt des männlichen Blickes entspricht, vergrößert die Irritation. Bemerkenswert ist der kompromisslose Einsatz des eigenen Leibes, mit dem Export die kulturell verankerten Bedingungen sichtbar macht. In einigen Aktionen, wie z.B. in „Hyperbulie“ (1973), ging sie soweit, dem eigenen Körper Schmerzen zuzufügen, um seine Einschreibungen zu verdeutlichen.
„Ein Korridor aus Drähten, durch die elektrischer Strom fließt. Der Mensch tritt hinein und bewegt sich durch den Korridor hindurch, wobei er ständig in schmerzhafte Berührungen mit dem elektrischen Draht kommt und so langsam zu Boden sinkt.“ 26
Hyperbulie bezeichnet den krankhaften Betätigungsdrang bei verschiedenen psychischen Erkrankungen. Am Ende der Aktion, die mit bescheidenen Materialien fähig war, den gesellschaftlichen Druck auf den (weiblichen) Körper zu verbildlichen, sank Valie Export, von den elektrischen Schlägen ermüdet, gegen den Draht und presste ihr Gesicht noch einmal gegen das Strom führende Metall. Exports Bilder setzen sich auf eine beispielhafte Weise mit Weiblichkeit und einem geschlechtsspezifischen Druck auseinander. Sie dient vielen Performerinnen, die heute innerhalb der „gender“-Proble26 Beschreibung aus: Split: Reality VALIE EXPORT, ebd., S. 105
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matik arbeiten, als Vorbild. Ich habe hier nur wenige Arbeiten und die Grundprinzipien ihrer Gedankenwelt vorgestellt, da Valie Export nicht mehr aktiv performativ arbeitet und ihr Werk an anderer Stelle innerhalb der kunstwissenschaftlichen Literatur ausreichend gewürdigt wird.
9.3. Körperwissen und Grenzgänge – Chris Burden Der amerikanische Künstler Chris Burden, den ich an anderer Stelle bereits erwähnt habe, hat sich mit seinen riskanten Aktionen mehrmals an den Rand seiner persönlichen Existenz gebracht und wurde deshalb als Stuntmen der Performance Art bezeichnet. Was Burden von vielen anderen Performern unterscheidet, ist die Verweigerung einer eindeutigen Interpretation seiner Arbeiten. Burden schien es vielmehr um den physiologischen Effekt in seinem Körper zu gehen, der ihn nach den Aktionen befähigte, eine neuartige Information in seinem Körper abzulegen. In einigen seiner Performances tauchen Bezüge zu Ritualtheorien auf, die ich an anderer Stelle bereits eingehend vorgestellt habe. Das Phänomen der Selbstopferung in einer Schwellenphase findet sich in vielen Performances wieder, die mit so genannten Durchhaltesituationen oder körperlichen Risikosituationen arbeiten. Als Beispiel möchte ich hier „Five Day Locker Piece“ von Burden anführen. Vom 26.–30. April 1971 ließ sich Burden in einen 2x2x3 Fuß großen, regulären Universitätsspind einschließen. Mit keinerlei Hilfsmitteln außer 5 Gallonen Wasser im Spind über ihm und einem leeren 5 Gallonenkanister im Spind unter ihm, verbrachte er dort die vorher festgelegten fünf Tage. Vorbereitet hatte sich Burden durch längere Fastenzeit. Zwar erscheint es etwas gewagt, diese Arbeit direkt mit Initiationsritualen von Stammesgesellschaften zu vergleichen, doch neben der formalen Ähnlichkeit war diese Aktion auch Burdens Abschlussarbeit an der Kunsthochschule. Mit dem gesellschaftlichen Statuswechsel ging also in diesem Fall tatsächlich eine selbst gewählte schwellenartige Initiationssituation von fünf beschwerlichen Tagen einher. In späteren Abschnitten dieser Arbeit werde ich zeigen, dass Burden hier eine der ersten beispielhaften Arbeiten im Bereich der „endurance“ gezeigt hat, die von Künst-
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lern wie Alastair MacLennan oder Dan McKereghan mit anderen Mitteln und anderer Ästhetik weitergeführt wird. Bei „Deadman“ (1972 in Los Angeles) lässt sich Burden, eingerollt in eine Plane, in der Dunkelheit auf einer stark befahrenen Straße ablegen. Zwei Alarmleuchten, die ihn 15 Minuten lang mit ihrem Licht sicherten, waren neben ihn gestellt worden. Burden wurde dann sich selbst überlassen. Kurz bevor die Lampen erloschen wären, wurde Burden von einer Polizeistreife festgenommen. In „Through the night softly“ (1973, Venice) kriecht Burden, nur mit einer Badehose bekleidet, durch 15 Fuß Glassplitter. In einer seiner radikalsten Performances mit dem Titel „Trans-Fixed“ (1974, Venice) lässt er sich in Position eines Gekreuzigten auf das Dach seines VW-Käfers nageln. Zwei Abb. 40: Chris Burden: "Trans-fixed", Venice 1974
