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German Pages 348 Year 2013
Friedrich Vollhardt (Hg.) Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur
Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Antitrinitarismus und Sozinianismus in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 2
Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur Herausgegeben von Friedrich Vollhardt
Akademie Verlag
Einbandgestaltung: hauser lacour Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2014 Akademie Verlag GmbH www.degruyter.de/akademie Ein Unternehmen von De Gruyter Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-11-034663-3 eISBN 978-3-11-034673-2
Inhaltsverzeichnis
FRIEDRICH VOLLHARDT Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur. Zur Einführung ......................................................................................................... 7 WOLFGANG MÄHRLE Orthodoxie und Heterodoxie in der Istoria civile del Regno di Napoli von Pietro Giannone ............................................................................................... 17 JEAN-PIERRE CAVAILLÉ The Italian Atheist Academics: A Myth of the French Pre-Enlightenment? ............................................................. 39 ANDREAS MAHLER Netzwerke, Konstellationen, intellektuelle Denkräume. John Donne und die Inns of Court .......................................................................... 51 KĘSTUTIS DAUGIRDAS Kommunikationsstrategien der Sozinianer und Remonstranten vor und nach der Dordrechter Synode (1618/1619) ............................................... 71 MARTIN SCHMEISSER Martin Ruarus – eine Zentralfigur des Altdorfer Antitrinitarismus ................................................ 83 MARTIN SCHMEISSER Johann Crells aristotelische Ethik und die Moralphilosophie an der Academia Norica in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ........................ 101 DIETRICH KLEIN Der religiöse Nonkonformismus Andreas Dudiths im Spiegel seiner Auseinandersetzung mit Theodor Beza und Johannes Crato von Crafftheim ..................................................................... 121
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CECILIA MURATORI „Inter hominem & bruta nulla est similitudo“ − Die Bestimmung der Grenze zwischen Mensch und Tier in De statu primi hominis ante lapsum disputatio ................................................ 139 GÜNTER FRANK Ernst Soners Kritik am Trinitätsdogma. Strategien zur Legitimierung trinitätstheologischer Heterodoxie in Soners Traktat An Doctrina Trinitatis sit Mysterium? ..................................... 161 JAN ROHLS Der Fall Vorstius ................................................................................................... 179 WILHELM KÜHLMANN Endzeit, Restauratio und Elias Arista. Signaturen des paracelsistischen Dissidentismus .................................................. 199 SASCHA SALATOWSKY Dürfen Sozinianer geduldet werden? Obrigkeitliche und theologische Debatten in Brandenburg und Preußen im 17. und 18. Jahrhundert ................................................................................... 223 WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN Johann Stephan Rittangel ...................................................................................... 251 MARTIN MULSOW Adam Neusers Brief an Sultan Selim II. und seine geplante Rechtfertigungsschrift. Eine Rekonstruktion anhand neuer Manuskriptfunde ........................................... 293 ANITA TRANINGER Disputative, non assertive posita. Zur Pragmatik von Disputationsthesen ................................................................. 319 REGISTER ................................................................................................................... 341
FRIEDRICH VOLLHARDT (MÜNCHEN)
Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur. Zur Einführung
Über Periodisierungen lässt sich streiten. Ab wann hat die Kritik des biblischen Textes zu einer ernsthaften Infragestellung des kirchlichen Lehramtes geführt? In welchem Zeitraum verliert die Theologie ihre Autorität in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Erkenntnisansprüchen? Und an welchen Orten sind zu welchem Zeitpunkt die Grenzen der Denkfreiheit besonders weit gezogen worden? Das sind Fragen, die im Blick auf einzelne Kontroversen im konfessionellen Zeitalter zu ganz unterschiedlichen Antworten führen können, wobei auch die Perspektive des jeweiligen Faches zu berücksichtigen ist. Vertraut man sich den Quellen an, können Beobachtungen zur Genese nonkonformer religiöser Anschauungen und Denkstrukturen zur Verflüssigung von Epochenbildern beitragen, da sich die Entwicklung dieser Ideen oft über einen langen Zeitraum hinweg verfolgen lässt. Bei der Erklärung solcher Ideenevolutionen sind Annahmen über diskontinuierliche Verläufe oder epistemologische Brüche also wenig hilfreich, zu rechnen ist vielmehr mit Traditionsüberhängen und der Kontinuität von Problembeschreibungen auch in Phasen eines rascheren Strukturwandels. Bemerkenswert ist der hier entstehende Grenzverkehr: Die Befragung des Dogmas, wie sie im akademischen Milieu in Disputationen möglich und üblich war, wird in der erbaulichen Literatur zunehmend als gefährliche Infragestellung christlicher Lebenspraxis wahrgenommen. Festgehalten wird hier an einem Normierungsanspruch, der sich einer starken Konkurrenz, einem Pluralisierungsdruck ausgesetzt sieht. Es ist leicht einzusehen, weshalb im religiösen Diskurs der Frühen Neuzeit die laikale und die gelehrte Kultur in dieser Weise aufeinandertreffen mussten − autoritative Setzungen ließen sich gerade in diesem Bereich besonders wirkungsvoll kritisieren. Das sei an einem Beispiel erläutert, das zeigt, wie ein in akademischen Zusammenhängen oft nur implizit, über Andeutungen geführtes Gespräch mit heterodoxen Positionen zum offenen Streit wird. In der Frühen Neuzeit ist zwischen dogmatischer und biblischer Theologie nicht getrennt worden. Sobald aber dogmatische Aussagen aus der Schrift abzuleiten waren und mit dieser übereinstimmen sollten, war die Botschaft eines jeden biblischen Buches und seine den Gläubigen verpflichtende Wahrheit gegen kritische, skeptische oder satirische Einwände zu verteidigen – das Geschäft der Apologetik. Aus der Fülle der
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Friedrich Vollhardt
Literatur greife ich Brandanus Heinrich Gebhards Jonas enucleatus (1726) heraus. Der 1657 geborene Autor stammte aus einer Braunschweiger Pastorenfamilie, er studierte in Jena Theologie und erhielt 1686 eine Professur für orientalische Sprachen in Greifswald. Nach einer persönlichen Begegnung mit Spener wandte er sich dem Pietismus zu, sehr zum Missfallen seiner Greifswalder Kollegen, vor allem dem ‚Ketzermacher‘ Johann Friedrich Mayer. Gebhard wehrte die Angriffe ab und sorgte für eine moderate Politik an seiner Hochschule, die sich auszahlte: 1716 erhält er die Generalsuperintendur für Schwedisch-Pommern. 1729 stirbt Gebhard, das Jonasbuch ist eine seiner letzten Schriften. Von Interesse ist der Untertitel, mit dem der Theologe sein Buch dem breiteren Publikum ankündigte, nämlich als eine Erklrung des Propheten Jona […] wider J)dische, Chiliastische und Socinianische Verdrehungen bescheidentlich verthdiget. Ein umfassendes, jedoch nicht unübliches Programm für die Auslegung eines als besonders erklärungsbedürftig geltenden Textes des Alten Testaments.1 Die Auseinandersetzung mit der jüdischen Exegese erscheint dabei für einen Spezialisten der altorientalischen Sprachen nicht ungewöhnlich, ebensowenig die von einem gemäßigten Pietisten zu erwartende Distanzierung gegenüber dem Chiliasmus. Nur die ‚sozinianischen Verdrehungen‘ bedürfen einer genaueren Betrachtung. Am Ende seiner Widmungsvorrede nennt der Autor die Prämisse, unter der seine für Unterrichtszwecke gedachte Auslegung des biblischen Textes steht. „Kurtz: die Prophetischen Schrifften sind nach der Norm der Apostolischen Schrifften auszulegen.“ Weshalb, so fährt er fort, „die Academische Jugend zu fleißiger Collation des Alten und Neuen Testaments anzuhalten ist.“ Im selben Zusammenhang wird dann auch der Gegner genannt: „Daher wir denn billig verwerffen die hypothesin Petersenianam de multiplici typorum subordinatione.“2 Gebhard erwähnt zwar weitere Exegeten, doch der eigentliche Kontrahent ist Johann Wilhelm Petersen (1649–1727), was mit den erwähnten Streitigkeiten in Greifswald zu tun haben dürfte. Im Zentrum des Jonas enucleatus steht daher eine ausführliche, exegetisch detaillierte Widerlegung des „Petersenianische[n] Gedicht[s] von den Kerckern der abgesonderten Seelen, daraus sie endlich sollen errettet werden“, wie es in der Vorrede heißt. Es geht um die Ewigkeit der Höllenstrafen und damit um die sozinianische Kritik an diesem Dogma. Gebhard verwendet große philologische Sorgfalt und ermüdende Detailkenntnis auf die Widerlegung dieser als besonders gefährlich geltenden Lehren. Er steht hier in einer Traditionslinie, die auf eine bereits um 1600 geführte Debatte verweist. Hier hatte der lutheranische Theologe Jacob Schopper eine in Nürnberg gedruckte Explicatio S. Prophetæ Ionæ (1608) vorgelegt, in der ebenfalls gegen die sozinianischen Irrlehren seiner Zeit Stellung bezogen wurde. Es sind die Krankheiten Ninives, die Schopper bei seinen Landsleuten diagnostiziert, ganz zu schweigen von den heterodoxen Sekten, denen gegenüber „Germania non est immunis“ 1 2
Vgl. den Sammelband Steiger/Kühlmann 2011. Gebhard 1726, )( 4r f.
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– womit auf die europäischen Fluchtbewegungen der Dissidenten aus Italien und der Schweiz angespielt wird, für die Nürnberg und die Altdorfer Akademie nicht selten eine Station auf dem Weg in den Osten bildete. Zu fragen ist, was sich in den einhundert Jahren verändert hat, in denen der status controversiae offenbar unverändert geblieben ist. Nun − aus dem Gelehrtenlatein ist die Volkssprache geworden, die Diskussion hat ein breiteres Publikum erreicht. Woraus sich schließen lässt, dass nach neuen Strategien im Umgang mit religiösen Dissidenten gesucht wurde. Das zeigt sich auch in der Religionspolitik, etwa bei Friedrich III. von Brandenburg-Preußen, der die Sozinianer in seinem Land duldete, „solange Sie sich still halten“, wie eine Notiz in dem Sitzungsprotokoll des Geheimen Rats aus dem Jahr 1699 festhält.3 Den hier eingetretenen Wandel hat am Ende des 17. Jahrhunderts niemand genauer beobachtet als der Oratorianer Richard Simon − der Verfasser der berühmten Histoire critique de Nouveau Testament (1693) −, der alle künftigen Kontroversen in der Bibel- und Dogmenkritik auf die Herausforderungen zurückführte, die von den ‚neuen Arianern‘ ausgingen.4 In den Jahrzehnten um 1700 verstärkt sich der im Protestantismus geführte Antitrinitarier-Streit auch dadurch, dass er historische Dimensionen gewinnt. Das zeigt beispielhaft Gustav Georg Zeltners Historia Crypto-Socinismi [sic] Altorfinae quondam academiae infesti arcana ex documentis maximam partem Msstis. […] adornata (1729), zeitlich der Kommentierung des Jona-Buches durch den Greifswalder Theologen eng benachbart. Bei der Historia handelt sich um eine umfangreiche Quellendokumentation, die – anders als in Antonio Possevinos Bibliotheca selecta ein Jahrhundert zuvor – die antitrinitarischen Häresien (Arianismus, Photinianismus, Ebionismus etc.) nicht als ein Kapitel der Gelehrsamkeitsgeschichte unter anderen verzeichnen konnte, sondern als weiterhin bestehende Gefährdung zu verstehen hatte. Denn was in den Netzwerken der Gelehrten um 1600 eher verdeckt zur Sprache kam (die Hinrichtung Michel Servets war noch in Erinnerung), wurde in den Jahrzehnten um 1700 offen in Frage gestellt: Die mit philologischen und exegetischen Argumenten geführten Angriffe auf die Trinitätslehre bedrohten inzwischen die Grundlagen der nicaenischen Theologie der großen Kirchen. Zeltner musste im Blick auf die eigene Gegenwart die Bedeutung der Altdorfer Konstellation also nicht eigens betonen, durch die reflektierte Darstellung des (nicht) vergangenen Wissens arbeitete er vielmehr an einem „Identitätssinn zweiter Stufe“.5 Sein Werk verschweigt nicht die historischen Tatsachen, sondern vergegenwärtigt die Dogmenkritik, um über die Vermittlung bestimmter Perspektiven und nicht zuletzt Wertungen bei seinem Publikum ein konfessionelles Bekenntnis zu stabilisieren. Dieses pragmatische Interesse ist nicht fixiert, als ein Element der sich wandelnden gelehrten Kommunikation befindet es sich in ständiger Revision. 3 4 5
Zitiert nach Palladini 2011, 38 Anm. 79. Einschlägige Briefstellen zitiert Salatowsky 2011. Henrich 1979, 662.
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*** Bei den wenigen Hinweisen auf die Transmission und die destabilisierenden Effekte heterodoxer Überzeugungen in der Frühen Neuzeit ist der Antitrinitarismus nicht ohne Grund in den Mittelpunkt gestellt worden. Am Beispiel des von Zeltner sogenannten ,Kryptosozinianismus‘ in Altdorf hat ein Teilprojekt des Münchner Sonderforschungsbereichs 573 Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit 15.−17. Jahrhundert die praktizierte Toleranz im Umgang mit heterodoxen Positionen um 1600 untersucht, genauer: die Prozesse und Ausdrucksformen der religiösen Pluralisierung im Kontext der frühneuzeitlichen Gelehrten- und Universitätskultur.6 Der Leitbegriff der ‚Pluralisierung‘ thematisiert dabei die Vermehrung und Vervielfältigung jener Repräsentationen von Wirklichkeit, die in einem Lebens- oder Kulturbereich bekannt und legitimationsfähig sind, aber auch dort verarbeitet werden müssen. Schon die daraus resultierende Pluralität steigert die Komplexität von sozialen und kognitiven Ordnungen. Vor allem erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von ,neuem‘ oder alternativem Wissen sowie der Emergenz von komplementären oder auch kompetitiven Teilwirklichkeiten, wie dies im Rahmen der humanistischen Gelehrtenkultur beobachtet werden kann. Solche Vervielfältigungsprozesse treten ins Bewusstsein der Zeitgenossen und ermöglichen in zunehmendem Maße, dass Neues als Neues privilegiert wird.7 Der Leitbegriff der ‚Autorität‘ erfasst die andere Seite. Er verweist auf ein weites Spektrum formeller und informeller Normierungsansprüche. Dabei ist zum einen an Instanzen politischer, ökonomischer und religiöser Macht zu denken, die über die Mittel verfügen, ihre Setzungen zu exekutieren, zum anderen an Prozesse der Kanonisierung sowie an all jene informellen Geltungsansprüche, die − neben dem staatsrechtlichen Aspekt − schon dem lateinischen Begriff auctoritas eignen. Die Vervielfältigung gesellschaftlicher Differenzierungsmuster, Wissensbereiche und Legitimierungszusammenhänge beraubt nämlich Normativitätsbehauptungen, Wertzuschreibungen und Ordnungsprinzipien nicht schlechthin aller Plausibilitäten oder Durchsetzungschancen, sondern spezifiziert sie nurmehr für bestimmte soziale Handlungsfelder und epistemische Ordnungen, auch wenn weiterhin ihre universelle Geltung behauptet wird. Pluralisierung treibt Autorität hervor, und autoritative Setzungen können Pluralität provozieren − das sollte am Beispiel der Altdorfer Akademie genauer untersucht werden. Unsere Projektarbeit konzentrierte sich dabei auf die intellektuellen Voraussetzungen und kulturellen Rahmenbedingungen, welche die Verbreitung des sozinianischen Gedankenguts an der Academia Norica ermöglichten.8 Was die Attraktivität dieser Lehren ausmachte, wird im einzelnen noch zu zeigen sein. 6 7 8
Vgl. Vollhardt 2013 (mit Hinweisen zu den aus der Projektarbeit hervorgegangenen Publikationen). Vgl. hierzu das Vorwort zu Müller/Oesterreicher/Vollhardt 2010. Zur Altdorfer Akademie um 1600 vgl. das Standardwerk Mährle 2000 sowie zu der im Münchner SFB untersuchten Problemstellung Mährle 2010.
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Bemerkenswert bleibt der moderate Umgang der städtischen Obrigkeit mit den Beschuldigten, bei denen es sich in nicht wenigen Fällen um Söhne angesehener Nürnberger Bürger handelte; im Falle einer öffentlichen Revokation hatten diese keine Karrierenachteile zu befürchten: „Auffällig ist, daß es dem Rat überhaupt nicht um Bestrafung ging (obwohl das durchaus diskutiert wurde), sondern um ‚Resozialisierung‘ durch glaubhaftes Abschwören.“9 Während die meisten Verdächtigten sich von den beanstandeten Lehren distanzierten und daraufhin zum Teil beachtliche Karrieren machten, verließen andere Nürnberg und später auch das Reichsgebiet. Kontakte zwischen den ehemaligen Kommilitonen blieben jedoch auch nach dem Eingreifen der staatlichen Instanzen bestehen, was darauf hindeutet, dass sich auch die in die Konfessionsgemeinschaft zurückgekehrten Angeklagten später in einer conforming nonconformity10 eingerichtet haben. Die Prozesse religiöser Pluralisierung in der Frühen Neuzeit haben, so lässt sich vorläufig festhalten, einen zunehmenden Bedarf an Vergleich und Abstimmung konkurrierender Ansprüche (auf Heil und Wahrheit) produziert und zugleich die Chancen vermindert, zu diesem Zweck auf traditional eingeschliffene Formen der Unterscheidung oder Komplexitätsverarbeitung zurückgreifen zu können. *** Um die hier aufgeworfenen Fragen mit Vertretern verschiedener Fächer diskutieren zu können, hat die Arbeitsgruppe des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs zu einer Tagung eingeladen, die vom 1. bis 4. Dezember 2010 im Kardinal Wendel Haus der Katholischen Akademie zu München stattgefunden hat: Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur: Akademische Netzwerke und Formen praktizierter Toleranz lautete das Rahmenthema für die Gespräche in den Räumen der Akademie am Rande des Englischen Gartens. Die Beiträge, um die wir die Teilnehmer gebeten haben, finden sich in diesem Band zum überwiegenden Teil dokumentiert. Wie sich historische Feldforschung mit wissenssoziologischen oder diskursgeschichtlichen Ansätzen verknüpfen lässt, zeigten alle fünf Sektionen der Tagung in unterschiedlicher Weise. Der erste Teil bot Einblicke in heterodoxe Formationen und Strömungen vom 16. Jahrhundert bis zum 18. Jahrhundert. Thomas Kaufmann (Göttingen) eröffnete die Veranstaltung mit einem Vortrag über deviante Intellektuelle der Frühreformation. Der Kirchenhistoriker zeigte an einigen Fallbeispielen (Karlstadt, Müntzer, Stübner), wie sich radikale Gelehrte dieser Zeit habituell dem sozialen Milieu der einfachen Laien bewusst anpassten, um unter diesen Anhänger für ihr Gedankengut zu gewinnen. Demgegenüber standen im Zentrum der Untersuchung von Barbara Mahlmann (Bern) die Beziehungen, welche die Basler Späthumanisten um Sebastian Castellio zu bestimmten Netzwerken im Reich (Katharina Zell, Schwenckfeld, Postel 9 10
Brennecke 2011, 157. Diesen Begriff verwendet und expliziert Goertz 2002.
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u. a.) pflegten. Auf dieser Grundlage lieferte Mahlmann einen Entwurf zur Typologisierung und Klassifizierung religiöser Dissenters des 16. Jahrhunderts. Wolfgang Mährle (Stuttgart) widmete sich der Darstellung verschiedener ketzerischer Bewegungen in Pietro Giannones umfangreicher Istoria civile del Regno di Napoli (1723) und den dort entwickelten Vorschlägen zum politischen Umgang mit religiösen Minderheiten. Jean-Pierre Cavaille (Paris) forderte mit seinen Ausführungen dazu auf, die Naudeana et Patiniana als authentische und genuine Informationsquelle zur Heterodoxie an den italienischen Hochschulen des 17. Jahrhunderts auszuwerten, wobei er eingehend das methodische Problem diskutiert, das sich bei der Rekonstruktion einer Kultur des Mündlichen und der Konversation (für die sich die ‚Diskursarchäologie‘ gerade nicht interessiert) stellt. Die zweite Sektion befasste sich mit den unterschiedlichen Kommunikationsformen im Gelehrtenmilieu. Andreas Mahler (Graz) zeigte in seinem Vortrag am Beispiel John Donnes und den Londoner Inns of Court, wie sich die methodologischen Regeln der neuen Konstellationsforschung11 anwenden lassen, um Gesprächslagen und Denkhorizonte, aber auch Parteizugehörigkeiten und persönliche Begegnungen als Bedingungsfaktoren der religiösen Pluralisierung zu beschreiben. Martin Mulsow (Erfurt) befasste sich mit dem Fall des radikalen Dissidenten Adam Neuser; anhand eines in der Gothaer Bibliothek entdeckten Briefmanuskripts ging Mulsow den religionspolitischen Motiven nach, die Neuser als Antitrinitarier dazu bewogen haben, mit dem türkischen Sultan in Kontakt zu treten und zum Islam zu konvertieren. Kestutis Daugirdas (Mainz) erörterte in einem detailreichen Vortrag die Verfahren, die in der brieflichen Kommunikation der Sozinianer und Remonstranten angewandt wurden, um relevante Informationen zu verschlüsseln und sich gegen kirchenpolitische Gegner abzusichern. Martin Schmeisser (München) erläuterte in seinem Referat die bedeutende Wirkung von Martin Ruarus − einem Studenten aus dem Altdorfer Zirkel um Ernst Soner − der am Aufbau und der Expansion der polnischen Ecclesia minor mitwirkte. Ausgehend von der brieflichen Kontroverse zwischen Theodor Beza und Andreas Dudith wies Dietrich Klein (München) in seinem Vortrag nach, dass der philosophische und religiöse Nonkonformismus Dudiths keine eindeutigen Konturen hatte; Bekenntnisfragen wurden durch ihn eher vergleichgültigt. Im Zentrum des dritten Teils der Tagung standen das Spannungsverhältnis von Theologie und szientifischem Rationalismus sowie institutionspolitische Problemstellungen. Cecilia Muratori (München) eröffnete die Sektion mit einem Vortrag zu den 1578 von Fausto Sozzini und Francesco Pucci geführten anthropologisch-theologischen Debatten um die Unsterblichkeit der Schöpfung und des Menschen nach dem Sündenfall. Anita Traninger (Berlin) konnte am Beispiel von Johannes Eck nachweisen, dass im Bereich der akademischen Disputationen die Entfaltung religiös nonkonformer Positionen durchaus möglich war. Eingriffe von Seiten der Obrigkeit gab es nur dann, wenn eine 11
Vgl. Mulsow/Stamm 2005.
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politische Wirkung nach außen intendiert und zu erwarten war. Hanspeter Marti (Engi) erweiterte diese Beobachtungen zur performativen Dimension akademischer Streitkultur am Beispiel der in Altdorf geführten kontroverstheologischen Disputationen. Vor allem an einem Textcorpus, Jakob Schoppers Dissertationen über die Trinität (1613), konnte er die agonalen Elemente im Streit mit den Sozinianern bestimmen. Schoppers Nachfolger Christian Matthias griff ebenfalls auf die asymmetrische Rollenverteilung zurück, um mit Hilfe physikotheologischer Argumente gegen die Dogmenkritiker vorzugehen. Die vierte Sektion lieferte Einblicke in den Zusammenhang von epistemischer Kultur und Dogmenkritik in der Ära der ‚New Science‘. Günter Frank (Bretten) behandelte in seinem Eröffnungsreferat die um 1605 erschienene Schrift Ernst Soners An doctrina Trinitatis sit mysterium; im Gegensatz zum sogenannten Soner-Katechismus enthält der durch Frank analysierte Text eine exegetisch begründete Trinitätskritik, die aber durch das Festhalten an einer göttlichen Dreiheit den Anschein einer gewissen Rechtgläubigkeit bewahrt. Wilhelm Schmidt-Biggemann (Berlin) stellte in seinem Vortrag den (zu) wenig bekannten, um 1606 in Forchheim geborenen Hebraisten und Kabbalisten Johann Stephan Rittangel vor. Am Beispiel von Rittangels Libra Veritatis Qua Irenopolitæ cujusdam Ariani ließ sich zeigen, wie man durch den Rückgriff auf die christliche Kabbala den Antitrinitarismus zu widerlegen versuchte. Nach Rittangel war die Trinität bereits Abraham (als dem angeblichen Verfasser des Sefer Jezira) geoffenbart worden. Walter Sparn (Erlangen) ging der Frage nach, inwieweit der Aristotelismus nach Padovaner Vorbild die Rezeption des Antitrinitarismus an der Academia Norica begünstigte. Zugrundegelegt wurde dabei Ernst Soners Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles (In libros XII. metaphysicos Aristotelis commentarius, 1657). Der Text wurde von Johann Paul Felwinger herausgegeben (Jena 1657, 2. Aufl. 1666), dabei aber gekürzt und purgiert; eine handschriftliche Fassung des gesamten Kommentars hat sich in der Universitätsbibliothek Erlangen erhalten. Es gehört zu den Aufgaben der künftigen Forschung, die Fassungen zu kollationieren. Was Felwinger ablehnte, ist dem Vorwort zu einer weiteren Soner-Edition (Demonstratio theologica et philosophica, 1654) zu entnehmen, wo er sich gegen die Harmonisierung von Philosophie und Offenbarung zugunsten einer natürlichen, rationalen Theologie wendet.12 Die fünfte und letzte Sektion behandelte Fragen der obrigkeitlichen Politik im Umgang mit Dissidenten und Provokateuren. Eröffnet wurde die Diskussionsrunde durch Jan Rohls (München), der am Fall des reformierten Theologen Conrad Vorstius, der des Sozinianismus verdächtigt wurde, einen typischen Konflikt analysierte. Demgegenüber zeigte Wilhelm Kühlmann (Heidelberg) in seinem Vortrag anhand von zahlreichen Textbeispielen (Briefen, Widmungsgedichten etc.), wie sich im Milieu der frühneuzeitlichen Paracelsisten − etwa um Benedictus Figulus − aus dem Zusammen12
Vgl. Sparn 2011, bes. 140.
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spiel heterodoxer Denkfiguren und humanistischer Gelehrsamkeit eine ganz eigene Gesprächskultur entwickelte. Den Abschluss der Tagung bildete Sascha Salatowskys (Gotha) Vortrag zur liberalen Religionspolitik in der Mark Brandenburg; bereits unter Kurfürst Friedrich Wilhelm, der von 1640 bis 1688 regierte, wurde die stillschweigende Duldung von sozinianischen Gemeinden praktiziert. *** Konzeption und Durchführung der Tagung waren nur Dank der engagierten Mitwirkung meiner Arbeitsgruppe „Gelehrtenkultur und religiöse Pluralisierung“, das heißt dem Teilprojekt B 7 des Sonderforschungsbereichs 573 möglich. Mein besonderer Dank gilt hier Martin Schmeisser sowie Sebastian Speth, Klaus Birnstiel, Astrid Dröse und Sarah-Katharina Acevedo. Herzlich danke ich Cornelia Rémi und Herfried Vögel für die Mühe bei der Einrichtung der Beiträge, der Band hätte ohne diese Hilfe nicht gelingen können. München-Solln, Januar 2013
Friedrich Vollhardt
Bibliographie Quellen Gebhard, Brandan Heinrich (1726): Jonas enucleatus, d. i. Erklrung des Propheten Jona Worinnen der Wort=Verstand in einer kurtzen Paraphrasi nebst dem Zusammenhang deutlich vorgetragen und wider J)dische, Chiliastische und Socinianische Verdrehungen bescheidentlich verthdiget wird. Rostock: Martin Christoph Schwecht.
Forschungsliteratur Brennecke, Hanns Christof (2011): „Orthodoxie und sozinianische Häresie in Altdorf“, in: Brennecke, Hanns Christof/Niefanger, Dirk/Schnabel, Werner Wilhelm (Hrsg.): Akademie und Universität Altdorf. Studien zur Hochschulgeschichte Nürnbergs. Köln/Weimar: Böhlau (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 69), 151–166. Goertz, Hans-Jürgen (2002): „Die Radikalität reformatorischer Bewegungen. Plädoyer für ein kulturgeschichtliches Konzept“, in: Goertz, Hans-Jürgen/Stayer, James M. (Hrsg.): Radikalität und Dissent im 16. Jahrhundert. Berlin: Duncker & Humblot (= Zeitschrift für Historische Forschung, 27), 9–25.
Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur
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Henrich, Dieter (1979): „Identität und Geschichte. Thesen über Gründe und Folgen einer unzulänglichen Zuordnung“, in: Marquard, Odo/Stierle, Karlheinz (Hrsg.): Identität. München: Fink (= Poetik und Hermeneutik, VIII), 659–664. Mährle. Wolfgang (2000): Academia Norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575–1623). Stuttgart: Steiner (= Contubernium, 54). Mährle, Wolfgang (2010): „Eine Hochburg des ‚Kryptocalvinismus‘ und des ‚Kryptosozinianismus‘? Heterodoxie an der Nürnberger Hochschule in Altdorf um 1600“, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 97, 195–234. Müller, Jan-Dirk/Oesterreicher, Wulf/Vollhardt, Friedrich (Hrsg.) (2010): Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit. Berlin/New York: de Gruyter (= Pluralisierung & Autorität, 21). Mulsow, Martin/Stamm, Marcelo (Hrsg.) (2005): Konstellationsforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Palladini, Fiammetta (2011): Die Berliner Hugenotten und der Fall Barbeyrac. Orthodoxe und ‚Sozinianer‘ im Refuge (1685–1720). Leiden/Boston: Brill (= Brill’s Studies in Intellectual History, 204). Salatowsky, Sascha (2011): „‚Nusquam à clarissima Scripturæ luce recedere …‘ Die Koinzidenz von Vernunft, Logik und Exegese bei den Sozinianern“, in: Frank, Günter/Meier-Oeser, Stephan (Hrsg.): Hermeneutik, Methodenlehre, Exegese. Zur Theorie der Interpretation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog (= Melanchthon-Schriften, 11), 305–336. Sparn, Walter (2011): „Aristotelismus in Altdorf. Ein vorläufiges Profil“, in: Brennecke, Hanns Christof/Niefanger, Dirk/Schnabel, Werner Wilhelm (Hrsg.): Akademie und Universität Altdorf. Studien zur Hochschulgeschichte Nürnbergs. Köln/Weimar: Böhlau (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 69), 121-150. Steiger, Johann Anselm/Kühlmann, Wilhelm (Hrsg.) (2011): Der problematische Prophet. Die biblische Jona-Figur in Exegese, Theologie, Literatur und bildender Kunst. Berlin/New York: de Gruyter (= Arbeiten zur Kirchengeschichte, 118). Vollhardt, Friedrich (2013): „Gefährliches Wissen und die Grenzen der Toleranz. Antitrinitarismus in der Gelehrtenkultur des 17. Jahrhunderts“, in: Pietsch, Andreas/Stollberg-Rilinger, Barbara (Hrsg.) Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 214), 222–238.
WOLFGANG MÄHRLE
Orthodoxie und Heterodoxie in der Istoria civile del Regno di Napoli von Pietro Giannone
[…] Giannone si inviluppò in una ricerca storica sempre più contorta, cercando di autoconvincersi di essere ortodosso nell’eterodossia, osservante della vera Chiesa all’intorno di quella attuale, costruita gerarchicamente e dogmaticamente.1
Diese Feststellung Sergio Bertellis aus dem Jahr 1971 verdeutlicht, wie stark das historische Interesse Pietro Giannones von seiner Einstellung zu Religion und Kirche beeinflusst gewesen ist. Sie ist auf die gelehrten Studien Giannones am Ende der 1730er Jahre bezogen, doch prägt die Verknüpfung von Geschichte und eigener religiös-kirchlicher Überzeugung auch die früheren Arbeiten des aus Süditalien stammenden Juristen und Philosophen. Dies gilt auch für sein großes, 1723 publiziertes Geschichtswerk Istoria civile del Regno di Napoli, mit dem Giannone europaweiten Ruhm erlangte.2 Bertelli ging sogar so weit, der Istoria civile einen heterodoxen Subtext zu unterstellen. Dem italienischen Historiker zufolge stellt die Arbeit Giannones eine Anwendung der Philosophie Spinozas im Feld der Geschichtswissenschaft dar. Bertelli schreibt: La riduzione che il Giannone operava della religione a fatto umano, l’osservazione distaccata delle pratiche di culto e dell’evolversi della teologia cattolica, la laicizzazione della Sede apostolica, l’idealo panteistico d’una religione ricondotta alle origini del cristianesimo (e più tardi, addirittura, alla mitica età poetica) erano tutti motivi spinoziani, sviluppati ora in un preciso contesto storico, nella storia dell’Italia meridionale.3
Auch wenn man die Istoria civile in einen philosophiegeschichtlichen Kontext stellen kann – die These Bertellis über die spinozistischen Einflüsse wurde bisher nicht zureichend begründet4 –, erlangte das historiografische Hauptwerk Giannones im 18. Jahrhundert nicht primär aufgrund seiner religiös-philosophischen Zusammenhänge Bekanntheit. Vielmehr wurde die Studie des neapolitanischen Gelehrten als Publikation 1 2 3 4
Bertelli 1971a, XXV. Giannone 1723. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. Orthographie und Interpunktion wurden beibehalten. Bertelli 1971c, 355–356. Die publizierten Studien über den Einfluss der Schriften Spinozas auf das Werk Giannones beziehen sich stets auf die Abhandlung Il Triregno.
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Wolfgang Mährle
mit politischer, vor allem kirchenpolitischer Zielsetzung rezipiert. Auch die wissenschaftliche Forschung stellte die Istoria civile zunächst fast ausschließlich in den Kontext des so genannten giurisdizionalismo, das heißt jener in zahlreichen italienischen Staaten um 1700 etablierten juristischen Lehre, die auf eine Abgrenzung weltlicher und kirchlicher Rechtspositionen und konkret auf eine Zurückweisung kirchlicher Rechts- und damit Machtansprüche abzielte.5 Giannones Werk wurde häufig als Höhepunkt des neapolitanischen giurisdizionalismo begriffen.6 Erst seit den Bahn brechenden Studien von Raffaele Ajello, Sergio Bertelli, Giuseppe Ricuperati und Brunello Vigezzi in den 1960er und 1970er Jahren eröffneten sich der GiannoneForschung neue Perspektiven. Das Werk des Süditalieners einschließlich des zuvor wenig beachteten Spätwerks wurde nun in den Zusammenhang des gelehrten Libertinismus (Bertelli), vor allem jedoch in den Kontext der (radikalen) Frühaufklärung gestellt.7 Im Folgenden analysiere ich die religiösen Vorstellungen und religionspolitischen Konzeptionen, die der Istoria civile Pietro Giannones zugrunde liegen. Im Mittelpunkt der Untersuchung soll die Frage stehen, wie der Neapolitaner Historiker heterodoxe, das heißt nichtkatholische christliche Glaubensgemeinschaften dargestellt hat und welche Auffassungen er zum staatlichen Umgang mit diesen Gruppierungen entwickelte. Diese Probleme haben bisher in der historischen Forschung wenig Aufmerksamkeit gefunden. Einige Aspekte des Themas wurden vor einigen Jahren von Giuseppe Ricuperati untersucht.8 Die Überlegungen Giannones zu Religion und Religionspolitik bilden jedoch einen wichtigen Baustein für die Verortung dieses Gelehrten im kulturellen Milieu Neapels sowie in der intellektuellen Geschichte Europas im frühen 18. Jahrhundert.
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Eine zusammenfassende Darstellung zum italienischen Jurisdiktionalismus fehlt. Zu Giannones Verwurzelung im neapolitanischen Jurisdiktionalismus vgl. bes. Marini 1950; Lauro 1974. So z. B. in der Überblicksdarstellung von Carpanetto/Ricuperati 1986, 136. Vgl. bes. Vigezzi 1961; Ricuperati 1970; Bertelli 1971b, bes. 3; Ajello 1975; Ajello 1976, 227– 272; Mannarino 1998; Israel 2001, 674–677; Ricuperati 2001a; Israel 2006, 519. Zur Bewertung von Israel vgl. Ricuperati 2003; Ricuperati 2006, 127–167; Ricuperati 2009. Forschungsstand bis ca. 1976: Ricuperati 1980; Galasso 1980 (wieder in: ders. 1989, 297–321). Ricuperati 2001a, 1–38.
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1. Pietro Giannones Istoria civile del Regno di Napoli Pietro Giannone zählt zu den bedeutendsten, aber auch zu den schillerndsten italienischen Gelehrten des frühen 18. Jahrhunderts.9 Der Lebensweg des Süditalieners kann als spektakulär bezeichnet werden.10 Giannone wurde 1676 in Ischitella auf dem Gargano geboren. Im Jahr 1694 übersiedelte er zum juristischen Studium nach Neapel, wo er an der Universität sowie an der berühmten Akademie des Vizekönigs Medinacoeli mit dem Gedankengut des giurisdizionalismo, aber auch mit den maßgeblichen Strömungen der zeitgenössischen Philosophie in Berührung kam.11 Nach Abschluss seiner Ausbildung arbeitete Giannone als Advokat, schrieb jedoch seit 1702 parallel an der Istoria civile del Regno di Napoli, die er – wie bereits erwähnt – im Jahr 1723 publizierte. Giannone erzielte mit diesem Werk europaweite Aufmerksamkeit.12 Die Istoria civile wurde im 18. Jahrhundert in mehrere Sprachen übersetzt: Bereits in den Jahren 1729–1731 erschien eine englische, 1742 eine französische und in den Jahren 1758–1770 eine deutsche Ausgabe.13 Für Giannone hatte die Publikation seines Geschichtswerks jedoch einschneidende persönliche Folgen. Bereits wenige Wochen nach der Veröffentlichung musste er vor kirchlichen Angriffen aus Neapel an den Kaiserhof in Wien fliehen.14 In der multikulturellen Atmosphäre Wiens kam Giannone mit verschiedenen progressiven intellektuellen Strömungen in Berührung, unter anderem rezipierte er deistische Konzepte.15 Zu Beginn der 1730er Jahre arbeitete er an einem zweiten großen Werk, einem universalhistorischen Entwurf mit dem Titel Il Triregno.16 Diese Abhandlung blieb unvollendet. Giannone verließ im Jahr 1734 Wien und wandte sich zuerst nach Venedig, später nach Modena, nach Mailand und nach Genf. Im Frühjahr 1736 wurde er auf Betreiben der römischen Kurie auf savoyisches Gebiet gelockt und verhaftet. Giannone blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1748 im Gefängnis. 1738 schwor er, unter Druck gesetzt, seinen angeblichen „Irrlehren“ ab. In verschiedenen Gefängnissen im Piemont entstanden noch mehrere Werke historischen, 9
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Zusammenfassend zur Biographie und zum Werk Giannones vgl. bes. Ajello 1980a; Costa 1998, 322–334; Merlotti 2000; Ricuperati 2001b; Schlüter 2009. Zur Jugend Giannones vgl. Cannarozzi 1950. Neuere Quelleneditionen zur Biographie: Bertelli 1968; Giannone 1983; Giannone 1990; De Martino 1998. Zu den Editionsprojekten vgl. Ricuperati 1993. Zum Verhältnis zu Vico vgl. u. a. Schlüter 1999. Giannone 1960; Giannone 1971b; Giannone 1998. Vgl. dazu u. a. Daus 1962; Bertelli 1971b. Vgl. bes. Torraca u. a. 1924; Ricuperati 1968; Ricuperati 1970, 3–78; Comparato 1970; Suppa 1971; Ricuperati 1972; Ascione 1997; Rak 2000–2005. Vgl. bes. Bonnant 1963; Trevor-Roper 1996; Robertson 1997. Giannone 1729/1731; Giannone 1742; Giannone 1758–1770. Marini 1967; Marini 1970; Schlüter 1996. Vgl. Ricuperati 1970, 395–492; Garms-Cornides 1976. Giannone 1940. Zu dieser Ausgabe vgl. Omodeo 1941. Textauswahl: Giannone 1971c. Zu Il Triregno vgl. bes. Vigezzi 1961, 213–301, Ricuperati 1970, 437–492; Mannarino 1976; Mannarino 1980; Mannarino 1998; Ricuperati 2004; Van Heck 2009.
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philosophischen und theologischen Inhalts sowie eine Autobiographie.17 Diese Schriften wurden allerdings zu Lebzeiten Giannones nicht publiziert und sind daher von der gelehrten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden. Die Istoria civile del Regno di Napoli, die im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht, ist ein monumentales Werk.18 Sie umfasst insgesamt über 2.500 eng bedruckte Seiten. Formal ist die Studie in vierzig Bücher gegliedert. Das Werk Giannones stellt eine Geschichte Süditaliens von der Zeit der Unterwerfung des antiken Neapel unter die römische Herrschaft bis in die Gegenwart des Autors dar. Giannone betrachtet die ihn interessierende Region bzw. die Stadt Neapel dabei stets im welthistorischen Kontext. Mit einem modernen Begriff kann die Istoria civile als Verfassungsgeschichte bezeichnet werden.19 Giannone verfolgte allerdings, wie bereits angedeutet, nicht nur ein historiografisches, sondern – mindestens gleichrangig – ein politisches Ziel. Der zeitgeschichtliche Kontext des Spanischen Erbfolgekrieges und der habsburgischen Herrschaft in Süditalien waren für die Darstellung in vieler Hinsicht konstitutiv.20 Die historische Methode Giannones unterschied sich von derjenigen bedeutender Zeitgenossen, etwa Ludovico Antonio Muratoris.21 Bei seiner Darstellung stützte sich der Neapolitaner sehr stark auf historiografische Sekundärquellen.22 Für die Interpretation Giannones erlangten neben verschiedenen neapolitanischen Autoren (z. B. Angelo Di Costanzo, Giovanni Antonio Summonte, Domenico Antonio Parrino) nicht ausschließlich, aber doch vor allem kirchenkritische Historiker des 16. und 17. Jahrhunderts Bedeutung. Wichtige Referenzautoren Giannones waren Niccolò Machiavelli, Francesco Guicciardini, Paolo Sarpi und Hugo Grotius sowie eine größere Zahl französischer Gelehrter, die zumeist im Umfeld des Gallikanismus zu verorten sind, so etwa Jacques-Auguste de Thou, Pierre de Marca und Louis Ellies du Pin. Des Weiteren rekurrierte Giannone maßgeblich auf die Arbeiten des Löwener Kirchenrechtlers Zeger Bernhard van Espen. Die Bezugnahme auf ältere historiografische Publikationen, die
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Vgl. bes. Ricuperati 1970, 543–621. Zur Istoria civile vgl. bes. Caristia 1947; Marini 1950; Caristia 1955; Vigezzi 1961, 101–209; Fiorentino 1964; Ricuperati 1970, 143–229; Ajello 1975; Ajello 1976, 227–272; Ajello 1980b; Galasso 1989, 323–334; Firpo 2005. Zum Begriff „civile“ vgl. Schlüter 2000. Zur Geschichte des Königreichs Neapel unter der habsburgischen Herrschaft vgl. bes. Benedikt 1927; Benedikt 1964; Di Vittorio 1969/1973; Ricuperati 1976; Giarrizzo 1985; Garms-Cornides 1994; Pesendorfer 1998; Cirillo 2000; Galasso 2006. Zur italienischen Historiographie des frühen 18. Jahrhunderts und zur historiografischen Bedeutung Giannones vgl. bes. Bertelli 1960; Ghisalberti 1962; Giarrizzo 1962; Nicolini 1967; Ricuperati 1982a; ders. 1982b; Borghero 1983; Cottignoli 1994; Capucci 1998; Romagnani 1999; Ricuperati 1999. Zu den Quellen der Istoria civile und zur historischen Methode Giannones vgl. bes. Vigezzi 1961, bes. 305–316; Fiorentino 1964; Ricuperati 1965; Ricuperati 1970, 143–229.
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bis zur wörtlichen Übernahme ganzer Textpassagen ging, trug Giannone – etwa von Seiten Alessandro Manzonis – den Vorwurf des Plagiarismus ein.23
2. Verurteilung der „eresie“ Wie hat der Pietro Giannone in der Istoria civile historische heterodoxe Glaubensgemeinschaften dargestellt und welche Urteile hat er über die Repräsentanten der Heterodoxie und ihre Lehren gefällt? Die Auseinandersetzung mit Persönlichkeiten, Gruppierungen und Organisationen, die von der katholischen Kirche als häretisch verurteilt worden waren, spielt im Geschichtswerk des Italieners eine große Rolle. Erwähnung finden in der Istoria civile u. a. die spätantiken Arianer, der oströmischen Ikonoklasten, die Patarener, die Waldenser, die Katharer, neapolitanische Mystiker, daneben selbstverständlich auch die wichtigsten Repräsentanten der Reformation des 16. Jahrhunderts.24 Die Frage des rechten Glaubens ist im Werk Giannones darüber hinaus insofern von Bedeutung, als zahlreiche Gegner der römischen Kurie, die aus politischen Ursachen mit den Päpsten in Konflikt geraten waren, von diesen zu Häretikern gestempelt wurden, wie etwa Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen und zahlreiche andere süditalienische Fürsten.25 Im Folgenden konzentriere ich mich auf Giannones Darstellung derjenigen Personen und Bewegungen, die in der historischen Realität ein eigenständiges religiöses Anliegen hatten. In den Textpassagen über die – aus römisch-katholischer Sicht – häretischen Strömungen fallen mehrere Aspekte auf: Erstens thematisiert Giannone die religiösen Anliegen der heterodoxen Glaubensgemeinschaften nur am Rande. Seine Interessen gelten, entsprechend dem Titel seines Werks, primär der politischen Geschichte sowie der Rechtshistorie. In vielen Fällen finden sich gar keine Bemerkungen zu den theologischen Beweggründen der nichtkatholischen Christen. Lediglich in einigen Textpassagen, wie etwa bei der Darstellung der Waldenser und der Reformation, skizziert Giannone wenigstens die Motive der 23 24
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Zur Diskussion um den Plagiarismus Giannones, an der sich u. a. Persönlichkeiten wie Benedetto Croce und Giovanni Gentile beteiligten, vgl. zusammenfassend Vigezzi 1961, 27–45. Vgl. Giannone 1723, Buch 2, Kapitel 8; Buch 3, Kapitel 6; Buch 4, Kapitel 10, Abschnitt 3,und Kapitel 13, Einleitung; Buch 5, Einleitung, Abschnitte 2, 4; Buch 15, Kapitel 3 und 4; Buch 16, Einleitung; Buch 19, Kapitel 5, Abschnitte 4 und 5; Buch 32, Kapitel 5. Vgl. auch die Erwähnung Tommaso Campanellas in Buch 35, Kapitel 1. Vgl. Giannone 1723, Buch 7, Kapitel 1; Buch 10, Einleitung; Buch 16, Kapitel 6 und 7, Kapitel 8, Abschnitt 1; Buch 17, Kapitel 1 und 2; Buch 22, Kapitel 2; Buch 19, Einleitung und Kapitel 4, Abschnitt 1; Buch 24, Kapitel 7; Buch 33, Kapitel 4 (Bulle „In coena domini“, 1567). Zur Rezeption Friedrichs II. in Italien um 1700 vgl. bes. Fonseca 1985; Ascione 1993; delle Donne 2008. Allgemeiner Hintergrund: Thomsen 2005.
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religiösen Bewegungen.26 Diese Ausführungen sind jedoch durchweg äußerst oberflächlich und lassen zudem dogmatische Ungenauigkeiten bzw. terminologische Unschärfen erkennen.27 Zweitens fällt Giannone über die heterodoxen Glaubensgemeinschaften durchgehend negative, ja zumeist vernichtende Urteile. Theologische Positionen, die von der römisch-katholischen Lehrauffassung abweichen und mit denen er sich, wie erwähnt, kaum auseinandersetzt, charakterisiert der neapolitanische Advokat in der Istoria civile ausnahmslos und in pauschaler Weise als „häretisch“. Die wenigen Bemerkungen, die den religiösen Anliegen der verschiedenen heterodoxen Gruppierungen gewidmet sind, verfolgen stets eine herabwürdigende, diffamatorische Absicht. Am deutlichsten wird dies bei Giannones Darstellung der Reformation des 16. Jahrhunderts. Diese bezeichnet der Neapolitaner Historiker unter anderem als „follia“ und „pestifero veleno“; gleichzeitig behauptet er, die Reformation habe bezüglich des Sakraments des Abendmahls geradezu „diaboliche invenzioni“ verbreitet.28 Wiederholt setzt Giannone in seinem Geschichtswerk Häresien mit Tod bringenden Krankheiten gleich. Dieser Ablehnung und Diffamierung heterodoxer Strömungen in der Istoria civile entspricht keine positive Sicht der katholischen Kirche. Im Gegenteil: In Textpassagen, in denen es Giannone nicht um die Abgrenzung des Katholizismus von heterodoxen Gruppierungen geht, rückt er die historische Entwicklung der Papstkirche und ihrer Lehre zumeist ebenfalls in ein sehr negatives Licht und spart nicht mit Kritik an der Kirchenleitung.29 So verurteilt Giannone durchgehend die Verweltlichung, die Machtbesessenheit und den Materialismus von Kurie und Klerus. Der jurisdiktionalistischen Doktrin folgend, nimmt er gegen die kirchlichen Eingriffe in staatliche Kompetenzbereiche Stellung. Der Neapolitaner Gelehrte wendet sich jedoch auch gegen die Veräußerlichung der Religion sowie – durchaus zeittypisch – gegen verschiedene katholische Riten und Glaubenspraktiken, wie zum Beispiel die Lesung von Totenmessen und die häufige Durchführung von Wallfahrten.30 Im Sinn der eingangs zitierten Textpassage von Bertelli ließe sich diese Positionierung Giannones als Versuch interpretieren, sich selbst als Repräsentant eines imaginären „wahren“, jedoch historisch nicht in die Realität umgesetzten Katholizismus zu inszenieren. Drittens äußert sich Giannone an mehreren Stellen der Istoria civile zu den Gründen für das Auftreten heterodoxer Gruppierungen. Seine Erklärungen zielen darauf ab, das 26 27 28 29
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Giannone 1723, Buch 19, Kapitel 5, Abschnitt 5. Vgl. z. B. die Gleichsetzung der Albigenser und der Waldenser (Giannone 1723, Buch 32, Kapitel 5, Abschnitt 2). Giannone 1723, Buch 32, Kapitel 5, Abschnitt 1. Die grundsätzliche, vor allem in den Kapiteln über die „Polizia ecclesiastica“ erhobene Kritik an Papsttum und Kirche, weicht in der Istoria civile nur selten einem positivem Urteil; vgl. z. B. das Lob Giannones für Papst Gregor VII. (Giannone 1723, Buch 10, Kapitel 6) sowie für die wissenschaftliche Tätigkeit der Mönche von Monte Cassino (Giannone 1723, Buch 10, Kapitel 11, Abschnitt 2). Vgl. bes. Giannone 1723, Buch 5, Kapitel 6, Abschnitt 2.
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religiöse Anliegen der nichtkatholischen Christen zu bagatellisieren und stattdessen die politischen bzw. kirchenpolitischen Hintergründe religionshistorischer Entwicklungen herauszustellen. So verweist Giannone auf die Defizite der katholischen Kirche, vor allem ihre Verweltlichung, und führt damit ein Motiv an, das auf seiner bereits erwähnten kirchenkritischen Argumentationslinie liegt. Im 5. Kapitel des 19. Buches, in dem der Neapolitaner Historiker das Aufkommen der Waldenser erörtert, setzt er die Entstehung von Häresien explizit mit machtpolitischen Bestrebungen der römischen Kurie in Beziehung. Giannone skizziert in diesem Kapitel die theologischen Auffassungen der als häretisch eingestuften Waldenser und stellt dabei Ähnlichkeiten mit den Lehren der Franziskaner fest, die von Papst Innozenz III. anerkannt und gefördert worden waren. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden religiösen Gruppen bestand jedoch nach Giannone darin, dass sich die Waldenser im Gegensatz zu den Franziskanern nicht in die kirchliche Hierarchie einfügten. Dies war nach Auffassung des Neapolitaner Gelehrten der maßgebliche Grund für ihren Ausschluss aus der katholischen Kirche. Nach ihrer Exkommunikation hätten die Waldenser allerdings zahlreiche, in der Istoria civile nicht näher bestimmte „superstizioni“ vertreten.31 Eine völlig andere Erklärung für die Entstehung heterodoxer Gruppen liefert Giannone im 15. Buch seines Werks. Hier bindet er religiöse Entwicklungen in einen aus seiner Sicht übergeordneten politischen Bezugsrahmen ein, indem er versucht, das verstärkte Auftreten von heterodoxen Bewegungen in der Zeit nach dem Jahr 1100 n. Chr. auf die zunehmenden Konflikte zwischen Kaisertum und Papsttum zurückzuführen. Er schreibt: Dopo il mille, e cento, per le continue dissensioni, e contrasti, che per cinquanta anni innanzi erano stati tra li Pontefici e gl’Imperadori, e per quelli che durarono tutto il secolo seguente sino al mille, e ducento, con frequenti guerre, e scandali, e poco religiosa vita degli Ecclesiastici, nacquero innumerabili eretici, l’eresie de’ quali più comuni erano contro l’autorità Ecclesiastica […].32
Insgesamt wird man die Darstellung heterodoxer religiöser Persönlichkeiten, Bewegungen und Organisationen in der Istoria civile als überaus eigenwillig bezeichnen müssen. Giannone, der auf theologische Fragen kaum eingeht, stellt sich in seinem 31 32
Giannone 1723, Buch 19, Kapitel 5, Abschnitt 5. Giannone 1723, Buch 15, Kapitel 4 (Bd. 2, 364). Vgl. hierzu auch die Introduzione: „[…] onde preser motivo alcuni valentuomini di travagliarsi per riducere queste due Potenze [chiesa e stato; W.M.] ad una perfetta armonia, e corrispondenza, e comunicarsi vicendevolmente la loro virtù, ed energia; essendosi per lunga sperienza conosciuto, che se l’Imperio soccorre con le sue forze al Sacerdozio per mantenere L’onor di Dio; ed in Sacerdozio scambievolmente stringe ed unisce l’affezion del Popolo all’ubbidienza del Principe, tutto lo Stato sarà florido, e felice; ma per contrario, se queste due Potenze sono discordanti fra loro, come se il Sacerdozio, oltrepassando i confini del suo potere spirituale, intraprendesse sopra l’Imperio e Governo Politico, ovvero se l’Imperio rivolgendo contra Dio quella forza, che gli ha messa tra le mani, volesse attentare sopra il Sacerdozio, tutto va in confusione, ed in ruina […]“; daneben Buch 1, Kapitel 11, Einleitung (fast wortgleiche Formulierungen sowie Rückführung der beiden Gewalten auf Gott).
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Geschichtswerk augenscheinlich auf die Grundlage eines Katholizismus, der mit dem historisch realisierten nicht identisch ist. Er interpretiert aus dieser Perspektive religiösen Pluralismus als Resultat geschichtlicher Fehlentwicklungen. Heterodoxie wird durch Missstände in der katholischen Kirche, vor allem die Verweltlichung des Klerus, oder durch Störungen im Zusammenwirken von geistlicher und weltlicher Macht, also einem Ordnungsdefizit, erzeugt. Sie hat Giannone zufolge keine eigenständige historische Wurzel und auch keine Legitimität. Giannones Religionskonzeption ist nicht überzeugend. Als problematisch erscheint zum einen seine spezifische Sichtweise des Religiösen, das auf innerweltliche, vor allem politische und juristische Zusammenhänge reduziert wird. Zum anderen befremdet Giannones vom eigenen historischen Befund abgelöste, engagierte Verteidigung der katholischen Kirche gegen heterodoxe Bewegungen. In der Istoria civile stehen sich ein positives und ein negatives Bild des Katholizismus unvermittelt gegenüber. Die religiöse Substanz der von Giannone verteidigten katholischen Kirche wird kaum sichtbar hinter der kontinuierlichen und vehementen Kritik, die der Neapolitaner an der realen Kirche übt. Daher wirkt Giannones Haltung in den Textpassagen, in denen er kirchliche Alternativen zum Katholizismus thematisiert, unglaubwürdig. Die Argumentation in diesen Abschnitten stellt den kritischen Anspruch der Istoria civile insgesamt in Frage.
3. Staat und Religion Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Religion wird in der Istoria civile Pietro Giannones an verschiedenen Stellen aufgegriffen. Die interessanteste Textpassage stellt das 5. Kapitel im Buch 32 dar, in dem der süditalienische Gelehrte sich ausführlich mit der Geschichte der Inquisition im Königreich Neapel auseinandersetzt. Im Kontext dieses Aufsatzes sind vor allem zwei Fragen an Giannones Geschichtswerk zu richten. Erstens: Wie bewertet der Neapolitaner Historiker religiöse Vielfalt in einem staatlichen Gemeinwesen? Und zweitens: Welche Methoden des staatlichen bzw. kirchlichen Umgangs mit religiösen Minderheiten erachtet er als legitim?
3.1 Ein Staat, eine Religion? Zur ersten Frage sind in der Istoria civile mehrere, zumeist indirekte Aussagen überliefert. Wichtige Positionsbestimmungen finden sich im erwähnten 5. Kapitel des 32. Buches. In seinen Ausführungen über die Geschichte der Inquisition kommt Giannone auf Waldensergemeinden zu sprechen, die seit dem 13. Jahrhundert in Kalabrien existierten.33 Diese Gemeinschaften beschreibt er als im Spätmittelalter ins33
Giannone 1723, Buch 32, Kapitel 5, Abschnitt 2.
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gesamt gering an Zahl und von schwachem intellektuellem Profil. Zudem hält er fest, dass bei den Waldensern bis zum 16. Jahrhundert kein größerer missionarischer Eifer vorhanden gewesen sei. Giannone gelangt daher zunächst zu der Auffassung, dass diese Gemeinden für den neapolitanischen Staat unproblematisch gewesen seien, da sie kein destabilisierendes Element dargestellt hätten.34 Diese Einschätzung im Hinblick auf die heterodoxen Gruppierungen ändert sich, als Giannone die Entwicklungen im Reformationszeitalter schildert. Im 16. Jahrhundert hatten die waldensischen Gemeinden Kontakt mit reformierten Theologen aufgenommen. Nun erkennt Giannone in den heterodoxen Gemeinschaften eine Gefahr, und zwar in erster Linie für den Staat, nicht für die Kirche. Die um 1560 einsetzenden katholischen Bekehrungsversuche der Waldenser sowie – nach deren Scheitern – die anschließende, gemäß Giannones Darstellung aus Staatsräson, nicht aus religiösen Gründen begonnene Verfolgung und Vernichtung der Minderheit mit militärischen Mitteln hält der Neapolitaner Jurist für gerechtfertigt. Diese Episode lässt Giannones grundsätzliche Position deutlich werden: Die Vorstellung des Neapolitaners vom modernen Staat ist jenseits des konfessionell homogenen Gemeinwesens zu verorten, wie es im ausgehenden 16. Jahrhundert unter anderem Justus Lipsius propagiert hatte. Religiöse Pluralität ist in seiner Konzeption möglich, jedoch nur dann, wenn die Glaubensminderheit in einer gesellschaftlichen Randposition verbleibt und gleichzeitig die öffentliche Ordnung nicht in Frage gestellt wird. Sehr vieles spricht für die Annahme, dass Giannones Ausführungen über die kalabresischen Waldensergemeinden – und vermutlich auch seine prinzipielle Haltung zur Stellung von religiösen Minderheiten in einem Staat – maßgeblich von dem französischen Juristen und Politologen Jean Bodin inspiriert wurden. Mit der Lehre des französischen Staatstheoretikers setzte sich der Neapolitaner an zahlreichen Stellen seines Geschichtswerks auseinander. Bodin hatte im 7. Kapitel des 4. Buches von Les six livres de la République (1576) unterschieden zwischen unbedeutenden Minderheiten, die in einem Staatswesen leben, und größeren Gruppen und Parteien.35 Der Franzose hielt die Existenz von kleineren Gemeinschaften für unbedenklich, während einflussreiche Gruppierungen seiner Überzeugung nach stets eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellten und daher entschlossen zu bekämpfen seien. Giannones Schilderung über die Waldensergemeinden in Kalabrien scheint diese Ausführungen in einer leicht modifizierten und auf den religiösen Bereich fokussierten Form aufzugreifen. 34
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Giannone 1723, Buch 32, Kapitel 5, Abschnitt 2 (Bd. 4, 102–103): „Quivi, come in luoghi oscuri, e negletti, vissero lungamente non osservati, nè curati. Fù prima in loro tanta semplicità, ed ignoranza di buone lettere, che non vi era alcun timore, che potessero comunicar la loro dottrina ad altri: non era in alcuna considerazione il lor picciol numero; e mancando di qualunque erudizione, nè si curavano disseminar la loro dottrina, nè che altri fossero curiosi d’intenderla.“ Bodin 1583, Buch 4, Kapitel 7.
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Während es als sehr wahrscheinlich gelten kann, dass Giannone bei der Behandlung des Problems religiöser Minderheiten an Jean Bodins Gedankengänge in Les six livres de la République anknüpfte, findet sich in der Istoria civile keine ausdrückliche Bezugnahme auf bedeutsame religionspolitische Konzeptionen des 17. Jahrhunderts, deren Rezeption eigentlich nahe gelegen hätte. So geht Giannone nicht auf die Hobbessche Unterscheidung zwischen einer öffentlichen und einer privaten Glaubensausübung ein.36 Ebenso wenig nimmt er auf die weiter gehenden Konzeptionen Baruch de Spinozas Bezug, der im Tractatus theologico-politicus (1670) die Vorstellung einer Glaubensfreiheit entwickelt hatte.37 Nicht ganz deutlich wird in der Istoria civile die Haltung Giannones zu der Frage, ob in einem christlichen Gemeinwesen auch nichtchristliche Minderheiten, in Süditalien konkret Muslime und Juden, geduldet werden können. Der Neapolitaner polemisiert zwar kontinuierlich gegen die Sarazenen, die sich seit dem Mittelalter auf der italienischen Halbinsel und auf Sizilien niedergelassen haben, sowie gegen die seit dem 15. Jahrhundert für Italien zunehmend bedrohliche Politik des Osmanischen Reiches. Es bleibt jedoch offen, ob diese Angriffe ausschließlich dadurch motiviert sind, dass Giannone in den Mohammedanern eine Gefahr für das neapolitanische Königreich erblickte, oder ob nach seinem Verständnis auch eine marginale muslimische Minderheit in einem christlichen Staat nicht akzeptabel ist.38 Eine kleinere jüdische Minorität war Giannone offenbar bereit, in einem katholischen Gemeinwesen zu tolerieren.39 Ein gesellschaftlich-politisches Modell, das über die in der geschilderten Textpassage des 32. Buches entwickelten Konzeptionen hinausgeht, eröffnet Giannone im 2. Kapitel des 3. Buches. Hier feiert er im Anschluss an Machiavelli und Grotius die integrierende Religionspolitik des ostgotischen Königs Theoderich zu Beginn des 6. Jahrhunderts.40 Theoderich, selbst Arianer, hatte sich während der Zeit seiner Herr36
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Hobbes 1651, Teil 2, Kapitel 31, 189: „Again, there is a Publique, and a Private Worship. Publique, is the Worship that a common-wealth performeth, as one Person. Private, is that which a Private person exhibiteth. Publique, in respect of the whole Common-wealth, is Free; but in respect of Particular men it is not so. Private, is in secret Free; but in the sight of the multitude, it is never without some Restraint, either from the Lawes, or from the Opinion of men; which is contrary to the nature of Liberty.“ (Hervorhebungen im Original, W. M.) Zur Frage des staatlichen Umgangs mit Heterodoxie vgl. bes. Teil 3, Kapitel 42. Spinoza (1670), Kapitel 19. Vgl. Gong 2006, bes. 57–87. Vgl. Giannone 1723, Buch 16, Kapitel 2, Abschnitt 1 (differenzierte Bewertung der Ansiedlung von Sarazenen in Süditalien). Giannone rechtfertigt die Vertreibung der Juden aus dem Königreich Neapel durch Vizekönig Toledo im Jahr 1540 mit dem Verweis auf das starke Anwachsen der jüdischen Gemeinde; vgl. Giannone 1723, Buch 32, Kapitel 4, Abschnitt 1. Giannone 1723, Buch 3, Kapitel 2, Abschnitt 6 (Bd. 1, 182). Vgl. bes. folgende Textpassage: „E fu singular pietà de’ Goti e di Teodorico precisamente d’astenersi da ogni violenza co‘ suoi sudditi intorno alla religione; né perché essi eran de’ dogmi arriani aspersi, proibiva perciò a’ suoi popoli di confessar la fede del gran concilio di Nicea; anzi Teodorico, in tutto il tempo che resse l’Italia e queste nostre province, non pure lasciò inviolata ed intatta la religione cattolica a’ suoi sudditi, ma
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schaft um einen Ausgleich mit den in seinem Herrschaftsgebiet lebenden Katholiken bemüht. In der Istoria civile erscheint die Regierungszeit Theoderichs auch aufgrund dieser Religionspolitik, die – in Giannones Sicht – ein unproblematisches Nebeneinander von zwei Konfessionen zur Folge hatte, als goldenes Zeitalter. Unklar ist allerdings die Valenz dieses von Giannone entworfenen Modells. Angesichts der Tatsache, dass sich der Neapolitaner in der Istoria civile ungeachtet seiner konkreten Kirchenkritik kontinuierlich als orthodoxer Katholik inszeniert, erscheint fraglich, ob Giannone eine tolerante Religionspolitik auch befürwortet hätte, wenn deren Nutznießer nicht wie im frühen 6. Jahrhundert die Katholiken, sondern „heterodoxe“ Christen gewesen wären. Seine negative Bewertung des im 7. Jahrhundert regierenden Langobardenkönigs Rothari lässt das Gegenteil vermuten.41 Rothari hatte sich nach Giannone in die Religionsangelegenheiten seiner katholischen und arianischen Untertanen kaum eingemischt und daher faktisch den Arianismus gefördert.
3.2 Verfolgung oder Toleranz von religiösen Minderheiten? Welchen staatlichen bzw. kirchlichen Umgang mit religiösen Minderheiten erachtet Giannone für angemessen? Diese Frage stellt sich für den Neapolitaner Historiker vor allem, wenn Minoritäten einen großen Anteil an der Bevölkerung eines staatlichen Gebildes stellen oder wenn sie aus ihrer politischen oder gesellschaftlichen Randposition ausbrechen und ihre religiöse Überzeugung verbreiten möchten. Hält Giannone in bestimmten Fällen den Einsatz von Gewalt gegen Glaubensgemeinschaften für gerechtfertigt? Falls ja, welche Kriterien benennt er für den legitimen Gewalteinsatz? Bei der Diskussion dieser Fragen bezieht Giannone in der Istoria civile eine schillernde und letztlich problematische Position. Zwei Argumentationsstränge sind erkennbar: Auf der einen Seite billigt Giannone staatlichen Regierungen grundsätzlich das Recht zu, gewaltsam gegen religiöse Minoritäten vorzugehen. Der Neapolitaner lehnt in seinem Geschichtswerk die Meinung Jean Bodins explizit ab, der sich in Les six livres de la République gegen zwangsweise Bekehrung Andersgläubiger durch regierende Fürsten ausgesprochen hatte.42 Er verteidigt in diesem Sinn beispielsweise die Strafverfolgung von Häretikern im Mittelalter durch Kaiser Friedrich II., auch wenn er die Härte der vom Kaiser verhängten Strafen als unangemessen erachtet.43 Im bereits
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si permetteva ancor a’ Goti stessi, se volessero dall’arrianesimo passare alla fede di Nicea, che liberamente fosse a lor lecito di farlo.“ Giannone 1723, Buch 4, Kapitel 8. Giannone 1723, Buch 4, Kapitel 8. Bodin 1583, Buch 4, Kapitel 7. Giannone 1723, Buch 15, Kapitel 4; Buch 16, Einleitung, Kapitel 8, Einleitung; Buch 17, Kapitel 4 (Bd. 2, 454–455, Kritik an Friedrich II.): „[…] i modi però che prescrisse di procedere contro gli Eretici, e le pene, ed i mezzi per iscovrirgli, furono troppo diligenti, e rigorosi. Egli fu il primo, che generalmente gli condennò a pena di morte […]“; Buch 19, Kapitel 5, Abschnitt 4.
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geschilderten Fall der kalabresischen Waldensergemeinden hielt Giannone gar den Einsatz militärischer Mittel gegen die heterodoxen Gemeinschaften für gerechtfertigt. Problematisch ist grundsätzlich, dass der Süditaliener in seinem Geschichtswerk keine klaren Kriterien für die staatliche Gewaltanwendung nennt. Giannone beruft sich lediglich allgemein auf die Sicherheit eines Staatswesens bzw. die Integrität einer Gesellschaft. Dies hat zur Folge, dass kaum objektiv zu bestimmende Aspekte wie die gesellschaftlich-politische Relevanz einer religiösen Minderheit zu entscheidenden Gesichtspunkten für die Gewaltlegitimation werden. Giannones Position eröffnet durch die mangelnde Präzisierung, wann staatliche Gewaltanwendung zu verwerfen und wann sie zu gestatten bzw. zu fordern ist, erheblichen Spielraum für den Missbrauch staatlicher Macht. Der Argumentationsstrang der Istoria civile, der auf eine Bejahung von Gewaltanwendung gegen religiöse Minderheiten abzielt, wird dadurch relativiert, dass sich der Neapolitaner Gelehrte an mehreren Stellen seines Geschichtswerks klar gegen bestimmte Formen der Gewaltanwendung ausspricht. Grundsätzlich keine Befugnisse zur strafrechtlichen Verfolgung von Heterodoxen billigt Giannone der Kirche zu. Darüber hinaus lehnt er die Praktiken der staatlichen Inquisition vehement ab.44 Giannone begreift die Ketzerinquisition insgesamt als eine Pervertierung der ursprünglichen, von Kaiser Friedrich II. bereits mit sehr großer, wenn nicht übergroßer Konsequenz eingeleiteten Strafverfolgung von Häretikern. Zur Begründung seiner Position führt Giannone an, die Inquisition habe grundlegende Regeln des Prozessrechts nicht befolgt und sich vor allem seit dem 15. Jahrhundert vorrangig mit Delikten befasst, die nicht in ihr Aufgabengebiet fielen. Stärkste Kritik erfahren in diesem Zusammenhang die katholischen Könige Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien. Giannone schildert in der Istoria civile ausführlich die Gräueltaten der spanischen Inquisition gegenüber Moriscos und Conversos in den Jahrzehnten um 1500. Dem schließt sich ein detaillierter Bericht an über die verschiedenen, letztlich vergeblichen Versuche Roms bzw. der spanischen Vizekönige, Inquisitionstribunale dauerhaft im Königreich Neapel zu etablieren. Die Ablehnung der Inquisition durch die neapolitanische Bevölkerung erhält in der Darstellung Giannones symbolische Bedeutung für die Eigenständigkeit Neapels gegenüber Rom, aber auch gegenüber der spanischen Monarchie.
3.3 Traditionelle religionspolitische Positionen in der Istoria civile Würdigt man die Position Giannones zum Verhältnis von Staat und Religion im Kontext der frühneuzeitlichen politischen Theorie, so erscheint sie insgesamt als nicht innovativ. Der Neapolitaner hält, hier an die Schriften Jean Bodins aus dem aus44
Zum Folgenden vgl. Giannone 1723, Buch 32, Kapitel 5. Vgl. auch die Ablehnung der antiken Christenverfolgungen in Buch 1, Kapitel 11, Abschnitt 2, sowie die Bemerkung zum Ende der Christenverfolgungen in Buch 2, Kapitel 5.
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gehenden 16. Jahrhundert anknüpfend, religiöse Vielfalt in einem Staatswesen für tolerierbar, wenn die konfessionelle Einheit nicht auf friedlichem Wege zu erreichen ist und die jeweilige Glaubensminderheit in einer gesellschaftlichen Randposition verbleibt. Ist die staatliche Integrität hingegen durch religiöse Entwicklungen bedroht, steht dem Souverän – im Unterschied zur Kirche – der Einsatz von Gewalt zu. Auf das von Spinoza propagierte Konzept der Glaubensfreiheit nimmt Giannone in der Istoria civile nicht Bezug. Giannones Befürwortung der Gewaltanwendung gegen Heterodoxe aufgrund von Erfordernissen der Staatsräson ist aus zwei Gründen problematisch: Erstens bestimmt der neapolitanische Gelehrte, darauf wurde bereits hingewiesen, keine klaren, objektiv nachvollziehbaren Kriterien für ein legitimes staatliches Vorgehen gegen religiöse Minderheiten. Zweitens äußert sich Giannone nicht eindeutig zu den möglichen Formen des Gewalteinsatzes. Wenig überzeugend ist seine Position, die Vernichtung von Glaubensminoritäten durch Krieg und Vertreibung – wie im Fall der kalabresischen Waldenser – gutzuheißen, bei der strafrechtlichen Verfolgung von heterodoxen Gemeinschaften jedoch die Einhaltung von prozessrechtlichen Standards anzumahnen.
4. Ein heterodoxer Orthodoxer? Pietro Giannones Istoria civile del Regno di Napoli zwischen Kohärenz und Divergenz Die bisherigen Analysen haben gezeigt, dass sich die religiösen Vorstellungen und die religionspolitischen Konzeptionen, die Pietro Giannone in der Istoria civile vertritt, nicht zu einem kohärenten Bild fügen. Als ein zentrales Problem der Darstellung erscheint die inkonsequente Bewertung der katholischen Kirche. Giannones zur Schau getragene Verteidigung des Katholizismus gegen heterodoxe Bewegungen wirkt unglaubwürdig angesichts der vom Neapolitaner Historiker kontinuierlich und harsch vorgetragenen Kritik an der historischen Entwicklung der Kirche. Doch sind die Aussagen Giannones zu den Themen Religion und Kirche über dieses Grundproblem hinaus von Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten geprägt. Bereits explizit hingewiesen wurde auf die zweideutige Haltung des Neapolitaners zur staatlichen Gewaltanwendung gegen heterodoxe Glaubensgemeinschaften: Während Giannone auf der einen Seite die Verfolgung religiöser Minderheiten durch Krieg und Vertreibung rechtfertigt, mahnt er in Strafverfahren, die aus Glaubensgründen geführt werden, die Einhaltung des „processus ordinarius“ an. Auch der politikwissenschaftlich verengte Religionsbegriff Giannones führt zu argumentativen Ungenauigkeiten. Wenig durchdacht wirkt beispielsweise das durchgängig feststellbare Verfahren, heterodoxe Gruppierungen aufgrund ihrer Glaubensüberzeugungen zu verurteilen, jedoch gleichzeitig ihre religiösen
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Anliegen zu bagatellisieren und ihr historisches Auftreten im Kern auf ein Problem der öffentlichen Sicherheit zu reduzieren. Giannone versucht in seinem Geschichtswerk nur sehr selten, die bestehenden Unklarheiten und Divergenzen aufzulösen oder zumindest seine spezifische Positionierung zu einzelnen historischen Entwicklungen oder Phänomenen näher zu begründen. In den wenigen Fällen, in denen der Neapolitaner Gelehrte seine Haltung eingehender darlegt, sind seine Ausführungen zumeist wenig überzeugend, wie etwa im Hinblick auf die staatliche Gewaltanwendung gegen heterodoxe Glaubensgemeinschaften. Für die zentrale Schwierigkeit seiner Religionskonzeption, die unglaubwürdige Rechtfertigung der katholischen Kirche, liefert Giannone keine Erklärung. Wie sind diese argumentativen Spannungen in der Istoria civile zu erklären? Welche Beweggründe können aus heutiger Perspektive für die spezifische Darstellungsweise Giannones ins Feld geführt werden? Auf der Basis des aktuellen Kenntnisstandes bieten sich in erster Linie drei Deutungsansätze an. Denkbar ist erstens, dass die offensichtlichen Brüche in Konzeption und Ausführung der Istoria civile der spezifischen historischen Methode Giannones geschuldet sind. Diskussionen um die Bedeutung Giannones als Historiker, über eventuelle Mitarbeiter an seinem Geschichtswerk sowie über die Frage, inwieweit der Text des Neapolitaners ein stringentes Gedankengebäude repräsentiert, wurden in der Vergangenheit kontinuierlich geführt.45 Der derzeitige Forschungsstand, der Giannone mehrheitlich einen souveränen Umgang mit den von ihm verwendeten Quellen und eine überzeugende Gedankenführung in seinem Werk attestiert, ist nach Ansicht des Verfassers vor dem Hintergrund inhaltlicher Analysen wie der vorliegenden kritisch zu überprüfen.46 Eine weitere Erklärungsmöglichkeit könnte zweitens von den Darstellungsabsichten Giannones ausgehen. Der bisherige Stand der Forschung lässt wie auch die Analyse dieses Aufsatzes keinen Zweifel daran, dass der Neapolitaner bei der Niederschrift seines Geschichtswerks mehrere Ziele verfolgte. Die verschiedenen Intentionen Giannones konnten sich dabei in der konkreten historiografischen Repräsentation vergangener Ereignisse wechselseitig decken oder auch in Konflikt miteinander treten. Nicht ausgeschlossen scheint es daher, dass die konstatierten Brüche in der Argumentation Giannones mitunter auf Zielkonflikte des Autors bei der Niederschrift seines Werks hinweisen. Beispielsweise wäre denkbar, dass die engagierte Ablehnung der neuzeitlichen Inquisition nicht in erster Linie durch die religionspolitischen Überzeugungen des süditalienischen Gelehrten begründet ist. Bei der Konzeption des Kapitels über die Inquisition im 32. Buch stand für Giannone möglicherweise die Absicht im Vordergrund, die Unabhängigkeit des Königreichs Neapel gegenüber dem Heiligen Stuhl, aber auch gegenüber dem spanischen Königshof und seinen Repräsentanten herauszustellen. Diesem – primären – Anliegen hat der Autor der Istoria civile 45 46
Vgl. Anm. 18. Zur Frage der Autorschaft vgl. Bertelli 1971c, 351. Vgl. bes. Fiorentino 1964, 532–533; Ricuperati 1970, 143–229.
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unter Umständen die Kohärenz seiner religionspolitischen Überlegungen bis zu einem gewissen Grad geopfert. Drittens besteht ein Erklärungsansatz darin, Giannones Werk vor dem Hintergrund der spezifischen Schreib- und Publikationsbedingungen in Neapel zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu beleuchten.47 Möglich wäre, dass den Neapolitaner Gelehrten bei der Darstellung der katholischen Kirche bzw. bei der Beurteilung heterodoxer Glaubensüberzeugungen auch taktische Überlegungen geleitet haben. Giannone musste in Neapel realistischerweise mit Opposition, vor allem mit kirchlichem Widerstand gegen sein Geschichtswerk rechnen. Als junger Student der Jurisprudenz hatte er noch den Inquisitionsprozess miterlebt, der in der Metropole am Vesuv zwischen 1688 und 1697 gegen Anhänger der modernen Naturwissenschaft bzw. des Cartesianismus geführt worden war.48 Befürchtungen, vom Klerus attackiert zu werden, könnten Giannone daher veranlasst haben, in seinem Geschichtswerk zu dissimulieren, sich also ungeachtet (zumindest partiell) heterodoxer Glaubensüberzeugungen als Anhänger eines orthodoxen Katholizismus zu inszenieren. Die drei vorgestellten Erklärungsansätze schließen einander nicht aus. Auf der Basis des heutigen Forschungsstandes ist es nicht möglich, abschließend zu beurteilen, welche Interpretation die Brüche in den religiösen Vorstellungen und in den religionspolitischen Konzeptionen Giannones in der Istoria civile am überzeugendsten zu erklären vermag. Zwar lässt sich mit guten Gründen vermuten, dass den Schreib- und Publikationsbedingungen in Neapel eine hohe Bedeutung zukommt. Doch vor einer endgültigen Beurteilung gilt es zu prüfen, inwieweit argumentative Spannungen und Widersprüche auch diejenigen Textpassagen in der Istoria civile del Regno di Napoli charakterisieren, die in der Öffentlichkeit Neapels um 1720 weniger konfliktträchtig und damit auch für den Autor Giannone weniger gefahrvoll gewesen sind. Ungeachtet der zahlreichen, bereits vorliegenden Arbeiten scheint eine Gesamtinterpretation des monumentalen Geschichtswerks Giannones mit modernen methodischem Instrumentarium ebenso notwendig wie viel versprechend.
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Vgl. zusammenfassend Stone 1997; Rao 1998. Osbat 1974; Osbat 1980. Zum Hintergrund vgl. De Maio 1971. Giannone geht in der Istoria civile auf den Prozess nur kurz ein; vgl. Giannone 1723, Buch 32, Kapitel V, Abschnitt 3. Zu den Giannone von Seiten der Kirche drohenden Gefahren vgl. die in Anm. 14 genannten Titel sowie Galasso 1989, 328.
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JEAN-PIERRE CAVAILLÉ
The Italian Atheist Academics: A Myth of the French Pre-Enlightenment?
‘Hieronimus Borro, professor of philosophy in Pisa, was much beloved of the Grand Duke; he was a perfect Atheist, he was not burned, but he really deserved to have been; he once said that supra octavam sphœram nihil est. The Inquisitor wanted to force him to retract: he ascended the chair the next day, and told his audience: ¶Gentlemen, I’ve maintained and proved that supra octavam sphœram nihil est, they want me to recant; I assure you, if there is something else there, it can be only a dish of macaroni for Signore Inquisitor.· Quo dicto sese proripiens et fuga saluti suae consuluit. He would have been burned several times without [the help of] the Grand Duke who loved him, yet he died a fugitive.’1
This delightful anecdote from the Naudaeana (1703) concerns a famous professor at the University of Pisa, who died in 1592, Girolamo Borri. During the course of his career, he encountered very serious difficulties with the Inquisition.2 The historical reliability of this anecdote is highly questionable, but it perfectly expresses the perception that a very well informed French scholar could have in the years 1620–1640 of a large part of the Aristotelian tradition of study in Italy. This presentation aims mainly to challenge a thesis frequently admitted in scientific literature. This thesis asserts that the reputation of irreligion and atheism with Italian scholars and academics is a late production, an a posteriori representation of the professors of Padua and other Italian universities forged by French minds of the preenlightenment. The main proponent of this thesis is undoubtedly Oskar Kristeller in a famous article entitled “The myth of Renaissance Atheism and the French Tradition of 1
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“Hieronimus Borro, professeur de Philosophie à Pise, étoit fort chéri du Grand Duc; c’étoit un Athée parfait, il n’a pas été brûlé, mais il le méritoit bien; il avoit dit un jour, que supra octavam sphœram nihil est. L’Inquisiteur le voulut obliger de se dédire: il monta en chaire le lendemain, et dit a ses Auditeurs, Messieurs, je vous ai maintenu et prouvé, que supra octavam sphœram nihil est, on veut que je me dédise; je vous assure, que s’il y a autre chose, ce ne peut être qu’un plat de macarons pour M. l’Inquisiteur. Quo dicto sese proripiens et fuga saluti suae consuluit. Il eut été brûlé plusieurs fois sans le Grand Duc qui l’aimoit; il est pourtant mort en fuite.” (Naudaeana et Patiniana 1703, 9). One can find quite the same text in the Ms. Vienna, 4. See in particular what Montaigne, who met him repeatedly during his stay in Italy, wrote about him. Montaigne 1992, 192–194; Montaigne 2004, 151. Cf. Stabile 1971, 13–17 and Spini 1950, 29–32.
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Free Thought”,3 in which, among other things, Kristeller calls into question the authenticity of the Naudeana and Patiniana published in 1701 and 1703, long after the death of Gabriel Naudé (1653) and Guy Patin (1672).4 Kristeller, however, knew very well that the texts contained in this printed collection (one of the first of the “ana”, which will meet with great success in the eighteenth century5), can be found in a series of manuscripts in Paris, Wiesbaden, Munich and Vienna (the Vienna one being closest to the printed collection, but it is not its direct source). These manuscripts are usually known as the ‘Patin papers’, others are known as the Borboniana, from the name of the humanist and Latin poet Nicolas Bourbon, close friend and mentor of Patin.6 The combined material served as the basis for a handwritten collection of cross-referenced notes.7 The whole has been scrupulously analyzed by René Pintard in his second thesis, which was known to Kristeller.8 These documents are extremely abundant notebooks written initially by the physician-scholar Guy Patin.9 Their historiographical relevance is very important, even though they remained largely unpublished, because they are one of the major sources exploited by René Pintard in his principal thesis Le libertinage érudit dans la première moitié du XVIIe siècle.10 Now, Kristeller, who concentrated mainly on the Naudeana, asserts in his article that Pintard “failed to prove that the collection as a whole is authentic in origin”. He added that the Naudé of the Naudeana is fundamentally alien to the Naudé we know elsewhere11 and he even suggests that the 3 4 5 6 7 8 9
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Kristeller 1968. Naudeana et Patiniana 1701; Naudaeana et Patiniana 1703 (completed by the “Additions au Naudaeana” by Antoine Lancelot). Wild 2001. The Borboniana were published by the Président Bouhier (who ignored that these texts were written by Patin) in 1751 and 1754, Naudaeana et Patiniana 1703, 58. Ms. Munich and Ms. Wiesbaden. Pintard 1943, 47 sq. See the letter to André Falconet from 1659, in which Patin talks about his “cahiers historiques et politiques dans lesquelles il y a bien des particularités” and which he names himself “Borboniana”, “Grotiana” and “Naudeana”, adding that: “ces manuscrits prennent les gens par le nez, et les empêchent de devenir de grands sots: cela me réjouit” (Patin 1846, 108²109 and 162). See in particular the very interesting preface, whose author can be only Patin himself, probably at the intention of his son Robert, contained in the copies preserved in Wiesbaden and Munich: “Tous ces Cahiers, que vous voyez icy, sont un Farrago, un Pot-pourri, et un Ramas, sans aucun ordre, de quantités de choses fort différentes, que j’ay apprises, et ay ouï dire, des uns et des autres” (Ms. Munich, 1). Pintard 1983. “Naudé himself has been suspected as a libertin, especially by Pintard, but his authentic writings do not reveal him as an atheist at all” (Kristeller 1968, 239; one can observe here a confusion between “libertine” and “atheist”). “The entire tone of the Naudeana is that of a writer who under a thin veil of caution seems to sympathize with libertinism and to cite the Italians as a precedent or alibi for his own attitude. I see no reason for attributing this same attitude to Naudé himself, let alone to the Italians of whom the stories are told. The work reflects in its extant form the spirit of the eighteenth century” (ebd., 241).
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link proposed by Pintard between the Naudeana and Guy Patin is weak and insufficient, while conceding that Pintard “has undoubtedly proved that some of the fragments are authentic and probably derive from Patin”.12 Kristeller based his criticism on the fact that the manuscripts we have were handwritten during the early eighteenth century, but this seems not to be the case, at least, with the two which are more complete, conserved in Paris and Vienna, which he clamed to have seen.13 The Vienna manuscript is for my purposes the more important, because it’s the only one which presents, in the same ensemble, the accounts of Naudé on Italy and its irreligious professors. Now, if Kristeller had actually examined the manuscript, he should have admitted the whole reliability of the analysis presented by Pintard, who shows among other things that the first part of the manuscript containing the text then replicated in the Naudeana but also in the Patiniana,14 is carefully dated and introduced by an author who can only be Guy Patin himself. The texts indeed are preceded by the following note: ‘Mr. Naudé who has been in Italy for twelve years finally returned to Paris in the year 1642, having come to see me on March 12th, and 19th, he told me what follows.’15 Then, on page 75, ‘Mr Naudé came back from his trip to Italy on Saturday 20th March 1646 where he had gone a year ago to fetch the books of his patron the Cardinal de Mazarin and even his own books left behind on his last trip in 1642. Since his last return he has told me what follows.’16 Most of the information and anecdotes of all kinds about Italian intellectual life and many other subjects in the manuscript are given in the first person singular, an ‘I’, which can almost always be attributed with certainty to Naudé and not to Patin 12 13
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Kristeller 1968, 240. Ms. Paris and Ms. Vienna; two manuscripts with a widely different and complementary content (they could represent two successive periods of notes taken by Patin, December 1637–March 1638 for the first and the subsequent years, until the period of the Fronde, for the second). Pintard first showed it had been copied by Hugues de Salins, the younger, a doctor of medicine in Beaume, and probably dates from the second half of the seventeenth century, like the second (which Pintard considers to be “du milieu du XVIIe siècle”). The manuscripts in Munich and Wiesbaden, almost identical in content, are composed of numerous items, partially drawn from the notebooks written previously which were copied in the two manuscripts mentioned above, they provide both the place and the date of their constitution: “Pariis, sub initium Anni 1664”. The Ms. Wiesbaden copy is dated 1706 and that of Munich, according to Pintard, who noted his rather archaic spelling, might be “soit le résultat immédiat de cette transcription ou une copie exécutée à un faible intervalle de temps” (Pintard 1943, 50–53). It should be noted that the manuscript(s) from which were drawn the printed Naudeana contain texts which are absent from the Vienna manuscript, which yet, very likely, come from Naudé himself. “Monsieur Naudé ayant été douze ans en Italie est enfin revenu à Paris l’an 1642, le 12 mars, et le 19 m’étant venu voir il m’a appris ce qui s’ensuit” (Ms. Vienna, 1). “Mr Naudé est revenu de son voyage d’Italie le samedi 20 de mars 1646 ou il était allé un an auparavant y querir les livres de son Patron le cardinal de Mazarin et ceux mêmes des siens qu’il y avait laissés en son dernier voyage de 1642. Depuis ce sien dernier retour il m’a dit ce qui s’ensuit” (Ms. Vienna, 75).
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(because the texts refer to Roman events or Italian meetings of the narrator), and an ‘I’ which then can be found in the printed Naudeana et Patiniana. We thus have, beyond any doubt, a first-hand source of Naudé’s own impressions of his three Italian periods of stay, gathered by Patin, who took notes of what his friend had told him, probably shortly after (if not during) these interviews.17 The text, I repeat, does not contain any inconsistency that might suggest a fake, even partial.18 It should further be noted that the entire manuscript, which is very abundant (374 pp. and index), contains other references, numerous enough, to the learned friends of Patin who have provided information, and to the occasions for these discussions (often dated). However, Patin seems to have added to his sources, information and judgments of his own, to a proportion sometimes difficult if not impossible to measure.19 These notes often refer to scholars – they are sometimes real biographical records somewhat in the mood of what would become Pierre Bayle’s Dictionnaire historique et critique20 – and, among these scholars, many academics, living or dead. We know that Naudé, in Italy, assiduously attended the academic circles: first in Padua, where he was registered as a student of law in 1626 and where he met many professors especially in medicine and philosophy21, then in Roma, where he lived from 1631, but also in other cities through written correspondence (Bologna, Pavia, Pisa, etc.). For all these reasons 17
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According to Godefroy Hermant, Patin “ne perdoit nulle occasion d’apprendre quelque chose de ses amis qui estoient des hommes de lettres, et il ne les abordoit guère qu’un billet à la main pour s’éclaircir avec eux de 5 ou 6 questions” (quoted by Pintard 1943, 55). For some passages however problems of date and source (the identification of the speaker is sometimes difficult) arise, as noted by the copyist in a margin about the evocation of an event dated 1643 (disgrace of Des Noyers): “Par la datte de cet Article il paroist que cecy n’est pas une suitte de ce que M.r Naudé luy dit a son retour d’Italie en 1642 comme il a dit au commencement de ce Manuscript. Ce qui se peut encore remarquer dans la suitte en beaucoup d’endroits tant par les dattes que par le stile. Cecy soit dit une fois pour toutes a l’esgard de tout ce manuscript qui est une rapsodie comme ie crois tant de ses propres pensées que de ce qu’il a ouy dire a plusieurs personnes qu’il enchevestre et brouille ensemble selon que cela luy vient en l’esprit, sans ordre et sans suitte.” As Pintard noted, this statement is grossly exaggerated, because very often Patin gives the names of his contacts and the dates of the meetings (Pintard 1943, 52). At least Patin's identity as the author of the texts can’t be in any case doubtful, and the copyist asserts rightly that the first 63 pages contain mainly if not exclusively “what Mr. Naude told him on his return to Italy in 1642”. It seems to me that Pintard is a little bit too confident when he writes: “c’est à un ami sincère, et dans l’intimité la plus sûre, que l’érudit a avoué ses curiosités et ses goûts; nulle malveillance n’a faussé la traduction de ses jugements; il ne semble pas que Guy Patin y ait, en général, mêlé les siens propres” (Pintard 1943, 59). It should obviously be noted that Bayle was involved in the edition of the text in 1703, which he wrote the “avertissement”, however, in those times, the dictionary was already published. See his reaction to the edition of 1701: “On m’a écrit de Paris qu’il y a dans le Naudeana des endroits si libertins qu’il y a de quoi s’étonner que les Reviseurs de Livres ayent consenti à publier cet ouvrage-là […]” (Bayle 1729, 840). Pintard 1983, 168 sq. See also Schino 1989.
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the statements attributed to Naudé in the Patin papers and in the Naudeana about the irreligion more or less strictly concealed of a part of the Italian professors should, I believe, be regarded as accurately reflecting the views of a French scholar of the first half of the seventeenth century in close contact with academic circles in Italy, and a man who spent many years in Italy. It is therefore an account, but which is not isolated – then one could argue that it could be primarily nothing more than a commonplace –, but this account cannot be ignored because it comes from one of the best informed French intellectuals on the Italian academic culture. We can even argue that Naudé was perhaps the greatest French expert of the Italian erudite and learned productions, in which he played a very important role as intermediary and translator.22 It can also be immediately answered to a legitimate objection by noting that it is not possible to say that the French scholar would abusively project his own libertine convictions on his Italian peers, because his judgments in this regard, such as they appear in the manuscripts, are often negative or at least very ambiguous. But this observation takes us, it has to be admitted, onto very slippery ground because, as we have seen, it is not Naudé, but Patin, who holds the pen and we can indeed observe that Naudé’s judgments and his positions on religious issues are strongly similar to what Patin himself wrote in his letters in his own name, where he shows a great hostility towards “bigots”, “monks” in general and Jesuits in particular, even towards the Church itself as a corrupt institution, and he shows interest in, even fascination for the most irreligious ideas, people and books, while condemning them and claiming, with a sincerity difficult to gauge, its support for the Catholic creed. But this relative confusion between the respective positions of the two characters, due to the fact that the author of the notes is Patin and not his interlocutor, does not affect the factual matter that interests me here: there is indeed no reason to doubt that Naudé, in the considerations attributed to him, is the main source of information on the irreligion of Italians in general and of numerous Italian academics in particular. Now, let us consider an excerpt from the Naudeana, to which Kristeller denies any historical validity and authenticity: ‘All professors of this country, but mainly those of Padua, are ‘gens déniaisées’ [people who know the ways of the world], especially as having reached the height of the science, they have to be disabused of vulgar errors of the age and well acquainted with the views of Aristotle’.23
This passage is not in the Vienna manuscript, but several extracts of the document develop the same ideas: ‘These great Italian philosophers are almost all atheists. They are always studying and penetrating, trying to penetrate the depths of human philosophy in all its subtleties without 22 23
See, in particular, the two books from Lorenzo Bianchi 1988 and Bianchi 1996. “Tous les professeurs de ce pays-là, mais principalement ceux de Padoue sont gens déniaisées, d’autant qu’étant parvenus au faîte de la science, ils doivent être détrompés des erreurs vulgaires des siècles et bien connaître l’opinion d’Aristote.” (Naudeana 1701, 57).
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Jean-Pierre Cavaillé inquiring into Christian religion or anything resembling it. Whosoever professes philosophy in 1° loco in Padua is usually or almost always Atheist, as were Cremonini, Zabarella, Pomponazzi, Castellanus, et alii’.24
This is a brutal and peremptory assertion: Italian philosophers, especially those of Padua, like Zabarella, Pomponazzi, Castellani and Cremonini are associated by Naudé with atheism. Moreover, Naudé not only possessed the works of these professors, as is demonstrated by the published catalogs of his personal libraries in Roma and Paris,25 but he had an intimate knowledge of them. He knew very well that, formally, all these authors protested their orthodoxy in their published writings, but he was also convinced that these books should be read contrary to their stated intentions: ‘Italy is full of libertines and atheists and people who believe in nothing, and yet the number of those who wrote about the immortality of the soul is almost infinite: but I think these writers believe no more than the others because it is a maxim which I hold very true, that the doubt they have is one of the prime reasons which force and lead them to write about it. Added to which all their writings are so weak that nobody can become better or more reassured because of them, but rather they are all likely to make people doubt everything.’26
In another excerpt from the manuscript, Naudé even goes so far as to compare these books supposedly dedicated to the demonstration of the immortality of the soul with the ‘dangerous MS. of Jean Bodin entitled Heptaplomeres’: ‘There are in Italy a few books whose authors are not much better than this Bodin. I mean all those who wrote de immortalitate animae in and according to the intention of Pomponazzi, such as Simon Portius,27 Julius Castellanus, a certain Franciosus in librum Aristotelis de divinatione per insomnia, cujus esse creditur Author Cremoninus’28 [‘whose author is believed to be Cremonini’, it’s actually a work of Girolamo Franzosi].29 The intention of Pompo-
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“Tous ces grands Philosophes Italiens sont presque tous Athées. Ce sont gens qui étudient toujours et qui pénètrent tâchent de pénétrer jusque dans le fond de la Philosophie humaine et toutes ses subtilités sans s’enquérir de la Religion chrétienne ni de chose qui en approche. Celui qui professe la Philosophie in 1o loco a Padoue est ordinairement voire presque toujours Athée, tels qu’on[t] été Cremonin, Zabarella, Pomponace, Castellanus [Giulio Castellani] et alij” (Ms. Vienna, 22–23). See Bianchi 1993, Bianchi 1996, 253 sq., Bœuf 2007. “L’Italie est pleine de libertins et d’Athées et gens qui ne croient rien, et néanmoins le nombre de ceux qui y ont écrit de l’immortalité de l’âme en est presque infini: mais je pense que ces Écrivains n’en croient pas plus que les autres car c’est une maxime que je tiens pour très vraie, que le doute qu’ils en ont est une des premières causes qui les oblige et qui les porte a en écrire. Joint que tous leurs écrits sont si faibles que personne n’en peut devenir meilleur ni plus assuré, mais plutôt ils sont tous propres a faire douter de tout.” (Ms. Vienna, 25.) I. e. Simone Porzio. Cf. particularly his commentary on Aristotle’s De Anima. “Il y a bien en Italie quelques livres dont les Auteurs ne valent guères mieux que ce Bodin. J’entends tous ceux qui ont écrit de immortalitate animae dans et selon l’intention qu’en a eu Pomponace, tels qu’ont été Simon Portius, Julius Castellanus, un certain Franciosus in librum Aristotelis de divinatione per insomnia, cujus autor creditur esse Cremoninus.” (Ms. Vienna, 47) Franzosi 1632.
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nazzi, for Naudé, who happily uses his writings (especially in his De Fato),30 is of course to make clear the mortality of the soul. Here is how he presents the man who is undoubtedly one of his favourite authors: ‘Petrus Pomponatius was a Professor of Philosophy in Padua in the time of Leo X. They wanted to try him and he was in great danger of being burned, but the Cardinal Pietro Bembo saved him. […] Pomponatius wrote two Apologies for his book, which were even worse than the book itself. I’ve never seen a philosopher who hasn’t praised Pomponazzi, though he wrote against him. It’s a sign that he was a good man. […] Nobody has accused his book of falsehood and could disprove its reasons. However monks, who have more interest than anybody in the matter, should do, because their lives are based on this article.’31
The claim that nobody has been able to refute Pomponazzi sounds like a kind of philosophical allegiance, even though, in other passages, Naudé seems to assert that if the metaphysical speculations of the Italians lead inevitably to atheism, he is for his part in favour of abandoning himself to a radical fideism: Italy is full of this sort of people who believe only in fortune. They extend their mind into the essence of things, and penetrate as far as possible, and having gone so far, failing to find God along the way, they do not believe in anything more. To find God in the mess that is the world today, one must have modesty and humility, we must submit to the spirit of the sacred mysteries of Christian religion, as once did the early Christians, Captivantes intellectum in obsequium fidei.32
Naudé’s own position, as I said before, is not easy to establish from these Patinian sources. But this is not, anyway, my point here; I’m interested primarily in the perception by these French scholars of the Italian academic circles. And I would now emphasize the fact that this perception is not only, nor primarily based on books. As is repeatedly indicated in the manuscript, Naudé draws his impressions and judgments from actual encounters with Italian scholars, who receive him at home, with whom he shared meals, and who eventually entrust him manuscripts to publish and of course,
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Naudé 1639. About the De Fato from Pomponazzi, see Pine 1999. “Petrus Pomponatius était un Professeur en Philosophie a Padoue du temps de Léon X. On lui voulait faire son procès et il fut en grand danger d’être brûlé, mais le Card.al Petrus Bembus le sauva. […] Pomponatius fit deux Apologies pour son livre, qui étaient pires encore que le livre même. Je n’ai jamais vu Philosophe qui n’ait loué Pomponace, combien qu’il écrivit contre lui. C’est signe que c’était un bon homme. […] Personne n’a encore argué son livre de fausseté et n’a pu renverser ses raisons. Les moines néanmoins le devraient faire, qui y ont plus d’intérêt que pas un, vu que sur cet article leur vie est fondée” (Ms. Vienna, 18). “l’Italie abonde en cette sorte de gens qui ne croient que la fortune. Ils étendent leur esprit dans l’être des choses, et pénètrent le plus avant qu’il leur est possible, et ayant été bien loin, faute d’avoir trouvé Dieu en chemin, ils n’en croient rien plus. Pour trouver Dieu dans le désordre qui est aujourd’hui dans le monde, il faut avoir de la modestie et de l’humilité; il faut se soumettre l’esprit a ces sacrés mystères de la Religion chrétienne, comme faisaient autrefois les premiers chrétiens, Captivantes intellectum in obsequium fidei.” (Ms. Vienna, 4).