Minuten lang wurde der Motor des Wagens stellvertretend für Burden zum Schreien
gebracht, während er in der Auffahrt vor Burdens Garage stand. Anschließend verschwand der gekreuzigte Künstler mitsamt Fahrzeug wieder in dem Gebäude. Nur zufällige Passanten sahen die Aktion. Die vielleicht gefährlichste Aktion war „Doorway to heaven“ (1973, Venice). Hierbei stand Chris Burden im Eingang zu seinem Atelier und stieß sich zwei elektrische Drähte in die Brust. Durch die Berührung gab es einen Kurzschluss. Burden wurde verbrannt, der Kurzschluss rettete ihm jedoch das Leben. Der Performer macht keinen Hehl daraus, dass es bei seinen Performances um eine individuelle Erfahrung geht. An anderer Stelle habe ich bereits Burdens Aussage zitiert, dass er sich als den „Hauptempfänger“ seiner Arbeiten versteht. Der Zuwachs an Körperwissen und die Verschiebung von Leistungsgrenzen sind einer seiner Hauptmotivationsansätze für seine Aktionen. Burdens Aktionen entziehen sich einer Interpretation von außen natürlich gerade durch die Ablehnung des Künstlers, sie in einen Bedeutungszusammenhang zu
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stellen. Doch darin liegt auch ihre Wirkungskraft. Sie geben Auskunft über die physischen und psychischen Belastungen, denen ein Mensch sich auszusetzen in der Lage ist. Die konsequente Minimalistik und die nicht-narrative Gestaltung seiner Aktionen, reduzieren diese auf einfache, strenge Handlungsabläufe, die sich in wenigen Fotografien und Beschreibungen nachvollziehen lassen. Dieses empathische Nachvollziehen hat oft Ablehnung und Furcht zur Folge. Denn Burden zeigt mit seinen Aktionen – wie auch viele andere Performer – Bilder von Bereichen und Situationen, denen ein Mensch nicht unbedingt begegnen will. Er entwickelt mit seinen existenziellen Performances ein Zeichensystem, das sich der Unausweichlichkeit des Todes nicht auf wissenschaftliche, ordnende und damit auch ein Stück weit leugnende Art und Weise nähert, sondern konfrontiert uns mit radikal riskanten, todesnahen Erfahrungen. Nach Dietmar Kamper versuchen rational wissenschaftliche Herangehensweisen an diese Bereiche des Lebens, den Schrecken der Kon-
Abb. 41: Chris Burden: "Doorway to heaven" Venice 1973
tingenz durch Rationalität zu bannen:
„Der wissenschaftliche Begriffsapparat z.B. der Theologie, der philosophischen Anthropologie, der Medizin, der Pädagogik usf. dient der Verhüllung der Probleme, die Tod und Sexualität aufwerfen, zur Abwehr auch der eigenen Angst der Wissenschaftler vor dem Schrecken der Natur.“ 27
Performance Art, und besonders so radikale Phänomene wie die Arbeiten von Burden, stellen sich dieser Angst und produzieren (aus oben zitiertem Grund teilweise schwer erträgliche) Bilder, die aus einem geordneten Zeichensystem ausbrechen und deshalb 27 Kamper, Dietmar, in: Vom Menschen, a.a.O., S. 1006
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verstören müssen und sollen. Die Frage des „Was ist wenn...?“ wollte Burden in den vier Jahren seiner Performancetätigkeit für sich persönlich nicht unbeantwortet lassen. In seinen Experimenten lotete er damit nicht nur die Möglichkeiten des Körpers aus, sondern begibt sich auch in Bereiche des Geistes und der eigenen Angst. Dort liegen die Barrieren und die Grenzen, die dieser Performer überwindet. Damit gibt Burden mit seinen Arbeiten die Frage an die Rezipienten weiter, ohne bei der Antwort hilfreich zu sein:
„Art doesn't have a purpose. It's a free spot in society, where you can do anything. I don't think my pieces provide answers, they just ask questions, and they don't have an end in themselves. But they certainly raise questions.“ 28
Diese Haltung ist auch bei anderen zeitgenössischen Performern zu finden, die in den siebziger und achtziger Jahren mit extremen Körperaktionen bekannt werden. Eine der wenigen Personen, die aus diesem Kreis auch heute noch als Performerin in Erscheinung tritt, ist Marina Abramovic.
9.4. Cleaning the house – Marina Abramovic und Ulay Marina Abramovic hat in ihren Soloperformances (1973–1975) auf ähnliche Weise wie Burden mit Extremsituationen gearbeitet. Sie benutzte dabei ihren Körper als Material, um Transformationen von Bewusstseinszuständen zu provozieren. In „Rhythm 2“ (1974, Zagreb) nimmt die Künstlerin nacheinander verschiedene Medikamente ein, die Patienten gegen akute Katatonie und Schizophrenie verabreicht werden:
„Ich gebrauche meinen Körper für ein Experiment [...] und versetze meinen Körper in einen unvorhersehbaren Zustand. [...] Dem Publikum gegenüberstehend nehme ich das erste Medikament ein. Dieses Medikament wird Patienten, die unter Katatonie leiden verabreicht, um die Körperhaltung zu verändern. Kurz nach Einnahme des Medikaments beginnen meine Muskeln unkontrolliert zu zucken. [...] Dem Publikum gegenüberstehend nehme ich das zweite Medikament ein. Dieses Medikament wird Patienten mit einer gewalttätigen Schizophrenie gegeben, um sie zu beruhigen. Kurz 28 Burden, Chris: Through the night softly, in: Battcock, Gregory/Nickas, Robert: The Art of Performance. A critical anthology, New York: E. P. Dutton 1984, S. 223
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nach der Einnahme des Medikamentes wird mir kalt, ich werde ohnmächtig und weiß nicht mehr, wer und wo ich bin.“ 29
Die interpretatorische Ebene der Kritik an medizinischer Manipulation von psychisch Kranken oder ähnliche inhaltliche Ausrichtungen dieser Performance kommen in den Äußerungen von Abramovic nicht vor. Vielmehr steht diese Aktion in einer Reihe von Experimenten, anhand derer die Künstlerin herauszufinden versuchte, wozu sich ein Körper im bewussten wie unbewussten Zustand benutzen lässt. Es ging Abramovic dabei jedoch nicht um einen wissenschaftlichen Ansatz, sondern um rein individuelle Erfahrungen, die durch das ästhetische Werkzeug Performance zur Vermittlung gebracht werden sollten. Im weitesten Sinne könnte man hier einen anthropologischen oder ethnologischen Ansatz in ihrer Arbeit vermuten. Abramovic betrachtete ihren Körper dabei radikal als Material. Sie ging dabei jedoch nicht den Weg des Neokartesianismus, der den Körper verdinglicht, den Geist jedoch von ihm ablöst und privilegiert. Vielmehr zeigen gerade die Performances aus der „Freeing“-Reihe (alle 1975) 30, dass sie die Elemente Erinnerung, Sprache (repräsentativ für den Geist) und Körper als voneinander unablösbar betrachtet. In diesen rituellen Durchhaltesituationen bricht die Künstlerin die vorhandenen Grenzen der Verfassung von Körper und Geist auf, um durch exzessive Reinigung einen qualitativ neuen Zustand auf der jeweiligen Ebene zu erreichen. Eine logozentrische Orientierung und Überbewertung des Verstandes tritt in diesen Experimenten nicht zutage. Im Gegenteil: Im Sinne des Anthropologen Marcel Mauss, der den „Körper als erstes und natürlichstes Instrument des Menschen“ 31 bezeichnete, versuchte sie in ihren Arbeiten durch Schaffung von Grenzsituationen in einen Zustand des Im-eigenen-Körper-Seins zu gelangen, wie er nur durch Schmerz, Erschöpfung oder, in seltenen Fällen, durch erlernte Meditationstechniken erreichbar ist. In der Performance „Lips of Thomas“ (1975, Innsbruck) setzt sie ihren Körper einer extremen Belastung aus: Sie isst ein Kilo Honig, trinkt einen Liter Rotwein, zerbricht das Weinglas mit der bloßen Hand und ritzt sich mit einer Rasierklinge einen fünfzackigen Stern in den Bauch ein. Anschließend peitscht sich die Künstlerin, „bis ich keinen Schmerz mehr empfinde“ 32, legt sich auf ein Kreuz aus Eisblöcken und wird von einem darüber hängenden Heizstrahler erwärmt, so dass die Wunde auf ihrem Bauch stark zu bluten beginnt. Die Performance 29 Abramovic, Marina, in: Meschede, Friedrich (Hrsg.): Marina Abramovic, Stuttgart: Edition Cantz 1993, S. 56 30 „Freeing the Voice": Marina Abramovic schreit, bis ihre Stimme versagt. "Freeing the memory": Sie spricht alle Worte aus, die ihr in den Sinn kommen, bis ihr keine Worte mehr einfallen. „Freeing the body": Abramovic tanzt bis zur Erschöpfung zu den Trommeln eines Musikers. 