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during informal discussions, who recount him anecdotes and give him information of all kinds.33 In this respect, what he says about Cremonini seems to me fundamental. He presents him as ‘the most renowned professor who has never been to Italy’ and for this reason excellently remunerated in Padua.34 Then he says to Patin, ‘I was engaged in conversation with Cremonini for three months’,35 undoubtedly in 1626, during his first trip to Italy. The Naudaeana adds: ‘This Cremonini was a great character, a quick mind and capable of anything, a man “déniaisé”, cured of all silliness (“guéri du sot”), who knew well the truth, but which nobody dares tell in Italy’.36 This passage, absent from the manuscript of Vienna, is one of those in which Naudé seems to deviate considerably from the more moderate opinions of Patin and brings to the fore a more secret part of his thinking.37 But it is in the manuscript that we find two interesting anecdotes, which Pintard made famous, about the brilliant professor of Padua: ‘Cremonini professor of philosophy in Padua confessed to a few of his intimate friends that he believed neither in God nor the Devil nor in the immortality of the soul: but he was concerned that his valet should a very good Catholic, fearing, he said, that if he didn’t believe in anything more I do, one of these mornings he could cut my throat in my bed. He also said he wanted people to put this epitaph on his tombstone after his death: hic iacet totus Cremoninus.’38 33
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For example: “Vincentius Alsacius Crucius me donna a disner puis me donna la vie manuscrite de Cardano. Je la veux faire imprimer” (Ms. Vienna, 9); “Paganinus Gaudentius estoit un professeur en humanitéz à Pise qui y est encore vivant. […] Il est fort mon amy combien que ie ne l’aye iamais vû. Nous avons fait et formé, fomenté et continué nostre amitié, per ceram linum et litteras animi nostri interpretes” (Ms. Vienna, 59). “Il estoit aussi bien logé et meublé a Padouë qu’un card.al a Rome. Il avoit 400 escoliers. Il avoit deux milles escus quand il mourut, et il n’y a en toute l’Italie aucun bien ny revenu si assuré que celuy la. […] Cremonin auoit un beau Palais a Padouë, auoit un M.t d’hostel, valet de chambre et autres officiers, deux carrosses et six bons chevaux.” (Ms. Vienna, 30–31). Then he adds “J’ai toujours soutenu son parti contre Caimus”. Pompeo Caimo (1568–1631), professor of theoretical medicine at Padua, was the opponent of Cremonini on a question of physiology about the “innate heat”. Naudaeana 1703, 55. Another excerpt following the precedent in the printed Naudaeana is often and rightly quoted: “Cremonin cachoit finement son jeu en Italie: nihil habebat pietatis, & tamen pius haberi volebat. Une de ses maximes étoit: intus ut libet; foris ut moris est. Il y en a bien en Italie qui ne croyent pas plus que Cremonin. Machiavel & lui étoient à deux de jeu, & Epicure, Lucrece, Cardan, Castellanus, Pomponace, Bembe, & tous ceux qui ont écrit de l’Immortalité de l’Ame. Pline a été un des chefs. Vanini en son Amphiteatre dit: que c’est la grande Secte que celle des Athées, qui est grossie de la plûpart des Princes, utriusque ordinis, & d’un grand nombre de sçavans anciens, comme Polybe, Ciceron, Cesar, Juvenal, Horace, Socrate, Homere, Euripide, Virgile, &c.” (Naudaeana 1703, 56–57). “Le Cremonin Professeur en Philosophie a Padoue a avoué a quelques siens Amis particuliers qu’il ne croyait ni Dieu ni Diable ni immortalité de l’âme: mais qu’il avait soin que son valet fût tout bon catholique de peur disait-il, s’il ne croyait rien non plus que moi, qu’un de ces matins il ne m’égorgeât dans mon lit. Il disait aussi qu’il voulait que l’on mit sur son tombeau pour épitaphe
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In another passage of the manuscript, Patin even gives the source of these particularly daring confidences: a man named Du Closel, a Huguenot nobleman from Montpellier, hanged in 1635 for having tried to convince the Duke of Rohan to plot against Louis XIII. in favour of Gaston d’Orléans. One could also quote the account, drawn from Naudé, of Claude Beauregard, author of the Circulus Pisanus, an important expression, yet poorly studied, of the philosophical heterodoxy produced in Italy during the seventeenth century:39 ‘He has been professor in Pisa and has is now replaced Fortunio Liceti in Padua. He believes only in Aristotle and mocks the entire religion of Italians, like most of them who believe in scarcely more, but they pretend to do so to conduct their business. Ejusmodi hominibus utilitas facit esse Deos’.40 In other words, the attitude to religion of this French fellow who pursues his academic career in Padua, seems in fact quite close to that of his Italian colleagues; what preserves him from their hypocrisy, seems to be mainly, for Naudé, his national affiliation! I plead therefore that we have to reconsider, despite Kristeller, the Naudeana et Patiniana and especially the Patin papers as genuine historical documents, which are extremely valuable for understanding the relationship of those French scholars who Pintard called the “erudite libertines” with Italy in general and Italian academic networks in particular, which this documentation abundantly shows not to be closed in on themselves but wide open to all scholarly productions. It appears also, as in the representation given by contemporaries, that the possibilities of free expression of the heterodox professors were strictly limited by the ecclesiastical power, which exercised over them a constant threat, and by the civil power which could ensure, but also remove its protection, imposing a relationship of complete dependence. These observations are certainly not new, but force us to consider seriously, accumulating and comparing all the available literature, behind or under the official self-representation of the members of these networks – official self-representation, it must never be forgotten, to which belonged their books printed and signed –, what was said about these teachers, about entire sections of their teaching, deliberately left in the shadows, concerning their reputations on the highly sensitive topic of religion, concerning all the statements that were attributed to them, the anecdotes which were told about them, etc. In other words,
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après sa mort hic iacet totus Cremoninus.” See also this other passage from the manuscript: “Vidi testamentum cremonini. Sic incipiebat: manebo in vocatione qua vocati estis; ego totus in philosophia fui et in ipsa moriar. Obiit Patavij anno 1632” (Ms. Vienna, 364). See yet the insightful analysis of the book by Toland 1720 and by Argens 1967. “Il a été professeur à Pise et est aujourd’hui à la place de Fortunio Liceti à Padoue. Il ne croit qu’en Aristote et se moque de toute la Religion des Italiens, comme la plupart d’entre eux n’y croient guères aussi, mais ils en font semblant pour en faire leurs affaires. Ejusmodi hominibus utilitas facit esse Deos” (see Naudaeana 1703, 111; same text but stops after “religion des Italiens”). Cf. entry “Palingen” in Maréchal 1833, 201: “C’est-à-dire: 'C’est le besoin qu’on crût avoir des Dieux qui fit imaginer les Dieux'. Le savant G. Naudé faisait grand cas de ce poème. Les théologiens reprochent au poète de trop faire valoir les difficultés des impies contre la religion.”
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rumour and gossip. But the same literature shows that the people targeted were not merely victims of these rumours; they reacted with increased caution but also by taking new risks, both recorded by hostile witnesses and by scholars positively fascinated by their masters. The philological rehabilitation of the Patin papers, in my view, is a prerequisite for a renewed and thorough study of the relationship between the “déniaisés” scholars from France and the academics on the other side of the Alps, in the wake then of René Pintard, but undoubtedly with a more suspicious approach and a very different methodological ambition, inspired, to a large extent, by the analysis and proposals of Martin Mulsow about the identification and description of the intellectual networks through the heuristic notion of “philosophical constellations”.41
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See especially Mulsow 2009. However, at least in the case of the social circles described by Pintard and to which Naudé and Patin belonged, to call them ‘philosophical’ would be somewhat reductive; ‘learned’ would be more apposite, because embraces and goes far beyond strictly philosophical activity, which is of prime importance for only some of their members. Mulsow insists in this article on the relevance of oral exchanges to the emergence of such configurations. It goes without saying that the Patin papers, in this respect, provide an invaluable body of documentation, even if at the same time they show the narrow limits of such a conjectural reconstitution of the conversational dimension, essential to the group.
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ANDREAS MAHLER
Netzwerke, Konstellationen, intellektuelle Denkräume. John Donne und die Inns of Court
1. Eruptionen nonkonformen Denkens: ein Beispiel „Seek true religion“, mahnt John Donnes Sprecher in dessen dritter Satire aus den 1590er Jahren und fragt sogleich „O where?“ (Satire III, V. 42).1 Denn weder Katholizismus (V. 43–48) noch Calvinismus (V. 49–54) noch Anglikanismus (V. 55–62) noch Atheismus (V. 62–64) noch unreflektiert und indifferent alles erlaubende Toleranz (V. 65–69) scheinen dem Text zufolge die rechte Antwort. Der frühneuzeitliche Satiriker, so das metasatirische Argument, hat es schwer. Diente den Römern die virtus (V. 7) als Grundlage satirisch aggressiver (Wahrheits-)Rede, so wäre deren legitimes elisabethanisches Pendant: „our mistress fair religion“ (V. 5). Doch genau hierin liegt die crux: in der Zeit postreformatorischer ‚Pluralisierung‘2 liefert gerade sie, die Religion, weder einen festen Standpunkt noch feste Autorität. Gleichwohl wäre, so das Folgeargument, solide, verlässliche Basis eines sich seines Fundaments gewissen Sprechens der eine Glaube, die eine Religion: but unmoved thou Of force must one, and forced but one allow; And the right; ask thy father which is she, Let him ask his; though truth and falsehood be Near twins, yet truth a little elder is; Be busy to seek her, believe me this, He’s not of none, nor worst, that seeks the best. To adore, or scorn an image, or protest, May all be bad; doubt wisely; in strange way 1
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Ich zitiere den Text nach der Ausgabe Donne 1976, 161–164; vgl. auch Donne 1967 und den dortigen Kommentar. Zur elisabethanischen Verssatire allgemein vgl. Mahler 1992, mit besonderem Bezug auf Donne vgl. die jüngere Überblicksdarstellung bei Patterson 2006; zur dritten Satire vgl. die Einzelanalysen bei Mahler 1991, 41 ff., Hester 1982 und Strier 1993. Zum frühneuzeitlichen Pluralisierungsbegriff als Bezeichnung der Vorstellung von einer aufkommenden „Pluralität der Welten“ vgl. Blumenberg 1983, 180 (Herv. H. B.); er ist Grundlage einer hohen gegenwärtigen Rezeptionskonjunktur (vgl. etwa auch die vorliegende Reihe).
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Andreas Mahler To stand inquiring right, is not to stray; To sleep or run wrong is. (V. 69–79)
Diesen einen Glauben allerdings gibt es nurmehr individuell. Begleitet von sorgsam abwägendem Skeptizismus, von einem ‚doubt wisely‘,3 stellt er sich nicht so sehr dar als absolute Findung ‚garantierter‘ Wahrheit, sondern als wohlüberlegter, langsamer Prozess aufmerksamer individueller Suche, als (provisorisches) Resultat einer langen fragenden, testenden wie tastenden ‚Realisierung‘:4 als verzeitlichter, subjektiver Weg kritisch-selbstkritischen „Suchens, Untersuchens und Versuchens“, eines „searche, examine, trie and seeke“, wie es der Prediger Richard Bancroft in einer Predigt am St. Paul’s Cross am 9. Februar 1588 eindringlich und programmatisch formuliert hat.5 Wahrheit scheint demnach zunehmend individuell. Sie ist keine verbürgte, keine geglaubte Gegebenheit, sondern nurmehr prekäres Resultat einer privaten, persönlichen Suche. Entsprechend formuliert der Donnesche Sprecher: On a huge hill, Cragged and steep, Truth stands, and he that will Reach her, about must, and about must go; And what the hill’s suddenness resists, win so; Yet strive so, that before age, death’s twilight, Thy soul rest, for none can work in that night, To will, implies delay, therefore now do. (V. 79–85)6
Aber entsprechend autorisiert sodann auch das individuell Gefundene das suchende Individuum: Keep the truth which thou hast found; men do not stand In so ill case here, that God hath with his hand Signed kings blank-charters to kill whom they hate, Nor are they vicars, but hangmen to Fate. Fool and wretch, wilt thou let thy soul be tied To man’s laws, by which she shall not be tried At the last day? Or will it then boot thee
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Das Gedicht hebt dieses ‚doubt wisely‘ metrisch eigens gegen das jambische Gitter durch zwei aufeinanderfolgende Primärakzente auf ‚doubt‘ und auf ‚wise‘ hervor. Zum frühneuzeitlichen Skeptizismus vgl. Popkin 1979 sowie, mit Blick auf die literarische Rezeption in England, vor allen Dingen Lobsien 1999. Zur frühneuzeitlichen Umschaltung von einem Wirklichkeitskonzept einer in Gott verbürgten ‚garantierten Realität‘ zu dem von Realität als prozessual gedachtem ‚Resultat individueller Realisierung‘ vgl. den programmatischen Aufsatz von Blumenberg 1964, 11 ff. Diese Prozessualisierung findet sich einlässig beschrieben bei Weimann 1988, die Zitate beide 79. Zu diesem Bild vgl. die ganz ähnliche prozessuale Formulierung in Bacons Auftaktessay „Of Truth“ von 1625: „yet truth, which only doth judge itself, teacheth that the inquiry of truth, which is the love-making or wooing of it, the knowledge of truth, which is the presence of it, and the belief of truth, which is the enjoying of it, is the sovereign good of human nature“ (Bacon 1985, 62; vgl. hierzu auch Lukrez, De natura rerum II).
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To say a Philip, or a Gregory, A Harry, or a Martin taught thee this? (V. 89–97)
Kein Philipp II. von Spanien als Inbegriff des Katholizismus, kein Papst Gregor VII. als Begründer des Dogmas päpstlicher Unfehlbarkeit und, damit einhergehend, des Primats kirchlicher gegenüber weltlicher Herrschaft, kein ‚Harry‘/Heinrich VIII. als Begründer der Church of England und auch kein Martin Luther als Kirchenspalter und Begründer des Protestantismus, so das Argument, dient am Jüngsten Tag als verlässliche Autorität, sondern jeder nur für sich allein, allein das Ich und dessen Leben, Glaube und Erkenntnis. Was als Satire beginnt, wird unter der Hand zunehmend zur Meditation. Der Sprecher begibt sich seines „spleen“ (V. 1); weder lacht noch weint er („I must not laugh, nor weep sins, and be wise“; V. 3), noch gibt er sich dem gattungsgebotenen „railing“ (V. 4) hin: er überlegt. Donnes dritte Satire folgt in untypischer Manier dem genus deliberativum, dessen Grundprinzip von „persuasion and exhortation“.7 Sie wägt beständig ab, argumentiert, zieht in Betracht und sieht im ‚weise zweifelnd‘ agierenden Ich die einzig akzeptable Lösung: Is not this excuse for mere contraries, Equally strong; cannot both sides say so? That thou mayest rightly obey power, her bounds know; Those past, her nature, and name is changed; to be Then humble to her is idolatry. As streams are, power is; those blessed flowers that dwell At the rough stream’s calm head, thrive and prove well, But having left their roots, and themselves given To the stream’s tyrannous rage, alas are driven Through mills, and rocks, and woods, and at last, almost Consumed in going, in the sea are lost: So perish souls, which more choose men’s unjust Power from God claimed, than God himself to trust. (V. 98–110)
Wer weltlich reklamierter religiöser Macht folgt, so das Argument, der hat schon verloren: der verlässt sich auf fremde, auf andere Autorität, auf deren Anspruch, deren diskursive Täuschung, und er begeht: ‚Idolatrie‘. Kein Mensch ist dem anderen so überlegen, dass er ihn religiös führen könnte. In solcher Sicht ist die Welt in der Tat nichts anderes als Pluralität von Standpunkten ‚equally strong‘, und beide – alle – Seiten haben recht. Zurecht ist Donnes dritte Satire – gegen den ‚literarischen‘ Strich, in diskursiver, dokumentarischer Lektüre – bezeichnet worden als „a remarkable doctrine in the history
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Sloan 1975, 426; für eine genauere textanalytische Beschreibung unter dem Stichwort einer – nunmehr individualisierten – Resakralisierung vgl. Mahler 1991.
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of religious tolerance“.8 Sie ist Vorläuferin von Donnes religiöser Dichtung, der Divine Poems, insonderheit seiner „Holy Sonnets“, wie sodann auch der ausufernden Sermons. In diesen Texten zeigt sich allesamt mit Insistenz die Figur eines sich selbst befragenden religiösen Nonkonformismus, ein bis dahin ungeahntes Maß arrogierter Freiheit religiöser Rede: die Privatheit religiösen Abwägens und Austarierens, die Individualität einer persönlichen Sinnsuche.9 Dieser religiöse Nonkonformismus verdankt sich zum einen, in England, der gesamtgesellschaftlich bereits konstatierten, im Gegensatz etwa zum frühneuzeitlichen Spanien nicht mehr rekuperierbaren, nicht mehr einfangbaren, nicht rückgängig zu machenden Pluralisierung.10 Insbesondere über die 1570er und 1580er Jahre hinweg zeigt sich über weite Strecken ein kaum mehr kontrollierbarer Prozess unverhohlener Säkularisierung: „Wie nie zuvor im katholischen Mittelalter“, so Robert Weimann, „wurde jetzt das Wortzeichen der Heiligen Schrift dem Bedürfnis divergierender Interessen anverwandelt und zum Transport irdischer Zwecke benutzt.“11 „Religion“, so heißt es 1604 bei Christopher Sutton, „is become nothing lesse then Religion, to wit, a matter of meere talk: such politizing is there on all parts, as a man cannot tell, who is who“.12 Auf diese Weise verbirgt sich in entautorisierender Pluralisierung zusehends auch neue diskursive Sagbarkeit:13 So konnte das „politizing“ [so nochmals Weimann] die Religion in den Diskurs, den Diskurs in die ideologische Funktion drängen [ . . . ]. [ . . . ] War [ . . . ] das religiöse Wort – vom kirchlichen Wirken ganz zu schweigen – erst einmal zum Instrument eines neuen „politizing“ gemacht, so hatte der Diskurs sogleich ein größeres Spektrum an gesellschaftlicher Funktion übernommen. [ . . . ] Das bislang hochgradig privilegierte Wort wurde vielen, bislang sprachlosen Lebenstätigkeiten verfügbar [ . . . ]. Damit war ein unumkehrbarer Prozess eingeleitet: Eine Umwälzung im Verhältnis von „debate“ und Autorität, von „meere talke“ und Bewußtsein hatte begonnen dahingehend, daß Autorität und Bewußtsein dem Diskurs nicht
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Stein 1944, 268. Zum Begriff des ‚Diskursiven‘ als eines rein auf Transparenz und Aussageinhalte ausgerichteten nicht-ästhetisch instrumentellen Sprachgebrauchs vgl. Mahler 2010, zu einer solchermaßen zumeist engen ideologischen Lektüre der Donneschen Satiren vgl. etwa Hester 1982. Medial ist dies zugleich geschuldet dem sogenannten stigma of print, der Tatsache, dass die meisten der Donneschen Texte zu seinen Lebzeiten weder veröffentlicht wurden noch je zur Veröffentlichung bestimmt waren; zum stigma of print vgl. Saunders 1954, zur Manuskriptzirkulation MacColl 1972. Zu einer einlässigen Differenzierung zwischen ‚kommunikativen‘ Ich-Er-Texten und ‚autokommunikativen‘ Ich-Ich-Texten vgl. die Ausführungen bei Lotman 2010a, 31–52. Zu den besonderen Bedingungen einer als ‚Diskurs-renovatio‘ beschriebenen Rekuperation dieses Pluralismus in die Einheit eines gewaltsam wiederhergestellten Katholizismus in Spanien vgl. Küpper 1990. Weimann 1988, 68; vgl. hierzu insbes. auch die große Kontroverse um die Martin MarprelateFlugschriften im Jahr 1588 (ebd., 169 f.). Christopher Sutton: Disce vivere. London 1604, sig. A6v; zitiert nach ebd., 68; die Unsicherheit des who is who betrifft also das Einschätzungsproblem, wer welchen Glaubens ist. Zum Zusammenhang von Diskursivität und Sagbarkeit vgl. allgemein Foucault 1982, 7 ff.
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einfach vorgegeben waren, nicht nur an seinem Anfang standen, sondern mehr und mehr auch an seinem Ende, eben als Produkt diskursiver Tätigkeit, in Erscheinung traten.14
Neben dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung im frühneuzeitlichen England verdankt sich der religiöse Nonkonformismus zum anderen aber auch in individueller Sicht einem – nunmehr je – spezifischen Milieu der Debatte, der Diskussion, des Dialogs.15 Es ist dies mit Blick auf John Donne ein Kreis von Intellektuellen, eine in-group, ein Zirkel gemeinschaftsbasierter wie auch Gemeinschaft inszenierender, Gemeinschaft herstellender Phatik.16 Nicht umsonst trägt Donne das label des coterie poet.17 Dieses Milieu ist vorderhand das der Londoner Rechtsschulen an den Inns of Court: [Donne] ist nicht mehr [so Volker Deubel], wie viele Zeitgenossen und Vorgänger, Dichter des Hofes, sondern schreibt für eine andere soziale Schicht, die Inns of Court. [ . . . ] Der Verflechtung des Hofdichters mit einer ihm übergeordneten gesellschaftlichen Welt, seiner generell affirmativen Haltung zur vorgegebenen gesellschaftlichen Struktur entspricht die Wertkonstellation typisch petrarkistischer Lyrik, in der Anerkennung einer äußeren vorgegebenen Idealität [ . . . ]. Dagegen steht die Negation der dominierenden Hofgesellschaft, die generell gesellschaftskritische Haltung und die Entwicklung neuer gesellschaftlich-ästhetischer Erwartungen in den Inns of Court [ . . . ]. Donne wendet sich [ . . . ] weitgehend von der Hofschicht ab, seine Leserschaft rekrutiert sich aus den Inns of Court, aus Schichten also, deren Erwartungen zunächst einmal darin bestehen, die gängigen Erwartungen aufzuheben.18
Mir geht es dementsprechend in der Folge um die Plausibilisierung des beobachtbaren religiösen Nonkonformismus bei John Donne aus der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur der Inns of Court: aus der Funktionsweise also eines frühneuzeitlichen, juristisch geprägten akademischen Netzwerks und der Herausbildung einer spezifischen Personenkonstellation, anhand deren ich das Zustandekommen solchermaßen zitierter neuer, in diesem Zusammenhang vornehmlich theologisch ausgerichteter Gedanken, neuer (religiöser) Ideen, neuer – zuweilen mehr, aber zuweilen auch minder erfolgreicher – Formen praktizierter Toleranz zu erklären suche.19
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Weimann 1988: 68 f. (Herv. R. W.). Zu Struktur und Funktion frühneuzeitlicher Dialoge als literarischer Gattungen der Pluralität vgl. Hempfer 2002 sowie die entsprechenden Beiträge in Hempfer/Traninger 2010. Zu einer genauen Rekonstruktion der Produktionsbedingungen der frühen Donneschen Texte vgl. die eingehende Untersuchung bei Deubel 1971; der Begriff der ‚Phatik‘ meint einen vornehmlich auf Gruppenkontakt und dessen Stabilisierung abzielenden Sprachgebrauch. Für eine literatursoziologische Beschreibung des jeweiligen Kreises um John Donne vgl. die Studie von Marotti 1986. Deubel 1971, 156 ff. Ich stütze mich hierbei auf Gedanken und Vorarbeiten zum spezifischen frühneuzeitlichen Milieu der Inns of Court wie auch zu deren Netzwerkcharakter aus Mahler 2009 und Mahler 2011.
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2. Netzwerke als Agenturen sozialen Handelns Der Begriff des ‚Netzwerks‘ dient gegenwärtig vornehmlich ethnologisch-anthropologischen, soziologischen, politikwissenschaftlichen wie auch soziolinguistischen Beschreibungen von Gruppendynamiken.20 Er umfasst die Bindungen von Individuen, beschreibt deren Relationen, erfasst ihre gemeinsamen Wirkungen. Kategorien der Beschreibung sind aus strukturaler Sicht zunächst die Größe und die Dichte des Netzwerks: Ausdehnung und ‚Vernetzung‘, die Anzahl der Mitglieder und die Anzahl ihrer Kontakte. Aus qualitativer Sicht ergänzt sich dies über Kategorien wie die der Komplexität, der Intensität, der Qualität der Beziehungen, also über Kriterien wie Einsträngigkeit/Mehrsträngigkeit, Häufigkeit der Kontakte, deren Dauer wie auch deren Ertrag.21 Dementsprechend zeigen eng geknüpfte Netzwerke eine relativ begrenzte Anzahl an Mitgliedern mit hoher Dichte, einer hohen Anzahl an Kontakten erster Ordnung, Mehrsträngigkeit, hohe Frequenz und Dauer der Kontakte sowie deutlich erkennbare und über das Netzwerk hinausreichende gesellschaftsprägende Resultate. Weitgeknüpfte Netzwerke hingegen zeichnen sich aus durch eine eher hohe Anzahl an Mitgliedern mit geringer Dichte, eher geringerer Anzahl an Kontakten erster Ordnung, Tendenz zu einsträngigen Beziehungen, geringere Frequenz und Dauer der Kontakte und weniger prägende Ergebnisleistungen. Enggeknüpfte Netzwerke charakterisieren sich zudem über Komplexitätsmerkmale – ihre multiplexity – wie die Möglichkeit des Zusammenwohnens, die Homogenität beruflicher Ausbildung und Tätigkeit, Gleichgeschlechtlichkeit, die Zugehörigkeit zur selben sozialen Schicht, wenn nicht gar zur selben Familie.22 Wissenschaftsgeschichtlich erscheint eine solches beschreibende Netzwerktheorie verbunden mit einem Wandel von struktural-funktionalen Analyseansätzen, also Ansätzen mit dem Primat der Elemente, hin zu eher funktional-strukturalen, also Ansätzen mit dem Primat der Relationen.23 Dabei tut man zumeist so, als ob man mit dem Begriff des ‚Netzwerks‘ eine präexistente Realität lediglich aufzeichnet. Der französische Soziologe Bruno Latour hat hingegen darauf hingewiesen, dass Netzwerke jeweils nur rekonstruierte Postulate darstellen, also im Prinzip nichts anderes sind als, wie er es fasst, ein (guter) ‚soziologischer Text‘, in dem „alle Akteure etwas tun“: 20
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Zum gegenwärtig hochkonjunkturellen Begriff des Netzwerks vgl. etwa Holzer 2006, in distanzierter, kritischer Zusammenschau, mit Blick auf dessen Ubiquität wie auch zu befragender Metaphorizität, Fangerau/Halling 2009 sowie, mit besonderem Bezug auf den Freundschaftsgedanken, interdisziplinär die Beiträge in Binczek/Stanitzek 2010. Vgl. hierzu die aus soziolinguistischer Sicht erstellten Zusammenfassungen bei Boissevain 1987 bzw. in Lenker 2000, v.a. 234. Zur multiplexity vgl. Lenker 2000, 234. Vgl. hierzu Boissevain 1987, 164: „The interest in network analysis was part of the theoretical shift away from structural-functional analysis“; zur Ablösung struktural-funktionaler Analyseansätze durch funktional-strukturale in der Soziologie der 1970er Jahre vgl. Luhmann 1974.
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Anstatt bloß Wirkungen zu transportieren, ohne sie zu transformieren, kann jeder der Punkte im Text zu einer Verzweigung werden, zu einem Ereignis oder zum Ursprung einer neuen Übersetzung. Sobald die Akteure nicht als Zwischenglieder behandelt werden, sondern als Mittler, machen sie für den Leser die Bewegung des Sozialen sichtbar.24
Dementsprechend bezeichnet der Netzwerk-Begriff (bzw. die Akteur-NetzwerkTheorie) „Übersetzungsströme“; er ist nichts anderes als eine materielle Metapher, welche drei Bedingungen erfüllt: a) b) c)
Eine Punkt-zu-Punkt Verknüpfung wird hergestellt, die physisch nachvollziehbar ist und so empirisch nachgezeichnet werden kann; eine solche Verknüpfung lässt das meiste, was nicht verknüpft worden ist, leer, wie jeder Fischer weiß, wenn er sein Netz ins Meer wirft; diese Verknüpfung wird nicht mühelos und kostenfrei hergestellt, sie verlangt Anstrengung, wie jeder Fischer weiß, wenn er sein Netz auf dem Quai repariert.25
Dieser Beschreibungsansatz einer beständigen Mittler- und Übersetzertätigkeit zeigt also Netzwerkmitglieder nicht wie einsam-autonome Akteure eigenmächtigen Handelns, sondern immer schon auch ihrerseits abhängig von anderen Mitgliedern, deren mittelnde Impulse sie aufnehmen, verarbeiten oder auch bewusst vermeiden. Sie sind weniger selbständige ‚Subjekte‘ denn unablässige ‚Verteiler‘, Knotenpunkte sozialer Interaktion; sie kennzeichnet weniger das eigene Tun (faire) denn das interaktive Dazubringen, Dazuveranlassen, dass jemand (anderes) etwas tut (faire faire). Entsprechend beschreibt sich deren Tätigkeit im Raum: ist der Raum (mit de Certeau) ein Ort, ‚mit dem man etwas macht‘,26 so ist ein Netzwerk das Gefüge, das dazu veranlasst, dass jemand mit (und in) Orten etwas macht. Hierauf zielt Latours Konzept des network agent, des acteur-réseau: Endlich haben wir uns von einer ganzen Reihe von Diskussionen freigemacht, die sich um das „relative Gewicht“ von „individueller Freiheit“ gegenüber „struktureller Determination“ drehen: Jeder Mittler entlang jeder Handlungskette ist ein individualisiertes Ereignis, weil er mit vielen anderen individualisierten Ereignissen verknüpft ist. Dies ist vielleicht eine gute Gelegenheit, sich vom Begriff des „Akteurs“ zu verabschieden, den ich die ganze Zeit als provisorischen Platzhalter verwendet habe. Falsch an dem Wort ist nicht, dass es so oft begrenzt wird auf Menschen – diese Schranke zu überschreiten haben wir gelernt –, sondern dass es stets einen Ursprung von Initiative, einen Ausgangspunkt bezeichnet, das äußerste Ende eines in die andere Richtung verlaufenden Vektors. Solange die Soziologie des Sozialen herrschte, war es natürlich wichtig, die Betonung zu legen auf Akteure, Aktivität, Initiative [ . . . ]. Doch in der A[kteur-]N[etzwerk-]T[heorie] ist dies nicht länger notwendig: Die Handlungstheorie selbst ist eine andere, denn uns interessieren Mittler, die andere Mittler dazu 24
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Es handelt sich also um ein Darstellungsproblem. Zu den beiden Zitaten vgl. Latour 2010, 223 f. (Herv. B. L.; vgl. zu den gelegentlich mitzitierten französischen Termini auch die französische Fassung Latour 2007); zur ‚Übersetzung‘ als „elementare[m] Akt des Denkens“ und mithin zentralem Konzept in der Beschreibung kulturellen Wandels innerhalb der von ihm so bezeichneten ‚Semiosphäre‘ vgl. insbes. auch Lotman 2010a, 191 ff. u.ö., das Zitat 191. Latour 2010, 229 f. (Herv. B. L.). Vgl. de Certeau 1990, 173: „En somme, l’espace est un lieu pratiqué“ (Herv. M. C.)
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Andreas Mahler bringen, Dinge zu tun. „Dazu bringen“ ist nicht dasselbe wie „verursachen“ oder „tun“: Im Zentrum dieser Tätigkeit gibt es eine Verlagerung, eine Verdoppelung, eine Übersetzung, die sofort das ganze Argument modifiziert. Vorher war es unmöglich, einen Akteur mit dem zu verknüpfen, was ihn zum Handeln brachte, ohne dafür angeklagt zu werden, ihn zu „beherrschen“, „einzuschränken“ oder zu „versklaven“. Dies ist nicht länger der Fall. Je mehr Verknüpfungen er hat, desto mehr existiert er. Und je mehr Mittler es gibt, um so besser.27
Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit der Primat der Relation(en). Nicht geht es um Individuen, zwischen denen sich Beziehungen entwickeln, sondern vielmehr ist es das Netz von Beziehungen selbst, welches die einzelnen Akteure positioniert und bewirkt, dass sie agieren, und zwar umso intensiver, in je mehr Relationen sie sich befinden, über je mehr Verknüpfungen (attachements) sie verfügen. Mit Blick auf John Donne heißt dies, dass mein Erkenntnisinteresse folgerecht nicht so sehr in Donnes individuellem Wirken, seinen Einsichten, Einstellungen, persönlichen Problemen, liegt denn in der Frage, was – und wer als Mittler – ihn ‚dazu gebracht haben‘ mag, einen Text wie eben Satire III zu verfassen; wie also aus einem akademischen Netzwerk heraus gesellschaftlich-kulturelle Artikulierbarkeiten entstehen, in welchen gegen den Strom laufendes, ‚eigenmächtiges‘, nonkonformistisches Gedankengut seinen Ort finden kann; näherhin also, wie es im Milieu der Inns of Court möglich wurde, Traditionell-Überkommenes in Neues zu ‚übersetzen‘.
3. Konstellationen als Agenturen kreativen (‚Gegen‘-)Handelns Hierfür bediene ich mich zusätzlich des Konzepts der ‚Konstellation‘.28 Macht netzwerkgebundenes Agieren den Ort zum Raum, so können netzwerkspezifische Konstellationen diesen in besonderer Weise profilieren. Inauguriert ersteres einen lieu pratiqué, einen allgemein praktizierten Raum, so bewirken letztere die jeweils besondere Art der Raumpraxis, ihre ihnen eigene, ‚aneignende‘, ‚enteignende‘ Innovativität und spezifische Dynamik, eine mögliche kulturelle ‚Explosion‘.29
27 28 29
Latour 2010, 373 f. (Herv. B. L.). Vgl. hierzu den grundlegenden Sammelband von Mulsow/Stamm 2005. Zu dieser marxistischer Gesellschaftstheorie entstammenden Dialektik von Aneignung und Enteignung vgl. Weimann 1988, 44 ff. und 313 ff., wo u. a. etwa die Rede davon ist, dass in früher Neuzeit zunehmend Sinn nicht mehr gegeben scheint, sondern „in der Aneignung selbst“ liegt (47), wie auch, dass zeitgleich die individuelle „Aneignung der Sprache im Diskurs“ mit einer öffentlichen „Enteignung jeden Diskursmonopols“ einhergeht (313). Zum Versuch der Erfassung insbes. der Renaissance als einer Epoche von aus dem Dialog von Zentrum und Peripherie gespeisten vulkanhaften Ausbrüchen „nie dagewesene[r] kulturelle[r] Aktivität“ vgl. Lotman 2010a, 195; zur deren kultureller Theoretisierung unter dem Begriff der ‚Explosion‘ als dem „Moment der Unvorhersagbarkeit“ vgl. v.a. Lotman 2010b, 147–169, das Zitat 158.
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Aus philosophiehistorischer Sicht, von woher die Prägung stammt, geht es dabei vornehmlich zunächst um die „Erschließung und Rekonstruktion eines Denkraumes“ als einer heuristischen Basis für die Erklärung philosophischer Kreativität, für die Emergenz unerkannten Gedankenguts.30 Dementsprechend lässt sich versuchsweise festlegend formulieren: Eine philosophische Konstellation kann man definieren als dichten Zusammenhang wechselseitig aufeinander einwirkender Personen, Ideen, Theorien, Probleme oder Dokumente, in der Weise, dass nur die Analyse dieses Zusammenhanges, nicht aber seiner isolierten Bestandteile, ein Verstehen der philosophischen Leistung und Entwicklung der Personen, Ideen und Theorien möglich macht.31
Erneut zeigt sich der Primat der Relation. Auch dem Konstellationskonzept geht es um das Zusammenspiel der Kräfte, um die Beziehungsdynamiken, die Anstöße, die Verknüpfungen und nicht so sehr um die Elemente, die vermeintlich eigenständig agierenden Subjekte, die ‚isolierten Bestandteile‘. Entworfen ist das auf Dieter Henrich zurückgehende Konzept der Konstellation mit Blick auf die Philosophie, näherhin den Tübinger und Jenaer Idealismus.32 Doch scheint mir dies ganz allgemein für intellektuelle Milieus – und vielleicht nicht nur für diese – Geltung zu haben. Denn deren jeweilige semiosphärische – kulturelle – Dynamik33 speist sich ihrerseits stets aus der Spezifik ihrer Relationen; nicht so sehr aus den einzelnen Mitgliedern, ihren spezifischen Charakteren und geistigen Befindlichkeiten, sondern eben aus ihrem ‚Zusammenhang‘. Und sie begründet auf diese Weise die Denkbarkeit, die Vorstellbarkeit des ‚Neuen‘ – wie im übrigen auch zuweilen eine kontrafaktische Wahrung des Bisherigen. Dementsprechend fasse ich ‚Netzwerke‘ als jeweils größere Einheiten, die gekennzeichnet sind über allgemeinere gemeinsame diskursive Interessen als etwa ‚politisch‘, ‚religiös‘, ‚ökonomisch‘ denkende und argumentierende Interessensverbünde,34 und setze davon ab ‚Konstellationen‘ als spezifische kleinteiligere ‚Zusammenhänge‘ innerhalb von Netzwerken, die deren Strukturen zu ihren eigenen Zwecken ‚strategisch‘ oder ‚taktisch‘ nutzen.35 Konstellationen erweisen sich demnach entweder als netzwerkstützend oder netzwerksprengend: sie bezeichnen spezifische Gruppenbindungen in 30 31 32 33 34
35
Zum Begriff des ‚Denkraums‘ vgl. Stamm 2005, das Zitat 35 (Herv. M. S.). Mulsow 2005, 74. Vgl. hierzu die Einleitung zu Mulsow/Stamm 2005, v.a. 7. Zur Semiosphäre als dem Raum der durch den Menschen und sein (symbolisches) Tun geprägten Kultur vgl. näherhin Lotman 2010a, 161 ff. Zum Diskursbegriff als Bezeichnung für ein von einer Textmenge abstrahiertes themengebundenes – also etwa politisches, religiöses, ökonomisches etc. – „System des Denkens und Argumentierens“ vgl. Titzmann 1989, 51 (Herv. M. T.); zu einer pragmatisch ausgerichteten Differenzierung in einen diskursiven bzw. adiskursiven Sprachgebrauch vgl. Mahler 2010. Zur Dialektik von Strategie und Taktik vgl. die Ausführungen bei de Certeau 1990, XLVI ff. bzw. 57 ff.
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gemeinsamen Denk- und Aktionsräumen; sie sind Gemeinschaften eines kreativ ausgreifenden – wie auch durchaus kreativ bewahrenden – partikulären Imaginären.36 Mit Blick auf Donne heißt dies, danach zu fragen, wie es im allgemeinen akademischen Netzwerk der Inns of Court zur Ausbildung einer spezifischen in-group, einer spezifischen coterie kommt, durch die deren Mitglieder in die Lage versetzt werden, einen Denk- und Aktionsraum dergestalt zu schaffen, dass darin bislang unerhört Neues, bis dahin scheinbar Unsagbares – wie etwa im vorliegenden Fall der Gedanke einer skeptizistisch geprägten, individuell suchenden Glaubensauffassung – zur Aussage gebracht werden kann.
4. Zur Netzwerkstruktur im frühneuzeitlichen London Das frühneuzeitliche London ist eine der ersten europäischen Großstädte: eine komplexe, dynamische, unüberschaubare „urban agglomeration“.37 Es lässt sich in unserem Zusammenhang beschreiben im wesentlichen über drei große Netzwerke: (1) das höfische Netzwerk mit Zentrum Westminster, dem Hof und seinen courtly satellites als System gestufter Aufmerksamkeit und Patronage;38 (2) das städtisch-ökonomische Netzwerk mit Zentrum City of London als Ort des Handels und seiner Dynamiken;39 (3) das juristisch-akademische Netzwerk der Inns of Court als sogenannter third university, zwischen den beiden Städten mit den vier Inns, Gray’s Inn, Lincoln’s Inn, Inner und Middle Temple, und den ihnen zugeordneten, auf sie in der Ausbildung hinführenden Inns of Chancery.40 Als Netzwerk fungieren die Inns aus struktureller Sicht zunächst einmal aufgrund ihrer Größe. Um 1600 zählt man ca. 1000 Mitglieder, mit den Inns of Chancery insgesamt etwa 1700.41 Es handelt sich also um eine innerhalb des frühneuzeitlichen London distinkt wahrnehmbare Einzelgruppe, die das Stadtbild prägt. Dabei zeigt ihre interne Struktur eine beträchtliche Anzahl an direkten Kontakten, das heißt Kontakten erster Ordnung, wie, darüber hinaus, solchen des Hörensagens, des sogenannten friend 36
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39 40 41
Zur Gesellschaft als einem kollektiven Phänomen prozessualer imaginärer ‚Institution‘ vgl. Castoriadis 1990; zum Fiktiven als einem das Imaginäre in eine Gestalt ziehenden, zeitweiligen prekären Institutionsresultat: einer zeitweilig Geltung beanspruchenden, kollektiven gesellschaftlichen Konstruktion vgl. Iser 1993, 19 ff. Burke 1985, 32 f.; zur europäischen Stadtentwicklung allgemein vgl. Benevolo 1999. Zu einer weitgreifenden exemplarischen Analyse des Patronagesystems als eines gesellschaftsprägenden Musters frühneuzeitlicher Interaktion s., näherhin am Beispiel Galileo Galileis, Biagioli 1999. Zu London als frühneuzeitlichem ökonomischen Zentrum vgl. Braudel 1985, 600 ff. Zu den Inns of Court vgl. die nach wie vor grundlegenden Studien von Finkelpearl 1969, 1–80, und Prest 1972; vgl. auch Mahler 2009. Finkelpearl 1969, 5; ich orientiere mich bei der Beschreibung der Inns hinsichtlich der grundlegenden Fakten an der Darstellung bei Finkelpearl.
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of a friend-Phänomens.42 Dieses Netzwerk ist zudem institutionell hochgradig organisiert. Dies bezeugt entsprechend eine hohe Dichte. Also gibt es, zeitlich gesehen, Kontakte nicht nur während der Periode der Gerichtssitzungen, der ‚Sessions‘, sondern auch während der Zeit der ‚Grand Vacations‘, der eigentlichen Zeit der Ausbildung und des Übens, wie auch während der karnevalesken (Aus-) Zeiten der ‚Revels‘.43 Zudem gibt es, standesbezogen, Kontakte über die Lehrer/Schüler-Grenze hinweg. Dies sorgt für eine hochgradige Verknüpfung und eröffnet die Möglichkeit beständigen gegenseitigen, positiven wie negativen, Anstoßes. Hinsichtlich der interaktionalen Kriterien ist das Netzwerk der Inns hochgradig komplex. Es ist weitgehend mehrsträngig und erfüllt aufgrund der Tatsache des Zusammenwohnens, der Homogenität in der beruflichen Ausbildung und Tätigkeit, der Gleichgeschlechtlichkeit der Gruppenmitglieder und der weitgehenden Zugehörigkeit zur selben sozialen Schicht der landed gentry, wenn nicht gar, wie oft, zum selben Familienverband, die Bedingungen multiplexer Gefüge. Über die Ausbildung wie auch über die Wohnsituation – das Wort inns bezeichnet bekanntlich Wohnstätten – sorgt das Netz für eine hohe Frequenz wie auch eine hohe Dauer an formellen wie informellen Kontakten und stellt zudem auch noch die entsprechenden Orte hierfür wie etwa die ‚Hall‘ oder auch die ‚Fields‘.44 Überdies sorgen die kompetitiv gestalteten dialogischen Ausbildungsmuster wie etwa die moots oder das bolting in der Vermittlung juristischen Wissens für einen inhaltsbezogenen, transaktionalen Ertrag nach innen wie in der Bereitstellung von Juristen auch nach außen.45 Letzten Endes bewirken aber gerade auch die Revels als antidisziplinäre ‚Gegenveranstaltungen‘ die institutionelle Möglichkeit der stets eingeräumten Relativierung, der selbstreflexiven Befragung, der temporären, suspensiven ‚Enthebbarkeit‘ des eingeübten Ernstes.46 In diesem Sinn stellen sich die Inns of Court also dar als eines der größten, homogensten und privilegiertesten Netzwerke des elisabethanischen London, als „largest single group of literate and cultured men in London“.47 Als solche sind sie zudem Orte der steten aneignenden Übersetzung wie des Aushaltens fremder Stand42 43 44 45
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Zum friend of a friend-Phänomen vgl. Boissevain 1974; zu vielversprechenden Arbeiten mit der Differenzierung zwischen strong ties und weak ties vgl. Binczek/Stanitzek 2010. Zu den Revels an den Inns und deren Kriterien vgl. Elton 2000, v.a. 7. Vgl. hierzu etwa Middle Temple Hall oder Lincoln’s Inn Fields als wesentliche Orte frühneuzeitlicher sozialer Raumpraktiken des elisabethanischen London. Zu den Praktiken der moots bzw. des bolting vgl. Finkelpearl 1969, 9; zur frühneuzeitlichen dialogischen Praxis des Disputierens vgl. auch den Beitrag von Anita Traninger im vorliegenden Band. Zur linguistischen Differenzierung zwischen kontaktbezogenem interaktionalen und inhaltsvermittelndem transaktionalen Sprachgebrauch vgl. Brown/Yule 1985, 1 ff. Zum antidisziplinären Charakter taktischer Zugriffe vgl. de Certeau 1990, XL; zu karnevalesken Enklaven des ‚Gegensinns‘ vgl. Mahler 1993, 94–103; zum Entlastungsbegriff komischer ‚Enthebbarkeit‘ vgl. Stierle 1976, 251 ff. Zu Disziplin und Disziplinlosigkeit an den Inns allgemein vgl. Prest 1972, 91–114. Finkelpearl 1969, 5.
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punkte, Orte der Unruhe und der freien Rede, Orte der Duldung des anderen und der Debatte, des freien Worts. Das heißt, dort mischen sich nicht nur Sprachen, sondern vor allem auch ideologische Standpunkte und deren Diskurse, wie dies etwa aus theologischer Sicht das zeitgleiche Wirken des anglikanischen Konformisten Richard Hooker und des calvinistischen Nonkonformisten Walter Travers als geistliche Masters of the Temple im Jahr 1585 bezeugt: „Here the pulpit spake pure Canterbury in the morning, and Geneva in the afternoon.“48
5. Die Inns of Court als Entstehungsmilieu intellektueller Denkräume Der im Jahr 1572 geborenene John Donne kam 1591 im Alter von neunzehn Jahren an die Inns of Court. Er besuchte zunächst die tutorial ausgelegte ‚Vorschule‘ des Thavies Inn und kam nach minimaler Vorbereitungszeit von einem Jahr am 6. Mai 1592 auf Fürsprache des um zwei Jahre älteren Christopher Brooke und des wesentlich älteren irischstämmigen Edward Loftus als ‚Paten‘ ans Lincoln’s Inn.49 Dort blieb er bis etwa 1594/95, also nicht bis zum Ende der mindestens sieben Jahre dauernden Ausbildung zum Juristen. Dies folgt durchaus der damals üblichen Tradition. Die Zahl der Absolventen war mit 15% gering; zentral war der gesellschaftliche Schliff: „The ideal persisted of producing not merely a well-trained lawyer but a True Gentleman.“50 Donnes Weg ans Lincoln’s Inn folgt der Familientradition.51 Zwar war der Vater lediglich ein wohlhabender Londoner Kaufmann im Eisenwarenhandel. Mütterlicherseits jedoch stammt Donne von der katholisch geprägten, literarisch regen, einflussreichen Familie der Heywoods ab. Der Großvater John Heywood war ein bekannter Epigrammatiker und darüber hinaus Verfasser von Interludes wie auch schon der Urgroßvater John Rastell. Überdies war Donnes Mutter eine Großnichte des Thomas Morus, dessen Gedenken in der Familie stets gepflegt wurde; und ihre Brüder Ellis und der als Seneca-Übersetzer hervorgetretene Jasper gehörten zur Gruppe der sowohl Verfolgung als auch Exil ausgesetzten Jesuiten. Dies bezeugt also eine literarische wie auch eine religiös ausgerichtete Prägung. Nach dem Tod von Donnes leiblichem Vater verheiratet sich die Mutter 1576 mit dem verwitweten Arzt John Syminges, der 1588 48
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Es mischen sich also, wie dies die hier wiedergegebene Einschätzung Thomas Fullers bezeugt, anglikanischer und calvinistischer Diskurs und stellen sich gleichberechtigt nebeneinander (zitiert nach Finkelpearl 1969, 62 f.). Zum Eintrittsdatum vgl. Alvarez 1962, 191; zu den beiden Fürsprechern vgl. Bald 1970, 53; zur allgemeinen Charakterisierung des Donneschen Kreises an den Inns of Court vgl. Marotti 1986, 34 ff. – Ich schreibe die Namen der Donneschen Freunde außer in direkten Zitatwiedergaben in der Regel in der heute weitgehend geläufigen Form. Finkelpearl 1969, 10 f. Ich stütze mich hier und im Folgenden auf die biographischen Forschungen von Bald 1970.
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stirbt. Aus diesem Bezug lässt sich Donnes naturwissenschaftliches Interesse herleiten. Im Jahre 1590 heiratet die Mutter schließlich den katholischen Adligen Richard Rainsford. Dies bestärkt noch einmal die katholische Komponente. In seiner Zeit an den Inns erhält Donne zudem 1593 bzw. 1594 zu seiner zumindest zeitweiligen finanziellen Unabhängigkeit erst das väterliche und – nach dessen frühem Tod – zudem das brüderliche Erbe. Unter anderem waren folgende Familienmitglieder bereits am Lincoln’s Inn: Thomas More (Morus), John More, William Roper, Christopher Stubbes, der Ehemann von John Heywoods ältester Tochter, William Rastell, Richard Heywood wie auch dessen Sohn John.52 Vor den Juristenschulen hatte Donnes Ausbildung schon die Stationen Oxford (Hart Hall 1584 bzw. 1586–1588) und mutmaßlich Cambridge (1588/89) durchlaufen wie wohl auch eine der Jesuitenschulen auf dem Kontinent, vermutlich Douai. Ein solcher Werdegang war typisch für englische Katholiken, denn Oxford wie Cambridge waren ab einem gewissen Alter – in der Regel mit 16, spätestens aber mit dem einen Eid auf die 39 anglikanischen Glaubensartikel erfordernden Examensabschluss – für Katholiken gesperrt. Entsprechend partizipiert John Donne also an mehreren Netzwerken zugleich: über die Familie der Mutter an dem des im Gegensatz zum hofgebundenen henrizianischen Reformadel stehenden Landadels; über deren familiäre Traditionen und Überzeugungen an dem der Katholiken;53 über seinen Ausbildungsweg schließlich an dem der Studenten, Dozenten und ganz allgemein der Juristen an den Inns of Court. Dies prägt eine bestimmte geistige Haltung aus, eine spezifische Mentalität: ein gewisses Außenseitertum, den Hang, sich für etwas Besonderes zu halten, ein Verfügen über ‚Geheimwissen‘; insgesamt also ein ‚Alteritätspotential‘.54 All dies lässt sich fassen als über unterschiedlichste Mittler laufende jeweilige Anstöße für die Prägung eigenen Verhaltens, für ein ‚Dazu-Gebrachtwerden‘, etwas Unvorhergesehenes zu tun, für das Latoursche faire faire. Im Jahr 1593 war John Donne zudem am Lincoln’s Inn gewählter Master of the Revels, also Zeremonienmeister für die Karnevalszeit, vor allem in the Christmas.55 Vom Erbe zehrend, im Kreis festwütiger junger Männer, gibt er sich dem hin, was er selbst als Inns-typische Konfiguration von „study and play“, späterhin ablehnend als „voluptuousnes“ bezeichnet hat,56 und lebt das ihn bekanntermaßen nach außen hin 52 53 54
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Bald 1970, 53. Zum zeitgenössischen Katholizismus vgl. in jüngerer Zeit, vor allem mit Blick auf Shakespeare, die Studien von Wilson 2004. Der Begriff der ‚Alterität‘ meint das Vermögen, sich die Welt auch anders vorzustellen; zu Kriterien einer Beschreibung der Ausbildung historischer mentaler Prägungen vgl. die Überlegungen bei Nitschke 1981, 15 ff. Zu einer Rekonstruktion der Christmas Revels an den Inns vgl. Finkelpearl 1969, 32–44; zum elisabethanischen Festkalender allgemein vgl. Laroque 1993, 74–175. Die Zitate entstammen dem „Epithalamion Made at Lincoln’s Inn“ (Donne 1976, 133–135, V. 30, meine Herv.) sowie The Life and Letters of John Donne, 51, zitiert nach Marotti 1986, 30.
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kennzeichnende Leben eines Mannes mit den Eigenschaften: „very neat; a great visiter of Ladies, a great frequenter of Playes, a great writer of conceited Verses“.57 Hieraus lässt sich innerhalb des Inns-of-Court-Netzwerks nunmehr versuchsweise eine spezifische Konstellation rekonstruieren.58 Bereits Arthur Marotti hat für die Zeit konstatiert: „He [Donne] made strong and close friendships at this time, many of which lasted the rest of his life, associating himself generally with a group of young gentlemen eager for social and political and professional advancement.“59 Diese engere Gruppe ist beschrieben worden als „Donne’s Circle“.60 Sie hat ihre Ursprünge in der Schul- und Universitätszeit, insbesondere ab der Immatrikulation in Oxford am 23. Oktober 1584 (bzw. womöglich erst zwei Jahre später). Dort trifft er auf die Freunde Henry Wotton, den späteren Botschafter in Venedig, John Hoskins, der später durch seine Directions for Speech and Style (1599/1600) als Autorität im Abfassen schriftlicher Texte gelten sollte und den oben bereits genannten Richard Baker, der mit Wotton ein Zimmer geteilt hat. Alle vier finden sich dann gleichzeitig wieder an den Inns of Court, vor allem am Middle Temple, aber es gab natürlich auch unter den Inns Verbindungen. In Oxford gehören der Gruppe mit an: Thomas Bastard und John Owen, beides späterhin Verfasser von lateinischen Epigrammen und mit Wotton und Hoskins Absolventen des Winchester New College. Donne selbst war in Oxford befreundet mit John Roe; dieser und Owen wiederum mit Benjamin Rudyerd, der in den 1590er Jahren zusammen mit Hoskins am Middle Temple war, sich einen Namen als wit gemacht hat, von Ben Jonson lobend bedichtet wurde und in den Revels aktiv war.61 Wenn Donne zudem wirklich in der Zwischenzeit auch in Cambridge war, wie Sir Edmund Gosse behauptet, so hätte schon dort für ihn die Möglichkeit bestanden, auf Christopher und Samuel Brooke zu stoßen. Das sich ergebende Bild zeichnet also eine intellektuelle Elite mit aufstrebenden Interessen. Mit dem Eintritt in Lincoln’s Inn erweitert sich der Kreis: sein Zimmergenosse Christopher Brooke wird definitiv Donnes engster Freund. Dessen Bruder Samuel kommt hinzu, desgleichen Rowland Woodward sowie dessen Verwandter Thomas Woodward, Beaupré Bell, Everard Guilpin, William Cornwallis und Henry Goodyer. 57 58
59 60 61
So die Beschreibung von Donnes Zeitgenossen Richard Baker; vgl. Bald 1970, 72. Ich kann dies im vorliegenden Rahmen lediglich in groben Zügen skizzieren. Methodisch liegt die Schwierigkeit diachroner Netzwerk- und Konstellationsanalyse spätestens hier in der Beschaffung adäquater empirischer Daten zur personell wie zeitlich genauen Rekonstruktion mutmaßlicher quantitativer und vor allem qualitativer Relationen. Dies liefe vornehmlich über die dichte Auswertung (so vorhandener) einlässiger nicht-literarischer Dokumente wie Briefe, Tagebucheinträge, Annalen etc. Was ich also andeute, ist zunächst nur ein Weg. Marotti 1986, 35. Zu einem chronologisch ausgerichteten Rekonstruktionsversuch von „Donne’s Circle“ vgl. Alvarez 1962, 187–195; zu einzelnen Kontakten vgl. Bald 1970, 53 ff. Zu kurzen Portraits von Richard Martin, John Davies, John Hoskins, John Marston, Henry Wotton, Thomas Bastard, Everard Guilpin, Benjamin Rudyerd und Walter Raleigh als typische Vertreter des Middle Temple vgl. Arlidge 2000, 77–84.
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Nach und nach vergrößert sich die Gruppe. Zeugnis hierfür sind unter anderem die Verse Letters, also die an die Freunde addressierten bzw. ihnen gewidmeten privaten Donneschen Versepisteln.62 Diese expandierende Gruppe ebenso gelehrt wie respektlos schreibender, ihre Einfälle, ihren wit zelebrierender, aufstrebender und zugleich stets kritisch beobachtender Intellektueller lässt sich nunmehr fassen als eine ständig in Bewegung begriffene ‚Konstellation‘. In ihr artikuliert sich ein gemeinsamer Denk- und Aktionsraum, der gekennzeichnet ist durch gemeinsames Bildungsgut, Hoffnung auf Karriere, Skeptizismus und ein gehöriges Maß an Autoritätskritik, also über ein sie einendes politisches, juristisches, religionsbezogenes Interesse. In solchen Konstellationen kommt es zuweilen zu Aktionen mit hoher Amplitude. Entsprechend werden die involvierten Netzwerk-Akteure zuweilen ‚dazu gebracht‘, die gewährte Lizenz – insbesondere die der Revelsgrenzen – auf unvorhergesehene Weise zu überschreiten. Die ‚Peripherie‘ bricht ein ins ‚Zentrum‘.63 Und der Ort ernster Netzwerkstrategie wird zum Freiraum konstellativer Taktiken – oder auch einfach nur zum Ort des ‚Blödsinns‘. Solches bezeugen vermehrte Zwischenfälle an den Inns in den 1590er Jahren; so etwa 1591 im Middle Temple: Messrs. Lower, Fletwood, Martyn, Ameridyth, Thornhill, Swetnam, Davys, and Jacob […] broke the ordinance by making outcries, forcibly breaking open chambers in the night and levying money as the Lord of Misrule’s rent, and contemptuously refused to declare the names of others; and Mr. Lower abused Mr. Johnson, a Master of the Bench.64
1592 wird im Middle Temple der leading wit Richard Martin aufgrund ähnlicher Vorfälle der Inns verwiesen, John Davies zeitweilig von den Mahlzeiten ausgeschlossen. John Hoskins verliert seine eben erst angetretene Stelle als Fellow in Oxford aufgrund „a bitterly satyricall“ formal address zum Stellenantritt, Thomas Bastard ein Fellowship im New College wegen einer Schmähschrift auf die sexuellen Aktivitäten seiner akademischen Kollegen. Henry Wottons Botschafterkarriere stagniert, nachdem er sich (weit vor Wikileaks) bezeichnet als „an honest man, sent to lie abroad for the good of his country“. Schließlich eskaliert in der Saison 1597/98 im Middle Temple der Streit zwischen Martin und Davies um die Funktion des Prince d’Amour und endet
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Vgl. hierzu Donne 1976, 195–244, in denen viele der genannten Namen zumindest in ihren Initialen auftauchen. Zum hochenergetischen Moment, wenn in einer Kultur „Zentrum und Peripherie […] gewissermaßen die Plätze“ tauschen, vgl. Lotman 2010a, 193. Middle Temple Records I, 318, zitiert nach Finkelpearl 1969, 47; zu expliziten Patenschaften zwischen Lincoln’s Inn und Middle Temple einerseits sowie zwischen Gray’s Inn und Inner Temple andererseits vgl. ebd., 39.
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nach der Revelszeit im Februar 1598 in einer hirnlosen Attacke Davies’ gegen Martin: „He is expelled, never to return.“65 Das ab den frühen 1590er Jahren anzutreffende Milieu der Inns of Court schafft mithin einen in einem vorwiegend akademischen Netzwerk angesiedelten frühneuzeitlichen Denk- und Aktionsraum, in dem sich im Rahmen karnevalesker Lizenz mit einem Schlag nonkonformistisches Gedankengut mit Blick auf (nicht nur) theologische Positionen artikulieren lässt, welches auf spätere Formen praktizierter Toleranz zu verweisen beginnt.66 Dies folgt der Grundfigur der Emergenz: was möglicherweise zunächst gesamtgesellschaftlich lediglich als ‚im wilden Außen‘ befindlich angesehen wird, gewinnt mit zunehmender diskursiver Artikulierbarkeit innere Dignität und Geltung.67 Donnes dritte Satire ist das Zeugnis einer religiösen Explosion.
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Zu den Belegen vgl. Finkelpearl 1969, 47 und 55. Auch wenn Donne Lincoln’s Inn etwa 1595 verlassen hat, so befindet er sich gleichwohl natürlich immer noch in London und im Umkreis des Milieus der Inns. Dies erfolgt allerdings häufig, wie im Falle Donnes, noch unter Maßgabe des Zirkulierens der verfassten Texte rein in Manuskriptform; es verweist allerdings auch, wie schon Finkelpearl 1969, 62–80, betont, auf die Entstehung der Tradition einer proto-demokratischen, parlamentaren Debattenkultur. Zum Begriff des ‚wilden Außen‘ als dem Ort eines ungehört verhallenden Sagbaren vgl. Foucault 1982, 25.
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KĘSTUTIS DAUGIRDAS
Kommunikationsstrategien der Sozinianer und Remonstranten vor und nach der Dordrechter Synode (1618/1619)
1. Die Ausgangsfrage Am 10. November 1619 beendete ein etwa dreißigjähriger Mann in Blois einen Brief, den er mit dem Namen Eustachius als Unterschrift versah. Auf den zusammengefalteten und versiegelten Brief schrieb Eustachius auf Latein den Empfängernamen: „Eruditissimo iuveni Domino Gabrieli Thrassylo amico meo rectissimo“1 – ‚an den hochgelehrten Jüngling, Herrn Gabriel Thrasyllus, den aufrechten Freund‘. Weil er offenbar diese Angaben als nicht ganz ausreichend ansah, ergänzte sie Eustachius sogleich durch einen Zusatz in deutscher Sprache: „Zu Leiden bey herrn Andreas Konerding Studenten zu erfragen.“2 Und in der Tat war der deutsche Zusatz ganz unentbehrlich. Einen Briefempfänger namens Gabriel Thrasyllus – das darf man schon an dieser Stelle verraten – gab es nämlich in Wirklichkeit ebenso wenig wie einen Briefabsender Eustachius. Wie aus der kurzen Notiz – „redditae Leidae“3 – ablesbar, erreichte der Brief des Eustachius am 28. November 1619 in der niederländischen Stadt seinen Adressaten. Dabei blieb er keineswegs der einzige, der in den darauf folgenden Wochen, Monaten und Jahren dem Empfänger Gabriel Thrasyllus zugestellt wurde. Schon gut zwei Wochen später – am 15. Dezember – wurde ihm – ebenfalls in Leiden – der am 15. November in E. abgefasste Brief des Johannes Philadelphus Francus ausgehändigt;4 im Jahr 1620 folgten zwei weitere Schreiben des Robertus Eustachius, welche diesmal, im März5 und im Juni 16206 fertiggestellt, aus Paris kamen. Am 1. September 1622 erhielt
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Universiteitsbibliotheek Leiden, Bijzondere Collecties, PAP 2, fol. [1]v. Universiteitsbibliotheek Leiden, Bijzondere Collecties, PAP 2, fol. [1]v. Universiteitsbibliotheek Leiden, Bijzondere Collecties, PAP 2, fol. [1]v. Kotońska 1993, 191. Der im März in Paris verfasste Brief befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek, Collectio Camerariana, Bd. 4, fol. 67r–v. Vgl. Kotońska 1993, 187. Vgl. den am 27. Juni 1620 in Paris verfassten Brief des Robertus Eustachius, in: Universiteitsbibliotheek Leiden, Bijzondere Collecties, PAP 2: „Eruditis. juveni D. Gabrieli Thrasyllo amico
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Thrasyllus schließlich den letzten in diesem Zusammenhang wichtigen Brief, der ihm von Johannes Philadelphus Francus am 21. Juli 1622 von Danzig aus zusammen mit einem Bündel Bücher zugeschickt wurde. Im Laufe des Briefes vermerkte Philadelphus, dass jene Bücher noch vor Ostern dem liebsten Thrasyllus von Eustachius versprochen worden seien.7 Die erwähnten fünf Briefe, die heute noch erhalten sind, zeugen deutlich von einem doppelten Sachverhalt. Die offensichtlich untereinander bekannten Eustachius, Thrassylus und Philadelphus kommunizierten über Monate und Jahre hinweg miteinander brieflich, und zwar in einer kodierten Sprache. Wer waren diese Männer und was veranlasste sie zu einer solchen Vorgehensweise? Die Frage nach der Identität der Männer lässt sich schnell und einfach beantworten. Robertus Eustachius, der dreißigjährige Briefabsender aus Blois und Paris, hieß in Wirklichkeit Martin Ruarus (1588 oder 1589–1657) und war einer der bekanntesten und bestvernetzten Sozinianer im 17. Jahrhundert.8 Hinter Gabriel Thrasyllus versteckte sich Johannes Andreas Koenerding (ca. 1590–1657), ein Schüler des auf der Dordrechter Synode mit dem Anathema belegten Theologieprofessors Konrad Vorstius (1569–1622) und späterer Prediger der Remonstranten in Gronau und Zwammerdamm.9 Bei Johannes Philadelphus Francus handelte er sich um Johannes Crell (1590–1633), der, wie Ruarus aus dem Altdorfer Ernst Soner-Kreis10 hervorgegangen, in der Folgezeit zum bedeutendsten Theologen der Sozinianer nach Fausto Sozzini (1539–1604) wurde.11 Ruarus und Koenerding kannten sich seit ca. 1618, als sie einander an der Universität Leiden begegneten, und Ruarus war wohl derjenige, der die Verbindung zwischen Koenerding und Crell herstellte. Die Beantwortung der Frage nach den Gründen für verschlüsselte Kommunikation ist wesentlich komplexer; die folgenden Überlegungen werden sich ihr eingehender
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meo charissimo. Lugduni Batavorum dentur Andreae Konerdingio. Redditae Amplissimo iuveni 12. Jul. […] 1620.“ Kotońska 1993, 192: „Scripserat adhuc ante festum Paschatos, ni fallor, ad te Robertus Eustachius et libros hoc tibi promiserat. Moram tu amice ignosces. Citius mitti nulla ratione potuere. Accipe itaque nunc.“ Vgl. zu Martin Ruarus Wagenmann 1890, 96 f.; Chmaj 1957, 65–208; Tazbir 1991, 554–558; Hauptmann 2004, 658, und den Beitrag von Martin Schmeisser in diesem Sammelband. Die Entschlüsselung des Kryptonyms „Robertus Eustachius“ findet sich in der Abschrift des am 27. Juni 1620 in Paris verfassten Briefs, die Ruarus wohl für sich selbst erstellt hatte. Vgl. Universiteitsbibliotheek Leiden, Bijzondere Collecties, PAP 2, fol. [1]r: „Rob. Eustachius. / Martinus Ruarus“. Vgl. zu Johannes Andreas Koenerding Kossmann (1924), 890–892. Vgl. dazu Caccamo 1970, bes. 45–52. Vgl. zu Johannes Crell Pastorius von Hirtenberg (post 1656), *1r–*4v; Bock 1774, bes. 116–130; Schimmelpfennig 1876, 586–587; Wajsblum 1938, 101–104, und Koch 1999, 491. Die in der Bayerischen Staatsbibliothek, Collectio Camerariana, Bd. 4, fol. 64r–v und 69r–v, aufbewahrten Briefe des Johannes Philadelphus Francus sind mit handschriftlichen Zusätzen versehen, die sie als Schreiben Crells identifizieren. Vgl. Kotońska 1993, 187, 191, Anm. 6, und 192, Anm. 12.
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widmen. Hierbei werden zwei Punkte beleuchtet: Die Kommunikationsgepflogenheiten der Sozinianer aus dem Soner-Kreis, wie man sie im Zeitraum von 1612 – Tod Ernst Soners – bis 1616/1617 – Einschreiten der Obrigkeiten gegen sozinianisch Gesinnte in Altdorf – beobachten kann, und die Kommunikationsstrategien der Remonstranten und Sozinianer nach der Dordrechter Synode (13. November 1618 bis 9. Mai 1619). In Bezug auf beide Punkte lassen sich mehrere personelle und strukturelle Überschneidungen beobachten, die über die Frage nach dem movens der verschlüsselten Kommunikation und ihren Details Aufschluss geben. Quellengrundlage für die Ausführungen ist einerseits der Briefwechsel der Sozinianer Martin Ruarus und Johannes Crell und andererseits die Korrespondenz der führenden Remonstranten Johannes Wtenbogaert (1557–1644) und Simon Episcopius (1583–1643).
2. Kommunikationsgepflogenheiten des Altdorfer Sozinianerkreises von 1612 bis 1616/1617 Bei genauer Betrachtung der im anvisierten Zeitraum zwischen Martin Ruarus und seinen Sozinianer-Freunden Joachim Peuschel (1592–1629), Johannes Cobius (1590– 1661), Georg Ludwig Leuchsner, Johannes Crell u. a. ausgetauschten Briefe lassen sich drei Gruppen ausmachen. Die erste Gruppe stellen die Briefe dar, die mit den echten Namen der beteiligten Personen und Informationen jeglicher Art unbefangen umgehen. Die zweite besteht aus Schreiben, in denen teils echte Namen, teils Kryptonyme verwendet werden. Und drittens gibt es in konsequent verschlüsselter Sprache abgefasste Briefe, so dass ein unbeteiligter Dritter, der die angewandten Codes nicht kennt, die korrespondierenden Personen unmöglich identifizieren kann. Zur ersten Gruppe zählen der am 10./20. März 1614 entstandene Brief Georg Ludwig Leuchsners an Ruarus12 sowie die Schreiben des Ruarus an seine Freunde Johannes Cobius (undatiert, vermutlich September 1614),13 Joachim Peuschel (undatiert, vermutlich Herbst 1614)14 und Johannes Crell (undatiert, vermutlich Jahreswende 1614/1615).15 Ein typischer Vertreter der zweiten Gruppe dürfte der mit hoher Wahrscheinlichkeit im September 1614 verfasste Brief des Martin Ruarus an seinen Bruder Joachim sein.16 In konsequent verschlüsselter Sprache abgefasst sind schließlich die Schreiben des Ruarus an Joachim Peuschel, alias Strabo, vom 12./22. Januar 161617
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Ruarus 1729, Nr. 24, 507–509. Ruarus 1729, Nr. 10, 426 f. Ruarus 1729, Nr. 17, 447–484. Ruarus 1729, Nr. 13, 431–436. Ruarus 1729, Nr. 11, 417–419. Ruarus 1729, Nr. 9, 413–426.
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und an einen nicht mehr zu identifizierenden Ulricus Rudigerus vom 17./27. November 1617.18 Die Briefe der ersten Gruppe verdienen keine allzu lange Beachtung. Sie behandeln allesamt Fragen, die die jungen Leute aus dem Altdorfer Soner-Kreis in den Jahren 1614 und 1615 besonders interessierten und bewegten, und sie tun dies ziemlich direkt. So wollte etwa der Nürnberger Leuchsner von Ruarus wissen, wie es die in ihren Konventikeln durch die Abendmahlsgemeinschaft verbundenen Sozinianer künftig mit der Teilnahme am lutherischen Abendmahl halten wollten: Er selbst habe sich seit Jahren vom lutherischen Abendmahl erfolgreich ferngehalten und sehe keine Notwendigkeit von dieser Haltung abzurücken.19 Ruarus wiederum ließ seine Gesinnungsgenossen an seinen Eindrücken und Einsichten teilhaben, die er während seiner im Herbst 1614 und im Frühjahr 1615 erfolgten Reise und Aufenthalte in den sozinianischen Gemeinden in Śmigiel (Schmiegel), Międzyrzecz (Meseritz) und Raków gewonnen hatte.20 Richtig spannend wird es bei der zweiten und dritten Gruppe. In den Briefen von Martin Ruarus an den Bruder Joachim, an Peuschel und an den vermeintlichen Rudigerus kommt – soweit keine weiteren Quellen auftauchen – zum ersten Mal die kodierte Sprache zum Einsatz. Ihre nähere Untersuchung zeigt, dass vor allem in den Schreiben an Joachim Ruarus und an Peuschel Kryptonyme vorkommen, die auf der von den sozinianisch gesinnten Studenten in Altdorf erstellten Liste zu finden sind; diese wurde von Gustav Georg Zeltner, dem späteren Geschichtsschreiber des Altdorfer Sozinianer-Kreises, in seiner 1729 erschienenen Historia crypto-socinismi abgedruckt.21 Mit Rückgriff auf die Liste verwendete jedenfalls Martin Ruarus in dem aus dem großpolnischen Śmigiel verfassten Brief an seinen Bruder Decknamen, um einige Gesinnungsgenossen unkenntlich zu machen. Er verfuhr dabei freilich nicht konsequent und verschlüsselte lediglich die Namen von Johannes Cobius, alias Onesimus,22 und von Nikolaus Leimer, alias Collectus,23 wobei er den Ersteren gegen Ende des Briefes
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Ruarus 1729, Nr 20, 494–497. Ruarus 1729, Nr. 24, 709: „[…] si nulla alia causa idonea urgeat, […] a mensa Lutheranorum, semper abstinendum, cavendumque arbitror: uti ego per Dei gratiam hactenus a plurimis annis, nullo extraneo vel periculo vel scandalo attento, firmiter tenui observavique.“ Ruarus 1729, Nr. 10, bes. 426, Nr. 13, 431–436, und Nr. 17, bes. 447–452. Zeltner 1729, 152–154. Martin Ruarus an Joachim Ruarus (undatiert, vermutlich September 1614), in: Ruarus 1729, Nr. 11, 427 f.: „Literas has ad te Smiglia mitto, mi Frater, Majoris Poloniæ oppido, unde brevi Racoviam usque progrediar, ubi, Deo volente, hibernaturus sum, proximo autem vere, nisi quid aliud intervenerit, Altorphium redibo, & cum Burgstorphio meo, quem interea Onesimi nostri fidei commiseram, Argentinam proficiscar, prout ipsius jusserunt.“ Ruarus 1729, 428: „Supellectilem tuam per Colletum [sic] Rostochium ego misi, additis ad Theodorum Bussium literis, a quo te spero omnia recte accepturum esse.“
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dann doch noch namentlich nannte.24 Die anderen Altdorfer Studienfreunde, die zum engeren Sozinianer-Zirkel gehört hatten, wie etwa der aus Siebenbürgen stammende Matthias Rhau und der inzwischen in Wittenberg studierende Johannes Vogel (1589– 1663), wurden unbefangen mit all ihren Plänen erwähnt.25 In diesem Brief war die Verwendung von Kryptonymen also noch keine Strategie, sondern hatte etwas Spielerisches und Streichartiges an sich – zumal Martin seinem Bruder auch anvertraute, dass er den Eltern von der unternommenen Reise nach Polen gar nichts erzählt hätte und sie ihn immer noch in Altdorf wähnten.26 Kodierte Sprache als Kommunikationsstrategie kommt folgerichtig nur bei den Briefen der dritten Gruppe vollends zum Tragen. Besonders konsequent setzte sie Ruarus im Jahr 1616 ein. Vor dem Hintergrund der einsetzenden repressiven Maßnahmen des Nürnberger Rats gegen die Sozinianer, die im Frühjahr 1616 zur Verhaftung Peuschels, Vogels u. a. führten,27 verfasste Ruarus während seines Aufenthaltes in Straßburg am 12. Januar 1616 einen verschlüsselten Brief an den zum damaligen Zeitpunkt in Jena weilenden Joachim Peuschel.28 Weil er offenbar sich selbst und den befreundeten Briefempfänger schützen wollte, benutze Ruarus darin sowohl für Personen als auch für Orte durchlaufend Codes, auf die sich die Altdorfer Sozinianer verständigt hatten. So berichtete er unter anderem, dass er dem in Straßburg getroffenen Badenses (= Täufer), die Institutiones Paschasii wie auch die Catechesis Veronensis zum Lesen gegeben habe.29 Gemeint waren die 1604 im Druck erschienene Unterrictung von den vornemsten Hautpuncten der Christlichen Religion des Christoph Ostorodt (gest. 1611) und der Rakówer Katechismus.30 Bei der Behandlung der spezifisch sozinianischen Inhalte wählte Ruarus auch im Jahr 1617 eine konsequent verschlüsselte Sprache. In einem am 18./28. Oktober 1617 unterschriebenen Brief an einen gewissen Ulricus Rudigerus, in welchem er die sozinianische Anthropologie und das Sündenverständnis erörterte, benutzte Ruarus 24
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Ruarus 1729, 429: „Literas, quas ad me daturus es, mitte modo ad Vogelium, aut ad Colletum [sic]: uterque enim dabit operam, ut illas Racoviæ accipere possim. Hoc tamen scito, me permisisse Cobio, ut quæcunque literæ mihi inscriptæ Altorphium venerint, eas ipse resignet, & exemplum tantum ad me mittat: itaque nolim, ut quicquam inscribas ipse, quod a fratribus legi nolis, donec ipse Altorphium rediero.“ Ruarus 1729, 428: „Itineris mei comites Jena Meseritium usque duos habui Matthiam Rhawium, qui Racoviam mecum tendit, & Joannem Vogelium, qui, salutatis Meseritii fratribus, Witembergam redibit, totiusque itineris nostri historiam ad te perscribet […].“ Ruarus 1729: „Literas, quas vides, mitte ad parentes, sed post aliquot menses, tempore ex subscriptione capto: finxi enim illas, tanquam in Novembri datas, ne sentiscant parentes me in Poloniam discessisse.“ Braun 1933, bes. 79 f. Ruarus 1729, Nr. 9, 413–426. Ruarus 1729, Nr. 9, 425: „Dedi ipsis [sc. Badensibus] legendas Paschasii institutiones & catechesin Veronensem, ut tanto melius, si quid nostrum improbaverint, cum illis agere possim.“ Vgl. zur Aufschlüsselung der Kryptonyme Zeltner 1729, 153 und 156: „Anabaptistae, Badenses“, „Christophorus Ostorodus […] Paschasius vel Paschalodus“ und „Racovia, Verona vel Cavaria.“
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sowohl für den Adressaten wie auch für die Ortsnamen Kryptonyme.31 Diesmal fielen sie anders aus als die in Altdorf entwickelten und bisher verwendeten, was ihre Entschlüsselung erheblich erschwert. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass der Brief in den Niederlanden entstanden ist und vielfach auf die sich zuspitzenden Auseinandersetzungen zwischen Remonstranten und Kontraremonstranten anspielt.32 Die Identifikation des Adressaten ist jedenfalls bei der jetzigen Quellenlage nicht möglich. Fasst man die skizzierten Entwicklungen zusammen, so darf man folgern, dass mehrere Faktoren zusammenkommen mussten, um die Sozinianer im betrachteten Zeitraum zu verschlüsselten Kommunikationsformen zu verleiten. Den wichtigsten unter diesen Faktoren stellten die bereits laufenden oder befürchteten Repressalien durch die Obrigkeiten dar, die dem Absender oder dem Adressaten der Briefe drohten, sollten die Schreiben abgefangen werden. Als nicht minder wichtig erweist sich auch der Inhalt: War der Brief im Umfeld der misstrauisch gewordenen Obrigkeiten entstanden und handelte es sich darin um spezifisch sozinianische Anliegen oder Personen, tat man alles, um die Identifikation der Briefpartner durch unerwünschte Dritte zu verunmöglichen.
3. Kommunikationsstrategien der Remonstranten und Sozinianer nach der Dordrechter Synode 1618/1619 Dass die beiden letztgenannten Faktoren auch die Kommunikationsstrategien der Sozinianer und Remonstranten nach der Dordrechter Synode maßgeblich bestimmten, lässt sich am Briefwechsel der Sozinianer mit den Remonstranten sowie an der Korrespondenz der Remonstranten untereinander gut ablesen. Auch hier kann man das erhaltene Material in drei Gruppen einteilen – unverschlüsselte, teils verschlüsselte und konsequent kodierte Briefe. Die wechselnden Formen, derer sich die Briefverfasser im gleichen Zeitraum bedienten – Ruarus tauschte z. B. in den Jahren 1619 und 1620 unverschlüsselte wie kodierte Briefe aus –, lassen sich am besten durch das wechselnde Zusammenspiel der die Kommunikationsstrategien bedingenden Faktoren erklären. Was die Kommunikation der Sozinianer mit den Remonstranten anbelangt, so spiegelt der eingangs erwähnte Briefwechsel zwischen Ruarus, Koenerding und Crell aus den Jahren 1619 bis 1622 das optimale Zusammentreffen der zur Verschlüsselungsstrategie führenden Faktoren auf fast idealtypische Art und Weise wider. In Koenerding hatten Ruarus und Crell einen den Sozinianern gegenüber aufgeschlossenen Re31 32
Ruarus 1729, Nr 20, 494–497. So in Ruarus 1729, 494 f: „In Peloponneso vehementer nunc turbatur, totaque provincia in partes, & quod mireris, propemodum pares, si Cœlestinum & Genuam, magni altrinsecus nominis ac momenti, excipias, discessit; unde velitationes & pugnæ non linguarum modo, sicut pridem Massiliæ tres quatuor aut fortasse plures proh dolor!“
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monstranten zum Briefpartner, der sich zur fraglichen Zeit in Leiden befand und sich den kontraremonstrantischen Säuberungen im Sinne der Dordrechter Beschlüsse ausgesetzt sah. Darüber hinaus waren die Briefe entweder als Begleitschreiben zu prekären Sendungen – etwa sozinianischen Büchern – gedacht, oder aber sie enthielten hoch brisante Informationen. So bat Ruarus in seinem Schreiben vom 10. November 1619 aus Blois Koenerding darum, Johannes Evertsz Geesteranus (1586–1622), alias Spiritius, doch dazu zu überreden, dass er das ihm angetragene Amt annimmt und sich auf diese Art und Weise um das christliche Gemeinwesen und um die Ehre Gottes verdient macht.33 Bei Geesteranus handelte es sich um den gelehrten Prediger der Remonstranten zu Alkmaar, der auf der 138. Sitzung der Dordrechter Synode wegen seines „verführerischen Sozinianismus“ verurteilt worden war34 und den Ruarus nun über Koenerding für das Rektorenamt des Rakówer Gymnasiums zu gewinnen suchte. In dieser Situation ging es für Koenerding um die größtmögliche Gefährdung, und so wandten Ruarus und Crell in ihren Briefen die Kryptonyme ganz konsequent an. Dass die betroffenen Personen praktisch zur selben Zeit auch anders kommunizieren konnten, belegen folgende Beobachtungen. Der am 1. Oktober 1619 in Paris verfasste Brief des Ruarus an Nikolaus Dümmler, einen weiteren Sozinianer aus dem Altdorfer Kreis, ist nicht verschlüsselt.35 Und auch die zu Beginn des Jahres 1620 zwischen Ruarus und Petrus Bertius (1565–1629), dem seines Amtes enthobenen Leidener Professor, späteren Konvertiten und Kartographen Ludwigs XIII., ausgetauschten Schreiben gehen mit Namen und Informationen unbefangen um.36 Offensichtlich sahen Ruarus und seine Briefpartner in diesen Situationen keine unmittelbare Gefahr für ihre Personen: Ruarus weilte in Paris, wo man die Sozinianer noch nicht kannte, Dümmler war inzwischen zum Pfarrer der sozinianischen Gemeinde im großpolnischen Międzyrzecz geworden, und die zwischen Ruarus und Bertius ausgetauschten Informationen enthielten außer Nachrichten zur allgemeinen Situation in Frankreich und in den Niederlanden keinerlei subversives Gedankengut. Im Fall von Petrus Bertius muss man freilich auch die Tatsache berücksichtigen, dass die niederländischen Professoren, die den Remonstranten zugetan waren, zunächst nur sehr zögerlich zur kodierten Sprache griffen und sie in der Regel erst nach ihrer Exilierung anzuwenden begannen. Der teilweise verschlüsselte Brief des ehemaligen Leidener Theologieprofessors Simon Episcopius an Conrad Vorstius vom 24. Juli 1621 stellt einen der ersten solcher Versuche seitens der Remonstranten dar, die Kommunikation mit gefährdeten 33
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Ruarus an Koenerding, 10. November 1619, in: Universiteitsbibliotheek Leiden, Bijzondere Collecties, PAP 2, fol. [1]r: „Rogo vero te, mi Thrasylle, ut e vestigio Spiritium nostrum, ubiubi sit, convenias, omnibusque modis ab eo contendas, ut provinciam hanc, quam ei destino, suscipiat, qua certe non modo reipub. Christianae divinaeque gloriae, cujus eum studiosissimum scio, prodesse egregie, sed & rei suae familiari, prae[?] ut nunc est, optime consulere potest.“ Ruys 1914, 444. Ruarus 1729, Nr. 10, 55–58, bes. 56 f. Ruarus 1729, Nr. 11 (Ruarus an Bertius, undatiert), 58–61, und Nr. 12 (Bertius an Ruarus, 6./16. April 1620), 61–63.
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Gesinnungsgenossen für diese möglichst ungefährlich zu gestalten. Vorstius weilte zu der Zeit noch bei Utrecht,37 und Episcopius, der bereits nach Antwerpen ausgewichen war, berichtete in seinem Brief ausführlich von den Zukunftsplänen des führenden Zirkels der Remonstranten: Man habe vor, nach Rouen in Frankreich ins Exil zu gehen; da Megnedinius gegenwärtig alle Hände voll zu tun habe, möge der Briefadressat mit der Widerlegung der im Druck erschienenen Akten der Kontraremonstranten – das heißt der Dordrechter Synodalbeschlüsse – fortfahren;38 was die Übersetzung des von den Remonstranten kürzlich angefertigten lateinischen Glaubensbekenntnisses ins Niederländische angeht, so arbeite Pagius daran;39 auch Victor könnte zu diesen Arbeiten hinzugezogen werden, litte er nicht unter Melancholie etc. etc.40 Hinter den Decknamen steckten die für die theologische Positionierung, aber auch für die Neuformierung der zersprengten Remonstranten bedeutenden Persönlichkeiten Johannes Wtenbogaert (= Megnedinius), Adriaan Borrius/van den Borre (= Pagius, 1565–1630) und Nikolaus Grevinchoven (= Victor, gest. 1632).41 Im Verlauf der 1620er Jahre bauten die erwähnten Exilremonstranten sowohl untereinander als auch mit den in der Heimat verbliebenen Gesinnungsgenossen weitverzweigte Kommunikationsnetzwerke auf, in denen meistens kodierte Nachrichten kursierten. Vor allem bei der Abfassung von Briefen in die Vereinigten Provinzen wandte man ausgeklügelte Verschlüsselungsstrategien an. Sehr aufschlussreich in dieser Hinsicht ist der intensive Briefwechsel von Wtenbogaert, der ein vielfältiges Repertoire an Verschlüsselungsoptionen offenbart. Wie man an seinem Brief an Petrus Cupus (ca. 1580–1646), den Untergrundprediger der Remonstranten, vom 24. Oktober 1623 exemplarisch sieht, wurden zunächst Kryptonyme benutzt: Den Brief unterschieb Wtenbogaert mit H. v. M. und er richtete ihn an den „Eersamen, vrommen, discreten Sr Peter Tielemanns, coopman.“42 Als aber die Obrigkeiten der Vereinigten Provinzen Ende 1623 hinter die wahre Identität des Kaufmanns Tielemanns gekommen waren und Peter Cupus am 27. Dezember in Amsterdam festgenommen hatten,43 sah man sich zu einer noch komplexeren Verschlüsselungsstrategie genötigt. In dem am 1. April 1624 37 38
39 40 41
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Vgl. Wenneker 1998, 86, und den Beitrag von Jan Rohls in diesem Sammelband. Epistolae 1684, Nr. 397, 661a: „Rotomagum cogitamus, transituri Caletum […] Quae in Acta Contraremonstrantium à V.R. animadversa sunt, ea penes me habeo […]. Megnedinius (Uytenbogardus) satur jam scribendi […].“ Epistolae 1684, Nr. 397, 661b: „Pagius (Borrius) in transferenda Confessione totus occupatur.“ Epistolae 1684, Nr. 397, 661b: „Si D. Victori placeret, posset ille isti rei optime vacare, nisi cum illi pituita aut melancholia molesta est […].“ Die Entschlüsselung der Kryptonyme ‚Megnedinius’ und ‚Pagius’ ist bereits auf den Seitenrändern des Briefentwurfs festgehalten worden. Vgl. Universiteitsbibliotheek Amsterdam, Bijzondere Collecties, III E 1, fol. 118r und 118v. Offensichtlich von dorther wurde sie auch von den Herausgebern der Epistolae 1684 übernommen. Zur Aufschlüsselung des Kryptonyms ‚Viktor’ vgl. Wtenbogaert 1871, 197, Anm. 19. Wtenbogaert 1871, 38. Janssen 1868, 458.
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entstandenen Brief an Adriaan Borrius, alias Hans de Vlaming, in welchem allerlei Anliegen der Remonstranten besprochen wurden, versteckte Wtenbogaert die verwendeten Kryptonyme zusätzlich hinter Zahlenchiffren. Der oben erwähnte Nikolaus Grevinchoven, alias Victor, taucht hier beispielsweise unter der Zahlenkombination 16 – 2 15 ჻ 13 auf.44 Erst nach 1525 – im April 1525 starb Moritz von Oranien, die wichtigste politische Figur der Kontraremonstranten – kehrten die Remonstranten zu wieder halbwegs normalen Korrespondenzpraktiken zurück. Dies vollzog sich allerdings allmählich und unter ständigem Rückgriff auf bewährte Vorsichtsmaßnamen. Noch im Januar 1627 meinte Wtenbogaert den aus Rouen nach Rotterdam umgezogenen Simon Episcopius mit dessen Decknamen – „Simon de Wachtere, coopman“ 45 – anschreiben zu müssen.
4. Zusammenfassung Der Briefwechsel der aus dem Soner-Kreis hervorgegangenen Sozinianer in den Jahren 1612 bis 1617 belegt, dass diese unterschiedliche Kommunikationsstrategien befolgten, auf die sie sich wohl noch während ihrer Altdorfer Studienzeit vorbereitet hatten. Zunächst mehr spielerisch denn bis in alle Einzelheiten durchgeplant, wussten sie eine Liste mit den Kryptonymen zu erstellen, die dann angesichts der vom repressiv gewordenen Nürnberger Rat ergriffenen Maßnahmen eine Verwendung fand: Im Brief an Peuschel vom 12. Januar 1616 verschlüsselte Ruarus mit Hilfe dieser Liste ganz konsequent Namen wie auch weitere Inhalte, die gefährlich werden konnten. Dass man in den späteren Briefen des Ruarus, wie etwa im 1617 verfassten Schreiben an Ulricus Rudigerus, die in Altdorf entwickelten Kryptonyme nicht mehr findet, erklärt sich daraus, dass wichtige Mitglieder des Sozinianer-Kreises, Peuschel und Vogel, inzwischen verhaftet worden waren und Widerruf geleistet hatten. Um die offensichtlich nicht ungefährlichen, spezifisch sozinianischen Ansichten weiterhin ungefährdet austauschen zu können, legte man neue Kryptonyme an. Die beiden Faktoren – Repressalien durch die Obrigkeiten und spezifische Briefinhalte – bedingten maßgeblich auch die Kommunikationsstrategien der Sozinianer und Remonstranten nach der Dordrechter Synode. An den wechselnden Formen, zu denen die Briefverfasser unter Umständen im gleichen Zeitraum griffen – unverschlüsselte, teils verschlüsselte und konsequent kodierte Briefe –, lässt sich das unterschiedliche Zusammenspiel der Faktoren erkennen, die die Kommunikation bedingten: Mit einem gefährdeten Remonstranten in Leiden kommunizierten die führenden Sozinianer unter Anwendung ungleich größerer Vorsichtsmaßnahmen, als sie es mit irgendjemandem sonst taten. Ähnliches kann man in Bezug auf die Kommunikationsformen der 44 45
Wtenbogaert 1871, 195. Wtenbogart 1872, 92.
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Remonstranten beobachten, die um das Jahr 1524 infolge der Verhaftung ihres Gesinnungsgenossen Petrus Cupus zu recht komplexen Verschlüsselungsmethoden griffen. Erst nach der Abmilderung der Politik der kontraremonstrantischen Obrigkeiten in den Niederlanden kehrten die Remonstranten zu einem einigermaßen normalen Briefaustausch zurück. Dies vollzog sich allerdings allmählich und bei ständigem Rückgriff auf verschlüsselte Sprache als bewährte Vorsichtsmaßnahme. Abschließend und ausblickend: Auch nach der Rückkehr zu einer ‚normalen‘ Kommunikationspraxis blieb es bisweilen nicht aus, dass sich Etliches aus der über Monate und Jahre hinweg praktizierten Verschlüsselungspraxis in die reguläre Korrespondenzsprache hineinschlich. Ohne erkennbaren Grund konnten in den Briefen urplötzlich Kryptonyme auftauchen, die im Kontext der anderen eindeutig fixierten Namen und Sachverhalte deplatziert wirken. Als Martin Ruarus um das Jahr 1632 an Hugo Grotius eine Panegyrik seines sozinianischen Freundes Samuel Przypkowski (ca. 1592–1670) mit Begleitschreiben zuschickte, erklärte er darin, es sei derselbe Przypkowski, der die „Vita Turpilii“ verfasst habe.46 Ob spielend oder reflexartig – das lässt sich nicht mehr klären, hier traf wohl beides zusammen –, griff Ruarus mit ‚Turpilius‘ auf den Code für Fausto Sozzini zurück, der, einst von ihm und seinen Freunden in Altdorf kreiert,47 nun offenbar eine europäische Karriere angetreten hatte.
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Ruarus 1729, Nr. 31, 132 f.: „Mitto tibi hac occasione libellum de reformatione Ecclesiæ, quem præsens pollicitus tibi fueram, cujus auctor natione Marchicus diem in Transylvania nuper obiit: addo & Panegyricum Samuelis Przypcovii, viri nominis tui studiosissimi, cujus ingenium ex dissertatione de pace & concordia Ecclesiæ, & ex descripta Turpilii vita, quam coram tibi exhibui, æstimare, ni fallor, cœpisti.“ Zeltner 1729, 156: „Faustus Socinus, Turpillio, vel Beatus Turpillio.“
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Martin Ruarus – eine Zentralfigur des Altdorfer Antitrinitarismus
1. Einleitung Der Antitrinitarismus reifte ab dem späten 16. Jahrhundert zu einer der wirkmächtigsten und theologisch anspruchsvollsten Bewegungen, die aus der Radikalreformation hervorgegangen sind; mit seiner rationalistischen Religionsphilosophie übte er bekanntermaßen einen maßgeblichen Einfluss auf die Ausformung der Aufklärung – zu nennen wären in diesem Kontext etwa der englische Deismus und Protagonisten wie John Locke, William Whiston und Matthew Tindal. Unter der Regierungszeit des letzten Jagellonenherrschers Sigismund II. August (1548–1572) gelangte der Antitrinitarismus in Polen, wie es Otto Fock formuliert, zu einer „Ausdehnung und Blüthe“ wie nirgendwo sonst.1 Der aus Podlachien stammende Petrus Gonesius (ca. 1530–ca. 1571) war es, der als erster offen mit einem antitrinitarischen Bekenntnis hervortrat. Aus dem Gedanken, eine unitarisch-täuferisch orientierte Gemeinschaft zu gründen, entstand dann im Jahr 1569 im Palatinat Sandomierz auf den Ländereien des śarnówer Kastellans Jan Sienieński die Stadt Raków.2 Diese stieg nach ihrer Öffnung rapide zum Zentrum des Antitrinitarismus auf. Es entfaltete sich ein gewisser Wohlstand und die Kolonie, die bald eine der bedeutenderen Städte Polens war, erhielt beständig Zuwachs – darunter auch Vertreter des Adelsstandes. Ausdruck der kulturellen Blüte der Stadt war die Gründung einer eigenen Akademie und einer Druckerei.3 Für diese Entwicklungen hatte Fausto Sozzini, der zwischen den verschiedenen Untergruppierungen vermittelte, eine prägende Funktion; er formte die Theologie der polnischen Antitrinitarier, die sich selbst „polnische Brüder“ oder (in Abgrenzung zur calvinistischen Ecclesia maior) „Ecclesia minor“ nannten, so maßgeblich, dass sie später als „Sozinianer“ bekannt wurden.4 1 2 3 4
Fock 1847, 141. Zur Gründungsgeschichte der Stadt Raków vgl. Lubienieki 1685, 239 ff. Vgl. hierzu Fock 1847, 214 ff., und Tazbir 1983, 10 ff. Vgl. auch Wilbur 1947, 356 ff. Zur Entwicklung des antitrinitarischen Lehrbegriffs in Polen und der Rolle Sozzinis vgl. etwa Fock 1847 sowie Kot 1957, bes. 69 ff.
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Die Gründung der Rakówer Schule, die sich schnell zu einer profilierten Bildungsanstalt entwickelte, wurde auf das Anraten Stanisław Lubieniekis (sen.) um 1601/02 durch Jan Sienieńskis Sohn Jakob betrieben.5 Es handelte sich dabei nicht um eine Hochschule im heutigen Sinne;6 Sandius bezeichnete sie vielmehr als „gymnasium bonarum artium“.7 Der Unterricht griff jedoch in den höheren Klassen in das Gebiet der Universitäten hinüber.8 Im Mittelpunkt der Lehre stand selbstverständlich die Theologie; angeboten wurden auch philosophische und naturwissenschaftliche Veranstaltungen. Besonderen Wert wurde aber auf die philologische Erziehung der Schüler gelegt. Diese erhielten nicht nur eine humanistische Ausbildung, sondern sie wurden auch in den orientalischen Sprachen und zahlreichen Volkssprachen wie Französisch, Deutsch und Italienisch unterwiesen.9 Mit der Tätigkeit des Gymnasiums war die der Rakówer Druckerei eng verbunden. Die erst durch Alexander Rodecki und dann durch Sebastian Sternacki geleitete Offizin produzierte neben Kompendien für den Lehrbetrieb fast alle sozinianischen Hauptschriften.10 Darunter waren Werke, die auch als Propagandamaterial eingesetzt wurden, wie der sogenannte Rakówer Katechismus, die zentrale Bekenntnisschrift der Ecclesia minor: denn die kulturpolitische Stellung, die die Gemeinde realisierte, führte zur Idee der religionspolitischen Expansion. Diese wurde vor allem durch fahrende Studenten und Missionare getragen, die mit den in Raków gedruckten Büchern in reformierte Gebiete zogen, um dort besonders an den Hochschulen für die Rakówer Theologie zu werben; darauf sollte vermutlich auch die philologische Ausbildung der Schüler vorbereiten. Ihre Hauptzielgruppe war hierbei offenbar die Studentenschaft. Auf diese Weise kam auch Ernst Soner (1572/73–1612), der später als Philosophieund Medizinprofessor an der Academia Norica zu Altdorf tätig war, mit dem Antitrinitarismus in Berührung.11 Nach seinem Studium in Altdorf ging er auf eine Bildungsreise, die ihn unter anderem nach Leiden führte, wo er durch seine Gelehrsamkeit bald großes Ansehen erwarb. Andreas Voidovius (ca. 1550–ca. 1622) und Christoph Ostorodt (ca. 1575–1611), die am 11. Juli 1598 von Polen in die Niederlande gereist waren, bemühten sich daher um seine Freundschaft. Beide standen als Geistliche im Dienste der Ecclesia minor und propagierten in der freien Republik antitrinitarisches Schriftgut, bis ihre Aktivitäten den Unmut der Obrigkeit erregten.12 Es war Voidovius, 5 6 7 8 9 10
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Vgl. hierzu Lubienieki 1685, bes. 241. Vgl. hierzu Fock 1847, 214 f. Sandius 1684, 97. Fock 1847, 214 f. Vgl. hierzu etwa Wrzecionko 1963, 79 f. Zur Geschichte der Antitrinitarier-Buchdrucker Rodecki und Sternacki vgl. Kawecka-Gryczowa 1974. Das Buch enthält eine umfassende Bibliographie der aus ihren Offizinen hervorgangenen Werke; vgl. ebd., 135–348 (Rodecki: 141–193; Sternacki: 195–348). Zu Soner vgl. etwa Wallace 1850, Bd. 2, 434–440; Will 1757, 713–718, Bock 1774, 894–903 und Baier 1728, 26–35. Vgl. hierzu Wallace 1850, hier Bd. 2, 394–398 [Art. 125: „Christopher Ostorod“].