31 Mauss, Marcel: Die Techniken des Körpers, in: Soziologie und Anthropologie, München: Hanser 1974, S. 218 32 Abramovic, Marina in: Meschede, a.a.O., S. 86
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wird nach zwei Stunden vom Publikum abgebrochen. Neben den eindeutigen Verweisen auf ihre Herkunft aus dem sozialistischen Jugoslawien und einer durchgängigen Märtyrersymbolik in dieser Performance ist die Reaktion des Publikums interessant. Die Schmerzgrenze der Performerin scheint keine Limitation zu haben, doch die Anwesenden setzen aus der eigenen Befindlichkeit einen Schlusspunkt. Für Abramovic ist der Energiedialog mit dem Publikum ein wichtiges Element, welches sie in eine Art Flow-Zustand zu versetzen scheint, bei dem ihre physischen Grenzen beliebig erweiterbar scheinen. Flow beschreibt ein Gefühl, welches z.B. in Ritualen, aber auch im Sport vorkommen kann. Fluss (Flow) bezeichnet die ganzheitliche Sinneswahrnehmung, die wir haben, wenn wir mit totalem Engagement handeln. Im Flow empfindet der Betroffene das Verschmelzen von Handeln und Bewusstsein, sodass keine kognitiven Grenzen seine Tätigkeit infrage stellen. Eine Form von Ich-Verlust tritt auf, die nicht mit einem Verlust des Selbstbewusstseins gleichzusetzen ist, sondern vielmehr innere Ressourcen freizusetzen vermag, Abb. 42: Marina Abramovic: "Cleaning the house" , Venedig 1997
die ansonsten durch die dualistische Trennung von Bewusstsein und Handeln nicht zur Verfügung ste-
hen. Dies schließt im Falle der Körperperformances auch ein über sich hinauswachsen in Bezug auf Schmerzempfindungen ein. 33
„Da gibt es das Publikum, und da gibt es dich, die ganz gewöhnliche kleine Marina, die Angst hat vorm Publikum, furchtbar nervös ist. Schreckliche Angst, physische Angst habe ich jedes Mal vor einer Performance. [...] Ich habe das Gefühl, dass etwas mit meinem Körper passieren wird. Dann kommt der Augenblick, dass du rausgehen musst. Da spüre ich eine geistige und körperliche Transformation, wenn ich von der kleinen Marina zu der anderen, größeren Marina hinübergehe. Ich könnte deswegen auch nie eine Performance für mich allein machen, ohne Publikum könnte ich diese 33 Vgl.: Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater, a.a.O., S. 88–94
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Konzentration nicht haben. Wenn ich mir in der Küche in den Finger schneide, fühle ich mich sehr verletzlich und könnte heulen.Wenn ich mich vor dem Publikum verletze, macht mir das gar nichts, ich kann praktisch alles machen, es gibt kein Hindernis mehr, ich habe ein Gefühl der totalen Freiheit.“ 34
Das Publikum scheint somit für Abramovic der entscheidende Auslöser einer Energiesteigerung zu sein, der die Künstlerin befähigt, über sich hinaus zu wachsen. Die körpereigenen Opiate, die für die Unempfindlichkeit gegenüber Schmerz verantwortlich sind (siehe das Kapitel über Schmerz als medizinisches Phänomen), werden bei Abramovic offensichtlich allein durch die Anwesenheit ihrer ko-präsenten Zuschauer wirksam. Dadurch kann sich die Performerin über eigene physische und psychische Leistungsgrenzen hinwegsetzen. Mit ihrer sechsstündigen Performance „Cleaning the House“ 35 konnte Marina Abramovic 1997 auf der Biennale in Venedig einen interpretatorischen