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der Soner für den Antitrinitarismus gewinnen konnte; darauf weist jedenfalls ein Eintrag von ihm in Soners Stammbuch hin.13 Während seiner Lehrtätigkeit, die Soner dann ab 1605 bis zu seinem Lebensende in Altdorf (1612) ausführte, betrieb auch er die Streuung der sozinianischen Lehren. An der Academia Norica formierte sich dadurch ein weitgehend studentischer DissidentenZirkel, aus dem bedeutende Mitglieder der Ecclesia minor hervorgingen, wie Johann Crell (1590–1633) und Martin Ruarus (1588–1657). Zunächst waren die Protagonisten des Soner-Zirkels darum bemüht, alles Aufsehen zu vermeiden; sie entwickelten ihre anstößigen Ansichten „im Geheimen in philosophischem [sic!] Privatissimis“;14 die Verwirklichung eines religiösen Gemeinschaftslebens fand allem Anschein nach nicht statt. Gegenüber ihrem rechtgläubigen Umfeld betrieben die Anhänger Soners, der nur mit großer Vorsicht um neue Mitglieder warb, gleich den italienischen Radikalaristotelikern Verhehlung. Und dies zu Recht, denn nachdem die Gruppe sich auf diese Weise über eine gewisse Zeit in kleinem Rahmen ungestört entfalten konnte, wurde sie aufgrund der Indiskretionen, die zwei ihrer Mitglieder an den Universitäten von Jena und Wittenberg begingen, durch den harten Eingriff der Obrigkeit zerschlagen.15 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass das Wirken Martin Ruarus’ für dieses dramatische Ende bestimmend war. Nach Soners Tod erhielt die durch ihn begründete Gruppe eine neue soziale Ausrichtung und Ordnung, indem sie sich der Ecclesia minor als Institution zuwandte; durch die Führung Ruarus’, der als Gemeindeältester fungierte und entschieden den Anschluss an die sozinianische Kirche suchte, eigneten sich die Altdorfer progressiv das handlungspraktische Regelsystem der Rakówer an, nach dessen Normen sie ab 1614 zunächst nach innen agierten und dann aber auch nach außen hin wirkten. Die Gruppe kam dadurch zwar Forderungen nach, welche die Rakówer Theologen (Ostorodt) bereits 1607 gestellt hatten, sie wandte sich 13
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Es handelt sich um ein Exemplar des Emblembuchs von Andrea Alciato, das heute in der UB Erlangen aufbewahrt wird (Ms. 2131; Andrea Alciato: Emblemata V.C. Andreæ Alciati Mediolanensis Iurisconsulti […]. Lugduni Batavorum: Ex officina Plantiniana, Apud Franciscum Raphelengium 1596). Auf dem schönen ledernen Einband des Buches sind Soners Initialen (E S N) und die Jahreszahl 1597 eingeprägt. Der Eintrag Voidovius’ findet sich auf einem im Anhang des Buches beigebundenen Bogen (Seite 3a) und lautet folgendermaßen: „Oseae 14./ Quis sapiens est intelliget ista in/telligens, et sciet haec? quia rectae/ viae Domini, et justi ambulabunt/ in eis: praevaricatores verò cor/ruent in eis./ Ornatissimo juveni D[omin]o/ Ernesto Sonero Norim/bergensi artium et phi/losophiae magistro, stu/dioso pietatis: amico ho/norando Andreas Voido/vius scripsi Lugduni Ba/tavor[um]. Septembris 10./ A[nno] unigenae Dei 1598.“ Auffällig ist, dass dieses Schriftzitat auch auf den Titelblättern der polnischen Editio princeps (1605), der deutschen Fassung (1608) und der ersten lateinischen Version (1609) des Rakówer Katechismus wieder begegnet; auf dem Titelblatt der Schmalz’schen Übersetzung heißt es: „Ose. 14. 10. Die wege des Herren sind richtig / vnd die gerechten werden darinnen wandeln/ aber die vbertretter werden fallen darinnen.“ Möglicherweise handelte es sich um eine Art Wahl- und Erkennungsspruch der polnischen Sozinianer. Fock 1847, 235. Der genaue Verlauf der Ereignisse ist bei Karl Braun dargestellt; vgl. Braun 1933.
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infolgedessen aber auch von Soners philosophischen Ideen und der durch ihn propagierten Sozialpraxis (Dissimulation/Nikodemismus) ab, um nach dem Vorbild der polnischen Missionare und Studenten gemäß der christlichen Missionspflicht dem Sozinianismus Proselyten zu erwerben. Die Folge war der Untergang des Altdorfer Kryptosozinianismus, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die wichtigste Säule der Ecclesia minor im Reichsgebiet darstellte. Um diese Thesen zu verifizieren, werde ich in einem ersten Schritt die Form der Gruppe unter Soner vorstellen, um dann in einem zweiten Schritt ihre Ausformung unter Ruarus zu einer religiösen Gemeinde zu rekonstruieren.
2. Die Altdorfer Kryptosozinianer unter Soner Martin Ruarus immatrikulierte sich am 16. Mai 1611 an der Altdorfer Akademie.16 Mit der antitrinitarischen Heterodoxie hatte der zweiundzwanzigjährige Student bislang keine Berührung gehabt: der Vater war evangelisch-lutheranischer Geistlicher und Rektor der Lateinschule im holsteinischen Krempe, die Mutter eine gutgläubige Pastorentochter.17 Soner lehrte zu dieser Zeit seit sechs Jahren an der Hochschule und hatte bereits einige Gleichgesinnte um sich geschart, darunter Johann Crell, Joachim Peuschel (1592–1632) und Johann Vogel (1589–1663), die sich zwischen 1604 und 1606 eingeschrieben hatten;18 die letzteren waren die unmittelbaren Auslöser für die Zerschlagung des Antitrinitarier-Zirkels, worauf noch zurückzukommen sein wird.19 Zudem weilte Michael Güttich (oder Gitichius; †1654) seit 1607 als Philosophiestudent in Altdorf.20 Anders als Crell, Peuschel oder Vogel wurde Güttich nicht erst durch Soner vom Antitrinitarismus überzeugt; vielmehr war er als Sohn eines venezianischen Glaubensflüchtlings in Polen aufgewachsen und möglicherweise auch auf Anraten der Rakówer Missionare Ostorodt und Wojdowski, nach Altdorf gekommen, um bei Soner zu studieren.21 Nach seinem Biographen Georg Andreas Will soll Soner, der über Mittelsmänner wie den Nürnberger Rechtsanwalt Georg Ludwig Leuchsner und den bei Krakau ansässigen Italiener Giambattista Cettis in brieflichem Kontakt mit den „polnischen Brüdern“ stand,22 bezeichnenderweise einen „grossen Zulauf“ von „Ungarn, Siebenbürgern und Polacken“ gehabt haben.23 Neben Güttich besuchten in 16 17 18 19 20 21 22 23
Vgl. Zeltner 1729, 93, und Steinmeyer 1912, 115 [3408]. Zur Biographie des Ruarus vgl. vor allem Wallace 1850, Bd. 2, 571–590 [Art 195: „Martin Ruarus“]. Steinmeyer 1912, 87 und 94. Vgl. hierzu Braun 1933. Steinmeyer 1912, 97 [2850]. Zu Güttich vgl. Wallace 1850, Bd. 2, 506–516 [Art. 168: „Michael Gittichius“]. Zu Cettis und Leuchsner vgl. Wallace 1850, Bd. 2, 494 f. [Art. 161: „John Baptist Cettis, or Cetis“] und 520–522 [Art. 170: „George Ludwig Leuchsner“]. Will 1757, 714.
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der Tat nicht wenige Unitariersöhne aus angesehenen Familien auf ihrer peregrinatio academica Altdorf, wie etwa Adam von Sienne Sienieński, der zeitweise sogar Rektor der Akademie war (1609/10).24 Wie aus den Quellen hervorgeht, ist Soners Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles25 auch aus Privatvorlesungen hervorgegangen, die er ab 1609 für polnische Studenten abhielt.26 Dieser 1657 posthum gedruckte Text ist (u. a.) dem Denken Andrea Cesalpinos (1519–1603) verpflichtet, das bereits durch Soners ehemaligen Altdorfer Lehrer Philipp Scherbius (1553–1605) positiv rezipiert und gegenüber Nikolaus Taurellus (1547– 1606) verteidigt wurde. Letzterer hatte dem italienischen Aristoteliker religionswidrige Ideen vorgeworfen;27 auch Pierre Bayle charakterisierte Cesalpino als einen „très mauvais chrétien“, der aber im Gegensatz zu den Scholastikern das „système Peripateticien“ vollkommen durchdrungen hätte.28 Ähnlich wie Cesalpino definiert Soner Gott als „simplicissimè unus“ und eine vom gesamten Universum getrennt für sich bestehende Entität („separatus & abstractus, non tantùm ab omni corpore, sed in universum ab omnibus“).29 Dieser Ansatz steht einerseits systematisch in der Nähe zum religionsfernen italienischen Radikalaristotelismus und andererseits schließt er implizit ganz im Sinne des Sozinianismus eine trinitarische Konzeption Gottes aus. Soner nutzte offenbar seine Privatveranstaltungen als Plattform, um derartige Ideen einem kleinen, konfidentiellen Kreis von Freunden und Diszipeln zu kommunizieren: Wie schon Domenico Caccamo festgestellt hat, war Soner dementsprechend davon überzeugt, dass gewisse philosophische Wahrheiten nicht in der breiten Öffentlichkeit artikuliert werden sollten.30 In einer bislang unveröffentlichten Organon-Vorlesung31 legt er dar, dass die aristotelischen Schriften in exoterische und akroamatische Lehrstücke zu unterteilen seien.32 Er folgt darin Scherbius, wobei er sich aber mit seiner Interpretation explizit auf die Schrift De sermonibus exotericis (Venedig 1575) des Aristotelikers Octavianus Ferrarius (1518–1586) beruft, der zeitweise in Padua gelehrt hatte.33 Wie Ferrarius vertritt Soner die Meinung, die esoterischen Werke des Aristoteles seien nicht für das gemeine Volk, sondern allein für den Gebrauch der
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Vgl. Mährle 2000, 175. Zu den polnischen Studenten in Altdorf vgl. auch Wotschke 1928, 216– 232. Soner 1657. Eine handschriftliche Urfassung des Textes befindet sich in der UB Erlangen (MS. 714). Zur aristotelischen Metaphysik Soners vgl. Mährle 2000, 385 f. Vgl. hierzu Taurellus 1597. Bayle 1697, 820 f. Soner 1657, 656. Caccamo 1970, 47 f. Soner: Commentarii. Vgl. hierzu auch Mährle 2000, 282. Vgl. hierzu Caccamo 1970, 48. Zum Leben des Ferrarius vgl. Niceron 1728, 86–88.
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Schüler („ad genuinos discipulos“) bestimmt gewesen,34 und dies vor allem, weil die „wahre Philosophie“ den Unvorsichtigen in Gefahr bringen könne: „vera Philosophia aliqua pericula afferebat apud imprudentes, ut Socrati de daemonibus philosophanti.“35 Soner wollte offenbar jeden Konflikt mit der Kirche und der Obrigkeit vermeiden, was ihm auch gelungen ist, denn bis nach seinem Tod im Jahr 1612 ahnten die Außenstehenden nichts von seiner philosophischen und religiösen Heterodoxie. Soners Haltung als akademischer Lehrer war offenbar auch für das Selbstverständnis seines intimen Schülerkreises grundlegend, wie einige Eintragungen in seinem Stammbuch belegen.36 Auf Seite 178b etwa hat sich dort jemand 1607 mit dem Spruch „Il ne faut pas permettre que la langue devance l’esprit“ verewigt; an anderer Stelle (S. 196b) findet sich das bekannte französische Sprichwort „Trop grater [sic!] cuit, trop parler nuit“.37 Soner und seine Altdorfer Anhänger stehen damit in der Tradition der „duplex veritas“,38 die zu seiner Zeit vor allem durch die Paduaner Radikalaristoteliker vertreten wurde. Die „doppelte Wahrheit“ war den Italienern zum einen eine Strategie, um die Lehre eines streng säkularen Aristotelismus und eines philosophischen Rationalismus zu legitimieren, der nicht mit der veritas christiana zu vereinbaren ist. So weist Pietro Pomponazzi (1462–1525) in seinem Tractatus de immortalitate animae (Bologna 1516) unter Ausschluss der Offenbarung, innerhalb der Grenzen der natürlichen Vernunft und im Rekurs auf Aristoteles die Sterblichkeit der Seele nach; gleichzeitig beteuert er, dass angesichts des Glaubens die Meinung des Aristoteles falsch sei.39 Die „duplex veritas“ hatte ihr Gegenstück aber auch in einer gewissen Sozialpraxis des Philosophen, der gegenüber einem rechtgläubigen (und damit ignoranten) Umfeld seine religionskritischen Überzeugungen verbirgt, indem er ein angepasstes Denken und Handeln vortäuscht. Cesare Cremonini (1550–1631), den John Herman Randall als „an outstanding anticlerical and religious rationalist“ darstellte,40 wird in diesem Zusammenhang häufig angeführt, was darauf zurückzuführen ist, dass ihm in den Naudaeana et Patiniana (Gabriel Naudé (1600–1653) zählte zu den Schülern Cremoninis)41 die Maxime „intus ut libet; foris ut moris est“ zugeschrieben wird.42 Wie insbesondere durch Jean-Pierre Cavaillé aufgezeigt wurde, war die „dissimulazione onesta“ (um die Formel Torquato 34
35 36 37 38 39 40 41 42
Vgl. hierzu auch Niceron 1728, 88: „Cet ouvrage [= De sermonibus exotericis] est très-utile à ceux qui veulent s’instruire de la Doctrine d’Aristote. On sait que ses livres étoient de deux sortes ; les uns nommez Exotériques étoient pour toutes sortes de personnes ; les autres appelez Acroamatiques n’étoient que pour l’usage de ses disciples.“ Zitiert nach Caccamo 1970, 48; vgl. auch Soner: Commentarii, 18v–20r ff. Darauf hat auch Caccamo hingewiesen: Caccamo 1970, 48. Vgl. de Méry 1828, 285 f. Zur Entstehungsgeschichte dieses Konzepts vgl. Bianchi 2008. Vgl. hierzu etwa Mojsisch 1990, X. Randall 1961, 113. Zum Einfluss Cremoninis und der Italiener auf Naudé vgl. etwa Bœuf 2007, 50 ff. Naudaeana et Patiniana 1703, 56 f. Vgl. hierzu auch Charles-Daubert 2000.
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Accettos zu zitieren) ein charakteristischer Grundzug der religionskritischen Kultur des gelehrten Libertinismus im 17. Jahrhundert.43 Er entsprach einer durchweg elitären Konzeption der Gesellschaft, die sich in der Differenzierung zwischen einer Minorität von „philosophes“, „esprits forts“ oder „gens déniaisez“44 einerseits und der intellektuell minderbemittelten und leichtgläubigen Masse andererseits artikulierte, die dem Religionsbetrug der Machthaber unterliegt. Was die textuelle Ideenkommunikation betrifft, schützten sich die „esprits forts“ vor den Übergriffen der Masse und der Obrigkeit, indem sie in Druckwerken auf inhaltliche Ambivalenzen, Kryptonyme u. ä. zurückgriffen oder indem sie Manuskripte nur an engste Vertraute weiterreichten. In diesem ideen- und sozialgeschichtlichen Kontext muss offenkundig auch Soner verortet werden, der wie Scherbius in Padua studiert hat, und zwar zur Zeit Cremoninis.45 Die italienischen Aristoteliker haben nicht allein seine systematischen Ansätze grundlegend beeinflusst, wie die Gesamtheit seiner philosophischen Produktionen zeigt.46 Seine auf Ferrarius zurückgehende elitäre Konzeption der Wissensvermittlung und des Philosophen sowie die auf Verhehlung und Unauffälligkeit bedachte Haltung seines Zirkels weisen ebenfalls Parallelen zur akademischen Kultur der radikalen Paduaner auf. Soner wirkte dementsprechend vor allem als Philosoph. Seine Schriften und seine Lehre sind fast ausschließlich mit philosophischen bzw. medizinisch-naturphilosophischen Problemen befasst, wobei bezeichnenderweise jene Texte, die durch die Biographen als „gefährlich“47 eingestuft wurden, (wenn überhaupt) erst posthum in den Druck gegeben wurden; die meisten ruhen aber immer noch als unveröffentlichte Handschriften in den Bibliotheken. Soner kann (meines Erachtens) nur eine einzige theologische Abhandlung mit einiger Sicherheit zugeschrieben werden, nämlich die sozinianisch ausgerichtete und gegen die Höllenstrafen argumentierende Demonstratio Theologica & Philosophica. Quod aeterna impiorum supplicia non arguant Dei justitiam, sed injustitiam; seine Autorschaft des so genannten Sonerkatechismus, der unter den Altdorfer ‚Kryptosozinianern‘ zirkulierte, ist bislang keineswegs bewiesen.48 Infolgedessen betrachtete Soner auch seinen (arkanen) Schülerkreis mehr als einen philosophischen Zirkel, als dass er ihn mit der Vorstellung einer religiösen Gemeinschaft in Verbindung brachte oder gar als expansionsstrategisch relevante Außenstelle der Ecclesia minor konzipierte: Es ist nichts darüber bekannt, dass Soner die Veranstal43 44 45 46 47 48
Vgl. Cavaillé 2002. Als solche werden in den Naudaeana die italienischen und insbes. die Paduaner Professoren beschrieben; vgl. Cavaillé 2002, 55 f. Cremonini war von 1591–1629 in Padua als Philosophieprofessor tätig. Vgl. hierzu auch Wollgast 1993, 386. Vgl. hierzu Mährle 2000, 385–387. Will hat hat beispielsweise das Werkverzeichnis Soners in „gefährliche“ und „nicht gefährliche“ Schriften unterteilt. Vgl. Will (1757), 715–718. Zu den „gefährlichen“ Schriften Soners vgl. u. a. Bock 1774, 995 ff.; Sandius 1684, 96; Baier 1728, 35 und Will (1757), 716 f.
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tung von Gottesdiensten und religiösen Praktiken im Sinne des Rakówer Bekenntnisses betrieben hat. Auch die Realisierung des christlichen Missionsbefehls, die breite Bekanntmachung der „wahren“ doctrina christiana und die Verbreitung der Rakówer Lehren zum Heil der Menschen waren ihm anscheinend kein Hauptanliegen. Soners Ziel war es nicht, möglichst viele Studenten für sich und seine Ideen zu gewinnen; er war vielmehr (seinem Entwurf der Philosophie entsprechend) äußerst vorsichtig im Umgang mit Neophyten. In einem Brief an Conrad Huswedel49 berichtet Martin Ruarus aus eigener Erfahrung, wie Soner bei deren Prüfung vorging und wie er die Auserwählten allmählich an sein rationalistisches und dogmenkritisches Denken heranführte. In einem Gespräch verteidigte er gegenüber Ruarus die durch die Theologen geringgeschätzte menschliche Vernunft, um dann gegen die herkömmlichen Lehren von der Natur Christi, der Satisfaktion und der Trinität zu argumentieren.50 Ruarus wehrte sich zunächst. Er wurde darauf jedoch durch seine Freunde Conrad Rittershausen und David Hoeschelius dazu angehalten, eine Übersetzung gewisser Schriften von Gregor von Nyssa anzufertigen, der heftig gegen die Arianer stritt. Ruarus bat infolgedessen Soner, ihm starke Argumente für den Antitrinitarismus zu nennen, die er mit einer Widerlegung flankiert zu veröffentlichen gedachte. Er musste aber bald einsehen, dass die Evidenz der Schrift gegen seine orthodoxen lutherischen Auffassungen sprach; die Folge war, dass Ruarus sein Vorhaben aufgab und die Religionsphilosophie der Rakówer übernahm.51 Michael Güttich, der aus Osteuropa an die Academia Norica gereist war, übte im Gegensatz dazu keine Zurückhaltung in der Öffentlichkeit. Er entwickelte vielmehr eine „kühne Propaganda“52 und trat 1609 bei Disputationen des lutherischen TheologieProfessors Jacob Schopper auf, um sich für die Glaubenslehre der polnischen Antitrinitarier einzusetzen. Im selben Jahr war zudem der Sozinianer und Lehrer Adam Sienieńskis, Jan Zaborowski, in Altdorf anwesend.53 Auch er wollte ein öffentliches Streitgespräch provozieren und attackierte den kalvinistischen Theologen Ludwig Lucius, der wie er an der Akademie zu Gast war. Zaborowski sprach sich gegen die Satisfaktionslehre aus, wobei er seine Thesen aber Güttich zuschrieb. Lucius nahm die Fehde auf und replizierte schriftlich auf die Argumente;54 Soner äußerte sich zu keiner dieser Kontroversen und wurde mit ihnen auch nicht in Zusammenhang gebracht. Ähnlich wie Ostorodt und Wojdowski, die an verschiedenen Hochschulen zum Ärgernis der Autoritäten ziemlich unverhohlen Proselytenmacherei betrieben, hielten Güttich oder Zaborowski die Anpassung an das konfessionelle Umfeld der Akademie kaum für notwendig; selbstsicher und pflichtgemäß setzten sie sich für die Anerkennung und den 49 50 51 52 53 54
Vgl. Ruarus 1729. Vgl. Ruarus 1729, 513. Vgl. Ruarus 1729, 513 f. und Wallace 1850, Bd. 2, 572 [Art 195: „Martin Ruarus“]. Ich zitiere hier Caccamo 1970, 43. Vgl. Caccamo 1970, 50. Gittich/ Lucius 1612 sowie Gittich/Lucius 1628.
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Zuwachs ihrer aufstrebenden und progressiv an Legitimität gewinnenden Kirche ein, anstatt diese als Nikodemiten nach Außen hin zu verleugnen. Und in diese Richtung sollte sich auch der Soner-Zirkel nach dem Tode seines spiritus rector entwickeln, wie jetzt gezeigt wird.
3. Die Altdorfer Kryptosozinianer unter Martin Ruarus Dass die Altdorfer Antitrinitarier zunächst nicht die soziale Organisationsform einer Kirchengemeinschaft aufwiesen, ist der Ecclesia minor, mit der Soner und seine Vertrauten korrespondierten, nicht entgangen. Bereits 1607 forderte Soners Freund Christoph Ostorodt, der damals als Prediger der Gemeinde Buskow bei Danzig fungierte, die Altdorfer Gesinnungsgenossen zur „Exercitio Religionis“, zur Einrichtung geistlicher Kollegien und dem Gottesdienste auf: „wo solches nit geschehen wird, ist wenig Hoffnung, dass die Brüder mit ihrem Talent etwas dem Herren […] gewinnen werden.“55 Die ‚paduanische Haltung‘ der Gruppe hielt Ostorodt offensichtlich für nicht angemessen: Gott hätte uns nicht darum durch Christus erleuchtet, „dass wir das Licht unter einen Scheffel setzen sollen, sondern auf einen Leuchter, damit es andere auch erleuchte.“56 Mahnend zitiert er Petrus: „Ihr seyd das auserwehlte Geschlecht […] ein eigenes Volck, auf dass ihr verkündigen sollt die Tugenden dessen, der euch aus der Finsternus zu seinem wunderbaren Licht beruffen hat.“57 Es sei kein Zweifel, dass man „Christum und sein Wort“ bekennen müsse, wenn man selig werden wolle. Dies könne aber auf keine bessere Weise geschehen, als wenn die Gläubigen „zusammen kommen, Gott und Christum zu loben und zu preisen“; man müsse „Geistliche Collegia halten, einer den anderen damit zu trösten, und einer den anderen damit zu erbauen […].“58 Auch ohne die Anwesenheit Soners könnten die Adressaten zusammenkommen, damit sie das „Häuflein also gemächlich mehren“ möchten.59 Zudem wünscht Ostorodt, dass man das „Nachtmahl“ begehe; die Altdorfer scheinen diesbezüglich schon einmal ihre Skepsis geäußert zu haben, und er erläutert daher ausführlich, dass er der Ansicht sei, dass die „Rationes“, die von ihnen gegen die Abhaltung des (sozinianischen) Abendmahls vorgebracht wurden, „mit der Lehr Christi streiten“ würden.60 Die Trennung von äußerem Kult und innerer Überzeugung, den Nikodemismus, hält er für falsch; mit den Hurern, Trinkern, Geizigen und all jenen, „welche nit nach dem Geist Christi, sondern nach dem Fleisch wandeln“, könne man nicht das Abendmahl feiern, denn sie seien
55 56 57 58 59 60
Das Schreiben ist bei Zeltner abgedruckt; Zeltner 1729, 130–143. Zeltner 1729, 130. Zeltner 1729, 130. Zeltner 1729, 130 f. Zeltner 1729, 132. Zeltner 1729, 132.
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keine Brüder:61 „Die Evangelischen will man vor Brüder halten, dass man mit unterschlief unter den grossen Haufen, und nit vor den angesehen werde, der man ist, sondern vor den, der man nicht ist, und also ohne Verfolgung bleibe.“62 Eine solche „Heucheley“ sei aber fern, „sintemahl man die Wahrheit nit verbergen muss, vielmehr darzu thun, dass man sie auf alle Wege weiter ausbreite, und kans anders nit geschehen, es sey heimlich oder bei Nacht, so geschehe es mit Leibes-Gefahr […].“63 Gott müsse man, so Ostorodt, grundsätzlich „mehr gehorsam seyn, als dem Menschen“;64 ist aber die Sicherheit für Leib und Leben damit zu erheblich, ist Emigration und nicht Dissimulation angeraten: „Sollt ihr euren Gottesdienst nicht kœnnen dort sicherlich verrichten, und fürchtet ihr Euch etwas darüber zu leiden, so ziehet an die Oerter, da es euch frey ist. So ihr aber vermeint mit Vnterlassung des Gottesdienstes, die Gefahr zu meiden, und euer Ruh und Gemach nit nach dem Fleisch zu verliehren, so ist es einmahl gewiss, dass ihr euch selbst betrieget.“65 Als in den Jahren 1615–1617 den Altdorfer Kryptosozinianern durch die Hochschule und die Stadt Nürnberg der Prozess gemacht wurde, befolgten einige die Anweisungen Ostorodts und wanderten ohne ihre Grundsätze zurückzunehmen aus: Dies gilt etwa für den Studenten Nikolaus Dümmler, der sich offen zum Antitrinitarismus bekannte, indem er ein Glaubensbekenntnis verfasste und daraufhin spurlos verschwand. Man relegierte ihn daher 1616 cum infamia von der Altdorfer Akademie. 1618 wurde er dann zusammen mit Johann Crell, der Altdorf noch vor den Unruhen verlassen hatte, in Polen ordiniert.66 Güttich hatte bereits 1610 Altdorf verlassen; wegen seiner Auseinandersetzungen mit Schopper hatte ihn die Obrigkeit im Auge gehabt: Nach der Einschätzung des Rechtsgelehrten Andreas Dinner waren Güttichs Ansichten „noch erger“ als der Arianismus und „aus vielen unsern Vatterland Gott lob! unbekanten haeresibus zusammen geflickt“.67 Trotz der Ermahnungen und Unterweisungen Ostorodts ist in Zeltners materialreicher Dokumentation des Altdorfer Kryptosozinianismus aber nur von der Veranstaltung eines einzigen sozinianischen Abendmahls die Rede, das zudem erst 1614 stattgefunden hat.68 Wie Peuschel und Vogel im Verhör gestanden, hat dabei Martin Ruarus als der „ælteste und gelehrteste“69 eine zentrale Rolle gespielt: Die Feier wurde im Hause des Professors der Rechtswissenschaft Conrad Rittershausen zelebriert, der ein Jahr zuvor (1613) verstorben war, und zwar, wie es in dem Bericht heißt, „auf des 61 62 63 64 65 66 67 68 69
Zeltner 1729, 133 f. Zeltner 1729, 135. Zeltner 1729, 138. Zeltner 1729, 141. Zeltner 1729, 141. Zu Nikolaus Dümmler vgl. Wallace 1850, Bd. 3, 1–4. Zeltner 1729, 87. Vgl. Zeltner 1729, 491–493. Vgl. Zeltner 1729, 492.
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Ruari Stuben“.70 Als damals anwesend genannt werden Ruarus sowie die Studenten Peuschel, Vogel, Dümmler, „Samuel ein Pohl“, Frauenburger und Hainlein; für die Bestimmung des Ablaufs der Feier hatte man sich an den „Institutionibus Ostorodi“ und an den Aussagen des Matthias Rauh (oder „Rhaw“) orientiert, der aus Klausenburg (einer Hochburg des Antitrinitarismus) stammte71 und daher schon „in Person zu Racow gewesen, daselbst communicirt, und also den ganzen process, und wie sie es alldort zu halten pflegen, zum besten gewusst […].“72 Durchgeführt wurde die Eucharistie durch Martin Ruarus; er „habe das Brod in seine Hænd genommen, dasselbe gebrochen, nachmahln den übrigen Communicanten […] dargereicht, und auf dasselbe auch erstl. aus dem Glass den Wein getruncken, nachmahls dasselbe ebenermassen in der Ordnung herumgehen lassen.“73 Wie diese Darlegungen zeigen, hatte Martin Ruarus nach dem Tod Soners eindeutig die Führung der „Fratres Altorphini“74 übernommen; und er war allem Anschein danach bemüht, die sieben Jahre zuvor erteilten Anweisungen Ostorodts umzusetzen. Unter seiner Ägide erhielt der um Soner entstandene Zirkel, den man als eine Art „peripatetische Schule“ mit antitrinitarischer Ausrichtung charakterisieren könnte, durch die Einführung gottesdienstlicher Handlungen, die Tendenz, sich zu einer christlichsozinianischen Gemeinde im ganzen Sinne des Begriffs umzubilden. Ruarus versah nicht wie Soner die Rolle eines Weisheitslehrers, sondern er hatte vielmehr für die Gemeinschaft das Amt und die Würde des Ältesten, des Kultvorstehers, angenommen, für den weniger die philosophische Theorie als vielmehr (den Vorstellungen der Rakówer entsprechend) die heilsnotwendige religiöse Praxis maßgeblich war. Für diese Veränderung war sicherlich auch die Tatsache ein beträchtlicher Anreiz, dass Soners Aristotelismus nur schwerlich mit der christlichen Lehre und der Religionsphilosophie der Sozinianer in Einklang gebracht werden konnte, obgleich sich letztere neben anderen Überschneidungen ebenso durch einen starken Rationalismus auszeichnete:75 Soners Gott ist wie bei Cesalpino und den radikalen Paduanern absolut abstrakt; und wie Siegfried Wollgast sehr richtig bemerkt, war die „Adaptation einer solchen Gottesauffassung an den Begriff der Vorsehung […] ein hoffnungsloses Unterfangen.“76 Seine ehemaligen Schüler sollten sich infolgedessen auch von seinen theoretischen Ideen distanzieren: In seiner Abhandlung De Deo et eius attributis polemisierte Johann Crell später hart gegen die in Altdorf durch Soner und Scherbius vertretene Philosophie Cesalpinos.77 70 71 72 73 74 75 76 77
Zeltner 1729, 492. Zu Rhaw und seiner Herkunft vgl. Zeltner 1729, 304 ff. Zeltner 1729, 492. Zeltner 1729, 492. So haben sich die Altdorfer Kryptosozinianer selbst bezeichnet, wie aus dem Bericht hervorgeht; vgl. Zeltner 1729, 493. Vgl. hierzu Fock 1847, 374 ff., und Wollgast 1993, 382 ff. Wollgast 1993, 386. Vgl. Wollgast 1993, 386.
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Die angemessene Realisation seiner Stellung unter den „Altdorfer Brüdern“ und den Dienst für die Ecclesia minor betrachtete Ruarus dann offenkundig als seine Lebensaufgabe. Noch im Jahr 1614 trat er ohne irgendjemanden zu informieren gemeinsam mit Rauh, der ihm als Wegführer diente, eine Reise nach Osteuropa an, um in Raków vorzusprechen, in die Gemeinde einzutreten und mit ihren Vorsitzenden ein „enges Freundschaftsbündnis“ einzugehen.78 In einem in der Osterzeit verfassten Brief an seinen Freund Joachim Peuschel79 berichtet er von seinen für ihn wegweisenden Begegnungen mit einigen der bedeutendsten Sozinianern: In Smigel, einem der Hauptsitze der Ecclesia minor,80 traf er sich mit Jonas Schlichting,81 den Otto Fock als den „schärfsten und gebildetsten“ Denker des Socinianismus bezeichnet;82 gemeinsam mit Schlichting sollte Ruarus später die lateinische Fassung des Rakówer Katechismus überarbeiten.83 In Raków wurde Ruarus durch den Toparchen Jakob Sienieński persönlich als Gast aufgenommen; nach einem anlässlich seiner Ankunft zelebrierten Abendmahl wurden er und die Altdorfer Brüder durch Valentin Schmalz, dem Herausgeber des Rakówer Katechismus und Verfasser zahlreicher polemischer Schriften,84 feierlich der Gemeinde anempfohlen. Daraufhin hielt der mit Sozzini eng befreundete Hieronymus Moscorovius (Moskorzowski) eine Willkommensansprache.85 Täglich führte Ruarus mit Schmalz mehrstündige theologische Unterweisungsgespräche, bei denen auch Moscorovius, Paul Krokier, der Rektor der Rakówer Schule, und Statorius anwesend waren.86 Seine Gastgeber und Betreuer baten Ruarus zudem, er möge die polnische Sprache erlernen, was er trotz der Schwierigkeiten auch versprach. Der überaus ehrenvolle Empfang, der Ruarus bereitet wurde, sowie die intensiven und freundschaftlichen Bemühungen um seine Person, offenbaren, welch große (strategische) Bedeutung die Rakówer ihm und den Altdorfer Brüdern beigemessen haben. Soner hatte hingegen nie den persönlichen Kontakt mit der Gemeinde in Polen gesucht; er war nie in Raków gewesen und es ist bislang auch nicht festgestellt worden, dass er sich wie Ruarus offiziell in die Ecclesia minor hat aufnehmen lassen. 1615 kehrte Ruarus nach Altdorf zurück; er reiste allerdings alsbald wieder ab, um sich mit seinem Zögling, einem jungen märkischen Edelmann namens Burghstroph, an die Strassburger Universität zu begeben. Unterdessen hatten die Altdorfer „Fratres“ aus ihrem neuen und durch das Wirken Ruarus’ beförderten Bewusstsein heraus, einen Teil der Ecclesia minor darzustellen, damit begonnen, die Forderung Ostorodts, das „Häuflein zu mehren“, umzusetzen und am rakówschen Expansionismus mitzuwirken. 78 79 80 81 82 83 84 85 86
Vgl. Fock 1847, 198. Vgl. hierzu Wallace 1850, Bd. 2, 573 f. Das lange Schreiben findet sich bei Zeltner 1729, 447–484. Vgl. hierzu Adelt 1741. Ruarus 1729, 447. Fock 1847, 197. Catechesis Ecclesiarum Polonicarum 1659. Zu Schmalz vgl. etwa Fock 1847, 188 f. Ruarus 1729, 450 f. Ruarus 1729, 450 f.
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Peuschel und Vogel gingen an die Universitäten Jena und Wittenberg, um dort nach dem Vorbild Güttichs, Voidovskis und Ostorodts ihre Ansichten zu verbreiten. Die beiden wurden durch den Jenaer Theologie-Professor Albert Grauer (oder Grawer; 1575–1617) denunziert, worauf sie der Senat von Nürnberg festnehmen und zurückführen ließ.87 Jena und Wittenberg waren die Hochburgen der lutherischen Orthodoxie; man wirkte dort vehement gegen die antitrinitarische Häresie, vor allem seitdem Schmalz seine 1608 veröffentlichte deutsche Fassung des Rakówer Katechismus aus Provokation der Universität Wittenberg dediziert hatte:88 Er hätte es „f(r billich geachtet“, dass die „H. warheit des Evangelii/ wie sie ihren anfang in dieser Hochlblichen Vniuersitet/ durch den f(rtreflichen Man D. Luther genommen/ vnd von dannen in die gantze Christenheit ausgegangen; also auch mit wucher vnd mit grsser volkommenheit sich wieder zu ihr kehre/ vnd ihr zu betrachten f(rgelegt werde.“89 Grauer hat daher in einer 1613 in Jena erschienenen Schrift die Lehren des Rakówer Katechismus scharf angegriffen;90 die Umtriebe der Altdorfer Studenten mussten ihn also in besonderem Maße verärgert haben. Die um ihren guten Ruf bedachte und noch nicht zur Volluniversität erhobene Academia Norica bemühte sich gegenüber der Öffentlichkeit um Aufklärung; die Dissidenten wurden entlarvt und, falls man ihrer habhaft werden konnte, festgenommen. Bei den Verhören suchten die meisten die Schuld von sich und auf andere abzuwälzen; manche, wie Peuschel und Vogel, ließen sich bekehren, wieder andere ergriffen (wie wir schon gesehen haben) die Flucht. Die in Altdorf studierenden Polen wurden dazu angehalten, die Stadt zu verlassen. Die Ereignisse gipfelten in einer dramatischen Bücherverbrennung, die 1616 am dies academicus der Altdorfer Akademie, dem Peter-und-Pauls-Tag, stattfand; ihr fiel auch ein Exemplar der sogenannten „Catechesis Soneri Germanica“ zum Opfer, das nach Zeltners Angaben von Peuschel konfisziert wurde.91 Ich vermute, dass der Text nicht, wie Hieronymus Gundling und Zeltner ohne nähere Begründung behaupten,92 durch Soner verfasst wurde, sondern dass er vielmehr um 1614/15 zum Zweck der ab dieser Zeit durch die Gemeinde Ruarus’ betriebenen Propaganda entworfen wurde: Die „Catechesis“ bietet eine kondensierte und damit gut eingängige Vorstellung der Theologie des Rakówer Katechismus; als handliches Manuskript konnte sie bequem herumgereicht und durch Abschreiben vervielfältigt werden. Als volkssprachlicher Text war sie zudem auch für eine breite Zielgruppe konzipiert. Es liegt nahe, dass Peuschel sogar ihr Autor war. Dass aber Soner, wie Caccamo im 87 88 89 90 91 92
Vgl. hierzu Braun 1933. Catechismus 1608. Vgl. Schmalz 1608, fol. 3. Grawer 1613. Vgl. Zeltner 1729, 513. Vgl. Gundling 1715, 31, Fn*, und Zeltner 1729, 46.
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Anschluss an Zeltner und Gundling erklärt, in dem Augenblick „an eine Verbreitung seiner Doktrinen auch außerhalb des akademischen Bereiches“ gedacht habe, als er „einen Katechismus in deutscher Sprache schrieb“,93 ist nicht überzeugend, denn ein solches Vorgehen wäre kaum mit seiner elitären Philosophie zu vereinbaren gewesen. Anlässlich der Ketzerverfolgungen in Altdorf wurde auch Ruarus in Strassburg belangt; in einem Gespräch musste er sich gegenüber dem Theologen Johann Bechtold und dem Rektor der Universität, Johannes Tauferer, rechtfertigen:94 Zwei Altdorfer Studenten hätten im Verhör „ihn Ruarum nominiert und angegeben, dergestallt, dass er auf der hohen Schul zu Altdorff ihre Antesignanus fürnehmster und geübtester nunermeldter, verdammlicher Sect gewesen […].“95 Ruarus negierte bei dem Gespräch, dass er sich zu dem „Errore oder Irrthum der Photinianer bekenne“; er verneinte auch, dass er häretisches Gedankengut verbreitet hätte.96 Machte sich Ruarus hier, wie es Ostorodt nennt, der „Heucheley“ schuldig; leugnete er wie die Paduaner seine Gesinnung? Nein, denn als Anhänger der Ecclesia minor war er aus seiner Perspektive kein „Photinianer“; und seine Ansichten betrachtete er sicherlich nicht als Häresie. Inwieweit er die Haltung der Ecclesia minor und die Lehren Ostorodts verinnerlicht hatte, offenbart auch seine Antwort auf die Frage, ob er in Strassburg das Abendmahl empfangen habe: Er hätte dies nicht getan, denn er hätte gesehen, dass „allerhand ærgerliche Personen bey demselben admittirt und zugelassen würden.“97 Mit jenen, „welche nit nach dem Geist Christi, sondern nach dem Fleisch wandeln“, darf man eben kein Abendmahl feiern. Ruarus’ Tatendrang tat die Verfolgung seiner Altdorfer Brüder keinen Abbruch; wie sein umfangreicher theologischer Briefwechsel eindrucksvoll vor Augen führt, setzte er sich nach 1615 wie kein anderer für die Ausbreitung des Sozinianismus ein, indem er weitreichende Netzwerke in der Gelehrtenwelt knüpfte. Seine humanistische Bildung, seine theologischen Kenntnisse und seine Gewandtheit sicherten ihm die Anerkennung bedeutender Denker und einflussreicher Gönner, wie etwa Hugo Grotius oder Marin Mersenne. Bei seinem späteren Einsatz für die Ecclesia minor kam ihm nicht nur das in Altdorf erworbene Wissen zugute, sondern er profitierte auch von seinen Erfahrungen als Gemeindevorsteher. Ab 1631 beteiligte er sich erfolgreich an der Organisation einer sozinianischen Gemeinde in Danzig; aber auch dort hatte sein Eifer bei dem Einsatz für die Rakówer Religionspolitik negative Konsequenzen: 1638 wurde er wegen seiner öffentlichen Werbearbeit durch ein Dekret des Senats aus der Stadt verwiesen; 1643 musste er sich endgültig nach Straszyn (bei Danzig) zurückziehen, wo er das „weite
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Caccamo 1970, 52. Das Gespräch ist bei Zeltner wiedergegeben; vgl. Zeltner 1729, 536–538. Zeltner 1729, 536. Zeltner 1729, 536 f. Zeltner 1729, 538.
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Netz seiner Kontakte und Beziehungen“ nicht länger aufrecht erhalten konnte und schließlich 1657 als Prediger verstarb.98 Zusammenfassend ist zu sagen, dass die religiöse Praxis der Anhänger der Ecclesia minor einen internen Widerspruch beinhaltete: Einerseits war den Sozinianern, die sich (wie aus dem Brief Ostorodts an die Altdorfer hervorgeht) als Christen und sogar Auserwählte verstanden, der durch Jesus an die Jünger gerichtete Missionsbefehl (Mt 28, 19–20) eine Pflicht, eine objektive Notwendigkeit; andererseits bedingte diese Notwendigkeit jedoch zugleich, dass der Antitrinitarismus sich nicht als kirchliche Institution durchsetzen konnte, sondern lediglich ideengeschichtlich dauerhafte Nachwirkung entfaltete: Selbst die Protestanten konnten nicht bereit sein, der Trinität ihren Status als Grundpfeiler des christlichen Glaubens abzuerkennen. Dies zeigt nicht nur das Schicksal Ruarus’ und seiner Altdorfer Brüder, sondern auch die gewaltsame Auflösung der Rakówer Gemeinde im Jahr 1638 und der nachfolgende langsame Verfall der Ecclesia minor, die europaweit Ablehnung und Verfolgung leiden musste.
Bibliographie Quellen Adelt, Martin (1741): Historia de arianismo olim Smiglam infestante. Oder historische Nachricht von des ehemaligen Schmiegelschen Arianismi Anfang und Ende. Nebst einer Kirchen=Historie bis auf gegenwärtige Zeit der Stadt Schmiegel in Gros=Pohlen. Danzig: Knoch. Naudaeana et Patiniana (1703) = Naudaeana et Patiniana, ou singularitez remarquables prises des conversations de Mss. Naudé et Patin. Amsterdam: François vander Plaats. Baier, Johann Jacob (1728): Biographiæ Professorum Medicinæ Qui in Academia Altorfina Vnquam Vixerunt. Nürnberg/Altdorf: Tauber. Bayle, Pierre (1697): Dictionnaire historique et critique. Tome premier, 2nde partie: C– G. Rotterdam: Rainier Leers. Bock, Friedrich Samuel (1774): Historia Antitrinitariorum, maxime Socinianismi et Socinianorum […] ex fontibus, magnamque partem monumentis et documentis msscctis recensentur. Tom. 1, pars 2. Königsberg/Leipzig: G. L. Hartung. Catechesis Ecclesiarum Polonicarum (1659) = Catechesis Ecclesiarum Polonicarum, Unum Deum Patrem illiusque Filium Unigenitum, unà cum Spiritu S. ex sacra Scriptura consitentium. Anno 1609, in lucem primùm emissa, & post per viros 98
Vgl. hierzu bes. Caccamo 1970, 64.
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aliquot in eodem Regno correcta. Iterumque interpositis compluribus annis à I. Crellio Franco, ac nunc tandem à Iona Schlichtingio à Bucowiec recognita ac dimidia amplius parte aucta. Irenopoli sumptibus Friderici Theophili, post annum 1659. Catechismus (1608) = Catechismus Der Gemeine derer Leute/ die da im Königreich Poln/ vnd im Grosfürstenthumb Littawen/ vnd in andern Herschaften zu der Kron Poln gehörig/ affirmiren vnd bekennen/ das niemand anders/ den nur allein der Vatter vnsers Herrn Iesu Christi/ der einige Gott Israel sey; vnd das der mensch Iesus von Nazareth/ der von der Iungfrawen geboren ist/ vnd kein ander ausser oder vor ihm/ der eingeborne Sohn Gottes sey Aus der Polnischen sprach verdeutschet. Raków. Gittich, Michael/Lucius, Ludwig (1612): De gravissima quaestione; Num Christus Pro Peccatis Nostris Justitiae divinæ satisfecerit, necne? : Inter Michaëlem Gittichium, Socinianum; & Ludovicum Lucium, Orthodoxum; Scholastica Et Epistolica Disceptatio. Cuius capita, pagina conversa exhibet. Basel: Konrad von Waldkirch. Gittich, Michael/Lucius, Ludwig (1628): De satisfactione Christi, pro peccatis nostris Justitiae Divinae praestitam, inter Michaelem Gittichium Socinianum, et Ludovicum Lucium Orthodoxum, Scholastica & Epistolica Disceptatio […]. Basel: Henricpetri. Grawer, Albert (1613): Examen praecipuarum Sophisticationum: quibus recentiores Photiniani, Franciscus Davidis, Georgius Blandrata, Faustus Socinus, Christophorus Ostorodus, Valentinus Schmaltzius, autores utriusque Catechismi Rackaviensis & alii complures argumenta aeternam Christi deitatem & personalem Spiritus […]. Jena: Rauchmaul. Gundling, Hieronymus (1715): „Einige besondere Nachrichten von Jacobo Martinio, Joanne Vogelio, Ernesto Sonero, Martino Ruaro, Martino Seidelio, Sebastiano Hainlino, und anderen“, in: Gundling, Hieronymus: Gundlingiana, Darinnen allerhand zur Jurisprudenz, Philosophie, Historie/ Critic/ Litteratur/ Und übrigen Gelehrsamkeit gehörige Sachen abgehandelt werden. Erstes Stück. Magdeburg: Renger, 26–51. Lubienieki, Stanisław (1685): Historia reformationis polonicae, in qua tum reformatorum, tum antitrinitariorum origo & progressus in Polonia & finitimis provinciis narrantur. Freistadt: Johannes Aconius. Ruarus, Martin (1729): ÅMartini Ruari aliorumque virorum doctorum epistolarium selectarum centuriae duae […]“, in: Zeltner (1729), 447–484. Sandius, Christophorus (1684): Bibliotheca Anti-Trinitariorum, sive Catalogus Scriptorum, & succincta narratio de vita eorum Auctorum, qui praeterito & hoc seculo, vulgo receptum dogma de tribus in unico Deo per omnia aequalibus personis vel impugnarunt, vel docuerunt solum Patrem D. N. J. Christi esse illum verum seu altissimum Deum. Freistadii: Apud Johannem Aconium. Schmalz, Valentin (1608): „Vorrede“, in: Catechismus (1608), fol. 2r–4v.
Martin Ruarus – eine Zentralfigur des Altdorfer Antitrinitarismus
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Soner, Ernst: Stammbuch. Expl.: Andrea Alciato: Emblemata V.C. Andreæ Alciati Mediolanensis Iurisconsulti […]. Leiden: Franciscus Raphelengius 1596. Erlangen, Universitätsbibliothek, Ms. 2131. Soner, Commentarii = Soner, Ernst: Commentarii in universam Aristotelis Organon conscripti a viro-iuvene praestantissimo iuxta atque doctissimo Dr. Sebastiano Hainlin medicinae et philosophiae candidato. Erlangen, Universitätsbibliothek, Ms. 711 [=Vorlesungsmitschrift]. Soner, Ernst (1657): In libros XII metaphysicos Aristotelis commentarius. Hrsg. von Johann Paul Felwinger. Jena: Samuel Krebs. Taurellus, Nikolaus (1597): Alpes Caesae, hoc est, Andr. Caesalpini Itali, Monstrosa et superba dogmata, discussa et excussa. Frankfurt a. M.: Zacharias Palthenius. Will, Georg Andreas (1757): Nürnbergisches Gelehrten=Lexicon, oder Beschreibung aller Nürnbergischen Gelehrten beyderley Geschlechtes […]. Dritter Theil: N–S, Nürnberg/Altdorf: Lorenz Schüpfel. Zeltner, Gustav Georg (1729): Historia Crypto-Socinismi Altorfinae quondam Academiae infesti Arcana. Ex Documentis maximam partem msstis ita adornata ut cum historiae illorum hominum illustrandae tum dogmatibus in universum refellendis inservire possit. Accesserunt praeter alia Valentini Smalcii diarium vitae ex autographo et Martini Ruari epistolarum centuriae duae hactenus rarius apparentes hic vero etiam notis idoneis illustratae. Leipzig: Gleditsch.
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Johann Crells aristotelische Ethik und die Moralphilosophie an der Academia Norica in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts
1. Einleitung Johann Crell war einer der maßgeblichen antitrinitarischen Theologen und Philosophen des 17. Jahrhunderts; er wird der sogenannten „zweiten Generation“ des Sozinianismus zugerechnet.1 Trotz seiner Bedeutung für die Geschichte der Reformation wurden ihm aber bislang kaum Einzelstudien gewidmet. Daher bedarf es einer kurzen Einführung seiner Person. Geboren wurde Crell 1590 in Helmetsheim (Franken) als Sohn des dortigen Pfarrers.2 Nachdem er an Schulen in Nürnberg, Stolberg am Hartz und Marienberg seine Vorbildung erhielt, immatrikulierte er sich im Jahr 1606 an der Nürnberger Akademie zu Altdorf,3 die in der Frühen Neuzeit neben Jena, Wittenberg und Straßburg zu den profiliertesten Hochschulen im protestantischen Reichsgebiet zählte.4 Anfangs widmete er sich vor allem philologischen Studien und erwarb Kenntnisse der griechischen und hebräischen Sprache. Sodann wandte er sich mit besonderer Vorliebe der Philosophie zu. Ein Jahr nach der Einschreibung Crells wurde der Philosophie- und Medizinprofessor Ernst Soner (1573–1612) zum Rektor der Academia Norica ernannt.5 Soner hatte zunächst in Altdorf unter Philipp Scherbe (1555–1605) und Nikolaus Taurellus (1547–1606) studiert, um sich dann auf eine ausgedehnte peregrinatio 6 academica zu begeben. Diese führte ihn unter anderem nach Padua, wo er mit Cesare Cremonini (1550–1631) zusammentraf und mit dem dortigen heterodoxen Aristotelismus Bekanntschaft machte. Während seiner Reisen lernte er aber auch durch sozinianische Missionare aus Polen, Andreas Voidovius (Wojdowski) (ca. 1550–ca. 1622) und Christoph Ostorodt (ca. 1575–1611), das häretische Gedankengut des Antitrinitarismus 1 2
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Siehe Fock 1847, 195. Zu Crell vgl. etwa Joachim Pastorius: Vita Johannis Crellii Franci à I. P. M. D. ante plures annos descripta, in: Crell 1681; Fock 1847, 195 f.; Schimmelpfennig 1876 und Wallace 1850, Bd. 2, 558–571. Siehe Steinmeyer 1912, 94 [2770]. Siehe hierzu Mährle 2000. Siehe Steinmeyer 1912, 96. Zu Soner siehe z. B. Baier 1738, 26 ff. und Will 1757, 713–718.
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kennen, das er später als akademischer Lehrer an seiner Altdorfer Heimatuniversität 7 unter den Studenten verbreiten sollte. Altdorf gilt aufgrund des Soner-Kreises als eines 8 der Zentren des Antitrinitarismus im Reichsgebiet. Neben Crell gingen auch noch weitere berühmte Dissidenten aus der Akademie hervor, wie Martin Ruarus (1589– 1657), der europaweit Verbindungen mit der Gelehrtenwelt knüpfte und unter anderem 9 mit Marin Mersenne und Hugo Grotius korrespondierte. Durch Soner und Michael Güttich (auch Gittich oder Gittichius),10 der 1607 zum Studium von Polen nach Altdorf gekommen war11 und später in Raków, der kulturellen Hochburg der antitrinitarischen Ecclesia minor, wirkte, ist Crell für den Sozinianismus gewonnen worden.12 Crells Abfall von der Orthodoxie blieb zunächst unbemerkt. Er erlangte den Grad eines Baccalaureus und wurde sogar für das Amt des Alumneninspektors vorgeschlagen. Da hierzu die Magisterwürde und folglich auch die Verpflichtung auf die Confessio Augustana erforderlich gewesen wären, lehnte Crell diese Ehre ab. Es kam der Verdacht auf, Crell hätte Affinitäten zum Kalvinismus. 1612 verließ er Altdorf und reiste nach Polen; in Krakau wurde er durch den italienischen Glaubensflüchtling Giambattista Cettis (†1613) aufgenommen. Crell war mit einem von Johann Georg Leuchsner verfassten Empfehlungsschreiben ausgestattet; Leuchsners Bruder, der Nürnberger Jurist Georg Ludwig Leuchsner, war mit Soner verwandt und organisierte gemeinsam mit Cettis die Korrespondenz der Altdorfer Antitrinitarier mit der Ecclesia minor in Polen.13 Ab 1613 lebte Crell bis zu seinem Tod im Jahr 1633 in Raków, wo er zunächst als Griechischprofessor, dann als Rektor am dortigen Gymnasium und schließlich als Prediger tätig war. Crells Werke sind in der Bibliotheca Fratrum polonorum versammelt.14 Neben zahlreichen exegetischen Texten verfasste er sehr wirkmächtige religionsphilosophische Schriften. Seine Abhandlung De uno Deo Patre etwa, die nach dem Urteil Otto Focks den umfassendsten und bedeutendsten Angriff der Sozinianer auf die Dreieinigkeitslehre darstellte,15 lag bereits im 17. Jahrhundert in volkssprachlichen Ausgaben vor;16 seine Toleranzschrift Iunii Bruti Poloni Vindiciae pro religionis libertate (1637) wurde im Zeitalter der Aufklärung durch d’Holbach und Naigeon in französischer Übersetzung herausgegeben.17 Zu seinem Hauptwerk zählen schließlich auch seine 10 11 12 13 14 15 16 17
Siehe etwa Wollgast 1993, 367. Fock 1847, 234 f. Fock 1847, 198–200. Zu Güttich siehe Wallace 1850, Bd. 2, 506–516. Zur Präsenz polnisch-sozinianischer Studenten an der Academia norica siehe etwa Wotschke 1928, 216–232. Siehe Fock 1847, 195. Siehe hierzu Wallace 1850, Bd. 2, 520–522; Caccamo 1970, 48, und Wollgast 1993, 374. Die BFP findet sich digital unter [19.11.2009]. Fock 1847, 196. Beispielsweise Crell 1645, 1665 und 1691. Crell 1769. Siehe hierzu auch Pintacuda de Michelis 1975, 74.
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gewichtigen ethischen Schriften, die Ethica aristotelica, ad Sacrarum Literarum normam emendata und die sie ergänzende Ethica christiana, seu Explicatio virtutum et vitiorum quorum in Sacris Literis fit mentio. Diese beiden Texte sind besonders relevant, denn sie stellen einen wichtigen Beitrag zur progressiven Ausformung und Systematisierung der sozinianischen Religionsphilosophie dar: Der Sozinianismus zeichnet sich, wie es Jan Rohls formuliert, durch eine „radikale Ethisierung“ der christlichen Religion aus.18 Und wie bereits Johann Gottfried Eichhorn konstatierte, war Crell der einzige Sozinianer, der ein „besonderes moralisches System“ verfasste.19 Die Grundlage dieses „moralischen Systems“ bestand offensichtlich in einer spezifischen Rezeption des Aristotelismus, wie bereits aus den Titeln der Bücher hervorgeht. Otto Fock hat darauf hingewiesen, dass die Schriften Crells „vielfache und unverkennbare Spuren“ des Altdorfer Aristotelismus enthalten würden.20 Dass Crell während seines Aufenthalts in Altdorf vor allem durch seinen persönlichen Umgang mit Soner Affinitäten zum Antitrinitarismus entwickelte, ist hinlänglich bekannt. Als Schüler des Scherbius und Verfasser eines umfangreichen (und aus theologischer Perspektive sehr gewagten) Kommentars zur Metaphysik war Soner auch einer der bedeutendsten Aristoteliker der Akademie.21 Soner hat allerdings nie Veranstaltungen zur Ethik angeboten, die später im Zentrum der philosophischen Interessen Crells stehen sollte. Neben der Metaphysik befasste sich Soner vorwiegend mit naturphilosophischen Problemen. Zudem verhielt sich Crell gegenüber seinen durch den religionsfernen und radikalen Aristotelismus der Italiener (insbesondere Cesalpino) geprägten Konzeptionen eher ablehnend.22 Im Folgenden soll daher die Frage erörtert werden, inwieweit der durch die Fachkollegen Soners veranstaltete Ethikunterricht an der Academia Norica die sozinianische Tugendlehre Crells geprägt und vielleicht sogar auch einen günstigen Nährboden für seine Rezeption des Antitrinitarismus geboten haben könnte. In einem ersten Schritt werden hierzu zentrale inhaltliche Aspekte der Ethiken Crells vorgestellt. In einem zweiten Schritt wird aus wissenssoziologischer und ideengeschichtlicher Perspektive erörtert, welche Anregungen Crell in systematischer Hinsicht durch die moralphilosophischen Veranstaltungen an der Academia Norica erhielt. Die These, die in der hier vorliegenden Arbeit verifiziert werden soll, lautet, dass für Crell insbesondere die Lehren des Georg Queccius wegweisend waren. Wie auch das Beispiel Crells zeigt, war der Aristotelismus offenbar allgemein zugleich ein Grundpfeiler und ein Katalysator für die rationalistische Philosophie der Sozinianer.
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Rohls 1999, 291. Eichhorn 1810, 521. Fock 1847, 195. Soner 1657. Zur Ausrichtung der philosophischen Lehrveranstaltungen Soners vgl. insbes. Mährle 2000, 281–283, 289 f., 326, 354 f., 385–387, 391, 393–396, 526. Wollgast 1993, 386.
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2. Crells aristotelische Ethik Die Erstausgabe der Ethica aristotelica und der Ethica christiana erschien um 1650 mit fingierten Angaben in Amsterdam.23 Eine zweite klandestine Edition wurde 1681 ebenfalls in Amsterdam erstellt; das Buch enthält zudem eine von Joachim Pastorius verfasste Vita Johannis Crellii, eine Dissertatio super Ethicis Crellianis sowie eine lateinische Fassung des Rakówer Katechismus, an der Crell mitgewirkt hatte.24 Ferner sind seine Ethiken auch im sechsten Band der um 1668 ans Licht gekommenen Bibliotheca Fratrum Polonorum abgedruckt.25 Eine niederländische Übersetzung der Ethica christiana wurde bereits 1651 (vermutlich in Rotterdam) durch Johann und Heinrich Stern verlegt.26 Mit der Niederschrift der Ethica christiana begann Crell vermutlich 1621 oder 1622.27 Aufgrund seiner zeitraubenden Ämter und Pflichten konnte er allerdings sein Werk nicht selbst vollenden. Durch ihn diktierte Textstücke und Fragmente wurden nach seinem Tode durch einen zuverlässigen Freund und Schüler kollationiert und ins Reine gebracht.28 1635 wurden Ruarus, Stegmann und Stoinius durch eine Synode der Ecclesia minor damit beauftragt, die ethischen Schriften Crells in den Druck zu geben.29 Eine erste Schulausgabe der Ethica aristotelica ist infolgedessen im gleichen Jahr in Raków entstanden.30 Die in vier Teile gegliederte Ethica aristotelica ist nicht einmal halb so umfangreich wie die ihr nachgestellte Ethica christiana.31 In Bezug auf Aufbau und Inhalt ist sie streng an der Nikomachischen Ethik des Aristoteles orientiert. Die in der Pars prima32 vorgenommenen Erörterungen handeln vom höchsten Glück und greifen im Wesentlichen auf das erste Buch der Nikomachischen Ethik zurück. Crell definiert eingangs die 23 24
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Crell [1650]. Siehe hierzu auch Knijff/Visser/Visser 2004, 77 [2033] und Wallace 1850, Bd. 2, 569 f. Crell 1681; siehe zu diesem Titel auch Knijff/Visser/Visser 2004, 77 [2035]. Meine Angaben zu Crells Ethiken beziehen sich stets auf diese Ausgabe; zu beachten ist, dass die Ethica aristotelica und die Ethica christiana getrennt laufende Paginierungen haben. Die Vita Crellii sowie die anonyme Dissertatio sind nicht paginiert. Die von mir gezählten Seiten sind im Folgenden mit Asteriskus versehen. Bibliotheca Fratrum Polonorum quos Unitarios vocant […]. Bd. 6. Irenopoli, post annum 1656 [= Amsterdam 1668], 149–454 [149–229: Ethica aristotelica; 230–454: Ethica christiana]. Siehe hierzu auch Knijff/Visser/Visser 2004, 55–67; insbes. 64 f. Crell 1651. Siehe hierzu auch Knijff/Visser/Visser 2004, 77 [2034]. Wallace 1850, Bd. 2, 563, und Sand 1684, 115. Siehe Crell 1681, 1* f. Siehe auch Pintacuda de Michelis 1975, 75, und Wallace 1850, Bd. 2, 569. Wallace 1850, Bd. 2, 569. Vgl. Wallace 1850, Bd. 2, 569; es handelt sich um Crell 1635. Vgl. auch Kawecka-Gryczowa 1974, 213 f. [112]. In der Ausgabe von 1681 nimmt die Ethica aristotelica 248 Seiten ein, die Ethica christiana aber 674. Crell 1681: Ethica aristotelica, 1–19.
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Ethik als „disciplina practica“ und „moralis disciplina“.33 Das höchste Glück (felicitas, beatitudo) bestimmt er als „ultimum vitae humanae finem, seu summum ac perfectissimum hominis bonum“.34 Erreicht wird dieses Ziel der Moralphilosophie durch die Tugendhaftigkeit.35 Die Pars secunda, in der das Wesen der Tugend aufgezeigt und verschiedene Einzeltugenden dargestellt werden, ist mit Abstand der größte Teil der Abhandlung Crells.36 In ihm werden Kernthemen aus den ersten sieben Büchern des aristotelischen Textes diskutiert. Crell übernimmt von Aristoteles die grundlegende Bestimmung der Tugend als einen Habitus, den der Mensch (durch Belehrung oder Gewohnheit) erst erwerben muss, sowie die Differenzierung zwischen spekulativ-theoretischer Verstandestugend (dianoetischer Tugend) und überlegend-praktischer bzw. sittlicher Tugend. Letztere definiert er als „habitus agendi cum consilio“, durch den wir die vernünftige Mitte treffen.37 Die spekulativ-theoretische Tugend ist hingegen nach Crell ein „habitus mentis“, der auf die Erkenntnis abzielt, denn „opus mentis seu intellectus est cognoscere“.38 Die fünf dianoetischen Tugenden des Aristoteles, ars, prudentia, intelligentia, scientia und sapientia,39 werden durch Crell nach dem Vorbild des sechsten Buches der Nikomachischen Ethik (insbes. Eth. Nic. 1139b 15 ff.) einzeln besprochen.40 Er betont auch, dass zur Tugend ein freier und vernunftgeleiteter Willensentscheid vonnöten sei, der dem „appetitus“, den irrational-triebhaften Impulsen der Seele, die die „species“ des wahren Guten in der „mens“ verdunkelten, entgegensteuert.41 Das „objectum“ der als „appetitus rationalis“ verstandenen voluntas ist das wahre Gute, zu dessen Erkenntnis die „ratio“ anreizt.42 Dieser Aspekt ist von Bedeutung, denn Crell geht demzufolge gegen die protestantische Orthodoxie von der Annahme aus, der
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38 39 40 41
42
Crell 1681: Ethica aristotelica, 1. Crell 1681: Ethica aristotelica, 2. Crell 1681: Ethica aristotelica, 17 ff. Crell 1681: Ethica aristotelica, 19–205. Crell 1681: Ethica aristotelica, 20 ff.; 20: „Virtus haec humana generatim considerata definiri potest, Habitus animi ratione praediti, eum perficiens, & opus ejus bonum reddens. Illius duae primariae sunt species. Est enim altera virtus intellectus, altera morum: quarum illa rationem, haec appetitum perficit. […] Virtus moralis est habitus agendi cum consilio, consistens in medio quod ad nos, ratione recta definitio.“ Crell 1681: Ethica aristotelica, 191 f. Crell 1681: Ethica aristotelica, 191–193. Crell 1681: Ethica aristotelica, 193–202. Crell 1681: Ethica aristotelica, 59–63; 61 heißt es: „Nam nunc voluntas bonum naturae rationis ac mentis consentaneum sequitur: quod cum constanter facit, rationis vim genuinam exicitat, & ut contra appetitum disputet, eum refutet ac premat, efficit. quae vis tanta est, ut etiamsi appetitus nonnunquam fere vicisse videatur, & veri boni speciem in mente obscurarit & propemodum extinxerit, tamen voluntas fugientem illam boni veri speciem iterum apprehendat, ad eamque plenius cognoscendam rationem excitet, & ut ejus vi appetitum tandem vincat, efficiat.“ Crell 1681: Ethica aristotelica, 59–61.
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Mensch habe aufgrund des ihm inhärenten Verstandes die Fähigkeit, zwischen Gutem und Bösem frei zu wählen, und die Kraft, wahrhaft Gutes zu wollen und zu tun.43 Crell begründet hier philosophisch über den aristotelischen Rationalismus einen Grundzug der sozinianischen Theologie, nämlich die Möglichkeit der Annahme des Heils durch die unbedingte Anerkennung der menschlichen Freiheit.44 Der Sozinianismus verwirft die Erbsünde „als die Aufhebung der Freiheit“ auf das Entschiedenste; auch als Sünder zeichnet sich der Mensch noch durch den freien Willen aus. Nur so kann er den durch Christus als gottgesandten Propheten gewiesenen Weg beschreiten, der im freien Glaubensgehorsam gegenüber dem geoffenbarten Gottesgesetz besteht und dessen Lohn die Überwindung der natürlichen Sterblichkeit des Menschen darstellt: Die Nachfolge Christi wird also „rein gesetzlich“ als Einhaltung geoffenbarter positiver Normen begriffen.45 Indem der Sozinianismus auf der Grundlage der Freiheitsidee die christliche Religion mit dem durch Gott geoffenbarten moralischen Weg zum ewigen Leben gleichsetzt, vollzieht er deren Ethisierung;46 in der „Hervorhebung der Freiheit“ besteht daher, so Otto Fock, die „ethische Bedeutung“ des Sozinianismus.47 Im letzten Kapitel des zweiten Teiles (Kap. XXXIII: „Comparatio Felicitatis Theoreticae & Practicae“) kommt Crell zu dem Schluss, die „contemplatio“ sei der „actio“ übergeordnet; darin folgt er ebenfalls Aristoteles, der die Ansicht vertritt, dass das vollendete Glück des Menschen im Vollzug der Theorie besteht und dass das tätige Leben (im Vergleich mit dem beschauenden) nur ein zweitrangiges Glück gewährt (Eth. Nic. 1177a 11–1178b 34): Das auf die vita civilis ausgerichtete Handeln ist für Crell nicht das ‚letzte Ziel‘ des menschlichen Lebens. Dieses bestünde vielmehr in der „vita divina“, der Betrachtung Gottes, der uns als „naturae auctor“ teils durch die Natur und teils über (geoffenbarte) Vorschriften zur Tugend verpflichte, wie der Maßhaltung, der Wohltätigkeit, der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit und den Gottesdienst.48 Auf die Erhabenheit der kontemplativen Tätigkeit kommt Crell wieder in der Ethica christiana zurück, wie zu zeigen sein wird. Der dritte Teil der Ethica aristotelica ist mit der voluptas und ihren verschiedenen Unterarten befasst;49 Aristoteles widmete diesem Thema die Kapitel 12–15 des 7. Buches (Eth. Nic. 1152b–1155a) und die ersten fünf Kapitel des 10. Buches seiner Schrift (Eth. Nic. 1172a 15–1176a 29). Der vierte und letzte Teil der Ethica aristotelica
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Zum Problem der Freiheit des Willens in der lutherischen Dogmatik vgl. Schmid 1893, 183 ff. Fock 1847, 652 f. Rohls 1999, 291. Vgl. Rohls 1999, 291. Fock 1847, 653. Crell 1681: Ethica aristotelica, 202–205. Crell 1681: Ethica aristotelica, 206–215.
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hat schließlich wie das achte und neunte Buch der Nikomachischen Ethik (1155a–1172a 15) die Freundschaft zum Gegenstand.50 Crells Ethica aristotelica ist kein besonders origineller Text;51 sie stellt lediglich ein systematisches und nach Themenkomplexen aufgeschlüsseltes Kompendium zur Nikomachischen Ethik dar.52 Sie verbessert daher in keiner Weise Aristoteles, wie ihr Untertitel Ad Sacrarum Literarum normam emendata verspricht.53 Die Lehre des heidnischen Philosophen widersprechen offenbar für den Sozinianer Crell in keinem wesentlichen Punkt den Normen des Christentums; die sozinianische Ausformung der christlichen Glaubenslehre und die rationalistische Ethik des Aristoteles scheinen ihm vielmehr durchaus miteinander vereinbar zu sein; dies zeigte sich bereits in Bezug auf die für den Sozinianismus essentielle Freiheitsidee. Die Verbindung und Konkordanz der theologischen Morallehre mit der aristotelischen Ethik ist in der Ethica christiana sogar explizit programmatisch, wie nun erläutert werden soll.
3. Crells christliche Ethik Die voluminöse Ethica christiana ist in fünf Bücher untereilt, denen drei Orationes nachgestellt sind; letztere hielt Crell wahrscheinlich am Rakówer Gymnasium, was darauf hindeutet, dass er dort nicht nur Griechisch, sondern auch Ethik unterrichtete.54 Das erste Buch handelt von der christlichen Tugend.55 Diese wird hier im Sinne des Aristoteles als „habitus animi“ definiert, mit dem Zusatz jedoch „ad hominis perfectionem in Christi doctrina descriptam spectans.“56 Der Begriff ‚Tugend’ hat nach Crell in der Heiligen Schrift drei Bedeutungen: Zum einen würde er wie in der ‚aristotlischen Ethik‘ die geistige und sittliche Tugend bezeichnen, zum anderen aber eine aus diesen beiden ‚gemischte Tugend‘;57 die „virtus christiana“ sei aber eine dreifache: „Virtus autem Christiana triplex est: alia Mentis: alia Voluntatis seu morum: alia denique Mixta, hoc est, partim mentis, partim voluntatis.“58 In Anlehnung an Aristoteles’ Definition der dianoetischen Tugend bestimmt auch Crell die spezifisch christliche Vernunfttugend als eine erkenntnisgerichtete; sie sei ein „habitus animi“, durch den man dasjenige, was speziell zur christlichen Religion und 50 51 52 53 54 55 56 57 58
Crell 1681: Ethica aristotelica, 215–248. Vgl. auch Pintacuda de Michelis 1975, 77. Wie in der Dissertatio (2*) angedeutet wird, war die Ethica aristotelica ursprünglich auch als Unterrichtswerk gedacht. Vgl. hierzu auch Eichhorn 1810, 521. Vgl. Crell 1681: Dissertatio, 3*. Crell 1681: Ethica christiana, 1–213. Crell 1681: Ethica christiana, 1. Crell 1681: Ethica christiana, 1–4. Crell 1681: Ethica christiana, 4.
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Frömmigkeit gehöre, erkenne, beurteile und billige.59 Als Pendant zu den dianoetischen Tugenden der Nikomachischen Ethik stellt Crell vier christliche Vernunfttugenden auf: die Wissenschaft oder Weisheit, die Klugheit, den Glauben und die Hoffnung. Durch die Tugend der „scientia“ oder „sapientia“ werden die heilsnotwendigen Wahrheiten erkannt.60 Die christliche Klugheit ermöglicht es, das zum Heil Gehörige richtig zu beratschlagen, das lebenspraktische Handeln gemäß den Umständen (maßvoll) zu leiten und die handlungsbezogenen Dinge passend zu beurteilen.61 Der Glauben ist gemäß Crell entweder vollkommen oder unvollkommen. Der unvollkommene Glauben besteht in einer „festen Überzeugung“ von den geoffenbarten Wahrheiten, wie etwa der Einheit Gottes, die die Frömmigkeit nicht notwendigerweise nach sich ziehen.62 Der perfekte Glauben ist hingegen derjenige, der durch seine Kraft alle heilsnotwendigen Überzeugungen mit sich bringt und aus sich heraus die Frömmigkeit bewirkt.63 Die als „expectatio futuri boni à Deo aut Christo consequendi“ definierte Hoffnung schließlich geht allen Pflichten und der Frömmigkeit des Menschen voraus;64 sie stellt die Vorbedingung überhaupt für die Erlangung der ewigen Güter bzw. des ewigen Lebens dar.65 Ethik und Heilserwartung sind bei Crell daher eng miteinander verknüpft. Das Begehren des Menschen nach der Überwindung seiner Sterblichkeit und seines gegenwärtigen Zustandes ist der eigentliche Antrieb zur Tugendhaftigkeit; diese ist bei Crell mit dem Heilsstreben gleichgesetzt, insofern er sie als willentlichen Gehorsam im Handeln gegenüber den heilsnotwenigen Offenbarungsinhalten versteht und das fromme, gottwohlgefällige Leben als Inbegriff der Tugend festsetzt. Dies geht aus dem zweiten Buch der Ethica christiana hervor, das das allgemeine Wesen der sittlichen Tugend im Sinne des Christentums zum Gegenstand hat: Die „virtus moralis“ definiert Crell dort als einen „habitus“ des Willens („habitus voluntatis“), nach den Vorschriften Christi zu handeln; sie sei auch „consuetudo vivendi 59
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Crell 1681: Ethica christiana, 5: „Virtus Mentis (de Christiana semper loquimur) est habitus animi, quo cognoscimus, dijudicamus, assensuve nostro comprobamus ea, quae ad Christianam religionem ac pietatem pertinent.“ Crell 1681: Ethica christiana, 7. Crell 1681: Ethica christiana, 23: „[…] Prudentia Christiana est virtus mentis, quâ quis tum sibi, tum aliis in rebus ad salutem sempiternam spectantibus rectè consulere, actiones vitae pro circumstantiarum ratione moderari, & de rebus sub actionem cadentibus probè judicare novit.“ Crell 1681: Ethica christiana, 41: „[…] Imperfectior est persuasio firma de re aliqua à Deo revelata, quae secum assensum reliquis omnibus adhibendum, pietatemque necessariò non trahit.“ Crell 1681: Ethica christiana, 42: „[…] Perfectior est, quae per se quidem particularis est, sua tamen vi omnia secum trahit, quae ad salutem creditu sunt necessaria, & pietatem in iis, ad quos ea pertinet, ex se parit.“ Crell 1681: Ethica christiana, 56. Crell 1681: Ethica christiana, 57: „Spes enim alia officium & pietatem hominis antecedit, & sic à conditione futura pendet: alia pietatem & officium nostrum consequitur, & sic conditionem ad bonum aliquod, praesertim aeternum, necessariam, jam praesentem ponit.“
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ex praescripto Christi“.66 Bezeichnenderweise insistiert Crell als Sozinianer hier wieder in besonderem Maße auf der Bedeutung des liberum arbitrium für die Tugendhaftigkeit: Die „voluntas“ kann aus seiner Sicht den Tieren nicht zugesprochen werden; sie sind daher weder tugend- noch lasterhaft. Der Wille leitet sich vielmehr von der Vernunft her, die den Menschen auszeichnet; aufgrund seiner Vernunft kommt dem Menschen allein Tugend und Laster bzw. Strafe und Lohn zu; kraft ihrer hat er die Möglichkeit, den durch Gott dem Menschen vorgeschriebenen und mit dem honestum analogen Heilsweg zu erkennen – und zu beschreiten.67 Die höchste Tugend ist Crell demnach die sanctitas68 oder pietas;69 in ihr sind als „Habitus aut consuetudo agendi secundum Christi praecepta“ alle übrigen christlichen Sittentugenden eingefaltet.70 Diese erörtert Crell nach dem Vorbild der Nikomachischen Ethik (1115a 4 ff.) im Folgenden dann einzeln; dabei differenziert er im dritten und vierten Buch der Ethica christiana zwischen jenen Tugenden, die sich auf Gott beziehen, wie etwa die Liebe zu Gott, die Gottesfurcht und die Gottesehrung, und den Tugenden, die sich auf den Nächsten sowie auf uns selbst beziehen, wie etwa die Gerechtigkeit, die Nächstenliebe und die Barmherzigkeit.71 Im fünften Buch der Abhandlung setzt sich Crell schließlich mit den Pflichten und Ämtern des Christenmenschen und der geistlichen Würdenträger auseinander.72 In der dem fünften Buch der Ethica christiana nachgestellten Oratio prima („De honestatis natura et fonte“) thematisiert Crell das höchste Ziel und die „felicitas“ des Menschen.73 Diese bestehen für ihn primär wie bei Aristoteles in einem Leben nach der denkenden Tätigkeit und im Vollzug der Theorie (Eth. Nic. 1177a 11–1178b 34): Laut Crell, der auch hier an die Argumentation der Nikomachischen Ethik anknüpft, ist die „mens“, deren Funktion in der Erkenntnis und der Betrachtung besteht, der göttliche Teil des Menschen. Die vorzüglichste Form der „contemplatio“ ist aber die Betrachtung Gottes.74 Folglich stellt diese das letzte Ziel des Menschen dar.75 Das in einem konstanten und auf immer fortwährenden Zustand der Betrachtung bestehende Höchstmaß der Glückseligkeit ist gemäß Crell jedoch erst nach dem sterblichen Leben mit der Ewigkeit und der Überwindung der natürlichen Vergänglichkeit des Menschen
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Crell 1681: Ethica christiana, 61. Crell 1681: Ethica christiana, 65 f. Crell 1681: Ethica christiana, 139 ff. Zu dem Verhältnis von sanctitas und pietas vgl. Crell 1681: Ethica christiana, 142 und 223. Crell 1681: Ethica christiana, 139: „Sanctitas est complexus omnium virtutum Christianarum ad mores pertinentium: seu mavis, Habitus aut consuetudo agendi secundum Christi praecepta […].“ Crell 1681: Ethica christiana, 213–399 und 400–533. Crell 1681: Ethica christiana, 534–622. Crell 1681: Ethica christiana, 623–639. Crell 1681: Ethica christiana, 631 f. Crell 1681: Ethica christiana, 631 f.
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erreichbar.76 Demzufolge sind zwei weitere Ziele der Tugendhaftigkeit die Ehre Gottes sowie die Unversehrtheit und das Heil der Mitmenschen, deren Verwirklichung (in einem gottwohlgefälligen Handeln) mit der Unsterblichkeit belohnt wird.77 Crell konzipiert also im Anschluss an die philosophische Ethik des Aristoteles die christliche Ethik auch als vernunftgemäße Lebenspraxis, die auf die Aneignung des „summum bonum“ abzielt; so wie die Nikomachische Ethik hat auch die Ethica christiana das im Handeln und im tätigen Leben des Menschen erwerbbare Gute zum Gegenstand. Insgesamt dient Crell das aristotelische Denken gleichsam als Fundament für die theologische Tugendlehre, die sich konzeptuell von ihm ableitet. Für Crell können zwischen diesen beiden Ansätzen keine grundsätzlichen Unstimmigkeiten vorliegen; als Sozinianer sind ihm Vernunft- und Glaubenswahrheiten äquivalent: Den Sozinianern gilt allein die ratio als das höchste Kriterium in Bezug auf Religionswahrheiten.78 In dieser Hinsicht waren vor allem die Ideen der zweiten Generation der Rakówer Theologen (der auch Crell angehörte) für die Ausformung des Deismus impulsgebend.79 Wie Crell demgemäß in der Oratio secunda darlegt,80 würden Philosophie und Theologie miteinander übereinstimmen: Wahrheiten könnten sich nicht widersprechen.81 Vor allem die philosophische Ethik sei als „disciplina practica“, die die Sitten des Menschen erörtere, die Natur der Tugenden und Laster auseinandersetze, die Pflichten vorschreibe und die Art und Weise lehre, wie der Affekt zu mäßigen und das Leben zu führen sei, der Theologie überaus nützlich: Die Theologie ist selbst, wie Crell im Sinne der sozinianischen Gleichsetzung der christlichen Religion mit dem moralischen Heilsweg erläutert, eine ganz auf die tugendhafte Handlungsweise, die Heiligkeit der Lebensführung und die wahre Frömmigkeit bezogene praktische Disziplin.82 Die Philosophen hätten (so Crell) durch die Natur (bzw. die dem Menschen natürliche Vernunft) belehrt, 76
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Crell 1681: Ethica christiana, 632: „Contemplatio vero ea est praestantissima, quae est rei omnium divinissimae: haec Deus est. Hujus ergo contemplatio ultimus hominis finis est & felicitas. […] Itaque ubi cognitio Dei perfectissima simul & constantissima est, ibi demum est beatitudo. Hujus tam divini boni umbra tantum & imago quaedam in hac nobis contingit vita […]. […] Verum licet perfecta Dei cognitio cum aeternitate conjuncta, summum sit hominis bonum, ultra quod desiderium suum non transmittit […].“ Crell 1681: Ethica christiana, 633. Über das Verhältnis von Vernunft und Glauben im Sozinianismus vgl. etwa Fock 1847, 374 ff. Vgl. hierzu auch Ogonowski 1977. Vgl. Crell 1681: Ethica christiana, 639–654. Crell 1681: Ethica christiana, 640: „Consentiet ergo Philosophia ex naturae recessibus eruta cum Theologia, hoc est cum ipsa veritate.“ Crell 1681: Ethica christiana, 641: „Practica certe disciplina, quae de moribus hominum disserit, virtutum ac vitiorum naturam evolvit, honesti praescribit officia, affectuum moderandorum & humanae vitae gubernandae rationem edocet, Theologo futuro non potest non esse perquam utilis. Nam & ipsa Theologia practica est, & ad actionem virtutis & ad sanctitatem vitae, veramque pietatem refertur universa.“
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auf vollendete und bewundernswerte Weise die Tugend vorgeschrieben.83 Insbesondere lobt Crell die Peripatetiker und die Stoiker; diese seien sogar Mose bei weitem vorzuziehen, da dieser lediglich Gebote formuliert habe, die sich aufgrund der Infantilität seines Volkes auf das Irdische beschränkten.84 Seine Vorschriften (der Dekalog) würden vor allem ganz elementar auf den Erhalt des Staatsfriedens und die Sicherheit abzielen, ohne die der Besitz von Gütern ausgeschlossen sei.85 Bedingung der vollkommenen Tugend ist jedoch die Kenntnis der christlichen Offenbarung und des Heils; erst durch die Hoffnung auf die durch Jesus ans Licht gebrachte Unsterblichkeit lässt sich aus der Perspektive Crells das Höchstmaß der Tugend erreichen.86 Die heidnischen Philosophen hätten aber über keine angemessenen Religionsvorstellungen verfügt.87 Sogar Aristoteles hätte nur einen auf das sterbliche Leben beschränkten Begriff der Betrachtung entwickelt, die sich jedoch allein in der Ewigkeit vollkommen realisieren ließe.88 Für Crell mussten daher die Lehren der antiken Philosophen durch die auf den geoffenbarten Heilsweg ausgerichteten Tugendnormen des Christentums verbessert und vervollständigt werden. Mag auch Crells Ethica aristotelica keine besonders individuelle Schöpfung darstellen, so liegt doch die Bedeutung seiner Ethica christiana darin, dass er in diesem Werk aus den Grundlagen der aristotelischen Ethik eine christliche Tugendlehre entwickelt, wobei er Philosophie und Theologie bzw. die in der Natur des Menschen angelegte Vernunft und die Offenbarung als sich ergänzende Disziplinen oder Instanzen zu begreifen versucht. Richtungweisend war hierfür die im Kontext der rationalistischen Religionsphilosophie des Sozinianismus postulierte Gleichwertigkeit von natürlichen Vernunft- und geoffenbarten Glaubenswahrheiten. Es soll nun erörtert werden, inwieweit die philosophische Ausbildung und der Unterricht, den Crell an der Academia Norica erhielt, für seine synthetischen Denkansätze Anregungen lieferten.
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Crell 1681: Ethica christiana, 646: „Atqui has virtutes Philosophi, natura docente, praescripserunt, commendarunt, urserunt, nonnullietiam summa cum laude & admiratione omnium sunt assecuti.“ Crell 1681: Ethica christiana, 641 ff. Crell 1681: Ethica christiana, 642: „Quod si à divino cultu discedas & caeteras Mosaicae legis partes expendas, comperies eas ad conservandam Reipublicae tranquillitatem, & singulorum ejus membrorum quietem ac securitatem, sine qua nullius boni est jucunda possessio, tuendam fuisse comparatas.“ Vgl. hierzu auch Eichhorn 1810, 523. Vgl. Crell 1681: Ethica christiana, 646 ff. Crell 1681: Ethica christiana, 650: „Si Philosophorum princeps eam sapientiae & contemplationis causa, quam & imperfecte & brevi tempore mortalibus contingere necesse est, credit sectandam; an contra dignitatem virtutis est eam aeterno supremi numinis conspectui, & beatissimae divinae majestatis contemplationi destinare?“
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4. Ethik an der Academia Norica In den Altdorfer Hochschulstatuten von 1582 war bereits ein eigener Ethik-Lehrstuhl vorgesehen. Neben der Besprechung der moralphilosophischen Werke Melanchthons sollte der Ethicus vornehmlich die Aufgabe haben, die ethischen Schriften des Aristoteles sowie Ciceros De officiis zu interpretieren; die Vermittlung von Kenntnissen sollte dabei „ad finem politicum, sed potius ad ecclesiasticum“ erfolgen.89 Der erste profilierte Ethikprofessor an der Akademie war der niederländische Rechtsgelehrte und Philologe Obertus Giphanius (1534–1604), der kurz nach seiner Anstellung in Altdorf im Jahr 1583 auch mit Vorlesungen über die Nikomachische Ethik beauftragt wurde.90 Giphanius hatte zuvor bereits an der Hohen Schule von Straßburg Moralphilosophie unterrichtet; aus seinen Lehrveranstaltungen in Straßburg und Altdorf ging ein posthum veröffentlichter Kommentar hervor, die Commentarii in decem libros ethicorum Aristotelis ad Nicomachum […] (Frankfurt a. M., 1606). Im Vorwort zu seinem Werk erläutert Giphanius ausführlich seine mehrstufige Interpretationsmethode, die auf einer sehr textnahen Vorgehensweise beruht und den Vergleich der aristotelischen Theorien mit der christlichen Moral mit einbezieht.91 Es ist nicht bekannt, welche Bücher der Nikomachischen Ethik in seinen Altdorfer Vorlesungen durchgenommen wurden.92 Im Jahr 1585 übernahm der Philosophieprofessor Matthias Bergius den Lehrauftrag des Giphanius. Zu seinem Unterricht und seiner Lehrmethode liegen kaum Informationen vor; fest steht, dass auch er sich vorwiegend mit der Erörterung der Nikomachischen Ethik befasste. 1591 edierte er den griechischen Text des Aristoteles zusammen mit der lateinischen Übersetzung des französischen Humanisten Denis Lambin (1516–1572).93 In der Einleitung zu seiner Ausgabe der Nikomachischen Ethik, die nur wenig eigenes enthält, betont Bergius die Bedeutung des Aristoteles als Lehrer der Moralphilosophie; Aristoteles hätte die ethischen Ansätze Platons und Sokrates’ systematisiert und zum lebenspraktischen Nutzen aufbereitet.94 Nach Bergius’ Tod im Jahr 1592 konnte der Lehrstuhl für Moralphilosophie zunächst nicht dauerhaft besetzt werden, bis sein Schüler Georg Queccius die Nachfolge antrat. Queccius unterrichtete von 1596 bis 1628 Ethik und Griechisch an der Altdorfer Akademie.95 Wie Bergius war offenbar auch er kein herausragender Gelehrter. Georg Andreas Will, der im 18. Jahrhundert an der Altdorfer Universität eine Philosophie-
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Vgl. hierzu Mährle 2000, 316. Mährle 2000, 317. Mährle 2000, 318. Mährle 2000, 319. Bergius 1591. Mährle 2000, 320. Mährle 2000, 323 ff.
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professur innehatte und zahlreiche lokalhistorische Werke verfasste, widmet ihm nur einige wenige Absätze seines Nürnbergischen Gelehrten-Lexicons.96 In seinen akademischen Reden hatte Queccius sich jedoch intensiv mit der Frage nach dem Verhältnis von philosophischer Ethik und christlicher Tugendlehre beschäftigt. Wie Wolfgang Mährle herausgearbeitet hat, war er stets bemüht, die Leistungen der Ethik von denen der theologischen Morallehre abzugrenzen und die Berechtigung des philosophischen Ethikunterrichts an den Hochschulen zu begründen.97 Ähnlich Crell war er davon überzeugt, dass insbesondere die aristotelische Ethik für das Studium der Theologie äußert nützlich und sogar notwendig sei: In einer im Jahre 1621 gehaltenen Rede De triplicis moralis philosophiae utilitate vertrat er explizit die Ansicht, dass es unmöglich sei, eine christliche Tugendlehre zu entwickeln, ohne auf die Grundlagen der Moralphilosophie zurückzugreifen; zahlreiche Bibelstellen wären allein mit Hilfe der aristotelischen Ethik interpretierbar.98 Wie Crell stellte Queccius zudem in seiner Ansprache De rerumpublicarum felicitate secundum Platonem99 die Lehren des Aristoteles über die Gebote des Mose. Der Dekalog würde zwar (so Queccius) die vollendeten Vorschriften für eine gute Lebensführung darbieten. Das ethische Werk des Aristoteles liefere aber mehr als nur praktische Vorschriften. In ihm sei vielmehr die gesamte Moralphilosophie von ihren Anfängen her methodisch gelehrt; Aristoteles würde das zivile Glück sowie das höchste irdische Glück mit festen Gründen und Argumenten erörtern und die Menschen zu deren Erkenntnis anreizen.100 In einer Oratio Pro Philosophia, contra Lactantium hat Queccius sogar die Verteidigung der gesamten Philosophie gegenüber der Theologie unternommen.101 Seine 96
Vgl. Will 1806, 215 f. Mährle 2000, 323. 98 Vgl. Queccius 1626, 121–142; insbes. 131: „Jam verò, ubi ostensum fuerit, benè-magnum verborum illorum, ex quibus Spiritus Sancti constat oratio, numerum esse, quorum interpretatio, non nisi ex solâ Ethices Aristoteléae doctrinâ peti & hauriri possit, neminem futurum puto, quin ad sententiam nostram, de Moralis Philosophiae in tractatione studii Sacri necessitate, suum quoqué judicium adscripturus sit.“ Vgl. hierzu auch Mährle 2000, 323. 99 Vgl. Queccius 1626, 1–26. 100 Queccius 1626, 25 f.: „Ad Decalogum, […] quod attinet, perfectam & absolutam benè vivendi regulam in eô contineri, nulla negandi nob. causa aut lubido est: Verùm, quò ad praecepta, de moribus & actionibus regendis danda: Atqui Aristotelis Ethicorum opus, ut Moralis Philosophia universa, ex principali institutô, non in praeceptis vivendi tradendis: sed in civili felicitate, summoqué in his terris bono describendo, declarando, firmisqué rationibus & argumentis probando & confirmando à capite ad calcem occupatum est. Ad quod Disputatorium, ut sic appellem, docendi genus, Spiritum Sanctum, nequé in Catalogo, nec in aliis hominum sanctorum libellis Gnomologicis descendisse, aut demittere se voluisse, nemini ignotum est. Ab Aristotele verò, hôc labor ille susceptus est consiliô, ut boni hujus intelligentiâ & cognitione, quae ex solô doctrinae hujus fonte hauriri potest, ad ejusdem appetitionem & persecutionem hominum animos excitaret, quam ejusdem ignoratio, ex illâ omnibus notâ Poetae sententiâ, in perpetuum fuisset depressura. […].“ Vgl. hierzu auch Mährle 2000, 323 f. 101 Queccius 1626, 68–97. 97
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Argumente wenden sich gegen den frühchristlichen Apologeten Laktanz, der an verschiedenen Stellen seines Werkes der Philosophie dezidiert jeden Nutzen abspricht und sie für perniziös erklärt: In seiner Epitome divinarum institutionum etwa, legt er dar, dass die Philosophie der Weisheit, die allein in der wahren Gottesverehrung besteht, vollkommen entbehrt. Die Taten der Philosophen würden von ihrer Unwissenheit zeugen; sie könnten daher weder Lehrer der Gerechtigkeit noch Lehrer der Tugend sein.102 Nach Queccius hingegen ist die Theologie zwar die vornehmste aller Wissenschaften, die Philosophie aber ihre unverzichtbare Magd.103 Queccius kommentierte in seinen Lehrveranstaltungen in erster Linie die Nikomachische Ethik. Entsprechend den Hochschulstatuten befasste er sich zusammen mit seinen Studenten überdies mit Ciceros De officiis, ein Werk, das er nicht nur in Bezug auf seine moralphilosophischen Inhalte, sondern auch aufgrund des hervorragenden Stils für lesenswert hielt.104 Diesen Standpunkt vertritt auch Crell in seiner Ethica christiana. In seiner Oratio prima etwa ist Cicero die Hauptautorität; Crell lobt ihn für die Feinheit und Klarheit seiner Argumentationen:105 Die Oratio prima handelt vom Wesen der honestas, die auch Cicero als Vollendung der Vernunftnatur des Menschen betrachtet und als zentralen Gegenstand in De officiis (I, 4, 11 ff.) erörtert. Anders als sein Vorgänger Bergius bot Queccius auch in regelmäßigen Abständen Disputationsübungen an. Die Thesen waren zumeist wörtlich den Büchern der Nikomachischen Ethik entnommen. In den Jahren 1605–1615 veranstaltete er mehrmals Disputationszyklen zu Themen wie Gerechtigkeit und Freundschaft;106 mit der ‚Freundschaft‘ beschäftigte sich auch Crell in der Pars quarta seiner Ethica aritotelica intensiv. Neben Queccius haben auch noch andere Professoren der Altdorfer Akademie als Ethikdozenten gewirkt, darunter der bedeutende Politikwissenschaftler Arnold Clapmarius (1574–1604), dessen De arcanis rerum publicarum libri sex (Bremen, 1605) beispielsweise durch Gabriel Naudé (1600–1653) in den Considérations politiques sur les coups d’état (Rom, 1639) scharf angegriffen wurde.107 Maßgeblich bestimmte aber 102 103
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Lactantius: Epitome divinarum institutionum, 35–36. Queccius 1626, 74 f.: „Cumqué omnium confessione constet, Theologiam sacram […] inter omnes tamen Scientias Principis & Reginae locum, jure meritissimo tenere: Philosophiam verò, ancillae & pedisséque obire ministeria: Intelligitis, nî fallor, quicquid humanitatis & benevolentiae, in Dissertatione hac audiendâ, mihi tributuri estis; cui aliud nihil, quàm pedissequae hujus innocentiam & honorem, ab indignis aliorum injuriis asserere & vindicare propositum est, totum illud, non magis Philosophiae, quàm ipsimet illius dominae & Reginae Vos tributuros esse.“ Vgl. hierzu auch Mährle 2000, 324. Mährle 2000, 324. Vgl. z. B. Crell 1681: Ethica christiana, 628. Mährle 2000, 325. Naudé 2004, 82: „[…] Or entre tous les points de la politique, je ne vois pas qu’il y en ait un moins agité et moins rebattu, ni pareillement plus digne de l’être que celui des secrets, ou pour mieux dire des coups d’État, car ce qu’en a dit Clapmarius en son traité De Arcanis Imperiorum, ne peut fournir une exception valable, puisque n’ayant pas seulement conçu ce que signifiait le
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Queccius als ordentlicher Professor den Ethikunterricht in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts. Über die moralphilosophischen Veranstaltungen des Clapmarius etwa, ist nur wenig bekannt.108 Fassen wir zusammen: An der Academia norica gab es von Anfang an den didaktischen Ansatz, die philosophische Ethik auf das Christentum zu beziehen. Bei Giphanius wurden bereits die Ideen des Aristoteles mit der christlichen Sittenlehre verglichen. Zwischen den moralphilosophischen Lehren des Queccius, der als Schüler Bergius’ an diese Tradition des Altdorfer Ethikunterrichts anknüpfte, und der sozinianisch-christlichen Ethik Crells sind auffällige Parallelen vorhanden: Beide Denker betrachten die Philosophie bzw. die philosophische Ethik und die Theologie bzw. die theologische Sittenlehre als sich ergänzende Disziplinen; für beide waren konform mit den Hochschulstatuten Aristoteles’ Nikomachische Ethik sowie Ciceros De officiis (und folglich die durch Crell hochgehaltene Stoa) grundlegend; zudem übten beide Kritik am mosaischen Dekalog, den sie lediglich als ein vornehmlich auf irdisches Wohl gerichtetes Regelwerk betrachteten. Angesichts der Tatsache, dass Crell in den Jahren 1606 bis 1612 in Altdorf studierte und Queccius seine Ethik- und Griechischprofessur von 1596 bis 1628 bekleidete, steht fest, dass Crell mit den Ansichten des Queccius vertraut war, zumal Crell auch Griechisch studierte.109 Queccius prägte vermutlich nicht nur seine späteren ethischen Konzeptionen; seine rationalistischen und eigenwilligen Ideen zum Thema Philosophie und Theologie waren sicherlich auch für Crells Hinwendung zu dem durch Soner propagierten Sozinianismus förderlich, in dessen Lehrbegriff Vernunft- und Glaubenswahrheiten einerseits sowie die christliche Religion und die freiwillige Befolgung moralischer Normen andererseits gleichgesetzt werden. Es ist daher wahrscheinlich auch kein Zufall, dass sich Nikolaus Dümmler an einer Disputation zum Thema De utilitate sapientiae et prudentiae, earumque inter se comparatione beteiligte, die am 4. Juni 1614 unter dem Vorsitz Queccius’ stattfand.110 Dümmler war einer der antitrinitarischen Studenten aus dem Soner-Kreis; er flüchtete im Jahr 1615 im Zuge der Sozinianerverfolgungen an der Academia noria nach Polen,
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titre de son livre, il n’y a parlé que de ce que les autres écrivains avaient déjà dit et répété mille fois auparavant, touchant les règles générales de l’administration des États et empires.“ Mährle 2000, 325. In der Vita Crellii schreibt Pastorius (Crell [1681]: Vita, 2*): „Beatum tunc erat Altorfium virorum doctrina celebrium proventu, adeo, ut quibus poene singulis inclarescere poterat, famam tum ejus incenderent universi. Quis ignorat magna illa Reipub. literariae nomina, Taurellum Philosophum, Scipionem Gentilem Juris Consultum, Rittershusium Philologum? quis Piccartum Logicum, Praetorium Mathematicum, & magni illius Dudithii familiarem, quis Sonerum Physicum & Medicum praestantissimum, Wirdungum Poëtam, Queccium Ethicae Professorem? qui omnes circa illud tempus [= die Studienzeit Crells] Altorfii literas docebant.“ Queccius/Dümmler 1614.
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wo er 1618 zusammen mit Crell ordiniert wurde.111 Die beiden waren offenbar befreundet.112 Dümmlers Disputation ist ferner ein durch Martin Ruarus verfasstes Lobgedicht nachgestellt, in dem Queccius als ‚Waffenträger der strengen Muse‘ gepriesen wird.113 Zudem wurde auch Johann Vogel am 20. Dezember 1611 unter dem Dekanat des Queccius zum Baccalaureus der Philosophie promoviert. Vogel wurde im Jahr 1615 zusammen mit Joachim Peuschel durch den Nürnberger Rat als Rädelsführer der Altdorfer ‚Kryptosozinianer‘ ausgemacht, inhaftiert und zu öffentlicher Revokation genötigt.114
Bibliographie Quellen Aristoteles (22007). Die Nikomachische Ethik. Griechisch-deutsch. Übersetzt von Olof Gigon, neu hrsg. von Rainer Nickel. Düsseldorf: Artemis & Winkler. Baier, Johann Jakob (1728): Biographiae Professorum Medicinae Qui in Academia Altorfina Vnquam Vixerunt […]. Nürnberg/Altdorf: Apud Haeredes Io. Dan. Tauberi. Bergius, Matthias (Hrsg.) (1591): Aristotelis ethicorum sive de moribus ad Nicomachum libri decem, adiecta ad contextum graecum interpretatione latina Dionysii Lambini, sed interpolata innumeris in locis, ita ut Aristotelis sententia fideliter exprimat […]. Frankfurt a. Main. Crell, Johann (1635): Johannis Crellii Franci Prima Ethices Elementa. In gratiam studiosae juventutis. Opus posthumum. Racoviae: Typis Pauli Sternacii. Anno Christi 1635. Crell, Johann (1645): Johannis Crellii Franci Von dem einigen Gott dem Vater/ zwey Bücher : Darinnen auch nicht wenig von der Natur des Sohns Gottes und des H. Geistes gehandelt. Crell, Johann ([1650]): Ethica Aristotelica, ad sacrarum literarum normam emendata. Ejusdem ethica christiana, sev explicatio virtutum & vitiorum, quorum in sacris 111
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Die Formierung und Repression der ‚kryptosozinianischen‘ Gruppierung um Ernst Soner wurde durch den Altdorfer Theologen Gustav Georg Zeltner (1672–1738) ausführlich dokumentiert und beschrieben: Vgl. Zeltner 1729; zu Dümmler und dessen Flucht vgl. dort insbes. 203 ff. Zu Dümmler vgl. etwa Wallace 1850, Bd. 3, 1–4. Queccius [Dümmler] 1614 [o. P]: „[…] Sic armiger Musae severae Queccius/ Te publicae nunc lucis adversum iubar/ Vtroque mandat obtueri lumine./ Quid ergo? fallor: an statim fulvae doces/ Quod alitis non degener sis filius.“ Vgl. hierzu etwa Zeltner 1729, 1 ff.
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DIETRICH KLEIN
Der religiöse Nonkonformismus Andreas Dudiths im Spiegel seiner Auseinandersetzung mit Theodor Beza und Johannes Crato von Crafftheim
1. Einleitung – Zur Biographie Dudiths Zum Spektrum der religiös nonkonformen Figuren des späten 16. Jahrhunderts zählt der ungarische Bischof von Pécs und Berater Kaiser Maximilians II., Andreas Dudith.1 Zwar mag seine Biographie in ihren Grundzügen als das eher unauffällige Beispiel einer Gelehrtenbiographie des beginnenden konfessionellen Zeitalters gelten. Gekennzeichnet ist seine Biographie jedoch durch einige markante Brüche, die ihn von einer entstehenden – zunächst katholischen, später auch reformierten und lutherischen – konfessionellen Orthodoxie trennen. Er wird „Arianer“, so das Urteil vieler Zeitgenossen, und schließt sich derjenigen altkirchlichen Häresie an, die neben den sich verfassenden Konfessionskirchen als ein dritter gangbarer Weg erscheint.2 Zusammenfassend beschreibt den Weg Dudiths der unitarische Theologe Andreas Wiszowaty in der von Christoph Sand dem Jüngeren 1684 in Amsterdam publizierten Bibliotheca Anti-Trinitariorum: ‚Als Andreas Dudith, früherer Bischof von Fünfkichen in Ungarn, beim Konzil von Trient anwesend war, bemerkte er die Ränke des Papsts und der Papstkirche, ließ sie hinter sich, und schloss sich den Reformierten an. Später aber, zum einen bewegt von Vernunftgründen, zum anderen von der Schroffheit der Calvinisten gegen die Unitarier, als er wahrnahm, dass ihre Friedensgesandtschaft von jenen geringschätzig behandelt wurde, entwickelte er sich zu ihrem Schutzherrn, wie aus einigen seiner eigenen Briefe erhellt.’3
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2 3
Der Name Andreas Dudiths (András Dudić) verweist auf den väterlichen Zweig seiner Familie. Sein Vater, Hieronymus, entstammt einer kroatischen Adelsfamilie. Dudith selbst verwendet bevorzugt die latinisierte Form seines Namens. Zum „dreifachen Ausgang der Dogmengeschichte“ vgl. Harnack 1991, 430 und 445. Wiszowaty 1684: „Andreas Dudithius, Episcopus quondam Quinque ecclesiensis in Hungaria, quum Concilio Tridentino interfuisset, animadversis ibi Pontificum & ecclesiae Pontificiae technis, ea relicta, accesserat ad Reformatos. Sed deinde, tum rationum momentis, tum Calvinianorum adversus Unitarios acerbitate, permotus; quum horum legationem pacificam ab illis contemptim habitam cerneret, horum fautor evasit, ut ex ipsius epistolis quibusdam apparet.“
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Dreierlei ist an diesem Passus aus der Bibliotheca Sands aufschlussreich: 1. Als Beweggründe, die Dudith auf die Spur des Unitarismus gebracht haben, werden Enttäuschung und Abkehr von den Konfessionskirchen einerseits und „Vernunftgründe“ andererseits benannt. 2. Die Darstellung scheint bevorzugt auf diejenigen Passagen aus der Biographie Dudiths zu fokussieren, die durch gedruckte und mithin einem breiteren Publikum zugängliche Schriften Dudiths erhellt werden, nämlich seine auf dem Konzil von Trient eingebrachten Redebeiträge und seine spätere Korrespondenz, vor allem mit dem reformierten Theologen Theodor Beza in Genf. 3. Das Urteil, Dudith selbst sei Unitarier geworden, wird vermieden. Statt dessen wird er ein „Schutzherr“ (fautor) der Unitarier genannt, was wiederum aus seinen Briefen hervorgehe, ohne dass beschrieben wird, wie Dudith im Einzelnen diese Rolle eines „Schutzherrn“ wahrgenommen hat. Nicht allein Andreas Wiszowaty und Christoph Sand hat der sonderbare Weg Dudiths vom katholischen Bischof zum Unitarier oder mindestens Förderer des Unitarismus interessiert. Es fehlt nicht an Zeugnissen schon des 17. Jahrhunderts, die den Lebensweg Dudiths nachzeichnen und ein Urteil über seinen religiösen Standpunkt zwischen oder neben den konfessionellen Parteien zu fällen versuchen. Die früheste Darstellung stammt aus der Feder Quirinus Reuters, der 1610 anlässlich seiner Ausgabe der Trienter Redebeiträge Dudiths dessen Lebensweg skizziert.4 Auf Reuter folgen weitere, zum Teil ausführlichere Darstellungen des 17. und 18. Jahrhunderts, zu denen der entsprechende Abschnitt aus der Polnischen Chronik5 des Samuel Friedrich Lauterbach zählt, die „Historisch-kritische Abhandlung von Dudiths Leben und Schriften“,6 die der Buddeschüler Gottfried Schwarz unter dem Pseudonym „Lorandus Samuelfy“ einer Ausgabe der Trienter Konzilsreden Dudiths voranstellt, sowie die als häresiographisch zu charakterisierenden Erwähnungen Dudiths bei Johann Franz Budde7 selbst und Jean Pierre Niceron,8 gefolgt noch im 18. Jahrhundert von der ausführlichen Darstellung Carl Benjamin Stieffs Versuch einer ausführlichen und zuverlässigen Geschichte von Leben und Glaubens-Meynungen Andreas Dudiths,9 die deswegen besonders hervorzuheben ist, weil sie den umfangreichen brieflichen Nachlass Dudiths in den Breslauer Bibliotheken mit berücksichtigt. Da die älteren Darstellungen bevorzugt an Dudiths religiöser Haltung interessiert sind, nimmt es nicht wunder, dass sie auf die Zeit nach 1567 fokussieren, also auf die Zeit, als Dudith seiner Eheschließung wegen mit der katholischen Kirche bricht – oder richtiger: als der Heilige Stuhl Dudith der kirchlichen Ämter enthebt, ihn exkommu4 5 6 7 8 9
Reuter 1610. Lauterbach 1727 und Lauterbach 1725. Samuelfy 1743. Budde 1700–1705. Niceron 1749–1777. Stieff 1756.
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niziert und in effigie verbrennt. Die Zeit vor Dudiths Eheschließung dagegen, in die seine rasante Karriere als Kirchenmann, Humanist und Berater Kaiser Ferdinands fällt, berühren die älteren Darstellungen nur kurz, doch stellen sie für die neuere Forschung über Dudith den wichtigsten Anknüpfungspunkt dar. Die Biographie Dudiths sei daher an dieser Stelle kurz skizziert: Geboren wird Andreas Dudith am 6. Februar 1533 im ungarischen Buda. Sein Vater stirbt 1542 vor den Toren der Stadt im Kampf mit den Türken, und für den neunjährigen Andreas wird der mütterliche Zweig seiner Familie wichtig, der ihn an das Haus Sbardellati di Rovereto bindet. Es ist hier sein Onkel, Agostino Sbardellati – Bischof von Vacs und Berater Kaiser Karls V. – der ihn in seine Obhut nimmt und für seine Erziehung sorgt. Bestimmend für den weiteren Weg Andreas Dudiths werden somit die diplomatischen und gelehrten Kontakte seines Onkels, die er nutzt und mit viel Geschick mehrt. Auf Betreiben seines Onkels kommt Dudith zunächst für einige Jahre nach Breslau, wohl in die Obhut des dortigen Domherrn.10 1550 reist er über Wien zurück nach Norditalien. Sein Aufenthalt hier scheint von zwei Zentren geprägt zu sein: das eine in Verona, wo er bei dem englischen Kardinal Pole11 lebt, das andere in Venedig und Padua, wo er sich zum Zwecke des Studiums aufhält. 1554 begleitet Dudith den Kardinal Pole auf eine Reise nach Brüssel zu Kaiser Karl V., um sich von hier aus nach Paris und London zu wenden. Die Reise mit Pole hat für Dudith zunächst den Charakter einer peregrinatio academica, denn im Vordergrund der Reise stehen nicht die primär diplomatischen Geschäfte Poles, sondern die philologische Ausbildung Dudiths am Collége Royal unter der Obhut Celio Secondo Curiones, Adrian Turnebus’ und Francesco Vimercatos.12 In London dagegen stehen erneut die Geschäfte Poles im Vordergrund, der als Kardinal und Bischof von Canterbury die Rekatholisierungspolitik Maria Tudors gestaltet. Der junge Andreas Dudith wird hier auch zum Zeugen der Protestantenverfolgung. Das Ende seines Aufenthalts in England markiert der 17. November 1558, der Tag, an dem Maria Tudor und Kardinal Pole sterben. Andreas Dudith wendet sich nun zurück nach Padua zum Zwecke des Rechtsstudiums. 1560 nimmt ihn Kaiser Ferdinand I. in Dienst und beauftragt ihn, als Legat des ungarischen Episkopats am Konzil von Trient teilzunehmen, wo Dudith im Sinne des Konziliarismus und einer irenischen Haltung den Protestanten gegenüber Einfluss nimmt. Die Reden, die Dudith in Trient gehalten hat, sind mehrfach gedruckt worden und haben Dudith als einen gescheiterten Erneuerer der katholischen Kirche bekannt 10
11 12
Samuelfy 1743, 26, vermutet, dass die Freundschaft Agostino Sbardellatis zum Breslauer Domherrn Johann Henkel im Hintergrund der Entsendung Dudiths nach Schlesien steht. Johann Henkel freilich verstirbt bereits im Jahr 1539. Vgl. Gasquet 1928. Vgl. Costil 1935, 74 ff. und 334 ff.
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gemacht.13 Zu beachten ist aber, dass die Forderungen Dudiths im Kontext des konziliaren Prozesses von Trient nicht mehr als den Versuch einer Bündelung bereits bekannter und z.T. verbreiteter Positionen darstellt. So ist insbesondere die Forderung nach der Zulassung des Laienkelchs von mehreren Bistümern vertreten worden und darf nicht als ein frühes Bekenntnis Dudiths zum Protestantismus verstanden werden.14 Zum Protestanten macht sich Dudith erst 1567 durch seine Heirat. Vom Kaiser zum Bischof von Csanád und Pécs erhoben und in diplomatischer Mission nach Polen entsandt, ehelicht er dort eine Hofdame aus dem Umfeld Königin Katharinas. Dudith gefährdet so gleichermaßen seine kirchlichen Ämter in Ungarn als auch seine Stellung am kaiserlichen Hof. Die öffentliche Eheschließung ist insbesondere im Kontext der Wittenberger Reformation zu einem protestantischen Bekenntnisakt avanciert, den Papst und Konsistorial-Kongregation einem ohnehin nicht eben romtreuen Bischof schwerlich nachsehen kann.15 In dichter Folge wird Dudith seiner kirchlichen Ämter enthoben, durch den Papst exkommuniziert und in effigie verbrannt. Gnädiger erweist sich der Kaiser – inzwischen Maximilian II. Maximilian hält an Dudith fest ‒ unbeschadet des Bruchs mit Rom ‒ und setzt ihn in Polen weiterhin ein. Maximilians Interesse gilt hier der polnischen Thronfolge. Nach dem Tod König Sigismunds soll Dudith Maximilians Sohn, Prinz Ernst protegieren, dessen Kandidatur jedoch scheitert. Als 1575 Stefan Bathory entgegen dem kaiserlichen Wunsch den polnischen Thron besteigt, muss Dudith das Land verlassen. Der Kaiser sorgt für Dudiths Asyl in der schlesischen Stadt Breslau, wo Dudith sich offiziell zum lutherischen Bekenntnis hält und 1589 stirbt. Dieser kurze Abriss zum Lebensweg Dudiths mag zugleich verdeutlichen, wo Anknüpfungspunkte für neuere Forschungen über Dudith liegen. Zu einem Studienobjekt geworden ist Dudith im Kontext der Erforschung des Konzils von Trient.16 In den Blick genommen wurde Dudith auch als Humanist, Philologe und Briefautor. Pierre Costils Buch des Jahres 193517 und die Edition sämtlicher Briefe18 Dudiths durch Lech Szczucki und Tibor Szepessy in den 1990er Jahren haben hier neue Forschungsmöglichkeiten eröffnet, die 2009 von Gábor Almási19 genutzt wurden, der Dudiths intellektuelle Biographie im Kontext humanistischer Netzwerke Osteuropas nachzeichnet. Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf die bislang geringe Aufmerk13 14 15 16 17 18 19
Einen Überblick über die Editionen der Konzilsreden bietet Costil 1935, 388–390. Zu Dudiths Entsendung nach Trient vgl. Almási 2009, 246 ff. Zu Kaiser Ferdinand I. und seiner Politik im Hintergrund des Konzils vgl. Ganzer 1984. Vgl. Kaufmann 2009, 341 f. Vgl. zum Beispiel die kurze Erwähnung bei Jedin 1948, 88. In ähnlicher Perspektive auch bereits Juhász 1935. Costil 1935. Dudith 1992–2005. Die Briefe werden im Folgenden zitiert nach der dort durchlaufenden Nummerierung. Almási 2009.
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samkeit, die Dudith als Naturwissenschaftler entgegengebracht wird. Die Dudith-Briefe bieten auch hierzu Material, das bislang nur in Auszügen gesichtet wurde.20 Im Folgenden sollen zwei Punkte in der Biographie Dudiths zum Gegenstand näherer Untersuchung gemacht werden, die seinen religiösen Nonkonformismus ‒ oder vielmehr: den Vorwurf des religiösen Nonkonformismus, der gegen Dudith immer wieder erhoben wurde ‒ in eigentümlicher Weise beleuchten. Das ist zum einen sein Verhältnis zu Theodor Beza, einem prominenten Vertreter des Reformiertentums. Denn hier wird eine wichtige Motivation Dudiths erkennbar, sich mit der dogmatischen Option des Antitrinitarismus auseinanderzusetzen, und es wird hier klar, wie stark Philologie und Jurisprudenz sein Fragen nach Wahrheit und Recht konfessioneller Standpunkte prägen. Ein weiterer Abschnitt betrifft den gegen Dudith erhobenen Vorwurf, er habe sich eines als epikureisch zu charakterisierenden Atheismus schuldig gemacht. Auch diesem Vorwurf soll exemplarisch nachgegangen werden anhand seines Commentariolus de cometarum significatione aus dem Jahr 1579, ein Werk, das in der Tat Leugnern der Providenz diverse gelehrte Argumente in die Hand spielt.
2. Ein Briefwechsel über reformierte Toleranz Was Dudith 1567 in Polen zur Heirat bewegt hat, liegt weitgehend im Dunkeln. Dudiths Auftrag bestand zu dieser Zeit darin, die Schwester Maximilians II., Königin Katharina, in ihrer unglücklichen Ehe mit König Sigismund zu unterstützen und dem Kaiser über das Befinden seiner Schwester zu berichten. Sigismund mied den Kontakt mit seiner Frau und verhinderte den vom Kaiser gewünschten Einfluss Katharinas auf polnische Regierungsgeschäfte ebenso wie ihre Heimkehr an den Hof Maximilians. Dudiths Einflussmöglichkeiten wiederum waren begrenzt. Kaiser Maximilian hatte ihm mit der Polenpolitik ein heikles Feld anvertraut und wartete über Monate hin vergeblich auf Erfolgsmeldungen aus Krakau. Schließlich gelang es Dudith, Katharina heim nach Wien zu bringen. Der Einfluss auf die polnischen Angelegenheiten war damit aber verspielt.21 Dass Dudith sich in dieser Situation zur Heirat mit Regina Strass, einer der Hofdamen aus dem Umfeld Katharinas, entschied, war riskant.22 Ob Dudith selbst die Folgen seiner Eheschließung 1567 bereits voll vorausgesehen hat, ist unklar. Gábor 20
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Hierzu bislang v.a. der gelehrte Beitrag von Vasoli 1975, aber auch schon Gillet 1860, 256 ff., Goldzieher 1903 und Glesinger 1967. Die Beiträge von Goldzieher und Glesinger liegen mir nicht vor. Vgl. Almási 2009, 239–284, bes. 252 ff. Immer wieder findet sich in der Literatur über Dudith die Vermutung, es sei – im Blick auf das 16. Jahrhundert erstaunlich! – eine Heirat aus Liebe gewesen. So zuletzt Almási 2009, 268 f., der aus der späteren Trauer Dudiths um seine erste Frau ein entsprechendes Argument formt.
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Almási gibt in seiner jüngst erschienenen Monographie zu bedenken, dass der Umgang mit verheirateten Bischöfen der katholischen Kirche zu dieser Zeit durchaus kontrovers diskutiert wurde und es nicht an Stimmen fehlte, die davon abrieten, ansonsten untadlige Bischöfe des Zölibats wegen zu entlassen.23 Man kann vermuten, dass Dudith auf ein milderes Vorgehen zumindest gehofft und ihn die prompte Exkommunikation schwer erschüttert hat. Nichtsdestoweniger identifizieren die reformierten Theologen, mit denen Dudith in dieser Zeit brieflich kommuniziert, die Heirat als eine bewusste Entscheidung gegen Rom und als einen Bekenntnisakt auf den Protestantismus hin. Dudith seinerseits kommentiert diese Passagen nicht, in denen man seine Heirat als den gelungenen Übertritt aus den Fängen des Antichrists hinüber in das wahrhaftige regnum Christi feiert.24 Anlass für die Auseinandersetzung mit Theodor Beza in Genf, Johann Wolf in Basel und Hieronymus Zanchi in Heidelberg ist eine Verteidigungsschrift über die Ehe25, für die Dudith vergeblich bei Kaiser Maximilian um Druckerlaubnis gebeten hatte. Vom Kaiser desillusioniert, schickt er das Manuskript nach Genf an Theodor Beza, von dem er hofft, er würde die Schrift für ihn in Druck geben.26 Beza jedoch lehnt immer wieder ab und verwickelt Dudith in einen Austausch, in dem es mehr und mehr um Bekenntnisfragen geht und in dem Dudith mehr und mehr diejenigen theologischen Positionen zu verteidigen beginnt, die in den Augen seiner Gegner als „arianisch“ zu verurteilen sind. Dass Dudith trotz des Ausbleibens einer Zusage für den Druck über Jahre hin mit Beza in Briefkontakt bleibt, mag dem beiderseits freundlichen Ton der Korrespondenz geschuldet sein und einem Geschick Bezas, seinen Gesprächspartner seelsorgerisch zu überwölben. Über Seiten hin erzählt Beza Dudith, wie er seiner Jugendgedichte und dogmatischen Frühschriften wegen angegriffen und verleumdet wurde und welchen glücklichen Wendepunkt die Eheschließung und Anwerbung durch Johannes Calvin für ihn bedeutet hat. Die Passagen sind so angelegt, dass Dudith sie auf seine eigenen Erfahrungen des Jahres 1567 beziehen und sich von Beza verstanden fühlen kann.27 In Fragen der christlichen Lehre und ihrer Begründung aber beharrt Dudith gleichwohl auf seinen Positionen. Stein des Anstoßes wird ein Brief, den Dudith im Mai 1569 23 24 25 26 27
Auf entsprechende zeitgenössische Diskussionen über die Zulassung verheirateter Bischöfe weist Almási 2009, 290, hin. Vgl. hierzu z. B. den emphatischen Schluss von Theodor Bezas Brief an Dudith vom 14. Mai 1569 (Dudith 1992–2005, Nr. 237, Z. 295 ff.). Demonstratio pro coelibatu Clericorum seu matrimonium omni hominum ordini, sine exceptione divina lege permissum esse. Im Druck erschienen Offenbach 1610. Das Manuskript mit Bezas Anmerkungen wird in der Forschungsbibliothek Gotha aufbewahrt. Vgl. Almási 2009, 299. Dudith 1992–2005, Nr. 237, Z. 38 ff. Zum freundlichen Ton der Korrespondenz vgl. Szczucki 2000, 354 f. Im Hintergrund der von Beza eingenommenen seelsorgerischen Haltung könnte das paulinische Ideal eines – von Beza und Dudith gleichermaßen erfahrenen – Leidens um der Sache Christi willen stehen (2 Tim 3, 12).
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an Johann Wolf schickt. Dudith spricht Wolf hier auf das Nebeneinander sich widersprechender theologischer Lehrmeinungen innerhalb der reformatorischen Konfessionen an und fragt nach dem gemeinsamen Fundament theologischen Urteilens.28 Beza nimmt diese Frage an Wolf auf und antwortet Dudith in einem ausführlichen Brief über Schrift, Bekenntnis und mögliche Formen eines theologischen Dissenses innerhalb der protestantischen Theologie.29 Eine Vielfalt theologischer Meinungen, so Beza, sei dem Christentum zunächst seit den ersten Jahrhunderten eigen, was insbesondere aus dem Aufkommen der arianischen, nestorianischen, eutychianischen und photianischen Häresien und deren Persistenz ersichtlich sei. Dieser Vielfalt falscher Lehren, so Beza weiter, sei aber nicht durch einen Konsens kirchlicher Lehrer oder Bischöfe zu begegnen, sondern allein durch die Heilige Schrift, durch die Gott den Menschen eine dauerhafte Norm zur Verfügung gestellt habe.30 Neben der Schrift nennt Beza weiter drei für das Reformiertentum relevante Bekenntnisschriften, nämlich erstens die Confessio Augustana, zweitens die Confessio Helvetica und drittens die Confessio Gallica.31 Durch diese von der Heiligen Schrift als ihrer Mitte her begründeten Normen sieht Beza die Möglichkeit eines innerprotestantischen Dissenses nun freilich nicht aufgehoben. Er unterscheidet aber einen leichteren Dissens in ratione docendi von einem schwereren Dissens in re ipsa, der eine theologische Position als häretisch ausweist. Den leichteren Dissens hinsichtlich der Lehrart aber werde der Heilige Geist zwischen den streitenden Konfessionen zur Lösung bringen.32 Soweit Beza zu der ersten Anfrage Dudiths hinsichtlich der Grenzen eines zulässigen Lehrdissenses innerhalb der protestantischen Konfessionen. Den eigentlichen Hauptgegenstand der Antwort an Dudith jedoch bildet die Frage, wie mit denjenigen Häretikern umzugehen sei, die der christlichen Wahrheit in re ipsa widersprechen. Dudiths briefliche Vorlage an Wolf hatte hierzu insbesondere die Fälle Michael Servets in Genf, und d’Ochinos in Zürich zur Diskussion gestellt. Und Beza ist hier nicht verlegen, in jedem der Fälle mehrere schwere Anklagepunkte anzuführen, die den Häresievorwurf je für sich voll begründen.33 So urteilt er über Servet unter anderem, er habe die Ewigkeit des Sohnes Gottes verneint, die hypostatische Union der Naturen beseitigt, die Hypostase und Gottheit des Heiligen Geistes in Abrede gestellt, Vater, Sohn und Heiligen Geist einen dreiköpfigen
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33
Dudith 1992–2005, Nr. 239, Z. 24 ff. Dudith 1992–2005, Nr. 248, Z. 13 ff. Dudith 1992–2005, Nr. 248, Z. 77 ff. Dudith 1992–2005, Nr. 248, Z. 112–116. Zum Häresievorwurf gegen „papistae, anabaptistae, libertini, antinomi […] tritheitae, Arrhiani, Samosateniani“ vgl. Dudith 1992–2005, Nr. 248, Z. 155 ff. Zum innerreformatorischen Dissens in ratione docendi vgl. Dudith 1992–2005, Nr. 248, Z. 187–203. Dudith 1992–2005, Nr. 248, Z. 224 ff.
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Cerberus genannt, die Sterblichkeit der Seele behauptet, Mose einen lächerlichen Betrüger genannt und sich für die Täufer eingesetzt.34 Dass Dudith den Fall Servet zur Diskussion stellt, bietet für Beza Vorteile, denn Beza ist hier nicht verlegen, mehrere Punkte zu nennen, die über den akzeptablen Dissens in ratione docendi ganz deutlich hinaus gehen. Schwieriger ist es in den anderen Fällen, in denen solche regelrecht antichristlichen Lehrmeinungen nicht nachweisbar sind. Beza beharrt aber auch hier auf seiner Ansicht, die Dissidenten hätten den Boden der schriftgemäßen Wahrheit verlassen.35 Damit kann Beza auch die dritte der von Dudith aufgeworfenen Fragen beantworten, ob nämlich ein Vorgehen gegen theologische Gegner mit weltlicher Gewalt im Sinne der Heiligen Schrift geboten sei. Beza verweist hier auf das alttestamentliche Gebot an die Israeliten, das Böse aus ihrer Mitte fort zu schaffen, was eindeutig auf einen Gebrauch weltlicher Gewalt hinweise.36 Zwar sei es richtig, dass die Waffen der Theologen rein geistlicher Natur seien. Denjenigen aber, denen Gott die weltliche Gewalt übertragen habe, sei es gleichwohl aufgetragen, sie gegen offenkundige Feinde des Christentums auch einzusetzen. Die praktizierte Toleranz im Königreich Polen und in Transsylvanien charakterisiert er in diesem Kontext als eine „diabolica libertas“, die gleich einer Pest das Land verseuche.37 Es ist klar, dass Dudith an diesen Äußerungen Bezas Anstoß nehmen muss. Er selbst zählt ja zu den Nutznießern jener „diabolischen Freiheit“ im Königreich Polen und steht nicht zurück, die religiöse Toleranz theologisch und auch politisch vor Beza zu verteidigen. In einer ersten Antwort an Beza greift er dessen zentrale Argumente auf und widerlegt sie Punkt für Punkt, wobei er die theologische Frage nach dem legitimen Richter, der den Streit um die Wahrheit entscheiden kann, in den Vordergrund stellt.38 Er kommt so auf das Schriftprinzip zu sprechen, von dem her auch Beza eine Lösung der Streitigkeiten kommen sieht. Dudith lehnt aber ab, dass die Schrift diejenige Eindeutigkeit in Lehrfragen bringe, die Beza anstrebt. Er konstatiert vielmehr, dass die 34
35 36 37 38
Vgl. Dudith 1992–2005, Nr. 248, Z. 225 ff., und vgl. den vollständigen Anklagenkatalog gegen Servet: „qui Dei substantiam et mutabilem fecit et rerum omnium partem esse docuit; qui Filii Dei aeternitatem negavit; qui naturarum unionem hypostaticam sustulit; qui Sancti Spiritus hypostasin ac divinitatem est infitiatus; qui Patrem, Filium, Spiritum Sanctum cerberum tricipitem (horresco referens) toties appellavit; qui animae mortalitatem asseruit, qui veterem Israeliticam ecclesiam in haram porcorum transformavit, qui Mosem ridiculum impostorem fuisse scripsit; qui catabaptismum defendit; qui denique totos annos triginta et amplius Deo viventi maledixit, quemquam Christianum dicere ob religionem exustum, ac non potius ob impietatem indomitam, ob blasphemias innumerabiles, ad quas vel ipsi diaboli cohorrescant, iustis tandem poenis affectum.“ Abgehandelt werden hier die Fälle Giovanni Valentino Gentile, Bernardino d’Ochino, Ioannes a Lasco und Francesco Stancaro, vgl. Dudith 1992–2005, Nr. 248, Z. 240–291. Beza beruft sich hier (Dudith 1992–2005, Nr. 248, Z. 496) auf Dtn 17, 12, verschränkt mit 2 Kor 10, 4. Dudith 1992–2005, Nr. 248, Z. 513 f.: „Et illa est diabolica libertas, quae Poloniam et Transsilvaniam hodie tot pestibus implevit quas nullae alioqui sub sole regiones tolerarent.“ Dudith antwortet prompt am 1. August 1570, vgl. Dudith 1992–2005, Nr. 253.
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Schrift von jeweiligen Auslegern so gedreht werde, dass sie die jeweilige Lehre bestätige.39 Was Dudith in seiner ersten Antwort an Beza lediglich andeutet, führt er in einem zweiten Brief weiter aus. Es handelt sich hierbei um denjenigen ausführlichen Brieftraktat Dudiths, der in der Bibliotheca Fratrum Polonorum die Mitte der abgedruckten Dudith-Briefe darstellt und ein ausführliches antitrinitarisches Bekenntnis Dudiths enthält.40 Das Bekenntnis freilich macht nur einen geringen Teil des Briefes aus. Weit ausführlicher diskutiert Dudith die Schrifthermeneutik, die er seinem Bekenntnis zugrunde legt und die ein besonderes Profil des Antitrinitarismus Dudiths erkennen lässt. Dudiths Argumentation nämlich setzt ein in der reformierten ebenso wie auch in der lutherischen orthodoxen Lehre gebräuchliches Schema voraus. Die Schrift zeichnet sich aus durch auctoritas, sufficientia und perspicuitas und kann – sofern man die auf diese drei affectiones bezogenen Auslegungsregeln einhält – als alleiniger Grund der dogmatischen Lehre angenommen werden. Während Dudith die auctoritas der Schrift ebenso wie ihre Suffizienz stillschweigend voraussetzt, gilt sein besonderes Interesse der perspicuitas, unter der das Phänomen einander widersprechender und dunkler Schriftstellen zu diskutieren ist. Die hermeneutischen Regeln, die Dudith hier einführt, zeigen ein streng philologisches Profil und laufen im Kern auf eine Vereinfachung und Verschärfung bestehender hermeneutischer Regeln hinaus, wie auch Beza sie kennt und akzeptiert: ‚Diese erste Regel also sei, dass der heiligen Schrift höchste Autorität beigemessen werde; so nämlich, dass wir meinen, dass das, was dort nicht ausdrücklich gelehrt wird, unter Hinzuziehung menschlicher Schlussfolgerungen als ein Dogma und unseres Glaubens Hauptpunkt anzunehmen und aufzustellen ein Frevel sei. Die zweite Regel sei die Bestimmung, dass das, was schwierig ist, durch Vergleich der einschlägigen Stellen in denselben heiligen Codices und durch das Einfachere erklärt werde. Dabei müssen wir, wenn wir uns damit befassen, daran denken, dass wir den Stil und den gemeinen Ausdruck der Worte genau beobachten und nicht die hebräische Sprache auf die Norm des griechischen oder lateinischen Ausdrucks festlegen, sondern dass wir meinen, dass wir eher das Gegenteil tun müssen. Es besteht nämlich kein Zweifel, dass sowohl die griechischen als auch die lateinischen Ausleger des Alten Testaments – ja sogar auch die Evangelisten und Apostel – hebraisieren und gleichsam in einer anderen Sprache gesprochen haben. Die dritte Regel sei, dass Gelegenheit, dass Ort, Zeit und Gegenstände, um die es geht, und die übrigen derartigen Umstände betrachtet werden und auch das Vorausgehende mit dem Nachfolgenden zusammen gestellt werde. Und schließlich, dass die ganze und unversehrte
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Vgl. Dudith 1992–2005, Nr. 253, Z. 187, Dudiths Entgegnung auf Bezas Rekurs auf Io 5, 39 (scrutamini scripturam): „Sed hanc scripturam tu ad tuam, alii ad suam vicissim sententiam confirmandam detorquent.“ Dudith 1992–2005, Nr. 280, BFP, 523–530.
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Rede und nicht irgendein Glied, das gewissermaßen dem ganzen Körper entrissen ist, zur Bewältigung der Schwierigkeiten vorgelegt wird.’41
Was an diesen Regeln zuerst auffällt, ist ihre Distanz zu einer entstehenden antitrinitarischen Hermeneutik, wie sie sich vom späteren „Rakówer Katechismus“ und anderen ‚sozinianischen‘ Schriften her zu erkennen gibt. Denn die sozinianische Hermeneutik fokussiert zwar so, wie auch Dudith es tut, auf Probleme im Feld der perspicuitas. Sie kommt aber zu ganz anderen Entscheidungen.42 Während schon im „Rakówer Katechismus“43 die sana ratio als Kriterium der Beurteilung dunkler oder sich widersprechender Schriftstellen eine wichtige Rolle zu spielen beginnt, lehnt Dudith sie noch vollständig ab. Menschliche Schlussfolgerungen haben in der Exegese zu unterbleiben, und es gilt nur das, was ausdrücklich so in der Bibel steht oder sich aus der philologisch verantwortlichen Zusammenschau mehrerer Stellen klar ergibt. Dies ist ein prinzipiell orthodoxer Grundsatz, den Dudith aber dergestalt verschärft, dass er zu einem Ausschlusskriterium für die Trinität wird. Das wiederum setzt die eingangs zitierte Einschätzung Sands, Dudith sei durch „Überlegungen der Vernunft“ zum Unitarismus gekommen, in ein sonderbares Licht, und es wird klar, wieviel mehr solche – zumal in der älteren Literatur über Dudith – verbreitete Einschätzungen dem Selbstverständnis des späteren Sozinianismus entsprechen und wie wenig dem Dudiths. Dudith selbst ist noch ganz und gar Philologe, der Wege erprobt, die Schrift als Norm der Lehre fruchtbar zu machen. In der Auseinandersetzung mit Beza haben diese philologischen Überlegungen die Funktion, Beza deutlich zu machen, wie streng sich die antitrinitarische Lehre an die Schrift hält und wie problematisch mithin ein obrigkeitliches Vorgehen gegen arianische ‚Häretiker‘ ist. Gilt die Schrift als Kriterium der rechten Lehre, so lässt sich den Antitrinitariern zu allerletzt der Häresievorwurf machen. Zumindest im kommunikativen Kontext der Korrespondenz mit Beza hat Dudiths antitrinitarisches Glaubens41
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Dudith 1992–2005, Nr. 280, Z. 198–214: „Prima igitur haec sit regula, ut summa sacris litteris auctoritas tribuatur; ita quidem ut, quod ibi non expresse docetur, id ratiocinationibus humanis adducti pro dogmate et fidei nostrae capite assumere ac proponere nefarium esse existimemus. Secunda statutum sit ut, quae difficilia sunt, ea per locorum iisdem sacris codicibus petitorum comparationem et per faciliora explicentur. In quo dum versamur, meminisse debemus ut phrases et idiotismos linguarum diligenter observemus neque Hebraicam linguam ad Graeci vel Latini sermonis normam revocemus, sed contra potius faciendum nobis esse censeamus. Non est enim dubium et Graecos et Latinos interpretes veteris testamenti, quin etiam evangelistas et apostolos, hebraizare et tamquam aliena lingua locutos esse. Tertia, ut occasio, ut locus, tempus, et res subiecta, de qua agitur, et reliquae eiusmodi circumstantiae considerentur atque antecedentia cum consequentibus componantur. Denique, ut tota atque integra oratio, non membrum aliquod a toto quasi corpore avulsum ad difficultates tollendas proponatur.“ Vgl. Scholder 1966, 34–55. Scholder 1966, 47 f., zeigt hier eine Tendenz des späteren Sozinianismus an und bezieht sich auf die erweiterte 3. Aufl. des „Rakówer Katechismus“. In der Erstauflage von 1609 tritt das Kriterium der sana ratio noch nicht so klar hervor.
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bekenntnis den Charakter einer philologischen Probe aufs Exempel, die man nur mit Vorsicht als Beweisstück für eine tatsächliche antitrinitarische Gesinnung Dudiths einsetzen kann. Denn so deutlich Dudiths Verbindung zu Antitrinitariern wie insbesondere Biandrata, Palaeologus und Ferenc David aus seinen Briefen zu belegen ist, bleibt doch festzuhalten, dass er seinem öffentlichen Bekenntnis nach stets orthodox geblieben ist. Das zeigt sich insbesondere in den 1580er Jahren, als Dudith in Breslau vom Rat der Stadt geduldet lebt, in seinem Haus Umgang pflegt mit namentlich nicht bekannten Häretikern, dem Bekenntnis nach aber Lutheraner bleibt. Carl Benjamin Stieff weist in seinem Versuch einer ausführlichen und zuverlässigen Geschichte von Leben und Glaubens-Meynungen Andreas Dudiths nach, der Rat der Stadt habe ihn zusammen mit Crato von Crafftheim und anderen des Kryptocalvinismus verdächtigt. Sein angeblicher Antitrinitarismus ist hier aber wohl nie zum Thema geworden.44 Greifbar wird ein Eintreten Dudiths für den Antitrinitarismus lediglich in den späten 1580er Jahren, als Dudith in dem schlesischen Ort Schmiegel eine ‚arianische‘ Gemeinde unterhält. Über die Geschichte dieser arianischen Gemeinde von Schmiegel unterrichtet der spätere lutherische Hauptpfarrer von Schmiegel, Martin Adelt, in seiner Historia de Arianismo olim Smiglam infestante.45 Aus Adelts Beschreibung geht hervor, dass die arianische Gemeinde von Schmiegel über eine kleine Holzkirche verfügte, wie sie auch den Lutheranern zu dieser Zeit zur Verfügung stand, und auch ein kleines Schulhaus hatte, an dem in den Jahren 1584 bis 1614 verschiedene Lehrer und Prediger tätig waren, darunter bekannte Antitrinitarier wie Valentin Schmalz und Christoph Ostorodt. Neben dem Schulhaus am Ortsrand befand sich ein kleiner Weiher, in dem die antitrinitarische Gemeinde von Schmiegel die Erwachsenentaufe durchführte. Der Antitrinitarismus zeichnete sich also durch ein täuferisches Element aus, wie es Ferenc David und andere eingefordert hatten. Ob Dudith selbst in das Gemeindeleben von Schmiegel eingegriffen hat oder gar selbst am gemeindlichen Leben beteiligt gewesen ist, bleibt derweil unklar. Adelt vermutet, Dudith habe seine Antitrinitariergemeinde von Schmiegel niemals selbst besucht und sich stattdessen fernab naturwissenschaftlichen Studien hingegeben. Der Name Cratos von Crafftheim kommt hier ins Spiel, an den Dudith seinen Commentariolus de cometarum significatione adressiert. Und tatsächlich könnte bei Crato auch das Vorbild zu Dudiths Engangement für die Gemeinde von Schmiegel zu suchen sein, denn die Art, in der Dudith sich für sie einsetzt, entspricht etwa Cratos bekanntem Engagement für die reformierte Gemeinde von Glatz, die dieser in den Jahren 1581–83 auf seinem Hofgut einrichtet. Hier wie dort geht es um die Unterstützung verfolgter Minderheiten, für die Crato und Dudith ein je eigenes Interesse hegen. Hauptsächlicher 44 45
Vgl. Stieff 1756, 153 und 218 f. Bekenntnisartige Äußerungen z. B. gegenüber Crato im Sinne des Nonadorantismus macht Dudith nicht öffentlich. Adelt 1741.
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Gegenstand des Studiums sind für Dudith in dieser Zeit aber bereits die Naturwissenschaften.
3. Ein Brieftraktat über Kometen Der Vorwurf, Dudith habe sich vom orthodoxen Christentum getrennt und sich den als „arianisch“ angesehenen häretischen Lehren des Antitrinitarismus angeschlossen, steht im Mittelpunkt des Interesses der älteren Literatur. Ob daneben die naturwissenschaftliche Arbeit Dudiths einen weiteren Baustein im Mosaik seines religiösen Profils ausmacht, lässt sich nicht ohne weiteres sagen. Unter den älteren Biographen ist es der Buddeschüler Gottfried Schwarz, der in seiner 1742 erschienenen Ausgabe der Trienter Konzilsreden Dudiths die verbreiteten Meinungen über die religiöse Haltung des sonderbaren Bischofs sammelt und hierbei auch eine Übersicht zu den Autoren bietet, die Dudith mit dem Vorwurf des „Atheismus“ und „Epikureismus“ belegen.46 Der Vorwurf des Atheismus zunächst muss nicht verwundern, weil Dudith als ein unitarischer Leugner der Trinität über keinen im Sinne der konfessionellen Orthodoxien richtigen Gottesbegriff verfügte und daher ohnehin als Atheist bezeichnet werden konnte. Der Vorwurf des Atheismus kommt so nicht über das hinaus, was sich auch angesichts des Briefwechsels mit Beza und anderer Quellen über die dogmatische Haltung Dudiths sagen lässt.47 Interessanter ist dagegen die nähere Qualifizierung des Atheismus Dudiths als „epikureisch“. Denn als „epikureisch“ sind in diesem Kontext diejenigen Haltungen zu charakterisieren, die ein Eingreifen Gottes in den natürlichen Lauf der Welt im Sinne der Providenz leugnen. Die Epikureismusanklage gegen Dudith könnte auf einen Vorwurf hinweisen, er habe sich ausgehend von seinem Studium aristotelischer Schriften in Padua und Paris auf eine epikureische Interpretation des Stagiriten eingelassen. Nachdem sich auch das naturwissenschaftliche Werk Dudiths in einer Fülle brieflicher Äußerungen – vor allem Johann Praetorius in Nürnberg und Crato von Crafftheim in Breslau gegenüber – niedergeschlagen hat, gilt es auch hier, ein geeignetes Werk herauszugreifen, um die Probe aufs Exempel zu machen. Es bietet sich
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Nach Samuelfy 1743, 128, nimmt Schwarz das folgende Urteil Gisbert Voetius’ aus dessen De prognosticis cometarum auf: „Post multas enim variasque fluctationes, circuitiones, in atheismos, pectore conditos, erupit, et aperte in θεο αχουντων castra concessit.“ Die durch Florimundus Raemundus’ De ortu, progressu ac ruinis haeresium verbürgte Meinung, der über Dudith schreibt: „Narravit mihi Polonus quidam, inquit, – Nobilem Polonum multa de hoc homine narrantem audivi. – Idem tamen Polonus non negabat Dudithium atheum fuisse, ac nullam religionem habuisse.“ Vgl. Barth 1971, 68 ff.
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an der 1579 im Druck erschienene Commentariolus de cometarum significatione,48 ein Werk, das – ähnlich dem bereits besprochenen Brief an Beza – den Charakter eines Brieftraktats hat. Der Commentariolus ist adressiert an Crato und will nicht im Sinne eines regelrechten Kommentars ausgehend von entsprechenden Passagen aus der Meteorologie des Aristoteles einen vollständigen Überblick über die relevanten Lehrmeinungen geben. Das scheint Dudith als bekannt oder in anderen Kommentarwerken erledigt vorauszusetzen. Dudith skizziert vielmehr Auslegungslinien und zeigt Crato an, welche der Linien er für diskutabel hält. Bei seiner Arbeit über die Kometen kann Dudith an seine Zeit in Paris anknüpfen, wo er Francesco Vimercato bei der Fertigstellung von dessen Kommentar zur aristotelischen Meteorologie geholfen und so einen soliden Überblick der Auslegungstraditionen gewonnen hat.49 Vimercato, damals Professor am Collége Royal, wird seinerseits oft als Vertreter eines Paduaner Averroismus in Frankreich genannt. Die Einschätzung der Kommentierungen Vimercatos als averroistisch ist aber von seinem Kommentar zur Psychologie her gewonnen, der erst Jahre später in Druck gegangen ist, also nachdem Dudith mit Vimercato an dessen Kommentar zur Meteorologie gearbeitet hat. Gleichwohl ist es gut möglich, dass schon Vimercato Dudith auf den Weg gebracht hat, Deutungen der Kometen als providentielle Zeichen kritisch zu hinterfragen. Anlass hierfür waren für Dudith ebenso wie für viele seiner Zeitgenossen die Erscheinungen einer Supernova im Jahr 1572 sowie mehrerer Kometen von außergewöhnlicher Helligkeit von November 1577 bis Januar 1578. Zu den ersten Theologen, die diese Beobachtungen zu reflektieren begannen, zählte der Lutheraner David Chytraeus, der ganz im Sinne Melanchthons und der stoischen Tradition darauf beharrte, die Kometen seien Zeichen der göttlichen Vorsehung und kündigten ein kommendes Handeln Gottes in der Welt an. Doch fehlte es nicht an entgegengesetzten Urteilen über den Zeichencharakter der Kometen, unter denen dasjenige des Thomas Erastus für Dudith zu einem wichtigen Vorbild wurde. Erastus nämlich hatte 1578 in seinem De cometarum significatione sententia die prophetische Ausdeutung der Kometenerscheinungen als Zeichen kommenden Unheils oder bevorstehender Strafe Gottes abgelehnt und sie nicht länger als Himmelszeichen, sondern vielmehr als einfache Wetterdünste (vapor) betrachtet.50 48
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Dudith 1992–2005, Nr. 904, zuerst erschienen Basilae 1579. Dudith selbst hatte den Brieftraktat im März 1578 zunächst nur für die Zirkulation im engeren Freundeskreis bestimmt. Für den Druck hat sich dann Dudiths Freund und Wegbegleiter Giovanni Michele Bruto eingesetzt. Dieser hatte mit Dudith zusammen in Padua studiert und zählte mit zum Kreis um den Kardinal Pole. Zu Bruto vgl. Veress 1929. Zur Vermutung, Dudith habe Vimercato bei der Fertigstellung des Kommentars geholfen, vgl. Costil 1935, 74 f. Erastus 1578. Zum weiteren Kontext vgl. Weichenhan 2004. Zur Wirkung auf Dudith vgl. Vasoli 1975, 306 f.
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Dudiths Commentariolus freilich verzichtet auf eine eigene Theorie über die Entstehung der Kometen. Hervorgehoben wird die Meinung Cardanos, der die Kometen für regelmäßig wiederkehrende Himmelskörper hält, die von der Sonne angestrahlt einen Lichtschweif ausbilden und keineswegs bei jedem Erscheinen von Gott neu geschaffen werden müssen.51 Auch auf die Meinung Johann Praetorius’ in Nürnberg weist Dudith hin, der die Kometen – ähnlich wie Erastus – auf Gaseruptionen der Erdatmosphäre zurückführt, von denen lediglich unklar ist, ob sie sich von selbst oder durch eine äußere Wirkursache entzünden.52 Gemeinsam ist diesen Positionen, dass sie sich gegen eine Deutung der Kometen als von Gott erschaffene, providentielle Zeichen richten, wie es Seneca und mit ihm viele der antiken Dichter angenommen hatten. Eine solche Deutung der Kometen schürt lediglich Angst vor dem Unglück, das die Kometen ankündigen, und Dudith plädiert dafür, zusammengesetzte Natur-causae für die Entstehung von Kometen anzunehmen und sie nicht dem kindlichen Aberglauben der Dichter oder einer falsch verstandenen biblischen Physik folgend auf Gott als unmittelbare Ursache zurückzuführen: ‚Mir scheint es in der Tat in der ganzen Dunkelheit und vielfältigen Verschiedenheit der Meinungen, da ja die Sache selbst noch immer von unbekannter Herkunft ist, nicht wahrscheinlich zu sein, dass man irgendetwas Gewisses weissagen oder vorhersagen kann. Vielmehr versichere ich, dass, selbst wenn feststünde, was ein Komet ist, von welcher Materie und von welchem Wesen er ist, man doch nicht aus seinem Licht irgendetwas Gutes oder Böses prophezeien kann.’53
Neben solchen eher knappen theoretischen Ausführungen des Commentariolus ist es die Fülle empirischer Argumente, die Dudith gegen die Deutung der Kometen als providentielle Zeichen anführt. Er bezieht sich hier auf Scaligers Anmerkungen zu Cardanos De Subtilitate, wo dieser bemerkt, dass es lächerlich sei anzunehmen, Kometen könnten Herrschaften zugrunde richten.54 Tatsächlich bietet Dudith eine Fülle historischer Beispiele, die zeigen, dass sich das physische und moralische Böse in der Geschichte weit einfacher durch nahe liegende natürliche Ursachen erklären lässt. Zum Tragen kommt hier auch Dudiths breites Wissen auf dem Gebiet der Medizin und sein Interesse an Theorien zur Infektion und zur Entstehung eitriger Krankheiten, das er mit Crato teilt. In seinem Commetariolus zeigt Dudith sich optimistisch, dass die 51 52 53
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Dudith 1992–2005, Nr. 904, Z. 50 ff. Dudith 1992–2005, Nr. 904, Z. 29 ff. Dudith 1992–2005, Nr. 904, Z. 91–96: „Mihi sane in tanta obscuritate et multiplici opinionum varietate, cum res ipsa ignota etiamnum sit, non videtur vero esse simile ut certi quidquam divinari aut praedici possit. Quin hoc affirmo, etiamsi constaret quid cometa sit, quam materiam, quam naturam habeat, non posse tamen ex eius lumine vel boni quidquam vel mali praenuntiari.“ Dudith 1992–2005, Nr. 904, Z. 134–139: „Hic mihi venit in mentem Iulii Caesaris Scaligeri, cuius tu libros mirificis in caelum laudibus tollis: ‚Existimare – inquit – a cometa regem interfici ridiculae dementiae est, tanto magis everti provinciam. Multi sunt a nobis cometae visi, quos nulla umquam tota in Europa subsecuta est mortalium pernicies. Et multi clarissimi viri suo fato functi sunt, multi eversi principatus, pessumdatae familiae illustrissimae sine ullo cometae indicio‘.“
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empirische Forschung im Feld der Geschichte und der Natur genügend Möglichkeiten bereit hält, das Unglück der Welt in nachvollziehbarer Weise zu erklären. Das bedeutet freilich nicht, dass Dudith sich in seinem Commentariolus einer regelrechten Leugnung der Providenz schuldig macht. Es geht ihm nicht darum, ein metaphysisches Argument zu formen, das die Unmöglichkeit eines providentiellen Eingreifens Gottes in den Weltlauf unter Beweis stellt. Er zeigt lediglich, dass es nicht in jedem Fall zwingend nötig ist, zuerst von der Providenz zu sprechen. Gerade für das Erscheinen der Kometen lassen sich einfache, natürliche Gründe angeben, genauso wie für die Krankheiten und Kriege, die sie nach alter Auffassung ankündigen.
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CECILIA MURATORI
„Inter hominem & bruta nulla est similitudo“ − Die Bestimmung der Grenze zwischen Mensch und Tier in De statu primi hominis ante lapsum disputatio
1. Einleitung Im Jahr 1577 trafen sich in Basel zwei italienische Verbannte, Fausto Sozzini und Francesco Pucci. Die Tatsache, dass Sozzini sich in Basel aufhielt, war für Francesco Pucci ein Hauptgrund England zu verlassen, über Paris nach Basel zu reisen, um so sein Vorhaben, mit seinem Landsmann über die Fundamente der christlichen Religion zu diskutieren, in die Tat umsetzen zu können.1 Pucci hatte zu der Zeit schon einige Enttäuschungen hinter sich: 1575 war er vom Konsistorium der französischen Kirche in London von den Sakramenten suspendiert worden,2 im selben Jahr war er aus der Universität Oxford verbannt worden, nachdem er wenige Monate vorher den Titel magister artium von derselben Universität bekommen hatte.3 Als Sozzini und Pucci in Basel waren, begann eine Schriftenkorrespondenz zwischen den beiden, die aus insgesamt vier Texten besteht: Puccis erster Schrift, datiert auf den 4. Juni 1577, folgte nur eine Woche später Sozzinis längere Antwort. Puccis noch etwas längere Defensio wurde am ersten Juli desselben Jahres verfasst. Um seine Copiosa refutatio zu schreiben, benötigte dann Sozzini mehrere Monate – diese Schrift, die eigentlich so lang wie ein Traktat ist, ist datiert auf den 27. Januar 1578. Es ist bekannt, dass Pucci noch in den achtziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts damit beschäftigt 1
2 3
Vgl. darüber Rotondò 2008, Bd. 2, 617 und 577. Dazu auch Prosperi 2000, 365 ff. Das Treffen von Pucci und Sozzini in Basel wird auch erwähnt in: Zeltner 1729, Bd. 1, 273. – Eine kürzere Version dieses Aufsatzes ist im Italienischen mit dem Titel „La caduta dell’uomo e la sofferenza degli animali nella Disputatio tra Francesco Pucci e Fausto Sozzini“ in der Zeitschrift Bruniana & Campanelliana (17/1, 139–149) erschienen. Im Unterschied zur italienischen enthält die deutsche Version einen Ausblick über die Rolle Puccis in der Kontroverse über die Theorie der Wiederbringung aller Dinge, insbes. in der Interpretation von Johanna Eleonora und Johann Wilhelm Petersen. Für die Hinweise und den Austausch zu Pucci und Sozzini bedanke ich mich bei Burkhard Dohm, Martin Schmeisser und Mario Biagioni. Vgl. Rotondò 2008, 581. Vgl. Pucci 1955–1959, Bd. 1, 15–17. Vgl. Rotondò 2008, 582; dazu auch Pucci 1955–1959, Bd. 2, 18.
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war, Sozzinis letzten Brief mit Anmerkungen zu versehen. Er hatte allerdings nie die Gelegenheit, diese mit seinem Briefpartner zu besprechen. Die vier Texte, die erhalten sind, zeigen dementsprechend, dass die Disputatio zwischen Pucci und Sozzini ohne Übereinstimmung endete. Die zunehmende Länge der Beiträge beweist hingegen, dass die Besprechung für beide Korrespondenten immer schwieriger und verschlungener wurde, und dass es Unterschiede zwischen der Lehre des einen und des anderen gab, die nicht gelöst werden konnten.4 In der Copiosa refutatio äußerte Sozzini den Wunsch, die Schriftenkorrespondenz solle privat bleiben, und so wurde diese in der Tat zum ersten Mal unter dem Titel De statu primi hominis ante lapsum disputatio 1610 veröffentlicht, als beide Korrespondenten schon tot waren. Im Zentrum der Korrespondenz steht das Thema der Unsterblichkeit des ersten Menschen im Garten Eden. Die Diskussion entfaltet sich aus den folgenden Leitfragen: War Adam sterblich oder unsterblich vor dem Fall? In welchem Umfang hat sich Adams Natur nach dem Fall geändert? Pucci, der schon mit dem Konsistorium der französischen Kirche in London wegen seiner Konzeption des Sündenfalls in Schwierigkeiten geraten war,5 erklärt folgendermaßen im ersten Brief an Sozzini, was ‚Stand der Dinge‘ sei: Mea sententia igitur est Deum immortalem creasse primum omnia immortalia, praesertim hominem, cum condidit eum ad suam imaginem; tu contra tenes Deum immortalem creasse primum omnia (vel hominem ipsum ad suam imaginem) non immortalia, sed mortalia.6
Mit dieser deutlichen Behauptung beginnt die Diskussion mit Sozzini, eine Diskussion, die verschiedene Aspekte in Betracht zieht, und die nicht nur einen Einblick in Puccis und Sozzinis Lehren bietet, sondern auch deren unterschiedliche Ansichten deutlich macht. Wie Mario Biagioni behauptet hat, waren die religiösen Kontroversen im sechzehnten Jahrhundert das Gebiet, in dem die Ausarbeitung fundamentaler Prinzipien stattfand.7 Dabei handelte es sich nicht nur um Prinzipien religiöser sondern auch ethischer Natur, wie das Beispiel der Debatte über die Prädestination zeigt. Indem diese auch einen Einfluss auf die soziale Ebene nahm, konnte sie sehr wohl auch deutlich Einfluss auf ethische Entscheidungen haben. Die Disputatio zwischen Pucci und Sozzini ist meines Erachtens ein gutes Beispiel für dieses Verfahren, indem das Thema im Zentrum der Diskussion auch zum Anlass wird, Fragen zu stellen, die nicht nur oder 4 5 6
7
Zur Schriftenkorrespondenz zwischen Pucci und Sozzini vgl.: Biagioni 2005 und Biagioni 2006. Vgl. auch das Vorwort von Emanuela Scribano in Sozzini 2004. Vgl. auch Carta 1999, 27–28. Vgl. Biagioni 1999, 368. Sozzini/Pucci 2010, 8 (Diese neulich erschienene Ausgabe der Disputatio leistet einen sehr wichtigen Beitrag für die Forschung zu Pucci und Sozzini. Mario Biagioni hat den Text nicht nur sorgfältig herausgegeben, sondern auch um eine detaillierte Einleitung ergänzt, in der die Rolle der Disputatio im Kontext der Diskussion zur Unsterblichkeit Adams im 16. und 17. Jahrhundert dargestellt wird). Biagioni 2007, 1.
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nicht direkt mit der religiösen Vorstellung der Kondition Adams im Garten Eden zu tun haben, sondern eine klare ethische Relevanz aufweisen. Das ist in der Tat der Fall beim Thema der Beziehung zwischen Mensch und Tier in der Disputatio. Im Folgenden sollen insbesondere zwei Aspekte dieses Themas hervorgehoben werden. Es soll erstens bewiesen werden, dass das Thema der Abgrenzung zwischen Mensch und Tier kein unwichtiges Detail in diesem Kontext ist, sondern einen unersetzbaren Baustein in der Argumentation beider Korrespondenten bildet. Mit anderen Worten, die verschiedenen Konzeptionen des Zustandes Adams vor dem Fall spiegeln sich auch in verschiedenen Einstellungen zur Unterscheidung zwischen Mensch und Tier wider. Zweitens, dieser Beitrag möchte darüber hinaus zeigen, dass ethische Fragen zum Status der Tiere in diesem Text klar formuliert werden. Dies beweist auf der einen Seite, dass die religiösen und ethischen Aspekte der Kontroverse zwischen Pucci und Sozzini eng miteinander verbunden sind, und auf der anderen, dass das Problem des ethischen Bedenkens für das Leiden der Tiere in diesem Briefwechsel präsent ist. Die Rekonstruktion der Argumentationen Puccis und Sozzinis soll in dieser Hinsicht die These belegen, dass das Thema der Beziehung zwischen Mensch und Tier in der Diskussion zwischen diesen zwei ‚nonkonformistischen Denkern‘ von Bedeutung ist. Dementsprechend wird im ersten Teil eine Rekonstruktion dieser Thematik unternommen, auch im Hinblick auf die Präzisierung der Stellungen Puccis und Sozzinis zur Unterscheidung zwischen Mensch und Tier in den vier Texten, die die Disputatio ausmachen. Im abschließenden Teil des Aufsatzes soll dann die Bedeutung von Puccis Theorie zum Status der Tiere betont werden, indem die Rolle Puccis in der Debatte über die Theorie der Wiederbringung aller Dinge und insbesondere in den Schriften von Johanna Eleonora Petersen und Johann Wilhelm Petersen skizziert wird. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei den Gründen für Puccis Präsenz in diesem Kontext geschenkt sowie der Weiterentwicklung derjenigen Themen, die Pucci und Sozzini in der Disputatio schon angesprochen hatten.
2. Die Unterscheidung und die Verbindung zwischen Mensch und Tier in der Disputatio In der schon zitierten Passage aus seiner Argumenta decem pro immortalitatem rerum betitelten Mitteilung an Sozzini erklärt Pucci, dass der Hauptunterschied zwischen seiner und Sozzinis Position darin besteht, dass er meint, alle Sachen seien von Anfang an unsterblich geschaffen, Sozzini dagegen für die Sterblichkeit aller Dinge plädiere. Folglich sei Adam laut Pucci im Garten Eden unsterblich gewesen, während er nach Sozzini schon vor dem Fall sterblich war. Es ist aber wichtig zu betonen, dass für Pucci
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alle Sachen – omnia – unsterblich geschaffen wurden,8 und nicht nur der erste Mensch: Mit anderen Worten sei die ganze Kreation unsterblich gewesen.9 Pucci begründet seine Theorie mit der folgenden Erklärung: In omnibus rebus creatis (praesertim in homine) fuit aliqua similitudo creatoris; nam hoc exigit analogia creatoris et creaturae. At nihil est magis dissimile quam mortale immortali. Necesse est igitur omnes res creatas fuisse immortales, praecipue hominem, qui est imago Dei.10
Aufgrund der Analogie zwischen Schöpfer und Schöpfung sei alles unsterblich gewesen, erst recht der Mensch, aber nicht nur er. Im Garten Eden war also der Tod nicht anwesend, und auch nicht die Plage des Verfalls („morbum corruptionis“),11 mit der die Menschen nach dem Fall konfrontiert wurden. Pucci fügt dann hinzu, dass der Mensch im Garten Eden zwar gegessen hat, aber nur „cibum immortalis“, nämlich vom Baum des Lebens, also nicht etwa solche Speisen wie diejenigen, die wir auf der Welt kennen.12 In seiner Antwort an Pucci lenkt Sozzini sofort die Aufmerksamkeit auf den Menschen: Der Schwerpunkt seiner Argumentation liegt darin, dass der Mensch von Anfang an sterblich war. Er redet vom Menschen – nicht von allen Dingen, wie es Pucci gemacht hatte, und das ist ein bedeutender Unterschied. In der Tat ist Puccis großzügige Erweiterung der Unsterblichkeit auf alle Wesen der Anfangspunkt, um zu verstehen, wie das Thema der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier ins Spiel kommt. Zuerst aber kritisiert Sozzini einen generellen Aspekt in Puccis Argumentation, nämlich das schon erwähnte Prinzip der Analogie. Hier führt er das folgende Beispiel an: Atque ita argumentari liceret: „Homo rationalis est, bruta irrationalia. Sed nihil magis dissimile est quam rationale irrationali. Ergo inter hominem et bruta nulla est similitudo.“ Et tamen adeo inter se similia sunt, ut sub eodem proximo genere contineantur.13
Sozzini glaubt, dass Puccis Argument irreführend ist: Von der Tatsache, dass zwei Sachen nicht alle Charakteristiken teilen, kann man nicht darauf schließen, dass sie völlig verschieden voneinander sind. Zum Beispiel sind Menschen vernünftig, und Tiere haben keine Vernunft: Das bedeutet aber nicht zugleich, dass sie nichts gemeinsam haben. Man soll folgendermaßen nicht zum Schluss kommen, dass „inter hominem et bruta nulla est similitudo“, nur weil Menschen und Tiere die Gabe der Vernunft nicht teilen. Genauso soll man nicht folgern, dass die Schöpfung unsterblich wie ihr Schöpfer 8 9 10 11 12
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Ähnlich argumentiert Pucci in der Schrift De praedestinatione, wo er behauptet, dass das Ziel, auf das der Mensch und alle anderen Sachen gerichtet sind, dasselbe sei (vgl. Pucci 2000, 220). Vgl. dazu auch Pucci 2000, 220, wo Pucci schreibt: „Probavimus enim nullum a creatore esse factum impium aut reprobum.“ Sozzini/Pucci 2010, 8. Sozzini/Pucci 2010, 9. Sozzini/Pucci 2010, 9: „In paradiso erat lignum vitae, quo vesci debebat homo. Utebatur igitur cibo immortali, et dicitur privatus eo post lapsum ne viveret perpetuo in humanis. Ergo fuit immortalis in primo statu ante lapsum.“ Sozzini/Pucci 2010, 13.
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sein musste, da es durchaus möglich ist, dass Schöpfer und Kreatur viel miteinander teilen würden, aber eben nicht die Unsterblichkeit. Sozzini behauptet: „Possunt ergo res creatae aliquam creatoris similitudinem retinere, nec tamen immortales esse.“14 Sozzinis Beispiel – das nur ein Beispiel einer schlechten logischen Folge sein möchte – leitet in der Tat das Thema der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier in den Schriftenwechsel ein. Es ist interessant zu bemerken, dass Sozzini eine wichtige Grundannahme voraussetzt, das heißt dass Menschen und Tiere durch die Vernunft voneinander unterschieden werden können.15 Gleichzeitig aber wirft er Pucci vor, dass er aus seinen eigenen Prinzipien schließen sollte, dass Tiere und Menschen nichts Gemeinsames haben – und das ist für Sozzini falsch. Darüber hinaus gibt Sozzini eine eigene Erklärung für die Tatsache ab, dass Adam im Garten Eden gegessen hat, wie in der Heiligen Schrift erzählt wird. Er hat nämlich keine „unsterbliche Speise“ gegessen, sondern Pflanzen.16 Der Körper Adams schien in der Tat genauso aufgebaut zu sein, wie die Körper der Menschen, die nun auf der Erde leben und sich ernähren müssen, um weiterzuleben. Sozzini schreibt: Sed quid? An non tota humani corporis fabrica cibo ad eius conservationem opus fuisse manifeste arguit? Cur enim ventriculum, cur iecur et venas, cur intestina habuisset si concoqui et digeri ad ipsius nutritionem, crassioribus et inutilibus partibus expulsis, cibus in eo non debuisset?17
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Sozzini/Pucci 2010, 13. Vgl. dazu, wie Bayle, im Dictionnaire-Artikel zu Rorarius, die Position der Sozinianer über die Fähigkeiten der Tiere definiert: „[…] ils [les Sociniens] ne donnent point aux bêtes une volonté proprement dite, ni un franc arbitre proprement dit; ils ne les font pas susceptibles de la vertu & du vice, ni des peines & des récompenses proprement parlant. Ils disent néanmoins que la raison, la liberté, & la vertu se trouvent en elles imparfaitement & analogiquement, & qu’elles se rendent dignes de peine, & de récompense, en quelque façon.“ (Bayle 1740, Bd. 4, 78). Vgl. auch die Meinung Johann Crells zu diesem Thema in Ethica Christiana, wo er sich direkt auf die Disputatio zwischen Pucci und Sozzini beruft: „Inde sequitur facultas altera, voluntati quodam modo respondens, in qua nonnihil est libertatis. Hinc aliquid etiam virtuti & vitio simile, seu recte & prave factum: quorum illud est, cum bruta naturae suae ductum sequuntur, hoc cum a naturali via exorbitant. Unde tandem etiam aliquid praemio aut poenae, & huic quidem maxime simile. Unde bestias etiam a Deo punitas, aut poenas certas lege illis constitutas, cernimus: qua de re legatur Socinus in Anti-Puccio“ (Crell 1650, 66). (Crells Ethica Christiana wurde eigentlich in Amsterdam, und nicht in Lüneburg, wie auf dem Titelblatt steht, gedruckt. Vgl. darüber Jürgensen 2002, Teil 1, 889). Vgl. auch Crell 1650, 65: „Hinc quia voluntate proprie dicta in brutis non est, in illa etiam nec virtus, nec vitium aut delictum proprie dictum cadit; cadit tamen improprie & per analogiam dictum.“ Sozzini/Pucci 2010, 12: „Certe herbae, arbores et universae stirpes in hoc sunt numero, nec tamen immortales umquam fuere, licet et ipsae vitam et animam suam habeant. Patet hoc ex eo, quod homini et caeteris animantibus eas, nulla lege praeterea adhibita, in cibum dedit Deus antequam homo peccaret. Verum quomodo ad animantium arbitratum comedi poterant et non saepe propria vita privari ac penitus corrumpi atque deleri?“ Sozzini/Pucci 2010, 23.
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Das ist ein wichtiger Punkt, zu dem sich Pucci dann äußern wird, da dieser seine These, dass alles unsterblich gewesen sei, direkt angreift: Adam musste essen, um seinen Körper zu ernähren, nicht nur aus Lust (voluptas), wie Pucci behauptet hatte.18 Dazu hatte Adam Pflanzen gegessen, und das führt natürlich zu einer Frage, zu der Sozzini und Pucci zwei verschiedene Antworten geben: Wie ist es möglich, dass Pflanzen gegessen wurden, wenn sie auch unsterblich waren, genau wie die ganze Schöpfung?19 Bevor aber die Diskussion zu diesem speziellen Thema weiter verfolgt werden kann, muss noch eine weitere wichtige These erwähnt werden, die Sozzini in seiner Responsio anführt, um die Sterblichkeit des ersten Menschen zu beweisen. Wenn alle Lebewesen unsterblich waren – wie Pucci behauptet – dann müssen auch die Tiere ihre Unsterblichkeit als Folge von Adams Sünde verloren haben, obwohl sie selber nicht gesündigt hatten: Quaenam vero haec Dei iustitia fuisset, propter hominis peccatum innocentes animantes tam graviter punire? Si modo, ut ego quidem arbitror, longe gravissima poena est immortalitate privari.20
Es handelt sich in der Tat um die erste rein ethische Frage bezüglich der Tiere, die in der Korrespondenz auftaucht. Wie kann man diese schwere Strafe – die Entziehung der Unsterblichkeit – erklären, die Gott den Tieren gegeben haben muss, wenn sie vor dem Fall auch wie Adam unsterblich waren?21 Mensch und Tier müssen deshalb beide schon vor dem Fall sterblich gewesen sein, schließt Sozzini.22 Zwei Folgen von Sozzinis Argumentation sollten insbesondere hervorgehoben werden: Mit seinem Beispiel der Rationalität der Menschen und der Irrationalität der Tiere hat er beweisen wollen, dass man – Puccis Prinzipien zufolge – schließen könnte, es gäbe keine Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier, obwohl dies falsch ist. Gleichzeitig hat er aber durch seine Kritik der lustvollen und unnötigen Ernährung Adams einerseits und der unmöglichen Strafe Gottes gegen die Tiere andererseits auf die Unsterblichkeit als Zeichen der tiefen Verbundenheit indirekt hingewiesen. Denn 18
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Sozzini/Pucci 2010, 23: „At dices fortasse hominem ante lapsum cibis usum fuisse non ad sui conservationem, vel ad voluptatem tantum. Istud vero quomodo probabis? Certe huius mutationis, quod scilicet ante lapsum cibi ad voluptatem tantum, post vero ad conservationem quoque comparati fuerint, nulla in sacris litteris sit mentio […].“ An dieser Stelle sei auf die Schrift des Leipziger Philosophieprofessors Anton Günther Heshusius Dogma pythagoricum de abstinentia carnium (Heshusius 1668, § 44) hingewiesen. Hier behauptet der Autor, dass der Vegetarismus zwar nicht verworfen werden darf, aber dass es falsch wäre, anzunehmen, dass ein und derselbe Geist, spiritus, alle Sachen durchdringe: In diesem Fall wäre es nämlich nicht mehr legitim, Pflanzen zu essen. Diese Schrift wird auch erwähnt in Haussleiter 1935, 358. Sozzini/Pucci 2010, 16. Das Problem der Bestrafung der Tiere wird im Artikel Rorarius in Pierre Bayles Dictionnaire unter Berufung der Disputatio zwischen Pucci und Sozzini erwähnt (Bayle 1740, Bd. 4, 79). Zur Sterblichkeit der tierischen Seelen aus der Perspektive des Sozinianismus vgl. eine Fußnote von Samuel Taylor Coleridge in Lay Sermons (Coleridge 1852, 208–209).
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diese Unsterblichkeit ist es nämlich, die laut Pucci das Schicksal aller Lebewesen – Pflanzen, Tiere und Menschen – vor und nach dem Fall verbindet. In seiner zweiten Schrift an Sozzini geht Pucci nun direkt auf diese Themen ein. Zuerst bestreitet er, man könne durch seine Argumentation zu dem Schluss kommen, Tiere und Menschen hätten nichts Gemeinsames. Er formuliert dabei das Problem auf neue Art und Weise: Itaque ego non argumentor, ut tu falso me insimulas, quasi dicerem: „homo rationalis est et bruta irrationalia; at nihil magis dissimile est quam rationale irrationali, ergo inter hominem et bruta nulla est similitudo“. Sed applico ad hunc modum exemplum tuum meo instituto, nempe: homo rationalis creavit animal sibi simile, at nihil magis dissimile quam irrationale rationali; non creavit ergo irrationale. Interim concederem facile animal illud creatum posse nonnullis in rebus esse dissimile ei qui se creavit; sed illam dissimilitudinem insignem tantum excludo.23
Das von Sozzini angeführte Beispiel wird durch Puccis Erklärung völlig umgedeutet, da die Ebenen des Diskurses umgedreht werden. Er behauptet nämlich, dass seine Analogie zwischen Schöpfer und Schöpfung selbst dann noch gültig bleibt, wenn man sich vorstellt, dass jetzt der Schöpfer der Mensch und das Geschöpf das Tier sei. Es sei unmöglich – schließt Pucci – dass der vernünftige Mensch ein unvernünftiges Tier schaffen würde: Wenn wir annehmen, dass der Schöpfer in diesem Beispiel der vernünftige Mensch sei, dann kann das Geschöpf nur ein vernünftiges Tier sein. Die Vernunft, genauso wie die Unsterblichkeit, ist eine zentrale Eigenschaft, und kann deshalb nach Puccis Meinung nicht einfach so aufgehoben werden. Schöpfer und Geschöpf spiegeln sich ineinander: Wenn der eine unsterblich ist, dann auch das andere, wenn der eine vernünftig ist, dann auch das andere. An dieser Stelle erklärt Pucci nicht weiter, wie die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier anhand dieses Beispiels zu verstehen sei.24 Im folgenden Teil des Textes 23 24
Sozzini/Pucci 2010, 35. In seiner Refutatio scripti satanici a Francisco Puccio Filidino in lucem editi (1593), die der Kritik von Puccis Schrift De Christi servatoris efficacitate gewidmet ist, schreibt Lucas Osiander Folgendes zu Puccis Unterscheidung zwischen Mensch und Tier: „Intelligit autem Puccius rationem humanam, qua homo a brutis animantibus discernitur: & cuius beneficio inter honesta & turpia homo discrimen habet. Quid audio? estne spiritus Dei, Spiritus ille Christi, Ratio hominis? Ratio autem hominis est quiddam creatum: Ergo & Spiritus Dei & Christi (secundum Theologiam Puccianam) erit creatura?“ (Osiander 1593, 69–70). Die Kritik ist an die ratio 33 in Puccis Schrift gerichtet: Unter Berufung des Liber sapientiae (1–2) behauptet hier Pucci, dass Gottes Geist in allen Sachen anwesend sei (vgl. Pucci 1592, 26: „Idem testatur Deum misereri omnium & omnium peccatis ignoscere, ut redeant ad frugem: amare res omnes & parcere omnibus, quoniam omnia sunt amatoris animarum Domini. Atque concludit, incorruptum ejus spiritum inesse omnibus, per quem delinquentes paulatim corrigit, ut liberati vitiis, sibi fidem habeant“). Obwohl Pucci auch in De Christi servatoris efficacitate für die inkorrupte Natur der ganzen Kreation plädiert, steht die Erlösung des Menschen eindeutig im Zentrum der Argumentation. In der ratio 110 (s. unten, Fußnote 28) adaptiert Pucci eine Stelle aus Thomas von Aquins Summa theologica, um zu behaupten, dass Gott alle Kreaturen liebt (vgl. Pucci 1592, 77–78. Vgl auch Pucci 1991, 66 und 84–85).
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widmet er sich aber dem inneren Verhältnis und der Abhängigkeit aller Lebewesen zueinander. Die zentrale Rolle dieser Abhängigkeit wird in Puccis Argumentation durch die Diskussion ethischer Probleme eingeleitet. Zuerst widerlegt er Sozzinis These, dass die vegetarische Ernährung Adams gegen das Prinzip verstoße, auch die Pflanzen seien vor dem Fall unsterblich gewesen. Puccis Antwort basiert auf einem Argument, das wir heute pathozentrisch nennen würden: Was zählt, ist das Leiden. Er schreibt: Nam semina, fructus et herbae sensu carent, et tamen tantum abest ut illa mutatio sit in illis appellanda mors, ut sit potius eorum vita, et id potissimum videntur expetere cum laetissima se offerunt edendibus. Dum contra cum comedimus animantes in quibus est anima vivens (quod fit contra primum institutum) omnia gemitibus et lamentis implentur.25
Obwohl Pflanzen leben und schon vor dem Fall unsterblich waren, war dennoch das, was sie durch das Gegessenwerden erlitten haben kein Tod, sondern lediglich eine Transformation. Sie haben sich den Konsumenten (tierischen und menschlichen) hingegeben, da sie dabei keinen Schmerz erleiden mussten.26 Die vegetarische Diät Adams sei somit nicht nur bestätigt, sondern auch als Modell beschrieben, da eigentlich diese genau die Art von Diät ist, die Gott für Adam und für alle Tiere vor dem Fall vorgesehen hatte. Das Essen von Fleisch, von Tieren, ist hingegen etwas völlig Anderes: Tiere leiden, wie es offensichtlich ist, wenn sie geschlachtet werden. In der Tat haben die Tiere einander im Garten Eden nicht gefressen – dass es nun aber Tiere gibt, die andere Tiere essen, ist laut Pucci ein Zeichen für die Korruption der Lebewesen nach dem Sündenfall. Eigentlich sind einige Tiere – die ‚vegetarischen‘ wie Schafe und Ziegen – Gottes ursprünglicher Einstellung weiterhin gefolgt und sind ‚rein‘ geblieben, während andere sich ‚unrein‘ gemacht haben, indem sie das Blut ihrer Artgenossen getrunken haben. Unter den Kreaturen nennt man deswegen […] immundas eas quae non permanserunt in fide et in primo instituto creatoris, mundas vero eas quae primo cibo contentae fuerunt, nempe herbis, oleribus et seminibus, ut oves, boves, caprae, columbae, anseres et similes.27
Hier scheint Pucci auf die eigene Verantwortung der Tiere hinweisen zu wollen, indem er Wörter verwendet, die auf moralische Entscheidungen zurückweisen wie das Adjektiv contentus oder der Ausdruck „in fide permanere“. Sind dann die Tiere selbst verantwortlich für die Entziehung der Unsterblichkeit? Aber warum mussten Tiere überhaupt dieser Korruption erliegen – hatte Sozzini gefragt – wenn sie doch nicht gesündigt hatten? Pucci antwortet, indem er die Struktur der Schöpfung vor dem Fall rekonstruiert. Die Tiere wurden Adam gegeben als ihrem Herrn: Sie sind folglich Adam verbunden und mussten mit ihm die Konsequenzen des Falles erleiden, obwohl sie nicht direkt 25 26 27
Sozzini/Pucci 2010, 33. Vgl. dazu auch Biagionis Bemerkungen in Sozzini/Pucci 2010, XXVI. Sozzini/Pucci 2010, 43.
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verantwortlich waren. Das bedeutet aber, dass sie auch zusammen mit ihrem Herrn befreit werden: Mit Bezug auf Paulus benutzt Pucci den Ausdruck „liberatio omnium creaturarum“.28 Die Tiere werden also den Menschen immer begleiten, während des schmerzvollen Lebens auf der Erde, aber auch in dem Leben, das noch kommen wird. Quod si Deus iure creationis potuit subiicere bestias homini, quis non videt consequens esse ut, homine earum Domino afflicto, ipsis quoque similis sors obtingeret, donec eo tandem liberato et ad maiorem dignitatem elato, in ipsas etiam maior aliqua felicitas redundaret.29
Pucci beschreibt einen Kosmos vor dem Fall, in dem Vegetarismus als göttliches Gesetz herrscht. Er beschreibt aber auch eine Welt nach dem Fall, in der die Tiere noch ihrem Herrn folgen und in der einige Tiere eigentlich ein Modell von Reinheit sind, da sie vegetarisch leben. Zusammen mit dem Menschen werden die Tiere die Befreiung erleben – liberatio. Es bleibt jetzt übrig, Sozzinis Reaktion auf diese überraschende Entwicklung der Disputatio zum Zustand des Menschen vor dem Fall zu analysieren und dann die Schlüsse dieser Rekonstruktion zu ziehen. Während Pucci sich auf die evidenten, äußeren Zeichen des Leidens der Tiere stützte, fragt nun Sozzini, ob die Tatsache, dass Pflanzen nicht schreien, ein guter Grund dafür sei, anzunehmen, dass sie gar nicht leiden können. Wenn aber angedeutet wird, dass Pflanzen leiden, muss Puccis ganze Erklärung des schmerzlosen Vegetarismus im Garten Eden auch in Frage gestellt werden. Auf Puccis leidenschaftliche Verteidigung der Ethik des Vegetarismus im Garten Eden antwortet Sozzini folgenderweise: Certe Francisce, si herbarum gemitus exaudire posses, cum interdum ad usum animantium radicitus extirpantur et convelluntur aut discerpuntur ac quodammodo dilaniantur, non ita diceres […].30
Eine Speise ist eine tote Sache, erklärt Sozzini.31 Von daher werden Pflanzen getötet, wenn sie gegessen werden. Ist Pucci bereit, diesen gewalttätigen Aktionen – Essen und Töten – in seiner harmonischen Vision des Gartens von Eden einen Platz einzuräumen? 28
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Sozzini/Pucci 2010, 44: „Paulus vero tam luculenter scribit de liberatione omnium creaturarum in ultima restitutione omnium, ut nihil possit exoptari dilucidius ad confermandam nostram sententiam.“ Vgl. dazu Pucci 1592, 77–78: „Is [Thomas] enim asserit, Deum amare omnes creaturas; & definit amare esse bene velle; in qua benevolentia consentaneum est contineri singularum creaturarum felicitatem, pro ipsarum natura & captu, quo respectu scriptum est: Omnem creaturam quasi exerto capite exspectare redemptionem filiorum Dei, quo tempore ipsa quoque liberanda est a servitute corruptionis. […] D. Thomas itidem docet, Deum esse in omnibus rebus, per essentiam, praesentiam, & potentiam, ut caußa in effectis, participibus ejus bonitatis, praesertim in creatura rationali, ut cognitus in cognoscente & amatus in amante.“ Sozzini/Pucci 2010, 45. Sozzini/Pucci 2010, 76. Sozzini beruft sich hier auf Plutarch (Septem sapientium convivium, 159B): „([…] Plutarchus […] nos iniuria stirpes afficere ait, qui, ut ipsi nutriamur, eas vita privemus)“ (vgl. ebd., 76–77). Vgl. zum Beispiel Sozzini/Pucci 2010, 89.
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Nur wenn man annimmt, dass alles schon von Anfang an sterblich war, kann man die Ernährung Adams vor dem Fall erklären. Sozzini skizziert damit eine Welt, in der – sowohl vor als auch nach dem Fall – Essen und deshalb Töten zwei grundlegende Tätigkeiten darstellen. Die ideelle Vision des Vegetarismus als Gesetz Gottes, das die Harmonie und die Verbundenheit aller Lebewesen untereinander bewahrt, gehört hier nicht dazu. Trotzdem insistiert Sozzini auf Aspekte der Argumentation Puccis, die seiner Meinung nach zu Einschätzungen führen, die für die Tiere eher ungünstig zu sein scheinen, und damit führt er auch die Diskussion der ethischen Seite der Kontroverse weiter. Vor allem findet Sozzini, dass man nicht erklären kann, warum die Tiere aus dem Garten Eden ausgestoßen wurden und die Unsterblichkeit als Folge von Adams Sünde verlieren mussten. Das kann nur bedeuten, dass die Tiere ein großes Unrecht erleiden mussten – und das ist eben der Punkt, den Pucci verneint: Atque ex his […] satis intelligi potest, hominis mortalitatem cum bestiarum immortalitate non indecenter stare potuisse, tantum abest, ut eius rei vitandae causa gravissima iniuria bestias affici necesse fuerit.32
Man kann dieses Unrecht nur vermeiden, wenn man zugibt, dass auch die Tiere von Anfang an sterblich waren wie die Pflanzen, die nicht freiwillig Speise für Tiere und Menschen schon vor dem Fall waren. Dieser Vorwurf gegen Pucci hängt natürlich mit der Kritik an dem Prinzip der Analogie zusammen: In der Tat schreibt Sozzini, dass er nicht nachvollziehen kann, wie man Puccis neue Version seines Beispiels zur Unterscheidung zwischen Mensch und Tier durch die Vernunft interpretieren soll. Wie soll man verstehen, dass Pucci nun Mensch und Tier plötzlich in die Rollen des Schöpfers und des Geschöpfes zwingt, so dass der Punkt der Argumentation nicht mehr deutlich ist?33 Und darüber hinaus: Wenn die Analogie zwischen Schöpfer und Geschöpf so eng ist, wie sie Pucci darstellt (wenn der Schöpfer-Gott unsterblich ist, dann auch die Kreatur; wenn der Schöpfer-Mensch vernünftig ist, dann auch die Kreatur), wie ist es dann zu erklären, dass nicht alle Kreaturen Gott ähnlich zu sein scheinen? In nulla re scilicet creata fuisse insignem aliquam dissimilitudinem cum creatore […]. Nam (obsecro te) inter arenam, quae est ad littus maris, et Deum, quae similitudo est?34
Hier verweist Sozzini indirekt auf ein Problem, das schon am Anfang dieser Rekonstruktion geschildert wurde: Puccis Behauptung, dass alle Sachen, nicht nur der Mensch, unsterblich seien, führt zu gewissen Problemen in der hierarchischen Strukturierung der Welt, in der Pflanzen und Tiere verschiedene Stellen einnehmen sollten, und der Mensch die Abbildung Gottes sei. Mit seinen Überlegungen zur Unsterblichkeit der Pflanzen und der Tiere hat Pucci letztendlich diese Hierarchie in Frage gestellt, so dass sich unangenehme Fragen ergeben, wie beispielsweise diejenige, die Sozzini nun stellt: Welche Ähnlichkeit soll es dann zwischen Gott und einer Sache 32 33 34
Sozzini/Pucci 2010, 161. Sozzini/Pucci 2010, 96. Sozzini/Pucci 2010, 87.
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wie zum Beispiel dem Sand am Meer geben? Mit anderen Worten: Spiegeln sich alle Sachen auf gleiche Art und Weise in Gott? Puccis Anmerkungen zu Sozzinis Brief und vielleicht auch die Antwort auf diese Frage ist, wie schon erwähnt, nicht erhalten. Zwanzig Jahre nach dem Briefwechsel mit Sozzini endete Puccis Reise durch Europa in Rom, wo die Florentinische Bestie („bestia illa fiorentina“, wie Thomas Erastus ihn bezeichnet hatte),35 der „Wolf im Schafspelz“ (so nannte ihn Nicolaus Serarius)36 zuerst geköpft, dann verbrannt wurde. Der Briefwechsel mit Sozzini endete nicht nur ohne Übereinstimmung über das zentrale Thema der Disputatio, nämlich ob Adam vor dem Fall sterblich oder unsterblich gewesen ist. Viel mehr endete sie auch mit keinerlei Übereinstimmung zu einer Reihe von ethischen Problemen, die sich aus der Entwicklung der Kontroverse ergeben hatten. Ist Vegetarismus ein göttliches Gesetz, ein Verhalten, dass die Reinheit des ursprünglichen Zustandes der Schöpfung wiedergibt? Wenn das Leiden unser Hauptkriterium für die Entscheidung, vegetarisch zu leben, ist, wo ‚beginnt‘ dann dieses Leiden in der Natur – schon bei den Pflanzen oder erst bei den Tieren? Das ist eine Frage, die auch Puccis Mitgefangener Tommaso Campanella stellte,37 indem er aber auch den Pflanzen (und eigentlich nicht nur den Pflanzen, sondern allen Dingen) die Empfindungsfähigkeit zuschrieb.38 Indem aber diese starke Kontinuität zwischen allen Lebewesen als Ausgangspunkt angenommen wird, führt diese Frage bei Campanella zu einem Schluss, den schon Sozzini gegen Puccis Argumentation angeführt hatte, nämlich, dass der Vegetarismus nicht vertretbar sei, weil auch Pflanzen leiden könnten.39 Diese Fragen waren kein Nebenprodukt der Debatte zwischen Pucci und Sozzini, sondern sie waren grundlegende Punkte, auf die sich beide Argumentationen stützten. Diese Fragen und deren Antworten machen die praktische Seite der nur anscheinend strikt religiösen Kontroverse zum Zustand des ersten Menschen vor dem Fall aus. Im abschließenden Teil des Aufsatzes soll nun gezeigt werden, dass die philosophische Relevanz dieser Seite der Disputatio noch deutlicher hervorkommt, wenn die Rezeptionsgeschichte in Betracht gezogen wird. Ich werde mich insbesondere auf einen Aspekt konzentrieren, nämlich die Ausbreitung der Argumentation Puccis zur Unsterblichkeit der Kreation in der Debatte über die Wiederbringung aller Dinge, die von den Schriften des Ehepaars Petersen und deren Widerleger, wie zum Beispiel Johann Joachim Wolf, geprägt wurde. Die Argumente, die Pucci gegen Sozzini in der Dispu-
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Thomas Erastus (eigentlich Liebler, oder auch Lüber / Lieber) an Johann Jakob Grynaeus, 25. März 1578, zitiert in Rotondò 2008, 633. Serarius 1593, 1: „Franciscum Puccium Filidinum, verum sub ovilla pelle lupum esse.“ Zu Pucci und Campanella vgl. Ernst 2005. Vgl. dazu Paolo Carta, zit., 93–99. Vgl. z. B. Campanella 2007, 88 und 96. Vgl. z. B. Campanella 2007, 96. Vgl. auch Campanella 1998, 314.
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tatio hervorbringt, wurden in der Tat in diesem Kontext wieder angewendet und übten noch lange nach Ende der Korrespondenz mit Sozzini einen bedeutenden Einfluss aus.40
3. Die Seelen der Tiere und deren Schicksal: Die Debatte über die Wiederbringung aller Dinge (Ausblick) Bezüglich der Beziehung zwischen Mensch und Tier und des Schicksals der Kreaturen hatte Pucci in den kurzen Schriften an Sozzini an zwei Grundideen festgehalten: erstens, dass die ganze Kreation von Anfang an unsterblich gewesen sei, und zweitens, dass die Tiere so dem Menschen, ihrem Herrn, verbunden seien, dass sie mit ihm dasselbe Schicksal erlebt haben (nach dem Fall) und erleben werden (die liberatio). Indem er eine Brücke zwischen der Position Puccis und seiner Lehre der Wiederbringung aller Dinge schlägt, beruft sich Johann Wilhelm Petersen mehrmals auf Pucci im Mystērion Apokatastaseōs Pantōn. Auch Petersen plädiert ausdrücklich für eine Befreiung aller Kreaturen, und diese ist ein entscheidender Ausgangspunkt, um Petersens Beschäftigung mit Pucci zu betrachten.41 In der Schrift Gespräch zwischen Philaletha und Agathophilo, von der Wiederbringung aller Dinge, aus Mystērion Apokatastaseōs Pantōn, schreibt er zum Beispiel: […] da er [Christus] die Instruction seinen Apostolen gegeben / das Evangelium allen Creaturen zu predigen / welche der Apostel Paulus erkläret / was es für Creaturen seyn / wenn er saget […] Coloss. I. 23. aller und jeder Creatur / die unter dem Himmel ist; Nun sind nicht alleine die Menschen / sondern auch andere Creaturen unter dem Himmel / darum so haben sie eben so wohl ihnen diese fröliche Bottschafft auff dem Befehl Christi verkündiget / und angebracht / wie sie einmahl solten befreyet werden von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freyheit der Kinder Gottes / wie Paulus abermahls in der Epistel an die Römer am VIII. 19. seq. verkündiget / und Johannes deswegen bey vergehung des ersten Himmels und der ersten Erden / einen neuen Himmel / und einen neue Erde gesehen hat. Apoc. XXI. I 42
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Ich bedanke mich bei Burkhard Dohm, der meine Aufmerksamkeit auf die Präsenz Francesco Puccis in Johann Wilhelm Petersens Mystērion Apokatastaseōs gebracht hat. Für die zahlreichen Anregungen und Gespräche zu diesem Thema sei ihm auch herzlich gedankt. Zur Lehre der Wiederbringung aller Dinge im Pietismus vgl. Dohm 2001, 189–204, insbes. 202: „Gemeinsam mit seiner Frau gilt der Theologe Johann Wilhelm Petersen als der einflußreichste öffentliche Propagator der Apokatastasis–Lehre im radikalen Pietismus um 1700. […] Die für die einstige Apokatastasis unabdingbare Reifung und Läuterung sei – so Petersen – prinzipiell schon im Diesseits, in ‚dieser Zeit’, erreichbar. Von den meisten ‚Creaturen‘ aber werde sie in individueller Stufung faktisch erst ‚in Äonen‘ erlangt.“ Vgl. auch Dohm 2004, 733–748, insbes. 736. Vgl. dazu Kraus 1850 (die Rekonstruktion der Apokatastasis-Lehre endet aber in dieser Schrift mit der Scholastik). J. W. Petersen 1700–1710, Bd. 1, 38.
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Im neuen Himmel und in der neuen Erde räumt somit Petersen einen Platz auch für die Tiere ein, die sogar, wie die Menschen, Empfänger der Botschaft des Evangeliums sind. In derselben Schrift kritisiert Petersen dabei direkt Lucas Osiander und François Du Jon,43 weil sie Puccis Konzeption der Erlösung (salvatio) nicht verstanden haben. Petersen zitiert aus Osianders Schrift gegen Pucci, in der sarkastisch behauptet wird, dass Pucci nicht nur allen Menschen (gläubigen und ungläubigen) sondern sogar den Tieren erlaubt hat, an der himmlischen Herrlichkeit teilzuhaben, so dass man im von Pucci imaginierten Himmel „Pferde, Ochsen, Kühe, Schafe, Ziegen, Hirsche, wilde Ziegen und Esel und viele andere vierfüßige Tiere“ sehen würde.44 In Gespräch zwischen Philaletha und Agathophilo bemüht sich Petersen, Puccis Konzeption der Erlösung der Kreaturen nicht nur gegenüber Osiander und Du Jon zu verteidigen, sondern auch gegenüber dem Magdeburger Prediger Johann Joachim Wolf, einem Autor, der in dieser Schrift eine bedeutende Rolle spielt, besonders unter dem Blickwinkel der Frage nach dem Schicksal der Tiere.45 Petersen erwähnt seinen Namen nicht direkt, sondern nennt ihn „den Anmerker“, weil er 1699 die Schrift Kurtze Anmerckungen / über die Frage: Ob nach diesem Leben / eine Allgemeine Wiederbringung aller Kreaturen / In Warheit zuhoffen veröffentlicht hatte.46 Ziel von Wolfs Kurtzen Anmerkungen war es, die Meinungen bezüglich der Unsterblichkeit aller Seelen zu widerlegen, die im 1698 anonym erschienen Buch Das ewige Evangelium der Allgemeinen Wiederbringung aller Creaturen47 vertreten waren. Sowohl ein Brief von Johann Wilhelm Petersen, also auch interne Bezugnahme in Mystērion Apokatastaseōs lassen eindeutig darauf schließen, dass Johanna Eleonora Petersen sich hinter der Bezeichnung auf dem Titelblatt, „Mitglied der Philadelphischen Gemeinde“, versteckte und als Autorin der Schrift anzuerkennen ist.48 43 44
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Vgl. dazu auch Biagioni 1999, 373 und 418–420. J. W. Petersen 1700–1710, 146: „Bey so gestalten Sachen siehet man wohl / wie weder der Franciscus Junius, noch Lucas Osiander vorgedachten Puccium nicht recht verstanden / vielweniger wiederleget habe / da er also schreibet: ‚Quod si Puccium contumaciter vocabulum salvandi (in explicatione dicti I. Tim. IV. 10.) tanquam ad æternam salutem torquere voluerit, age, audiamus Davidem in Psalmo sic alloquentem Deum, HOMINES ET JUMENTA SALVABIS DOMINE Psalm. XXXVI. 7. Erit igitur Dominus non modo omnium hominum (fidelium & infidelium) verum etiam omnium jumentorum talis Salvator, qui etiam jumenta in coelestem & aeternam gloriam sit introducturus. Videbis igitur in coelo Puccii equos, boves, vaccas, oves, capras, hircos, cervos, capreas & asinos & multa alia quadrupedia animalia‘. Denn Puccius setzet ja auff keiney Weise die Glaubige und Unglaubige in einen Himmel / es gebrauchet auch das Wort salvandi nicht contumaciter, warum schreibet es denn der Osiander ihm auff seine Rechnung?“ J. W. Petersen zitiert aus Osiander 1593, 9 (vgl. auch ebd.: „Si enim Deus etiam iumenta salvat: utique & iumentorum est Salvator. Et, si Salvator tantum eum significat, qui æternam det salutem, utique etiam iumentis æterna salus continget: secundum Theologiam Puccianam, sed non Christianam“). Vgl. dazu Albrecht 2005, 179. Vgl. Wolf 1699. Veröffentlicht auch in J. W. Petersen 1700–1710, Bd. 1. Vgl. dazu auch Albrecht 2005, 287. Zu Johanna Eleonora Petersen als Autorin von Das ewige Evangelium, vgl. Albrecht 2005, 279.
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Johann Joachim Wolf behauptet, dass eine deutliche Affinität zwischen der Lehre Puccis und derjenigen, die in Das ewige Evangelium vertreten wird, zu erkennen ist. Er schreibt: „Stimmet also Autor abermahl mit Puccio, und Puccius mit dem Autore, in vielen Stücken gar wohl überein“.49 Laut Wolf argumentieren nicht nur Pucci und Johanna Eleonora Petersen dafür, dass alle Menschen – seien sie Ungläubige oder gläubige Christen – gerettet werden können: Sie beide betonen, dass alle Kreaturen, menschliche und nichtmenschliche, die Erlösung am Ende erleben werden, und damit rücken die Tiere und insbesondere die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, wieder ins Zentrum des Diskurses.50 Wenn die Lehre der Wiederbringung so interpretiert werden darf, wie der Autor der Schrift Das Ewige Evangelium vorschlägt, schreibt Wolf, „[…] so zeige er doch mit Bestande der Wahrheit an / daß alle Creaturen / und alle Dinge / wie er redet / sollen herwieder gebracht werden / welcher Prophet / und an welchem Orte / er solches wahrhafftig bezeuge?“ Zu der Erweiterung der Lehre der Wiederbringung auf alle Kreaturen, auch die Tiere, behauptet Wolf: „Meinet Autor seiner Meinung nach gewiß zu seyn / so zeige Er doch an / welcher Prophet und an welchen Ort derselbe rede und zeuge / von der Wiederbringung der Saue und Hunde […].“51 In der Tat fügt Wolf mehrere Bezugnahmen an Pucci an der
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Wolf 1699, 229. J. E. Petersen 1700, 25: „Ist also die neue Gebuhrt aller Dinge zuerwarten / und dürffen wir demnach nicht dran zweiffeln / daß alles neu werden wird / so wol der Himmel als die Erde / so wol der Engel als der Mensch / und alles was genannt mag werden.“ Wolf 1699, 24. Diese Stelle wird in der anonymen Schrift Gegen-Anmerckungen / Uber die / Kurze Anmerckungen eines SS. Theol. Licent. Und Predigers / Welche er über das Von einem Mitglied D.PH.G. verkündigte Ewige Evangelium / Von einer Allgemeinen Wiederbringung Aller Creaturen Ans Licht gegeben unter Berufung auf Wolf so formuliert: „Wann alle Dinge wiedergebracht werden sollen / so müssen dann auch die Säu / Hunde […] wiedergebracht“ (in J. W. Petersen 1700–1710, Bd. 2, 8). Der Autor betont dabei, dass es in der Schrift Das ewige Evangelium hauptsächlich um die Seelen der Verdammten und nicht um die Seelen der Tiere gehe. In Gespräch zwischen Philaletha und Agathophilo definiert Johann Wilhelm Petersen allerdings seine Position zu den Seelen der Verdammten im Gegensatz zu der der Sozinianern: „Es ist zwischen uns und den Socinianern ein Streit / ob Gott die Seelen der Verdammten ganz und gar annulliren / und vernichten werde / nach dem sie vorhin ihre Strafe außgestanden. So ist zwar solches irrig und falsch: Denn wie solte doch Gott hassen / was er gemachet / oder sein eigen Werck also verderben?“ (J. W. Petersen 1700–1710, Bd. 1, 269–270). Vgl. auch ebd., 101: „Die Socinianer glauben / daß die Seele und die Leiber der Gottlosen / nach dem sie eine Weile nach der Gerechtigkeit Gottes Pein gelitten / endlich gantz und gar vernichtet werden / welches weder ich noch die Behaubter der Wiederbringung aller Dinge glauben.“ Es ist interessant zu bemerken, dass Petersen im Register am Anfang desselben Bandes Ernst Soner zusammen mit anderen Denkern erwähnt, die an der Wiederbringung aller Dinge geglaubt haben (ebd.). Zur Schrift Gegen-Anmerckungen vgl. Zedler 1748: „Der Verfasser davon hat sich nicht genennet, will aber von D. Petersen und dessen EheLiebste unterschieden sein.“
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Stelle seines Texts hinzu, an der er seine Kritik an Petersens Idee der Rettung der nichtmenschlichen Kreaturen einleitet.52 Der Anmerker Wolf widmet sich ausführlich dem Thema der Verbindung zwischen dem Menschen und den Tieren, da eben diese Verbindung seiner Meinung nach die ganze Vorstellung der Apokatastasis für unhaltbar erscheinen lässt und in der Tat zeigt, dass sie keine vertretbare Theorie ist. Wie schon in der Disputatio zwischen Pucci und Sozzini, kommt auch in Wolfs Kritik an der Wiederbringung aller Dinge dem Problem der Unterscheidung zwischen der Natur der menschlichen und der tierischen Seelen eine zentrale Bedeutung zu: Wie kann man den Zustand der Tiere auf der Erde erklären und ihn in Verbindung mit der Erlösung bringen, die sie laut Pucci und Johanna Eleonora Petersen erwartet? Und darüber hinaus, wenn die Tiere zusammen mit dem Menschen die Befreiung erleben werden, wird dann die ganze Kreation auf gleiche Art und Weise gerettet, ohne jegliche Unterscheidungen? Obwohl Wolf seine Kritik nicht mit Zitaten aus der Disputatio mit Sozzini belegt (die einzige Schrift Puccis, aus der zitiert wird, ist De Christi servatoris efficacitate, veröffentlicht im Jahr 1592),53 kann man trotzdem deutlich in seiner Argumentation einige Schwerpunkte erkennen, die schon anhand der Schriftenkorrespondenz zwischen Pucci und Sozzini rekonstruiert wurden. So bestreitet Wolf die Idee der Wiedergebung aller Dinge indem er behauptet, dass Gott sich nicht in allen Kreaturen widerspiegelt, was jedoch Johanna Eleonora 52 53
Vgl. insbes. Wolf 1699, 221–231. Trotz der Affinität in der Lehre befinden sich in diesem Text von J. E. Petersen keine direkten Zitate aus Schriften Puccis. Zur Schrift De Christi servatoris efficacitate vgl. Carta 1999, 1–16; dazu Cantimori 1992, 360– 373, insbes. 373. Vgl. auch Bayle 1740, Bd. 3, 827. Wie schon bekannt, beschäftigen sich die Hauptwerke, die der Kritik von Pucci gewidmet waren, mit dieser Schrift des italienischen Verbannten. Außer den Schriften von Serarius (1593) und Osiander (1593), vgl. auch Du Jon 1592. Es ist allerdings interessant zu bemerken, wie Du Jon die Unterscheidung zwischen intelligenten und nicht intelligenten Kreaturen in dieser Schrift thematisiert: Die Kreaturen, die nicht über die Intelligenz verfügen, sind den intelligenten untergeordnet und stehen diesen zur Verfügung, da nur die letzteren an Gottes Gaben (bona) nicht nur der Natur sondern auch der Gnade nach teilhaben. In den Axiomata sacra de natura et gratia, die die Wiederlegung von Puccis Schrift einleiten, schreibt Du Jon: „2. Omnis autem boni, quod res creatæ participant secundum naturam & gratiam ab ipso, participationem instituit Deus tum æterno consilio suo, tum facto in tempore. 3. Huius participationi objectum duobus modis distinguitur: nam aliæ res in natura sunt carentes intelligentia & intelligente voluntate, aliæ intelligentia praeditæ. 4. Ac eæ quidem quæ intelligentia carent, proprie ac ordinate secundum naturam solum participant a Deo bonum: secondum gratiam si quid participant, illud fit per accidens, qua ad usum creaturarum superiorum, id est, intelligentium sunt ordinatæ. 5. Intelligentes vero creaturæ a Deo creatore suo bona participant, non modo secundum naturam, verum etiam secundum gratiam universalem, particularem, communem, singularemque; prout consilio suo ab æterno prospexit Deus. 6. Itaque omnis secundum naturam participatio in duas classes summas distribuenda est: quarum prior est universalis participatio bonorum Dei creaturis attributa, qua creaturæ sunt: posterior est particularis, attributa creaturis intelligentibus, qua ad imaginem Dei fuerunt conditæ, & intellectu, ratione, ac voluntate præditæ. 7. In utrisque autem hic ordo bonorum a Deo observandus est, ut principia primum, tum progressus rerum creatarum, postremo finem earum observemus“ (Du Jon 1592, 9–10).