Beitrag zur Lage auf dem Balkan liefern, der sich mit den künstlerischen Mitteln der Aktionskunst einem hochaktuellen Thema widmete. Auch heute ist Abramovic noch aktiv als extreme Performerin tätig. Unter anderem zeigte sie an zwölf aufeinander folgenden Tagen im Jahr 2003 die Performance „The house with the ocean view“ in einer Galerie in New York. Abramovic lebte während dieser Zeit vor den Augen des Publikums auf einer erhöhten Plattform und fastete die gesamte Zeit. Zum Abschluss möchte ich noch kurz auf einen weiteren Aspekt ihrer Performancetätigkeit zu sprechen kommen, der im Kontext dieser Arbeit interessant ist. Mit
Abb. 43: Abramovic/Ulay: "Breathing in/Breathing out", Belgrad 1977
ihrem Partner Uwe Laysiepen (Ulay) zeigte Abramovic eines der wenigen Beispiele, in denen ein Performanceduo unterschiedlichen Geschlechts mit extremen Körperarbeiten und schmerzvollen Bildern zu einer gleichberechtigten Partnerarbeit gelangt. In „Breathing In – Breathing out“ (1977, 34 Abramovic, in: Jappe, Elisabeth: Performance Ritual Prozeß, a.a.O., S. 141 35 Abramovic saß 6 Stunden im Dunkeln zwischen Bergen von Knochen und schrubbte die Fleischreste ab. Dabei erschien an den Wänden die Projektion eines alten Mannes und einer alten Frau. Abramovic erzählte dazu eine „Parabel über die Entartung friedlicher Kreaturen zu Wolfsratten: Man treibt die ausgehungerten Ratten in eine derartige Panik, dass aus ihnen Killerratten werden." Sie bezieht sich mit dieser Metapher auf die „ethnischen Säuberungen", die aus Nachbarn Todfeinde machen. Quelle: DIE ZEIT, 20.6.1997, S. 40
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Belgrad) verstopfen sich die Künstler die Nasenlöcher mit Zigarettenfiltern und pressen die Münder wie im dauerhaften Kuss aufeinander. Nachdem sie 19 Minuten das ausgeatmete Kohlendioxid des Anderen eingeatmet haben, brechen sie die Aktion aus Luftmangel erschöpft ab. Bei „Rest Energy“ (1980, Dublin) stehen sich die Künstler in Schräglage gegenüber und sehen einander in die Augen. Abramovic hält einen Bogen, dessen Sehne Ulay spannt. Ein Pfeil ist direkt auf Abramovics Herz gerichtet. „Relation in Time“ (1977, Bologna) dauert 17 Stunden. Während dieser Zeit sitzen die Künstler Rücken an Rücken, und ihre Haare sind aneinandergeknotet. Die knappen Beschreibungen der frühen Performances von Marina Abramovic und Ulay zeigen eine geradezu anthropologische Herangehensweise an unterschiedliche Problemstellungen, die allerdings ausAbb. 44: Abramovic/Ulay: "Rest Energy", Dublin 1980
nahmslos extreme körperliche Leistungen oder riskante Situationen beinhalten. Neben dem Gewinn
an Körperwissen, wie auch im Falle der weiter oben beschriebenen Arbeiten von Chris Burden, leisten Abramovic und Ulay hier auch einen exzellenten Kommentar zu Geschlechterfragen. In „Talking about Similarity“ (1976) tauschen die Künstler während der Performance sogar die Rollen. Ulay beschreibt das Geschehen:
„[...] Ich saß vor den Gästen mit weit offenem Mund, derweil aus den Lautsprechern das Geräusch eines Spuckeabsauggerätes, wie diese beim Zahnarzt gebräuchlich sind, tönte. Das dauerte circa 10 Minuten, bis plötzlich der Ton abbrach. Ich schloss meinen Mund, nahm Nadel mit Faden und nähte mir den Mund zu. Verknotete den Faden und blieb ca. 3 Minuten so sitzen. Dann wechselte ich mit Marina die Plätze. Sie saß vor den Gästen und ich saß zwischen den Gästen. Die Gäste waren sehr emotional und bombardierten Marina mit Fragen, teilweise aggressiv. Marina beantwortete die Fragen, als ob sie ich war, also als ob sie sich den Mund zugenäht hatte [...]“ 36 36 Zitiert nach einem Brief von Ulay, der dem Autor auf Anfrage im Jahr 1999 zugesandt wurde.