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Petersen (wie ihr Gleichgesinnter Pucci) glauben muss, wenn sie von der allgemeinen Apokatastasis spricht. Fausto Sozzini hatte Pucci direkt gefragt: Spiegelt sich dann Gott in jeder Sache gleich, im Menschen so wie im Sand am Meer? Wolf seinerseits schreibt: […] die Heilige Schrifft nicht bezeugnet / daß Gott andern Creaturen / ausser den Menschen / sein Ebenbild anerschaffen / oder sie zu seinen Ebenbilde erschaffen habe / und daß sie jemahls ein anerschaffenes Ebenbild Gottes an sich gehabt / so kan auch CHRISTUS mit seiner Gnugthuung für dem Verlust desselben / nicht gnug gethan / und ihnen solches auffs neue erworben haben.54
Wenn nur der Mensch nach Gottes Bild gemacht wurde, dann kann man die Erlösung und Wiedergebung nicht auf alle Wesen erweitern – ein Schluss, der an Sozzinis Argumentation gegen Pucci erinnert: Wo der letzte von der Unsterblichkeit aller Dinge gesprochen hatte, hatte der erste stattdessen einen klaren Schwerpunkt auf den Menschen gesetzt. Desweiteren zieht auch Wolf, wie schon Sozzini, die Stellung der Tiere in Bezug auf den Sündenfall in Betracht, da die Theorie der Wiedergebung es laut Wolf nicht erlaubt zu verstehen, wie die Tiere gerettet werden können, wenn sie die Sünde nicht erlebt haben und die Botschaft des Evangeliums demzufolge nicht verstehen können. Letztendlich wäre es sinnlos zu glauben, dass Gott nicht alle Menschen retten würde, dagegen aber, allein durch seine absolute Macht, alle unvernünftige Kreaturen.55 Wolf behauptet: So ist solchen Geschöpffen Gottes kein Gesetz gegeben / das sie durch Sünde übertreten könten; dergleichen Geschöpffe / wie jetzo gedacht / sind auch nicht fähig der Predigt des
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Wolf 1699, 90. Wolf 1699, 103–104: „[…] Daß Gott den anderen Creaturen / ohne und ausser den Menschen / ohne die ordentlichen Mittel des Worts Gottes / und der Heil. Sacramenten / schlechter Dinges durch seine absolute Allmacht / die Erneurung des Heil. Geistes appliciren werde / so muß Er solches gleichfalls aus dem Worte der Heil. Schrifft / mit Bestande der Warheit erweisen. [5] So thut ja Gott solches nicht einmahl bey denen Menschen; wie solte Ers dann bey denen bestien thun? Sondern Er läßt es zu / daß der Mensch / zu seiner Verdammniß / der Wiedergeburth und Erneurung des Heil. Geistes wiederstreben mag / und zwar also / daß nachgehends es unmöglich ist / daß der Mensch / so beständig wiederbestrebet / solte wiederum erneuret werden / Hebr. VI, 4, 5, 6. Auff solche Art müßte Gott denen bestien und unvernünfftigen Thieren gönstiger seyn / denn dem Menschen. Und wo bleibet alsdenn auch seine Allgemeine Wiederbringung / wenn es nur von ethlichen Menschen heißt: Es ist unmöglich / daß sie solten wieder erneuret werden / loco cit. (6). Oder / wil Autor mit seiner absoluta Dei potentia und Voluntate wieder ankommen / daß Gott die unvernünfftige / oder andere leblose Creaturen / darnach erneuren werde / durch seinen Geist: So zeige er doch gründliche Ursache an / warum thut Gott solches nicht auch bey dem Menschen / welchen Er zu seinem Ebenbilde erschaffen hat / sondern lässet denselben / wiewohl aus eigner Schuld / vielmehr verdammet werden / und verlohren gehen?“
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Evangelii / der wahren Busse / des Glaubens an Christum / oder an sein theures Verdienst / Blut und Tod.56
Deswegen schliesst er folgendermaßen: Wenn es so wäre, […] man müßte es auch denen Hünern und Gänsen / Hunden und Sauen […] fürpredigen können; welches denn in Warheit recht proprie heissen würden / das Heiligthum denen Hunden geben / und die Perlen für die Säue werffen / Matth. VII, 6. 57
An einer schon zitierten Stelle aus dem Gespräch zwischen Philaletha und Agatophilo gibt Johann Wilhelm Petersen in der Tat zu, dass das Evangelium auch an die Tiere gerichtet ist.58 Da Wolf im Hinblick auf das Schicksal der Tiere eine strukturelle Analogie zwischen Francesco Puccis Argumentation und der des Autors von Das ewige Evangelium festgestellt hatte, konzentriert sich Petersens Antwort im Gespräch auf die Rolle, die Pucci im Rahmen der Debatte zur Wiederbringung aller Dinge gespielt hatte. Die Verteidigung von Pucci gegenüber seinen Widerlegern (Wolf, aber auch Osiander und Du Jon) läuft dann in Petersens Argumentation parallel zur Rechtfertigung der Theorie der Apokatastasis und insbesondere eines Aspekts derselben, nämlich der Wiederbringung und Befreiung der menschlichen und nicht-menschlichen Wesen. Petersen stellt aber in seiner Kritik an Wolf eine Frage, die nun überraschen könnte: Ist Pucci wirklich ein Denker der Wiederbringung aller Dinge, so wie er selber und Johanna Eleonora diese Theorie interpretieren?59 In De Christi servatoris efficacitate, der Hauptquelle dieser Debatte, geht es in der Tat – wie Petersen bemerkt – hauptsächlich um das Schicksal der Menschen, während nicht direkt die Frage nach der Verbindung zwischen Mensch und Tier angesprochen wird.60 Petersens Frage bringt die Aufmerksamkeit auf das Thema der Affinität, die Wolf in seiner Kritik an Das ewige Evangelium schon angesprochen hatte, nämlich auf die Tatsache, dass man Parallelen zwischen der Argumentation Puccis und der von Johanna Eleonora Petersen feststellen könnte, ohne dass Puccis Texte in Das ewige Evangelium je direkt erwähnt werden. Diese Affinität scheint in der Tat der rote Faden zu sein, der Pucci mit der Debatte zur Wiederbringung aller Dinge verbindet, und der von den Themen der Disputatio bis zu 56 57 58
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Wolf 1699, 91. Wolf 1699, 91. Vgl. auch J. E. Petersen 1700, 2: „[…] und auff dieses Ewige Evangelium von der Wiederbringung aller Dinge mag der Herr Christus zugleich mit hinzielen / wenn er befiehlet / das Evangelium zu predigen allen Creaturen / oder so lange noch Creaturen übrig sind / welche noch in dem Verderbnüsse gefangen liegen.“ Vgl. J. W. Petersen 1700–1710, Bd. 1, 144: „Entweder der Anmercker muß den Puccium nur so oben hin gelesen haben / oder er ist ein sehr grosser Verkehrer seiner Worte. Denn in dem ganzen Buche [De Christi servatoris efficacitate] wird nichts gelesen von solcher αποκαταστάση μεγίστη, viel mehr das Gegentheil, wie der Anmercker solches selbst p. 222. 223. gestehet; Sondern sein Zweick ist nur zu beweisen / daß man nicht so frech die Menschen / so in Sünden empfangen und gebohren seyn / verdammen solle […].“ J. W. Petersen 1700–1710, Bd. 1, 144.
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den Schriften des Ehepaars Petersen und zur Kritik Puccis von Seiten Wolfs und Osianders führt. In dieser Hinsicht zeigt dieser Ausblick in die Apokatastasis-Debatte im 17. Jahrhundert exemplarisch die wichtige Rolle derjenigen Überlegung zum Status der Tiere, die Pucci und Sozzini in der Disputatio geschildert hatten. Einige der Fragen, anhand denen Sozzini die Position Puccis kritisiert hatte – spiegelt sich jede Kreatur auf gleicher Weise in Gott? Welche ist die Verbindung zwischen Adam und den Tieren? Können die Seelen der Tiere für unsterblich gehalten werden? Und welches ist das Verhältnis der Tiere zum Sündenfall? – werden dabei im Rahmen dieser Debatte neu definiert. Sie erhalten aus der Perspektive der Apokatastasis-Lehre der Pietisten Petersen zwar Deutungen, die nicht auf Puccis Auseinandersetzung mit Sozzini zurückzubeziehen sind, wie etwa diejenige, die Osiander und Wolf zum Ausdruck bringen: Soll man sich laut Pucci und Petersen einen Himmel vorstellen, in den auch alle Tiere aufgenommen werden? Und – wenn dieses der Fall ist – wie kann man aus theologischer Sicht begründen, dass Gott zwar alle Tiere grundsätzlich retten soll, nicht aber alle Menschen? Diese Deutungen gehen über die von Pucci und Sozzini besprochenen Themen hinaus, indem sie aber mögliche Entfaltungen der Probleme bezüglich der Interpretation der Beziehung Mensch/Tier aufzeigen, die in der Disputatio ohne eindeutige Antwort von Seiten der zwei Korrespondenten blieben. Somit zeigen diese neuen Deutungen auch signifikant, dass die Frage nach dem Status der Tiere im Verhältnis zum Menschen einen wichtigen Teil der Affinität ausmacht, die Wolf als Brücke zwischen Pucci und Johanna Eleonora Petersen verstanden hatte, und die die ethischen Aspekte der Disputatio mit Sozzini in einem neuen Licht erscheinen lässt.
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GÜNTER FRANK
Ernst Soners Kritik am Trinitätsdogma. Strategien zur Legitimierung trinitätstheologischer Heterodoxie in Soners Traktat An Doctrina Trinitatis sit Mysterium?
1. Einleitung Am 29. Juni 1616, dem Peter- und Paulstag, wurden die Schriften Ernst Soners, der knapp vier Jahre zuvor am 28. oder 29. September im Alter von lediglich 39 Jahren an einer Krankheit verstorben war, zusammen mit Schriften weiterer Mitglieder der Altdorfer Akademie auf einem großen Scheiterhaufen in der Mitte Altdorfs verbrannt.1 Grund dieser Bücherverbrennungen war der offene oder heimliche Verdacht des Krypto-Sozinianismus, den dieser „nach außen hin“ verborgen haben soll.2 Soner sei, „wenn gleich heimlich, in die engsten Beziehungen zu den Häuptern des polnischen Unitarismus [getreten]“, und suchte, seit er zu Altorf angestellt war, seine Ansichten obwohl heimlich und mit grosser Vorsicht zu verbreiten. Der Ruf, den Soner unter den Unitariern besass, ward die Ursache, dass eine grosse Anzahl Siebenbürgen, Ungarn und besonders vornehmer junger Polen die Ausbildung halber nach Altdorf gingen.“3 Ernst Soners Nähe zu sozinianischen Gelehrten seiner Zeit ist bekannt. Nachdem er im Jahr 1595 mit dem Magistergrad seine philosophischen und medizinischen Studien in Altdorf beendet hatte, reiste er zwei Jahre später als Erzieher und Reisegefährte von Söhnen bekannter Nürnberger Bürger nach Leiden und lernte dort die polnischen Brüder Christoph Ostorodt und Andrzej Wojdowski kennen, die ihn für den Sozinianismus gewonnen hätten. 1601 erwarb Soner in Basel den medizinischen Doktorgrad, kehrte als Arzt nach Altdorf zurück und wurde im Jahr 1605 als Nachfolger seines Lehrers Philipp Scherbe zum Professor der Altdorfer Akademie berufen. Von hier aus pflegte er brieflichen Kontakt mit polnischen Sozinianern um das Zentrum dieser Bewegung in Raków. Einige Schüler von ihm – etwa Johannes Crell 1
2 3
Zu Ernst Soner (1573–1612) vgl.: Zeltner 1729; Bock 1776, 894–903; Völker 1930, 255–258; Braun 1933, 129–150; Wrzecionko 1966; Caccamo 1970; Wollgast 21993, 366–409; Thomann 1995 (mit weiterführender Literatur); Mährle 2000, bes. 281–283, 289 f. So etwa noch Thomann 1995, 790. Fock 1847, hier 235.
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und Martin Ruar – wurden selbst herausragende Gelehrte der sozinianischen Bewegung. Wichtigste Quelle für den Altdorfer Sozinianismus ist noch immer Gustav Georg Zeltners Historia Crypto-Socinismi aus dem Jahr 1729, nach dem dieser eine Geheimbewegung gewesen sei, die erst nach dem Tode Soners aufgedeckt worden sei, das heißt, dass – wie noch jüngst geschrieben wurde – Soner „solche Vorsicht walten [ließ], dass man zu seinen Lebzeiten im lutherischen Umfeld nichts davon bemerkt“4 hätte. Bislang zeigte sich der Krypto-Sozinianismus-Verdacht Soners vor allem von Seiten seiner Gegner, das heißt im Tone der Denunziation. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass „seine theologischen Schriften […] weitgehend verloren“5 scheinen. Einen Teil dieser Lücke hatte Ralf Bröer in einer seiner neueren Publikationen schließen können.6 In dieser konnte er den bislang verloren geglaubten Katechismus Soners auswerten, der in enger Beziehung zur wichtigsten sozinianischen Bekenntnisschrift, dem Rakówer Katechismus (1604/1609), stand, dessen letzte sechs Kapitel zwar schon Zeltner überliefert hatte,7 der jedoch als ganzer als Manuskript erhalten ist.8 Im Stile eines Katechismus werden hier allgemeine Lehrsätze aufgestellt, die Soner klar als Vertreter eines unitarischen Antitrinitarismus zeigen. Danach ist Jesus Christus für Soner von seiner „Natur“ her kein Gott, sondern ein sterblicher, wenn auch ein besonderer Mensch. Nur Gott besitze „von sich“ aus göttliche Macht, die er in Form von Wissen und Macht an seinen „Sohn“ Jesus Christus delegiere. Der Heilige Geist stelle lediglich eine göttliche „Kraft“ dar.9 Soners Katechismus wurde niemals veröffentlicht, vor allem aber: er ist verfasst in der Diktion von einzelnen Katechismus-Lehrsätzen, ohne dass also die Begründungsmuster seiner Trinitätstheologie auch nur angedeutet sind. Genau dies bietet jedoch eine andere Schrift Soners, die in der Forschung offenbar und überraschenderweise weitgehend unbekannt geblieben ist und die den Titel trägt An Doctrina Trinitatis sit Mysterium.10 Bevor hier näher auf die trinitätstheologischen Argumentationen Soners eingegangen werden soll, einige Bemerkungen zu diesem Druck.
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Hauptmann 2004, 1439. So noch Bröer 2006, 143. Allerdings muss im Titel dieses Beitrags das Sterbejahr Soners korrigiert werden. Ernst Soner starb am 28./29. September 1612. Erhalten schien lediglich ein Beweis der Ungerechtigkeit ewiger Höllenstrafen, siehe: „Demonstratio theologica et philosophica, quod aeterna impiorum supplicia non arguant Dei iustitiam sed iniustitiam“, in: Soner 1605, 36–69. Auf diese Schrift wird noch zurückzukommen sein. Bröer 2006. Zeltner 1729, 820–856. Soner, [Sozinianischer] Katechismus. Die Belege bei Bröer 2006, 144–146, Anm. 30–61. Vgl. Sandius 1684, 96 f.
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2. Druckgeschichtliche Anmerkungen Ernst Soners trinitätstheologischer Traktat An Doctrina Trinitatis sit Mysterium erschien in einem Druck der beiden Sozzini (Onkel und Neffe) Fausti & Laelii Socini, Item Ernesti Sonneri Tractatus aliquot Theologici, nunquam antehac in lucem editi 1654 im niederschlesischen Freystadt bei Liegnitz. Nur wenige Drucke hiervon sind erhalten, so in Stuttgart, Hannover, Rostock und der British Library.11 Der Druck selbst besteht – das zeigt schon das Inhaltsverzeichnis – aus fünf Schriften: zunächst Fausto Sozzinis kurze Abhandlung de Causa ob quam creditur aut non creditur Evangelio Jesu Christi, dann dessen Zusammenfassung der christlichen Religion (Summa Religionis Christianae), eine Auseinandersetzung mit Hugo Grotius De veritate religionis Christianae, eine Erörterung seines Neffen Laelio über das Züricher und Genfer Abendmahlsverständnis (De Sacramentis Dissertatio, ad Tigurinos & Genevenses), die bereits erwähnte Schrift Soners über die Ungerechtigkeit ewiger Höllenqualen (Demonstratio Theologica, & Philosophica quod aeterna impiorum supplicia non arguant Dei Justitiam, sed injustitiam) sowie schließlich Soners trinitätstheologischer Traktat An Doctrina Trinitatis sit Mysterium?. Auch wenn dieser Druck als ganzer nicht weit verbreitet ist, so ist er doch in der Sozinianismus-Forschung nicht gänzlich unbeachtet geblieben.12 Bereits 1957 erschien in Polen von dem bekannten Sozinianismus-Forscher Lech Szczucki und Tadeusz Biełkowski eine Neuausgabe dieses Druckes.13 So ist diese sozinianische Schrift sowohl Siegfried Wollgast14 als auch Ralf Bröer15 bekannt gewesen. Erstaunlich ist gleichwohl, dass der Trinitätstraktat Soners selbst offenbar weder zur Kenntnis genommen, noch berücksichtigt wurde, obwohl im Focus der sozinianischen Debatten nun ausdrücklich Fragen der Trinitätstheologie standen. Soners Traktat zur Trinität An Doctrina Trinitatis sit Mysterium ist – wie das Titelblatt aufweist – eine Abschrift oder ein Exzerpt aus einer offenkundig umfangreicheren Schrift mit dem Titel De Origine Trinitatis, die irgendwann zwischen 1590 und 1604 verbrannt worden war.16 Erhalten ist lediglich dieser kleinere Abschnitt oder das Exzerpt, das vor der Verbrennung von einem Unbekannten erstellt wurde.17 Als Erscheinungsjahr findet sich der Eintrag 1605. Das heißt, sofern all diese Angaben zutreffen, war Soners trinitätstheologischer Traktat spätestens in diesem Jahr zumindest als Manuskript fertig gestellt und vielleicht auch veröffentlicht. Dann würde dieser Traktat seine trinitätstheologischen Auffassungen widerspiegeln in jenem Jahr, in dem 11 12 13 14 15 16 17
Mir liegt die Ausgabe der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek von Hannover vor. Schon Christopher Sandius verweist auf diese Schrift. Vgl. Sandius 1684, 96. Szczucki/Biełkowski 1957. Wollgast 1993, 404. Bröer 2006, 143, Anm. 29. Soner 1605. Vgl. hierzu die Hinweise bei Wallace 1850, 500.
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er als Professor in Altdorf berufen wurde. Gewidmet ist dieser Traktat schließlich dem wenig bekannten schlesischen Mediziner und Philosophen Martin Pisecius, ein offenbar hoffnungsvoller sozinianischer Gelehrter, den Soner als seinen „Frater“ direkt anspricht, möglicherweise ein Hinweis auf die „Fratres Polonorum“. Martin Pisecius (Marcin Pisecki, 1597–1614), der bereits als 17-jähriger verstarb,18 hatte nicht nur in Altdorf und Basel studiert, sondern in den Jahren 1600–1604 ebenfalls in Padua,19 wo sich auch Soner wenige Jahre zuvor zum Studium aufgehalten hatte. Wie die Neuedition des Druckes der polnischen Sozinianismus-Forscher um Lech Szczucki belegt, sind beide theologischen Traktate, der Höllenstrafen-Traktat wie auch der Trinitäts-Traktat, in weiteren englischen und niederländischen Übersetzungen20 publiziert worden und haben von hier aus auch ihre Wirkung entfaltet.
3. Die Prinzipien der Trinitätskritik: ratio, scriptura, traditio apostolica Soners Trinitätstraktat besteht aus zwei Teilen: einem ersten, eher theologischsystematischen Teil, der die Fragen untersucht, in welcher Hinsicht von einem Mysterium der Trinität gesprochen und diese vom Menschen auch erkannt werden kann, während der zweite Teil eine exegetische Untersuchung von vier biblischen Zeugnissen darstellt, die den Glauben an eine Trinität nahe zu legen scheinen. Beide Abschnitte verfolgen jedoch ein gemeinsames Ziel: dem Aufweis einer einzigen deitas, die gleichzeitig kein Mysterium darstellt. Deshalb nimmt die eigentliche Überschrift des Traktates dann als These sogleich die Antwort auf die Frage „An Doctrina Trinitatis sit Mysterium?“ vorweg: die Lehre über den einen und dreifaltigen Gott ist kein Mysterium.21 Schon die einleitenden Bemerkungen machen zwei Prinzipien dieser Theologie deutlich: sie ist insofern rationalistisch, als sie nur Beweise (demonstrationes) und keine Mutmaßungen (conjecturae) zulässt.22 Das zweite theologische Prinzip ist ein Heilsuniversalismus, der sogar das Alte Testament mit einschließt. Zwar würden – wie Soner bemerkt – die Trinitarier behaupten, die Trinitätslehre sei ein Mysterium, das im alten Bund verborgen, im neuen Bund jedoch offenbart ist. Die Frage sei jedoch, 18 19 20 21
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Vgl. hierzu Baumgartner 1992, 190. Zonta 2004, 115 und 342. Szczucki/ Biełkowski 1957, 164. „An Doctrina Trinitatis sit Mysterium a Seculis absconditum, quod divini verbi patefactione hominibus innotescere debuit. E Tractatu, Qui de Origine Trinitatis inscribitur, exscriptum“, in: Soner 1605, 73–99, hier 77: „Doctrinam de Uno & Trino Deo nullum esse mysterium“. Soner 1605, 77: „Progrediamur tandem ab humanis ad divina, e quibus ad opiniones suas confirmandas, conjecturarum plena captant argumenta. Demonstrationes enim in fictis & prodigiosis nullae sunt.“
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weshalb sich Gott im Alten Testament verborgen geoffenbart hat, wenn doch die Trinitätslehre, die zum Heil notwendig sei, für die Gerechten nicht verborgen sein kann.23 Soner steht damit vor einem Problem, das im 16. Jahrhundert durch die christliche Kabbala aufgeworfen war. Der italienische Franziskaner Petrus Galatinus (Pietro Colonna Galatino, 1460–1540), auf den er sich hier beruft, hatte in seiner 1518 erstmals erschienenen und mehrfach aufgelegten kabbalistischen Schrift „De Arcanis Catholicae Veritatis“ die These vertreten, dass etwa der Talmud Perlen der christlichen Wahrheit enthalte und dadurch der Judenmission diene.24 Dann musste jedoch begründet werden, weshalb sich die Juden einer Erkenntnis der Trinität verweigert hätten, gerade wenn diese heilsnotwendig sei. Galatinus habe im Anschluss an den antiochenischen Kirchenvater Theodoret (393–460) – so Soner – die Auffassung vertreten, dass Gott eine Trinität von drei Personen erst im Neuen Testament offenbaren wollte, weil die Juden eher zur Idolatrie neigten.25 Diese Theorie sei jedoch schon von dem reformierten Theologen Bartholomäus Keckermann26 kritisiert worden, der selbst zwei andere Gründe dafür angab, weshalb sich Gott erst in der Inkarnation im Neuen Testament offenbaren wollte. Laut Keckermann wollte sich Gott im Neuen Testament offenbaren, damit Christus als das wesenhafte Abbild Gottes erkannt werde und auf diese Weise das ganze Mysterium der Heiligsten Trinität für uns klarer bekannt sei.27 Warum haben dann jedoch – wie Soner polemisch zuspitzt – die Juden Christus auf Erden entehrt und in ihm gerade nicht das Mysterium der Trinität wahrgenommen? Diese Argumentation führt Soner nunmehr zu seiner eigenen antitrinitarischen Spitzenthese: die Offenbarung besteht danach allein in der Offenbarung des göttlichen Willens. Christus selbst habe niemals seinen Zuhörern und Schülern ein Mysterium der 23 24 25
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Soner 1605, 77: „Iam quaero, Cur Deus se obscurius in veteri Testamento revelavit, si doctrina Trinitatis ad salutem necessaria justis non erat occultanda.“ Zu Galatinus und seiner Schrift „De Arcanis Catholicae Veritatis“ vgl. Kleinhans 1926; Campanini 2010 (mit ausführlicher, weiterführender Literatur zu dieser Debatte im 16. Jahrhundert). Soner 1605, 77 f.: „Galenus sequitur Theodoretum, qui statuit, Deum noluisse Trinitatem personarum Iudaeis ita evidenter revelare, ut postea revelavit in novo Testamento, quia Judaei valde proclives fuerunt ad Idololatriam.“ Der Hinweis auf Keckermann wirft allerdings ein Datierungsproblem auf. Wenn Soners Trinitätstraktat tatsächlich 1605 fertiggestellt war, kommen nur wenigen Schriften Keckermanns in Frage, von denen die meisten allerdings philosophische Schriften waren. In Frage kämen nur die Decas problematum philosopho-theologicorum, die 1598 in Heidelberg erschienen waren, sowie das Systema grammaticae Hebraeae, sive, sanctae linguae exactior methodus, Hanau 1600. Natürlich spielte in Keckermanns Theologie die Tradition der Philosophia perennis eine große Rolle. Ausführlich dargestellt hatte er diese jedoch in seinen Praecognitorum philosophicorum libri II, die erst 1607 in Hanau publiziert waren. Vgl. zu Keckermann und den bibliographischen Daten Frank 2003, 175–220 und 355–358. Soner 1605, 78: „Ait enim, Deum suas causas habuisse, cur revelationem clariorem trium personarum distulerit ad adventum filii sui in carnem, ut nimirum agnosceremus hanc esse essentialem Dei imaginem, qua inspecta, totum mysterium Sacrosanctae Trinitatis possit evidenter nobis notum fieri.“
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Trinität geoffenbart, auch von den Aposteln sei dies nicht überliefert. Wenn in den hl. Schriften von den geoffenbarten Mysterien gehandelt wird, beziehe sich dies allein auf den göttlichen Willen. Über das Mysterium der Trinität und eine Offenbarung von drei Personen sei in den hl. Schriften nichts zu finden.28 Nun könne man gleichwohl einwenden, die Trinität sei eine Erkenntnis des Glaubens und keine Vernunfterkenntnis.29 Soner bezieht sich hier auf die trinitätstheologischen Debatten zwischen Bernhard von Clairvaux und Petrus Abaelard.30 In diesen Debatten hatte Bernhard seinem Gegner einen überhöhten Rationalismus in der Trinitätslehre vorgeworfen, sofern dieser die Methode der Dialektik auf die Lehre der Trinität angewandt habe.31 In dieser Kritik Bernhards sieht Soner eine antiphilosophische Tendenz, sofern dieser im Widerspruch mit den Philosophen stehe, die, indem sie auf platonische Weise über das Göttliche disputieren, auch eine vollkommene Erkenntnis dieses Mysteriums für sich in Anspruch nehmen.32 Ihm selbst aber geht es nicht um eine Erkenntnis des göttlichen Wesens, die jenseits der Fassungsgabe des menschlichen Ingeniums liege, sondern um die Erkenntnis des göttlichen Willens, wie er sich durch Christus und die Apostel erschließe.33 Beide Vorstellungsweisen, nichts zu glauben, was contra rationem sowie contra scripturam sei, gehört zweifellos zu den zentralen theologischen Prinzipien sozinianischer Theologie.34 Bei Soner findet sich jedoch noch ein drittes Prinzip, und zwar das der apostolischen Tradition, wenngleich in einer sehr selektiven Weise. Der Bezug zur apostolischen Tradition besteht im Symbolum Athanasianum, in dem die Trinität – von den meisten anerkannt, wie Soner ergänzt – mit eigentümlichen und bunten Bildern gezeichnet sei. Soner zitiert – terminologisch übrigens eng am Text – die trinitarischen Formulierungen im Umkreis der Bestimmung der einen Gottheit (deitas): „Es gibt nur eine Gottheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wie der Vater beschaffen ist, so auch der Sohn und der Heilige Geist, der ewige Vater, ewige Sohn, der 28
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Soner 1605, 79: „Si ad voluntatem & Patefactionem per verbum divinum respexeris, idem habes. Nunquam Christus aliqua Trinitatis mysteria auditoribus suis adque discipulis patefecit. Sed ne ipsi quidem Apostoli quicquam ea de re nobis reliquerunt. Quicquia in Sacris Literis de mysteriis revelatis agitur, illud totum de voluntate divina, […]. De Trinitatis autem mysterio nihil omnino sacrae prodiderunt Literae, necunquam nomine mysterii trium personarum revelatio, quae nulla est, appelatur a scriptoribus divinis.“ Ebd. 80: „Fatetur Bernhardus, se Trinitatem, quam non intelligit, credere.“ Vgl. zu dieser Debatte insgesamt und zu Bernhards trinitätstheologischen Überlegungen: Altermatt 1970; Stickelbroeck 1994; Hödl 1965; Gössmann 1980; Courth 1985, 30–50. Zum Einfluss Bernhards auf Luther, Zwingli und Calvin vgl. Ebeling 1966; Köpf 1994; Lane 1976; Reid 1978; Raitt 1981. So vor allem im Brief 190, in: Bernhard von Clairvaux 1992, 16–41. Soner 1605, 81: „Bernhardo tamen contradicere videntur Philosophorum mentes, qui de obiecto & intellectu Divino cum Platonicis disputantes, perfectam hujus mysterii cognitionem sibi vendicant.“ Soner 1605, 80: „Non essentiae, sed voluntatis divinae cognitionem per Christum & Apostolos assequuti sumus. Maiestas vero divinae Essentiae, […] extra humani ingenii captum est.“ So schon Fock 1847, 456–468.
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ewige Heilige Geist; dennoch dürfen nicht drei, sondern ein einziges ewiges (Wesen) geglaubt werden. Gott der Herr, der Sohn, der Herr, der Heilige Geist, der Herr, und dennoch sind es nicht drei Herren. So ist Gott der Vater, Gott der Sohn, Gott der Heilige Geist, dennoch sind sie nicht drei Götter, sondern ein Gott ist, durch den alles, die Einheit in der Dreiheit, die Dreiheit in der Einheit verehrt werden müsse.“35 Der Bezug auf das Symbolum Athanasianum dient hier unverkennbar der Legitimierung der eigenen Trinitätstheologie. Es sind jedoch noch zwei andere Beobachtungen, die sich von diesem Bezug aus nahe legen, zunächst das Athanasische Glaubensbekenntnis selbst. Dieses Glaubensbekenntnis galt lange Zeit neben dem Apostolischen Glaubensbekenntnis und dem Nicäno-Konstantinopolitanum zu den drei weit verbreiteten ökumenischen Glaubensbekenntnissen, das auf Athanasius von Alexandria zurückgehen soll.36 Anerkennung fand es auch unter protestantischen Theologen. Zweifel an der Autorschaft des Athanasius hatte erstmals der niederländische reformierte Gelehrte Gerhard Vossius in seiner Schrift Dissertationes tres de tribus symbolis, apostolico, Athanasiano, et Constantinopolitano angemeldet, die 1642 in Amsterdam erschienen war. Neben anderem erhoben sich Zweifel an der athanasianischen Urheberschaft aufgrund des bezeichnenden Fehlens eines für Athanasius besonders wichtigen Theologoumenons: die Wesensgleichheit (ὁμοουσιός), die Athanasius in den arianischen Streitigkeiten betont und auf diese Weise die Definition der Wesensgleichheit des Heiligen Geistes auf dem Konstantinopolitanum 381 vorbereitet hatte.37 Das Symbolum Athanasianum hingegen spricht „lediglich“ von der allem Göttlichen zukommenden deitas. Diese Beobachtung führt mich nun zu einer weiteren Bemerkung, die im Zusammenhang steht mit den Anfängen des Deismus. Schon in den frühesten Häretikerkatalogen, in denen sich seit den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts die Konfessionen gegenseitig indizierten, findet sich – mit Ausnahme des sozinianischen Häretikerkatalogs38 – das Lemma deistae39 oder deitae.40 Die Anfänge des Deismus liegen in zwei geographi35
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Soner 1605, 81 f.: „Patris & Filii & Spiritus Sancti unam esse deitatem. Qualis Pater, talem & filium & Spiritum Sanctum esse Aeternum patrem, aeternum filium, aeternum spiritum sanctum esse; nec tamen tres, sed unum aeternum credi oportere. Dominum Patrem, Dominum filium, dominum Spiritum Sanctum esse, nec tamen tres Dominos esse. Sic Deum patrem, Deum filium, Deum Spiritum Sanctum esse; nec tres tamen Deos; sed unum Deum esse per omnia, & unitatem in trinitate, & trinitatem in unitate venerandam esse.“ Der Originaltext des Athanasischen Glaubensbekenntnisses findet sich in: Denzinger/Hünermann 2009, 50 ff. Vgl. zum Folgenden ausführlich: Kelly 1964. Ausführlich hierzu: Kasper 1982, bes. 227–229; Courth 1998, 1493–1499. So findet sich in dem sozinianischen Häretikerkatalog von Johann Crell keinerlei Hinweis auf diese Gruppe von „Déistes“ oder „Deitae“, in: BFPU, 600–617. Zum Folgenden ausführlich Frank 1997. So findet sich in dem Index haereseon et errorum haereticorumque, der den Commentarii in quatuor Evangelistas des Juan de Maldonado aus dem Jahr 1578 beigefügt ist, der Hinweis: „Sigandum hic locus est adversus Arianos, quorum haeresis multis in locis ex Calvinismi ceno renascitur. Cum enim sciret cenus, Christum Filium esse Dei, eo
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schen Zentren in Europa, die aber gleichermaßen mit dem Namen der beiden Sozzini und anderer Sozinianer verbunden waren. Einerseits Lyon, wo nach Auskunft des reformierten Theologen Pierre Viret spätestens seit 1563 eine Gruppe von déistes gelebt hätte,41 andererseits aber auch Raków in der Nähe von Krakau, wo sich um 1565 eine Gruppe neuer Arianer gebildet hatte,42 die auch in ständigem Kontakt mit siebenbürgischen Gelehrten standen. Ohne hier auf die weitläufigen europäischen Diskussionen eingehen zu können, genügt der Hinweis, dass die Entwicklung in Polen mit dem Namen des leider wenig bekannten Krakauer Predigers Gregorius Pauli (Grzegorz Paweł , ca. 1526–1591) verbunden ist. Pauli hatte in Krakau, Königsberg und Wittenberg studiert und war seit 1556 Senior der kleinpolnischen (reformierten) Gemeinde.43 Pauli spielte auf dem Petrikauer Kolloquium von 1565 eine besondere Rolle. Dieses Kolloquium führte nicht nur zur Trennung von den calvinistischen Gemeinden in Polen, sondern Pauli selbst hatte möglicherweise diesen Bruch durch die Betonung eines strengen Unitarismus herbeigeführt. Seine beiden Hauptschriften Tabula de Trinitate, Pinczόw 1562, und Turris Babel, Frankfurt a. O. 1563, wurden sofort nach ihrem Erscheinen auf Anordnung des polnischen Königs verbrannt.44 Wir finden jedoch in Johann Wigands Schrift, die 1566 erschienen war und damit zeitlich am nächsten an diesen Ereignissen war, eine Zusammenfassung der trinitarischen Lehrmeinungen dieser Gruppe von Gelehrten. Im Zentrum ihrer Trinitätstheologie hätten dann folgende Überzeugungen gestanden: 1. Drei sind Vater, Sohn und Heiliger Geist, aber nicht drei Personen, 2. Die Natur oder Gottheit (deitas) ist eine einzige, gemeinsam jenen dreien, aber es gibt nicht ein einziges Wesen,
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modo, quo prophetae, & viri sancti Filii Dei appellantur“(Du Préau 1569, 139, dessen Quelle wiederum die Schrift von Johann Wigand ist; vgl. Anm. 42). In der Tabula haereseon des Pariser Theologen Franciscus Jordan aus dem Jahr 1581, die seiner Schrift Francisci Iordani Theologi Parisiensis ad Lambertum Danaeum Sabellainismo doctrinam de sancta Trinitate inficientem, responsio beigefügt ist, findet sich der Hinweis (ohne Paginierung): „Hominum alii sunt Deum quidem esse aliquem. Sed in illius explicatione graviter errant. Errorum alii Personas & Hypostases in divinis Tollunt, idque vel Verbis ipsis & apertè, quales Iudaei, Monarchitae, Deitae, Mahometani.“ Der Hinweis Virets auf diese Lyoner Gruppe von déistes findet sich in seiner Widmungsepistel der Instruction Chrestienne en la Doctrine de la Loy et de l’Evangile et en la vraye philosophie et theologie tant naturelle que supernaturelle des Christiens; Viret 1965. Wichtigste und früheste Quelle für diese polnische Gruppe ist die Schrift des lutherischen Theologen und Mitverfassers der Magdeburger Zenturien Johann Wigand (1523–1587) De Deo, contra Arianos novos, nuper in Polonia exorta, die 1566 erschienen ist. Zur Auswertung dieser Quellen vgl. Frank 1997. Zu Johann Wigand: Zedler 1748; Jöcher 1751, 1954–1956; Dingel 2004. All diesen biographischen Darstellungen ist jedoch diese Schrift Wigands unbekannt geblieben. Barnikol 1961, 163 f. Budzyk 1964, 55–57.
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3. Gott ist ein einziger, aber nur der Vater werde der einzige und wahre Gott genannt, der Sohn aber und der Heilige Geist werden nicht als jener einzige Gott bezeichnet.45 Von diesen drei Grundpositionen würden dann weitere Redeweisen abgeleitet. Die Betonung der Einzigkeit des göttlichen Wesens (deitas) scheint diesen Gelehrten ein besonderes Anliegen gewesen zu sein und hat von hier aus auch das terminologische Muster für das Werden des Deismus gebildet, wobei hier nicht entschieden werden kann, ob dieser Begriff als ein indizierter von den Gegnern erfunden wurde oder ob er gar eine Art Selbstbezeichnung war. Jedenfalls lässt sich nicht nur für Soner eine Relektüre der patristischen Trinitätstheologie nachweisen.46 Insbesondere Origenes und Tertullian sprachen verschiedentlich von Gott Vater als einziger Quelle der Gottheit (unus deitatis fons), ein Gesichtspunkt, der sowohl mit dem Subordinatianismus in den Trinitätsvorstellungen vor dem Konzil von Nicaea verbunden war als auch kompatibel ist mit der antitrinitarischen Formel Ernst Soners „Patris & Filii & Spiritus Sancti unam esse deitatem“ in ihrem Bezug auf das Symbolum Athanasianum.47 Seine Argumentation in ihrer Legitimation durch das Athanasianische Glaubensbekenntnis offenbart jedoch den Kern seiner Trinitätstheologie: in der Betonung der dem Vater, Sohn und Geist gemeinsamen und einzigen Gottheit (deitas) bei gleichzeitiger Bestreitung der drei biblisch scheinbar nicht belegten, distinkten innertrinitarischen Personen besteht dieser in einem tritheistischen Unitarismus.
4. Antitrinitarische Schriftkritik Schon in dem ersten, systematischen Teil seines Trinitätstraktats war deutlich geworden, dass nur das als heilsnotwendig geglaubt werden dürfe, was gleichzeitig biblisch begründet ist. Und da das Mysterium der Trinität weder in den Heiligen Schriften noch in der – allerdings verkürzten – apostolischen Tradition des Symbolum Athanasianum belegt zu sein scheint, ist für Soner klar, dass die Trinität nicht biblisch ist. Damit stellt sich nunmehr aber das zweite Problem, wie jene Stellen aus dem Neuen Testament zu interpretieren sind, die eine Trinität nahe zu legen scheinen. Die Exegese dieser neutestamentlichen Stellen ist deshalb Thema des zweiten Teils seines Trinitätstraktats, in dem Soner vier gegnerische, auf die Heiligen Schriften bezogene Einwände entkräften will.
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Wigand 1566, 132: „1. Tres esse, Patrem, Filium, & Spiritum sanctum, sed non esse tres personas. 2. Unam esse Naturam seu Deitatem, communem tribus illis, sed non esse unam Essentiam. 3. Unum esse Deum, sed tantum Patrem dici unicum & verum Deum, Filium vero & Spiritum sanctum, non dici unicum illum Deum.“ Vgl. die Hinweise bei Frank 1997, 223 und 226. Vgl. Denzinger/Hünermann 2009, 50 ff.
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4.1 Die Taufe Jesu (Mk 1, 9–11, Mt 3, 13–17, Lk 3, 21 f.) Die Taufe Jesu im Jordan durch Johannes wird sowohl im Markus- wie auch im Matthäus- und Lukas-Evangelium geschildert. Bei dieser Taufe sei der Geist Gottes in Gestalt einer Taube niedergefahren und die Stimme Gottes sei vernommen worden: dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe. Für Soner stellt sich hier die Aufgabe nachzuweisen, ob durch diese Stelle tatsächlich die Offenbarung des Mysteriums der Trinität durch Christus belegt sei oder nicht vielmehr die Geschichte der Taufe aufgezeigt werde. Wenn diese Vision jedoch Abbild einer Trinität wäre, müsste diesem Abbild auch eine Gleichheit von drei Personen entsprechen.48 Diese Stelle beweist nach Soner jedoch nicht, dass die Taufe die Offenbarung des Mysteriums der Trinität ist. Vielmehr zeige sie lediglich, dass der Heilige Geist ein Zeichen (signum) des Vaters ist, der selbst unsichtbar bleibt.49 So wie auch die Wolke beim Exodus des Volkes Israel lediglich Zeichen der göttlichen Präsenz, Tugend und Wirksamkeit ist, so lasse sich in der Vision der Taufe Jesu weder der Sohn noch der Heilige Geist als Person erweisen. Vielmehr: da das göttliche Wesen (die deitas) allen drei gemeinsam ist, folgt, dass die Person des Vaters wie des Sohnes in der Taube gewesen sei.50 Das heißt, in der Taufe offenbart sich nicht die Göttlichkeit des irdischen Christus, sondern die gemeinsame Göttlichkeit Gottes und des Sohnes, die im Zeichen der Taube sichtbar ist. Deshalb ist auch die Taufe Jesu kein Zeichen des Mysteriums der Trinität, sondern der Vater lege Zeugnis ab von seinem Sohn.51 Der Heilige Geist selbst sei in doppelter Hinsicht ein Zeichen (signum): einmal als Zeichen für die Verheißung des Johannes, andererseits als Zeichen für das beistehende Volk, das an Christus, geschmückt durch die Tugend des Heiligen Geistes, umso überzeugter glaube.52 Diese Argumentation heißt aber, dass Vater, Sohn und Heiliger Geist nicht nur innertrinitarisch identisch sind und gerade keine distinkten, unterschiedenen Personen darstellen, sondern auch heilsökonomisch: die Taube ist lediglich signum des innertrinitarischen Heiligen Geistes, während der historische Christus lediglich, durch die Tugend des innertrinitarischen Geistes ausgezeichnet, als ein ausgezeichneter Mensch gelten kann. 48 49
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Soner 1605, 85 f.: „Nam si aliquam hic aequalitatis suae imaginem Trinitas ferre debuit, necessum erat, ut visionis hujus imago responderet aequalitati trium personarum.“ Soner 1605, 87: „Neque aliud inde colligere possunt, quam signum Spiritus Sancti apparuisse, Patre de coelo clamante, Christo jam baptisato. Pater a nemine visus est. Spiritus Sancti signum fuit, quo a Johanne Christus spiritu sancti baptisans agnosceretur.“ Soner 1605, 87 f.: „At essentia communis est tribus personis, unde sequeretur patris quoque & filii personam in columba fuisse.“ Soner 1605, 88: „Notatu & illud dignum est, visionem spiritus sancti, & vocem Dei patris non eo fine factam esse, ut mysterium Trinitatis patefieret spectatoribus, sed longe ob alias causas; ut scilicet Pater testaretur de filio suo.“ Soner 1605,: „Propter Iohannem cui peculiariter promissum fuit: & adstantem populum, qui Christum spiritus sancti virtute ornatum fuisse tam aperto evictus argumento crederet.“
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4.2 Der Taufbefehl Jesu (Mt 28, 19) Der Taufbefehl Jesu am Ende des Matthäus-Evangeliums verwendet in der Aufforderung, in alle Welt hinauszugehen und die Völker zu taufen, ausdrücklich die trinitarische Formel: Taufet alle im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Hier müsse man jedoch – wie Soner einwendet – unterscheiden zwischen dem Befehl, die Völker im Namen dieser drei zu taufen, und der Offenbarung des Mysteriums der Trinität. Christus habe aber den Taufbefehl nicht erlassen, um dieses Mysterium zu offenbaren, sondern um die Taufe zu befehlen.53 Die Namens-Dreiheit der Taufformel führt Soner auf eine Namens-Allegorie zurück. So würden z. B. die Israeliten sagen, sie glauben an Gott und Mose, seinen Diener. Nicht selten würden auch Menschen in ihren Werken mit Gott verbunden. Diese Apposition konstituiere jedoch nicht die Personen.54 Unter Apposition versteht Soner hier wohl ein substantivisches Attribut, das sein eigentliches Beziehungswort näher bezeichnet, das heißt die eine Gottheit. Denn als Beispiele führt er an die Rede von Gott und der Predigt seiner Gnade oder die Rede vom Herrn und der Vollmacht seiner Tugend, die zwar miteinander verbunden sind, aber keine eigenständigen Personen begründen. Auch im Taufbefehl des Neuen Testaments handelt es sich schließlich – wie Soner zusammenfasst – um die Offenbarung Gottes selbst, das heißt seines Willens gegenüber den Menschen,55 und nicht des Mysteriums der Trinität. Neben dieser allegorischen Rede von der Trinität bezeichnet der Taufbefehl nach Soner eher die Wirkweise in der Taufe (modus operationis). In der Taufe ist Gott Vater selbst der Urheber des Heils, die vermittelnde Ursache liege in Christus, dem Sohn Gottes, die Weise der Erneuerung geschehe aber durch den Heiligen Geist.56 Deshalb bezeichne die trinitarische Taufformel nichts anderes als den Urheber, die vermittelnde Ursache und die Weise des Heils.
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Soner 1605, 88 f.: „Respondeo, aliud esse jubere gentes baptisare in horum trium nomine, aliud vero Mysterium Trinitatis revelare. Christus id fecisse, aiunt, in verbis baptisma instituentibus, at finis destinatus non erat, ut mysterium revelaret, sed ut baptismum imperaret […].“ Soner 1605, 89: „Res inanimae ad personas etiam apponuntur, nec tamen appositio ista personas constituit.“ Soner 1605, 89 f.: „Sic Christus manifestasse nomen Dei dicitur hominibus, quod perinde est, atque si scriptum esset, Christum manifestasse ipsum Deum, id est, voluntatem Dei hominibus.“ Soner 1605, 90: „Autor salutis est ipse Deus Pater, causa media Christus, Dei filius; modus vero est renovatio per spiritum sanctum.“
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4.3 Das ‚Comma Johannaeum‘ (1 Joh 5, 7) Mit dem sogenannten ‚Comma Johannaeum’57 greift Soner auf ein prominentes Beispiel des 16. Jahrhunderts zurück, das sich seit Erasmus von Rotterdam geradezu zu einer Affäre ausgeweitet hatte.58 Hier ist die Rede davon, dass es drei sind, die Zeugnis ablegen im Himmel: der Vater, das Wort und der Heilige Geist, und diese drei sind eins. Erasmus hatte in seinen Anmerkungen zum Neuen Testament diese Stelle aus philologischen Gründen als sekundär erwiesen, weil sie in den ältesten griechischen Handschriften nicht zu finden sei. Vor diesem Hintergrund hatten sich auch antitrinitarische Gelehrte wie Servet, Gribaldi, Biandrata und Fausto Sozzini häufig auf diese Stelle bezogen, auch wenn sie nie so weit gingen wie Erasmus oder auch Johannes Campanus,59 die beide ausdrücklich die Echtheit des ‚Comma Johanneum‘ bestritten hatten. Interessant genug, dass aus diesem Grund Erasmus von Luther höchstpersönlich als Arianer bezichtigt worden war, weil er durch seine zweideutigen Anmerkungen zum Neuen Testament der alten Häresie Vorschub geleistet hätte.60 Ernst Soner hält überraschenderweise an der Echtheit des ‚Comma Johanneum‘ fest,61 obwohl er die erasmianische Beobachtung teilt, dass dieser Vers bei älteren Autoren wie Gregor von Nazianz, Athanasius, Chrysostomus, Augustinus und Hieronymus fehle. Allerdings belege dieser nicht, dass Christus ein Mysterium der Trinität offenbart habe, sondern allein, dass Johannes Zeugnisse über die Einheit ausgesprochen habe.62 Damit bricht Soner die Diskussion abrupt ab, ohne selbst näher darauf einzugehen, wie dieser Widerspruch aufzulösen sei. Wichtig scheint ihm jedoch die abschließende Feststellung: was auch immer in allen Zeugnissen enthalten sei, nichts von allem könne mit dem Begriff des Mysteriums (der Trinität) bezeichnet werden.63
4.4 Das trinitarische Apostelwort des Timotheus-Briefes (1 Tim 3, 16) Als letzte biblische Stelle für einen vermeintlichen Beleg für das Mysterium der Trinität diskutiert Soner ein hymnisches Bekenntnis im ersten Timotheus-Brief: „Wahrhaftig, das Geheimnis unseres Glaubens ist groß: Er wurde offenbart im Fleisch, gerechtfertigt 57 58 59 60 61 62 63
Allgemein zum ‚Comma Johanneum‘: Greeven 1854; Klauck 1991, 303–311. Die Kontroverse um das ‚Comma Johanneum‘ in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts hat sehr detailliert und kenntnisreich Gilly 1985, bes. 277–298, rekonstruiert. Auf Johannes Campanus’ (1500–1575) antitrinitarische Neigungen hatte Melanchthon schon in einem Brief am 27. März 1530 an Mykonius hingewiesen (Melanchthon 1835, 33 f.). Vgl. hierzu Gilly 1985, 288. Soner 1605, 91: „Hic dico, versiculum hunc Apostoli esse.“ Soner 1605, 91: „Non igitur probatur hinc, Christum revelasse Trinitatis mysterium, sed tantum, Johannem de testimonii unitate loqui.“ Soner 1605, 92: „Denique certum est, quicquid in testimoniis jam expensis continetur, nihil horum appellari nomine mysterii […].“
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durch den Geist, geschaut von den Engeln, verkündet unter den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.“64 Diese Stelle scheine zunächst zwar das Mysterium der Inkarnation zu zeigen, nicht jedoch der Trinität, was auch diejenigen einräumen würden (Soner bezieht sich hier möglicherweise auf die eigenen antitrinitarischen Positionen), die eine Trinität nicht anerkennen würden.65 Auch wenn die Inkarnation selbst als Mysterium bezeichnet werden könne, folge daraus jedoch nicht eine Offenbarung der Personen der Gottheit (deitas), denn es fehle die dritte Person, die hier vom Apostel gerade nicht erwähnt werde.66 Außerdem würde dies nach Soner auf eine Dualität der Gottheit hinauslaufen, was der Häresie der Semiarianer entsprechen würde. Die Frage ist vielmehr, worauf sich das Mysterium bezieht, wovon der Apostel spricht. Nach Soner spreche dieser weder über das Mysterium der Inkarnation noch der Trinität, sondern vom Mysterium der Frömmigkeit, das erkannt werden solle.67 Was hier also als Mysterium anzusehen ist, ist allein die pietas, die letztlich identisch ist mit der religio Christiana, die auf die pietas als ihr Fundament zurückbezogen werde.68
5. Bilanz und Ausblick Versuchen wir abschließend eine kurze Bilanz der theologischen Argumentationen in Soners Trinitätstraktat: 1. Nach Soner ist die Natur oder Gottheit (deitas) eine einzige, die gemeinsam jenen drei sei: Vater, Sohn und Heiligem Geist. 2. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind in dieser einen Gottheit drei, aber nicht drei Personen. 3. Gott ist ein einziger, genau genommen werde aber nur der Vater der einzige und wahre Gott genannt, der irdische Christus wird, ausgezeichnet durch die besonderen Gaben des Geistes, ein ausgezeichneter Mensch, der Heilige Geist ist die Gabe Gottes, das heißt seine Tugend.
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Zitiert nach der Einheitsübersetzung. Soner 1605, 92: „Illud tantum sequeretur, incarnationem hanc mysterium vocari, quam etiam, ut mox dicam, admittunt, qui Trinitatem non agnoscunt.“ Soner 1605, 93: „Rursum etiamsi daretur, per manifestationem in carne intelligi posse incarnationem, atque hanc nomine mysterii insigniri, sequi tamen non potest, plures esse personas deitatis, easdemque revelatas. Desideratur tertia persona […] cujus mentio nulla fit hoc loco ab Apostolo.“ Soner 1605, 94: „Hoc vero Apostoli complexum totum in se consideratum pro mysterio pietatis in agno agnosci debet.“ Soner 1605, 95: „Addit vocem pietatis, quae nihil est aliud, quam religio Christiana, quae tota in pietatis recumbit fundamento.“
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4. das Neue Testament ist nicht die Offenbarung des Mysteriums einer Trinität, sondern des göttlichen Willens gegenüber den Menschen, den Weg des Heils zu suchen und zu finden. Damit zeigt sich, das Soners trinitarische Grundaussagen ziemlich nahe jenen Positionen sind, die Johann Wigand 1566 für die polnische Gruppe der Unitarier um Gregorius Pauli namhaft gemacht hatte. Systematisch gesehen, ist Soners Trinitätsbegriff eine leere und bloße terminologische Formel, und zwar sowohl innertrinitarisch wie auch heilsökonomisch. Innertrinitarisch sind Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist gerade nicht als distinkte Personen unterschieden, sondern sie sind der eine Gott. Heilsökonomisch wirken folglich auch nicht die innertrinitarischen göttlichen Personen, sondern die eine Gottheit wirkt als Heiliger Geist heilsökonomisch und stellt als dessen besondere Gaben die herausragende Stellung des historischen Christus heraus. Man kann eine solche Position Soners einen tritheistischen Unitarismus nennen, allerdings ist – da die trinitarischen Formeln äußerlich sind – der Weg zu einem strengen Unitarismus nur ein kleiner, ein Katzensprung. Möglicherweise diente die trinitarische Terminologie jedoch auch der Legitimierung seiner trinitätstheologischen Heterodoxie, so dass diese einem bloß oberflächlichen Leser verborgen bleiben musste. Soners Trinitätstraktat gibt jedoch einen guten Einblick in das intellektuelle Klima dieser um die Trinität kreisenden Debatten. Die trinitarische Terminologie konnte den theologischen Debatten noch den Anschein einer gewissen Orthodoxie verleihen. Systematisch notwendig war diese jedoch nicht. Diese Konsequenz zog dann auch einer der bedeutendsten Schüler Soners, Johannes Crell (1590–1633). Crell wurde im Jahr 1606 in Altdorf immatrikuliert und hörte dort bei Soner. Wenige Monate nach dem Tod seines Lehrers im November 1612 flüchtete er nach Polen und wurde Prediger der Gemeinde in Raków. Sein theologisches Hauptwerk in diesen Debatten, das erstmals 1631 erschienen war und 1645 auch in einer deutschen Übersetzung erschien, trägt den Titel De Uno Deo Patre Libri. Als Ziel dieses Werkes nennt Crell selbst den Erweis, dass der höchste Gott kein anderer sei als der Vater unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus. Die beiden Teile des Buches spiegeln gleichzeitig die Prinzipien dieser Theologie wider: das erste Buch behandelt die Schriftzeugnisse und die Argumente, die daraus gewonnen würden, das zweite Buch schließlich die geeigneten Vernunftgründe, um die Positionen der Gegner zu widerlegen.69 Crell hatte in seinem unitarischen Traktat letztlich nur noch die Konsequenzen gezogen, die in den theologischen Positionen seines Lehrers vorgegeben waren.
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Crell 1656, 3: „Scopus et Distributio hujus Operis. Scopus hujus operis nostri est ostendere, Deum summum nullum esse alium, praeter Patrem Domini ac Servatoris nostri Jesu Christi. Opus autem totum in duos partiemur libros. In priori sacrarum literarum testimoniis, atque argumentis inde ductis, sententiam nostram firmabimus. In posteriori aliis idoneis rationbus ad eandem probandam, contrariamque refellendam utemur.“
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Der Fall Vorstius
1. Einleitung Conrad Vorstius wurde am 19. Juli 1569 in Köln geboren und katholisch getauft. Sein Vater entstammte der alten niederländischen Familie van den Vorst. Da die Familie zum reformierten Glauben übertrat, erhielt der junge Vorstius seine erste Schulbildung bei einem reformierten Lehrer in Köln. 1578 wechselte er nach Bedburg, wo er in Latein, Griechisch, Rhetorik und Logik unterrichtet wurde. Bedburg unterstand dem Grafen Adolf von Neuenahr, der hier die reformierte Lehre eingeführt hatte. Die Lateinschule in Bedburg wurde 1583 geschlossen, und zwar zu Beginn des Kölnischen Krieges. Der Krieg war durch den Versuch des Kölner Erzbischofs Gebhard I. von Waldburg ausgelöst worden, sein Erzstift in ein protestantisches weltliches Fürstentum umzuwandeln. Dabei wurde er vom Grafen von Neuenahr unterstützt, was zur Folge hatte, dass katholische Truppen die Herrschaft Bedburg 1585 eroberten und rekatholisierten. Vorstius besuchte dann ab 1583 die Lateinschule in Düsseldorf, der Residenz der den Protestantismus tolerierenden Herzöge von Jülich-Kleve-Berg, und schloss seine Schullaufbahn 1586 an der Lateinschule in Aachen ab, das damals, kurz vor der vom Kaiser erzwungenen Rekatholisierung, von einem protestantischen Rat regiert wurde. Danach kehrte Vorstius nach Köln zurück und schrieb sich am dortigen Gymnasium Laurentianum für den Cursus philosophicus ein. Bereits 1587 verließ er die Schule wieder, und zwar ohne einen Magistergrad erworben zu haben, da dies eine Vereidigung auf die Konzilsbeschlüsse von Trient erfordert hätte. Die Kriegswirren und die Rekatholisierung Kölns hatten die Eltern inzwischen in wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht – der Vater war Wollweber und Kaufmann –, so dass sich Vorstius zwei Jahre auf der Kölner Schola Arithmetica kaufmännische Kenntnisse aneignete, bevor er sich für das Studium der reformierten Theologie entschied. Er konsultierte den Prediger Johann Badius, der seit 1578 die durch die Gegenreformation in den Untergrund abgedrängte deutsche reformierte Gemeinde in Köln leitete und zugleich auf der Jülicher Synode 1589 das reformierte Bergische Kirchenwesen organisierte. Badius empfahl Vorstius als Studienort die Hohe Schule in Herborn, wo er sich 1589
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einschrieb. Die Herborner Hohe Schule war erst kurz zuvor, 1584, gegründet worden. Notwendig geworden war sie nach der 1577 unter Johann VI. vollzogenen Einführung des Calvinismus in der Grafschaft Nassau, die dynastisch mit den holländischen Oraniern verbunden war. Denn nun war man auf calvinistische Pfarrer und Lehrer angewiesen, die nach der vorübergehenden Relutheranisierung der Pfalz auch nicht mehr im nahen Heidelberg ausgebildet werden konnten.1 Als Vorstius an die Herborner Johannea kam, war die erste theologische Professur nach dem Tode Caspar Olevians 1587 mit Johannes Piscator besetzt worden, der zuvor die erste philosophische Professur innegehabt hatte. Von Herborn wechselte Vorstius schließlich an die inzwischen wieder reformiert gewordene Heidelberger Universität, an der er sich am 18. April 1593 immatrikulierte. Theologie studierte er hier bei dem aus Frankreich stammenden Daniel Tossanus und dem Schlesier David Pareus, und am 4. Juli 1594 wurde er von dem niederländischen Theologen Jacobus Kimedocius zum Doktor der Theologie promoviert. Die anschließende Studienreise führte ihn 1595 nach Basel und Genf, wo er sich jeweils immatrikulierte. In Genf hielt er theologische Vorlesungen, die dazu beitrugen, dass man ihm 1596 eine Professur an der dortigen Akademie antrug. Er schlug das Angebot aber zugunsten einer Professur im westfälischen Steinfurt aus, wohin er zum selben Zeitpunkt durch Vermittlung seines Heidelberger Lehrers Pareus berufen wurde. Nachdem er sich von Beza zum reformierten Pfarrer hatte ordinieren lassen, brach er nach Steinfurt auf, das er im Mai 1596 erreichte. Steinfurt war 1591 von Graf Arnold IV. von Bentheim, der 1587 zum Calvinismus konvertiert war, als Gymnasium illustre gegründet worden und an die Stelle einer seit 1588 existierenden Trivialschule im benachbarten Schüttorf getreten. Mit Schüttorf und Steinfurt wollte der Graf ein protestantisches Gegengewicht zum Jesuitengymnasium in Münster, dem Paulinum, schaffen.2 Organisiert wurde das Gymnasium Arnoldinum nach Herborner Vorbild, da zwischen Bentheim und Nassau enge Beziehungen bestanden, seit Graf Arnold seine Söhne zur Ausbildung an die Johannea geschickt hatte. Zum ersten Rektor wurde der Herborner Jurist Johannes Althusius berufen, der allerdings schon 1595 wieder nach Herborn zurückkehrte. Von Herborn übernahm man auch die Ausrichtung an der praxisbezogenen ramistischen Wissenschaftstheorie. Mit Clemens Timpler verfügte man zudem über einen bedeutenden Philosophen, der 1595 von Heidelberg nach Steinfurt berufen wurde und hier seine Lehrbücher zur Metaphysik und zu fast allen anderen philosophischen Disziplinen schrieb. Als man schließlich 1596 noch den aufstrebenden Conrad Vorstius gewinnen konnte, der immerhin einen Ruf nach Genf, in das Zentrum des Calvinismus, ausgeschlagen hatte, war auch der vakante Lehrstuhl für Theologie hervorragend besetzt. Die Anfänge des Arnoldinum waren also durchaus vielversprechend. Allerdings setzte bereits mit dem Tode seines Gründers unter dessen Söhnen der rasche Niedergang Steinfurts ein, wobei 1 2
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nicht nur das wissenschaftliche Desinteresse der Grafensöhne und die Verwicklung der Grafschaft in die niederländisch-spanischen Auseinandersetzungen eine Rolle spielten, sondern gerade auch der Fall Conrad Vorstius.
2. Die Professur in Steinfurt und die Heidelberger Disputation Vorstius wirkte in Steinfurt nicht nur als Professor der Theologie, sondern ab 1598 für zwei Jahre auch als Erzieher der drei jüngsten Grafensöhne. 1605 hielt er seine erste Predigt in der Großen Kirche, an der er dann regelmäßig als Prediger tätig war. Als Graf Arnold 1606 starb, war es Vorstius, der in Bentheim die Trost- und Leichenpredigt beim Begräbnis hielt. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings seine calvinistische Orthodoxie schon längst nicht mehr unangefochten. Bereits am 27. Juni 1598 hatte sich sein Mentor Pareus brieflich an Vorstius gewandt, weil ihm zu Ohren gekommen sei, dass er erst von den Sozinianern gelernt habe, recht zu theologisieren. Denn die evangelischen Lehrer hielten allzu viel, was unsicher sei, für gewiss, und vieles für gewiss, was falsch sei.3 Pareus stützt seinen Verdacht nicht zuletzt auf einige Thesen, die Vorstius kurz zuvor seinem Kollegen Tossanus zugesandt hatte. Dass Vorstius von der orthodoxen calvinistischen Lehrmeinung abweicht, zeigt er an mehreren Punkten. Denn zum einen leugne er die wesenhafte Gerechtigkeit Gottes, mit der er den Sünder strafe und den Guten gewogen sei. Zum andern bestreite er, dass Christus nicht die ganze uns zugedachte Strafe, nämlich den ewigen Tod, erlitten habe und stelle damit die Satisfaktionslehre in Frage, die ja ihrerseits die wesenhafte Gerechtigkeit Gottes voraussetze. Und schließlich habe dies Folgen für die Rechtfertigungslehre. Denn Vorstius verstehe unter dem für die Rechtfertigung relevanten Glauben nicht das volle Vertrauen, dass Christus für uns den ewigen Tod und alle Strafen der Verdammten erlitten habe, sondern den im Vertrauen geleisteten Gehorsam gegenüber Christus und Gott. Auch sei bei ihm die Bekehrung der Sündenvergebung nicht nach-, sondern vorgeordnet. Pareus sah damit das Fundament der orthodoxen Soteriologie untergraben. Denn mit dem unendlichen, ewigen Tod, den Christus an unserer Stelle erleide, falle nicht nur die Satisfaktion, sondern auch die unendliche Schuld des Menschen und die unendliche Natur Christi, so dass Christus schließlich nur noch durch sein Vorbild Erlöser sei. Damit aber sei die Position Fausto Sozzinis erreicht, wonach Gott nach seiner Güte beschlossen, durch Christus bekannt gemacht und durch dessen Vorbild erleichtert hat, allen reuigen und gehorsamen Menschen das ewige Leben zu schenken. An Christus glauben heiße für Sozzini, dass man sich auf das Gebot Christi hin aus freiem Willen bekehre und gute Werke tue. Die Sünde verliere hier ihre Härte und Christus seine göttliche Natur, und damit werde zugleich die göttliche Gnade verringert und die 3
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Fähigkeit des Menschen gesteigert. Vorstius begebe sich in die Arme Sozzinis, wenn er die Satisfaktion als etwas betrachte, was nicht in der wesenhaften Gerechtigkeit, sondern in einem freien Dekret Gottes begründet sei, und wenn er darüber hinaus Christus nicht den ewigen Tod erleiden lasse. Der ewige Tod, den Christus laut Pareus leidet, ist die unendliche Höllenqual mit der Gottverlassenheit. Wenn Vorstius schließlich erkläre, dass die Satisfaktionslehre die schriftwidrige Auffassung impliziere, dass uns die Sünden ohne jede Reue vergeben würden, so sei dies keineswegs schriftwidrig. Vielmehr gehöre der Glaube ebenso notwendig zur Annahme des Heils wie die Liebe zur Dankbarkeit.4 Abschließend erklärt Pareus, dass alles das, was Vorstius vorbringe, sozinianische Theologie sei, die nicht aus dem Evangelium Jesu Christi stamme, sondern von einem unglücklichen Gehirn gedichtet worden sei. Sie mache aus dem allein wahren Gott einen homerischen Jupiter, der sich auch nicht um die Missetaten des Menschen bemühe. Zudem werde Christus seiner ewigen göttlichen Natur und seines Mittleramtes beraubt und die Schrecklichkeit der Sünde ebenso wie die Größe der Gnade Gottes geleugnet.5 Am Schluss seines Briefes beschwört Pareus Vorstius bei der Herrlichkeit des gerechten Gottes, der allerheiligsten und allervollkommensten Genugtuung des Sohnes Gottes, bei seinen Wunden und seinem Tod sowie bei seinem ewigen Heil, Sozzini, den Nachfolger des Paul von Samosata, nicht allen orthodoxen Theologen vorzuziehen.6 In seinem Antwortschreiben an die Heidelberger Theologen vom 27. Juli 1598 wehrt sich Vorstius vehement gegen den Sozinianismusverdacht, ohne zu bestreiten, dass das Studium der Schriften Sozzinis ihn dazu veranlasst habe, über mehrere Punkte genauer nachzudenken. Denn nicht die Übereinstimmung unter den Lehrern der Kirche sei entscheidend, sondern die alleinige Ausrichtung der Theologie an der Schrift, und gerade für diese exklusive Schriftorientierung als eigentliche Konsequenz der Reformation habe ihm Fausto Sozzini die Augen geöffnet. Dieser formale, methodische Ansatz der Theologie führt Vorstius aber zu einer inhaltlichen Kritik an der von der calvinistischen Orthodoxie übernommenen traditionellen Satisfaktionslehre, wobei er zugleich versucht, sich von der sozinianischen Kritik an der christologischen Zweinaturenlehre abzugrenzen. Was er bestreitet, ist zunächst nur die These von der absoluten Notwendigkeit der Satisfaktion Christi. Dass er die Satisfaktion nicht für absolut notwendig halte, um die Sündenvergebung zu erlangen, führe aber keineswegs zur Aufhebung der Gottheit Christi. Doch dass Christus Gott und Mensch sei, das sei wie die Satisfaktion selbst ausschließlich im göttlichen Ratschluss oder Dekret begründet. Denn schließlich hätte Gott uns auch auf andere Art und Weise die Sünde vergeben können. Vorstius beruft sich für diese Argumentation, die mit der Unterscheidung von absoluter und geordneter Macht, absoluter und hypothetischer Notwendigkeit operiert, auf die Tradition. Daher sieht er sich auch zu der These berechtigt, 4 5 6
Schweizer 1856b, 155 ff. van t’Spijker, 211. van t’Spijker, 212.
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dass die Satisfaktion Ausdruck nicht der wesenhaften, sondern der gewollten Gerechtigkeit Gottes sei. Es ist nicht in Gottes Wesen begründet, dass er die Sünde nur aufgrund einer Satisfaktionsleistung vergeben kann, sondern er vergibt sie aufgrund einer solchen Leistung, weil er sich frei dafür entschieden hat, und diese Entscheidung ist gerecht. Was die Satisfaktion selbst angehe, so sei sie zwar hinsichtlich ihrer Form voll und ausreichend, und zwar wegen der gottmenschlichen Würde Christi und der höchsten Liebe, die er im qualvollen Gehorsam bewiesen habe. Voll und ausreichend sei sie auch hinsichtlich des gnädigen Willens des Vaters, der den Tod Christi als Lösegeld annehme. Nicht voll und ausreichend sei sie jedoch nach der Natur der Sache selbst und der Natur des Rechts, weil Christus eben nicht den ewigen Tod und alle Qualen der Verdammten, sondern nur einen zeitlichen Tod ohne völlige Verzweiflung erlitten habe. Christus habe so mit dem zeitlichen den ewigen Tod dank der gütigen Akzeptation durch den Vater besiegt. Es besteht also – anders als dies die traditionelle Satisfaktionslehre unterstellt – keine wirkliche Äquivalenz zwischen der über den Menschen verhängten Sündenstrafe und der von Christus satisfaktorisch übernommenen Strafe. Auch im Hinblick auf die Rechtfertigung wollte Vorstius keine Abweichung von der schriftgemäßen Lehre erkennen. Zwar sei die Frucht der Satisfaktion die Sündenvergebung und das ewige Heil, die dem Menschen jedoch nur unter der Voraussetzung des wahren Glaubens zugeeignet würden. Zum wahren Glauben aber gehörten die Bekehrung zu Gott und der Gehorsam ihm gegenüber, die zwar nicht verdienstvoll, wohl aber notwendig seien, da Christus uns nicht nur zur Vergebung, sondern auch zur Heiligung gegeben sei.7 Daher gehe die wirksame Berufung zu Glauben, Buße, Bekehrung und Gehorsam der Rechtfertigung voran. Auch im weiteren Briefwechsel nicht nur mit den Heidelbergern, sondern ebenso mit den Baseler Theologen Johann Jakob Grynaeus und Amandus Polanus von Polansdorf, die die Heidelberger Kollegen um ihr Urteil gebeten hatten, wehrt sich Vorstius zwar entschieden gegen den Sozinianismusverdacht und distanziert sich ausdrücklich von Sozzinis Ansichten über Person und Werk Christi, Glauben und Rechtfertigung. Aber an seiner Grundauffassung hält er gleichwohl fest, auch wenn die Baseler Theologen ihm vorhalten, dass seine Spekulationen über die absolute Macht Gottes keinen Anhalt in der Schrift hätten und er sich derartiger scholastischer Hypothesen enthalten und an die in der Schrift gegründete Kirchenlehre halten möge. Schließlich begab Vorstius sich auf Drängen des Grafen von Bentheim selbst nach Heidelberg, wo er von Pareus, Tossanus, Reuter und Pezel auf seine Orthodoxie hin überprüft wurde. Pareus und Tossanus waren seine alten Lehrer, Quirinus Reuter war der neue Leiter des Heidelberger Sapienzkollegs, und Christoph Pezel hatte man aus Bremen hinzugezogen, wo er seit 1585 als Superintendent und Professor am Gymnasium illustre wirkte. Am 26. September 1599 musste er vor der Theologischen Fakultät der Ruperto-Carola Rechenschaft ablegen über seine theologische Position. 7
Schweizer 1856b, 159 ff.
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Von Seiten der Fakultät wurde er unter Berufung auf das Wort Gottes und die in den reformierten Kirchen rezipierte Lehre ermahnt, nicht vom wahren Sinn des Katechismus und des Bekenntnisses abzuweichen. Vorstius musste einräumen, dass er in seinen Ansichten über das Wesen Gottes und die Satisfaktion Christi sich zeitweilig von häretischen arianischen und sozinianischen Ansichten habe beeinflussen lassen und dadurch in Widerspruch zur reformierten Lehre geraten sei, auf die er bei seiner Promotion doch verpflichtet worden sei. Nachdem er bedauert hatte, sozinianische Gedanken aufgenommen zu haben, musste er versprechen, in Zukunft keine sozinianische Ideen mehr zu verarbeiten, sondern sich an den Heidelberger Katechismus zu halten. Daraufhin erklärten ihn die Heidelberger Theologen für orthodox. In Steinfurt zeigte man sich schließlich beruhigt, und aktenmäßig hielt man fest, worauf sich Vorstius und die Pfarrer der Grafschaft in drei Punkten lehrmäßig geeinigt hatten. Danach soll erstens über die Notwendigkeit der Satisfaktion Christi gelehrt werden, dass die erste Ursache der Satisfaktion das Wohlgefallen Gottes sei. Man dürfe daher nicht nach einer höheren Ursache suchen und solle auch nicht fragen, ob es Gott möglich gewesen wäre, die Sünden auf eine andere Weise als durch Satisfaktion zu vergeben. Der zweite Punkt betrifft die Suffizienz der Satisfaktion. Notwendig sei es zu glauben, dass Christus durch sein Leiden und seinen Tod die ewigen Sündenstrafen der Menschheit übernommen habe. Hingegen solle man nicht danach forschen, wie weit denn die Ängste Christi bei der Kreuzigung reichten. Ausgeblendet werden soll demnach die Frage, ob denn die von Christus am Kreuz erlittene Angst der Gottverlassenheit tatsächlich ein volles Äquivalent zu den ewigen Höllenstrafen sei, die alle Menschen aufgrund ihrer Sünde zu gewärtigen haben. Im dritten Punkt schließlich geht es um die Frucht und Wirkung der Satisfaktion. Die Wirkung existiere nicht in unbußfertigen Erwachsenen, solange sie nicht umkehren und glauben. Der wahre Glaube sei aber notwendigerweise mit der Buße und Umkehr verbunden. Zeitgleich mit dem Glauben finde aber auch die Rechtfertigung statt. Sachlich gesehen sei der Glaube allerdings insofern früher, das heißt der Rechtfertigung vorgeordnet, als es sich bei ihm um die Mittelursache der Rechtfertigung handle. Denn gerechtfertigt wird der bußfertige Sünder nur durch den Glauben oder im Glauben. Aber in Bezug auf den ewigen Ratschluss Gottes und das Verdienst Christi gehe die Rechtfertigung nicht nur dem Glauben des einzelnen Menschen, sondern als Teil des ewigen Dekrets natürlich auch dessen Geburt voraus.
3. Die Berufung nach Leiden und der Angriff von Lubbertus Nach dieser Klärung der strittigen Punkte hatte sich die Lage in Steinfurt beruhigt. Die reformierte Orthodoxie von Vorstius schien durch das Heidelberger Gespräch, seine Selbstverpflichtung auf die reformierte Lehre und die Einigung mit den Pfarrern der
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Grafschaft hinreichend gewährleistet. Die Kunde vom Sozinianismusverdacht, der gegen ihn vorgebracht worden war, hatte sich allerdings bis nach Polen verbreitet, so dass er 1601 einen Ruf nach Luclawitz, den Sterbeort Fausto Sozzinis, erhielt, den er ebenso ablehnte wie spätere ehrenvolle Rufe nach Saumur 1602, Marburg 1605 und Hanau 1606. Schaut man sich die Liste seiner Publikationen aus diesen Jahren an, gewinnt man den Eindruck, dass er sich vornehmlich auf das kontroverstheologische Gebiet konzentriert habe. Gedruckt wurden seine Schriften, die vielfach aus Disputationen hervorgingen, von Theophil Caesar, der 1597 als Schulbuchdrucker in Steinfurt eingestellt worden war. Unter den Schriften findet sich unter anderem ein Enchiridion controversiarum; seu index errorum ecclesiae Romanae (1604), in dem sich die vermeintlichen Irrtümer der katholischen Kirche aufgelistet finden, die Vorstius aus den Disputationen Bellarmins exzerpiert hatte. In der Apologia pro ecclesiis orthodoxis (1607) wird der reformierte Glaube gegen Angriffe verteidigt, die die Münsteraner Jesuiten in ihrem Werk Credo Calvinisequarum vorgebracht hatten. 1609 wird die Apologie gegen erneute Kritik der Jesuiten verteidigt und im reformierten Hanau gedruckt. Und 1610 erscheint gleichfalls in Hanau das Werk Anti-Bellarminus contractus, eine umfassende Auseinandersetzung mit den zwischen Evangelischen und Römern strittigen Fragen, wiederum orientiert an Bellarmin, dem bedeutendsten katholischen Kontroverstheologen der Zeit. Das Werk enthielt eine Epistola dedicatoria mit Datum vom 20. Januar 1610 an die Generalstaaten der Vereinigten Niederlande. Nun wurden die niederländischen Reformierten, wurden vor allem die Remonstranten und die Universität Leiden, auf Vorstius aufmerksam. Durch den Tod von Jacobus Arminius am 19. Oktober 1609 war dort eine theologische Professur vakant. Sie wurde auf Vorschlag von Johannes Wtenbogaert von den Kuratoren der Universität im Sommer 1610 Vorstius angeboten. Dabei spielte es eine Rolle, dass die Remonstranten aufgrund der Dedikation seines Anti-Bellarminus an die Generalstaaten Vorstius als einen Verteidiger des staatlichen Einflusses auf die Kirche und der Toleranz betrachteten. Allerdings war Wtenbogaert zu diesem Zeitpunkt noch davon überzeugt, dass Vorstius in der Prädestinationsfrage eher die kontraremonstrantische Auffassung vertrat.8 Am 8. Juli 1610 wurden Abgesandte der Universität in Steinfurt vorstellig, und im September begab sich Vorstius selbst nach Leiden, um die Berufungsverhandlungen zu führen. Nach den Verhandlungen kehrte Vorstius noch einmal nach Steinfurt zurück, um seine Vorlesungstätigkeit wieder aufzunehmen. Doch mit seiner Berufung nach Leiden wurde er in den dort schwelenden Konflikt zwischen Remonstranten und Kontraremonstranten hineingezogen. Denn Wtenbogaert, auf den der Vorschlag, ihn zu berufen, zurückging, war führender Remonstrant, so dass sich die orthodox calvinistischen Kontraremonstranten sofort gegen Vorstius wandten. Zum Zeitpunkt seiner Berufung 1610 gab Vorstius mehrere Disputationen, die er bereits 1602 in Steinfurt gehalten hatte und die 1606 unter dem Titel Tractatus theologicus de Deo, sive de 8
Grotius 1995, 258 f.
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natura et attributis Dei publiziert worden waren, neu heraus und versah sie mit umfangreichen Anmerkungen. Gleichfalls noch in Steinfurt veranstaltete er eine Neuauflage des Traktats De auctoritate sanctae scripturae von Fausto Sozzini. Der Traktat war 1588 pseudonym unter dem Namen des Jesuiten Domenico Lopez erschienen. Zwar bestritt Vorstius später, den wahren Verfasser gekannt zu haben, räumte aber ein, dass er in dem Traktat nichts Häretisches erkennen könne, da sein Autor nur zeigen wolle, dass und inwiefern das Alte und Neue Testament Gottes Wort seien. Sozzini wich in dem Traktat allerdings entschieden von der orthodoxen calvinistischen Auffassung ab, dass die Schrift das Ergebnis einer wörtlichen Inspiration und daher mit göttlicher Autorität ausgestattet sei. Die beiden Publikationen bestärkten die Kontraremonstranten nur in ihrer Ablehnung der Berufung von Vorstius. Zumal im Traktat über Gottes Wesen und Eigenschaften glaubten sie sozinianisches Gedankengut zu entdecken. Tatsächlich weicht Vorstius in der Lehre von Gottes Wesen und seinen Attributen in zahlreichen Punkten von der orthodoxen calvinistischen Auffassung ab. Wie bereits aus seiner Kritik der Satisfaktionslehre ersichtlich ist, ist für Vorstius die Unterscheidung zwischen dem, was Gott seinem Wesen nach ist und will, und dem, was er nicht seinem Wesen nach, sondern aufgrund seiner freien Entscheidung will und tut, grundlegend. Zwar wolle Gott seinem Wesen nach sich selbst, aber alles außerhalb seiner wolle er nur auf nicht in seinem Wesen begründete, willkürliche und daher kontingente Weise. Für Vorstius gehören alle Außenbeziehungen Gottes nicht zu dessen Wesen hinzu. Von daher und weil er von der Prämisse ausgeht, dass man von Gott nichts aussagen könne, als was die Schrift uns lehrt, gelangt er zudem zu einer Modifikation der traditionellen Lehre von den Eigenschaften Gottes. So finde sich die Eigenschaft der Einfachheit Gottes nicht in der Schrift, und wenn Gottes nach außen gerichtete Ratschlüsse kontingent seien, müsse in Gott auch ein realer Unterschied zwischen Wesen und Willen angenommen werden. Damit widerspricht er aber der orthodoxen Lehre von der Einfachheit Gottes. Auch die traditionelle Charakterisierung der Ewigkeit Gottes stimme nicht mit dem Zeugnis der Schrift überein, die die Ewigkeit doch nicht als ein zeitübergreifendes unteilbares stehendes Jetzt, als nunc stans fasse, sondern in ihr gerade im Hinblick auf die Außenbeziehungen Gottes eine Sukzession, ein Vorher und Nachher annehme. Die Ewigkeit Gottes lasse sich daher nicht völlig von der sukzessiven Dauer trennen, sondern beinhalte nur, dass Gott ohne Anfang und Ende existiere. Wie die traditionelle Bestimmung der Ewigkeit kritisiert Vorstius auch die der Ubiquität Gottes. Seinem Wesen nach existiert Gott für ihn im Himmel, so dass er essentiell nicht überall, sondern im Himmel gegenwärtig sei. Zwar bestreitet Vorstius die göttliche Allgegenwart nicht generell. Aber allgegenwärtig ist Gott nicht seinem Wesen, sondern nur seiner Kraft und Macht nach, so wie die Sonne wesensmäßig im Himmel und nur ihrer Kraft und Macht nach auch anderswo gegenwärtig ist. Für eine wesentliche Allgegenwart Gottes gebe es in der Schrift keinerlei Beleg. Daher könne man auch nicht von einer wesentlichen Unendlichkeit Gottes sprechen, sondern unendlich sei Gott gleichfalls nur seiner Kraft und Macht nach. Darüber hinaus gelangt
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Vorstius zu einer Kritik der herkömmlichen Fassung des Willens Gottes. Und zwar müsse man unterscheiden zwischen dem wirkenden und dem billigenden und vorschreibenden Willen. Zwar geschehe nichts ohne den zulassenden und regierenden, vieles aber ohne den billigenden, vorschreibenden Willen Gottes. So wünsche Gott unser Frommsein und billige unsere Bekehrung, aber seine Gnade wirke nicht mit physischer Notwendigkeit. Auch unterscheidet Vorstius zwischen einem vorhergehenden, bedingten und einem nachfolgenden Willen. Nach dem vorhergehenden Willen wolle Gott das Heil aller Menschen, allerdings nur unter der Bedingung des Glaubens und der Buße. Da aber nicht alle Menschen zum Glauben gelangten, wolle er mit seinem nachfolgenden Willen nur einige, nämlich die Gläubigen, dem Heil zuführen, die anderen hingegen verdammen. Damit führt die Kritik der traditionellen Lehre von den Attributen Gottes Vorstius in Bezug auf die Prädestinationslehre zur Position der Remonstranten.9 Um den Sozinianismusvorwurf gegen Vorstius zu klären, bat die Synode von Nordund Südholland am 20. August 1610 die Heidelberger Theologen um ein Gutachten über den Tractatus theologicus de Deo. Enthalte der Traktat doch nach Meinung frommer Männer – gemeint sind die Kontraremonstranten – vieles, was nicht nur vom Konsens der orthodoxen Kirchen, sondern sogar vom Fundament des christlichen Glaubens abweiche.10 Die Antwort der Heidelberger ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Man riet dringend von der Berufung ihres einstigen Promoventen nach Leiden ab, und zwar mit dem Hinweis auf seinen Sozinianismus und Pelagianismus. Am 10. Oktober 1610 gab man Vorstius die Gelegenheit, im Beisein der Bürgermeister und Kuratoren der Universität Leiden vor der Staatenversammlung in Den Haag zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Offenbar gelang es ihm, die Vorwürfe als nicht stichhaltig zu widerlegen.11 Im November kehrte er daraufhin nach Steinfurt zurück, nachdem er zuvor noch einige Kontraremonstranten in Amsterdam aufgesucht hatte, um auch deren Bedenken zu zerstreuen. Die Kontraremonstranten gaben aber keine Ruhe. Bereits am 11. Februar war sein kontraremonstrantischer Kollege Gomarus, der Gegner des Arminius, von seiner Professur zurückgetreten und hatte eine Pfarrstelle in Middelburg angenommen, da er sich weigerte, neben einem Remonstranten zu lehren. Damit war in der Theologischen Fakultät der berühmten Leidener Universität kein Lehrstuhl mehr besetzt, so dass es umso dringlicher erschien, die Berufung von Vorstius zu einem glücklichen Abschluss zu bringen. Daher setzte man den Fall Vorstius auf die Tagesordnung der Haager Konferenz, die sich vom 11. März 1611 bis zum 20. Mai 1611 mit dem Streit zwischen Remonstranten und Kontraremonstranten befasste. Die Sitzungen vom 27. April bis zum 6. Mai waren ausschließlich dem Fall Vorstius gewidmet. Während dieser Sitzungen legten die Kontaremonstranten eine Schrift vor, in der sie ihre Kritik an Vorstius vortrugen: Bedenckingen Over de Beroepinghe D.D. Conradi 9 10 11
Schweizer 1856b, 171 ff. Grotius 1995, 262. Grotius 1995, 264 f.
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Vorstii, tot de Professie der H. Theologie in de Vniversiteyt tot Leiden. Die Schrift listet zahlreiche Punkte auf, in denen Vorstius in seinem Tractatus de Deo nach Meinung der Kontraremonstranten von der reformierten Lehre abweicht. Da ist zum einen die Trinitätslehre. So stelle Vorstius etwa zur Diskussion, ob die drei Personen im göttlichen Wesen nicht drei voneinander real unterschiedene wirkliche Dinge seien. Ebenso höhle er die orthodoxe Christologie aus, wenn er in sozinianischer Manier die Tragfähigkeit der Argumente bestreite, mit der man traditionellerweise die ewige göttliche Natur Christi bewiesen habe. So lasse sich in seinen Augen beispielsweise aus der Schöpfungsmittlerschaft Christi nicht seine ewige göttliche Natur ableiten. Sei es doch durchaus möglich, dass er ein Geschöpf sei, dem Gott die Macht verliehen habe, die Welt zu erschaffen. Hinzu komme, dass Vorstius die wesentliche Unendlichkeit der göttlichen Natur ebenso in Frage stelle wie seine wesentliche Omnipräsenz. Außerdem bezweifle er die Unveränderlichkeit des göttlichen Willens und frage, ob Gott seine Verheißungen und Drohungen nicht rückgängig machen könne. Schließlich verweisen die Kontraremonstranten auf das Heidelberger Gespräch und die Kritik von Vorstius an der orthodoxen Satisfaktionslehre. Sie bringen so den frühen Sozinianismusverdacht ins Spiel und erklären, dass man am Tractatus de Deo sehe, dass Vorstius zwischenzeitlich von seinen sozinianischen Meinungen keineswegs abgerückt sei.12 Nachdem die Kontraremonstranten am 27. April 1611 ihre Einwände gegen ihn vorgebracht und den Sozinianismusverdacht gegen ihn erneuert hatten, hielt der aus Steinfurt angereiste Vorstius in Den Haag eine Verteidigungsrede, die allerdings nicht gedruckt wurde, in der er sich aber wiederum vom Sozinianismus abgrenzte. Da sich die auf der Haager Konferenz anwesenden Universitätskuratoren durchsetzen konnten, stand nun der Berufung von Vorstius nichts mehr im Wege. Vorstius kündigte am 18. Mai 1611 seine Steinfurter Professur und nahm den Ruf nach Leiden an. Am 21. Mai wurde er offiziell zum Professor für Theologie ernannt und am 24. Mai vom Senat in sein neues Amt eingeführt. Er kehrte nach Steinfurt zurück in der festen Überzeugung, dass er im September seine Vorlesungstätigkeit aufnehmen werde. Doch dazu kam es nicht mehr. Denn in die Zwischenzeit fielen Ereignisse, die seine Lehrtätigkeit in Leiden unmöglich machten. Zum einen verbreitete sich das Gerücht, dass Vorstius einen Ruf an eine sozinianische Akademie in Polen mit dem Hinweis abgelehnt habe, dass er in Leiden weit mehr für die Verbreitung des Sozinianismus leisten könne. Zum andern aber publizierten Studenten, darunter auch Schüler von Vorstius, an der friesländischen Universität Franeker anonym eine Abhandlung De officio Christiani hominis, in dem die orthodoxe Trinitätslehre und Christologie mit sozinianischen Argumenten angegriffen wurde, um den Franeker Kontraremonstranten Sibrandus Lubbertus zu verärgern.13 Was als studentischer Scherz gedacht war, führte zur Eskalation im Fall Vorstius. Denn jetzt trat Lubbertus auf den Plan, der im 12 13
Grotius 1995, 266 ff. Grotius 1995, 272 f.
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Sommer 1611 seine Declaratio responsionis D. Conradi Vorstii veröffentlichte. Schon kurz zuvor hatte er eine Abhandlung „De Jesu Christi Servatore“ verfasst, die gegen die Kritik gerichtet ist, die Fausto Sozzini in seinem Werk De Jesu Christo servatore 1578 an der anselmischen Satisfaktionslehre geübt hatte. Die Tatsache, dass er den gesamten Sozzini-Text in seiner Widerlegung mit abdruckte, sorgte erst dafür, dass diese Kritik in den Niederlanden einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde. In seiner Declaratio beschwört er den Generalstaaten gegenüber die Gefahr, die die Berufung von Vorstius darstellt, indem er seine theologischen Irrtümer auflistet, die in der Leugnung der Trinitätslehre kulminieren. Denn Lubbertus zufolge folgt aus den Ausführungen von Vorstius erstens, dass Gott seinem Wesen nach nicht unendlich ist, zweitens seinem Wesen nach nur im Himmel existiert und drittens die drei trinitarischen Personen drei wesensmäßig verschiedene Dinge sind. Damit werde aber nicht nur die orthodoxe Trinitätslehre umgestürzt, sondern auch der christologischen Zweinaturenlehre der Boden entzogen.14 Zwar habe sich Vorstius gegenüber den Leidener Universitätskuratoren und Bürgermeistern schriftlich zur orthodoxen Trinitätslehre und Christologie bekannt. Aber ausschlaggebend sei, was er in seinem Tractatus de Deo gelehrt und in der erst jüngst erschienenen Apologetica exegesis verteidigt habe. Aus dem besagten Traktat lasse sich jedoch mühelos die Leugnung nicht nur der orthodoxen Trinitätslehre, sondern auch anderer orthodoxer Lehren ableiten. Wenn nämlich – so die Argumentation von Vorstius – Gott seinem Wesen nach nur im Himmel existiert, dann kann der göttliche Logos keine wesensmäßig auf Erden existierende menschliche Natur in die Einheit seiner Person aufnehmen. Vorstius gebe daher die Zweinaturenchristologie zugunsten eines Adoptianismus preis, wonach Gott den Menschen Christus adoptiert habe und Christus deshalb ein göttlicher Mensch sei. Die Auferweckung Christi habe dann nur die Bedeutung, die Wahrheit seiner Verkündigung zu bestätigen. Wenn aber der Mensch Christus zu einem bestimmten Zeitpunkt von Gott als Sohn adoptiert wurde, dann kann Lubbertus zufolge Christus nicht seinem Wesen nach Mittler zwischen Gott und Mensch und Erlöser der Menschen sein. Und wenn seine Auferweckung nur eine wunderhafte Beglaubigung seiner Verkündigung ist, dann ist es falsch, was Paulus Röm 4, 25 sagt, dass Christus nämlich um unserer Rechtfertigung willen auferweckt wurde. Doch Lubbertus lastet Vorstius nicht nur gravierende Irrtümer in der Trinitätslehre und Christologie an. Sondern fehlerhaft ist in seinen Augen auch die Rechtfertigungslehre, wie er sie in seinem Anti-Bellarmin entwickelt. Denn entweder erkläre er mit den Katholiken, dass es der Glaube nur als lebendiger, also in den Werken wirksamer Glaube sei, der uns als Gerechtigkeit angerechnet werde, und der Glaube die uns inhärierende Gerechtigkeit sei. Oder er teile die sozinianische Auffassung, dass der Mensch durch die Befolgung des Gebotes Christi, also durch seine Werke gerechtfertigt werde. In beiden Fällen weiche er aber von der orthodoxen
14
Grotius 1995, 411 ff.
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Zentrallehre ab, dass die Rechtfertigung des Menschen wegen des satisfaktorischen Verdienstes Christi im Glauben erfolge. Die Unruhen, die durch den studentischen Scherz in Franeker und anderswo entstanden waren, führten dazu, dass die Kuratoren der Universität Leiden Wtenbogaert und Nicolaes van Zweyst beauftragten, Vorstius in Steinfurt aufzusuchen und ihn über die strittigen Punkte – Trinitäts-, Zweinaturen- und Satisfaktionslehre – zu befragen und eine schriftliche Stellungnahme von ihm zu erbitten. Als diese Stellungnahme sie zufrieden stellte, bat man ihn am 23. August, so schnell wie möglich seinen Wohnsitz in Leiden zu nehmen. Mitte Oktober kam Vorstius in der Universitätsstadt an und erhielt auch das ihm zustehende Gehalt. Zugleich wurde ihm aber mitgeteilt, dass er erst mit der Lehre beginnen könne, wenn sein Fall geklärt sei. Als seine Präsenz in Leiden zunehmend für Unruhe sorgte, bat er jedoch schon am 25. Januar 1612, nach Den Haag umsiedeln zu dürfen. Der Fall Vorstius wurde nun wieder von den Kuratoren und Bürgermeistern an die Staaten von Holland delegiert, und am 22. März erhielt Vorstius noch einmal die Gelegenheit, seine Position in einer auf Deutsch gehaltenen vierstündigen Rede vor den Staaten zu verteidigen. In dieser Rede, die dann in holländischer Übersetzung als Oratie tot verantwoordinghe umgehend gedruckt wurde, setzte er sich mit den gegen ihn vorgebrachten Vorwürfen auseinander. Er betonte, dass es ihm in der Lehre von den göttlichen Eigenschaften um eine strikte Orientierung an der Schrift gegangen sei, um auf diesem Wege die lutherische Ubiquitätslehre und die kontraremonstrantische Prädestinationslehre zu widerlegen. Er habe die Unendlichkeit und wesentliche Allgegenwart, die Ewigkeit und Unveränderlichkeit, die Allmacht und die Allwissenheit Gottes ebensowenig in Frage gestellt wie Gottes Unkörperlichkeit. Vielmehr sei es sein Interesse gewesen, bestimmte philosophisch bedingte Deutungen dieser Attribute auszuscheiden, die dem Glauben widerstreiten. So dürfe man etwa Gott nicht zum Urheber der Sünde machen, was aber dort geschehe, wo man wie Calvin, Beza und Zanchi den Grund für das Vorherwissen aller zukünftigen Ereignisse darin erblickt, dass Gott sie vorherbestimme.15 Was speziell den Vorwurf des Sozinianismus angeht, so setzt Vorstius sich gegen ihn mit dem Hinweis auf den Heidelberger Vergleich von 1599 zur Wehr. Er hält auch weiterhin an der Ansicht fest, dass die Satisfaktion Christi für die Sündenvergebung nicht absolut notwendig gewesen sei, da Gott die gefallene Menschheit auch auf andere Weise hätte erretten können. Zwar habe uns Christus faktisch durch seinen Tod erlöst, aber dieser Tod sei nicht der eigentliche ewige Tod gewesen, den die Verdammten in der Hölle erleiden. Vielmehr habe Gott Christi Tod wegen der Würde seiner gottmenschlichen Person und der Vollkommenheit seiner Liebe und seines Gehorsams als Äquivalent der Strafen der Verdammten akzeptiert. Vorstius modifizierte so zwar die orthodoxe Satisfaktionslehre durch die Annahme, dass Gott im Hinblick auf die Satisfaktion Christi eine gewisse Milde gezeigt und von seinem strengen Recht nachgelassen habe. Aber er wehrte sich gegen den 15
Schweizer 1857, 464.
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Vorwurf, dass dies bereits sozinianisch sei, da er ja die Satisfaktion gegen die Kritik Sozzinis gerade verteidige, wenngleich er nicht an der spezifischen Form festhalte, die von einigen Kontraremonstranten wie etwa Lubbertus vertreten werde.16 In einem Schreiben an Pareus erklärte er, dass er im Unterschied zu Sozzini Christus nicht bloß als den Offenbarer des von Gott für uns beschlossenen Heils sehe, sondern als den Gottmenschen, der uns das Heil durch seinen Gehorsam verdient habe.17 Im Übrigen stritt Vorstius nicht ab, aus sozinianischen Schriften auch Gutes gelernt zu haben, zumal im Hinblick auf die praktische Frömmigkeit und die Kritik der orthodoxen Lehre von der Prädestination und dem freien Willen.
4. Die Verbannung nach Gouda und die Stellungnahme des Grotius Auch wenn sich die Mehrheit der Abgeordneten der Staaten mit diesen Erläuterungen zufrieden gab, war der Konflikt damit nicht etwa beseitigt, sondern strebte erst noch seinem Höhepunkt entgegen. Der englische König Jakob I. und Ralph Winwood, sein Botschafter in Den Haag, hatten nämlich am 21. September die Niederländer durch ein Schreiben wissen lassen, dass sie mit der Berufung von Vorstius nicht einverstanden seien und das Verhältnis zwischen den Generalstaaten und England durch diese Berufung nachhaltig getrübt werde, da Vorstius sozinianische Thesen vertrete und er daher ein Ketzer sei.18 Den Tractatus theologicus de Deo ließ man auf königliches Geheiß in London, Oxford und Cambridge verbrennen. Damit wurde der Fall Vorstius endgültig zu einer Staatsaffäre mit internationalen Folgen. Aufgrund des Widerstands nicht nur der Kontraremonstranten, sondern vor allem des englischen Königs sah sich Oldenbarnevelt, der ihn bis dahin favorisiert hatte, genötigt, Vorstius fallen zu lassen. Am 28. April 1612 wurde dieser auf Beschluss der Staaten nach Gouda verbannt, obwohl die Kuratoren der Universität und die Bürgermeister von Leiden dagegen protestierten. In Gouda sollte Vorstius bis Juni 1613 schriftlich Stellung nehmen zu allen gegen ihn vorgebrachten Vorwürfen. Danach würden die Staaten eine endgültige Entscheidung in seinem Fall herbeiführen. Die Kuratoren versicherten Vorstius, dass er bis dahin seine Professur auf jeden Fall behalten werde und dass sie alles in ihrer Macht Stehende unternehmen würden, damit er anschließend seine Lehrtätigkeit aufnehmen könne. Die beiden anderen vakanten Leidener Lehrstühle für Theologie waren inzwischen, um den Lehrbetrieb aufrecht zu erhalten, mit Simon Episcopius, einem Remonstranten, und Johannes Polyander, einem Kontraremonstranten, besetzt worden, nachdem die Berufung des Franzosen Pierre du Moulin auf den Lehrstuhl des Gomarus zuvor 16 17 18
Schweizer 1857, 469. Schweizer 1857, 474. Grotius 1995, 272 f.
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gescheitert war. Der Streit zwischen Vorstius und seinen kontraremonstrantischen Gegnern war damit aber keineswegs beigelegt. 1612 schaltete sich Vorstius’ Herborner Lehrer Piscator in den Konflikt ein, indem er kritisch zur Aufweichung der Prädestinationslehre Stellung nahm. In der 1612 in Gouda gedruckten Schrift Parasque ad amicam collationem cum D. Iohanne. Piscatore und weiteren Abhandlungen verteidigte Vorstius seine Position und griff Piscator mit dem Argument an, dieser schreibe Gott eine tyrannische und ungerechte Gewalt zu. Denn man müsse es doch wohl als eine Ungerechtigkeit ansehen, wenn Gott die meisten Menschen zum ewigen Verderben, darum zur Sünde und zur Sündenstrafe bestimmt hätte. Diese letztlich auf Luthers De servo arbitrio zurückgehende Prädestinationsvorstellung wurde von Vorstius strikt abgelehnt.19 Eben damit erregte er aber nur erneut den Widerspruch der Kontraremonstranten, und auf die Angriffe von Lubbertus reagierte Vorstius im Zeitraum zwischen 1611 und 1614 mit mehreren Abhandlungen. Doch Vorstius war jetzt nicht mehr der einzige, der sich Lubbertus entgegenstellte. Als dieser 1613 seine Commentarii ad nonaginta novem errores Conradi Vorstii veröffentlichte, schaltete sich Hugo Grotius noch im selben Jahr mit seinem Werk Ordinum Hollandiae Westfrisiaeque pietas ein, um die auf der Seite der Remonstranten stehenden politischen Autoritäten der Staaten von Holland zu unterstützen. Kurz zuvor hatte Jakob I. den Generalstaaten brieflich geraten, jede weitere Diskussion der zwischen Remonstranten und Kontraremonstranten strittigen Punkte von den Kanzeln herab zu unterbinden, da – wie der englische König verlauten ließ – beide Positionen mit der heilsnotwendigen Wahrheit vereinbar seien. Diese Auffassung wird von Grotius grundsätzlich geteilt. Der ganze erste Teil des Werkes befasst sich hingegen gar nicht mit den zwischen Remonstranten und Kontraremonstranten strittigen theologischen Fragen, also mit der Prädestinationslehre. Sondern strittig war inzwischen ja auch die Stellung zur Berufung von Vorstius, und mit dem Fall Vorstius setzt sich der ganze erste Teil des Werkes auseinander. Grotius begründet sein Eingreifen in die Debatte um Vorstius damit, dass Lubbertus es nicht bei einem Angriff auf Vorstius belassen, sondern das Verhalten der Staaten von Holland im Fall Vorstius attackiert und ihnen vorgeworfen habe, der Häresie Einlass in die Kirche zu gewähren. Und zwar nicht irgendeine Häresie, sondern die schlimmste von allen, nämlich die des Arius und Pauls von Samosata. Gemeint ist der Antitrinitarismus, wie er von Servet und Sozzini erneuert worden sei.20 Nicht nur den Universitätskuratoren und Bürgermeistern von Leiden, sondern auch den Staaten von Holland werde somit der Vorwurf gemacht, den Sozinianismus zu befördern, obgleich doch gerade die Staaten von Holland bislang ihre ganze Autorität dafür eingesetzt hätten, die reformierte Religion zu fördern und eine Tolerierung der öffentlichen Ausübung jeder anderen Religion zu unterbinden. Grotius erklärt nun, dass es keineswegs seine Absicht sei, Vorstius zu verteidigen und dem 19 20
Schweizer 1857, 475. Grotius 1995, 106 ff.
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Abschluss der in seinem Fall angestellten rechtlichen Untersuchungen vorzugreifen.21 In Wirklichkeit benutze Lubbertus den Fall Vorstius nur, um seine grundsätzliche Abneigung gegen die Staaten von Holland zum Ausdruck zu bringen, die darin begründet sei, dass sie sich weigerten, alle zu verurteilen, die die kontraremonstrantische Prädestinationslehre nicht teilen. Denn Vorstius selbst übe sein Amt als Professor in Leiden ja gar nicht aus, sondern sei bis zum Abschluss des Verfahrens gegen ihn davon suspendiert. Gegen seine Berufung sei grundsätzlich nichts einzuwenden, da es sich bei ihm um einen bedeutenden reformierten Theologieprofessor in Steinfurt gehandelt habe, der zudem von den Grafen von Bentheim, dem Senat des Arnoldinum und den Pfarrern geschätzt worden sei. Auch seien seine antijesuitischen Schriften überall angesehen, so dass Landgraf Moritz von Hessen ihn sogar nach Marburg berufen wollte. Die Kuratoren der Universität Leiden, die in dieser Sache Moritz von Oranien und die Staaten von Holland konsultierten, hatten also durchaus gute Gründe, Vorstius den Ruf nach Leiden zu erteilen. Da aber diejenigen, die seine Berufung betrieben, Lubbertus und seinen kontraremonstrantischen Gesinnungsgenossen verhasst waren, suchten diese nach Gründen, Vorstius anzuschwärzen, indem sie in seinem Tractatus de Deo sozinianisches Gedankengut zu entdecken glaubten und den alten Sozinianismusverdacht erneuerten. Die Staaten haben sich aber Grotius zufolge völlig korrekt verhalten, indem sie Vorstius in Den Haag vorluden, um sich gegen den Sozinianismusvorwurf zu verteidigen. Grotius listet die Vorwürfe einzeln auf. Danach leugnet Vorstius erstens die unteilbare Trinität, zweitens die wahre Ewigkeit und substantielle Allgegenwart Gottes, drittens seine Unveränderlichkeit, seine Allmacht und sein Vorherwissen, viertens seine Unkörperlichkeit und Qualitätslosigkeit. Zudem schreibt er fünftens Gott Zorn und Verzweiflung in einem wörtlichen Sinne zu und leugnet sechstens, dass Christus Gott für unsere Sünden wahrhaft Satisfaktion geleistet hat.22 All das sind Grotius zufolge verdammenswerte sozinianische Thesen, die Vorstius nun aber in seiner Vorstellung in Den Haag ausdrücklich verworfen habe. Doch damit nicht genug, denn schließlich habe Vorstius darauf verzichtet, seine Professur auszuüben, solange sein Fall nicht abgeschlossen sei. Zwar erwähnt Grotius das Protestschreiben des englischen Königs gegen die Berufung von Vorstius, ohne aber hinzuzufügen, dass Oldenbarnevelt Vorstius inzwischen gerade wegen dieses Schreibens geopfert hatte. Stattdessen geht er auf einen anderen Aspekt des Schreibens ein, nämlich auf die Mahnung Jakobs I., Remonstranten und Kontraremonstranten möchten sich doch gegenseitig tolerieren, da ihr Dissens in der Prädestinationsfrage nicht das Fundament des Glaubens betreffe.23 Die Art und Weise, wie die Prädestinationsfrage zwischen Remonstranten und Kontraremonstranten verhandelt wurde, führte aber zwangsläufig zu der Frage nach den Befugnissen des Staates im Hinblick auf die reformierte Kirche, die ja die öffentliche Kirche in den Niederlanden war. Während Lubbertus auf dem Boden des calvinisti21 22 23
Grotius 1995, 113 ff. Grotius 1995, 118 f. Grotius 1995, 122 ff.
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schen Modells für die größtmögliche Eigenständigkeit der Kirche bei der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten votierte, verteidigte Grotius das erastianische Modell, wonach die staatliche Obrigkeit das Recht hat, über die staatliche Religion zu urteilen.24 Mit diesen Ausführungen hatte sich Grotius öffentlich als Anhänger der Remonstranten zu erkennen gegeben. Auf dem Hintergrund des Plädoyers des englischen Königs für eine tolerante Religionspolitik erließen die Staaten von Holland 1614 ein dementsprechendes, von Grotius entworfenes Edikt. Danach soll jeder geduldet werden, der lehrt, dass unser Heil allein von Gott komme, wir selbst aber von uns aus nur Unheil schaffen, dass die Seligkeit, auch der Glaube sich einzig und allein der unverdienten Gnade Gottes in Christus verdankten, dass Gott keinen Menschen zur Verdammnis geschaffen habe und keinen zur Sünde zwinge, dass er aber auch keinen zur Seligkeit einlade, von dem er fest beschlossen habe, sie ihm nicht zu geben. Schließlich legte das Toleranzedikt den Theologen auf, bei ihren weiteren Untersuchungen allen öffentlichen Streit zu vermeiden. Das Edikt stellte den letzten Versuch der Staaten von Holland dar, den Prädestinationsstreit nicht so eskalieren zu lassen, dass es zu einem Bruch der reformierten Öffentlichkeitskirche kommen würde. Es war der Versuch, an einer Kirche festzuhalten, die auf dem Boden bestimmter Fundamentalartikel eine Pluralität von Lehrmeinungen nicht nur zum Thema der Prädestination zulässt. Doch dieser Versuch scheiterte an der harten Haltung der Kontraremonstranten, die das Edikt als ein Zugeständnis an die remonstrantischen Gegner betrachteten. Die Vorreiterrolle in dem Widerstand gegen das Edikt und damit die Pazifizierungspolitik der Staaten von Holland übernahm das damals mehrheitlich kontraremonstrantische Amsterdam. 1615 erschienen zahlreiche Streitschriften, die für oder gegen das Edikt Stellung bezogen, und 1616 entsandten die Staaten eine Gesandtschaft nach Amsterdam, um die Stadt zum Einlenken zu bewegen. Vor dem Rat ergriff Grotius als Sprecher der Gesandtschaft das Wort und verteidigte den erastianischen Standpunkt, wonach die staatliche Obrigkeit auch in Kirchensachen die höchste Gewalt habe. Daher sei eine Synode nicht notwendig, zumal auch die Reformation nicht durch Synoden, sondern durch die Obrigkeiten eingeführt worden sei. Außerdem betreffe der Streit nicht das Fundament des Glaubens, und die strittigen Fragen seien von jeder ungleich beantwortet worden, so dass nur eine Politik der gegenseitigen Toleranz dem allgemeinen Frieden diene. Zudem könnte durch eine von den Kontraremonstranten gewünschte Nationalsynode die Provinz Holland überstimmt und damit zu einer Position gezwungen werden, die ihr gar nicht genehm sei. Wenn man die gegenseitige Toleranz ablehne, dann blieben nur drei Möglichkeiten offen. Entweder müsse man alle Lehrer zu ein und derselben Lehre bringen, was unmöglich sei. Oder eine Partei müsse die andere verdammen, was unchristlich sei. Oder aber man müsse eine Spaltung der Kirche durchführen, was jedoch dem Staate schaden würde. Da der Rat von Amsterdam auch aufgrund der Rede von Grotius seine Haltung nicht änderte, eine allgemeine Synode 24
Grotius 1995, 347.
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verlangte und auf dem Recht eigener kontraremonstrantischer Gottesdienste auch dort bestand, wo ein remonstrantischer Pastor die Gemeinde leitete, war die Toleranzpolitik der Staaten von Holland gescheitert. 1617 erklärte eine Versammlung der Kontraremonstranten ihre Trennung von den Remonstranten, die von ihnen als Kirchenfeinde tituliert wurden, bis zur Entscheidung einer einzuberufenden Nationalsynode.25 Seit Grotius sich publizistisch als Anhänger der Remonstranten zu erkennen gegeben hatte, war der von den Kontraremonstranten generell gegen die Remonstranten gerichtete Vorwurf des Sozinianismus und Pelagianismus auch auf ihn selbst bezogen worden. Aus diesem Grund versuchte er nun öffentlich zu beweisen, dass dieser Vorwurf weder auf ihn noch auf seine remonstrantischen Freunde zutreffe. Da seit der Vorstiusaffäre die Satisfaktionslehre jenes Lehrstück darstellte, an dem vor allem der Sozinianismusvorwurf festgemacht wurde, und zudem Fausto Sozzinis Werk De Iesu Christo Servatore durch die Gegenschrift von Lubbertus, der sie im Anhang veröffentlicht hatte, zu dem am meisten verbreiteten Buch Sozzinis in den Niederlanden gehörte, wählte Grotius sie aus, um seine antisozinianische Haltung zu belegen. Er stellte seine Abhandlung Ende 1614 fertig und sandte sie an befreundete Kollegen, unter denen sich auch Kontraremonstranten wie der Middelburger Pfarrer Antonius Walaeus und der Leidener Theologieprofessor Johannes Polyander fanden. Am Schluss übte dessen remonstrantischer Kollege eine fundierte Kritik an dem Werk, die er über Gerhard Vossius, den remonstrantischen Leiter des Leidener Staatenkollegs, Grotius zukommen ließ. Vossius ermutigte Grotius dann, das Werk trotz dieser Kritik zu publizieren, und er war es auch, der das von Grotius autorisierte Vorwort zu ihm schrieb. Zuvor hatte es Grotius Vossius überlassen, das Werk noch weiteren Personen zur Überprüfung zu übersenden, wobei er auch Vorstius nannte. Das unterblieb aber, und so erschien das Werk drei Jahre nach Beginn seiner Abfassung am 31. August 1617 unter dem Titel Defensio fidei catholicae de satisfactione Christi. In seinem Vorwort streicht Vossius den häretischen Charakter des Sozinianismus heraus, während er Grotius als denjenigen vorstellt, der, obgleich selbst kein Theologe, doch als Jurist besonders geeignet sei, die sozinianische Kritik der Satisfaktionslehre zu widerlegen.26 Grotius verteidigte die Satisfaktionslehre, wonach Gott beschloss, dass Christus dadurch die Strafen für die Sünden der Menschheit zahlt, dass er den grausamen Tod erträgt, damit wir von der Strafe des ewigen Todes befreit werden.27 Während für Sozzini Christus nur insofern der Erlöser der Menschheit war, als er den Weg zum ewigen Leben verkündigte, das alle erlangen, die an ihn glauben und ihm folgen, trat Grotius für die von Sozzini als widersprüchlich verworfene Satisfaktionslehre ein. Er dachte sich Gott dabei als Vorsteher eines politischen Gemeinwesens, dessen durch die Sünde gestörte Ordnung er dadurch wiederherstellt, dass er mit dem Tod Christi ein Strafexempel statuiert, um so seine Gerechtigkeit zu offenbaren. Demgegenüber erweist 25 26 27
Schweizer 1856a, 78 ff. Grotius 1990, 84–89. Grotius 1990, 90.
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er seine Liebe dadurch, dass er allen, die an Christus glauben, die Sünden vergibt.28 Anders als bei Sozzini ist also bei Grotius die Sündenvergebung verbunden mit einer satisfaktorischen Leistung im Sinne einer stellvertretenden Bestrafung. Allerdings stimmte Grotius insofern mit Vorstius’ Fassung der Satisfaktionslehre überein, als auch er davon ausging, dass Christus nicht dieselbe Strafe erleide, die die Sünder treffen sollte. Denn schließlich erleide er nicht den ewigen Tod, so dass der satisfaktorische Charakter des Todes Christi nur dadurch zustande komme, dass Gott diesen Tod als Ersatzleistung akzeptiere. Zwar wollte Grotius mit seiner Deutung der Satisfaktion Sozzinis Kritik der Satisfaktionslehre widerlegen. Aber da diese Deutung nicht die traditionelle war, konnte man Grotius gleichwohl sozinianischer Neigungen bezichtigen. Hermannus Ravensperger, ein früherer Professor in Steinfurt, der nunmehr in Groningen lehrte, versuchte in seinem 1617 erschienenen Judicium de libro H. Grotii adversus F. Socinus zu zeigen, dass Grotius zwar den Eindruck erwecke, Sozzini zu widerlegen, er aber in Wirklichkeit dessen Kritik der Satisfaktionslehre durch seine eigene Version nur stütze. Den Sozinianismusverdacht der Kontraremonstranten gegen ihn und seine remonstrantischen Freunde konnte Grotius also mit seiner Kritik an Sozzini ebensowenig ausräumen wie dies zuvor Vorstius gelungen war. Die Zeit der Gespräche und Streitschriften war ohnehin vorüber. Denn indem sich Moritz von Oranien in dem sich immer mehr zuspitzenden Konflikt zwischen Remonstranten und Kontraremonstranten auf die Seite der Kontraremonstranten schlug, war die Sache zugunsten dieser entschieden.
5. Schluss Die Nationalsynode, die vom 13. November 1618 bis zum 9. Mai 1619 in Dordrecht tagte, schrieb in ihrem zweiten Artikel nicht nur die orthodoxe Satisfaktionslehre fest, sondern sie führte auch zu einer endgültigen Entscheidung im Fall Vorstius. Abgesehen von seiner Zustimmung zu den fünf Artikeln der Remonstranz hielt man Vorstius vor, in den meisten Hauptlehren der reformierten Kirche eine abweichende Position zu vertreten, sich Sozzini zu nähern und dessen Ansichten Eingang in die reformierte Kirche zu verschaffen. Vorstius wehrte sich gegen die Vorgehensweise der Synode und erklärte seine Übereinstimmung mit den Remonstranten in der Ablehnung der in seinen Augen fatalistischen Lehre von der absoluten Prädestination. Aber er ging noch weiter, indem er den Synodalen Lehren zuschrieb, die er nicht in der Schrift zu entdecken vermochte, darunter die Identifikation der Dekrete mit Gott selbst, die Annahme, dass Gott nichts von seinem Recht einfach nachlassen könne, dass Christus den ewigen Tod erlitten habe, der uns um der Sünde willen gebührt. Sozinianisch, wie die Kontraremonstranten unterstellten, war das zwar alles nicht. Wohl aber war deutlich, dass 28
Grotius 1990, 178.
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Vorstius die arminianische Kritik an der kontraremonstrantischen Lehre noch überbot.29 Nach seiner Verurteilung wurde er am 4. Mai 1619 seiner Leidener Professur endgültig enthoben und offiziell aus den Niederlanden ausgewiesen. Ein Angebot des Bentheimer Grafen, nach Steinfurt zurückzukehren, lehnte er ab. Stattdessen lebte er für drei Jahre versteckt in einer remonstrantischen Untergrundgemeinde in der Nähe von Utrecht. 1622 wurde er schließlich von Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf zum Prediger der remonstrantischen Flüchtlingsgemeinde in Friedrichstadt berufen. Er konnte das Amt zwar noch annehmen, doch starb er kurz darauf am 29. September 1622 im holsteinischen Tönnig.30
Bibliographie Quellen Grotius, Hugo (1990): Defensio fidei catholicae de satisfactione Christi adversus Faustum Socinum Senensum. Hrsg. von E. Rabbie. Assen: Van Gorcum. Grotius, Hugo [1613] (1995): Ordinum Hollandiae ac Westfrisiae pietas (1613). Hrsg. von E. Rabbie. Leiden: Brill.
Forschungsliteratur Menk, Gerhard (1981): Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584‒ 1660). Ein Beitrag zum Hochschulwesen des deutschen Kalvinismus im Zeitalter der Gegenreformation. Wiesbaden: Selbstverlag der Historischen Kommission für Nassau. Schnoor, W. F. (1976): Die rechtliche Organisation der religiösen Toleranz in Friedrichstadt in der Zeit von 1621 bis 1727. Diss. Kiel. Schweizer, Alexander (1856a): Die protestantischen Centraldogmen in ihrer Entwicklung innerhalb der reformirten Kirche, 2. Hälfte. Zürich: Orell Füssli. Schweizer, Alexander (1856b): „Conradus Vorstius. Vermittlung der reformirten Centraldogmen mit den socinianischen Einwendungen“, in: Theologische Jahrbücher 15/4, 435–486.
29 30
Schweizer 1857, 480 ff. Vgl. Schnoor 1976.
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Schweizer, Alexander (1857): „Conrad Vorstius. Vermittlung der reformirten Centraldogmen mit den socinianischen Einwendungen“, in: Theologische Jahrbücher 16/2, 153–184. Van t’Spijker, Willem (2006): „Heidelberger Gutachten in Sachen Vorstius“, in: Strohm, Christoph/Freedman, Joseph S./Selderhuis, Herman J. (Hrsg.): Späthumanismus und reformierte Konfession. Tübingen: Mohr Siebeck, 207–224.
WILHELM KÜHLMANN
Endzeit, Restauratio und Elias Arista. Signaturen des paracelsistischen Dissidentismus
1. Paracelsismus und Häresie Zu beginnen ist mit einigen zusammenfassenden Bemerkungen, die sich auf die im „Corpus Paracelsisticum“ dokumentierten Heidelberger Forschungen stützen, aus deren Werkstatt ich im Folgenden einige weitere Texte und Zusammenhänge vorstellen möchte:1 Erst die um 1560 massiv einsetzende und weit bis ins 17. Jahrhundert reichende Welle von Paracelsus-Editionen (bis 1658 ca. 175 Ausgaben), die bald internationale Resonanz fanden, wurde aus dem philosophisch und laientheologisch ambitionierten Wundarzt Paracelsus eine publizistisch heiß umstrittene Leitfigur der antiakademischen Medizin, Kosmologie, Anthropologie und Alchemie, ein schon früh mythisierter „neuer Hippokrates“, ja „wiedererstandener Hermes“, bald auch der Gründerheros einer zwischen den Konfessionen angesiedelten religiösen, oft sozialkritischen Theosophie („Theophrastia Sancta“).2 Gegner sahen deshalb nicht ohne Grund in Paracelsus den Urheber eines ‚ketzerischen‘, weit ausstrahlenden „platonisch-hermetischen Christentums“ (so rückblickend der lutherische Theologe Daniel Ehregott Colberg, 1690).3 Wer von Paracelsus spricht, hat es nicht nur mit seinen tatsächlichen Hinterlassenschaften zu tun, sondern in der Frühen Neuzeit zugleich mit dem ‚Paracelsismus‘ als epochaler geistiger Strömung, in der echte und mit Vorliebe auch zweifelhafte und gewiss großenteils unechte Schriften des Hermetoalchemismus weitergetragen,4 bearbeitet und gern mit heterodoxen Denkfiguren eines endzeitlichen Chiliasmus und demgemäß einer 1 2 3 4
CP I–III, daraus im Folgenden einige Auszüge; zur Einführung benutzbar und auch hier einleitend zitiert der Paracelsus-Artikel von Kühlmann 2010b. Dazu nach wie vor gültig Gilly 1994. Zu Colberg vgl. Schneider 2002 sowie Lehmann-Brauns 2004, Kühlmann 2006, Maillard 2006 sowie Telle 2008b. Gerade die hermetistisch oder genuin alchemisch orientierten Schriften des Paracelsus-Corpus gehören nicht zu den echten Werken des Hohenheimers (betrifft vor allem: Aurora Philosophorum, Philosophia ad Athenienses, De Tinctura Physicorum); vgl. zum Problem Telle 1994 sowie Redl 2008.
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Restauration aller Künste und Wissenschaften verschmolzen wurden. Zwar kannten Paracelsisten und religiöse Dissidenten gewiss auch handschriftlich umlaufende theologische Paracelsica, doch wirkte zunächst bahnbrechend die Publikationsoffensive der frühen oberrheinischen Paracelsisten (Bodenstein, Toxites, Dorn mit dem Verleger Pietro Perna in Basel; zu ihnen CP I und II), auch die Initiativen der niederschlesischen, um Görlitz zentrierten Sympathisanten (unter ihnen Bartholomaeus Scultetus, zu ihm CP II, Nr. 79, Johannes Scultetus Montanus, zu ihm CP II, 239–241, Balthasar Flöter, zu ihm CP II, Nr. 75–77).5 Von der hier verdichteten intellektuellen Atmosphäre einer theosophischen Naturspekulation (Theo-Alchemie) waren Jakob Böhme und sein engster Umkreis,6 mithin auch die Böhmisten des 17. Jahrhunderts (wie Gottfried Arnold) und noch manche Fraktionen auch des späteren Pietismus sichtbar mitbeeinflußt.7 Schon vor 1600 gehörten Paracelsusanhänger zum anschwellenden Chor scharfer Kritiker der sich dogmatisch verhärtenden Staatskirchen, etwa der im Dunkel der Geschichte verschwundene Spiritualist Lambert Wacker (Vorrede zu Paracelsi Dekalogauslegung). Seine vernichtende Diagnose der geistigen Lage entspricht der teilweise bis in apokalyptische Strafphantasien reichenden häretisch-dissidenten Aufladung des Paracelsismus, wie sie bei Figulus – dazu im Folgenden – zu beobachten ist; hier ein Auszug aus der Vorrede Wackers: Es ist leider mit vnsern Meistgeleutterten Theologen dahingerhatten, Das sy auch mehr auf Ire vernunft, studiern, Commentisiern vnd predigen sich verlassen Dann auf den rechten Ertztheologum, welcher ist Spiritus Sanctus. Daher dann souil zwispallt vnd Ketzereien vnter Inen aufstehn. Ein Jeglicher Doctor, ein Jegliche Vniuersitet will vnnsers Herrn Gottes Cantzler vnd Cantzlei sein. Ist die Ambitio so gros, Das weder dauon zu reden noch zu schreiben ist, vnnd sein doch die meisten nur Doctores Literae vnd nicht Spiritus S[anctus]. Es ist nicht dran gelegen, Das man das geleutterte mit vil Commentisirn verunleuttern, vil Buecher schreibe, Die Schrift ein Jeder nach seinem Kopff zwacke vnd Allegiere [Bl. 3v]. Es Haist, den verstandt der schrifft recht fuern vnnd es auß dem Text nemmen vnd nicht hineintragen, Sunst versundigt man sich an der Schrifft vnd ist des teufels Affenspiel. Darumb apud Jeremiam geschriben steet: Sihe, Ich will an die propheten, spricht der Herr, die Ir Aigen wort fueren vnd sprechen, Er hats gesagt: sie, Ich will an die, so falsche treume weissagen, spricht der herr, vnd predigen dieselben vnd verfuern mein Volckh mit Ihren Lugen vnd losen Theydungen, so ich doch sie nicht gesanntt vnd Inen nichts beuolhen habe vnd sie auch disem Volckhs nichts nutz sein, 5 6
7
Nur erste Zugänge bietet Lemper 1996. Energisch weiterführend mit wichtigen neuen Erkenntnissen bes. zu Böhmes Gewährsmann und Freund Balthasar Walter (1558–vor 1631), einem „wandernden Paracelsisten“, aber auch zum Görlitzer Scultetus-Kreis, nun Penman 2010. Arnold äußerte in dem Paracelsus-Abschnitt seiner Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700), hier nach der dritten Ausgabe (Schaffhausen 1740–1742, bes. Bd. 1, 899–904) die Ansicht, Paracelsus habe zu denen gezählt, die „den Verderb in der gemeinen Theologie“ (902) erkannt und davon „freymüthig“ gezeugt habe. Dies habe dazu geführt, dass er „Stifter einer neuen Theologie“ geworden sei, daraus „Böhme/Weigel und andere jhre Sachen sollen genommen haben“ (903); zu Arnold vgl. Schlögl 2001.
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spricht der Herr (was hylffts, das sie der Logica vnnd Rhetorica seindt wol vnterrieben, Das sie zweintzig Jar auf uniuersiteten gelesen. Het dz Buch selber kunth, so hette man Irer nit bedurfft). wissen dreyzehen Sprachen, mehr dann in pandectis stehn, So schiffen sy doch nur auf dem weitten Mhär, wissen nicht, in welchen Port sy den Ancker werffen oder in wz Litus sy zulennden sollen. Das macht, das sie der Heilige Geist nit regiert. setzen also die Seligkeit in Ir studieren, In Ire blinde vernunfft, drin sy doch nit ist, Sunder in dem Heiligen Geist. Da mueß sie vom prediger vnd zuhorer erfunden werden, Der mueß vns darzu berichten. Man helt oft Colloquia, conciliabula, Kumen gemaniglichen zusammen die Gelerttesten Professores, Auch die, so nun lange Jhar herro mit Iren famosis Libellis einander wie die zanbrecher ausgeholhipt, stecken voller Haß vnd Neidt gegen einander propter Ambitionem et Arrogantiam. Da ist kein Aintrechtigkeit der hertzen oder gemueter. Durchforschen einander in Bosheit vnd reden vnder einander betruglich. wann sy nun einander mit den LugenZungen wol getroschen, lassen sy solche Scommata in offentlichem truckh ausgehn, Das Jedermann Ire hochwitzigkeit vnnd vnuerstandt der Heiligen schrift vnd wz da gehandlet Innen werde.8
Mit den neuerdings erschlossenen, demnächst in CP III gedruckten Briefen (darunter fiktiven bzw. fingierten Briefen von und an Paracelsus)9 fällt weiteres Licht auf Mitglieder des schlesischen Paracelsistenmilieus. Dies gilt vor allem für den Görlitzer Arzt Abraham Behem (gest. 1599), dessen aufschlussreiches, ja spektakuläres Schreiben an Valentin Weigel (29. Mai 1579), den immer wieder verketzerten protestantischen Dissidenten, sich mit physikotheologischen Auslegungen des biblischen Schöpfungsberichtes befasst und – ganz abseits der Fürstenalchemie – als wichtiges Dokument einer epistemologischen Allianz zwischen den dezidiert paracelsistischen und den auch auf Jakob Böhme einwirkenden Impulsen einer unorthodoxen Bibelexegese gelten muss. In einer für die Zukunft höchst sinnträchtigen Kombination werden sowohl Fragen der Kosmogonie als auch der Eschatologie behandelt, dies in der utopischen Perspektive auf einen ‚neuen Himmel und eine neue Erde‘ (Auszüge): Wie die Mutter alß die Obere, so ein himmlisch Crystallin wasser gegen dem Vntern zu haltten, so nihil qvam abyssus tenebrarum zu aestimiren ein differentiam giebet, also diese beede Menschen auch zu vnterscheiden sindt. Vnd nach dem der Geist Gottes zuuor gesehen vnd gewußt den lapsum terreni hominis, daß er nemlichen beÿ Ihme den Verbottenen Baum cognitionis Boni et Mali, so den hoffart Irdischer Vernunfft anzeiget ein würtzeln liesse, darüber er den Menschen /:alß der wegen Vbertrettung des Gebotts Gottes ein vnrein finster wasser der dem Geist zu bekleidung vntüeglich:/ muste derhalben fahren lassenn vnd sich nicht mit ihme leiblichen vereinigenn. Vber welchen gemeltten Fall des menschen, der geist vnd Spiraculum DEI sich hoch betrüebt hatt. Hatt sich aber auß Rath des Ewigen baltt wieder der restitution des menschen, so auß dem Obern Crystallen wasser der himmlischen Jungfrauen, der Mutter der Neuen geburtt (.wie auß Göttlicher Versehung in principio angestifftet worden.) getröstet vnd darüber gentzlichen gefrolocket, vnd schwebet also der Geist vnd Spiraculum Vitae über dem Crystallen wasser, Ihme darauß /:die weill dz Irdische kleidt ihme 8
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Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 50, Bl. 2r–20r, Widmung an Kurfürst Joachim II. von Brandenburg, Berlin, 7. Mai 1569; leicht abweichende Fassung in Paracelsus 1973, 168–180; weiteres dazu, auch zur Überlieferung in CP III, Nr. 101. Dazu Telle 2006/2007, Teilabdruck in CP III, Nr. 102–109.
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durch den fall bemackelt vnd vntüglichen worden:/ wiederumb ein gantz rein, weiß, saubers kleidt zu schöpffen, ein ander new himlisch fleisch vnd leib an zu nehmen, auff daß er nicht nur ein Geist vnd Spiraculum bleibe, sondern seiner praedestination nach alß ein Cherubim im fleisch vnd Blutte, so Gotte vnd Ihme gemeß, Gotte beÿwohne. […] Was die andere Frage de die novissima et extrema; Item, de judicio novissimo et extremo: Acht ich dieß also zu verstehen, daß die Resurrectio prima in die novissimo alleine auff die Außerweltten Gottes, so dem himlischen Hierusalem, welches von oben herunter auß dem Obern wassergeist geboren, her khombt, angehöre; Wie dann die Euangelisten clerlich melden, daß er werde seine Engel auß senden zu colligiren die Außerweltten von allen 4. Ortten der Weltt über die kein Gerichtte wird gehaltten werdenn; Sondern Sie selbst neben Christo zu solcher Verhör vnd Iudication darsitzen werden. Da wirdt erst angehen das Ovile Domini, über welches allein Christus der einige Hirtte wirdt constituiret sein, vnd wirdt geschehen, wie Petrus sagt, sub Coelo novo et terra nova juxta promissionem DEI.10
Der bedeutende Einfluss des Paracelsismus auf Valentin Weigel ist in wichtigen Ansätzen erforscht und wurde von den Gegnern bald aggressiv attackiert.11 Schon früher bekämpfte ein führender Schwenckfelder, der ehemalige Tübinger Mathematiker und Medizinprofessor Samuel Siderocrates (1534–1585), mit unerhörter Aggressivität die gesamte akademische Wissenschaft in der Herausgabe einer deutschsprachigen ‚Paracelsischen Enzyklopädie‘ (Cyclopaedia Paracelsica Christiana, 1585).12 Selbst der führende lutherische Theologe Johann Arndt, um ihn ein hermetistisch interessierter Schülerkreis (darunter der äußerst kirchenkritische Melchior Breler, 1589–1626),13 begann als glühender Paracelsist und verwob Paracelsica in seine bis ins 19. Jahrhundert verbreiteten Vier Bücher vom wahren Christentum (1610 ff.).14 Von mancherlei Adepten wurde Arndt (auch in Berufung auf Pseudo-Arndtsche Schriften) sogar als Autorität der alchemischen Lehre und Praxis in Anspruch genommen.15 10 11
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Aus Cod. Guelf. 772 Helmst. der HAB Wolfenbüttel, Bl. 338v–343v. nach CP III, Nr. 125; dort alle Erläuterungen. Zu ihm maßgeblich die Artikel des Weigel-Editors Horst Pfefferl (1988, 1995); schütteres Licht auf den Bücheraustausch zwischen Paracelsisten (Crollius) und Weigelianern, in diesem Fall den Söhnen V. Weigels, bieten fragmentarische Briefüberlieferungen, dazu Kühlmann 1991. Zur Reaktion exemplarisch der Leipziger Pastor primarius Hieronymus Kromayer (1673) und der Wittenberger Theologieprofessor und Dogmatiker Nicolaus Hunnius (1609, 1622). Zu ihm nach Rhein 1995 nun mit ausführlicher Vita, Editionen und Erläuterungen CP II, Nr. 85, 87; CP III, Nr. 139, 140. Zu Breler vgl. Telle 2008a. Breler beteiligte sich an der Rosenkreuzerpublizistik und wandte sich scharf gegen ‚Maulchristentum‘ und Orthodoxie, unter anderem in: Mysterium iniquitatis pseudoevangelicae. Goslar 1621. Dazu Arndts Brief (2. 9. 1579) an den Baseler Professor Theodor Zwinger in CP III, Nr. 126 mit reichen Erläuterungen, sowie Nr. 128 (15. 8. 1581): der emigrierte französische Alchemoparacelsist Bernard Gilles Penot an Arndt; zu Arndt thematisch einschlägig Weber 1978; Wallmann 1980 und (1984) 1995, vor allem die Forschungen von Hans Schneider 1991 bis 2006; ferner Gruebner 1998; Geyer 2001 a und b und Gilly 2002b. Mit präzisen rezeptionsgeschichtlichen Nachweisen dazu Telle 2006.
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Parallel ertönte von Seite der Gegner aus ein vielstimmiger Chor von scharfen publizistischen Schmähungen, führend dabei neben dem Schulmann, Arzt und Chemiker Andreas Libavius (ca. 1555–1616)16 der Heidelberger Medizinprofessor Thomas Erastus (1524–1583) mit seinen voluminösen Disputationes De Medicina Nova Philippi Paracelsi (Basel 1571/1573). Diese auch international vielbenutzte Schrift bildete die Grundurkunde einer auf todeswürdige Machenschaften lautenden Anklage, in der Paracelsus des Neuheidentums, der arianischen Ketzerei, der Teufelsbündnerei und zahlreicher einzelner Verstöße gegen elementare Glaubensdogmen bezichtigt wurde: Nicht nur die creatio ex nihilo habe Paracelsus geleugnet, sondern auch die trinitarische Theologie abgelehnt, Gott nicht als allmächtigen Schöpfer anerkannt und die Lehre von der Auferstehung der Toten missachtet: Deshalb sei er verdammenswürdiger als Arius, Mohammed, als die Türken oder alle anderen Ketzer. Zwar wurden diese haltlosen Inkriminationen, was den Arianismus anging, auch von dem bekannten Mediziner und Polyhistor Konrad Gessner und dem kaiserlichen Leibarzt Crato von Kraftheim weitergegeben (zunächst gegen Bodenstein), doch waren sie im Fall des Erastus-Kompendiums wohl auch dadurch motiviert, dass sich Erastus gerade in jenen Jahren selbst der Sympathie mit den Heidelberger Antitrinitariern (vor allem mit Johannes Sylvanus, 1572 hingerichtet in Heidelberg) verdächtigen lassen musste, also mit seinen Schmähungen des Hohenheimers in eigener Sache die dringliche Flucht nach vorn antrat.17 Derartige orthodoxe Feldzüge verschränkten sich im 18. Jahrhundert mit Anwürfen seitens des philosophischen Rationalismus, abzulesen etwa an der hämischvernichtenden Paracelsus-Vita in der mehrbändigen Geschichte der menschlichen Narrheit (1785–1789) aus der Feder des sonst als Sprachwissenschaftler bekannten Johann Christoph Adelung.18 Was hier ins Visier genommen wurde, war ein durch Oswald Crollius (ca. 1560–1608),19 vorher schon durch den Dänen Petrus Severinus (Idea medicinae philosophicae, Basel 1571; s. CP III, Nr. 109) systematisiertes und mit den hermetistisch-neuplatonischen Strömungen der Renaissance harmonisiertes Gedankenprofil des Hohenheimers. In einer parallel laufenden hermeneutischen Transformation gehörte zu dieser theologisch-naturkundlichen Allianz auch die Spiritualisierung des Alchemoparacelsismus, erkennbar schon bei dem auf C. G. Jung einwirkenden Gerhard Dorn (ca. 1535–ca. 1584)20, besonders ausgeprägt dann bei dem von dem Böhmisten und bekannten Dichter Quirinus Kuhlmann prominent zitierten sächsischen Mediziner 16 17
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Zu Libavius vgl. Kühlmann 2000, 2006; CP III, Nr.130 sowie Müller-Jahncke 2010. Zu Erastus’ Angriffen auf die Vorstellung des mysterium magnum als ‚erster Materie‘ vgl. die Einleitung zu CP I, 12 f. sowie CP I–III (vgl. Register); zu Erastus vgl. Press 1970, bes. 246–253, Kühlmann/Telle 1985, Gunnoe 1998, Bröer 2006 und (zusammenfassend) Telle 2008c; zu Gessners Beschuldigung des Paracelsischen Arianismus vgl. CP I, 473 f. Dazu Kühlmann 1994. Zu ihm zusammenfassend Telle 2008c. Zu Dorn vgl. CP II, Nr. 83–93, 823–963; zusammenfassend Kühlmann 2008, 86 f.
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Heinrich Khunrath (1560–ca. 1605).21 Khunraths physikotheologische Umwidmung der alchemischen Begriffswelt und Bildsymbolik (Christus als „Stein der Weisen“ usw.), bis in die moderne Esoterik ausstrahlend, entsprach in vielen Einzelzügen der von und um Böhme ausgebildeten Idiomatik, ebenfalls die das Prophetieverbot der Orthodoxie unterlaufende Apologie der Theosophie und des „Enthusiasmus“ in Khunraths Traktat Vom Hylealischen, Das ist Pri-materialischen Catholischen Oder Allgemeinen Natürlichen Chaos (Magdeburg 1597): XI. Von den Wörtlein Theosophus, Theosophia, Theosophicé, ein Gottweiser, Göttliche Weißheit / GOttweißlich / hab ich […] kürtzlich mich genugsam erkläret. Will ein ander lieber dafür sagen / Philotheosophus / Philotheosophia, Philotheosophicé, das lasse ich auch geschehen. Ich will über den Worten mit niemand zancken / man lasse nur den Verstand gut bleiben. Wortzänckerey bauet nicht. XXII. Höre / du Lästermaul / sprichstu spöttlich / ich sey ein Enthusiast / dieweil ich in gegenwärtigen meinem Buch von Visionibus oder Gesichten und sonderlichen (jedoch Gut=Geistlichen) Offenbahrungen sage; so spreche Ich mit Wahrheit / du seyest ein Närrischer Phantast; der noch nicht wisse / oder aus Unbesonnenheit je nicht bedencke / was das Wörtlein Enthusiast eygentlich heisse; will geschweigen was Enthusiast recht sey. Ist Enthusiasmus, h[ic] e[st] Afflatio Numinis, das Göttliche Anhauchen (sine quo afflatu, teste etiam Cicerone, nemo unquam vir magnus, ohne welches niehmals eine fürtreffliche hochbegabte geschickte Person sey worden) Schwermerey / so müssen auch Bezaleel / Achaliab / und allerley Weisen / denen GOtt die Weißheit ins Hertz gegeben / etc. der König David (so niemals auf deine Weise studiret / und aus einem Hirten ein Prophet und Mann GOttes ward; Salomon welcher im Schlaff oder Traum einer Nacht mit aller obern und untern Dinge Weißheit erfüllet; Esaias / Ezechiel / Daniel / Esdras / auch andere Propheten und Apostel / so plötzlich und unversehens unterwiesen und gelehrt worden / Schwermer
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Vgl. Kuhlmann (1674) 1995, hier Tl. 1, 110 f.: „Der erste sei der verwundernswerte Mann / Henrich Khunrath / eine hochansehnliche Zirath seines Leipzigs / und ein Mensch fürwahr seltener und höherer Verständnis / als man von ihm glaubet. Er ward üm di allertifsten sach durchzuforschen / mit grosser begirde von Göttlichem Feuer entflammet / durchlaß der urältesten und alten als neuen Weltweisen Bücher; auf vilen Reisen hatte er mit allen überwigung gehalten / ja vermerket endlich / wi Gott selbst in der H. Schrift Natur und ihm selbst redete und antwortete. Als nun jhm derjenige / der es alleine kann / Jesus Christus / di Vatersweißheit das allgemeine Buch in der Dreizahl aufgethan / so erbaute er den Schauplatz der ewigen allleinwahren Weißheit / nach Christlichcabalistischer / Gottlichmagischer / wi auch Physischchymischer dreieinigallgemeiner Lehrart / ein rechtes Wunderbuch. Was redete aber darinnen von den heutigen Wissenschaften? ‚Die weltliche Weißheit/‘ spricht er /‚ die da heuchelhaftig / aufgeblasen / hoffärtig / zankhaftig / prahlend / mit Leerer Worte schwatzhaftigkeit einen verstandlosen Schall plaudert / mit dialectischem Zauberwerk durch sophismatische ümschweife / Verführungsgsnetze aufgespannet / dise ist jenes reitzerisches / schmeichelhaftes und verführerisches Weib / so närrisch und schreiend / welche sich mit lügenhaften Tittel vor die wahre Weißheit teuflisch den Narren verkaufet; da doch noch Paulus sprucht [sic! W.K.] bei Gott keine grössere Narrheit ist / als die Erdenweißheit; demselben nothwendig wegzuwerfen / welcher klug zu werden begehret‘.“ Zu Khunrath bietet umfassende Informationen der Artikel von Telle 2009; die internationale Forschung hat sich bisher vor allem mit Khunraths berühmtem Text-Bild-Werk Amphitheatrum Sapientiae Aeternae (Hanau 1609) beschäftigt; vgl. Gilly 2002a.
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gewesen seyn; dieweil sie Sophia Enthusiastica, Sapientia, quae Numinis afflatu concipitur, durch die Weißheit / so von Gott eingegeistert wird / unterwiesen und gelehrt waren.22
2. Ausgrenzung und Radikalisierung: Heinrich Nollius und Benedictus Figulus Mit diesen Andeutungen werden wir auf das sehr weite Feld eines Schrifttums geführt, dessen Autoren nicht selten auf markante Brüche ihres Lebenslaufs und manchmal auch auf akademische oder obrigkeitliche Sanktionen mit zunehmender intellektueller Radikalisierung reagierten. Zwar lässt sich beobachten, dass Universitätsmediziner wie Theodor oder Jakob Zwinger in Basel dem Alchemoparacelsismus näher traten, doch gab es in Deutschland um 1600 nur zwei Gelehrte mit alchemo-paracelsistischem Profil, die sich auf Professorenstellen behaupten konnten: in Marburg der Chemiater Johannes Hartmann (1568–1630), in Leipzig der Mediziner und sehr fruchtbare Fachschriftsteller Heinrich Tancke/Tanckius (1557–1609),23 beide offenbar gestützt von der Gunst ihres jeweiligen Landesherren. Dem stehen nicht wenige gebrochene Existenzen gegenüber, in deren Werdegang sich individuelle Obsessionen mit geistesgeschichtlichen Umwälzungen und obrigkeitlichen Eingriffen überschneiden. Zu den vergleichsweise wenigen Autoren unseres Darstellungsbereichs, deren Scheitern nicht im historiographischen Dunkel verläuft, sondern symptomatisch für bestimmte Konstellationen recht genau zu beobachten ist, gehört der in zahlreichen Schriften als engagierter Theoretiker und Praktiker des paracelsistisch gefärbten ‚Hermetismus‘ auftretende Heinrich Nolle/Nollius (ca. 1583–1626).24 In seinen Schriften und seinem nicht unkomplizierten akademischen Leben lässt sich der Weg vom Aristoteliker und akademischen Metaphysiker zu einem Naturphilosophen verfolgen, der, zeitweise gefördert von Landgraf Moritz von Hessen, mit cabbalistischen, chiliastischen und alchemischen Denkfiguren (auch in eigener laborantischer Arbeit) operierte, sich zwar weder Paracelsus noch Weigel oder den Rosenkreuzern bedingungslos anschloss, jedoch den Hohenheimer für einen ‚großen Mann‘25 hielt, den pseudoparacelsischen, höchst angefochtenen26 und bei Böhme weiterwirkenden kosmo22 23 24 25
26
Hier ohne die Marginalien zitiert nach der späteren Ausgabe Frankfurt a. M. 1708: Ndr. 1990, Vorrede, unpaginiert Absatz XI–XII. Zu Tancke nach Benzenhöfer 1987 nun weiterführend mit Editionen und Erläuterungen CP III, Nr. 155–156. Zu Nollius vgl. CP III, Nr. 170, sowie Meyer-Oeser 2009 und Kühlmann 2010a. Nollius 1620, B5r: „Paracelsus Vir magnus est, et Philosophiam meo judicio dexterius explicavit, quam universa Aristotelicorum turba. Weigelius divinioris Sapientiae studiosissimus divina plane et nullo unquam aevo intermoritura manuscripta, ingenii sui excellentia monumenta, post se relinquit.“ Vgl. CP I, 11–13.
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logischen Begriff des „Mysterium magnum“ bedachte und sich um eine spätplatonistische Genesis-Exegese bemühte. Schon dass Nollius seine Professur an der kleinen calvinistischen Hochschule in Steinfurt verlor, dürfte auf seine ketzerischen hermetistischen Obsessionen zurückzuführen sein. In der Vorrede seines kurz vor dem Ende der Steinfurter Zeit publizierten Naturae Sanctuarium, quod est Physica Hermetica (1619) wandte sich Nollius an die „docti Theosophi, veri medici et philosophi“ und umriss seine von einer eschatologischen Perspektive bestimmte Weltsicht, in der er zugleich die Basis für eine Reform der Künste und Wissenschaften fand, ja damit eine neue und letzte Epoche der Aufdeckung aller Geheimnisse des Universums proklamierte. Bald darauf, im Januar 1623, wurde Nollius – zusammen mit Philipp Homagius, einem bereits 1619 verurteilten und schließlich als geisteskrank geltenden ‚Ketzer‘ – in einem durch reiches Aktenmaterial (hauptsächlich Universitätsbibliothek Gießen; Hessische Staatsarchive Darmstadt und Marburg) dokumentierten Prozess wegen seiner „Rosenkreuzerei“ und „weigelianischen Schwärmerei“, auch wegen angeblicher nächtlicher Treffen mit gleichgesinnten „Fanatikern“ angeklagt und sollte eingekerkert werden. Ausschlaggebend war dabei Nollius’ 1623 in Gießen publiziertes Parergi philosophici Speculum (Verfassermanuskript heute noch bei den Prozessakten), eigentlich nur eine harmlose alchemo-allegorische Erzählung in Art des Rosenkreuzer-Märchens, in welcher der Verfasser – neben dem Bekenntnis zu Hermes und zu Paracelsus – allerdings seine auch schon früher, vor allem in der Via Sapientiae Triuna (1620), geäußerte Hoffnung auf die Generalreformation der Wissenschaften deutlich zutage treten ließ. Die Prozessakten (in CP III, Nr. 170, in Auszügen abgedruckt) geben tiefe Einblicke in die zerklüftete, vom Hass orthodoxer Theologen und von der Angst der Obrigkeit geprägten Atmosphäre der Rosenkreuzer-Epoche und kennzeichnen Formen der massiven Repression, wie sie kurz vorher (1619) selbst unter Moritz von Hessen in Marburg (gegen Homagius, den Schwiegersohn des Druckers der RosenkreuzerManifeste), fast gleichzeitig (1622) in Tübingen gegen den Drucker Eberhard Wild27 mit dem Ziel ins Werk gesetzt wurden, die Häresien des paracelsistischen ‚Weigelianismus‘ samt der darin wurzelnden ‚Rosenkreuzerei‘ zu unterdrücken – zumal in einem historischen Moment, in welchem der katholische Kaiser politisch und militärisch die Oberhand gewonnen hatte und besonders lutherisch-kaisertreue Regierungen (HessenDarmstadt, Württemberg) jeden Verdacht des laxen Umgangs mit ‚Ketzern‘ und Weltverbesserern vermeiden wollten. Unter anderem lassen die Nollius-Akten die von Landgraf Ludwig V. von Hessen-Darmstadt ausgehenden Beschwerden und Edikte erkennen: Von dem Nollio verstehen wir soviel: nachdem Derselbe seiner Schwärmerei halben schon vor diesem zu Steinfurth abgeschafft, daß er sich etliche Wochen in unserer Festung Giessen aufgehalten und daselbst unter unseres Universitäts-Professors Dr. Samuel Stephani Censur 27
Dazu zusammenfassend Kühlmann 1996 und 1998 sowie mit der Literatur (Bubenheimer, Fauth) CP II, Nr. 85, 892 f.
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obberührtes Speculum in Druck gegeben, in welchem vielerhand nachdenkliche und ärgerliche Dinge zu befinden, und daß er vorhin noch ein ander Büchlein in Druck gebracht, welches er unserem Vetter, Landgraf Moriz zu Hessen dedicirt, darin auch grobe verdammte Schwärmereien zu befinden. Gegen diesen Nollium sollt ihr eben so procediren, ihn in Haft legen, ihm alle seine bösen Dogmate vorhalten, und euch insonderheit, durch wessen Anleitung er nach Giessen kommen, wer ihn unterhalten und sonst seines Anhanges sei, erkundigen. Und weil gute Aufsicht und exemplarischer Proceß in diesen ärgerlichen Dingen nöthig, sollt ihr Beide, Homagium und Nollium unserem Hauptmann liefern, daß er sie an sichere Orte und einen Jeden absonderlich in’s Gefängniß lege, daß Niemand zu ihnen kommen, auch kein Schreiben beigestoßen werde. Ihr sollt auch den Buchdrucker Chemlium vorfordern und ihn auf einen leiblich geschworenen Eid examiniren, wie er an solchen Tractat kommen, wer ihm denselben zugestellt oder commendirt, dazu Anlaß oder Beförderung gegeben, wieviel Exemplare er gedruckt, weggegeben, verkauft, verschenkt, vorhanden; auch dieselben von Allen abfordern, versiegeln und in unsere Canzlei-Repositur bis auf weiteren Befehl legen. Wir haben auch erfahren, daß der Universitäts-Buchbinder, wenn er den Studenten Bücher einbindet, ohne ihr Vorwissen solch Speculum oder dergleichen Sachen zu ihren Büchern gebunden, welches keines anderen Ansehens, als daß diese durch solch Gift unvermerkt eingenommen werden sollen; befehlen euch, daß ihr diesen Buchbinder durch was Occasion, Recommandation geschehen, wie und auf wessen Beförderung und Unterhalt der Nollius in sein Haus gethan, eidlich examinirt.
Gewiss, auch Paracelsus hoffte auf die Restitution des universalen Wissens in einer endzeitlichen Offenbarung, doch ausgesprochen chiliastische oder aggressiv apokalyptische Töne sind bei ihm ebenso wenig zu finden wie, von fraglichen Ausnahmen abgesehen, die pathetische, bisweilen drohende Beschwörung einer Wiederkehr des geheimnisvollen Elias Artista, der in der Endzeit der Welt die Summe allen Wissens verkünden sollte.28 Im Zeichen dieses Elias Artista warteten allerdings nicht wenige Paracelsisten auf eine anbrechende „Zeit der Rosen“, ja eine „Goldene Zeit“, eine Epoche der „Erneuerung und Wiedergeburt“, dies wider alle Bekundungen erb- und ursündlicher Verderbtheit menschlicher Ambitionen. Im Franckenberg-Netzwerk, also in der Sphäre der Böhmisten, aber auch bei Bodenstein wollte man sogar schon in Paracelsus selbst den angekündigten Elias Artista entdecken.29 Die Denkfigur einer anstehenden und notwendigen totalen Erneuerung des Wissens schlug sich dabei manchmal in äußerst polemischen Texten nieder, die Licht auf weitere intellektuelle Verknüpfungen und bizarre, oft dunkle historische Konnexionen werfen: Sie äußern sich besonders eindrucksvoll in Vorreden und Widmungsgedichten des fränkischen Pfarrersohnes und von Paul Schede Melissus gekrönten lateinischen Dichters Benedictus Figulus (1567–nach 1624), eines Mannes also, der bisher fast nur aus einer abfälligen (verdächtig apologetischen) Erwähnung bei Johann Valentin Andreae (Autobiographie) als ‚Herumtreiber‘ („circumcellio“) und aus seinen engen
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Zur Figur des Elias Artista vgl. Witte 1987, Pagel 1981, Breger 1984. Vgl. zur eschatologischen Topik CP I, 273 und öfter; vgl. die Sachregister in CP I–III.
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Verbindungen mit Protagonisten der frühen Rosenkreuzer als Kenner und möglicher Vermittler der ersten Rosenkreuzermanifeste bekannt geworden ist.30 Die wahrhaft abenteuerliche, nach Paracelsus’ Wanderleben stilisierte „Pilgrimschaft“ des aus seiner kleinen Pfarre vertriebenen Figulus, die fragile Existenz des „2000 oder 3000 Meilen“ weit von Exilort zu Exilort herumirrenden Adepten, paracelsistischen Wanderpredigers, Publizisten und Handschriftensammlers, der sich erfolglos um eine Ausgabe auch der theologischen Werke des Hohenheimers bemühte, umreißt einen weiten Kontaktraum mit verschiedenen Gönnern und Gelegenheitsmäzenen in den süddeutschen Städten (Nürnberg, Augsburg, Straßburg), auch in Kassel bei Landgraf Moritz (zu ihm ausführlich CP III, Nr. 166), wo Figulus Manuskripte hinterließ, und im Alpenraum. Zu Figulus’ Vertrauten gehörte auch jener Schulmeister, Organist und Notar Adam Haslmayr, der als Ketzer und begeisterter Paracelsist 1612 nach Genua auf die Galeeren verbannt wurde. Über Haslmayrs alchemotheologischen und paracelsistischen Handschriftenbestand informiert ein „Catalogus“ in Joachim Morsius’ Nuncius Olympicus (Amsterdam 1626).31 Haslmayr glaubte an den künftigen Sieg der wahrhaften „Theosophia“ und stellte Christian Rosenkreuz und Paracelsus auf eine Stufe. Haslmayrs Responsion auf die rosenkreuzerische Fama Fraternitatis (Kassel 1614, dort mit abgedruckt) setzt den Besitz einer frühen Fama-Handschrift (um 1610) voraus, an deren Verbreitung sich Figulus beteiligte. Ob es Figulus war, durch welchen die Fama in Landgraf Moritz’ Hände und in Wilhelm Wessels Druckerei gelangte, ist nicht zu beweisen, jedoch sehr wohl möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich.32 Figulus träumte von einer endgültigen Offenbarung allen Wissens vor dem nahenden Weltende, und Elias Artista fungiert dabei als der von Paracelsus vorausgesagte Vorbote des endzeitlichen Christus. So auch in einem Widmungsbrief (1607) an Kaiser Rudolph II., in dem Grundzüge dieses Weltbildes und eines „sehnlichen Verlangens“ sichtbar werden (Auszug aus CP III, Nr. 161): Sintemal aber ELIAS ARTISTA, von deme Theophrastus propheceyet/ Fr[ater] Basilius vnd Alexander von Süchten auch Meldung darvon thun/ ohne zweiffel nicht lang mehr aussen bleiben kan/ sondern schon wol allbereit/ als ein rechter vngezweiffelter Vorbott vnd Praecursor CHRISTI IESV ad iudicium vniuersale venturi, auff der Bahn ist/ welcher vnsern Teutschen Monarcham AVREOLVM Ph[ilippum] Theophrastum PARACELSVM, in Theologia GRATIAE, Astronomia GRATIAE, PHILOSOPHIA GRATIAE, wie auch in Medicina GRATIAE, vnd andern Faculteten vnnd Artibus mehr repraesentirn, auch seine Scripta elucidirn vnnd declarirn,/ ja ein rechter Mysteriarcha vnnd Interpres seyn wirdt der Göttlichen/ vberhimmlischen Magnalium vnd Geheimnussen Gottes/ so er in seine Creata gelegt: so wirdt darob die Gottlose/ verruchte/ blinde/ vnnd in allerhand Sünd/ Schand/ Lastern vnd Vntugenden ersoffene vnd ertrunckene Welt erschrecken/ vnd verstummen müssen/ das kleine 30
31 32
Zu Figulus Telle 1987, in CP III, Nr. 161–168, weitergeführt und durch Editionen, Kommentare und ein Werkverzeichnis ergänzt. Daraus im Folgenden ohne die Kommentare, aber mit den Übersetzungen (W.K.) einige Auszüge. Zu Morsius vgl. Telle 2010. Zu Haslmayr und seinem Verhältnis zu Figulus vgl. Gilly 1994b sowie Telle 2009.
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Häufflein aber der Nachfolger/ vnd Liebhaber der edlen Kunst ALCHYMIAE, als der himmlischen Warheit/ wird sich von hertzen darob erfrewen/ vnd Gott für solche gnädige Offenbarung dancken.Darumb trage ich auch (der ich doch als ein vnwürdiger Tyro zu diesem Studio kommen/ vnnd gleich wol von Jugendt auff Lust/ Lieb vnnd nicht geringe Anmuthung vnnd Affectation darzu gehabt) ein hertzlich sehnlich Verlangen nach dieses zukünfftigen/ ja vielleicht schon gegenwertigen ELIAE Ankunfft vnd Offenbarung/ damit doch Gottes allerheyligster/ groß-mächtigster Nam/ sein Ehr vnd Glori desto mehr außgebreitet vnnd befördert/ vnd die arge Lunatische Lust vnd geldtliebende Welt/ die die Finsternuß mehr dann das Liecht liebet/ vber dem hellen klaren Schein/ dieses himmlischen Gnadenliechts/ so der getrewe/ gütige/ vnd langmütige Gott vor dem End dieser Welt öffentlich in Germanien will anzünden/ vnnd hell vnd klar leuchten lassen/ vollendts erblindte/ zu spott vnd schanden werde/ vnd in jhres Hertzen vnbußfertiger Verstockung jhren verdienten Lohn dahin nemme: Weil sie das recht Gnadenliecht CHRISTVM IESVM den Gecreutzigten/ der in diese Welt kommen/ alle Menschen/ so wahrhafftig an jhn glauben/ vnd getauffet werden/ zu erleuchten/ vnd die bußfertigen Sünder selig zu machen/ nicht erkennen noch annemmen wöllen. Demnach mir nun auch/ als einem kunstliebenden Indagatori der Natur/ vnnd dieser edlen Kunst/ in meiner sechsjährigen Pilgramschafft etliche gute nützliche Schrifften zu handen kommen/ so von der hochlöblichen offt erwehnten Kunst Chemia, vnd von dem gebenedeyten Stein der Weisen handeln vnnd tractiren/ auch meiner Wissens vnd Erachtens noch zum theil nie in publicam lucem, sonderlich in Teutscher Sprach kommen.
Bei Bedarf konnte Figulus, der gekrönte lateinische Dichter, jederzeit vom Deutschen ins Lateinische wechseln, und so verwundert es nicht, dass andere Widmungen in Gestalt formvollendeter lateinischer Elegien und im Gewande des Dichter-Vates geschrieben wurden – wieder einmal Indiz dafür, dass jede dogmatische Antithese von literarisch-humanistischer Gelehrsamkeit bzw. Formkompetenz und laikalem Paracelsismus als Chimäre anzusehen ist. Der von Figulus in diesen Gedichten angeschlagene Ton, zumal bei potentiell gleichgesinnten Adressaten, konnte sich verschärfen und den Autor mit Weh- und Drohrufen in die Rolle des endzeitlichen Strafpredigers und Propheten rücken. So etwa in einem die Wiederkehr eines Enoch und Elias Artista, auch künftige „Saturnia regna“ beschwörenden Widmungsgedicht an dem im habsburgischen Umkreis bediensteten Johann von Seelbach (Figulus 1608, 109–111, nach CP III, Nr. 164): SEehbachiae Stirpis Sidus ter Nobile, IANE BAPTISTA, ô Generis viua columna tui. Accipe sincera munuscula mente profecta Chemica, nunc offert quae Benedictus amans Artis secretae, Diuinae, Coelitus ortae, Et Theophrasteae Cultor, in orbe, scholae, Quae in te constantis nostri monimenta fauoris Sint et contractae pignus amicitiae. Hactenus Hesperiis sudasti gnauiter hortis Impiger, extremo multa labore parans, Plurima veracis documentaque saepius artis Perspexti; Inuenta est crebra medela tibi. Quisquis inexpertus Diuinam hanc proterit Artem
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210 Spernit, contemnit verè Anathema mihi. Cedite fallaces, SYRUPICA TVRBA, Magistri: Nonne inter Medicos iam Theophrastus ouat Solus Apollineos: Decus immortale manebit Huius in orbe VIRI, fama, perennis Honos. Omnia rumpantur licet inuida Corda, MAGISTRI Et Praeceptoris Enthea Scripta dabo. Hunc OMNES, OMNES toto orbe sequantur oportet. Buccina [griech.:] aletheias nam PARACELSVS erat. Quisquis contemnit Diuini scripta Magistri, Ille ipsum spernit, qui regit astra, Deum.33 Fautor Amice, modò breue post quid fiet, ELIAS Quando ARTISTA aderit, deinde Beatus Enoch, De quibus AVREOLVS noster praedixerat, illud In scriptis repetit hinc et vbique suis. Crede mihi praestò sunt, viuunt ambo: Malignus Sentiet Orbis. Homo desere turpe nefas, Et resipisciendo solum complectere CHRISTVM, Mendacis mundi putida scripta fuge, etc. Dira flagella DEVS demittet ab æthere summo, Pestem, bella, famem, plura flagella necis. Nam furor exarsit diuinus; Olympus et ipse Praeparat incensus tela furore graui, Peccatis variis immerso turpiter Orbi, Pestiferae succo perlita tela luis. O Patria infoelix! Quæ te infoelicia fata (Horresco referens) mille pericla manent. Teutonia infoelix planè excaecata, Prophetas Falsos quàm diu amas? hos neque nosse cupis? Cum tamen expressis verbis descripserit ipse CHRISTVS, ab explicitis hosce cauere notis Iusserit. O vecors immundi INSANIA Mundi! Quae Christum lucem respuis atque fugis Coelitus exortam: Deliramenta Sophorum Ethnica sectando, certa venena tuae Certo animae. Ah oculos nunc erige, respice Christum Solum. Quae Mundi, gaudia vana fuge: Sunt animae casses periturae: Desere Mundum Sub stygias etenim praecipitaris aquas. Post mille exhaustos casus, et mille labores, Aetas quos nostra haec luxuriosa nimis Sentiet; hinc tandem Saturnia Regna sequentur, Constituet Regimen Christus in orbe Nouum. Aurea succedet, lutulentaque desinet Aetas, Christi miraclis ingeniosa nouis. Dulcia quam nostram pertentant gaudia mentem, 33
Deum.] Deum, (Textvorlage).
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Signaturen des paracelsistischen Dissidentismus Quando aderit nobis conspiciendus ENOCH, Ac indiuiduus Comes eius, MAGNVS ELIAS, Docturi gentes, quae sit ad astra via. Verum extra metam ferè nostra Camoena vagata est, Talia nec dices hoc referenda loco Optime Seebachi, nostram tu fronte serena Musam acceptabas, atque fauore tuo AVGVSTO34 memet complectebaris amicè, Insinuans animo Chemica plura meo. Perge fauere meis conatibus, Inclute Fautor, Officiis studium promoueasque meum. Immemorem facti me nulla redarguet hora, Quamuis pauperies me premat vsque grauis. Sim tuus ex animo: Penitis nam tute medullis Totus inherescis, Magne Patrone, meis, etc.
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Dreifach edler Stern deines Geschlechtes, Janus Baptista Seebach, o lebende Säule deines Hauses, nimm die in reiner Gesinnung hervorgebrachten kleinen chemischen Gaben an, die dir Benedictus als Liebhaber der geheimen, göttlichen und dem Himmel entstammenden Kunst, [5] auch in der Welt als ein Verehrer der Theophrastischen Schule darbietet. Mögen sie dir gelten als Monumente unserer auf dich gerichteten beständigen Zuneigung und als Unterpfand unseres Freundschaftsbundes. Bisher schon hast du kundig und eifrig in den Hesperischen Gärten geschwitzt, vieles mit großer Mühe zubereitet, [10] hast des öfteren sehr viele Dokumente der wahren Kunst begriffen; häufig wurde von dir ein Heilmittel gefunden. Jeder, der ohne Erfahrung diese göttliche Kunst schmäht, verachtet und verdammt, soll mir wahrhaft ausgestoßen sein. Verschwindet, ihr trügerischen Meister, Sirup-Truppe: [15] Denn triumphiert nicht schon unter den Apollinischen Medizinern allein Theophrastus? Unsterblich wird auf Erden die Zierde dieses Mannes bleiben, ewig sein Ruhm und seine Ehre. Mögen auch alle neidischen Herzen vor Neid zerplatzen, ich werde die göttlichen Schriften des Meisters und Lehrers herausgeben. [20] Alle, alle auf der ganzen Welt müssen ihm folgen. Denn Paracelsus war die Posaune der Wahrheit. Jeder, der die Schriften des göttlichen Meisters verachtet, der verachtet Gott selbst, der die Sterne regiert. Gönner und Freund, was wird geschehen, wenn binnem kurzem Elias [25] Artista kommen wird, dann der selige Enoch, über die unser Aureolus weissagte, es in [seinen] Schriften hier und überall wiederholt? Glaube mir, sie stehen vor der Tür, sie leben beide, die böse Welt wird es merken. Mensch, laß ab von schändlicher Tat, [30] schweige und ergreife allein Christus, fliehe die ranzigen Schriften der betrügerischen Welt! Vom höchsten Himmel wird Gott furchtbare Geißeln senden, Pest, Kriege, Hungersnot, viele Geißeln des Todes. Denn der göttliche Zorn ist entbrannt, und der Olympier selbst [35] bereitet in heißem Zorn seine Geschosse vor, da die Welt schändlich in mannigfachen Sünden ersoffen ist, Geschosse, benetzt mit dem Gift einer verderbenbringenden Seuche. O unglückliches Vaterland! Welch unglückliches Schicksal, tausend Gefahren (ich schaudere, wenn ich davon spreche) warten auf dich! [40] Unglückliches Deutschland, ganz verblendet, wie lange noch liebst du die falschen Propheten? Willst du sie denn nicht erkennen? Wo doch Christus selbst sie ausdrücklich beschrieben hat, mit deutlichen Merkzeichen geboten hat, sich vor ihnen zu hüten. O sinnloser Wahnsinn der unreinen Welt! [45] Der du Christus ausspeist und das Licht fliehst, das vom Himmel kommt, 34
AVGVSTO] AVGVSTAE (Textvorlage).
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den heidnischen Phantastereien der Weisen folgst, sicherlich ein sicheres Gift deiner Seele. Ach, richte deine Augen auf, blicke allein auf Christus, fliehe die eitlen Freuden, die der Welt eigen sind! [50] Es sind Fallstricke der Seele, die daran zugrunde gehen wird. Laß fahren die Welt, denn du wirst in die Wasser der Unterwelt hinabstürzen! Wenn tausend Unglücke und tausend Leiden ausgeschöpft sind, die dieses unser allzu schwelgerisches Zeitalter spüren wird, dann endlich werden Saturnische Reiche folgen, [55] wird Christus eine neue Herrschaft in der Welt errichten. Das schmutzige Zeitalter wird enden und folgen das edle Goldene Zeitalter Christi mit seinen neuen Wundern. Welch süße Freuden werden unseren Geist dann durchziehen, wenn uns sichtbar gegenwärtig sind Enoch [60] und sein unzertrennlicher Gefährte, Elias Artista. Sie werden die Völker darüber belehren, welcher Weg zu den Sternen führt. Aber fast schweift unsere Muse außerhalb ihrer Grenze herum, und du wirst sagen, daß solches nicht an diesem Ort gesagt zu werden braucht, bester Seebach. Du hast unsere Muse mit heiterer Stirn [65] aufgenommen, mich freundschaftlich mit deiner erhabenen Gunst gehegt, mir noch mehr chemische Dinge vorgeschlagen. Fördere weiter meine Versuche, erhabener Gönner, und begünstige mit [deinen] Diensten meine Bemühung! [70] Keine Stunde wird mich als uneingedenk deiner Tat bezichtigen, mag mich auch weiterhin drückende Armut pressen. Dein möchte ich aus ganzem Herzen sein, denn gewiß bist du ganz mit der Tiefe meines Inneren verwachsen, etc.
Selbst als Figulus poetisch um die Gunst des großen Alchemoparacelsisten und Leipziger Professors Joachim Tancke/Tanckius (zu ihm s.o.) warb, wollte er nicht darauf verzichten, die Topologie eines gängigen Kasualgedichtes sehr bewusst mit seiner dringlichen eschatologischen Warnung zu sprengen. Dabei ging es nicht mehr nur um die universale Offenbarung allen Wissens, sondern auch um den in ‚Schwert, Pest und Hungersnot‘ auszugießenden göttlichen Zorn und eine damit anbrechende Zukunft, in der sich auch ‚der Arme aus seinem Elend erheben‘ wird – Töne also, die in dieser sozialen Schärfe eher ins frühe 16. Jahrhundert als ins künftige 17. Jahrhundert zu verweisen scheinen (Figulus ca. 1608, Bl. A2r–A3v; Schlußverse, ab V. 51, nach CP III, Nr. 165): […] Excipias hilari munuscula talia fronte: In te sint animi ceu documenta mei Ex imis cordis penetralibus vsque fauentis, Quaerentisque tuae vincula amicitiae. O vtinam nostros conatus vsque iuuare Quis posset facili munificaque manu. PAVPER vbique iacet: nec eum qui subleuet, vllus: Paupere saepe latent magna talenta casa. Tempus adest id, vt exsurgat de stercore pauper Confortante manu cunctipotentis HERI. Implebitque bonis inopes, saturabit egenos, Ambrosiae diuae quos tenet alta fames. Atque propinabit Diuini flammea VATIS ESDRAE, his qui sitiunt, pocula, crede mihi. Econtra calicem furibundo flumine plenum Irae diuinae, vindice, crede, manu Euacuandum tot furiosis hostibus Almae
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Signaturen des paracelsistischen Dissidentismus IOVA Crucis, nigra non sine fece dabit. Impia turba Caue, Resipisce, amplectere CHRISTI Omnipotens VERBVM Coeligenumque sonum. Oscula submiti Coelorum ferto Parenti Submissa, ac humili fundito voce preces. Hortatur Psalmo ceu te Psalmista secundo, Oscula fer GNATO, ne peritura sies. Tempora iam praestò sunt infoelicia, Mundum Puniat vt gladio vindice, peste, fame, Ira succensus. Solio surrexit ab alto, Hostes conculcet toto vt in orbe Deus. Ante oculos manifesta quidem spectacla videmus, Nec tamen apparet vir probitatis amans. Diuitiis inhiet fluxis modò totus ut ORBIS? Coelestes negligens altitonantis opes; Ipse vides mecum Tancki lectissime, abundè. Ludicra Mundus amat, diuitiasque colit. Thesauros quaerit: Thesaurum Coelitem, IESVM Respuit: Humana en Vox magè VOCE DEI Iam cordi est, qui nos ad sese inuitat amanter, A semet SOLO DISCERE nosque iubet. Vox Tua, Diue, Tuum, IESU, Venerabile VERBUM Infixum cordi sit maneatque meo. Sim35 licet indignus peccator, inopsque: Beabis Meque meosque polo: Sim famulusque tuus. Optime iam TANCKI, mea pectoris intima sensa Prolata ignoscas, non dubitante fide: Intus agente DEO: nobis dictante Magistro Flamine sacrato. Simplicitatis opus Hoc nostrae reputes. Haec nostra fluentia vena Paupere consulito carmina quaeso boni. Interea sospes viuas, videamus vtrinque Donec nos forsan commoditate breui. Colloquioque frui detur, quoque iungere Dextras Dextris optatas. Viue valeque diu.
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[…] Mögest du solch kleine Gaben mit heiterer Stirn aufnehmen, mögen sie dir gleichsam Dokumente meines dir stets in tiefstem Herzen zugewandten und die Bande deiner Freundschaft suchenden Geistes sein. O wenn doch jemand unsere Versuche weiter unterstützen [55] könnte mit leichter und freigebiger Hand! Überall liegt der Arme nun danieder, und keiner ist da, der ihn aufhebt. Oft verbergen sich große Talente in einer armen Hütte. Die Zeit ist da, daß sich der Arme aus dem Mist erhebt dank der stärkenden Hand des allmächtigen Herren. [60] Er wird die Ohnmächigen mit Gütern erfüllen und die Elenden sättigen, die der tiefe Hunger nach dem Himmlischen Ambrosia aufrecht hält. Und, glaube mir, Jehova wird den Dürstenden die flammenden Pokale des göttlichen Propheten Esdra zu trinken geben und, glaub’ es, auf der anderen Seite mit zorniger rächender Hand – nicht ohne 35
Sim] Sum (Textvorlage).
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schwarzen Bodensatz – den vollen Becher [65] des göttlichen Zorns zu leeren geben den so zahlreichen wilden Feinden des heilsamen Kreuzes. Gottloser Haufe, nimm’ dich in Acht, schweige, umklammere das allmächtige Wort Christi und seinen himmlischen Klang! [70] Küsse ehrfürchtig den Vater der Himmel und bete mit demütiger Stimme! So wie dich der Psalmist im zweiten Psalm dazu auffordert: „Küsset den Sohn, daß er nicht zürne!“ Furchtbare Zeiten stehen bevor, [75] daß er die Welt strafe mit rächendem Schwert, mit Pest und Hungersnot, vom Zorne getrieben. Vom hohen Thron hat sich Gott erhoben, um in der ganze Welt seine Feinde zu zerschmettern. Vor unseren Augen erblicken wir fürwahr die offenkundigen Schauspiele. Und trotzdem erscheint nicht ein Mann, der die Rechtschaffenheit liebt. [80] Soll die ganze Welt nur gieren nach flüchtigem Reichtum, mißachten die himmlische Macht des hochdonnernden Gottes? Mit mir siehst du das im Übermaß selbst, erlesener Tanckius. Die Welt liebt Schauspiele und verehrt den Reichtum. Sie sucht nach Schätzen, den himmlischen Schatz, Jesus, [85] speit sie aus, die menschliche Stimme, sieh’, gilt schon mehr als die Stimme Gottes, die uns liebend zu sich einlädt und uns befiehlt, von ihm allein zu lernen. Deine Stimme, dein verehrungswürdiges Wort, Jesus, sei bleibend eingeprägt meinem Herzen! [90] Mag ich auch ein unwürdiger und armer Sünder sein, du wirst mich und die Meinen im Himmel beglücken, und ich möchte dein Diener sein. Bester Tanckius, verzeih’, daß ich dir die innersten Gedanken meiner Brust so unvermittelt voller Vertrauen ausgeschüttet habe. Innen treibt mich Gott, ein heiliges Wehen ist der Meister, der uns diktiert. [95] Verweigere dich nicht dem Werk unserer schlichten Gesinnung! Laß dir bitte angelegen sein diese unsere aus einer armen Ader fließenden Gedichte. Einstweilen lebe wohlbehalten, bis wir beide uns vielleicht bei baldiger Gelegenheit sehen [100] und unser Gespräch genießen können und dabei, wie gewünscht, unsere Rechten verbinden können! Lebe und lebe wohl!
Mit den Publizisten und Alchemoparacelsisten Benedictus Figulus und Heinrich Nolle/Nollius darf in repräsentativer Weise die Gründungs- und Kampfphase des „Frühparacelsismus“ im Sinne einer integrativen wissenschaftlichen und kulturellen ‚Formation‘ als abgeschlossen gelten. Doch bis weit ins 18. Jahrhundert blieben Paracelsus und Paracelsica in Editionen, Adaptionen und Rezeptionszeugnissen aller Art auf dem Buchmarkt präsent. Selbst die Entzauberung des Corpus Hermeticum, seine Datierung in die nachchristliche Zeit durch Isaac Casaubonus (1614),36 durch den Mediziner, Naturphilosophen und bekannten Staatstheoretiker Hermann Conring (1606–1681)37 und auch durch den Theologen Colberg verbreitet, änderte gerade in Deutschland wenig an der zumindest 36 37
Dazu umfassend, wenn auch mit einem problematischen Begriff des „Endes“ operierend, Mulsow 2002. Wichtig von Conring die auch den Paracelsismus einbeziehende Schrift De Hermetica Aegyptiorum Vetere et Paracelsicorum Nova Medicina (Conring 1648), hier Kap. 14, 177–181, der letzthin historisch zutreffende Versuch einer Trennung des genuin Paracelsischen Erbes von dem des Hermetismus („Paracelsum se noluisse haberi Hermeticum, nec veteris sapientiae Hermeticae fuisse peritum; dubiae porro fidei esse eius quae feruntur scripta, nec illum vel secum vel cum disicipulis consentire“); Conring argumentiert ausdrücklich bes. gegen Petrus Severinus, aber auch gegen Bodenstein, Suchten, Dorn, Phaedro, Crollius, Hartmann, Quercetanus u. a., muß dabei freilich zugestehen: „Vt hodie Hermetica illa nova disciplina vere hydra quaedam sit multorum capitum.“ (181). Vgl. zum Thema Rosner 1983.
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unterschwelligen Präsenz hermetistischer Impulse und Denkfiguren durch die ‚Aufklärung‘ hindurch bis in die Zeit der Romantik. Allerdings schoben sich im 17. Jahrhundert im medizinischen und naturkundlichen Sektor, auch mit der Aufweichung und Umbildung des herrschenden Aristotelismus, eher vermittelnde und synkretistische Positionen in den Vordergrund. Auf der anderen Seite gingen die naturtheologischen Diskurse, darunter Impulse der Theo-Alchemie, mithin auch die transkonfessionellen religiösen Reformanstöße des Paracelsismus ein in die bis in die dreißiger Jahre von den Rosenkreuzerschriften inspirierte publizistische Debatte und wirkten dann noch lange nach in verschiedenen Strömungen des protestantischen, vor allem des radikalpietistischen Dissidentismus, nicht nur, aber vornehmlich im Gefolge Jacob Böhmes.38 Es war dies ein Artikulationshorizont, an dem sich in einer je spezifischen Mischung paracelsistischer, hermetistischer und böhmistischer Anregungen zahlreiche prominente und weniger prominente Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts orientieren konnten.39
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Dazu Kühlmann/Vollhardt 2012. Zugänge und Thesen zur literarischen Rezeption, im Einzelnen diskussionswürdig, bieten zahlreiche ältere Untersuchungen (Kemper, Dohm, van Ingen u. a.), jüngst etwa auch Bergengruen 2007.
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SASCHA SALATOWSKY
Dürfen Sozinianer geduldet werden? Obrigkeitliche und theologische Debatten in Brandenburg und Preußen im 17. und 18. Jahrhundert
1. Religiöse Konstellationen in Brandenburg Am 8. und 9. Mai 1626 kam es an einem ungewöhnlichen Ort zu einem ungewöhnlichen Privatgespräch: In der Zitadelle Spandau bei Berlin, die zu der Zeit als ein Gefängnis genutzt wurde, trafen sich vier Theologen unterschiedlicher Konfessionen: Johann Berg (1587–1658),1 reformierter Hofprediger des Kurfürsten von Brandenburg Georg Wilhelm (1595–1640), die beiden lutherischen Theologen Hieronymus Brunnemann (1563–1631)2 und Petrus Vehr der Ältere (1585–1656)3 und schließlich ihr ehemaliger Glaubensbruder Joachim Stegmann der Ältere, der unter sozinianische Einflüsse geraten war und aus diesem Grunde in Spandau festgehalten wurde. Man traf sich also nicht freiwillig, sondern auf Geheiß des Kurfürsten, der eine Lösung in dieser Angelegenheit suchte. Mit der Enttarnung Stegmanns stellte sich nunmehr auch in Brandenburg die Frage, die einige Jahre zuvor in Altdorf bzw. Nürnberg von der Obrigkeit beantwortet werden musste: Dürfen Sozinianer in protestantischen Ländern geduldet werden, oder sind sie des Landes zu verweisen? Genauso wenig wie dort war man hier auf eine solche religionspolitische Frage vorbereitet. Wenige Jahre zuvor – im Dezember 1613 – hatte der Kurfürst Johann Sigismund (1572–1619) seinen Konfessionswechsel von den Lutheranern zu den Reformierten öffentlich vollzogen. Bekanntlich folgte hierauf ein viele Jahrzehnte währender Konflikt mit zum Teil tumultartigen Auseinandersetzungen zwischen beiden Konfessionen. Als eine der ersten Maßnahmen erließ der Kurfürst am 24. Februar 1614 eine Verordnung, die allen Theologen und Pfarrern von der Kanzel herab eine Polemik gegen die jeweils andere Konfession verbot.4 Mit dieser Maßnahme zielte er in erster 1 2 3 4
Zu Leben und Werk vgl. Noack/Splett 1997, 14–23. Vgl. Noack/Splett 2009, 33–40. Vgl. Noack/Splett 1997, 441–449. Vgl. Mylius 1737–1755, I, 1, Nr. XII (Verordnung, daß allenthalben gute Bescheidenheit und Moderation von denen Geistlichen auff den Cantzeln und sonsten, Ergernüß, Verwirrung der
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Linie auf die lutherischen Theologen ab, die diesen Konfessionswechsel als Beginn einer schleichenden Calvinisierung Brandenburgs sahen, die sie nicht ohne Widerspruch akzeptieren wollten. Als sich die Wogen trotz alledem nicht glätteten, veröffentlichte der Kurfürst am 10. Mai 1614 seine Confessio Sigismundi, in der er versicherte, seinen Glauben den Untertanen weder öffentlich noch heimlich gegen ihren Willen aufzuzwingen, sondern die Gewissensfreiheit zu achten.5 Für einen Teil der Forschung gilt Brandenburg aufgrund dieses kurfürstlichen Bekenntnisses als das erste Land im Römischen Reich deutscher Nation, in dem eine, wenn auch eingeschränkte, religiöse Toleranz nicht nur proklamiert, sondern wirklich praktiziert wurde.6 Aber diese Toleranz galt schon nicht mehr für die Jesuiten und Papisten, die Johann Sigismund in seiner Verordnung gegen die Polemik „unsere allgemeinen Feinde“7 nannte, und sie galt erst recht nicht für Juden und Heterodoxe wie die Sozinianer. Wie sollte also mit Stegmann verfahren werden? Glücklicherweise hat sich eine Mitschrift des Colloquium privatum genannten Gesprächs neben einigen Briefen Stegmanns und Bergs im Geheimen Staatsarchiv in Berlin8 erhalten, so dass die inneren und äußeren Umstände des Falls genauer in den
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Gewissen und Benachtheilung der Kirche zu verhüten, gebrauchet und geführet werden solle; sub dato Cöln an der Spree den 24. Februar 1614), 353–356. Erneut abgedruckt in Gericke 1977, 132– 136. Vgl. Müller 1903, Nr. 42 (Confessio Sigismundi von 1614), 835–843, hier 842: „Schließlich bekennen S. Churf. Gn. sich zu den reformirten Evangelischen Kirchen in diesen unnd andern Religionspuncten, als welche sich auffs Gottes Wort allein fundiren, und alle menschliche traditiones, so viel müglich, abgeschafft haben […]. Jedoch, weil der Glaub nit jedermans ding ist, 2 Thes. 3. v. 2. sondern ein Werck und Geschenck Gottes, und niemandt zugelassen über die Gewissen zu herrschen […] Als wöllen S. Churf. Gn. auch zu diser Bekenntnuß keinen Underthanen öffentlich oder heimblich wider seinen Willen zwingen, sondern den Curs und Lauff der Warheit Gott allein befehlen […].“ Vgl. Nischan 1994, 235: „Since Elector Johann Sigismund decided not to impose – indeed, because of the opposition of his powerful estates could not impose – his religion on his subjects, Brandenburg became the first principality in the Empire where a limited religious toleration was not only proclaimed but actually practised.“ Mylius 1737–1755, I, 1, Nr. XII, 354: „[…] nur daß man fromme Christen betrüben, denselben wehe thun und das mütlein weidlich erkühlen, die Gallen tapffer ausgiessen und unsern algemeinen Feinden den Jesuiten und Papisten ein frolocken und gelechter anrichten möchte.“ Die Mitschrift (im Folgenden Colloquium privatum 1626) ist Teil des Konvoluts mit dem Gesamttitel Joachim Stegmann wegen des Photinianismus. 1626–1630 (Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [GStA PK]: I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 1) und umfasst 29 nicht foliierte Blätter. Sie beginnt wie folgt: „In Nomine Sacrosanctae et Individuae Trinitatis Serenissimi atque Illustrissimi Principis ac Domini Dom. Georgii Wilhelmi Marchionis atque Electoris Brandenburgici, in Borussia, Juliae, Cliviae, Montium, Stetini Pomeranorum etc. Ducius, etc. Domini nostri Clementissimi, Voluntate ac Mandato, ad diem octavum Maij, Anni à Christo nato Millesimi Sexcentesimi vigesimi sexti. D. Johannes Bergius, Serenissimi Electoris Ecclesiastes Aulicus. M. Hieronymus Brunnemannus Ecclesiae Petrinae Coloniensis Praepositus. M. Petrus Vehr, Ecclesiae Marianae Pastor. In castro Spandoviensi horâ octavâ matutina comparuerunt,
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Blick genommen werden können. Darüber hinaus befinden sich dort noch weitere Unterlagen über die Sozinianer, mit denen man ein recht genaues Bild der Toleranzpolitik der Kurfürsten Brandenburgs und Preußens bis ins 18. Jahrhundert hinein zeichnen kann. Aus diesem Konvolut von Briefen, Vermerken, Stellungnahmen und Abhandlungen möchte ich hier zwei weitere Texte näher darstellen: Beim ersten handelt es sich um einen mit ‚die aus dem Königreich Polen verbannten getreuesten Untertanen‘9 unterzeichneten Brief der Sozinianer von 1663 an den Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620–1688), in dem sie die Duldung ihrer Gemeinde in Brandenburg erbaten. Unmittelbarer Anlass – und dies ist weder von Christoph Sand (1644–1680) noch Friedrich Samuel Bock (1716–1785) beachtet worden, die den Brief auf 1666 datierten10 – dürfte die Vertreibung der Sozinianer aus Mannheim im selben Jahr (also 1663) gewesen sein, die sich dort seit 1661 auf Einladung des Kurfürsten Karl Ludwig unter der Leitung von Joachim Stegmann dem Jüngeren und Andreas Wissowatius aufhielten.11 Sand schrieb diesen Brief dem Sozinianer Samuel Przypkowski (1592–1670) zu.12 Dieser Gedanke lag insofern nahe, als Przypkowski einer von Kurfürst Friedrich Wilhelms Räten gewesen ist und damit von den Sozinianern gewiss den besten Zugang zu ihm hatte. Bock, der den Brief in leicht veränderter und gekürzter Form in seiner Historia Socinianismi Prussici von 1754 abdruckte, hielt diese Zuordnung für falsch. Er besaß das Original eines Briefes, auf dem Andreas Lubieniecki d. J. vermerkt hatte, dass er diese Apologie am 12. Oktober 1666 im Alter
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ibique cum Joachimo Stegmanno Fahrlandensis Ecclesiae antea Pastore, ni Photinianam seu Socinianam haeresin prolapso, eamque imprimis duobus libellis, ipsi Serenissimo Electori, ejusque Illustrissimae sorori Catharinae, Ducissae Transsylvaniae etc. inscriptis atque oblatis, palam professo, ob eamque rem in custodiam dato, Colloquium privatum, quod ipse multoties postularat, hoc fine instituerunt, ut vel ab istis eum erroribus retraherent, vel si pertinaciam jam forte induisset, Christianae famen erga errantem Charitatis officio satisfacerent“ (2r). Alle nachfolgenden Transkriptionen aus den hier verwendeten Handschriften stammen soweit nicht anders vermerkt vom Verfasser bzw. von Iris Krane, der ich sehr herzlich für ihre Mitarbeit danke. Serenissime ac Potentissime Princeps Elector, Domine Clementissime (im Folgenden: Apologia afflictae innocentiae 1663): „fidelissimi Subditi Exules ex Regno Poloniae.“ Der Brief ist Teil eines Konvoluts mit dem Gesamttitel Die aus Polen vertriebenen Socinianer. 1666 (Berlin, GStA PK: I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 3), das insgesamt 13 foliierte Blätter umfasst. Der Brief läuft unter der Überschrift: „Betr. die vertriebene Socinianer aus dem Königreich Polen, welche sich in Ch[urfürstlichen] d[urchlauchten] Hertzogthumb Preußen befinden. 1666“ und umfasst die Blätter 11r–13r. Die zitierte Stelle findet sich auf Bl. 13r. Zu den Nachweisen bei Sand und Bock vgl. Anm. 12 und 13. Die Datierung des Briefes auf das Jahr 1663 ergibt sich meiner Ansicht nach deutlich aus einer Stelle, wo der Verfasser auf ein kurfürstliches Mandatum Bezug nimmt, das ‚im vorangegangenen Jahr‘ („anni proxime“), genauer am 2.6.1662, veröffentlicht worden sei (Brief an Friedrich Wilhelm, Bl. 12v). Zum Inhalt vgl. weiter unten. Vgl. Walter 1901. Ich danke Frau Dr. Grit Arnscheidt (Mannheim) für die Übersendung einer Kopie des Textes. Vgl. Sand d. J. 1684, 125: „Apologia afflictae innocentiae ad serenissimum Electorem Brandeburgicum, supremum Ducatus Borussiae Principem. a. 1666. M.S.“
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von 79 Jahren calamo excepisse, mit dem Stift geschrieben habe.13 Diese Formulierung kann man als Benennung der Autorschaft verstehen. Es ist aber genauso möglich, dass hier das Datum einer Abschrift festgehalten wird. In Anschluss an Sand meine ich daher, dass der Autor nicht Lubieniecki sein kann, der, soweit wir wissen, keinen Kontakt nach Brandenburg hatte, sondern eben Przypkowski, der als einziger über genaue Kenntnisse der kurfürstlichen Politik verfügt haben dürfte. Bei dem zweiten Text handelt es sich um einen anonym überlieferten handschriftlichen Traktat mit dem Titel Kurtze und einfeltige Untersuchung, Ob und warumb die Reformierte Evangelische Kirche, die, also genannte, Socinianer mit gutem Gewissen dulden oder auch in ihre Gemeinschaft aufnehmen könne und solle?14 Dieser Text wurde 1700 wesentlich erweitert ohne Angabe des Autors und Druckorts veröffentlicht.15 Seit Bocks Historia Antitrinitariorum von 1774 wissen wir jedoch, dass ihn kein Geringerer als der bekannte Antitrinitarier Samuel Crell (1660–1749) verfasst hat.16 Er fällt bereits in die Regierungszeit des Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg und späteren ersten Königs von Preußen, die von 1688 bis 1701 reichte und mit der ich diesen Überblick über die brandenburgische Toleranzpolitik beenden möchte. 13
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Vgl. Bock 1754, 62b–63b: „Haec consilia ecclesiae conditioni admodum salutaria Socinianos, qui eandem quam in Polonia perpessi erant tempestatem, in Prussia quoque interdum verebantur, moverunt, ut quandam caussae suae Apologiam anno 1666. die 20. Martii Principi Electori traderent. Cuius scripti auctorem fuisse Samuelem Przypcovium Sandius l. c. p. 125. tradit. Legi iam quidem haec Apologia potest, partim in Operibus Samuelis Przypcovii f. 451. cum adnexa eiusdem defensione f. 453. seq. et in den unschuldigen Nachrichten, de anno 1723 p. 23. seq. sed duplex eiusdem Manuscriptum in manibus nostris versatur, quod utrumque ab illo exemplari, quod typis impressum conspicitur, in permultis locis, ut fugitativa inspectio docet, magnopere distat […]. Exemplorum quae tenemus unum, admodum nitide consignatum est ab Andrea Lubieniecio qui additis in fine verbis polonicis notavit, se hanc Apologiam a. 1666. die 12. Octobris aetatis suae 79. calamo excepisse. […] Accipe potius L. ex Manuscripto Andr. Lubieniecii, Przypcovii pro familia sua Apologiam, quam die 20. Martii a. 1666 exhibitam esse, ipsum hoc Manuscriptum testatur.“ Diese Angabe stimmt freilich nicht mit dem für Lubieniecki überlieferten Geburtsdatum 1590 überein. Die Handschrift ist Teil des Konvoluts Verfahren gegen einige Anhänger des Arianismus, Photinianismus und Sozinianismus. 1664–1671 (Berlin, GStA PK: I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 5) und umfasst 13 nicht foliierte Blätter. Vgl. Kurtze und einfältige Untersuchung / Ob / und warum die Reformierte Evangelische Kirche / die also genannte Socinianer mit gutem Gewißen dulden / oder auch in ihre Gemeinschaft aufnehmen könne und solle. Gedruckt im Jahre MDCC. Im Folgenden nach diesem Druck zitiert als [Crell] 1700. Vgl. Anm. 16. Vgl. Bock 1774–1776, Teil I, 1, 194: „[…] auctor, quem Sam. Crellium esse accepimus […].“ Bocks Vermutung, dass derselbe Text in Daniel Ernst Jablonskis Catalogus librorum (Berlin 1742, 377) unter dem Titel firmiert: Ursachen warum die Reformirten und Lutheraner die Unitarios zu dem Abendmahl des Herrn admittiren können, ist falsch (Bock 1774–1776, Teil I, 1, 196). Denn dieser Text lag einem Brief von Crell an König Friedrich Wilhelm I. vom 28. November 1718 bei, ist daher wohl auch um diese Zeit verfasst worden. Crells Brief ist ohne die genannte Beilage abgedruckt in Wotschke 1911a, 217–219.
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Die Leitfrage meiner Untersuchung lautet: Wie haben sich die drei Kurfürsten in Brandenburg zu dem Problem der Duldung der Sozinianer verhalten? Lässt sich im Verlauf der Jahre ein Wandel in dieser Frage feststellen? – Ich beginne mit dem Fall Stegmann.