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In dieser Performance wird das Grundprinzip des Künstlerpaares besonders deutlich: Sowohl er als auch sie können aktiv und passiv handeln. Die Selbstaufgabe Ulays als sprechendes, aktives Subjekt geschieht, trotz des Bruches mit der traditionellen Konstruktion des männlichen Subjekts, ohne Pathos. Die weibliche Seite, sonst die traditionell Sprachlose, übernimmt die Rolle des sprechenden, handelnden Subjekts, verzichtet aber darauf, für sich selbst zu sprechen. Vielmehr übernimmt sie Ulays Rolle und verzichtet so zugunsten von Identifikation auf eine Identität. Die Besonderheit der Paararbeit liegt hier im Verzicht auf ein Kräftemessen zwischen den Polen männlich/weiblich, und so werden die Geschlechterrollen in einer Art friedlicher Selbstverständlichkeit dekonstruiert. Neben den aufregenden Performances, bei denen Abramovic/Ulay mit ihren Körpern Grenzzustände physischer Existenz ausloteten, gab es gegen Ende ihrer Zusammenarbeit immer stärkere Bilder der Ruhe, die jedoch wiederum durch extreme Dauer in den Bereich der „endurance“Performance rückten. Geprägt von Erfahrungen bei den Aboriginies entwerfen sie die rituelle Arbeit „Nightsea Crossing“, die an 90 verschiedenen Tagen in den Jahren 1982–1986 stattfindet. Das Paar sitzt sich in dem jeweils gewählten Performanceraum (unterschiedliche Museumsräume in der ganzen Welt) an einem Tisch gegenüber und bleibt bewegungslos. Das Publikum sieht nicht wie die Aktion beginnt, sondern erlebt die Künstler während der Öffnungszeiten als lebendes, unbewegliches Bild. Die Experimente von körperlicher Intensität, die Untersuchung und Aushebelung der Bedeutung von Geschlechterkonstruktionen sind einer philosophischen Erweiterung der Körperarbeit gewichen, die sich bereits jenseits des Körpers zu bewegen scheint und einen Stillstand anstrebt.
„Anwesenheit. Anwesend sein, über einen langen Zeitraum, bis die Anwesenheit zunimmt und abnimmt, von der Materialität zur Immaterialität, von der Form zur Formlosigkeit, vom Instrumentalen zum Mentalen, von der Zeit zur Zeitlosigkeit.“ 37
Am Ende ihrer Zusammenarbeit haben sich die Interessen von Abramovic/Ulay vom westlichen Körperbegriff, der die kulturelle Besetzung des Leibes durch soziologische, psychologische und geschlechtsbezogene Begriffe beinhaltet, hin zu einem stärker 37 Performancetext aus: Meschede, a.a.O., S. 179
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außereuropäischen Körperverständnis bewegt, in welchem der Körper als Ort verstanden wird. Es wird der Versuch unternommen, ihn in seinem Vorhandensein anzunehmen, eine Trennung von Leib und Seele im Sinne Descartes zu überwinden und darüber hinaus eine Harmonie mit der Welt, dem Außen, einzugehen. Marina Abramovic entwarf das Bild des Körpers als Boot:
„Für Abramovic ist der Körper ein Boot, das man im Laufe zahlreicher physischer und geistiger Abreisen und Umwege gerade von der Sprache, vom Symbolischen befreien muss. Ein Boot, das man von all dem, was eine sprachzentrierte Kultur in ihm kulturell kodiert hatte, leeren muss. [...] Durch intensive und rasche Bewegungen, langes Gehen und später völlige Regungslosigkeit, einen Zustand des Im-eigenen-KörperSeins, einen Zustand ohne Sprache, jenseits der Subjektivität, zu realisieren. >Entleerung des Bootes< ist ein Zustand, in dem ihr Geist nicht mehr >woanders< und >anderswann< ist, sondern >hier< und >jetzt