2. Die Regierungszeit des Kurfürsten Georg Wilhelm von 1619–1640 Stegmann, 1595 in der Mark Brandenburg bei Ruppin geboren, war nach seinen Studien in Frankfurt an der Oder und Wittenberg von 1620 bis 1626 lutherischer Pfarrer in der Gemeinde Fahrland bei Potsdam.17 Auch wenn Brunnemann und Vehr in dem Colloquium privatum das lutherische Bekenntnis Stegmanns in Zweifel zogen, betonte er selbst, dass er immer und auf aufrichtige Weise Lutheraner gewesen sei, jedenfalls solange, bis er die Ansichten Fausto Sozzinis (1539–1604) kennen- und schätzen gelernt habe.18 Wann und wo dies geschah, ist nicht bekannt. Es ist jedoch durchaus möglich, dass er in Wittenberg, wo er seit 1615 studierte, mit den Sozinianern in Kontakt geriet, die nach der Entdeckung ihres Netzwerks in Altdorf in großer Zahl in die Stadt Luthers ausgewandert waren. Im Gespräch nannte Stegmann als Anlass für seine Sozzini-Lektüre die seiner Meinung nach ungenügende Antwort der Wittenberger Fakultät auf den Rakówer Katechismus, dessen deutsche Übersetzung 1608 der „löblichen Universität Wittenberg“19 gewidmet worden war.20 Nach langem Zögern 17
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Zur Biographie vgl. Salatowsky 2011. Noch heute erinnert in der Kirche eine Tafel an Stegmanns Amtszeit von 1620–1626. – Ich danke Herrn Pfarrer Jens Greulich für die Gespräche und Recherchemöglichkeiten vor Ort. Leider haben sich weder in Fahrland noch im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin Unterlagen aus dieser Zeit erhalten. – Zwischenzeitlich konnte durch weitere Studien ermittelt werden, dass sich Stegmann zusammen mit seinem jüngeren Bruder Christoph 1611 an der Universität in Frankfurt an der Oder immatrikulierte (vgl. Friedländer 1887– 1891, Bd. I, 561b). Am 12. November 1615 schrieb er sich in Wittenberg ein (vgl. Weissenborn 1934, 181a). Ob er einen Abschluss erwarb oder an Disputationen teilnahm, konnte noch nicht abschließend geklärt werden. Vgl. Colloqium privatum 1626, 3r: „De Stegmanno etiam vix sese credere [sc. Brunnemann und Vehr], quod sincere ad id usque tempus, quo in Photinianam haeresin prolapsus est Lutheranus fuerit etc. Is [sc. Stegmann] vero hac de re rogatus respondit, se serio semper et sincere Lutheranum fuisse, donec in has Socini opiniones incideret […].“ In einem Vermerk, der sich in dem Konvolut zum Stegmann-Fall (Berlin, GStA PK: I. HA, Rep 13. Nr. 23, Fasz. 1, Bl. 1r–8v) befindet, ist aufgelistet, welche Bücher man bei ihm anlässlich einer kurfürstlich angeordneten Untersuchung konfiszierte. Darunter befinden sich viele sozinianische Schriften, insbes. von Fausto Sozzini und Valentin Schmalz (1572–1622), aber auch von Adam Goslav (ca. 1577–ca. 1642). Catechismus 1608, hier: Vorrede (von Valentin Schmalz): „An die löbliche Universität zu Wittenberg“. Vgl. Colloqium privatum 1626, 3r–v [Fortsetzung von Anm. 18]: „addidit [Stegmann] etiam, ad eas diligentius inquirendas et demum amplectendas potissimo sibi incitamento fuisse Responsionis
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beauftragte man schließlich Friedrich Balduin (1575–1627) mit der Widerlegung des Katechismus, die jedoch erst 1619 erschien und in der Tat nicht sonderlich überzeugend ausfiel.21 Stegmann hat diese Hinwendung zum Sozinianismus in seinem Manuskript Christologia oder Unterrichtung von Jesu Christo dem Haupte seiner gemeine22 verdeutlicht, das er – und damit wurde es zum Politikum – der Prinzessin Katharina von Brandenburg (1602–1644), der Schwester Georg Wilhelms, gewidmet hat. Aus der Vorrede wird ersichtlich, dass der Anlass für die Widmung ihre Hochzeit mit dem Fürsten von Siebenbürgen und König von Ungarn Gabor Bethlen am 2. März 1626 gewesen ist, die durch den Freiherrn und bekennenden Sozinianer Hans Ludwig von Wolzogen (1600–1661) vermittelt worden war.23 Vielleicht hoffte Stegmann, dass sich Katharina für eine Unterstützung oder zumindest Duldung der Sozinianer in Brandenburg einsetzen würde. Ob dem so war, wissen wir nicht. Auf jeden Fall unterschätzte Stegmann die Reaktion des Kurfürsten, der die Widmung als eine Provokation empfand. In einem Schreiben vom 29. April 1626, mit dem er das Colloquium privatum anordnete, merkte er an, dass ihm Stegmann diese Schrift „zugestochen / und übel Christologiam intituliret“24 habe. Aus diesem Grund ließ er Stegmann bereits am 1. März 1626 seines Amtes entheben und in Spandau festsetzen. Von dem Gespräch selbst erwartete Georg Wilhelm nicht, dass sich Stegmann wieder zur Wahrheit bekehren würde. Gleichwohl setzte er es an, damit dieser sich nicht rühmen könne, niemand habe sich aufgrund obrigkeitlicher Vorgaben einer Unterredung mit ihm unterziehen dürfen.25
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Witebergensis ad Catechesis Rakovianam (ut quidem ipse judicabit) insufficientiam. Ubi tamen responsum fuit, hoc esse causam per accidens, nec Witebergensibus facultatem deesse sua defendi.“ Vgl. [Balduin] 1619. Der in Anm. 18 erwähnte Vermerk listet auch eine von Stegmann verfasste Probe der von der Theologischen Fakultät in Wittenberg erfolgten Widerlegung des Rakówschen Katechismus auf (Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [GStA PK]: I. HA, Rep 13. Nr. 23, Fasz. 1, 2v–3r). Zu den Reaktionen der Wittenberger auf die Sozinianer vgl. Wotschke 1917 und Wotschke 1918. Die Handschrift (im folgenden Stegmann 1626) ist Teil des Konvoluts Berlin, GStA PK: I. HA. Rep. 13, Nr. 23, Fasz. 1. Sie umfasst einschließlich des Titelblattes 15 nicht foliierte Blätter. Die Datierung der Schrift auf das Jahr 1626 ergibt sich aus den nachfolgend genannten Gründen. – Einem Vermerk Jablonskis in seinem Bibliothekskatalog kann entnommen werden, dass Berg gegen Stegmanns Schrift unter dem Titel Pseudo-Christologia handschriftliche Notizen verfasst hat, die nunmehr leider verschollen sind. Vgl. Jablonski 1742, 381: „Pseudo-Christologia Joachimi Stegmanni (Sociniani) quam ille in Dedicatione jactitat singulari Dei gratia sibi prae aliis ex solo Dei verbo sine ullius hominum additamentis revelatam, cum tamen eam ex Socini, Osterordi, Smalcii scriptis hauserit atque transcripserit; ex autographo descripta 1707. p. 12.“ Vgl. Stegmann 1626, 2r und 3r. Zu Wolzogens Position vgl. Bock 1774–1776, Teil I, 2, 1032. Wotschke 1911a, 174. Das Schreiben ist abgedruckt in: Küster 1733, 5. Küster 1733, 4 f.: „Es pflegen zwar diese Art Leute sich selbst zu rühmen / daß es noch nie bey einem von dieser Ketzerey eingenommenen dahin gebracht worden / daß er derselben abgesagt /
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Wie groß die Vorbehalte gegenüber dem Sozinianismus nicht nur beim Kurfürsten, sondern auch bei Stegmanns Gesprächspartnern selbst waren, lässt sich zumindest für Johann Berg feststellen. Er wird in der Forschung als einer der großen Ireniker des Protestantismus bezeichnet, der sich insbesondere um das Leipziger Religionsgespräch von 1631 verdient gemacht habe.26 Doch diese Irenik hatte ihre konfessionellen Grenzen nicht nur gegenüber den Katholiken, sondern noch viel mehr gegenüber den Sozinianern und anderen Heterodoxen. Gewiss, in einem Brief vom 7. April 1626 an Jonas von Schlichting, der sich für Stegmann einsetzen wollte, teilte Berg mit, dass er lieber mit Stegmann in demselben Kerker eingeschlossen werden möchte, als mit ihm zu kämpfen. Denn das stehe nicht nur dem reformierten Ruf entgegen, sondern auch der christlichen Gleichmut. Er werde tun, was er könne. Was aber der Kurfürst letztlich entscheide, liege nicht in seiner Hand.27 Und auch in einem nach Durchführung des Kolloquiums verfassten undatierten Brief an den Kurfürsten, in dem er ihm über den Gesprächsverlauf berichtete und eine Mitschrift desselben zur Entscheidungsfindung übersandte, äußerte er sich ähnlich zurückhaltend. Zwar brachte er in diesem Brief seine Abscheu über verschiedene Ansichten Stegmanns zum Ausdruck, hielt sich aber mit Aussagen bezüglich der weiteren Verfahrensweise zurück. Er stelle dem Kurfürsten anheim, „was hinferner mit diesem verirreten Menschen anzufangen“28 sei. Diese doch relativ zurückhaltende Haltung hat Berg zumindest in seiner 1641 veröffentlichten Schrift Apostolische Regell, wie man in Religionssachen recht richten solle aufgegeben, stattdessen auf erschreckende Weise gegen die Sozinianer Position bezogen. Er nahm dort für die reformierte Kirche in Anspruch, dass sie jene uralte Lehre der ersten apostolischen Kirche vertrete, die das Fundament des christlichen Glaubens bilde und für die Seligkeit zu wissen allein notwendig sei. Daher dürften die Reformierten weder von den Katholiken noch von den Lutheranern verdammt werden. Als Maßstab aller Lehren habe die Heilige Schrift zu gelten, die durch die Vernunft als
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und sich wieder zu der Wahrheit bekehret hätte: Damit Stegmann aber / oder andere / die damit eingenommen worden / und sich seiner starck annähmen / sich damit nicht rühmen möchten, sampt wäre niemand gewesen, der sich solcher Unterredung mit ihm auf dieser Seiten unterziehen dürffen / so hätte es zwar an Ursachen nicht gemangelt, warum es nicht zuthun wäre / S. Ch. D. hätte aber dennoch endlich in solche Unterredung gewilliget […].“ Vgl. Nischan 1982, 389–404. Zum Religionsgespräch vgl. auch Leube 1928, 123 ff. Brief des Johann Berg vom 7. April 1626 an Jonas von Schlichting, in: Berlin, GStA PK: I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 1 (Akte „Joachim Stegmann“). Abgedruckt in Wotschke 1911b, 227–242, hier 236: „Mihi cum eo [i.e. Stegmanno] colloquendi (nam pugnam quidem aut disputationem theatralem apage) si demandatur provincia, nunquam patiar, ut velut ex carcere causam dixisse, ut nullis causae suae praesidiis per nos destitutus fuisse videatur. Malim cum ipso eodem carcere includi, quam velut cum vincto pugnasse videri. Satis intelligo, quam id non modo nostrae famae, sed etiam aequitati christianae adversum sit. De exilii porro moderatione, quam petitis, faciemus nos quidem, quid in nobis erit. Ac proceres nostri atque ipse serenissimus princeps quid statuant, in manu non est nostra.“ Undatierter Brief des Johann Berg an Kurfürst Georg Wilhelm in: Berlin, GStA PK: I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 1 (Akte „Joachim Stegmann“), Bl. 1r–2r (eigene Foliierung), hier 2r.
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das von Gott gegebene notwendige Mittel ausgelegt werden müsse, dergestalt, „daß wir zu denen Außlegungen und Consequentien, die wir durch unsern Verstand auß der Schrift deduciren, niemanden in seinem Gewissen weiter binden oder obligiren wollen“.29 Auf den ersten Blick gesteht der Ireniker Berg hier allen Gläubigen eine umfassende Gewissensfreiheit zu. Doch aus einer anderen Stelle wird deutlich, dass er – wie viele andere seiner Glaubensbrüder auch – von dieser Freiheit die Sozinianer und andere heterodoxe Bewegungen explizit ausnimmt. Gegen den Vorwurf, dass mit seiner Lehre allen Sekten, wie den Sozinianern, Weigelianern, Widertäuffern oder Arminianern, Tür und Tor geöffnet werde,30 behauptet Berg, dass ihnen im Gegenteil „am allerleichtesten / sichersten / und kräfftigsten [die Tür] gesperret und das Maul verstopffet wird / viel kräfftiger / dann durch manches subtiles unendliches disputiren, oder durch alles Ketzerbannen und Ketzertödten.“ Liest man den Text bis zu dieser Stelle, scheint es, dass Berg sich zwar nicht für eine Duldung dieser Ketzer aussprechen kann, sich aber doch wenigstens gegen dieses unsägliche Töten von Andersgläubigen wendet. Doch weit gefehlt. Gleich nachfolgend heißt es nämlich: Wiewohl wir dieses [sc. Ketzerbannen und -töten] auch nicht allerdings unrecht heissen können / wann es offentliche halßstarrige Gotteslästerer seyn / wie Servetus gewesen / der solche schreckliche abschewliche schmach und Lästerwort wider Gott Vater / Sohn und heiligen Geist außgespeyet / die unter Christen billich nicht sollen geduldet werden.31
Gleiches gelte für Müntzer und seine Wiedertäufer, die unter dem Anschein der Religion einen Aufruhr gegen die öffentliche Ordnung anstifteten. In der düsteren Tradition eines Johann Calvin, Theodor Beza und anderer Calvinisten stehend schreckt Berg also nicht vor dem äußersten Mittel zurück, um Häretikern ‚das Maul zu stopfen‘, sei es auch mit dem Feuer. Eine Toleranz ist alleine gegenüber jenen möglich, die „bey den Worten der Schrifft unverrückt und friedlich verbleiben / unnd keine besondere eigene Nebendeutungen und Meinungen also treiben und einführen“.32 Hierzu zählen für ihn wohl nur die Lehren der Lutheraner und im abgestuften Sinne auch die der Katholiken, nicht aber die der Heterodoxen. Es lässt sich auch in Anbetracht der historischen Umstände sagen, dass ein entwickelter Toleranzbegriff eines Irenikers anders auszusehen hätte. Mit dieser politisch-theologischen Konstellation war das Ergebnis des Colloquium privatum im Grunde vorweggenommen.33 Doch auch Stegmann selbst – und dies ist 29 30 31 32 33
Berg 1641, cap. VI, 68. Vgl. Berg 1641, cap. VII, 75. Berg 1641, cap. VII, 79. Berg 1641, cap. VII, 79. Die Frage der Duldung war nicht Gegenstand des Gesprächs, das überwiegend zwischen Berg und Stegmann geführt wurde, während sich die lutherischen Theologen Brunnemann und Vehr nur gelegentlich zu Wort meldeten. Vielmehr orientierte sich das Gespräch gemäß den Vorgaben des Kurfürsten ausschließlich an Stegmanns Christologia und seinen Thesen zur Person Christi, zur Rechtfertigung, zum Neuen Bund und zur Taufe, was hier nicht weiter dargestellt werden kann
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eine Ironie der Geschichte – hat in der Christologia unbewusst seinen Beitrag zum Ausgang des Gesprächs geleistet. Am Ende der Schrift beschreibt er nämlich eine Stufenfolge von Disziplinarmaßnahmen gegen jene, die „nicht Christlich oder in glauben wandeln“:34 Der erste Schritt ist die häusliche Ermahnung, die gegebenenfalls unter Zeugen zu wiederholen ist. Erfolgt keine Besserung, so ist eine öffentliche Bestrafung in der Gemeinde mit Worten im Sinne der christlichen Bruderliebe und, wenn diese nichts fruchten, mit Taten vorzunehmen. Hierunter versteht Stegmann als die äußerste Bestrafung eines Abtrünnigen den Ausschluss aus der Gemeinde: „Die Scharfe und Unfreundliche Strafe ist, wenn man die Bösen auß der Gemein gentzlich ausschließt und nicht mehr für Brüder helt.“35 Was Stegmann freilich für eine rein innerkirchliche Maßnahme hielt, die recht bedacht nur die Gemeinde betrifft, wurde in seinem Fall jedoch zu einer politischen Maßnahme, die der Kurfürst gegen ihn verhängte: Die Vertreibung aus Brandenburg, die Stegmann schriftlich in einem Revers vom 2. Juni 1626 zu bestätigen hatte. Innerhalb von acht Tagen hatte er das Land nunmehr zu verlassen.36 Angesichts der harten Erfahrungen während seiner Gefangen-
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(vgl. Colloquium privatum 1626, 3v). Nachfolgend sei wenigstens ein kleiner Auszug der Diskussion zu Joh 1, 14 zitiert: Berg sagt: „Qui in principio (simpliciter dicto) fuit apud Deum et Deus, naturâ Deus est, ὁ λόγος in principio apud Deum et Deus fuit. Ergo naturâ Deus. St[egmannus]. Nego Majorem: quia potius contrarium sequitur, qui est apud Deum non est idem ille Deus, apud quem fuit. Atque λόγος apud Deum fuit. E[rgo] non idem ille Deus. Berg. Quia tu argumentum retorques, mihi respondentis partes subeundae: Itaque Majorem tuam nego, quae falso principio nititur. (quod nempe quaecunque differunt personis, necessario differunt etiam Essentijs.) St. Ipsa ratio docet, neminem esse eum, apud quem est. M. P. Vehr. Hoc est tuum principium fidei, ipsa ratio docet: ita rationem affers contra Scripturam. Et annon hîc sequetur: Tu es apud hominem, E. Tu non es homo? St. Non idem ille homo, apud quem sum. Berg. Hoc sane ratio docet in naturalibus, imo et in divinis, λόγον non esse ipsum Patrem, apud quem est, hoc est, non eandem cum ipso personam: sed tamen ratione Essentiae, unum esse cum ipso Deum [richtig: Deo] apud quem est, hoc non quidem ratio, sed Scriptura docet: vel hoc ipso, quod ex Evangelista protuli argumento, cujus tu nervum plane non attingis, qui non in eo consistit, quod apud Patrem, sed quod in principis fuerit λόγος. Majorem igitur, quam tu negas sic probo: Cui competit proprietas essentialis, ei competit ipsa Divina essentia. Qui in principio fuit, ei competit proprietas essentialis, E. Etiam ipsa Divina essentia. St. Respondeo 1. per distinctionem Majoris, cui competunt proprietates naturaliter et ex se ipsis, illi competit Essentia: Non autem cui communicative. Et do instantiam: Humanae naturae Christi secundum Theologos Lutheranos competunt proprietates Dei essentiales per communicationem, quae tamen essentialiter non est Deus. 2. per negationem Minoris, quod in principio esse apud Deum sit proprietas Dei essentialis“ (Colloquium privatum 1626, 29r). Das Gespräch endet mit Stegmanns Aussage, dass er alles in der Furcht des Herrn sorgfältig erwägen und sich später dazu erklären werde. Stegmann 1626, 13v. Stegmann 1626, 14v. Revers des Joachim Stegmann vom 8. Juni 1626, in: Berlin, GStA PK: I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 1 (Akte „Joachim Stegmann“), Bl. 1r-v (eigene Foliierung). Der Revers wird im Anhang als Anlage 2 abgedruckt.
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schaft, die er in einem eindringlichen Brief an den Kurfürsten geschildert hatte,37 scheint Stegmann mit dieser Lösung als das für ihn geringste Übel einverstanden gewesen zu sein. Er wandte sich hierauf zunächst nach Danzig, um dort an der Peterskirche merkwürdigerweise als reformierter Prediger zu wirken.38 Doch auch dort hatte die sozinianische Gemeinde um Martin Ruar (1589–1657) und Florian Crusius (gest. nach 1645) mit der Obrigkeit und den reformierten und lutherischen Theologen zu kämpfen.39 Von 1627 bis 1631 war er Rektor des Rakówer Gymnasiums, ehe er als Prediger nach Klausenburg in Siebenbürgen zur dortigen deutschsprachigen Gemeinde ging, wo er bereits 1633 verstarb. Auch in Polen verstärkte sich der Druck durch die von den Jesuiten forcierte Rekatholisierung des Landes. Hiergegen verfassten Przypkowski und Johann Crell (1590–1633) ihre Schriften Dissertatio de pace et concordia Ecclesiæ von 1628 bzw. Vindiciae pro religionis libertate von 1637, in denen sie in eindringlichen Worten die Duldung der Sozinianer in Polen forderten.40 Wie wir wissen ohne Erfolg, 1638 kam es zur Zerstörung Rakóws durch eine aufgestachelte Menge. Damit war den Sozinianern ihr geistiges Zentrum mit Schule, Kirche und Druckerei abhanden gekommen – ein Rückschlag, von dem sich diese Bewegung nicht mehr erholen sollte. Einige wandten sich daraufhin nach Brandenburg und Preußen, wo sie eine neue Heimat zu finden hofften. Doch wie reagierte die Obrigkeit? Nun, Kurfürst Georg Wilhelm veröffentlichte am 29. Oktober 1640, also kurz vor seinem Tod, einen Erlass, mit dem er seine intolerante Politik gegenüber den Antitrinitariern fortsetzte. Darin verdammt und verbietet er diese „Secten-giftige ketzerische Religion“,41 deren Anhänger seit je in ganz Europa aus der Schar und Zahl der Christen verbannt und für Türken und Heiden angesehen worden seien. Um gegen sie, die sich an verschiedenen Orten in Preußen mächtig ausbreiteten, vorzugehen, verkündete er ein ganzes Maßnahmenpaket: 1. Alle Preußischen Amtsträger, sowohl geistliche wie weltliche Personen, sind verpflichtet, öffentlich oder privatim ihre Zuhörer vor der sozinianischen Lehre zu warnen. 2. Sollte eine Person dem ketzerischen Gifte verfallen, so ist sie zu unterrichten und zu ermahnen. Diejenigen, die sich nicht ermahnen und bekehren lassen, sind der Obrigkeit zu melden. 37
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Undatierter Brief des Joachim Stegmann an Kurfürst Georg Wilhelm, in: Berlin, GStA PK: I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 1 (Akte „Joachim Stegmann“), Bl. 1r-3v (eigene Foliierung). Er wird im Anhang als Anlage 1 abgedruckt. Die Umstände dieser Entscheidung sind bis heute ungeklärt. Vielleicht wollte Stegmann unter den Reformierten neue Anhänger gewinnen. Vgl. hierzu Hartknoch 1686, Anderer Theil, 3. Buch, IX. Kap., 818 f. und 824–826; X. Kap., 849. Caccamo 1970, 63 ff. Vgl. [Przypkowski] Dissertation de pace (1628) 1981. Vgl. auch Junius Brutus [= Johann Crell] (1637) 1957. Der Erlass ist abgedruckt in Bock 1754, 49a–50b, hier 50a.
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3. Alle Amtsträger haben auf die Sozinianer ein Auge zu werfen und ihre Schriften zu sammeln. 4. Die Verteiler der Schriften sind zu befragen, auf wessen Geheiß sie dies tun. Verdächtige Personen sind festzunehmen und solange festzuhalten, bis eine Entscheidung der vorgesetzten Stelle ergeht. 5. Wird Kenntnis von geheimen Zirkeln erworben, sind die Namen der Häuser oder Höfe zu benennen. Es lässt sich schwer einschätzen, wie Georg Wilhelm im konkreten Falle gehandelt hätte. Sein scharfes Vokabular lässt aber vermuten, dass für ihn eine Duldung der Sozinianer in seinen Grenzen tatsächlich nicht in Frage gekommen wäre. In einem zweiten Schritt ist nun zu prüfen, ob sich diese Politik bei seinem Sohn Friedrich Wilhelm (1620–1688), der im jungen Alter von zwanzig Jahren am 1. Dezember 1640 Kurfürst von Brandenburg und Preußen wurde, geändert hat.
3. Die Regierungszeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von 1640–1688 Theodor Wotschke beschreibt Friedrich Wilhelm als einen toleranten Herrscher. Es seien die Stände gewesen, die von einer Duldung der Ketzer nichts haben wissen wollten.42 Es lässt sich zeigen, dass Wotschke mit dieser Einschätzung richtig liegt, obwohl der Landtages-Reces vom 26. Juli 1653 zunächst einmal eine andere Sprache spricht. Auch dieses Schriftstück versucht in seinem ersten Teil, die immer noch virulenten konfessionellen Streitigkeiten zwischen den Protestanten zu regeln. Um die Lage weiter zu entschärfen, gestand Friedrich Wilhelm den Lutheranern zu, sich an die Confessio Augustana invariata zu halten, die ursprüngliche, von Melanchthon nicht revidierte Fassung, die für sie die Grundlage ihres dogmatischen Systems bildete. Und er betonte, es „soll Ihnen auch davon abzustehen, kein Zwang noch Drang angethan werden, sintemahl Wir Uns der Herrschafft über die Gewissen anzumaßen, niemahles gemeinet gewesen.“43 Der Kurfürst bestätigte also die von seinem Vater praktizierte Gewissensfreiheit, die jedoch auch hier – zumindest in der offiziellen Lesart – ausschließlich auf die Protestanten beschränkt blieb. Denn wenige Zeilen später heißt es: Fürß Andere, Wollen Wir den Pontificiis, Arrianis, Photinianis, Weigelianis, Wieder-Teuffern und Ministen, weder publicum noch privatum religionis exercitium gestatten, und da wir in erfahrung kommen würden, daß wieder Unser wissen, und willen, in Unsern Churfl. Landen
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Vgl. Wotschke 1911a, 193. Mylius 1737–1755, VI, 1, Nr. CXVIII (Landtages-Reces, de dato den 26. Jul. 1653), 425–466, hier 428.
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dergleichen conventicula angestellet, so soll es an gebuerender animadversion und bestraffung nicht ermangeln.44
In der Praxis hat Friedrich Wilhelm jedoch je länger, desto stärker die Politik einer zunächst stillschweigenden Duldung der Sozinianer umgesetzt.45 Ehe ich dies anhand einiger konkreter Beispiele aufzeigen werde, möchte ich zuvor kurz den in der Einleitung erwähnten Brief des Przypkowski von 1663 an Friedrich Wilhelm erläutern, der uns die bitteren Erfahrungen der Sozinianer nach ihrer Vertreibung aus Polen vergegenwärtigt: Wo sie sich auch hinwendeten, ob nach Osten oder Westen, nach Deutschland, Holland46 oder England47 – nirgendwo wurden sie auf Dauer geduldet, überall waren sie Anfeindungen, Verfolgungen und Verbannungen ausgesetzt. Przypkowski erinnert daher zu Beginn seines Briefes daran, dass die Sozinianer nicht etwa wegen eines Verbrechens aus ihrer Heimat verstoßen, von ihrem Besitz vertrieben worden und dadurch landlos geworden seien, sondern weil ihnen die Ehrfurcht vor Gott und dem Gewissen wichtiger gewesen seien, als die Ehrfurcht vor jenen Menschen, die die Religion der Sozinianer durch eine ungerechtfertigte Gewalt und Härte bekämpften.48 Sie selbst wagen es dagegen nicht, Andersgläubige zu verdammen, solange diese nur glauben, dass Jesus tatsächlich Christus sei, der auserwählte Sohn Gottes, und diesen Glauben durch die Tadellosigkeit ihres Lebens auch bezeugen. Ja, die Sozinianer ahmen in Christo den Ruhm der katholischen Kirche nach, und sie anerkennen auch, dass die evangelischen Kirchen, solange deren Mitglieder besonnen, gerecht und fromm leben, die wahren Kirchen Christi sind. Die Furcht, dass die Sozinianer dabei den Ruf des Kurfürsten schädigen könnten, hält Przypkowski für unbegründet: Wie könnten denn jene schädigen, die auf keine Gewalt gestützt, mit keinen Bedingungen bewaffnet, sich längst unter dessen Schutz begeben 44 45
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Mylius 1737–1755, VI, 1, Nr. CXVIII, 429. Friedrich Wilhelm hat sich auch in den Friedensgesprächen mit Polen und Schweden im Jahre 1660 für die Tolerierung der Sozinianer in Polen eingesetzt, jedoch ohne Erfolg: Im Friedensvertrag von Oliva findet sich hierüber keine Regelung. Vgl. hierzu Merian 1693, 1255a: „Die Churfürstliche Brandenburgische Herren Commissarien / die nebenst den Schwedischen / sich bey diesen Tractaten neulicher Zeit der Arianer angenommen / wolten anjetzo auch den Catholischen das Wort reden / und derselben [arianischen] Religion befördern helffen / riethen derhalben den Polnischen Commissarien / daß sie dieselbige in Liefland solten einführen lassen: Die Polnische aber baten diese / sie wolten doch nicht allzugar andächtige Heiligen-Fresser seyn / sondern halten / daß auch in Berlin die Römische Religion möchte im Schwang gehen; So hielte auch die Königin und der Französ. Abgesandte bey den Schwedischen Herren Commissarien an / daß sie den Arrianern nicht so sehr den Rücken halten solten / wolten sie anderst nicht sich bey dem König in Frankreich verhaßt machen.“ Vgl. Kühler 1912. Vgl. McLachlan 1951. Vgl. Apologia afflictae innocentiae 1663, 1r: „Advolvitur pedibus Tuis Supplex quotacunque portio Nobilitatis Regni Poloniae et Magni Ducatus Lithuaniae, sedibus suis pulsa, fortunis provoluta et extorris: eo, quod antiquior ei fuerit Dei et conscientiae quam hominum per illegitimam vim et saevitiam Religionem suam propugnantium, reverentia.“
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haben? Sie sind treue Staatsbürger, die keine neuen oder exotischen Rechte, keine verdammenswerten Sitten und Gebräuche mit sich führen. Auch dem Vorwurf, sie würden doch ohnehin wieder ihre ketzerischen Samen ausstreuen und die Gemüter verwirren, begegnet Przypkowski mit der nicht zu leugnenden Tatsache, dass ihr Weg zum Heil eng sei und voll von kränkenden Meinungen. Es bestehe daher keine Gefahr, dass auf diesem Wege viele Leute, durch irgendwelche Lockungen eingefangen, zusammenkämen. Aber selbst wenn die Sozinianer mit dem Rest ihrer Gewissensfreiheit eine Gefahr für die einfachen Gemüter wären – soll man etwa deswegen diese Freiheit verletzen und gegen die Dissidenten toben?49 Für Przypkowski muss streng zwischen der politischen und religiösen Sphäre unterschieden werden, denn das Recht oder die Macht der Menschen erstreckt sich nicht auf die Seelen und Gewissen der Sterblichen, die sich Gott selbst für die Ernte aufgespart hat. Aufgabe des Magistrats – auch als patronus ecclesiae – sei es, gegen die äußeren Feinde mit Waffengewalt vorzugehen, nicht jedoch gegen die sich einschleichenden Irrtümer. Diese seien allein mit geistigen Waffen zu bekämpfen, indem die Irrenden belehrt und instruiert, nicht aber geschlagen oder verjagt würden: ‚Der Tyrannei steht kein religiöser Vorwand gegen die Gewissensfreiheit zur Verfügung. Denn gegen deren Gefahren helfen keine anderen Heilmittel, als die Gewissensfreiheit selbst, gleichsam der heilige und unzerstörbare Gegenstand, der – für den alleinigen Herrscher aller Seelen, Gott, reserviert – aufbewahrt wird.‘50
Ganz bewusst bezieht sich Przypkowski in diesem Zusammenhang auf das kurfürstliche Mandatum, wie sowohl zwischen Reformirten und Lutherischen Predigern als Unterthanen die Einträchtigkeit zu erhalten vom 2. Juni 1662, in dem Friedrich Wilhelm die Gewissens- und Religionsfreiheit zwischen den Protestanten erneut bestätigt hat.51 Przypkowski lobt diese Haltung, durch die der Kurfürst öffentlich bekannt habe, dass er gegen niemanden von seinen Untertanen jemals Gewissens- oder Religionszwang ausgeübt oder jemanden wegen seines Bekenntnisses verfolgt habe.52 49
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Vgl. Apologia afflictae innocentiae 1663, 2r: „Sed etsi in relicta nobis conscientiae libertate aliquid esset periculi, ne simplices seducantur, aut scandala patrentur, nunquid idcirco libertas conscientiarum violanda, aut in dissentientes saeviendum est?“ Apologia afflictae innocentiae 1663, 2r: „Nullus igitur a Religione praetextus adversus conscientiarum libertatem tyrannidi suppetit: Periculis enim ejus non desunt aliunde remedia, quamvis ipsa conscientiarum libertas, tanquam res Sacra et inviolabilis, soli mentium Regi Deo seposita servetur.“ Vgl. Mylius 1737–1755, I, 1, Nr. XXIX, 375–382, hier 377. Zur Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten in Preußen und Brandenburg vgl. umfassend Landwehr 1894. Eine knappe Übersicht bietet Ribbe 1999, 267–292. Vgl. Apologia afflictae innocentiae 1663, 2v: „Laudabilis et omni praedicatione digna est Serenitatis Tuae anni proxime elapsi Declaratio [vgl. den voranstehenden Nachweis], quâ palam et publice professus es, quemadmodum hucusque nullius e Subjecto Tibi populo Conscientiae aut religioni vis illata est, nec ob diversae fidei confessionem quisquam Tuo jussu persecutionem passus est, ita et imposterum Tibi decretum, neminem propter suam fidem aut erronem vexare aut
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Ob es eine offizielle Reaktion des Kurfürsten auf diese schriftliche Anfrage gegeben hat, ist nicht bekannt. Man kann jedoch an seiner praktischen Politik eine stillschweigende Duldung der Sozinianer ablesen. So wurde Johann Preuss (1620–1696), der bekannte sozinianische Prediger und Kirchenlieddichter, 1664 in Küstrin wegen seiner Missionierungen unter den Einwohnern festgenommen.53 Der Fall wurde von den Regierungsstellen mit der Empfehlung nach Berlin übersandt, ihn des Landes zu verweisen. Der Kurfürst begnadigte ihn jedoch und wollte ihn auch ferner in Brandenburg dulden, sofern er von der öffentlichen (nicht privaten) Ausübung seines Glaubens absehe. Ähnlich verhielt sich der Kurfürst in dem Fall Christoph Sand d. Ä. (1611–1686), Vater des bekannten gleichnamigen Sohnes, der als Jurist am Appellationsgericht in Königsberg Karriere machte, dann aber wegen seiner arianischen Ansichten 1668 vom Konsistorium seines Amtes enthoben wurde.54 Friedrich Wilhelm hat dieses Urteil zwar nicht aufgehoben, aber auch hier geduldet, dass Sand bis an sein Lebensende – wenn auch in großer Armut – in Königsberg leben konnte.55 Dass auch diese Toleranz freilich ihre Grenzen hatte, wird an dem Fall des Pfarrers Georg Jancovius (gest. 1694) deutlich, der 1659 nach wiederholter Verbreitung sozinianischer Gedanken von der Kanzel herab Brandenburg verlassen musste.56 Insgesamt auf dieser Linie einer stillschweigenden Duldung liegt auch der Erlass an das Konsistorium vom 9. April 1678, in dem der Kurfürst zwar an der offiziellen Politik festhielt, dass Arianer, Socinianer, Photinianer, und dergleichen Secten nicht zu dulten seien, sich selbst aber die letzte Entscheidung über die tatsächliche Vorgehensweise
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persequi velle.“ Wie erwähnt (vgl. Anm. 10), halte ich aufgrund dieser Äußerung eine Datierung des Briefes auf das Jahr 1663 für gerechtfertigt. Vgl. hierzu die Akten in dem Konvolut Verfahren gegen einige Anhänger des Arianismus, Photinianismus und Sozinianismus. 1664–1671 (Berlin, GStA PK: I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 5). Der Vorfall wird auch knapp erwähnt bei Bock 1774–1776, Teil I, 2, 649. Bereits 1659 wurden Erkundigungen über die sozinianische Gemeinde in Selchow eingeholt, wie aus den Akten GStA PK: I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 2 hervorgeht. Vgl. hierzu Hartknoch 1686, I. Theil, II. Buch, XI. Cap., 646 f. Lilienthal 1724, Nr. XXXVI, 765– 781 (Nachricht von Christophoro Sandio, dem Aelteren). Dort findet sich der Abdruck eines nur handschriftlich überlieferten „gründlichen Bericht[s], was zwischen Ihro Groß-Achtbarkeiten Herrn Secretaio Christopf [sic!] Sand den 31. Julii A. 1668. und dem Ehrwürdigen Ministerio im Kneiphoff, so auf Befehl E.E. Consistorii mit ihm geredet, vorgelauffen“ (768–772). Hieraus geht hervor, dass Sand die klassische Trinitätslehre für absurd gehalten hat: „Denn es wäre contra principia Rationis, insonderheit wieder folgendes: Impossibile est idem simul esse & non esse.“ (769) Die kurfürstliche Position ist nicht Gegenstand von Lilienthals Nachrichten. Vgl. ferner Bock 1754, 56b–58a. Der umfangreiche Briefwechsel zwischen Sand und Friedrich Wilhelm befindet sich in Berlin: In R. Christoph Sanden, Ober Secretarii, in puncto Arianismi. 1668–1671 (Berlin, GStA PK: EM 38d, Nr. 8). Er ist meines Wissens noch nicht ausgewertet worden. Knappe Anmerkungen finden sich bei Friedländer 1890, 337. Vgl. hierzu Wotschke 1911b, 231 ff.
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ausdrücklich vorbehielt.57 Das heißt, nicht das Konsistorium war Herr des Verfahrens, das die ungeliebten Antitrinitarier gerne verbannt hätte, sondern der Kurfürst selbst. Und man darf vermuten, dass er gegen die Widerstände dieser Institution im Jahre 1683 seine Toleranzpolitik gegenüber den Antitrinitariern nunmehr auch offiziell und für jeden nachlesbar änderte. Denn in einem Erlass vom 5. Januar 1683 sprach er sich ganz deutlich für die Duldung der Arianer bzw. Sozinianer aus: Ob nun gleich in denen Reichs-Constitutionibus versehen, daß diese [arianischen] und dergleichen Religionen nicht zu dulden, Wir Uns auch gnädigst erinnern, daß nach Anleitung des Land-Tags-Recessus de Anno 1653. Wir diesen und dergleichen Leuten keine ReligionsExercitia verstatten wollen; So seynd Wir doch geneigt, und bringt es auch der Verstand erwehnter Reichs-Constitution und Land-Tages-Recessus mit sich, diese als eintzele Familien, und mehrenteils Exulanten, so lange Sie sich stille und friedlich verhalten, und ihre Irrthümer andern bey zu bringen, oder zu überreden, sich nicht unternehmen, in Unsern Landen gnädigst zu dulden […].58
Nachfolgend forderte Friedrich Wilhelm das Konsistorium auf, ihm zu berichten, ob und wo sich die Sozinianer treffen, ob sie Prediger haben, die öffentlich oder privat den Gottesdienst verrichten, Andersgläubige zu überzeugen versuchen oder ihre Bücher unters Volk bringen. Und selbst in den Fällen, wo sich die Prediger oder Theologen nicht so verhielten, wie sie sollten, behielt sich der Kurfürst die letzte Entscheidung vor. Wir finden hier einen wesentlichen Schritt hin zu einer echten Toleranzpolitik, die sich nicht mehr von den Konfessionen lenken lässt, sondern anerkennt, dass eine Duldung keine Billigung der Lehren bedeutet und ein Umsturz der politischen Ordnung durch Heterodoxe nicht zu erwarten ist. Gewissens- und Religionsfreiheit ist jedenfalls kein Feld für einen theologischen Kuhhandel. War damit die Toleranzfrage in Brandenburg und Preußen ein für allemal geklärt? Leider nein. Denn nach dem Tod Friedrich Wilhelms im Jahre 1688 stellte sich die gleiche Frage beim neuen Kurfürsten Friedrich III. (1657–1713), dem späteren ersten König von Preußen.
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Mylius 1737–1755, I, 1, Nr. XLIII (9. April. 1678), 401 f.: „Demnach wir vernehmen, daß hin und wieder im Lande viele Prediger sich aufhalten, so dem Arianismo, Photinianismo, Socinianismo und dergleichen Secten zugethan seyn, und selbige zu disseminiren sich befleissigen sollen. Als befehlen wir Euch hiemit in Gnaden fleißige achtung darauf geben zu lassen, und desfals Erkündigung einzuziehen, auch uns darvon unterthänigsten Bericht zu unsern fernern Verordnungen einzuschicken.“ Mylius 1737–1755, I, 1, Nr. XLVII (Rescriptum, daß die Arriani als eintzele Familien, so lange sie stille und friedlich, und ihre Irrthümer andern nicht beyzubringen suchen, im Lande zu dulden; de dato Cölln an der Spree den 5. Januarii 1683), 403–406, hier 403 f.
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4. Die Regierungszeit des Kurfürsten Friedrich III. von 1688–1701 Man kann sich lebhaft vorstellen, dass die Protestanten gegen den kurfürstlichen Erlass von 1683 über die Duldung der Sozinianer Sturm gelaufen sind, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie nach dem Wechsel an der Spitze des Fürstentums eine Änderung dieser Entscheidung erreichen wollten.59 Ein erster Anlass ergab sich bereits 1689, als der oben erwähnte Johann Preuss zusammen mit Samuel Crell in Frankfurt an der Oder bei einem Buchhändler sozinianische Literatur verkaufen wollte. Der Buchhändler wandte sich daraufhin an die Universitätsleitung, die den Vorgang an den Kurfürsten mit der Frage übersandte, wie man diesen Leuten wehren wolle, ihre schädliche Lehre auszubreiten, und wie man gegen den Drucker dieser Werke vorgehen wolle.60 Friedrich III. erteilte hierauf Preuss und Crell einen strengen Verweis und drohte ihnen an, sie und ihre Anhänger des Landes zu verweisen, sollte sich der Vorgang wiederholen.61 Der Kurfürst setzte also sichtbar die Politik seines Vorgängers fort und tolerierte, dass sich unter Crells Leitung eine kleine Gemeinde der Sozinianer in Königswalde niederließ. Doch all dies konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lage der Sozinianer prekär blieb, von der geistigen Auszehrung dieser Bewegung ganz zu schweigen. Die Anfeindungen insbesondere der Reformierten setzten sich fort, so dass Crell sich gezwungen sah, eine Schrift zur Toleranzfrage zu verfassen, die zunächst als Handschrift kursierte, dann 1700 anonym veröffentlicht wurde: Kurtze und einfältige Untersuchung / Ob / und warum die Reformierte Evangelische Kirche / die also genannte Socinianer mit gutem Gewissen dulden / oder auch in ihre Gemeinschaft aufnehmen könne und solle. Die Schrift richtet sich also direkt an die reformierten Theologen und nicht an den Kurfürsten selbst. Interessant ist hierbei, dass die Druckschrift im Vergleich zum Manuskript62 eine Überarbeitung und deutliche Ausweitung des Materials erkennen lässt. Insbesondere fällt auf, dass der reformierte Hofprediger 59
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Vgl. nur die folgende bezeichnende Äußerung von Hartknoch 1686, I. Theil, II. Buch, XI. Cap., 647 f.: „Es predigen zwar die Theologi offt dawider [gegen die Anwesenheit der Sozinianer im Herzogtum Preußen] / aber vergebens / weil sich im Gegentheil andere finden / so dem LandesHerrn dieses einbilden / man solle die Arianer dulden / und sie also mit Sanfftmuth und Gutthaten auff den rechten Weg führen. Es ward auch dieses gesagt / daß die Arianer in Königsberg eine Zeitlang haben pflegen in einem Hause … zusammen zu kommen / umb ihren Gottesdienst daselbst in der Stille und im verborgenen zu verrichten. Allein dieses hat bald ein Ende genommen / und wird auch wol hoffentlich nimmer dazu kommen / daß sie die Freyheit offentlich ihren Gottesdienst zu verrichten im Hertzogthum Preussen werden erlangen.“ Der Brief an den Kurfürsten vom 20. August 1689 ist bei Wotschke 1911a, 213–215, ohne Nachweis der Quelle abgedruckt. Vgl. Wotschke 1911a, 198. Auch hier weist Wotschke die Quelle leider nicht nach. Vgl. Anm. 15.
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Johann Berg durch nachträgliche Einschübe zur meistzitierten Quelle wird. Damit ist die Stoßrichtung klar: Crell will belegen, dass die Sozinianer genau jene uralte Lehre der ersten apostolischen Kirche vertreten, die Berg für die Reformierten als ihr eigentümliches Prinzip in Anspruch genommen hat. Auf diese Weise soll der vermeintliche Widerspruch zwischen beiden Sekten fallen und die Nichtduldung der Sozinianer durch die Reformierten ihre Grundlage verlieren. Crell hat sich daher fürgenommen / mit gewissen Gründen zu überzeugen / daß sie / die Reformirten / für andern die also genannten Socinianer dulden / oder wol gar in ihre Gemeinschaft aufnehmen / nicht allein mit gutem Gewißen können / sondern auch / vermöge ihrer eigenen Lehrer Meinung / also mit ihnen umbgeben sollen / wofern sie nicht wieder ihre eigene Principia handlen wollen.63
Crell setzt dabei keine Übereinstimmung in der Lehre voraus, sondern er will allein nachweisen, dass die Sozinianer jene Lehre vertreten, die die Reformierten vertreten müssten, wenn sie mit ihrem Prinzip ernst machten. So zeigt er, dass die Sozinianer nicht nur das protestantische Schriftprinzip vertreten, wonach die heilsnotwendige Lehre klar und deutlich in der Bibel formuliert sei, sondern ihren Katechismus auch nach dem Symbolum Apostolicum64 verfasst haben, den Reformierte wie Calvin, Ursinus und Alsted für das älteste Zeichen halten und der die für das Heil notwendigen Lehren enthalte. Crell kann daher einem Berg vorhalten, dass diejenigen, welche meinen, der ersten Kirche am nächsten zu sein, auch jenem Beispiel der Toleranz nacheifern müssten, das sich in ihr findet, das heißt auch die „vor Glieder Christi halten / welche ohne Menschen Satzungen und Abgötterey der ersten Kirchen Bekänntnüß von Hertzen annehmen / und mit dem Munde bekennen“,65 nämlich die Sozinianer. Deren Glaube ist allein, wie Crell mit einer gewissen Süffisanz feststellt, wahrhaft katholisch, weil sie keine Lehren vertreten, die nicht im Apostolischen Glaubensbekenntnis angelegt sind. Dort sei aber weder von der Trinität noch von den zwei Naturen Christi, einem besonderen Verdienst Christi oder vom Heiligen Geist als dritter Person der Trinität die Rede. All diese Lehren seien daher keine Hauptstücke des christlichen Glaubens und folglich für die Frage nach der Seligkeit ohne Belang. Auf diese Weise kehrt Crell jenes von Berg in seiner Apostolischen Regell in Anspruch genommene Prinzip, nur das anzuerkennen, was klar und deutlich im Wort Gottes verkündet sei,66 gegen die reformierte Kirche selbst, um damit die Rechtgläubigkeit der 63 64 65 66
[Crell] 1700, 5. Vgl. hierzu Kelly 1993, 362 ff. [Crell] 1700, 10. Vgl. Berg 1641, cap. III, 29 f.: „Ist derhalben zu unserm Zweck gar genug / das wir nur in gemein wissen / welches auch kein Christ wird leugnen können / daß alles daßjenige und allein daßjenige / zur Seligkeit nöthig sey / was zum Seeligmachenden Glauben an Christum […] nothwendig gehöret: welches auch alles in dem ungezweifeltem Wort Gottes […] so klar und deutlich gelehret wird / daß es ein jeder Christ zu seiner Seeligkeit genugsam erkennen kan / und auch die Erste Apostolische Kirche einhellig erkandt hat. Was aber nicht so klar unnd deutlich in dem Wort Gottes / als ein nöthiges stück des Glaubens / Liebe / und Gehorsams Christi gelehret wird / auch in
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Sozinianer zu belegen. Wie könnten sie daher nicht geduldet werden? Doch für Crell geht es hier nicht um die Frage, ob die rechte Lehre nun papistisch, reformiert, lutherisch oder sozinianisch sei, eine Frage, die die Christen angesichts der, wie er sagt, „Blödigkeit des Menschlichen Gemüthes“67, ohnehin nicht entscheiden können, sondern darum, die Einheit der Religion unter der nicht zu vermeidenden Vielheit der Sekten wiederherzustellen. Wie schwer es dabei auch einem Crell fällt, eine allgemeine Toleranz aller Religionen zu vertreten, wird daraus ersichtlich, dass er hier allein von der christlichen Religion spricht, nicht aber von der jüdischen, türkischen oder heidnischen.68 Und selbst ein Religionsfrieden mit der katholischen Kirche erscheint ihm allein dann möglich, wenn diese auf ihren Herrschaftsanspruch verzichten würde. Es ist zu vermuten, dass die Reformierten auch gegen diese Schrift beim Kurfürsten protestiert haben. Eine direkte Reaktion ist mir jedoch nicht bekannt. Aber auch hier scheint der Kurfürst von der Toleranzpolitik, wie sie sich nunmehr etabliert hat, nicht mehr abgewichen zu sein: Er hat weder gegen Crell selbst noch gegen die sozinianische Gemeinde in Königswalde und anderswo obrigkeitliche Maßnahmen ergriffen. Diese Politik fand auch unter König Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) seine Fortsetzung, der 1713 das Amt übernahm. Crell verließ 1725 aus freien Stücken Königswalde und ging zunächst nach England, später nach Amsterdam, wo er 1747 im hohen Alter verstarb. Die sozinianische Gemeinde in Brandenburg bestand zu dieser Zeit nur noch aus wenigen Köpfen,69 geistig und körperlich vollkommen ausgezehrt. Eine Gefahr ging von ihr nicht mehr aus.
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der ersten Kirchen nicht daraus erkandt / und gelehret worden / dasselbe / ob es schon an ihm selbst nohtwendig daraus folgen / und also warhafftige Schriftmessige Lehre seyn kan / so kan es doch denen / die solches noch nicht erkennen / und nur die rechte GrundtLehre selbst / den Seligmachenden Glauben unnd Liebe zu Christo behalten / nicht nötig seyn.“ [Crell] 1700, 36. Vgl. [Crell] 1700, 39f: „Allhier möchte nun vielleicht jemand einreden / und sprechen: Auf solche Weise wird eine Vermischung allerley Religionen eingeführet werden / dieweil doch eine jegliche sich darauf beruffen wird / daß sie die H. Schrifft für die Regul / das Symbolum Apostolicum und die älteste erste Kirche für die Vorgängerin ihres Glaubens halte; darauf antworte ich ins gemein / daß es so weit fehle / daß auf unser Begehren eine Mengerey aller Religionen eingeführet werde / daß auch nicht einmal drey oder zwo vermischet werden. Denn wo durch die Worte: Allerley Religionen / verstanden werden die Jüdische, Türckische / Heidnische / Christliche Religion, so sagen wir lauter nein dazu / daß durch gesuchte Tolerantz eine Vermischung aller Religionen eingeführet werde. Sintemal wir hier allein von der Christlichen Religion reden […].“ Vgl. Crells Brief an König Friedrich Wilhelm I. vom 28. November 1718 bei Wotschke 1911a, 217–9, hier: 217 f.: „Ew. Königl. Maj. geruhen dann hierauf allergnädigst zu vernehmen, dass nachdem Dero Herr Grossvater Friedrich Wilhelm Churf. D. glorwürdigsten Andenken unsere aus Polen wegen der Religion vertriebenen Eltern und Vorfahren in Dero Landen wohnen lassen (welche Barmherzigkeit auch Ew. Maj. uns bishero allergnädigst erzeiget haben, wofür wir allerunterthänigst danken) unsere Anzahl nach und nach so merklich vermindert worden, dass unserer nicht über 72 Seelen theils adeliche theils unadeliche, worunter nur das dritte Theil männlichen Geschlechts ist, itzo in der gantzen Neumark und inkorporierten Kreysen in allem zu finden, die Unerzogenen und Säuglinge mitgerechnet. Weil nun von diesen 72 Seelen sich nicht mehr als in 20
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Anlage 1: Ein Brief Stegmanns aus dem Jahre 16261 an den Kurfürsten Georg Wilhelm: [1r] Durchleuchtigster, hochgeborener, gnedigster Churfürst undt Herr, E. Churf. Dl. kann, mittelst anerbietung meineß inbrünstigen gebets, und was einem gefangenen müglich, durch gegenwertiges Schreiben meine Not zuklagen, Ich nicht ümbgangk haben, unterthenigst pittendt E. Churfl. Dl. wolle solches, wie die von Gothe begehret erhöret zu sein, auch in allen Gnaden vernehmen. Gnedigster Churfl undt Herr, welcher gestalt ich nuemehr lenger alß vorm Jahre, von dem pfarhern zu Spandaw, bey welchen alß meinen Fürgesetzten Inspectorn, ich privatim Information, in Religionis sachen gesuchet, aber nicht erlangen können, meiner Lehre halber bey meinniglichen berüchtiget: Für E. Churfl. Durchl. hochpreißliches Consistorio auch deßwegen belanget, undt von demselben gen Hofe an E. Churfl. Durchl. remittirt: Durch Inquisition des Fiscali dießfalß befraget: undt darüber zu dem Ende, daß meine Lehre (daß ichs alßo nenne) nach der einigen richtschnur des Wortes Gotheß examinirt werden möchte, mith dem unterthenigsten erbieten, daß ich, waß wahr wehre, allein auß der H. Schrift erklehren undt verthetigen2; waß mier aber als ein irthumb darin, mitt guten grunde des Göthlichen worteß gezeiget würde, nicht allein gerne fallen laßen, sondern eß auch mit hertzlichem Dancke erkennen wolte, E. Churfl Dl. derselben kurtzen begriff, beydeß Lateinisch und teutsch, nebst weinigen streitschriften übergeben zu laßen, genötigeth: nichts destoweiniger, ob woll auch von anderen, welche die Christliche warheit zu erkundigen sich ernstlich angelegen sein laßen, solches an die Theologen, daß sie sich zum Examine meiner übergebenen schriften bequemen möchten, gelangeth, da ich mich auch zu so schrift[licher] so mündlicher Conferentz unterschiedtlich anerbothen, jedoch keiner andtwort gewürdigeth, undt alßo von jederman hülfloß gelaßen. Ja uber diesem, eben daßelbe, mit Uberschickunge meiner schrift, an die Patronen der Kirchen Fahrlandt undt Satzkow, wiewoll auch ohne allen effect; vielmehr noch zu desto größern Haß undt Verbitherung begehreth: Unterdeß aber bey E. Churfl. Dl. durch etlichen warheith und friedheßigen (die Jesu Christo woll bekandt sein) so viel zuwegen bracht, daß ich den 1 Martij von Fahrlandt, wie Christus von sich sageth, alß ein Mörder
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in Königswalde befinden, worunter nur vier erwachsene oder bejahrte Männer und unter diesen Vieren drey einfältig seyen, die kaum ihren Namen schreiben können, wir auch mit niemandem daselbst und anderswo von der Religion disputieren […] so ist es weit davon, dass wir uns und insonderheit zu Königswalde sehr ausbreiten solten, dass das contrarium klärlich zu sehen.“ Der König verfügte hierauf am 6. Dezember 1718 u. a.: „Sie [die Unitarier] sollen mit keinem Gewissenszwang belegt werden, aber auch nicht Proselyten machen“ (zitiert nach Wotschke 1911a, 219). Berlin: GStA PK, I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 1. Der Brief ist undatiert und wurde für die Edition foliiert (1r–3v). Der Inhalt lässt auf eine Abfassung in den Monaten März/April 1626 während der Gefangenschaft, jedoch vor Durchführung des Kolloquiums schließen. Lies: „Verteidigen“.
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oder Übeltheter, mit Schwertern undt stangen durch die schaar und diener der Obristen, abgeholet, nacher Spandaw auf die Festunge geführeth, undt alda in gefengniß undt schwere Eisen banden geschlagen, auch den Meinen zu mier zu kommen, welches doch S. Paulo von den Heyden nicht gewehreth, keines weges verstathet worden: daß alleß wird E. Churfl. Durchl. auß vorigen [1v] meinen undt der Meinigen bericht, so dar anderst zu E. Churfl. Dl. Handen undt Ohren kommen, verhoffentlich sattsahm wißend sein. Wann dan, gnedigster Churfürst undt Herr, dieß eine solche sache ist, die nicht nur gelt undt guth, nicht nur Kunst undt geschickligkeit, nicht nur Ehr undt redligkeit, nicht nur Leib und Leben, sondern Gotheß undt seines Sohnes Jesu Christi Ehre, undt vieler menschen, nicht allein meine, sondern auch E. Churfl. Durchl. eigen undt dero Unterthanen (deren ein gut theil diese Lehre bekandt undt ob sie recht oder unrecht sey zu wißen ein Verlagen tragen) ewiges Heyl und seeligkeit betrifft, daher sie auch mith rechtschaffener Gotheßfurcht und eiferigem gebeth, alß für dem Angesicht Jesu Christi, welcher der Obriste praesident und Direktor in dieser Sachen ist, trahirt werden will. Undt ich aber meines theilß noch nicht absehen kan, das dieß falß etwaß der christlichen pflicht zuwieder, von mier wehre fürgenommen worden: Angesehen daß die erkündigunge der Warheith allen Christen nicht allein woll an steheth, sondern auch für allen Dingen gebühren will. Den daß ich daßelbe waß ich für Warheit halte undt nach dem Worte Gotheß gerne wolte examiniren laßen, E. Churfl. Durchl. undt dero F. Schwester E. zugeschrieben, wirdt mier niemandt für ungebürlich deuten, sintemahl ich nicht allein vom Consistorio dahin gewiesen, sondern auch ohn daß es sehr gebreuchlichen, fürnehmen Persohnen, sonderlich seiner Obrigkeit, seine Schriften zu dedicieren: gestalt den eben dieser meiner Lehre zugethane Liebe vorn solches bey Königen, Churfürsten, Grafen, Freyherrn, Stedten, Universiteten undt gantzen Lendern undt gemeinden unterschiedliche mahl gethan: weil man sich doch seiner bekentniß billig nicht schemen soll; undt ich auch nicht anderß, alß durch E. Churfl. Durchl. Autoritet undt geheiß die Theologen zum Examine zubewegen, mier getraweth. Daß ich aber in dieser dedication der F. D. in Siebenbürgen gedacht, ist darümb geschehen, damit mein Tractätlein nicht, alß eine gemeine bethel scharteke3 ungelesen weggeworfen werden möchte: Deßelben F. D. habe ich einen Patronen dieser Himlichen Warheit genandt, weill in dero Landen das freye Exercitium Religionis dieses glaubenß Verwandten gnedig verstathet wirdt, obwoll S. F. Dl. ihnen selbsten nicht zugethan, gleich wie eben in solchen Fall E. Churfl Dl ein Patron der Luterischen Lehr mith billigkeit geheißen werden. Ja so diese meine Lehre die Warheit ist, (wie ichs den noch dafür halte, biß mier nicht auß Menschen schriften, auß dem Patribus und Concilijs, sondern allein, allein auß Gotheß Wordt ein anderß mith guten grunde gezeiget wirdt) wie könte ich einen christlichen Potentaten höher ehren, als wen ich denselben für einen Patronen selbiger Christlichen Warheit außriefe? Eß sey ferne, daß 3
Abwertende Bezeichnung für ein altes wertloses Buch.
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man mir deßhalben einige schuldt mith billigkeit zumeßen wolte. Im gegentheil findeth sich auf der andern seiten nicht weinig, das einen Christlichen process sehr unehnlich sieheth, den da ich geirret, hethe ihnen sonderlich den Theologen obliegen wollen, zuvorauß, weil solches so vielmahlß an ihnen begehreth worden, [2r] nach S. Pauli Vermahnunge mich wieder zu rechte zu helfen, mith sanftmütigem Geiste, welcheß sie sich doch niemahlß unterstanden, mich noch nie gehöreth, viel weiniger einer Ketzerey überzeugeth. Undt ob man gleich E. Churfl. Dl. hath einbilden dürfen, sampt solte Photinus (welcher eben des von Christo, waß ich auß Gotheß Wordt soll gelehreth haben) auf dem Consilio zu Sirmio gnugsahm gehöret undt legitime verdampt worden sein; so ist E. Churfl. Dl. doch dießfalß mith ungleichen bericht vorgangen. Sintemahl die Historien bezeugen, wie auch beides Lutherische undt Reformierte Theologen wieder die Papisten dieß zu urgieren pflegen, das auf demselben Consilio auch daß Symbolum Nicaenum, worzu sich beydeseits Evangelische, so woll alß die papisten bekennen, verdampt: Undt Ossius der Bischof von Córduba, welcher daß Symbolum zu Nicaea helfen machen, mith vielen schlegen den Decretis Concilij Sirmiensis zu unterschreiben gezwungen worden: Auß welchen abzunehmen, das nicht die Homousianer (wie man dieselben dazumahl genandt, die ietzundt Trinitarij heißen), sondern die Arianer daß Consilium zu Sirmio gehalten undt nicht allein Photinum, sondern auch E. Churfl. Dl. eigen bekentniß verdammet haben: So nu solche Arianische Verdammunge mier praejudicirlich sein solte, würde selbige auch wieder E. Churfl. D. Confession, im Symbolo Nicaeno verfasseth, Kraft haben. Aber da ist E. Churfl. Dl. anverholen, wie vielmahls die Consilia geirret, undt deßwege thuen nicht weiter zu trawen, alß wo sie mith der Regul Göttliches Wortes übereintreffen, sonst würden die Papisten schon gewonnen […]4 haben, alß die die meisten Patres und Concilia auf ihrer seiten anzuziehen wißen. E. Churfl. Dl. wolle sich, waß dero Hofprediger, D. Bergius in einer predigt, welche er fürbildt der heilsahmen Lehre nannet, baldt im anfange derselben von den Concilien, Synodis, Privilegien, Constitutionibus undt dergleichen, handelt, wie er selbe dem Worte deß Herrn entgegen setzet, gnedigst erinnern, undt solches in dieser meiner sachen ohne ansehen der Persohn auch gelten laßen. So ich mich dan nu, hindangesetzet aller Menschlichen schriften, auf den einigen Worte Gotheß, wie E. Churfl Dl. Theologen selbsten auch thun berufe: So hethen sie je nicht Ursach, mier meine Disputation zu versagen, vielweiniger mich unverhört, alß einen verfluchten undt verdampten Ketzer, der solche grewliche und abschewliche Lehre führe, bey E. Churfl. Dl. entweder selbst oder durch andere, die [2v] etwaß mehr alß sie gelten, anzugießen undt außzurufen; weinigsten aber alß einen Dieb oder Mörder, ohn einig vorhergehendt erkenntniß oder examine, von allen menschen abgesondert, in gefengniß und Eisen banden legen zu lassen. Eß pflegen die Reformierten sich sonst zubeschweren über die Lutheraner, undt sie beide über die Papisten, daß man sie nicht hören, noch ihre bücher zu lesen verstathen undt unterdeß sie gleichwoll verketzert undt verdammet, ja mith 4
Unleserliches Wort durch Papierverlust.
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gewalt, gefengniß, Marter undt tode zu ihrer Religion zwingen will: Nu solte es je heißen, quod tibi non vir fieri alteri ne feceris: oder wie Christus sageth: Waß ihr wolt, das euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen auch. Damith man nicht durch der scharfen predigt des Apostelß Pauli Rom. 2, 1. 2. 3. 4. 17 seqq. mutatis mutandis getroffen würde. Oder wie die Juristen ungefehrlich zu sagen pflegen: Nemo indignabitur item jus sibi dici quod ipse dixit aliis: Warümb will man, daß dies in dieser sachen, da sie doch eben denselben respect bey den Papisten, alß ich bey Ihnen habe, nicht eindruck sein? Gewiß, gnedigster Churfl undt Herr, eß machet sich eine Religion bey verstendigen Leuten sehr suspect, wenn sie solche violenta media undt indissolubilia argumenta, alß Ketten, Riegel, Schlößer undt bande braucheth, welchen die Warheit Göthliches Worts keinesweges bedarf, das gewißen auch zu stillen nicht vermügen; Vielmehr einigen rechten Christen einen behertzten muth geben, bey seiner meinung zubleiben, undt mith Christo zu leiden, weill das gegentheill keine christliche Mithel hath, das Hertz und gewißen zubewegen, sondern eben den weg, den eß selbst an den Papisten undt Türken tadelt, alß Antichristisch undt tyrannisch tadelt, gehen muß. Darum Christus, seine Apostell und Mertyrer haben solche mithel niemahls gebilligeth, vielweiniger gebraucht, weinigsten befohlen, aber von den feinden der Warheit immerdar erlitten, undt auch das sie, die rechte Christen leiden müsten, vorher verkündigeth; daß ich daher meinestheilß mich, mit frewden erinnern muß, waß Christus sageth Matth. 10, 22. Ihr müßet gehaßet werden von jederman ümb meineß Nahmenß Willen. Undt mier ferner zum troste anmaßen deßelben Worte Luc. 6, 22. 23. Selig seidt ihr, so Euch die Menschen haßen, undt euch absondern, undt schelten euch undt verwerfen Ewren Nahmen alß einen boßhaftigen, umb deß Menschen Sohnes Willen. Frewet euch alß den und hüpfet, denn siehe, ewer Lohn ist groß im Himmel, deßgleichen theten ihre Veter den Propheten auch. Allein E. Churfl. Dl. halben ist mierß hertzlich Leid, das dieselbe eben zu solcher execution sich muß gebrauchen laßen: wiewoll ich weiß, daß E. Churfl. Dl. die Göthliche Warheit unterzudrücken, niemahlß im [3r] Sinne gehabt; aber Christus sagt auch, sie werden meinen, sie thun Goth einen Dienst daran, daß alßo E. Churfl. Dl. diese sache sehr woll erwegen, den Geist, wie S. Paulus sagt, nicht zu dempfen, sondern ob er auß Goth sey genawer alß Silber undt Goldt an den Probierstein göttliches Worts zu prüfen, undt in wahrer Gotheßfurcht sich zu bedenken haben, obß beßer mith denen, die umb Christi Willen Marter leiden oder die andere Martern laßen, zuhalten sey? Ja, wen den schon erwiesen wehre (welches doch noch nicht geschehen), das meine Lehre irrig undt ketzerisch, so hedte doch E. Churfl. Dl. aus den beyderseits Evangelischen Theologen schriften, wieder der papistischen unchristlichen procedere zuersehen, das solcher Gestalt mit einem Ketzer zu verfahren, die Reguln Christi nicht zulaßen wollen, alß dieselben nur zu Meiden, undt zwar Nach dem Er einmahl und aber einmahl vermahnet ist, gebieten, wie der Apostel Paulus hievon lehreth: Eß sey ferne das man jemandt mith gewalt zur Religion zwingen; weiniger denn noch keine Ketzerey erwiesen, weinigsten aber der
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noch niemalß gehöreth undt sich auf der H. Schrift allein berüfeth, auch so ihm irthumb erwiesen wirdt, selben gerne fallen zu laßen, erboten alßo stöcken und blöcken sollte. In betrachtunge alleß deßen gelangeth an E. Churfl. Durchl. mein unterthenigstes undt demütiges pithen, E. Churfl. Dl. geruhen gnedigst mith befehl an den Oberheuptman zu Spandaw, mich der gefenglichen Haft zu erlaßen, den ich doch jederzeit auf erförderunge mich zu gestellen unterthenigst erböthig: Oder zum weinigsten, das ich nur auf der Festunge unverschloßen ümbhergehen undt ander Leute zu mier kommen mögen, zu verstathen: Unter deß aber Gothe zu Ehren undt der Menschen seeligkeit zum besten ein Publikum et ex omni parte liberum Colloquium, da einem theil so viel freyheit alß dem anderen gegeben, doch gleichwoll, damith der unzeitige eifer nicht bißweilen zu viel thue, in jeder zu gebüerender bescheidenheit undt richtiger form zu disputieren, juxta praescripta logica angewiesen werde, nebst gnedigster Versicherunge, das einen jeden seines Hertzen meinunge frey zubekennen undt aus Gotheß Worte zubeheupten unschedlich sein solle, anzuordnen: Alß dan würden E. Churfl. Durchl. undt auch andere erfahren, [3v] auf welchem theil die gewichten Göthlicher warheit ausschlagen wollten. Da aber dieses (welches doch woll das nechste mithel, ohn welches auch wol schwerlich diß werck, daß nuemehr in allen Landen weit eingerißen, zustillen) nicht zuerhalten, so wehre nur dieses mein unterthenigstes suchen, E. Churfl. Dl. wolle deroselben Theologen mith ernstlichen befehl auferlegen, das sie die Errores, so sie in meinen übergebenen schriften finden können, aufzeichnen, allein auß Gothes worte wiederlegen, undt solche wiederlegung mier, im gefengniß, (sofern ich ja darauß nicht erlöset werden könte, welches ich Christo befehlen müßte) zu schicken, mich darin zuersehen: Den ob ich gleich noch in meiner Lehre keinen irthumb sehen kan, auch in dieser Schulen, da ich keine Informatores habe, undt man mier die Bücher auch genommen, woll schwerlich sehen werde; so erinnere Ich mich doch das Ich ein Mensch bin, undt eben so woll, alß andere irren könne (wolte Goth das andere dergleichen gedancken hethen!). Erbiete mich auch daher nochmahls, daß ich die mith guten grunde gezeigten Errores nicht allein gerne erkennen, sondern selbst ins fewer werfen undt verbrennen will: Wo aber dieses nicht geschiehet, undt man nur allein von irthumb sageth, mich aber deßen nicht überzeuget, so kan ichß nicht anderß deuten, alß das man das Licht schewe, undt mich nur mith gewalt die Göthliche warheit wieder mein gewißen zuverleugnen zwingen wolle: Mith welcher Sünde E. Churfl. Dl. sich ungerne beschweren wirdt, undt der Barmhertzige Goth wirdt auch selbe E. Churfl. Dl. mit seinen H. Geiste dermaßen regieren durch Jesum Christum, unseres Herren und Gothe, hochgelobeth in Ewigkeit, das sie dafür behütet werden. E. Churfl. sehen das dieß ein recht Christlich begehren (den auch Christus gesaget: Habe Ich übel geredt so beweise es, habe Ich aber recht geredt, was schlegstu mich dan?) Welches, so E. Churfl. Durchl. mich deßen gnedigst gewehret Goth reichlich vergelten wirdt, wie ich den mith meinem gebete darümb anzuhalten mich schüldig und willig erbiete. E. Churfl. Dl. Unterthenigster Gehorsambster Gefangener Christi Joach. Stegmann
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Anlage 2: Revers Stegmanns vom 2. Juni 1626:1 [1r] 2. Junij 1626 Ich Jochim Stegman2 gerede, gelobe, zusage, und verspreche hiermit, und in Kraft gegenwertiges reverses – bey meinen ehren und trewen, an Eides staht, vor mich, meine Erben, gebohren und ungebohren, meine Erbnehmen, und sonsten menniglich. Nachdem mich der Durchlauchtigste Hochgeborene, Fürst und Herr, Herr George Willhelm, Marggraf und Churfürst zu Brandenburgk, in Preußen, zu Jülich, Cleve, Berge p, Hertzog pp. mein gnedigster Herr, wegen deßen, daß Ich in S. Churf. D. landen des Arij, und Photini lehr, hin und wieder, in weß weise und wege Ich gekont ausgebreitet: mir auch von allerhand fremdes leuten einen Anfang gemachet: in eine Custodien auf der Vestunge Spandaw bringen und legen laßen: Und aber S. Churf. D. auf allerhand vor mich bestehende Intercessiones außwertiger leute, sich entlich, uber mich erbarmet, mit mir nach der scherffe der Rechte nicht verfahren wollen, sondern mich hinwieder: jedoch anderß, oder anderer gestalt nicht, alß wie nachstehet, auf freyen fuße kommen laßen. Alß nehme ich, die mir hierunter erwiesene hohe gnade zu unterthenigsten höchsten Dancke auf und an. Will auch nimmer, und zu keiner Zeith diese Custodiam und Verhaftunge, in welche Ich, auß rechtmeßigen Ursachen gerahten und kommen, immer oder außer rechtenß, weder an S. Churf. D. selbsten, dessen hochgeehrten Gemahlin, Churf. Kindern, anverwanten Rähten, Dienern und in sonderheit an denen, die da die Captur, und daß gefengliche annehmen, uff heben den befehl, an mir volnstrecket, und gantzen landen und leuten weder anden, eifern noch rechen, weder durch mich selbsten, noch durch andere, in keinerley wege, wie die heißen, und nahmen hetten, und ob Ich diesen zu wieder etwaß thete, oder durch andere thun ließe: Und also diesen meinen Revers ubel vergeße, soll es doch itzo, alß damit, und alß denne wie itzo, nichtig null, ungültig und allerdings unkreftig sein. Dahingegen aber will ich S. Churf. D. Churfürstenthumb, wie auch alle hiertzu behörigen landen und leute innerhalb 8. tagen, den nechsten dato anzufange: gentzlich reumen: auch Zeit meines lebenß, umb keinerley Ursach willen, wie die auch beschaffen sein möchten, nicht wieder hierin kommen. Waß Ich von Photinianischer, Arrianischer, und dergleich büchern habe, wie auch alle missiven und geschriebene sachen, die hinter mir verhanden, will Ich alhier laßen, Auch soll und will Ich mich die 8. tage uber, so mir noch im lande zu bleiben verleubet, gantz stille verhalten: von allen Religionssach still schweigen, und mich in keine wege [1v] unterstehen, jemanden, auch nicht dem geringsten, an mich zu ziehen, oder deme, waß Ich auß der Photino, Ario und von Ihren Jüngern gelernet, beyfal zu 1 2
Berlin, GStA PK: I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 1. Der Brief wurde für die vorliegende Edition foliiert (1r–1v). Die Schreibfehler beim Vor- und Nachnamen zeigt an, dass Stegmann diesen Revers nicht selbst verfasst, sondern ihn bloß unterschrieben hat. Darauf weisen auch die unterschiedlichen Datumsangaben am Anfang (2. Juni) und Ende des Briefes (8. Juni) hin.
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geben, reitzen oder bewegen. Vörderß soll und will Ich auch von diesen gegenwertigen tagen an, mit niemanden in den landen der Chur. Brandenburg, Correspondieren, weder heimlich, noch öffentlich, weder durch schreiben, zu entbieten, oder wie es sonsten were: es geschehe durch mich selbsten, oder aber den dritten oder vierten und so fort an. Und ob ich dieses alles dazu ich mich hiermit alßo hoch verpflichtet, nicht erfolgete, und ohne abbruch leistete: alßdan will und soll Ich S. Churf. D. in alle und jede lebenßstrafe, die sie mir mit rechte anlegen laßen werden, vonstellen sein; auch dawieder keine gnade noch miltunge suchen oder bitten, alles bey meinen ehren, trewen und wahren worten, sonder alle arge list, und gefehrde, an eides staat. Geschehen und geben zu Spandaw, am 8. Junij des 1626. Jaarß. Daß ich Joach. Stegman den obigen reverß vest und unverbrüchlich, Zeit meines lebenß, halten will, solches bekenne ich wißentlich mit dieser meiner Subscription, und Siegel Signatur ut supra. Joachimus Stegmannus Marcia
Bibliographie Quellen Handschriften Konvolut „Joachim Stegmann wegen des Photinianismus. 1626–1630 (1634).“ Berlin: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [GStA PK], I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 1. Enthält u. a.: Colloquium privatum 1626 In Nomine Sacrosanctae et Individuae Trinitatis Serenissimi atque Illustrissimi Principis ac Domini Dom. Georgii Wilhelmi Marchionis atque Electoris Brandenburgici, in Borussia, Juliae, Cliviae, Montium, Stetini Pomeranorum etc. Ducius, etc. Domini nostri Clementissimi, Voluntate ac Mandato, ad diem octavum Maij, Anni à Christo nato Millesimi Sexcentesimi vigesimi sexti. Stegmann, Joachim (1625/6): Christologia. Oder Unterrichtung von Jesu Christo dem Haupt seiner gemeine. Diverse Briefe Stegmanns und Bergs an den Kurfürsten.
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Konvolut „Die Photianer. 1659.“ Berlin: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [GStA PK], I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 2. Konvolut „Die aus Polen vertriebenen Socinianer. 1666.“ Berlin: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [GStA PK], I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 3. Enthält u.a.: [Apologia afflictae innocentiae 1663] Serenissime ac Potentissime Princeps Elector, Domine Clementissime. Konvolut „Verfahren gegen einige Anhänger des Arianismus, Photinianismus und Sozinianismus. 1664–1671.“ Berlin: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [GStA PK], I. HA. Rep. 13, Nr. 23. Fasz. 5. Enthält u.a.: Anonymus [i.e. Crell, Samuel]: Kurtze und einfeltige Untersuchung, Ob und warumb die Reformierte Evangelische Kirche, die, also genannte, Socinianer mit gutem Gewissen dulden oder auch in ihre Gemeinschaft aufnehmen könne und solle? Konvolut „in R. Christoph Sanden, Obersecretarii, in puncto Arianismi. 1668–1671.“ Berlin: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [GStA PK], EM 38d, Nr. 8. Drucke [Balduin, Friedrich] (1619): Auszführliche unnd Gründliche Widerlegung des Deutschen Arianischen Catechismi Welcher zu Rackaw in Polen anno 1608. gedruckt / und der uhralten algemeinen Apostolischen Bekentnuß der Christlichen Kirchen von Jesu Christi Person und Ampt entgegen gesetzet ist. Aus einiger / heiliger / Göttlicher Schrift genommen / unnd zu rettung der Ehr Jesu Christi / und unsers Christlichen Bekentnus von ihm / gestellet und in druck verfertiget / durch die Theologische facultet zu Wittenberg. Wittenberg. Berg, Johann (1641): Apostolische Regell, wie man in Religionssachen recht richten solle. Elbing: Wendel Bodenhausen. Bock, Friedrich Samuel (1754): Historia Socinianismi Prussici maximam partem ex documentis manuscriptis. Königsberg: Hartung. Bock, Friedrich Samuel (1774 & 1776): Historia Antitrinitariorum, maxime Socinianismi et Socinianorum. Tomus primus (in duas partes). Leipzig: Hartung. Neudruck: Leipzig 1978. Brutus, Iunus [Crell, Johann] (1637): Vindiciae pro religionis libertate. Eleutheropoli [Amsterdam] typis G. Philadelphi. Warschau 1957. Catechismus (1608) = Der Gemeine derer Leute / die da im Königreich Poln / und im Grosfürstenthumb Littawen / und in andern Herrschaften zu der Kron Poln gehörig / affirmieren und bekennen / das niemand anders / denn nur allein der Vater unsers Herrn Jesu Christi / der einige Gott Israel sey: und das der mensch Jesus von Nazareth / der von der Jungfrawen geboren ist / und kein ander ausser oder vor ihm / der eingeborne Sohn Gottes sey. Aus der Polnischen Sprach verdeutschet. Raków.
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[Crell, Samuel] (1700): Kurtze und einfeltige Untersuchung / Ob / und warum die Reformierte Evangelische Kirche / die also genannte Socinianer mit gutem Gewissen dulden / oder auch in ihre Gemeinschaft aufnehmen könne und solle. Hartknoch, Christopher (1686): Preussische Kirchen-Historia / Darinnen Von Einführung der Christlichen Religion in diese Lande / wie auch von der Conservation, Fortpflantzung / Reformation und dem heutigen Zustande derselben ausführlich gehandelt wird. Frankfurt a. M./Leipzig: Beckenstein. Jablonski, Daniel Ernst (1742): Catalogus librorum publicae auctionis. Ejus initium erit d. 12. Febr. 1742. Berlin. Küster, Georg Goffried (1733): Historia Colloquii cum Ioach. Stegmanno in arce Spandoviensi anno MDCXXVI habiti. Berlin. Lilienthal, Michael (1724): Erleutertes Preußen oder auserlesene Anmerckungen, ueber verschiedene zur Preußischen Kirchen-, Civil- und Gelehrten-Historie gehörige besondere Dinge. Tomus I. Königsberg: Hallervord. Merian, Matthäus (1693): Theatri Europaei achter Theil. Von den denckwürdigsten Geschichten / so sich hie und da in Europa […] zugetragen haben. Franckfurt a. M. Müller, E. F. Karl (Hrsg.) (1903): Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche. Leipzig: Deichert. Mylius, Christian Otto (1737–1755): Corpus constitutionum Marchicarum, oder königl. Preußis. und Churfürstl. Brandenburgische in der Chur- und Marck Brandenburg, auch incorporirten Landen publicirte und ergangene Ordnungen, Edicta, Mandata, Rescripta etc. Von Zeiten Friedrichs I. Churfürsten zu Brandenburg etc. bis ietzo unter der Regierung Friderich Wilhelms Königs in Preussen ect. ad annum 1736. inclusive. Berlin und Halle: Wayenhaus. [Przypkowski, Samuel] (1628): Dissertatio de pace et concordia Ecclesiæ. Edita per Iraeneum Philalethen. Eleutheropolis [Amsterdam]. Warschau 1981. Sandius, Christoph (1684): Bibliotheca Anti-Trinitariorum. Freistadii: Apud Johannem Aconium. Reprint Warschau 1967.
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WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN
Johann Stephan Rittangel
1. Biographie Johann Stephan Rittangel wurde am 2. Januar 1606 in Forchheim im Bambergischen geboren.1 Seine religiöse Herkunft ist umstritten. Entweder war er von Beginn an jüdisch und wurde vor 1639 lutherisch getauft, oder er wurde katholisch erzogen, konvertierte in Hamburg zum Judentum und wurde danach lutherisch. Er selbst wies den Verdacht, jemals Jude gewesen zu sein, ständig von sich.2 Er hielt sich zwölf Jahre in Konstantinopel auf, verkehrte dort mit Juden und Rabbinen, außerdem lebte er bei den Karäern und in Litauen und machte deren Theologie der westlichen Orientalistik bekannt.3 Wie immer es mit seiner Religion bestellt war, es wird jedenfalls berichtet, er sei nach seiner Rückkehr aus der Türkei und Litauen vor 1639 von Bartholomäus Nigrin in Danzig getauft worden.4 In Königsberg wurde Rittangel mit dem dortigen 1 2
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Der Aufsatz ist Schmidt-Biggemann 2013–2013, Bd. 2, Kapitel 6 entnommen. Vgl. Zedler 1742 und Bayle 1741. In Schlichting 1700, 69, heißt es: „Johann Stephan Rittangelius Bambergâ ortus, ac in Pontifica religione educatus, deinde Apostata factus defecit ad Judaeos, à quibus etiam circumsisus fuit, uti fertur Hamburgi, postmodum verò Gedani à Nigrino baptizatur recepit se ad Christianam fidem.“ Wolf 1715–1733, Bd. 1, 475, Nr. 820, schreibt, dass zwar die allgemeine Meinung unter den Gelehrten Rittangel für einen konvertierten Juden halte, es aber durchaus möglich sei, dass er zunächst katholisch erzogen wurde, dann zwölf Jahre in Konstantinopel gelebt und mit Rabbinen freundschaftlich verkehrt habe, dann aber zum Protestantismus revertiert sei. Vgl. Jöcher 1751, 2115 („Rittangel [Joh. Stephan.]“); Wolf 1715–1733, Bd. 1, 475 ff. und 317; Arnoldt 1746, 416 ff.; nach Triglandus 1714 war Rittangel der erste Vermittler der Kenntnis von den Karäern in der christlichen Orientalistik. Diese Ansicht ist falsch; es gab schon seit dem Ende des 16. Jahrhunderts Kenntnis dieser jüdischen Gruppierung; vgl. van den Berg 1988, zu Rittangel 39; Lasker 2006: Ein hebräischer Brief Rittangels vom September 1641 an John Selden, die Karäer betreffend, mit ausführlicher (biographisch nicht ganz genauer) Einleitung. Bayle 1741, 60 f., Note (B), bezweifelt diese Angabe, es fänden sich keine Akten über dieses Ereignis, außerdem sei Nigrinus vom Luthertum zum Calvinismus übergetreten, um Prediger an der Danziger reformierten Kirche St. Peter zu werden; Valerian Magni rühmte sich, ihn später (wohl 1644) zum Katholizismus bekehrt zu haben.
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Superintendenten Georg Vechner bekannt, dessen These, es fänden sich im aramäischen Targum Belege für die Lehre der göttlichen Dreieinigkeit, er später sowohl in seinem Kommentar zum Sefer Jezira als auch in seiner Libra veritatis verteidigte. 1640 wurde er außerordentlicher Professor der orientalischen Sprachen in Königsberg. Noch am Ende desselben Jahres machte er sich auf den Weg nach Amsterdam, um dort seine Schriften drucken zu lassen. Sein Schiff wurde aber von Seeräubern gekapert, die seine Bücherkiste plünderten und seine kostbaren, im Orient und in Litauen gesammelten Manuskripte zerrissen.5 Rittangel landete mit seinem geplünderten Schiff Anfang 1641 deshalb nicht in Amsterdam, sondern zuerst in London.6 In London kam er mit den polittheologischen Propagandisten Samuel Hartlib und John Dury zusammen. Im protestantisch-apokalyptischen Propagandaendkampf des Dreißigjährigen Kriegs, der damals schon in den englischen Bürgerkrieg überging, spielten die beiden – gemeinsam mit Johann Amos Comenius – eine Schlüsselrolle.7 Sie waren wesentlich dafür verantwortlich, dass Cromwell England für die Juden wieder öffnete, freilich weniger aus Gründen der Toleranz als vielmehr wegen der Erwartung ihrer baldigen Konversion zum Christentum. Dabei war Rittangel anfangs als judaistischer Spezialist für die Judenbekehrung vorgesehen.8 Hartlib und Dury legten 1641 dem Committee for Religion des englischen Parlaments eine von Dury redigierte Denkschrift mit ihren Reformplänen vor, A humble Remembrance.9 Dort wird Rittangel an erster Stelle genannt. Möglicherweise schrieb Rittangel in diesem Zusammenhang den kleinen apologetischen Traktat De Veritate Religionis Christianae,10 den Johannes van der Waeyen 1699 veröffentlichte. Dury nahm aber von seinem Plan, Rittangel in das Reformprojekt zu integrieren, bald wieder Abstand.11 Nach einigen Monaten Aufenthalt in London reiste Rittangel nach Amsterdam weiter. Hier stellte Geneberard Anslo dem geplünderten Orientalisten seine Bibliothek 5
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Das steht in der Widmung des Sefer Jezira an Geneberard Anslo: „Cum enim ex Academia nostra, longâ et difficili navigatione huc properarem, quo hunc aliosque, quos editioni paraveram, libros excudendos hîc curarem, Ecce, medio itinere, de improviso advolat praedonum manus, invadit, capit, caedit, diripit, effractis ferociter scriniis libros et labores meos lacerat atque dissipat; ego ex tanta rerum ruina incolumis vix evado“ (Rittangel 1642). Vgl. van Rooden/Wesselius 1985 und van der Wall 1988. Vgl. Turnbull 1947: Rittangel erscheint 262, 366 und 383; Trevor-Roper 1970, 251 und 267 (dort verschrieben als „Rittnagel“). Vgl. Blekastad 1969, 313. Englands Thankfulnesse, or An Humble Remembrance presented to the Committee for Religion in the High Court of Parliament with Thanksgiving for that happy Pacification betweene the two Kingdomes. By a faithful wellwisher to this Church and Nation. London 1642, zitiert nach Blekastad 1969, 314 und 756; vgl. Turnbull 1951, 137–140. Der Text findet sich auch in: Webster 1970, 95–97. Rittangel 1699b. Turnbull 1947, 262: er sei in einer solchen Verfassung, dass man sich nicht mit ihm einlassen könne. Auch Comenius war mit Rittangel bekannt (ebd. 366); Rittangel war Experte für die Karäer. Comenius erwähnt einen Bericht, den Rittangel Höverbeck gegeben habe (ebd. 383).
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zur Verfügung, und mithilfe ihrer reichen Bestände konnte Rittangel seine zerrissenen Manuskripte zum großen Teil rekonstruieren bzw. wiederherstellen.12 Das Ergebnis war die Ausgabe der 32 Wege der Weisheit und des Sefer Jezira. Wahrscheinlich hinterließ Rittangel in dieser Bibliothek weitere Papiere, die van der Waeyen, der Herausgeber von Rittangels posthumen Werken, verwendete. In London und Amsterdam steckte Rittangel mitten im politisch-theologischen Geschäft der christlichen Hebraistik und war sich der entsprechenden missionarischen und religionspolemischen Implikationen voll bewusst. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Christianisierungspläne der Juden im Amsterdam der Mitte des 17. Jahrhunderts muss man einen polemischen Briefwechsel mit einem ungenannten gelehrten sephardischen Juden sehen, mit dem sich Rittangel um den Sinn von Genesis 49, 10 stritt, dass nämlich der Herr das Szepter nicht von Israel wegnehme bis der Shilo13 komme. In dem Streit, den Rittangel noch während seines Aufenthalts in Amsterdam austrug,14 ging es wesentlich um grammatische Fragen, aber Rittangel verwendet auch einen Abschnitt der Tikkune (‚Ergänzungen‘) des Sohar, um seine messianische Interpretation von Genesis 49, 10 zu belegen. Johann Christoph Wagenseil druckte den Briefwechsel in seinen Tela ignea satanae (Altdorf 1681) ab.15 Die einschlägigen Partien der Tikkune Sohar verwendet Rittangel auch in De Veritate Religionis Christianae und in seinem Kommentar zu den 32 Wegen der Weisheit, die er zusammen mit dem Sefer Jezira16 veröffentlichte. Rittangel, weiß Zedler, sei ein mürrischer Philologencharakter gewesen; selber hochmütig, habe er andere gern heruntergemacht. Außerdem habe er das Buch des Kabbalisten Schabtel Harwitz verwendet, ohne ihn zitiert zu haben.17 12
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Vgl. aus der Widmung der Sefer Jezira-Ausgabe: „Quam effusissimam humanitatem tuam, & tot tamque opportunè in me collata beneficia recordari non possum, quin simul meminisse cogar felicitatis meae, quâ, tuâ unius liberalitate, ex instructissimae bibliothecae tuae copia, damnum mihi hoc magnâ ex parte sarcire contigit, quod ereptis direptisque omnibus libris et lucubrationibus meis, jam ante mihi dederat inauspicatum hoc iter: ut, si quem fructum res literaria ex hoc qualicunque labore meo sperare possit, eum omnem tuae solius liberalitati acceptum ferre debeat“ (Rittangel 1642). Das war ein alter Streit zwischen Juden und Christen. Auch in der jüdischen homiletischen Tradition wird Shilo als Name für den König Messias gedeutet, z. B. Sanh. 98b: „sein Name [des Messias] wird Shilo sein.“ Rittangel schreibt in seinem dritten Brief an den unbekannten Juden, der sich beschwert, dass Rittangel nicht persönlich mit ihm diskutiere, er, Rittangel, sei nicht nach Amsterdam gekommen, um zu diskutieren, sondern um den Text des Buchs Jezira samt einigen Supplementen in Druck zu geben; vgl. Rankin 1956, 133. Wagenseil 1681, 328–373; Einführung und englische Übersetzung der Briefe bei Rankin 1956, 89– 154. Rittangel 1642, 132–135. Diesen Vorwurf hat Hinckelmann 1693, 34 erhoben; vgl. Bibliotheca librorum novorum mens. Sept. Octobr. 1698, 674; tatsächlich kennt und zitiert Rittangel das Schefa‘ Tal (Hanau 1612) von Schabbetai Scheftel Horowitz (ca. 1561–1619) in Rittangel 1699b, 17–19, offen als Affluentia
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Im Juli 1642 verließ Rittangel Amsterdam, wo er vergeblich eine Anstellung gesucht hatte, und kehrte in der chaotischen Endphase des Dreißigjährigen Kriegs nach Königsberg zu Frau und Kind zurück.18 Als Professor (extraordinarius) in Königsberg versuchte er, „mit allem Eifer die christliche Religion durch Bücherschreiben und auf andere Art zu befördern“.19 1644 erschien seine Übersetzung der Osterriten der Juden.20 Im März 1648 soll er aufgebrochen sein, um die Karäer in Persien zu erforschen.21 In Königsberg knüpfte Rittangel Kontakte zu dem Böhmisten und christlichen Kabbalisten Abraham von Franckenberg und zu seinem Kreis, darunter auch Theodor Tschesch.22 Gegenstand des Gesprächs waren seine Kenntnisse über die Karäer. Er hielt angeblich auch Vorlesungen am Jesuitenkolleg in Braunsberg, während die Jesuiten ihrerseits in Königsberg gelesen hätten.23 Im Oktober 1652 starb Stephan Rittangel in Königsberg.
2. Der Streit um die Trinität Rittangel wurde schon bald nach seiner Taufe in Danzig in den Streit um die Trinität gezogen, der schon lange zwischen den Rakauer Sozinianern und den Verteidigern der Dreieinigkeit aller orthodoxen Lager, des katholischen, des lutherischen und des calvinistischen, entbrannt war.24 Johann Amos Comenius war als Verteidiger der Dreieinigkeit tief in diesen Streit verwickelt. Er hatte in seinen trinitarischen Schriften vehement die biblische und spekulative Legitimität der Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes vertreten.25 Vielleicht war die Tatsache, dass er und Rittangel an derselben intellektu-
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roris. Dort (19) verspricht er auch, diesem Werk zu gegebener Zeit eine eigene Schrift zu widmen. Wolf 1715–1733, Bd. 1, 1029, Nr. 1932: „ שפע טלabundantia roris, quo titulo ad nomen Schaptel allusit, liber Cabbalisticus, qui artis hujus pracipua capita ita persequitur, ut introductionis vicem praestare possit. […] [Hic liber] explicat varia loca Libri Zohar, Tikkunim, & Jezira. […] Confer de hoc libro B. Abrah. Hinckelmanni Detectionem Fundamenti Böhmiani, p. 34. ubi monet, ex illo Rittangelium pleraque in commentationem suam de precibus novi anni &c. transtulisse, vel dissimulato illius nomine, vel male allegato.“ Vgl. noch Blekastad 1969, 314, Anm. 71. Dort heißt es auch: „Rittangel war […] beeinflusst […] v. d. Kabbala des Schafthel Horowitz; wurde v. d. Juden mit Johannes dem Täufer verglichen.“ Diese Charakterisierung findet sich bei Wagenseil, vgl. Rankin 1956, 226. Brief von Joh. Moriaen an Hartlib vom 10. Februar 1642, in: van der Wall 1988, 127. Zedler 1742, 1752. Rittangel 1644. Brief von Cyprian Kinner an Hartlib vom 20. Mai 1648; der Brief findet sich unter den Hartlib Papers Oxford 1/33/33A–24 B, vgl. Lasker 2006, 1092, Anm. 11. Vgl. von Franckenberg 1995, 157: Franckenberg an Johann Permeier Ende November 1642; vgl. auch ebd., 270; Blekastad 1969, 416; van der Wall 1988, 130 f. Duhr 1913, 497. Vgl. Ogonowski 2001, 1276 und Schmidt-Biggemann 2007. Vgl. Comenius 1983; Comenius 2002 und Comenius 2008.
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ellen Front kämpften, auch ausschlaggebend dafür gewesen, dass Rittangel in der Frage der Judenmission in England eingesetzt werden sollte. Jedenfalls war Rittangel schon vor seiner Reise nach Amsterdam am Streit um die Bedeutung der Logostheologie und damit der spekulativen Trinitätstheologie beteiligt. Der Hauptgegner Rittangels war der Sozinianer Jonas von Schlichting (1592– 1661),26 ein ausgewiesener Exeget, der in einer 1637 gedruckten Disputation De trinitate, de moralibus praeceptis, & de ritibus eucharistiae et baptismi27 den damals lange verstorbenen lutherischen Theologen Balthasar Meisner (1587–1626) attackiert hatte. Die sozinianische Polemik wurde von dem Königsberger Superintendenten D. Georg Vechner (1590–1647) mit trinitarischen Argumenten erwidert. Vechner veröffentlichte 1639 eine Predigt über den Prolog des Johannesevangeliums, auf die Jonas Schlichting seinerseits in einem langen Pamphlet antwortete, das 1644 gedruckt erschien.28 Der Herausgeber der Bilibra Veritatis29 berichtet diesen Zusammenhang ausführlich. Vechner hatte seiner Predigt einen Teil angehängt, in dem er sich auf Formulierungen des Targum Onkelos bezog und behauptete, dass hier ‚( מימרא דייVerbi Jehova‘) eine „Person“ meine. Diese Person sei von Jehova unterschieden, aber eng mit ihm verbunden und diese habe teil am göttlichen Wesen.30 Schlichting analysierte diese Stellen im Einzelnen und behauptete seinerseits mit Nachdruck, dass Vechners christologische Interpretation unzutreffend sei.31 Der Inhalt der Widerlegung Schlichtings muss Rittangel schon vor dem Druck von 1644 bekannt gewesen sein, denn er reagierte bereits 1642 darauf in seiner Ausgabe der 32 Wege der Weisheit und des Sefer Jezira.32 In einer Passage seines Kommentars zu den 32 Wegen der Weisheit und dem Sefer Jezira formulierte Rittangel seine Polemik gegen Jonas Schlichting, die ihn seit 1639 umtrieb. Er sammelte zu diesem Zweck Stellen, die sich mit dem Verbum Dei befassten, 26
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Jonas Schlichting stammte aus einem deutsch-polnischen Adelsgeschlecht, studierte in Danzig, Raków und Altdorf, von wo er 1618 wegen des Verdachts des Sozinianismus ausgewiesen wurde, sowie in Leiden. 1618 hielt er sich eine Zeitlang in England und Frankreich auf; von 1619 an wirkte er als Pastor in Raków. Nach der Zerstörung des sozinianischen Zentrums in Raków zog er sich nach Südpolen zurück. 1647 wurde er in Abwesenheit zum Verlust der Ehre, des Vermögens und zum Tode verurteilt, weil er einen Sammelband veröffentlicht hatte, in dem angeblich das Glaubensbekenntnis der Polnischen Brüder mit Rakówer Lettern gedruckt worden war. Er floh vor dem polnisch-schwedischen Krieg nach Stettin, wo er bis 1660 blieb, war eine Zeitlang in Spandau inhaftiert und starb auf dem Rittergut Selchow in der Mark am 1. November 1661. Schlichting 1637; vgl. Zedler 1743, 163. Schlichting (1639) 1644. Vgl. Sandius (1684) 1967. Schlichting 1700, 67 ff. Schlichting 1700, 68: „Primò, in Paraphrasibus istis מימרא די״יseu verbi Jehovae nomine indicari personam: Deinde, personam designari à Jehova distinctam, eidem tamen artissime coniunctam. Tertiò, personam indicari eiusdem divinitatis participem seu ὁμοούσιον.“ Vgl. Wolf 1715–1733, Bd. 1, 476 Anm. (p): „Pro Rittangellii sententia pugnat Josephus Voisinius tum in notis ad Raymundi Martini Pugionem Fidei, tum in disput. de S.S. Trinitate adversus AntiTrinitarium Anonymum, Paris, 1647, 8.“ Rittangel 1642, 96–121.
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aus der Tora und aus den Targumim, vor allem dem Targum Onkelos, der aramäischen Paraphrase der Tora. Der Targum des Onkelos gelte, so Rittangel, bei den Juden als unter Anleitung des Heiligen Geistes geschrieben und bei den Christen als besonders vollkommen. Allerdings ist seine Einschätzung des Targum Onkelos durchaus zwiespältig. Auf der einen Seite belege der aramäische Targum die triadischen Strukturen der Gottheit; auf der anderen Seite sei gerade diese Aufteilung der göttlichen Einheit problematisch: Im Targum erschienen, so Rittangel die drei Modi der Subsistenz der einen göttlichen Essenz nicht unter einem Wort wie im hebräischen Text, sondern unter drei verschiedenen Namen, die die verschiedenen Handlungen und Eigenschaften ausdrückten. Der erste unter dem Namen des Tetragramms, der zweite als „Wort Gottes“ (mimra, )ממרא יי, der dritte unter dem Namen Shekhinata (‚Gottheit‘).33 Rittangel schreibt nun eine Reihe von Stellen heraus, mit denen er seine These belegt.34 Der spezifische Effekt seiner Lesart besteht darin, dass in der aramäischen Paraphrase des Onkelos geradezu eine johanneische, logostheologische Lektüre der Tora möglich wird, denn alle Handlungen Gottes geschehen durch das vermittelnde Wort. Auf der anderen Seite macht Rittangel kritisch deutlich, dass die ursprüngliche, sozusagen kryptochristliche jüdische Lehre, die mit dem Evangelium übereinstimme, durch den Targum auch verdorben worden sei. Es sei nämlich völlig unzulässig, den Terminus ( ממראmimra, lat. ‚verbum‘), der von den ältesten und gelehrtesten hebräischen Theologen seit Abraham über Tausende von Jahren in den Synagogen gelehrt worden sei, mit ( דברdawar, lat. ‚sermo‘) wiederzugeben.35 33
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Rittangel 1642, 81: „Idem Mysterium τοῦ מרכבהCurrus seu Quadriga, id est Triunitatis mysterium confirmatur porro ex paraphraste Onkelos qui apud Hebraeos Spiritus Sancti ductu locutus creditur et à nostris pro emendatissimo habetur. Hic ut exprimeret Tres subsistendi modos in una eademque essentia divina, non uno Vocabulo uti quod textus Hebraeus facit, verum tribus distinctis nominibus, actus et proprietates eorum distinctos describit: primum sub ( יהוהNomine Tetragrammaton), secundum sub ממרא ייquod verbum Dei significat, Tertium subsistendi modum sub voce שכינתא (Divinitatis).“ Rittangel 1642, 81–121. Rittangel 1642, 97: „Manifestum enim est omnes, tam Hebraeos quam nostrates Theologos licentiam sibi sumpsisse res in sacris literis distinctas, distinctis quoque insignire nominibus. Patere hinc quoque univeris et singulis sacrae paginae addictis absque dubio censeo, antiquissimos et doctissimos Hebraeorum Theologos ab Abrahami tempore ut recentiorum Hebraeorum libri testantur hunc terminum ( ממראquod verbum latinè interpretantur) et posteros etiam aliquot annorum millibus in synagogis pro communi termino usurpasse, quod tam ex paraphrasibus Chaldaicis Onkelos Jonathan filii Uzielis, Ierosolymitana veteris testamenti, quam ex aliorum antiquorum Rabinorum scriptis et fragmentis manifestum est. Nemo tamen existimet Ecclesiam, alios articulos condere voluisse, quin potius illam legi et Euangelio, unicè semper adstrictam fuisse nullus dubito. Quod verè Chaldaeus, ubi Hebraeus ( דברsermo) habet, ( ממראverbum) vertiterit, falsissimum est: nec unico sacro loco prolari potest.“ Rittangel 1642, 100, stellt vielmehr dar, dass das hebräische דברaramäisch stets korrekt im Targum Onkelos mit ‚( פתגמאBefehl‘), niemals mit ‚( ממראWort‘) wiedergegeben werde.
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Rittangel konnte mit dieser Unterscheidung das spekulative Trinitätsdogma der Philosophia perennis gegen die philologische Kritik der Antitrinitarier nicht retten. 1646 erschien anonym die Disceptatio de Verbo vel sermone Dei, die insbesondere Onkelos’ chaldäische Paraphrase der Tora behandelte.36 Der Verfasser war Jonas Schlichting. Er stellte dar, dass sich der Evangelist Johannes keineswegs auf den Targum Onkelos beziehe. Dagegen wandte sich nun Joseph Voisin, der Rat und Aumonier des Fürsten Condée, mit einer Disputatio de S.S. Trinitate adversus AntiTrinitarium Anonymum37 und in einzelnen Noten seiner Ausgabe von Raimundus Martinis Pugio Fidei (Paris 1655). Rittangel griff seinerseits in diesen Streit ein mit der Libra veritatis qua Irenopolitae cujusdam Ariani, innumeri, in vitandis scripturae et christianae ecclesiae, contra aeternum et per se subsistentem logon autoritatibus, errores aut falsitates, accurate expenduntur.38 Hier argumentierte er erneut, dass unter dem ( מימרא דיהוהmimra de JHWH, ‚Wort Gottes‘) aus dem Targum Onkelos zu Recht der Messias verstanden werden könne. Es handelt sich formal um einen Dialog zwischen Rittangel und dem ihm unbekannten Verfasser der Disceptatio, dessen Argumente und Belegstellen aus der Bibel und der rabbinischen Literatur von Rittangel einzeln zerpflückt werden. Der Ton war scharf, es scheint, dass Rittangels fehlende philologisch-kritische Argumente durch aggressive Wiederholung dogmatischer Positionen ersetzt wurden. Rittangel warf Schlichting, dem Verfasser der Disceptatio, vor, seine Schrift sei voll von Iniuriae und Crimina, er breite vor den wahren Christgläubigen lauthals wunderliche, im Übrigen längst bekannte, Materialien aus, in denen er die wahre und heilsame Lehre, die ihnen von Christus selbst und den Aposteln verkündet worden sei, dass nämlich der ewige Logos der Messias und der Erlöser des Menschengeschlechts sei, als perverse, monströse Albträume bezeichne.39 Rittangel konnte, wie wohl zu erwarten war, Jonas Schlichting nicht überzeugen. Vielmehr antwortete Schlichting mit der Bilibra veritatis, die zunächst handschriftlich zirkulierte und erst 1700 veröffentlicht wurde. Er erweist sich seinerseits als guter Kenner der philologisch-polemischen Situation und zeigt auf, dass Argumente des Typs „ ממרא דיהוהbedeute als Wort Gottes auch den Sohn Gottes“ bei Petrus Galatinus vorkämen; vorher hätten die Ausleger des Hebräischen nicht davon geträumt, dass es 36
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Neu gedruckt in: Schlichting 1700, 1–64: Disceptatio de Verbo vel sermone Dei, cujus creberrima fit mentio apud Paraphrastas Chaldaeos Jonathan, Onkelos, & Thargum Hierosolymitanum. Impressa olim Irenopoli, Anno M,DC,XLVI, hier bes. 19–23. Voisin 1647. Rittangel 1650. Rittangel 1650, 1: „In Promptu est Disceptatio ejusdem de Verbo vel sermone Dei injuriarum & criminum plena; in qua, cum ille, proposita sibi materia, satis fuse pertractata, veros Christicolas miris proscindit convitiis, veram & salutarem a ipso Salvatore, per Apostolos, & eorum discipulos nobis traditam doctrinam, nominitat perversum scelus, mira somnia, monstrosam opinionem, & nescio, quae id genus alia scommata affingat, dum aeternum λόγον, Messiam & humanis generis Salvatorem esse nos docet.“
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sich hier um Logostheologie handle. Er benennt eine nicht unerhebliche Anzahl von Theologen und Philosophen, die sich auf Galatinus stützen: Duplessis-Mornay,40 Christoph Helvicus,41 Georg Vechner, Daniel Heinsius,42 Joseph Voisin,43 Rittangel und zuletzt Johann Heinrich Hottinger.44 Aber Schlichting stellt fest, sie hätten diese These von der im Judentum latent vorhandenen Trinitätstheologie nie vertreten können, wenn sie nicht die Lehre vom ewigen substantiellen Logos schon als Vorurteil mitgebracht hätten.45 Nach Ansicht des antitrinitarischen Exegeten Schlichting zeigt sich hier die vorurteilsbildende Kraft der Dogmatik, die die Intention des Philologen Rittangel so leitet, dass er die Wahrheit des Trinitätsdogmas auch in den Texten findet, in denen sie kaum vermutet werden kann. Der Streit um die Geltung des Trinitätsdogmas erreichte gegen Ende des 17. Jahrhunderts einen Höhepunkt.46 In diesem Zusammenhang veröffentlichte Johann van der Waeyen, der sich als Verteidiger der Trinität gegen Philipp van Limborch wandte, 1698 Rittangels Libra Veritatis erneut47 und ließ dessen De Veritate Religionis Christianae erstmals drucken. Als Reaktion auf die Neuedition der Libra Veritatis durch Johann van der Waeyen (1639–1701) wurde nun auch die handschriftlich vorliegende Bilibra veritatis des längst verstorbenen Jonas Schlichting erstmalig gedruckt.48 Rittangels Position ist vor allem deshalb interessant, weil sich seine trinitarische Apologetik nicht nur gegen das Judentum richtete, sondern zugleich auch gegen die christlichen Unitarier. Diese doppelte Front macht deutlich, dass auch die christliche Position den Juden gegenüber keineswegs so eindeutig war, wie die trinitarisch argumentierende christliche Judenmission behaupten mochte. Rittangels besondere Bedeutung bestand – neben seinen Kenntnissen der Karäer – vor allem darin, in der 40 41 42 43 44 45
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Duplessis-Mornay 1581. Helvicus 1612. Heinsius 1639, hier die Annotationen zu Joh 1, 1. Voisin 1647. Johann Heinrich Hottinger (1620–1667), Zürcher Orientalist. Schlichting 1700, 84 f.: „Prout isti homines avidè arripiunt loca Scripturae, in quibus de Verbo Dei agitur, atque phantasmati suo aptare laborant; eodem modo nonnulli perversum sensum ממרא דייaut Verbi Domini affingere student Paraphrastis Chaldaeis. Hujus commenti architectus fuit Galatinus, ante ipsum nulli veterum tale quid somniarunt de Chaldaeis interpretibus. Vestigia hujus legerunt Plessaeus, Christophorus Helvicus in tractatu suo Historico & Theologico, quem concinnavit de Chaldaicis paraphrasibus, in Cap. 5 ex hac phrasi colligere conatur pluralitatem personarum in essentia divina et Cap. 6. Messiae divinitatem; quae testimonia passim hic examini subjicientur in propriis sedibus. Hos subsequuti sunt Vechnerus, Heinsius, Josephus Voisin, Rittangelius et nuperrime Hottingerus, aliique; Nunquam autem in istam sententiam fuissent delapsi nisi praeconcepta opinio de substantiali aeternoque λόγῳ illos eò impulisset.“ Schlichting nennt in der Bilibra veritatis auch den Pugio Fidei des Raimundus Martini, der 1655 von Voisin zuerst ediert worden war; allerdings kennt er den Text nicht selbst, Schlichting 1700, 91 f. Schmidt-Biggemann 2007. Rittangel (1650) 1698. Schlichting 1700.
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jüdischen Tradition, und hier insbesondere in den Tikkunim, trinitarische Argumente gefunden zu haben, die er für philologisch unangreifbar hielt und die deshalb auch gegen die christlichen Antitrinitarier verwendet werden konnten. In diesem Sinne gebrauchte sie Johann van der Waeyen gegen Philipp van Limborch, den er sicher als Antitrinitarier bekämpfte. Allerdings gab es, soweit ich sehe, keine philologisch-kritischen biblischen Argumente, die die Trinitätslehre gegen die Unitarier stützten. Deren Ansatz war, dass alle philosophischen, vor allem logostheologischen Spekulationen mit dem Kern der christlichen Botschaft unvereinbar waren und dass deshalb das Johannesevangelium im Prinzip schon nicht mehr integraler Teil des Neuen Testaments sei.49 Christus sei ein gottgesandter Lehrer und ein moralisches Vorbild; alle anderen Prädikate seien nur späte Allegoresen des biblisch wirklich belegten Amts Jesu von Nazareth. Gegen diese Vorentscheidung konnten natürlich keine spekulativen Argumente, die mit logostheologischen Mustern arbeiteten, ins Feld geführt werden. So verpufften dann auch die trinitarischen Apologetiken am Ende des 17. Jahrhunderts; im 18. Jahrhundert setzte sich eine unspekulative, deistische Gotteslehre durch. Dadurch war auch der christlichen Kabbala, die auf der logostheologischen, spekulativen Trinitätstheologie beruhte, der dogmatische Boden entzogen. Die Durchsetzung einer unitarisch-deistischen Gottesvorstellung zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist sicher einer der Hauptgründe für den Kreditverlust der christlichen Kabbala.
3. De Veritate Religionis Christianae50 Der reformierte Theologe Johann van der Waeyen (1639–1701) muss das Manuskript von Rittangels Büchlein De Veritate Religionis Christianae für seine Verteidigung der Trinität angesichts des Übergewichts antitrinitarischer Positionen unter den niederländischen Theologen am Ende des 17. Jahrhunderts als Antidot betrachtet haben. Sein Hauptgegner war zwar Philipp van Limborch, aber diesen betrachtete er als Exponenten einer breiten Phalanx von antitrinitarischen Intellektuellen, zu deren Hauptrepräsentanten er auch Jean Leclerc und Frans Burmann rechnete. Er vermutete und bewies ausführlich,51 dass Spinozas Gottesbegriff vor allem in Burmanns Theologie eine wesentliche Rolle spiele; Limborch habe sich Burmanns Argumenten angeschlossen. Da diese Diskussion wesentlich auch philologisch geführt wurde, glaubte van der Waeyen, sich der Argumente Stephan Rittangels bedienen zu können. Dieser hatte das Büchlein
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Vgl. dazu Schmidt-Biggemann 2007. Rittangel 1699b. van der Waeyen 1699, 10 ff.
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De Veritate Religionis Christianae vermutlich 1642 verfasst,52 als er von Dury und Hartlib als Orientalist für die Mission der Juden in England vorgesehen war. De Veritate Religionis Christianae zeigt Rittangel als Vertreter der Judenmission und Judenpolemik mit Hilfe kabbalistischer Trinitätsmuster. Er steht damit in der Tradition von Raimundus Martini, Paulus de Heredia, Giovanni Pico della Mirandola und Petrus Galatinus. Der Traktat ist in zwei Teile gegliedert. Der erste versucht nachzuweisen, dass sich in der alten jüdischen kabbalistischen Literatur viele trinitarische und christologische Belege finden, der zweite polemisiert gegen die kabbalistische jüdische Exegese. Dabei ist die Apologetik des ersten Teils vor allem auf drei Positionen reduziert: 1. Der „Abyssus“ des Vaters entspricht der Dialektik der Eins (Rittangel bezieht sich hier vor allem auf die erste Sefira: Keter); 2. Die ersten drei Sefirot sind Ausweis der Trinität. 3. Es gibt eine kosmische Christologie, die im Adam Kadmon, dem kosmischen Christus, und der Idee der Vermittlung Christi vom Vater zu den Menschen besteht und im Bild der Säule symbolisiert wird. Dagegen wird die jüdisch-kabbalistische Exegese, die mit Temura, Notarikon und Gematria gekennzeichnet ist, im zweiten Teil als verrückt und willkürlich gekennzeichnet. Rittangel trennt damit die Sefirot-Tradition strikt von der kabbalistischen Interpretationstechnik, denn das eine ist für ihn Vorschein der wahren Theologie, das andere jüdischer Deutungswahnsinn.
3.1 Erster Teil Rittangel beginnt mit einer knappen Darstellung seines Konzeptes der natürlichen Theologie; er geht von Gott als dem Schöpfer der Natur aus. Über die unbeseelte Natur erhebe sich die Leib-Seele-Natur des Menschen. Die Seele sei von Natur aus Gott zugewandt, sie höre seine Stimme als Ruf zur Tugend und empfinde sich selbst hingezogen „ad Petram animarum Sanctarum“53 (vgl. Sap 2, 22 und 11, 4), von wo sie genommen sei. Dort komme sie unter dem Dach der ewigen Weisheit zur Ruhe. Diese ewige Weisheit sei am Ende der Tage und in der Fülle der Zeiten „e Paradiso voluptatis“ in dieses Tal der Tränen herabgestiegen, sie habe sich in unser Fleisch und Blut gekleidet, um uns durch diese Herabkunft ein Beispiel dafür zu geben, dass wir selbst unsere Seele dem Thron des Vaters widmen sollten.54
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De Veritate Religionis Christianae ist mit einiger Wahrscheinlichkeit vor der Edition der 32 Wege der Weisheit und des Sefer Jezira verfasst; Rittangel zitiert das Buch Jezira zwar, erwähnt aber seine eigene Edition nicht. Rittangel 1699b, 3, § 7. Rittangel 1699b, 4, § 8. Es ist nicht festgelegt, ob es sich dabei um die Inkarnation Jesu Christi oder um die Wiederkunft Christi beim jüngsten Gericht handelt.
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Diese Kurzfassung der christlichen Lehre vertieft Rittangel mit Trinitätsspekulationen, die er für schlechterdings überzeugend erklärt; sie gälten auch für die Juden. Denen wirft er Vergewaltigung der Schrift vor, wenn nicht auch sie annähmen, ‚dass Christus Jesus als der Messias und Retter des Menschengeschlechts zugleich wahrer Gott sei, gleichen Wesens mit Gott dem Vater, von Gott dem Vater als wahrer Gott von Ewigkeit her in unbeschreiblicher Weise aus der unbegrifflichen („non-termino“) Unendlichkeit gezeugt und von der allerentferntesten und unerforschlichen Quelle des Lichts im Abgrund der Gottheit geboren. Er sei zugleich auch wahrer Mensch und uns wesensgleich. Beide Naturen seien in einer unteilbaren Person, nicht gemischt, verändert oder verworren, sondern unter Wahrung beider Naturen, die nur abstrakt getrennt werden könnten, vereint.‘55
Der Missionsmaßstab für die Juden, den Rittangel hier darstellt, verbindet in besonderer Weise die Unergründlichkeit des ersten Anfangs in der Tradition des En Sof mit einer johanneischen Logostheologie, die zunächst das Verhältnis von Vater und Sohn erläutert, wobei der Heilige Geist die innertrinitarische Kommunikation und die Verbindung von menschlicher und göttlicher Natur Christi personifiziert.56 Mit diesem logostheologischen Maßstab untersucht Rittangel auch die jüdischen Quellen nach ihrer trinitarischen Präfiguration. Er datiert die kabbalistischen Texte nach ihrem eigenen Anciennitätsanspruch sehr früh und findet folglich eine große Anzahl von jüdischen Autoren vor und nach Christi Geburt,57 die die Lehre der Trinität bezeugten. Diese unterschieden sich von den Hebräern seiner, Rittangels, Zeit, und die heutigen lehrten eher Verwirrungen, Eitelkeiten und Verrücktheiten als Argumente für ihre Religion.58 Als entscheidenden Beweis für christliche Typologie, die sich in der jüdischen Theologie finde, wertet Rittangel die ersten drei Sefirot. Er stellt fest: ‚Was zunächst die christliche Religion anbelangt, so ist es manifest, dass Abraham, wie die Schriften der Juden bezeugen, ebenso alle Propheten als auch die, die im göttlichen Geist geredet haben, geglaubt und bekannt hätten, dass der dreifaltige höchste Gott der Schöpfer des Himmels und der Erde sei und alles, was existiert, aus nichts geschaffen habe. Er habe sich kundgetan in drei geistigen Zählungen (Numerationes, Sefirot), deren erste die jüdischen Weisen ‚Höchste Krone‘ nennen, deren zweite ‚Weisheit‘, deren dritte ‚Intelligenz‘. Unsere 55
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Rittangel 1699b, 5, § 11: „[…] Christum Jesum, Messiam & Salvatorem humani generis, verum Deum, Deo Patri suo consubstantialem, et â Deo Patre ut verum Deum a vero Deo ab omni aeternitate ineffabili generatione e Non-termino infinitudinis, summoque remotissimâ inperscrutabilis inaccessibilisque fontani luminis Deitatis abysso genitam, verumque hominem nobis consubstantialem, in una indivisa persona, non confusis, mutatis, vel permixtis naturis, sed servatis unicuique naturae […] esse […].“ Rittangel 1699b, 8, § 16: „Quid de perfectissima Unitate, & indissolubili ligamine Sanctissime Trinitatis, trium, inquam, Numerationum intellectualium mundi archetypi, Ciceroniana dignum dicere poterit eloquentia? Adesset vas illud electum, raptum in tertium usque coelum, edoctum, quae nec oculis hominum visa, nec auribus audita, dignum aliquid dictum, de incomprehensibili Filii Dei cum humana natura unione, conceptione, Spiritus S. cooperatione, eloqui possit?“ Rittangel 1699b, 6, § 14, rühmt er sich, die Quellen in seiner Bibliothek zu haben. Rittangel 1699b, 7, § 14.
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Theologen, wie auch einige der jüdischen Weisen, nennen sie Vater, Sohn und Heiliger Geist. Diese Trinität göttlicher Personen, diese Einheit des Wesens, von dem alles Gute und Wahre stammt, aller Dinge [Ursprung], diese erste und eine unbegreifbare und unaussprechliche Unendlichkeit, diese tiefste Tiefe der Verborgenheit des Göttlichen sei die Krone [Keter].‘
Das werde er, Rittangel, aus dem Buch Abrahams, das ‚Über die Schöpfung oder die Bildung‘ (Sefer Jezira) heißt und das er allen anderen Schriften wegen seiner Kunst, seines Alters und seiner Schwierigkeit vorziehe, sowie aus anderen rabbinischen Schriften und Fragmenten sonnenklar erweisen.59 Mit dieser Vorgabe hat Rittangel nun eine Art Passepartout, das ihm ermöglicht, die gesamte ihm vorliegende Literatur zu den Sefirot trinitarisch zu lesen. Aus der Reihe seiner Belege ist der Kommentar von Abraham Abulafia zum Sefer Jezira60 besonders interessant, weil er alle Kriterien Rittangels für die Trinitätstheologie erfüllt. Abulafia schreibt zum ersten Kapitel der ersten Sektion des Sefer Jezira: ‚Die Weisheit existiert aus dem Nicht-Sein, das ist aus der Höchsten Krone, deren Eigenheit nicht erkannt wird, aus ihr, sage ich, existiert die Weisheit. So ist zu verstehen, wenn wir sagen: Das Sein existiert aus dem Nicht-Sein. Damit ist keine Privation, kein Fehlen gemeint, denn ist hier kein Akzidenz aus etwas geschaffen, das dieses Akzidenz schon besitzt; in dieser Weise ist das Sein gerade nicht vom Nicht-Sein geschaffen, sondern es heißt deshalb NichtSein, weil es nicht gefasst werden kann, weder aus einem Teil seines Grundes, noch aus einem Teil seiner Substanz; denn sein Grund ist der Grund allen Grundes, der sich auch selbst Grund ist. Es wird das primordiale Nicht-Sein genannt, weil es der Ursprung aller Welt und nicht körperlich ist.‘61
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Rittangel 1699b, 11 f., § 21: „Primo itaque quod Christianam religionem attinet, manifestum est Abrahamum, ut Judaeorum libri testantur, omnesque Prophetas & qui Spiritu Divino locuti sunt, credidisse et confessos esse, Deum Ter Opt. Max. Creatorem coeli et terrae, omne quicquid existit ex nihilo produxisse, et notum se fecisse tribus Numerationibus intellectualibus, quarum primam Judaeorum Sapientes Coronam Summam, secundam Sapientiam, tertiam Intelligentiam: Nostri vero Theologi, ut quidam ex Judaeorum Sapientibus, Patrem, Filium et Spiritum S. vocarunt. Hanc divinarum personarum Trinitatem, hanc essentiae unitatem, â qua omnia Entia bona et vera sunt, omnium rerum, primam unamque incomprehensibilis et ineffabilis infinitudinis in remotissimo Divinitatis recessu, et in fontani luminis inaccessabili abysso sese retrahentis et contegentis, Coronam esse, ego tam ex Abrahami libro, cui inscriptio de creatione seu formatione, qui caeteris omnium Rabbinorum Scriptis, arte, difficultate & aetate praeferendus, quam aliorum Rabbinorum scriptis et fragmentis clarissime demonstrabo.“ Nach dieser Formulierung („demonstrabo“) ist De veritate Religionis Christianae ein Seitenstück zum Sefer Jezira-Kommentar Rittangels und also gleichzeitig oder vorher entstanden. Wolf 1715–1733, Bd. 1, 30, Nr. 45, Art. „Abraham Abulaphia“: „Comm. in librum Jezira, ex quo Jo. Steph. Rittangelius p. 19 ad lib. Jezira locum bene longum, sicut et alibi plures affert. Editum illum esse ex eo forte conjeceris, quod Rittangelius pagina 25. & 26. illius libri alleget. Idem nomen ei Abrahami Alaphiae tribuit.“ Rittangel 1699b, 19, § 32: „Rabbi Abraham Alaphia [Abulafia] fol. 25. & 26. p. 2 & 3. in Cap. prim. & sect. primam Libri de formatione (cujus authorem Ebraei credunt esse Abrahamum) ‚Sapientia, inquit, de Non Ente existit, h.e. de Corona summa, cujus quidditas non comprehenditur, ex illa, inquam, existit Sapientia, & sic intelligendum est id, quod diximus: Ens existit de Non-ente.
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Dieser Vorstellung des Ungrundes, des En Sof ( )אי סו, wird nun im Einzelnen nach Rittangel bei Abulafia durch die Buchstabensymbolik des ( איEn, ‚Nichts‘) trinitarisch erläutert: ’[ איhebr. =] ‚Wo‘ ist der Ort der Intelligentia, das heißt: אund י, die die Höchste Krone und Weisheit symbolisieren, sind der Grund der Existenz der Intelligenz. Denn das א, der erste Buchstabe von איNichts, symbolisiert die Höchste Krone, der zweite Buchstabe von אי Nichts ist י, Weisheit: und der Mensch begreift das Geheimnis nicht.‘62
Für Rittangel ist klar, dass der dritte Buchstabe von אי, das נbzw. , die dritte Person der Trinität symbolisiert, auch wenn sich diese Auslegung explizit so bei Abulafia nicht findet: ‚Es steht also fest, dass die dritte Sefira, nämlich die Intelligentia, in der Höchsten Krone und der Weisheit enthalten ist und aus diesen beiden Sefirot auf unaussprechliche Weise hervorgeht, so dass kein Mensch die Schwelle dieses Geheimnisses versteht.‘63 Eine ähnliche Argumentation findet Rittangel auch in den Tikkunim; und hier ist auch das Nun als dritte Sefira benannt. Außerdem wird die Frage nach dem Ursprung des Lichts mit der Buchstabensymbolik dargestellt. ‚Es gibt bisher drei Werkmeister, der erste, der zweite und der dritte Tag bringen ihre spezifischen Produkte hervor. In der Frühe des ersten Tages sagte der wunderbare verborgene Werkmeister, der En איist – Alef א, der erste Buchstabe, bedeutet Höchste Krone, Jod י, der zweite Buchstabe, bedeutet Weisheit, , der dritte Buchstabe, bedeutet Intelligenz – und er sagte, dass jede Sefira an den ersten drei Tagen der Schöpfung ihr Werk schaffen solle. Er sagte in der Frühe des ersten Tages: Es werde Licht; sofort führte er sein Werk aus und tat, wie geschrieben steht, ‚und es ward Licht‘. Es gibt kein Wesen außer durch das Werk der Schöpfung. Der Buchstabe א, der erste von אי, schuf, indem er in die Luft flog, das Licht, das Jod י, der zweite Buchstabe, expandierte zum Firmament, und das Nun , der dritte Buchstabe, brachte das Trockene hervor.‘64
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Verum enim vero non est haec privatio deficiens, cum non sit facta illa res, quae accidit, ab illa re, cui accidit: Quanto magis non est factum Ens de Non Ente, sed propterea Non-Ens vocatur, quod non comprehenditur, nec ex parte causae suae, nec ex parte substantiae suae, quia causa ejus est Causa causarum, quae & ipsa sua causa sibi est, & vocatur Non-Ens primordile, eo quod principium dedit omnibus Seculis, neque res corporea est.‘“ Rittangel 1699b, 19, § 33: „At איUBI, est locus Intelligentiae h. e. י & א, quae Coronam Summan & Sapientiam significant, sunt causae existentiae Intelligentiae. Quia א, quae est prima litera אי Non-Entis, significat Coronam summam: Secunda litera איNon Entis, quae est י, Sapientiam: Et non cognoscet homo sublimitatem ejus.“ Rittangel 1699b, 20, § 34: „Constat igitur, quod tertia Numeratio, nempe Intelligentia, sit in corona Summa & Sapientia, & ex illis duabus Numerationibus ineffabili modo procedat, ita ut non cognoscat homo terminum sublimitatis ejus.“ Rittangel 1699b, 41, § 69: „Author lib. 1. Tykunim sect. 42. fol. 84. p. 1. 2. ‚Tres, inquit, Artifices fuerunt usque hac: primus dies, & secundus dies, & tertius dies, produxitque opus suum unusquisque. Primo diei dixit ipse mirabilis absconditus Artifex qui איNon Entis, אprima litera Coronam summam, יsecunda litera Sapientiam, tertia litera Intelligentiam significant. Et dixit unaquaeque Numeratio unicuique diei de tribus diebus creationis, ut produceret opus suum. Dixit
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In dieser Weise stellt Rittangel 50 Abschnitte lang (bis § 73) Belege für das Konzept des Ungrunds und der aus ihm emanierenden Trinität aus kabbalistischen Quellen zusammen. In den §§ 74–120 geht es um die Christologie, den zweiten Abschnitt des ersten Teils. Rittangel versucht, die Kriterien seiner christologischen Dogmatik im Einzelnen in seinen kabbalistischen Quellen wiederzufinden, er bringt vornehmlich Übersetzungen aus den Tikkunim. Die Christologie, die sich nach Rittangels Ansicht bei den hebräischen Weisen und Propheten vor und nach der Ankunft Jesu Christi findet, fasst er präzise in zehn Punkten zusammen. Diese dogmatische Liste verbindet die Artikel des Nizänischen Glaubensbekenntnisses mit den ersten beiden kabbalistischen Sefirot: 1. Christus sei die höchste Weisheit oder die zweite Sefira in der archetypischen Welt, das heißt das Wort des lebendigen Gottes, von der Höchsten Krone, Gott Vater, allein als Sefira des Intellekts in der archetypischen Welt von Ewigkeit aus der unbegrifflichen Unendlichkeit des göttlichen Wesens in einer unaussprechlichen Geburt erzeugt. 2. Christus sei der Messias und der wahre Erlöser des Menschengeschlechts. 3. Er werde in die Welt herabsteigen. 4. Unter Mitwirkung des Heiligen Geistes bekleide und hülle er sich in Fleisch und Blut. 5. Er nehme den Tod auf sich zur Erlösung des Menschengeschlechts. 6. Er werde zur Unterwelt hinabsteigen. 7. Er werde die gefangenen Seelen aus der Macht des Teufels befreien. 8. Er werde am dritten Tage von den Toten auferstehen. 9. Er werde in den Himmel auffahren. 10. Er werde die Welt richten.65 Diese dogmatischen Punkte belegt Rittangel zunächst in einer langen Zitatenfolge aus dem Alten Testament und fügt dann, vornehmlich aus den Tikkunim, eine Reihe von Belegen hinzu, die freilich seine christologischen Kriterien nur im ersten Punkt, der Verbindung von Sefirot und christlicher Theologie, und in der Forderung der Vermittlung zwischen Gott und Welt im Bild der Säule erfüllen. Ein Beispiel aus den Tikkunim: ‚Es ist der Mensch, sagt der Autor der Tikkunim, dem die Sefirot attributiert werden: Allerdings nicht der Mensch als solcher, sondern der erste Mensch, der höchste von allen, die Höchste Krone, versteckt, verborgen, verborgen allem Verborgenen, Grund der Gründe, Anfang aller Anfänge: Wegen dieses ersten Menschen (von diesem ersten Menschen) heißt es über den Grund der Gründe in Sap. VIII: Und ich war für ihn Schöpfer und Ernährer. Und zu
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prima primo diei: Fiat Lux; statim suum opus produxit & fecit sic, sicuti scriptura testator, et fuit lux. Nulla vero existit essentia, nisi per modum operationis fabricae. Litera איNon-Entis prima א, quae fuit volitans in aëre, produxit lucem. יsecunda litera expansum firmamenti. tertia produxit aridam &c.‘“ Rittangel 1699b, 45, § 74.
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diesem ersten Menschen sagte er: Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bilde und nach unserm Gleichnis. Und wer ist dieser Mensch, zu dem er sagte: Lasset uns den Menschen machen? Die Weisheit ist dieser Mensch. Denn diese ist das Abbild der Höchsten Krone. Oder ‚Lasset uns den Menschen machen‘ bedeutet auch die vermittelnde Säule. ‚Nach unserem Bildnis‘ bedeutet Weisheit. Und ‚nach unserem Gleichnis’ bedeutet die Mutter, die oben ist. Denn wie der Mensch der Intellektualwelt, der Himmelswelt und der Elementarwelt im Bild der Höchsten Krone, der Weisheit und der Intelligenz ist, so ist er auch im Bild der vermittelnden Säule, der Gerechtigkeit und der Göttlichkeit enthalten, die unten sind.66 Denn in der archetypischen Welt gibt es nichts als Bewegung und Emanation. Und erneut, wem sagt er: ‚Lasset uns den Menschen machen‘? Sicher sagt es der Grund der Gründe dem, dem das Mysterium des entfalteten Namens zugeschrieben wird [ יוד הא ואו האJod He Waw He], und der hat denselben Zahlenwert wie [ אדAdam, Mensch], nämlich 45.‘67
3.2 Zweiter Teil Rittangel akzeptiert allein die Lehre der Sefirot als authentische kabbalistische Tradition, sofern diese mit dem spekulativen Christentum, wie er es auffasst, vereinbar ist. Im zweiten Teil seines Werkchens (§§ 121–140), in dem es „De modernorum Judaeorum Cabala“ geht, stellt er die glorreiche Erinnerung an die spekulative Kabbala, die den Juden durch Mose auf dem Sinai zuteil wurde,68 der zeitgenössischen jüdischen Praxis entgegen. Diese Praxis charakterisiert er durch die drei Exegesetechniken Temura (Permutation), Notaricon und Gematria. Es handle sich, urteilt er, hier nicht so sehr um die Erklärung der Geheimnisse der Schrift als vielmehr um „Deliria“.69 Vor allem wehrt er sich gegen eine Gematria, nach der der Name Jesus von Nazareth נוצרי
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Die Säule ist die Feuer- und Wolkensäule, die vor den Israeliten durch die Wüste zieht. Rittangel 1699b, 54, § 81: „Lib. I Tykunim fol. 119. p. 1. Corr 55. Est homo, inquit author libri, cui attribuitur terminus Numerationis, et non vocatur homo absolute, sed primus homo, summus omnium, Corona Summa, absconditus et occultus, occultus omnium occultorum, Causa causarum, principium omnium principiorum: propter istum primum hominem (de isto primo homine) dicitur in Causa causarum illud Sap. VIII. Et eram coram Eo artifex, nutritius. Et ad primum istum hominem dixit: Faciamus hominem in imagine nostra, et secundum similitudinem nostrum. Et quis est iste homo, ad quem dixit: faciamus hominem? Sapientia est homo iste. Quia ipsa est in imagine Coronae Summae. Vel faciamus hominem, significant etiam columnam mediantem. In Imagine nostra, significat Sapientiam. Et in similitudine nostra, significat Matrem, quae supra. Quia sicut homo mundi intellectualis, homo mundi coelestis, homo mundi fabricate elementaris est in imagine Coronae Summae, Sapientiae et Intelligentiae: sic etiam iste in imagine columnae mediantis, Iustitiae et Divinitatis, quae infra. Quia in mundo archetypo nihil est nisi processio, emanatio. Et iterum: Faciamus hominem: cui dixit illud? Certe Causa causarum dixit illi, cui attribuitur mysterium explicati Nominis יוד הא ואו האetc. quod in supputatione arithmetica idem conficit ac אד, nempe 45.“ Rittangel 1699b, 77, § 122. Rittangel 1699b, 78, § 123.
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ישועin der (grammatisch falschen) Schreibung ישו נצריdie Unglückszahl 666 aus Apokalypse 13 ergebe.70 Rittangel steht seinen zeitgenössischen Juden durchaus polemisch gegenüber. Sie seien, das ist ihm wichtig zu berichten, vor allem den Samaritanern feindlich, es seien ihnen die Türken und Christen nicht so verhasst wie eben die Samaritaner.71 Sein großer Hass richtet sich auf die Masoreten und ihre Exegese insgesamt. Diese sei spezialistisch, unkontrollierbar, privatistisch und öffentlichkeitsscheu, auch dem eigenen Volk unverständlich. Die Masoreten schnitzten sich ohne Rücksicht auf den Kontext aus einzelnen Sprüchen in Gesetz, Propheten und den hagiographischen Schriften ihr eigenes Bild so, dass es ihren Wünschen entspreche. Einiges ließen sie aus, anderes transponierten sie, wieder anderes permutierten sie, anderes drehten sie so lange durch Gematria und Notarikon, bis es ihnen in ihren Zusammenhang passe.72 Es ist bemerkenswert, dass Rittangel nicht darauf eingeht, dass er sich in seiner christologischen Apologetik selbst auf die Gematria stützte; die Temura und das Notarikon hat er freilich auch im apologetischen ersten Teil von De Veritate Religionis Christianae nicht gelten lassen. Insgesamt ist das Buch De Veritate Religionis Christianae eher zweideutig. Es folgt dem Grundmuster der christlichen Kabbala seit Pico und Reuchlin, dass nämlich die alten Rabbinen – und dazu gehören für den christlichen Kabbalisten Rittangel vor allem das Buch Jezira, der Sohar und die Tikkunim – die Trinität und die Christologie erkannt 70 71
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Rittangel 1699b, 81, § 127. Rittangel 1699b, 87 f., § 137: „Atque ita dixisse sufficiat de variis interpretandi S. Scripturae generibus, quae variarum quoque inter Judaeos sectarum & turbarum causae fuerunt; nec tam altercationes verborum & convitia, quam caedes, incendia, & alias persecutiones crudelissimas moverunt. Prodigiosum enim foret narrare pertinax illud et obstinatum Judaeorum odium in Samaritanos, vel communi nomine Textuarios, hac de re religionis causa conceptum, et multo hactenus tempore auctum, ita in animis furit, ut etiam morte non extinctum sit, sed in posteros transit. Sicut ignis, quamdiu materia occurrit, non cessat depascendo; sic et illorum odium, quamdiu hae duae religiones contrariae viguerunt, saeviendo, adeo ut audeam dicere, quamquam istorum hominum animos maxime torqueat auri sacra fames, longe tamen plura et horribiliora facinora ab eis patrata esse religionis causa, quam lucri aut proprii commodi cupiditate. Christiani namque vel Turcae non abnominabiles sunt Pharisaeis, at ipsos Textuarios abnominantur atque execrantur.“ Rittangel 1699b, 89 f., § 139: „Quid dicam de Masoretharum perturbationibus? Eo enim deviatum est, ut Masorethica lectio, eo quod Chaldaia et tota de abbreviaturis tractat, omnibus fere judaeis (paucis excellentioribus Rabbinis exceptis) peregrina, et coram oculis eorum abscondita, & veluti somnium sit, cujus nullus est interpres; nihilque aliud habet, quam ut quoties unaquaeque dictio in lege, in Prophetis, in hagiographis habetur, inquirat, atque ex illis in unum cusis, commodum aliquem sensum et contextum repraesentet; aliquando quaedam omittere monet, aliquando in alium locum transponere, modo universa praeterire; omni permutationis vel combinationis genere utitur, modo Gematrico, modo Notarico artificio contextum rerum quaerit. O caducum praesidium! O ruinosum propugnaculum! O labile fidei fundamentum! Non fortissimas et inexpugnabiles Masoretharum rationes! Quis huic truncato et mutilato septo dabit septem? quis fundamentum huic fundamento? quis propugnaculum huic propugnaculo?“
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hätten. Die neueren Masoreten täten hingegen alles, um diese ursprüngliche Einsicht zu verdunkeln. Ihnen wird antichristliche Böswilligkeit, gepaart mit Dummheit und Streitsucht unter Brüdern im Glauben, unterstellt. Diese polemische Grundhaltung gegen das rabbinische Judentum hat Rittangels christliche Kabbala mindestens seit seiner Taufe im Jahr 1639 bestimmt.
4. Rittangels christliche Exzerpten-Kabbala Rittangels kabbalistische Anstrengungen sind der obstinate Versuch, trinitarische Strukturen in jüdischen Quellen aufzufinden. Dabei bedient er ganz selbstverständlich die Topoi der spekulativen Philologie im Rahmen der Philosophia perennis, ohne deren Strukturen je neu zu diskutieren. Er setzt die christlich-neuplatonische Wahrheit der Trinität als ursprüngliche Offenbarung voraus. Für das Buch Jezira geht er davon aus, dass es dem Abraham geoffenbart worden sei; diese Offenbarung sei über Rabbi Akiba den späteren jüdischen Rabbinen überliefert worden.73 Damit sind die beiden Kriterien der Philosophia perennis, nämlich ursprüngliche Offenbarung und (geheime) Tradition bis zur jeweiligen Gegenwart, erfüllt. Diese Konstruktion der Tradition ist eine Variation der Theorie der Überlieferung der ursprünglichen Weisheit, die Pico verfolgte.74 Anders als Pico betrachtet Rittangel die rabbinische Tradition aber nicht als Gegner der kabbalistisch-trinitarischen Wahrheit. Die Gegner seiner Kabbala sind die zeitgenössischen Juden, die er gemeinsam mit den christlichen Antitrinitariern bekämpft. Beide verkennen nach seiner Ansicht willentlich die klaren Hinweise auf die trinitarischen Wahrheiten, die sich in den Texten der jüdischen Kabbala finden. Die Gegnerschaft zu den christlichen Antitrinitariern, die Rittangel seit seiner Konversion 1639 pflegte, bekräftigte er in den Kommentaren seiner Edition des Buchs Jezira und in seinen späteren Werken; die Polemik wirkte bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Rittangel stützt sich nicht ausdrücklich auf die Traditionen der christlichen Kabbala, wie sie sich im 16. und frühen 17. Jahrhundert ausgebildet hatten, sondern er verlässt sich auf seine eigene Philologie. Es kommen weder Pico noch Reuchlin noch Postel noch Khunrath oder Fludd vor; Franckenberg kannte er wohl persönlich, dessen kabbalistische Spekulationen scheint er jedoch nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Rittangels Konzept ist philologisch-apologetisch. Er bedient am ehesten die Topoi der Judenmission seit Raimundus Martini und Petrus Galatinus, indem er den Juden aus ihrer eigenen Tradition nachzuweisen versucht, dass die spekulativen Wahrheiten des 73 74
Zur Zuschreibungsgeschichte des Buchs Jezira vgl. Wolf 1715–1733, Bd. 1, 23–30, Nr. 43, und Bd. 4, 1020 f. Zu Picos Denunziation der Talmudisten als die Zerstörer der kabbalistischen Tradition vgl. auch: Schmidt-Biggemann 2012–2013, Bd. I, Kapitel 2.
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Christentums in den jüdischen Quellen zu finden seien, wenn man diese richtig zu lesen verstünde. Rittangels Edition und Kommentar zu den 32 Wegen der Weisheit und zum Sefer Jezira sind unter deutlich christlich apologetischen und missionarischen Perspektiven zu verstehen. Der vollständige Titel lautet: ספר יצירהid est Liber Iezirah qui Abrahamo Patriarchae adscribitur, unà cum Commentario Rabbi Abraham F. D. super 32 Semitis Sapientiae, à quibus liber Iezirah incipit. Joanne Stephano Rittangelio Ling. Orient. In Elect. Acad. Regiomontana Prof. Extraord., Amstelodami: Apud Joannem et Jodocum Ianssonios, MDCXLII.75
Die Struktur der spekulativen Kabbala-Philologie Rittangels zeigt sich schon in der äußeren Anlage des Buchs: die 32 Wege sind ihm ebenso wichtig wie das Buch Jezira. Für den Stil seiner Kommentierung ist charakteristisch, dass mehr als zwei Drittel seiner Edition Ergänzungen aus weiteren hebräischen Quellen, vor allem aus Tikkune Sohar, sind. Von den 208 Seiten des Buches umfassen die ersten 143 die 32 Wege der Weisheit und die restlichen 65 das Buch Jezira. Der Text der 32 Wege der Weisheit besteht von Seite 35 bis Seite 122 aus hebräischen Zitatensammlungen, mit denen Rittangel die christliche Interpretation der Kabbala stützen will. Die beiden ersten Abschnitte (Sectiones) des Buchs Jezira werden auf den Seiten 146–195 vorgestellt und zitiert; die übrigen Abschnitte werden auf den Seiten 195–208 vergleichsweise kurz abgehandelt.
4.1 Edition und Kommentar der 32 Wege der Weisheit Das Buch der 32 Wege der Weisheit besteht formal aus 32 Definitionen, die je von einem Kommentar des Abraham ben David erläutert werden. Es ist evident, dass die Definitionen und die Kommentare vom selben Autor stammen und es ist gleichermaßen klar, dass die Zuschreibung an Rabad (1125–1198; Rabad = R. Abraham ben David aus Posquières, Vater Isaaks des Blinden) pseudepigraphisch ist.76 Bei den 32 Wegen handelt es sich wohl um einen Text des 13. Jahrhunderts. Das Buch stilisiert sich als Einleitung zum Buch Jezira, und so präsentiert es auch Rittangel. Rittangel druckt den hebräischen Text der Druckausgabe Mantua 1562 mit einer präzisen lateinischen Übersetzung. Er hat diese Texte in unregelmäßigen Abständen mit ausführlichen Kommentaren versehen. Diese Kommentare erläutern teils die Texte im Sinne einer spekulativen christlich-trinitarischen Interpretation, teils führen sie Stellen an, die Rittangels christliche Interpretation sowohl der 32 Wege der Weisheit als auch 75 76
Rittangel stützt sich auf die Druckausgabe Mantua 1562; Wolf 1715–1733, Bd. 1, 27: „In hac editione Rittangelius exacte secutus est mantuanam, prout commentariis instructa est.“ Das Buch der 32 Wege der Weisheit ist auf Hebräisch zuerst 1562 in Mantua gedruckt worden. Hier finden sich auch die anderen Kommentare des Sefer Jezira, die Rittangel 1642, 35–81 abdruckt. Nach Scholem 1957, 432 Anm. 40, und 439 Anm. 137, gilt Josef ben Schalom Aschkenasi (aus Barcelona) als möglicher Autor der 32 Wege der Weisheit.
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des Sefer Jezira stützen. Diese Parallelstellen stammen großenteils aus Tikkune Sohar, die Jacob ben Naphtali 1557 in Mantua im Druck veröffentlichte. Rittangel besaß ein Exemplar dieser Ausgabe. Der Titel der 32 Wege der Weisheit bezieht sich auf das erste Kapitel des Buchs Jezira, in dem es heißt: ‚Mit 32 wunderbaren Wegen meißelte JHWH – der Herr der Heerscharen Israel, die lebenden Elohim und der Herr der Welt, der barmherzige und gnädige Gott, hoch und erhaben, der Bewohner der Ewigkeit, erhaben und heilig – seinen Namen mit drei Zählungen, der Zahl, dem Zählenden und dem Gezählten.‘
Pseudo-Rabad interpretiert in seinen 32 Wegen der Weisheit das Buch Jezira als ein Werk, in dem die zehn Sefirot schon angelegt seien. Das Buch beschreibt die Wege, auf denen sich das göttliche Licht innerhalb der Sefirot ausbreitet und schließlich nach unten ergießt. In ständig neuen feinsinnigen Variationen der Lichtmetaphorik beschreibt das Buch die göttlich leuchtende Herrlichkeit und ihre Offenbarung. Zunächst werden die lichtmetaphorischen Varianten der negativen Theologie durchlaufen, erst in den unteren Stufen erscheint das Licht auch als sichtbare Schöpfung, die das Universum konstituiert. Ich benenne zunächst stichwortartig die 32 Wege und verzeichne die Kommentare Rittangels, die ich dann abschließend zusammenfasse. Der erste Weg beschreibt die Corona (die erste Sefira) als „admirabilis“ und „abscondita“. Das primordiale Licht des absoluten Anfangs, der selbst als causa causarum ohne Prinzip ist, ist keiner Kreatur zugänglich. Pseudo-Rabad erläutert diesen ersten Pfad mit der anagrammatischen Bedeutung des Buchstabens ( אAlef), ausgeschrieben אל, der rückwärts gelesen ( פלאPele), Wunder, heißt. Rittangel versieht diesen ersten Pfad mit einem ausführlichen Kommentar, in dem er die zehn Sefirot (‚Numerationes‘) als Glieder von Gottes unerkennbarem Körper einführt.77 Er beschreibt sie mit dem Vokabular der negativen Theologie zunächst als etwas dem höchsten und unerkennbaren Sein Innerliches, als etwas Unaussprechliches und Unerklärliches, aus dem die Universen fließen.78 Er legt größten Wert darauf, dass die Sefirot nicht mit irgendwelchen philosophischen Kategorien gleichgesetzt werden; diese Begriffe seien nur als zarte Andeutungen zu betrachten.79 Rittangel teilt nun die Sefirot christlich-konservativ in drei obere und sieben untere ein und interpretiert sie mit ontologischen Grundbegriffen. Die sieben unteren sind ( מדותMiddot, ‚Maße, 77
78 79
Rittangel 1642, 2: „Quod verò Hebraeorum Theologi Numerationes omnium Altissimo adscribunt, idem de Numerationibus sentiendum est, quod de pedibus, corde, anima, oculis, ore, dextra, facie et Dei membris sacra scriptura nos docet.“ Rittangel 1642, 2: „Sed in ipso altissimo et incomprehensibili Ente esse aliquid intrinsecum, ineffabile et inexplicabile, unde defluunt universa.“ Rittangel 1642, 2: „Sic etiam numerationum, ut supra diximus, intentio, nec terminum, nec molem, nec quantitatem continuam vel discretam, aut qualitatem; sed exemplum tenuemvè similitudinem repraesentant.“
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Ordnungen‘) mit den Namen „Magnificentia seu Misericordia, Fortitudo seu Severitas, Pulchritudo seu Ornatus, Victoria seu Aeternitas, Decus, Fundamentum et Regnum“. Die drei oberen Sefirot sind „spirituales seu intellectuales“. Das Verhältnis der drei oberen Sefirot zu den sieben unteren vergleicht er mit dem von Seele und Körper,80 die oberen interpretiert er als Geist, Vergeistigung und als Seele der sieben unteren Sefirot. Diese drei ersten Sefirot repräsentieren für Rittangel die Trinität, und er stellt sie mit dem Vokabular des Nizäischen Glaubensbekenntnisses dar. Es sind 1. die Höchste Krone, 2. die primordiale Weisheit, die mit der Höchsten Krone gleichewig und ihr in allem gleich ist, und 3. die Intelligenz. Ontologisch handelt es sich um die drei ersten Modi der Existenz, nämlich um Numerationes, Emanationes und Processiones, und diese drei werden, wie Rittangel betont, gemeinsam angebetet und verherrlicht. Sie sind in der Höchsten Krone unerkennbar perfekt vereinigt, sie sind im Innersten der göttlichen Einheit zugleich leuchtend und verborgen. Rittangel macht unmissverständlich klar, dass diese drei Sefirot die christliche Trinität repräsentieren und dass sie seit der Zeit der Urväter in der hebräischen theologischen Tradition präsent sind. ‚Für alle, die sich an den Text aller und jeder einzelnen Seite der Heiligen Schrift halten, wird es, so denke ich, auch offensichtlich sein, dass die ältesten und gelehrtesten jüdischen Theologen (nach dem Zeugnis der jüngeren Juden) seit Abrahams Zeiten drei uranfängliche Seinsweisen oder (um näher an der hebräischen Wortbedeutung zu bleiben) Numerationen, Emanationen oder Prozessionen gesetzt, verehrt und angebetet haben. Die erste nannten sie Höchste Krone, die zweite Uranfängliche Weisheit (in allem der Höchsten Krone gleichartig und gleichewig), die dritte Intelligenz. Deren Glanz, ewig wie sie und in allerhöchstem Glanz erstrahlend, ist nach der Auffassung dieser Theologen aus der Selbstheit der Gottheit und dem unzugänglichen Abgrund der Ewigkeit des ursprünglichen Lichtes in einer solchen Weise hervorgegangen, dass man nicht sagen kann, dass durch die Emanation oder Prozession etwa der strahlendste Glanz der Gottheit ausgeschüttet oder vergossen oder ihre unbegreifliche Unendlichkeit vermindert worden wäre. Die drei Numerationen, Emanationen oder Seinsweisen seien in höchster und vollkommenster Weise eins und litten keine innere Teilung. Da es sich um einen Prozess handele, könnten sie zwar als jeweils höhere und niedere in eine Ordnung gebracht werden, aber keine könne in sich abgemessen und umschrieben werden. Die erste von ihnen, wovon dieser Weg handelt, heißt Höchste Krone. Ihr Heiligtum nennt man deshalb wunderbar und verborgen, weil bei ihrer Betrachtung alle Augen des Geistes erblinden, die Sprachen verstummen, jede Stimme schweigt; die Seele fehlt angesichts ihrer Unergründlichkeit und Tiefe. Die Höchste Krone hat nämlich die Eigenheit, dass alle Numerationes aus ihr stammen, sie selbst aber von nichts. Es ist in diesen drei oberen Sefirot
80
Rittangel 1642, 3: „Decem igitur statuerunt in Deo esse Numerationes, quarum septem inferiores vocantur ( מדותproprietates sive attributa); quae sunt Magnificentia seu Misericordia, Fortitudo seu Severitas, Pulchritudo seu Ornatus, Victoria seu Aeternitas, Decus, Fundamentum & Regnum. Reliquas vero tres superiores Numerationes vocarunt spirituales seu intellectuales, et statuerunt illas esse quasi Spiritum, Spiraculum et Animam istis supradictis inferioribus septem Numerationibus; per quas illae tres superiores, spirituales vel intellectuales operantur, sicuti anima per corporis sui membra.“
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(Numerationes) das vereinigt, was unsere Theologen Personen nennen, deren jede, wie wir gesagt haben, nach ihrem Wesen unfassbar ist, nicht aber nach ihrer Emanation.‘81
Rittangel argumentiert mit einer genau durchdachten Terminologie, die ihre Quellen in negativer Theologie, spekulativer Trinitätstheologie, in philosophischer Metaphysik und Ontologie, in historischer sowohl als in erbaulicher hebräischer Philologie hat. Er bestimmt die Sefirot vor allem in Bezug auf christlich-spekulative Dogmatik. Die ihrerseits von neuplatonischer Philosophie geprägten 32 Wege der Weisheit, die er als uralte, dem Abraham offenbarte philosophisch-theologische Offenbarung interpretiert, sieht er ganz in der historischen Topik der christlichen Philosophia perennis. Die christliche Interpretation der drei ersten Sefirot ist zugleich der Kern seiner kabbalistischen Philosophie. Der zweite Pfad der 32 Wege der Weisheit bezieht sich auf die Höchste Krone. Pseudo-Rabad beginnt hier mit einer differenzierten Lichtmetaphorik: Dieser Pfad sei – in Rittangels Übersetzung – „Intelligentia illuminans“ und „splendor maximè aequalis“. Vor allem aber betont Pseudo-Rabad, durchaus in der Tradition des Liber de Causis,82 dass sie ein Non ens sei, der es weder zukomme, nummeriert, noch, nicht nummeriert zu werden. In diesem Sinne sei die Höchste Krone „Causa Causarum“, die weder Einheit noch Vielheit sei. Entscheidend ist, dass sie weder ist noch nicht ist, sondern das ist, woraus alles hervorgeht. Rittangel verwendet für diesen Gedanken, dass der erste Grund weder als Sein noch als Nichts interpretiert werden kann, sondern der Grund von Sein und Nichts zugleich ist, als erster, soweit ich sehe, den Terminus „indifferent“:
81
82
Rittangel 1642, 3: „Patere hinc quoque universis & singulis sacrae paginae addictis absque dubio censeo, antiquissimos et doctissimos Hebraeorum Theologos ab Abrahami tempore, ut recentiorum Hebraeorum libri testantur, tres primordiales existendi modos vel potius iuxta meliorem significantiam Hebreae vocis Numerationes, Emanationes vel Processiones (quarum primam, Coronam Summam, secundam, Sapientiam Primordialem, Coronae Summae per omnia aequalem et coaeternam, tertiam, Intelligentiam vocarunt) statuisse, coluisse et adorasse: Earumque coaeternum, splendidissimorumque omnium splendidissimum splendorem ex ipsissima Deitatis ipseitate, et è fontani luminis infinitatis inaccessibili abysso egredi, ita tamen ut nihil intelligatur de ea emanare vel procedere quò splendidissimus hic Deitatis splendor dilatetur et perfundatur, aut inapprehensibilis ejus infinitas diminuatur. Et illas tres Numerationes, Emanationes vel Existendi Modos, esse in Unitate maxime una et perfectissima, nec ullam in se ipsis pati divisionem; quum tamen ratione processus alia ab altera, ordine suo tanquam inferior aut superior distinguatur, quamvis quaelibet in seipsa mensurari aut circumscribi minimè possit. Prima igitur harum de qua in hac semita agitur, vocatur Corona Summa. Et propterea etiam ejus delubrum vocatur admirabile et absconditum, quia in huius contemplatione omnium mentis oculi caligunt, linguae obmutescunt, vox omnis silet, animus deficit, ob inperscrutabilem ejus altitudinem: hoc enim peculiare et proprium habet, quod omnes Numerationes ab ipsa, illa vero à nulla procedat: et comprehenditur tribus Numerationibus superioribus, quas nostri Theologi Personas vocarunt, quarum quaeque, ut diximus, incomprehensibilis est, secundum quidditatem, non verò emanationem.“ Vgl. Bardenhewer 1882, § 5: „Causa prima superior est omni narratione.“
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‚Die Höchste Krone heißt auch Nicht-Sein wegen ihrer Unerkennbarkeit. Sie ist nämlich an sich unfassbar und unaussprechlich im tiefsten Rückzug der Gottheit und im unerreichbaren Abgrund der Quelle des Lichts, in den sie sich zurückgezogen hat und wo sie sich verbirgt. Der ihr innewohnende Glanz verströmt und breitet sich nackt ohne das Kleid von Attributen oder das Gewand von Eigenschaften aus. Sie wird, ungeschieden („indifferenter“) von der Güte, Sein und Nicht-Sein genannt; und sie enthält alles, was unserer Vernunft zu widersprechen scheint, gleichsam vereint und in freier, einfacher Einheit. Sie heißt Sein, weil aus ihr als gleichsam dem höchsten Sein alle Dinge existieren. Sie heißt Nicht-Sein, weil in allem Sein nichts gefunden wird, was ihr gleicht.‘83
Die zentrale Aussage des dritten Weges ist die, dass er die Basis und das Fundament der primordialen Weisheit ist. Pseudo-Rabad benutzt hier die Etymologien von אמונה (Emuna, ‚Glaube‘) und ( אומOman, ‚Handwerker‘), um diesen Pfad als „artifex fidei“ zu charakterisieren. Das Beispiel des Handwerkers erläutert die Idee, dass dieser Pfad sich bereit zeige, die Formen der zweiten Sefira Bina aufzunehmen wie die Materie die Form. Hier zeige sich die Entstehung der Weisheit aus dem Nichts, die in Hi 28, 12 beschrieben sei.84 Diese Weisheit sei der „Artifex fidei“, durch dessen Hände85 der Glaube geformt werde und der durch die zehnte Sefira, Atara עטרה, symbolisiert wird. Rittangel nimmt diesen Paragraphen zum Anlass, um im Kommentar die zehn Sefirot und die Angelologie ausführlich darzulegen. Er bestimmt zunächst die zehnte Sefira genauer: Sie hat die Funktion, die Sefirot insgesamt der außergöttlichen Welt zu vermitteln. Ihre Namen sind deshalb: ( עטרהAtara, ‚Diadem‘); ( מלכותMalkhut, ‚Königreich‘); ( אהל מועדOhel Moed, ‚Versammlungszelt‘); ( צדקZedek, ‚Gerechtigkeit‘). Sie ist mithin die Pforte der göttlichen Herrlichkeit und seiner Gerechtigkeit, und in ihr versammelt sich alles, was aus den Sefirot den Menschen zugänglich wird. Im Sinne der Ethik ist sie zugleich als Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen bestimmt. Diese Bestimmung der zehnten Sefira als Quelle unseres Wissens über die Sefirot insgesamt impliziert, dass die Qualitäten der Sefirot, die sowohl schrecklich als auch 83
84
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Rittangel 1642, 5: „Corona Summa vocatur etiam Non-Ens propter incomprehensibilitatem: Est enim res quaedam secundum se incomprehensibilis et ineffabilis, in remotissimo Deitatis recessu, et in fontani Luminis inaccessabili abysso sese retrahens et contegens; cuius splendidissimus splendor nudus immanens, nullo attributorum amictu, aut proprietatum vestitu perfunditur aut dilatur: bonitateque indifferenter Ens et non ens vocatur: atque omnia quae rationi nostrae videntur contraria aut contradictoria, tanquam segregata et libera unitas simplicissimè implicans. Ens quidem, quia ab eo tanquam Summo Ente omnia entia existunt. Non-Ens autem, quia inter omnia entia reperitur nihil ipsi simile aut aequale.“ Hi 28, 12 ( )והחכמה מאי תמצאist ein häufig zitierter Beleg für die Primordialität der Weisheit; Rittangel zitiert: מאי תמצא החכמהund übersetzt: „Sapientia de Non-Ente invenietur“ (‚aus dem Nichts wird die Weisheit gefunden‘). Es sind die Hände Moses aus Ex 17, 12, die, solange sie sich zu Gott wenden, die Israeliten siegen lassen. Ihre zehn Finger symbolisieren die zehn Sefirot; ihre Kraft wird mit der Sefira Tiferet erklärt, durch die die göttliche Kraft in die zehnte Sefira Atara (‚Diadem‘; häufig auch Malkhut ‚Königreich‘) in die Existenz gebracht wird.
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wohltätig sind, sämtlich durch diese Sefira offenbart werden. Die Eröffnung dieser Kräfte ist mit dem Namen Gottes verbunden.86 Die Kraft und die Macht Gottes, die sich in der zehnten Sefira als der Name אדניAdonai zeigt, kann die Menschen erhöhen oder verstoßen. Hier zeigen sich die Folgen der göttlichen Qualitäten, die ihrerseits Ausdruck der geheimnisvollen göttlichen Namen sind. Rittangel entwirft einen SefirotBaum, in dem schematisch klargestellt wird, wie das Verhältnis der göttlichen Namen zu den Sefirot aussieht. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass die rechte Seite dieses Baumes die strenge, die linke hingegen die gnadenreiche ist.87 So entsteht folgendes Schema,88 das oben den Namen der Sefira und unten die zugehörigen Gottesnamen zeigt: Die erste Sefira heißt Höchste Krone אהיה Die dritte Sefira heißt Intelligenz
Die zweite Sefira heißt Sapientia
יהוהdargestellt als אלהי
יה
Die fünfte Sefira heißt Stärke
Die vierte Sefira heißt
oder Strenge אלהי
Großzügigkeit oder Erbarmen אלוה
Die sechste Sefira heißt Schönheit oder Sanftmut יהוה Die achte Sefira heißt Ruhm
Die siebente Sefira heißt Triumph,
אלהי צבאות
Herrlichkeit und Ewigkeit יהוה צבאות Die neunte Sefira heißt Fundament אל חי Die zehnte Sefira heißt Königreich אדני
Rittangel beschreibt die göttlichen Namen als aus den Elementen ( אלEl), אלהי (Elohim) und dem Tetragramm יהוהzusammengesetzt. El bedeute „höchste Gnade“, 86
87 88
Es gibt diese Zusammenstellung bei Josef Gikatilla; für die christliche Kabbala war sie durch Ricius’ Übersetzung zugänglich. Allerdings ist die Zuordnung nach Gikatilla Allgemeingut der Kabbala geworden; Rittangel bezieht sich nicht explizit auf Gikatilla. Rittangel 1642, 10 und 14. Abbildung: Rittangel 1642, 13.
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Elohim seien die „Bewaffneten“, die die Sünden der Menschen bestraften, das Tetragramm vermittle zwischen beiden.89 Alle Namen hingen vom Tetragramm ab wie die Erzherzöge, Herzöge, Fürsten, Grafen und Barone von der kaiserlichen Herrschaft. Diese Abhängigkeit der göttlichen Namen vom Tetragramm ist in den Engelsnamen symbolisiert. Es sind die durch den Namen ausgedrückten göttlichen Kräfte, die von den Engeln zur Realität gebracht werden. Immer, wenn in der Heiligen Schrift etwas über die Wesen Gottes ausgesagt wird, dann werden die Engel damit beauftragt, diese Herrlichkeit des Herrn zu repräsentieren. Deshalb seien in den Engelnamen die Prädikate Gottes verborgen.90 Aus dem Kommentar des Rabbi ha-Kadosch91 zum Buch Jezira, in dem auch das Shem ha-meforash, die Lehre von den 72 Namen Gottes, verhandelt wird,92 zieht Rittangel eine Liste von Engelsnamen: Kethabiel (Schriftengel), Zechariel (Gedächtnisengel), Schamri-Ehl (Gehorsamsengel), Chasidi-Ehl (Frömmigkeits-Engel), Gabriel (Macht-Engel), Zedekiel (Gerechtigkeitsengel), Raphael (ArztEngel, repräsentiert die Sefira Tiferet), Malchiel (Reichsengel). Außerdem kennt er noch einen Schreckensengel, Chetamiel.93 Es gibt für ihn keinen Engel, der nicht seine Wurzel in den Sefirot hätte.94
89
90
91
92 93 94
Rittangel 1642, 14: „Quae supradicta cognomina, quaedam quidem nominis ( אלEhl quod signifer summae gratiae est) organa sunt, quaedam vero nominis ( אלהיElohim, qui tanquam bellicosus quis armis incedit) quae omnia genera armorum ad visitandum peccata hominum subministrant: quaedam tandem sunt organa nominis ( יהוהTetragrammaton) quod praedictorum nominum divinorum nempe ( אלEhl) et ( אלהיElohim) basis est et fundamentum et inter praedicta utraque conciliator et mediator, ex severitate et Misericordia aggregatum.“ Rittangel 1642, 14: „Sunt et alia Dei et Angelorum ad singula officia deputatorum sacra nomina, quae ex certis Sacrae Scripturae locis, juxta artem quam modernorum Hebraeorum Cabalistae tradunt, eliciuntur. Horum generalis regula est, quod ubicumque in sacra Scriptura aliquid de divina essentia commemoratur, ex eodem loco divinum aliquod nomen, certi cujusdam Angeli ad hoc vel illud officium ritè deputati, expressum, inveniri tradunt. Et modo ex initialibus literis, modo ex finalibus, modo ex mediis sibi invicem transpositis seu combinatis aut permutatis, aliquando etiam per Notaricon, aliquando per Gematricon genus elicere conantur.“ Diese Erwähnung des Rabbi ha-Kadosch ist seltsam. Der Text findet sich im Kommentar des Botarel (Mantuaner Ausgabe, 62 a), es ist dort ein Zitat aus einem Midrash shel Shimon ha-Zaddik, also ein Midrasch Simons des Gerechten; diesen nun scheint Rittangel zu verwechseln mit dem Rabbenu ha-Kadosch, der bei Heredia, Giustiniani und Galatinus auftaucht (Hinweis von Saverio Campanini). Rittangel 1642, 15. Rittangel 1642, 17. Rittangel 1642, 16: „Unicuique Angelo est versus in lege, correspondens nomini suo, Kethabiel juxta Ex. 32, v. 16. Et scriptura, scriptura Dei ipsa. Zechariel juxta illud Recordans foederis parentum, legitur quoque recordare nostrorum in Vitas. Et amicit se in זכור: Schamri-Ehl in שמור: Chasidi-Ehl in חסד: Gabriel in גבורה: Zedekiel in צדק: Raphael in תפארת: Malki-Ehl in מלכות. Nullus denique est Angelus cui non sit radix et fundamentum in Numerationibus, et quaelibet Numeratio habet nomen proprium, et propriam essentiam, et omnia illorum nomina habent ibi (in illis scilicet Numerationibus) suas radices ac fundamentum.“
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Rittangel stellt die Sefirot mithin in einer dreifachen Ordnung dar: Die erste Ordnung ist die der göttlichen Prädikate, die die Trinität und weitere sieben Prädikate umfasst. Die zweite Ordnung ist die der göttlichen Namen, in denen drei elementare Hauptbedeutungen variiert werden: a) die Bedeutung von El, Höhe; b) von Elohim, göttlicher Schreckensmacht; c) die versöhnende Bedeutung des Tetragramms, das die Gnadensund Schreckenstendenzen in sich vereinigt. Die dritte Ordnung ist die der Engel, die die göttliche schrecklich-gute Herrlichkeit nach außen vermitteln. Erst die Gesamtheit dieser Ordnungen zeigt den umfassenden Glanz der göttlichen Herrlichkeit, der bei den Betrachtern zitternde Bewunderung hervorruft. Die Wege 4 bis 7 variieren die Stadien der Emanation: der vierte Weg bestimmt die Emanationen als Potenzen der Intelligenz; der fünfte Weg beschreibt, dass es die Einheit ist, aus der die Fülle dieser Potenzen entsteht, die ihrerseits der Einheit ähnlich sind; der sechste Weg heißt der Weg des vermittelnden Einflusses; hier zeigt sich die Einheit erstmals als Vielheit. Der siebente Weg, die wiederhergestellte Intelligenz, bündelt die Vielheit erneut, indem sie deren Einheit in der Kontemplation der Sefirot zusammensieht. Die Wege 8 bis 10 bestimmen die Emanationswege einzelner göttlicher Prädikate: der achte Weg betont die Großartigkeiten („magnificentiae“) der „intelligentia absoluta et perfecta“; der neunte Weg wird als der beschrieben, der die Sefirot von ihrer Vielfalt reinigt und ihre Einheit sichtbar macht; der zehnte Weg nimmt den durch Tiferet (Schönheit, sechste Sefira) vermittelten Glanz der Bina (der strengen Einsicht) auf. Dieser zehnte Weg stellt hier die zehnte Sefira (Atara ‚Diadem‘ und Malkhut ‚Königreich‘) dar, durch die der göttliche Glanz der Schöpfung übermittelt ist. Dieses ist zugleich der Ort des Höchsten der Engel („princeps facierum“)95, das heißt des Engels Metatron. Der elfte Weg stellt sich als schimmernder Vorhang dar, der die Ordnung selbst repräsentiert. Im elften Weg sieht Rittangel eine Zäsur, denn mit dem elften Weg wird die Zahl der Sefirot überschritten und es stellt sich der Übergang in eine Sphäre dar, die außerhalb der Gottheit ist. Die Bedeutung des Vorhangs, der die Trennung zwischen dem Heiligen und dem Allerheiligsten anzeigt, wird in einer Gematria dargestellt: ‚( הפרגודder Vorhang‘) hat denselben Zahlenwert wie ‚( חצרVorhof‘) nämlich 298.96 Rittangel nimmt diese Gematria zum Anlass für eine Diatribe gegen die drei exegetischen Spezialformen der Kabbala: gegen Temura (Permutation), Notarikon (Anagramme) und Gematria (Buchstaben als Zahlenwerte). Die trinitarisch-spekulativen, in ihrer Herkunft neupythagoreischen, Topoi der Kabbala, die den alten Rabbinen 95 96
Rittangel 1642, 24. Rittangel 1642, 26; Rittangel zählt das He von ha-Pargod nicht mit und kommt so zu einer komplizierteren Gematria: ח-8, צ-90, ר-200 = 298. פרגוד: פ-80. ר-200, ג-3, ו-6, ד-4 = 293. Mit dem zugehörigen Artikel = ה5 kommt man auf 298; Rittangel berücksichtigt ihn nicht und zählt stattdessen die fünf Buchstaben von פרגודzu den 293 dazu, um so auf die geforderten 298 zu kommen. (Ich danke Saverio Campanini für den Hinweis.)
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zugänglich gewesen seien, akzeptiert er.97 Das sei die geheime Lehre, die Moses auf dem Berg Sinai zuteil geworden sei, die die Juden als göttliche Philosophie oder spekulative Theologie bezeichneten und die mit der christlichen übereinstimme.98 Dagegen nennt er die kabbalistische Exegese mit Permutation, Anagrammatik und Gematria, die er im Einzelnen mit ausführlichen Beispielen erläutert, Dunkelheiten und Wahnsinn. Statt der jüdisch-kabbalistischen Exegese empfiehlt er die Exegese der Karäer.99 Die Karäer sind für ihn im Bezug auf das Schriftprinzip sozusagen die Lutheraner der Juden. Sie hätten ihren Namen ‚( קראיTextuarii‘, ‚Leser‘) nur aus dem Grunde bekommen, weil sie alle menschlichen Traditionen zurückwiesen und sich allein mit der Schrift begnügt hätten.100 97
Rittangels Kritik an den kabbalistischen Techniken entsprach durchaus einer verbreiteten Strömung der christlichen Kabbala; vgl. u. a. Athanasius Kircher, Henry More oder Johann Georg Wachter. Erst mit Buddes Introductio in Philosophiam Hebraeorum werden Temura, Notarikon und Gematria als genuine Teile der hebräischen Kabbala akzeptiert – aber mit Budde ist auch die Option auf eine genuin christliche Kabbala aufgegeben. 98 Rittangel 1642, 27: Er nehme die Gelegenheit wahr, um dem Leser zu zeigen, schreibt Rittangel, „quantum antiquorum Rabinorum, qui vera scientia imbuti fuere, ratio, à modernorum Iudaeorum institutione et deliriis differat. […] Notum est doctoribus, gloriosam apud Hebraeos Cabalae fieri mentionem, hancque occultam Moseh in monte Sinai traditam à Deo, ut ajunt, esse doctrinam, quam quidam ex eorum Sapientibus vocarunt Philosophiam divinam, seu Theologiam speculativam, quae conferatur cum Theologia nostra.“ 99 Rittangel war einer der ersten, der den christlichen Orientalisten von der Existenz der Karäer berichtete. Noch im 18. Jahrhundert herrschte über ihre Geschichte und Eigenart Unklarheit. Zedler 1733, 763 f., schreibt, es sei „der Name einer gewissen Secte bey denen Jüden, welche von etlichen mit den Sadducäern confundirt wird, wiewohl ausgemacht ist, dass sie sich in vielen Stücken unterscheiden. Von derselben Ursprunge befindet sich nicht einerley Meinung. Insonderheit wollen einige behaupten, dass selbige gleich nach der Publication des Talmud entstanden, wiewohl Scaliger sie noch älter macht, als die Sadducaeer; Basnage Hist. des Juifs II. 17 aber davor hält, daß sie mit denen im Neuen Testam. so offt erwehnten Schrifft-Gelehrten eines wären. Das, was die Caraiten eigenes haben, bestehet darinnen, daß sie schlechter-Dings bey dem Buchstaben der Heil. Schrifft bleiben, und den Talmud nebst anderen Traditionen verwerfen, dahero zwischen ihnen und den übrigen Jüden, die man Rabbaniten nennt, eine solche Verbitterung entstanden, daß auch diese mit jenen sich nicht einmal verehelichen wollen.“ Vgl. oben den Abschnitt zur Biographie (mit weiterer Literatur). 100 Rittangel 1642, 33: „Prodigiosum enim foret narrare pertinax illud et obstinatum Pharisaeorum odium in Samaritanos, vel communi nomine ( קראיTextuarios) hac de causa tantummodo conceptum, quod Samaritani seu Textuarii omnes humanas Traditiones rejicientes in solo Scripturae textu acquiescunt; atque illud odium hactenus longo tempore auctum ita in animis fuerit, ut etiam morte extinctum non sit.“ In diesem Zusammenhang beklagt sich Rittangel bitter über die Verfolgung der Karäer durch ihre jüdischen Vettern und er führt eine ausführliche Liste von jüdisch-orthodoxer Literatur mit polemischen Passagen gegen Andersmeinende an (ebd., 34): „Quae unquam natio adeo barbara fuit. Quae tam insanam, brutam et maledictam opinionem non horruerit? Et tam furibundum, detestabile et ruinosum odium non detestata sit? Multa adhuc ex variis ipsorum codicibus adducere possemus, sed temporum brevitas et festinans institutum hoc
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Der zwölfte Weg (der 32 Wege der Weisheit) führt die Merkaba (‚Quadriga‘), den göttlichen Thronwagen, der gemäß der Vision Ezechiels die Kosmologie darstellt, als mystisches Symbol ein. Das könnte der Übergang von der innergöttlichen Diskussion der 32 Wege zur schöpfungstheologischen Diskussion sein. Aber Rittangel benutzt diese Einführung des Terminus ‚Merkaba‘, um über 86 Seiten seine christliche Auffassung der Kabbala in Zitaten zu exponieren. Die Begründung liefert ihm ein Manuskript ( ספר מרכבה עליונהBuch der höheren Merkaba), das die drei ersten Sefirot als die drei Modi der Existenz in der Gottheit kennzeichnet. Es handelt sich (1) um die Höchste Krone, die aus dem Heiligtum ihrer höchsten Barmherzigkeit und Unendlichkeit von Ewigkeit her die Weisheit hervorbringt, (2) um die Weisheit, die im Inneren der sich ganz frei äußernden Barmherzigkeit wohnt, und aus der (3) die Intelligenz so emaniert, dass Weisheit und Intelligenz aus der Höchsten Krone hervorgehen. Sie erfreuen sich im Schoß der unerkennbaren, unaussprechlichen und gewissermaßen unerreichbaren, unendlichen und unfasslichen Gottheit wie in einer Quadriga oder in einem Wagen ihrer Ruhe.101 Diese Kombination von Merkaba und den ersten Sefirot bezieht Rittangel auf den Beginn des Buchs Jezira.102 Die Einheit der drei ersten Sefirot (‚Numerationes‘) betrifft, wenn sie mit der Merkaba verbunden ist, auch die Kosmologie. Diese Verbindung wird noch einmal durch die Zuordnung zum Buch Jezira verstärkt, weil das Buch Jezira Teil einer Schöpfungstheologie ist, die die Welten insgesamt nach vier hebräischen Verben für „machen“ in vier Sphären einteilt: Azilut (‚Emanatio‘), Bria
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nostrum permittere noluit. Tanta enim ex eorum fragmentis contrarietas apparet et diversitas, ut vix spatium unius anni iis recensendis sufficiat. Inspiciat si cui placuerit Libros Talmudicos. Librum Schülchan Aruch, Lebhusch, Arba thurim, magnum illum Alphusium inspiciat librum denique de Compriviginis à me conscriptum, et alios, ubi tot millia millium divinae legi contraria et repugnantia Rabinorum dogmata à Iudaeis nostrarum regionum incolis accepta, à Castilianis verò, Ierusalemitanis, Babelianis, Italis reprobata inveniuntur.“ Rittangel 1642, 35: „Mysterium Quadrigae seu Currus Hebraeis multiplex et varium est summa tamen quadriga et summus omnium currus teste lib. manuscripto ספר מרכבה עליונהsignificat tres in Divinitate Existendi Modos seu tres superiores Numerationes, Coronam inquam Summam, quae ex summae misericordiae et infinitatis suae delubro ab omni aeternitate producit Sapientiam, Sapientia in penetralibus summè gratuitae misericordiae immanens, emanare facit Intelligentiam; ita tamen ut Sapientia et Intelligentia à Corona Summa emanantes, incomprehensibili et ineffabili quodam modo in inaccessibii Deitatis, infinitatis, atque incomprehensibilitatis, gremio tanquam Quadriga seu Curru felicissimo suo fruantur otio.“ Rittangel schreibt das Buch Jezira dem Abraham zu; er zieht es allen anderen rabbinischen Schriften vor. Wenn er auch weiß, dass die jüdischen Kommentatoren den Rabbi Akiba als Verfasser vermuten, so geht er doch davon aus, dass Rabbi Akiba in seiner Meinung mit der Abrahams übereinstimme, Rittangel 1642, 36: „Tum ex ipso Abrahami libro Jezirah inscripto, qui caeteris omnibus Rabinorum scriptis, arte, difficultate et aetate mihi videtur praeferendus; tum ex aliorum Rabinorum scriptis et fragmentis. Verum enim verò, cum nostrorum literatorum quidam praedictum hunc librum, Rabi Akibae nobilissimis ornatum scholiis, assignent, ne praesumptionis arguar, me nihil aliud quam id velle, testor, ipsos Judaeos in hodiernum diem confiteri, hanc Akiba professionem Abrahami quoque fuisse.“
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(‚Creatio‘), Jezira (‚Formatio‘) und Asia (‚Fabrica‘). Das Buch Jezira beschreibt spezifisch die Formung der ersten, emanativen Welt. Der erste Vers des Buchs Jezira lautet in Rittangels Übersetzung: Cum Triginta & Duabus Semitis mirabilibus Sapientiae exsculpsit יהוה יהExercituum Deus Israel, Dii viventes, & Rex seculi, Deus misericors et gratiosus, sublimis et exaltus, Habitator Aeternitatis, Excelsus & Sanctus, Nomen suum cum tribus Numerationibus Numero, Numerante et Numerato.103
Zu diesem ersten Aphorismus des Buchs Jezira zitiert er hier, im Kommentar zum zwölften Weg des Buchs der 32 Wege der Weisheit, das die Merkaba einführt, aus dem Buch Imre Binah (Gespräche der Weisheit) von Rabbi Isaschar Beer filii Mosis Pesachii104 eine Eloge der „Unitas in Intelligente, Intellectu et Intellecto“, die er als „Trinitas Regis“ charakterisiert.105 Hier findet er die Verbindung zu den vier Formen der archetypischen Welt, in der auch dem Buch Jezira seine Stelle als Beschreibung der archetypischen Welt der Emanation zugewiesen ist: „Summa mysterii earum [Numerationum] est Emanatio mundi Archetypi. Creatio mundi Intellectualis vel Angelici. Formatio mundi Caelestis sive stellati, et Fabrica mundi minoris seu elementaris.“106 Alle diese Herrlichkeiten entstammten der göttlichen „Sapientia“. Diese Mischung von Trinitäts- und Schöpfungstheologie bietet den Rahmen für die Sammlung von Textstellen, die diese dogmatischen Topoi von Rittangels christlicher Kabbala belegen sollen. Aus dem Buch Imre Binah, einem Kommentar zum Sohar, entnimmt er eine Fülle von rabbinischen Zitaten, die er auf den ersten Vers des Buchs Jezira und die dortige Dreiergruppierung von „Numerans, Numerus, Numeratus“ ( )בספר וספר בסיפורbezieht.107 Der Kommentar von Pseudo-Rabad zum Buch Jezira, den Rittangel durchgängig benutzt, verbindet den zwölften Pfad der 32 Wege der Weisheit, die für die Kabbala klassische Stelle Hi 28, 12 (in Rittangels Übersetzung „Sapientia de non ente invenitur“), den ersten Vers des Buchs Jezira und die Interpretation der ersten Sefira „Höchste Krone“.108 Hier werden die philosophisch-theologischen Haupttopoi des Anfangs und seiner Entfaltung exponiert: Die Dunkelheit Gottes, die durch das ( איEn, ‚Nichts‘) symbolisiert ist, wird mit einem Topas verglichen;109 das איsymbolisiert 103 104
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Rittangel 1642, 146. Rittangel 1642, 36. Zu diesem Buch vgl. Wolf 1715–1733, Bd. 1, 714, Nr. 1328: בינה אמריeloquia intelligentiae, Prag 5371 [= AD 1611], 4°; es erkläre schwierige Stellen des Sohar. In der SoharAusgabe von Knorr von Rosenroth, Sulzbach 1684, ist das Buch mitverwendet worden. Knorr hat es auch für seine Kabbala Denudata gebraucht, Kabbala Denudata II, Sulzbach 1684, 9. Rittangel 1642, 36. Rittangel 1642, 36. Rittangel 1642, 36–41. Rittangel 1642, 42–49 und 51 f. Rittangel 1642, 46.
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zugleich die dunkle Herkunft der Höchsten Krone.110 ( חכמהChokhma, ‚Weisheit‘), die zweite Sefira, wird hier erneut von ( חChekh, ‚Gaumen, Himmelsgewölbe‘) und מה (‚etwas‘) abgeleitet.111 Überhaupt entsprechen die Topoi des Kommentars von Abraham ben David zum Sefer Jezira, die Rittangel hier verwendet, durchaus denen des Buchs der 32 Wege: die Kabbala von ( אלAlef) und ( פלאPele, ‚reconditum‘) wird erneut aufgeführt;112 der Topos vom „Ens de non ente“ wird oft bemüht,113 vor allem wird die triadische Frage nach dem Verhältnis von Höchster Krone, Weisheit und Intelligenz unaufhörlich variiert.114 Besonders ausführlich zitiert Rittangel aus Tikkune Sohar.115 Hier stellt er vor allem die Stellen zusammen, die seine Interpretation der Sefirot stützen. Es geht ihm dabei einerseits darum, dass sich auch in Tikkune Sohar die Standardtopik seiner Kabbala findet, nämlich die Entstehung der zehn Sefirot aus einer unfassbaren Einheit sowie die Unterteilung dieser Sefirot in eine Dreier- und eine Siebenergruppe.116 Dieser Auffassung entspricht die Idee des Baumes, dessen Wurzel verborgen ist und der aus Stamm und Ästen besteht.117 Aus Tikkune Sohar übernimmt er auch die Idee, dass die ersten drei Sefirot die Entstehung aus dem Nichts symbolisieren und deshalb durch ( איEn, ‚Nichts‘) symbolisiert werden. Die Schöpfung aus dem Nichts ist so zusammengefasst: ‚Der Buchstabe אdes Worts ( איNicht-Seiendes, Erstes) der in der Luft schwebte, brachte das Licht hervor; י, der zweite Buchstabe die Ausbreitung des Firmaments, der dritte Buchstabe von ( איNicht-Sein) brachte das Feste hervor. Das meint Genesis 1, 9: „Und Gott sprach, es sollen sich alle Wasser unter dem Himmel an einem Ort sammeln, damit das Feste sichtbar wird.‘118
Hier findet sich auch die Idee der inneren Geschlechtlichkeit des Tetragramms. Es bestehe nämlich aus וה, die das Mysterium von Sohn und Tochter vorstellen, und יה, die
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Rittangel 1642, 47 f. Rittangel 1642, 55. Rittangel 1642, 52. Rittangel 1642 54 und 58. Rittangel 1642, 60–63. Rittangel 1642, 63–76. Die Tikkune Sohar lagen in einer Ausgabe Mantua 1558 vor. Rittangel 1642, 68: „Ordo primus est mysterium Centri, ordo secundus mysterium Trium Mentium, ordo tertius mysterium diffusionis Mentium in septem Numrationes (id est attributa tribus mentibus communia) quae omnes conficiunt Decem Numerationes, Et sunt Unum, Tria et Septem.“ Rittangel 1642, 63–76 und 70. Rittangel 1642, 41 f.: „Litera אvocis אי, (non entis, prima) quae fuerit volitans in Aere produxit lucem; י, secunda litera expansum firmamenti: , tertia litera τοῦ ( איNon-Entis) produxit aridam, hoc est quod dicit Gen. Cap. I, v.9: Et dixit Deus congregentur aquae infra caelos ad unum locum ut videatur arida.“
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das Mysterium von Vater und Mutter symbolisieren. Andererseits enthalte es als Corona summa in sich das Mysterium der Einheit des א.119 Auch die kabbalistische Interpretation von Gen 1, 26, „Lasset uns den Menschen machen nach unserem Ebenbild und Gleichnis“, entdeckt Rittangel in Tikkune Sohar. Die Gleichnishaftigkeit des Menschen besteht darin, dass die zehn Sefirot menschenförmig, als Mater superior ( )אימא עלאהgedacht sind.120 Neben dem (von Rittangel so sicher nicht intendierten) Hinweis auf die christliche Sophien- und Marientopik findet sich hier auch die Idee eines dreifachen Menschen,121 der der dreifachen Schöpfungswelt von Bria (‚Creatio‘), Jezira (‚Formatio‘) und Asia (‚Fabricatio‘) entspricht.122 Insbesondere ist Rittangel daran gelegen, die Dreieinigkeit der ersten drei Sefirot und ihre Gleichewigkeit gegen seine antitrinitarischen und jüdischen Zeitgenossen herauszustellen. Auch zu diesem Zweck verwendet er eine Stelle aus Tikkune Sohar, wo, ganz im Sinne der philosophischen Differenz von ordo essendi und ordo cognoscendi, darauf hingewiesen wird, dass die Emanation der Sefirot aus dem Einen nicht ein Nacheinander, sondern ein Zugleich sei. Das Nacheinander der Sefirot sei nur „mit Rücksicht auf das Geschaffene, nicht auf sie selbst“ dargestellt.123 Das entscheidende Argument für die Einheit Gottes in seinen Emanationen nimmt Rittangel mit dem Verfasser des Tikkune Sohar aus der Lichtmetaphorik: Vor der Emanation sei das Licht so hell gewesen, dass nur seine Abschwächung die Erkenntnis Gottes durch das Auge des Intellekts möglich gemacht habe.124 Gott sei in seiner 119
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Rittangel 1642, 56: „(a) וה: Sunt posteriores literae sanctissimi nominis Tetragrammati quae filium et filiam ut supra dictum est, significant. (b) יה: sunt duae priores literae nominis Tetragrammati, et continent in se mysterium Patris et Matris. (c) א: Continet in se mysterium unitatis transcendentalis. Dicunt enim Numerationes tres Superiores in mysterio אconvenire et unum quid incomprehensibile et ineffabile esse, eo quod unitatem transcendentalem significat.“ Dasselbe findet sich in leichter Variation ebd., 59. Rittangel 1642, 57: „Dicit R. Simeon F. Jochai: Quis est ille homo? Quod dicit Faciamus Hominem, Sapientia Inquam Summa, quae est in imagine Coronae Summae. Et adhuc Faciamus Hominem, hoc est Columnam mediam [die mittlere Achse der Sefirot]. In Imagini Nostra, hoc est Sapientia, ad Similitudinem Nostram, hoc est, Matrem superiorem, quia sicuti Homo creationis, homo formationis, et homo fabricae in imagine Coronae Summae, Sapientiae et Intelligentiae: ita ille in imagine Columnae Mediae et Iusti et Divinitatis inferioris, quae est in Numerationibus, omnes hae sunt emanationes.“ Rittangel 1642, 57: אד דבריה אד דיצרה אד דע יה. Diese dreifache Welt passt dann zur vierfachen Welt, wenn man die Welt der Azilut (der Emanationen) selbst noch zum Bereich des Göttlichen rechnet. Rittangel scheint sich über diese Zählschwierigkeit der Welten keine ausführlichen Gedanken gemacht zu haben. Zur vierfachen Welt s. oben. Rittangel 1642, 77. Auf die Frage, ob denn die Einheit Gottes sich durch die Emanation ändere, antwortet der Verfasser des Tikkune Sohar: „Respondemus adversario: Quod Emanatio earum sit respectu creatorum non respectu suarum ipsarum.“ Rittangel 1642, 78: „[…] ante Emanationem earum fuit lumen earum ita forte, ut oculus intellectus, debilis et caliginosus esset in apprehensione earum. Et Emanatio earum nihil aliud est quam Recessus luminis earum ab Emanativo ad Emanatum & ab Emanato ad Emanatum in
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Einheit eben oberhalb jeder Erkenntnis. Die Emanation in die Sefirot sei selbst schon Offenbarung der übergöttlichen Herrlichkeit für das Auge des Intellekts.125 Darin bestehe schließlich die Schöpfung, dass sie sich stufenweise vom Emanativen zum Emanierten und von dort zur nächsten Emanationsstufe eröffne. Das sei schließlich die Welt, die sich durch das ständige Licht der göttlichen Macht stufenförmig von der Welt der Schöpfung (Bria) über die der Formung (Jezira) zu der der Fertigung (Asia) vollende. Der 13. Weg ist die Substanz des Ruhmes (עצ הכבוד, ezem ha-kavod, ‚substantia gloriae‘);126 der 14. lehrt die Geheimnisse und Fundamente der Heiligkeit und ihre Gestaltung.127 Mit dem 15. Weg beginnt die Beschreibung der Schöpfung ( בריאBria). Die naturphilosophische Theorie ist hylemorphistisch und gibt sich als Interpretation des Verses Hi 38, 9: „Und die Dunkelheit ist sein Kleid.“ Diese Dunkelheit wird soweit verdichtet (‚incrassare‘, )מקריש, bis sie fähig wird, geformt zu werden. Auch dieses Konzept, bei dem die Dunkelheit als Materia prima interpretiert wird, erläutert Rittangel mit einem Text aus Tikkune Sohar. Dort wird in einer Temura (Buchstabenumstellung) das erste Wort der Tora ( בראשיתBereschit, ‚im Anfang‘) in ( ברית אשBerit esch, ‚Bund des Feuers‘) verändert. Diese Passage wird dann so interpretiert, dass das göttliche, im Tetragramm verborgene Feuer die Formen enthält, die den Kosmos, „den Schemel Seiner Füße“, informieren. Diese schaffende Göttlichkeit ( שכינתאSchechinata) sei der Prototyp (Figura) für die obere und die untere Welt.128 Die Sefirot und alle Namen seien durch sie geformt; nach ihr seien die (Welt-) Seelen, die Engel sowie die heiligen Lebewesen und schließlich auch der Mensch gestaltet.129 Aus der Dunkelheit, dem Kleid der Schechinata, seien der Thron des Ruhms, die Engel, die heiligen Lebewesen (die vier Lebewesen der Ezechielvision), die Serafim, die Himmel, die Erde sowie alles auf der Erde herausgehauen und modelliert.130
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mysterio graduum, propterea ut aliquo modo apprehendatur à creatis, in fortissimo splendore luminis earum.“ Es ist allerdings fraglich, ob mit diesem Argument die dogmatischen Tücken der negativen Theologie überwunden werden können. Denn wenn die Trinität eine Offenbarung ist, die sich auf die Kapazität des Intellekts richtet, fragt sich, ob sie dann wesentlich personal sein kann. Rittangel 1642, 122. Rittangel 1642, 122. Rittangel 1642, 124: „Surrexit Rabi Simeon aperuit et dixit ( בראשיתIn principio) per transpositionem literarum conficit ( ברית אשfoedus ignis) quod est signum et obsignatio superiorum et inferiorum in quo subsistunt.“ Rittangel 1642, 126: „Et haec est Divinitas, de qua dicitur, Et terrae scabellum pedum meorum. Et Divinitas est figura superiorum et inferiorum omnes similitudines Numerationum et omnia nomina illarum in ea efformata, et in ea exsculptae sunt Animae et Angeli et Animalia sancta et in ea exsculpta de quibus dicitur Ezech. 1. vers. 10 Et similitudo facierum eorum facies hominis.“ Rittangel 1642, 127: „Similiter et vestimenta, quibus creavit Deus sanctus, benedictus sit ille Solium gloriae et angelos et Animalia sancta et Seraphinos et coelos et terram et omnia quaecunque creavit per illa (vestimenta) et omnia creata quae creavit per ista vestimenta quae sunt
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Der 16. Weg interpretiert das Paradies als Garten der Lust, die Gott an seinem Ruhm empfindet. Hier realisiert sich die göttliche Herrlichkeit in der untersten Sefira: Malkhut-Diadema-Atara. Die unterste Sefira ist die Basis der mittleren Säule der Sefirot, auf ihr ruhen (von unten nach oben) Jesod (‚Basis‘) und Tiferet (‚Schönheit‘); sie wird oben durch die Höchste Krone vollendet. Rittangel kommentiert diese Passage mit dem Text aus Tikkune Sohar, den er schon in der polemischen Diskussion über den Vers Gen 49, 10 mit dem unbekannten jüdischen Gelehrten verwendet hatte;131 freilich hat Rittangels Kommentar nur sehr vermittelt etwas mit dem 16. Weg der Weisheit zu tun. Es handelt sich bei der Auslegung von Gen 49, 10 um die Prophezeiung, dass das Szepter nicht von Israel genommen werde, bis Shilo komme.132 Ob es sich bei Shilo um den Messias handle, war der Streitpunkt zwischen Juden und Christen. An dieser Stelle wird die Wiederkunft des Shilo als die Vollendung der Schöpfung gedeutet. Die übrigen Wege 17 bis 32 beschreiben nun die einzelnen Stufen der Schöpfung: Tiferet ist das Fundament, auf dem die Schöpfung ruht (Weg 17). Hier liegt das geheime und abgründige Zentrum aller wirkenden Einflüsse der göttlichen Kraft, die sich jetzt in die Schöpfung ergießen (Weg 18, 19). Diese Einflüsse sind Auswirkungen des göttlichen Willens aus der Chokhma, der Weisheit (Weg 20), die ihrerseits auf die Höchste Krone (Weg 21) verweist. Diese göttliche Kraft verströmt sich in Vielfalt (Weg 22), ohne ihre Konsistenz dabei zu verlieren (Weg 23). Diese Einheit der Vielheit zeigt sich in den Sefirot und konstituiert das Urbild, nach dem alles geschaffen wurde (Weg 24). Der Schöpfungsprozess geht so vor sich, dass Gott die Formung zunächst tentativ vornimmt (Weg 25) und sie dann erneuert und stabilisiert (Weg 26). Dieser Prozess wird beschleunigt (Weg 27), um sich in der perfekten Natur selbst zu vollenden (Weg 28). Diese Natur umfasst auch die Körperlichkeit (Weg 29), die ihrerseits von den Bildern und Kräften der Astrologie beeinflusst wird (Weg 30). Diese Kunst deutet den kreisförmig sich bewegenden Kosmos (Weg 31) und die Planeten (Weg 32).
4.2 Edition und Kommentar des Sefer Jezira Rittangel ediert und übersetzt im zweiten Teil seines Werks das Buch Jezira in der Fasssung der Druckausgabe Mantua 1562.133 Die Struktur des Werks, wie es Rittangel vorlag,134 ist verhältnismäßig einfach. Es ist dreigeteilt: Zunächst werden die Zahlen von 1 bis 10 behandelt, die Rittangel als die Sefirot interpretiert (Kap. 1), danach
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ipsi (Scilicet Divinitati) exaravit omnia et exsculpsit ea omnia in vestimento suo; propterea ut contempletur ex eo omnia creata et misereatur eorum.“ Rankin 1956, 122–124. Rittangel 1642, 132. Zur komplexen Textgeschichte des Sefer Jezira vgl. Herrmann 2008, 131–219. Rittangel erwähnt weder die Übersetzung des Buchs Jezira, die in Pistorius’ Ars Cabalistica erschienen ist, noch die von Guillaume Postel.
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werden (Kap. 2 bis 5) die Buchstaben des hebräischen Alphabets mit ihren Gruppierungen 3 „Mütter“, 7 „Doppelte“ und 12 „Einfache“ vorgestellt, den Schluss (Kap. 6) bildet eine kurze enigmatische Kosmologie mit einer Art Epilog über die Offenbarung dieses Buchs an Abraham. Das Buch Jezira lässt sich in der Fassung, die Rittangel druckte, so paraphrasieren: I,1: „Mit 32 wunderbaren Wegen meißelte JHWH – der Herr der Heerscharen Israel, die lebenden Elohim und der Herr der Welt, der barmherzige und gnädige Gott, hoch und erhaben, der Bewohner der Ewigkeit, erhaben und heilig – seinen Namen mit drei Zählungen, der Zahl, dem Zählenden und dem Gezählten.“ I,2: „10 Numerationes [Sefirot] nach dem Unaussprechlichen, 22 Buchstaben sind das Fundament für drei Mütter, sieben Doppelte und zwölf Einfache.“ Diese beiden Verse kommentiert Rittangel ausführlich und zitiert zu ihnen wieder lange Passagen vor allem aus Tikkune Sohar. Alle anderen Kapitel des Buchs Jezira ediert und übersetzt er kommentarlos.135 Sie präsentieren Topoi, die als kosmische Strukturen der Schöpfung gedeutet werden können. Rittangel interpretiert die pythagoreisch-kabbalistische Entwicklung der Zahl 10 umstandslos als Erklärung der Sefirot und die Beschreibung der Buchstabengruppen als Realisationsprozess der sefirotischen Kräfte in der materiellen Schöpfung. Nach dem Hinweis auf die 32 Wege, die 10 Numerationes und die 22 Buchstaben in den Sectiones I,1 und I,2 entfaltet das erste Kapitel die pythagoreisch-kabbalistische Bedeutung der Zahl Zehn. Diese geht vom Unaussprechlichen, noch nicht prädizierten, ‚nackten‘ Einen aus (I,3), zeigt sich zunächst als Zusammenhang von Sapientia und Intelligentia und etabliert damit die Zwei (I,4), die zugleich die Grundlage jeder Unterscheidung bei Gut und Böse, Aufgang und Untergang, Norden und Süden bildet (I,5). Die Zahlen von 1 bis 10 haben im Prinzip eine unumkehrbare Richtung, aber das göttliche Wort geht vom Thron Gottes aus und kehrt zu ihm zurück (I,6). Der Anfang der Zahlen ist unbegreifbar und unaussprechlich, in diesem Dunkel liegen die Zahlen verborgen wie die Flamme in der Kohle (I,7); freilich kann sich das Herz klarmachen, wie der Ausgang und die Rückkehr zum Einen aussieht (I,8). Der heilige Geist der lebendigen Elohim, der Stimme und Geist und Wort ist, modelliert und behaut die 22 Buchstaben des Alphabets wie Pflastersteine. Hier entsteht die Vier [vier Elemente?] – Feuer und Wasser, und in ihnen formt er den Thron seiner Herrlichkeit und die Ophanim, die Seraphim, die Heiligen Tiere und die Dienstengel (I,9–10).136 Die Zahlen 5 bis 10 werden als Kombinationen der drei Buchstaben des Tetragramms יהוdargestellt (I,11): So kommt folgende Reihe zustande: (1) Ineffabilis (2) Spiritus Deorum viventium, (3) spiritus aquarum et (4) ignis, und die sechs Weltdimensionen: (5) oben, (6) unten, (7) Osten, (8) Westen, (9) Norden, (10) Süden. 135
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Es mag sein, dass Rittangel seine Kommentare zu den anderen Sätzen des Sefer Jezira bei der Plünderung seines Gepäcks auf der Überfahrt von Königsberg nach London verloren gegangen sind. Das bezieht sich auf Ezechiels Merkava-Vision.
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Das Kapitel 2 handelt von den 22 Buchstaben. Zunächst werden die drei ‚Mütter‘ מ א שeingeführt (II,1), ehe das Behauen und Herausmodellieren der 22 Buchstaben in ihrer besonderen (graphischen) Form dargestellt wird (II,2). Außerdem werden die Buchstaben nach ihrer Artikulation im Mund klassifiziert (II,3).137 Diese 22 Buchstaben sollen nun je zu zweit kombiniert werden, damit 231 ‚Tore‘, das heißt Paare entstehen, die zeigen, welche Kraft die Emanation des Einen in seinen verschiedenen Formen hat (II,4). Die Materie, die von diesen Buchstaben im Schöpfungsprozess geformt werden soll, wird in einem eigenen Akt aus dem Leeren geschaffen, das zu verdichteter Luft zusammengepresst wird (II,5). Das dritte Kapitel behandelt die ‚Mütter‘ ש מ א. Die Dreiheit der Buchstaben wird mit einer Waage verglichen (III,1) – darauf verweist der Buchstabe ( שSchin). Mit den ‚Müttern‘ werden Feuer ( )אund Wasser ()מ138 sowie Männlichkeit und Weiblichkeit geschaffen: In ihnen wird das Leben des Kosmos grundgelegt (III,2). Sie symbolisieren das Wasser, aus dem die Erde entstanden ist, das Feuer, aus dem der Himmel besteht, und die Luft, die zwischen beiden vermittelt (III,3). Diese Dreiheit hat ihre Korrespondenz im Körper: Der Kopf entspricht dem Feuer, der Bauch dem Wasser. Zwischen beiden vermittelt der Spiritus (III,4). Die Permutation der drei Buchstaben symbolisiert die Schöpfung der gesamten Welt (III,5). Das vierte Kapitel behandelt die sieben ‚Doppelten‘ Buchstaben ()בגדכפר״ת. Ihre Doppelheit zeigt sich symbolisch darin, dass sie die positiven und die negativen Seiten des Seins symbolisieren: Leben und Tod, Frieden und Böses, Weisheit und Torheit (IV,1). Ihre Siebenheit weist zugleich die Dimensionen des Raumes auf: Oben, unten, Osten, Westen, Norden, Süden, schließlich das Zentrum der Heiligkeit (IV,2). Die Sieben ist die Ordnungszahl der Zeit und des Kosmos (IV,3–4): Sieben Planeten, sieben Pforten der Seele (zwei Augen, zwei Ohren, Mund und zwei Nasenlöcher), sieben Schöpfungstage, der heilige siebte Tag, der Sabbat. Die zwölf ‚Einfachen‘ ()הוז חטי ל סע צק, die im fünften Kapitel behandelt werden, sind gleichfalls Ordnungszahlen des Kosmos. Sie symbolisieren die Fähigkeiten des Menschen, sie bedeuten aber auch die Untereinteilungen der Himmelsrichtungen (V,1), die Zahl der Monate, die Einteilung des Tages in Stunden und die Organe des menschlichen Körpers (V,2). Das sechste Kapitel lässt sich als astrologisches Kapitel lesen, das Mikrokosmos und Makrokosmos verbindet. Es benennt zunächst drei Väter und Erzeuger (Feuer, Wasser und Geist), die wohl den Müttern zugeordnet werden,139 sieben Beherrscher (wohl die sieben Planeten) und zwölf Enden der Welt (die Winde) (VI,1). Die Zwölf, die Sieben und die Drei seien über dem himmlischen Drachen angesiedelt, der wie ein König auf 137 138 139
Hier wird van Helmont seine Idee des Naturalphabets anschließen, vgl. auch: Schmidt-Biggemann 2012–2013, Bd. III, Kap. 1 Das verweist auf die Schamajim ( )שמי, die Himmel, die aus Majim ( מיWasser) und Esch (אש Feuer) geschaffen werden. Vgl. dazu das große Weltschema bei Fludd, vgl. Schmidt-Biggemann 2012–2013, Bd. II, Kap. 2.
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seinem Thron sitze. Dieser König vereinige alles (VI, 2). Die Zahlengruppen Drei, Sieben und Zwölf haben verschiedene Bedeutungen: Drei sind Eins und stehen für sich; die Sieben wird aus zwei Dreiergruppen und einer Vermittlung geboren; in der Zwölf gibt es keine Vermittlung: Die vier Dreiergruppen, die Körperorgane symbolisieren, stehen im Kampf miteinander (VI,3). Der Schlussabschnitt (VI,4) berichtet, wie Gott dem Abraham, der den Prozess der Schöpfung nachformte und so zum Adepten wurde, erschien, ihm die göttlichen Freuden zusprach und den Bund mit ihm schloss, demzufolge er an das Tetragramm glauben solle. Rittangel kommentiert vom Buch Jezira allein die beiden ersten Sektionen des ersten Kapitels, in denen die 32 Wege der Weisheit sowie die zehn Numerationes und die 22 Buchstaben nach ihrer Gruppierung als Mütter, Doppelte und Einzelne vorgestellt werden. Zunächst beschreibt er noch einmal das Grundmuster seiner Interpretation des Werdeprozesses: Aus der Causa Causarum emaniert die Weisheit, die dem ersten Grund gleichewig ist. Sie entfaltet sich in den 32 Wegen. Abraham sei nach den alten Autoritäten der Autor dieses Buchs.140 Als Quelle für die zentrale Kommentierung nennt er das nur bei Botarel genannte Buch Liphne de Liphnim von R. Meir b. Todros aus Toledo; mithin stammen seine Kenntnisse aus Botarel.141 Dieser beschreibt den Ausgang aus der Corona summa in die Weisheit und die Intelligenz so, dass die 32 Wege der Weisheit in der Sapientia (Chokhma) die Grundlegung von Allem seien, freilich nur in potentia.142 Die Aktualisierung dieser Potenz erfolge durch die Vereinigung von Sapientia und Intelligentia. Diese Aktualisierung sei die Realisierung der Schöpfung, deren Einzelschritte sich nach der Weise der sieben unteren Sefirot vollzögen.143
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Rittangel 1642, 146‒ 148. R. Meir fil. Todros aus Toledo (gest. 1244). Vgl. Wolf 1715–1733, Bd. 1, 748, Nr. 1380: „Sic & in libro Jezira p. 148 ed. Rittangelii minus recte vocatur & ב סודרוסin vers. Fil. Sodri. Hujus est 1) לפני ולפניh. e. extra & intus, ut Bartolucc. interpretatur liber Cabbalisticus, qui in calce Libri Jezira ed. Mantuanae inter ceteros memoratur, qui in commentariis ad illum librum ad partes vocatur. Ex isto libro locum bene longum hebr. & Latine affert Rittangelius l.c.“ Lifne de-Lifnim ist ein Phantom-Buch, als Titel nur überliefert in Moses Botarels Kommentar zum Sefer Jezira (Hinweis von Saverio Campanini; für Genaueres vgl. Campanini 2012). Rittangel 1642, 149. Rittangel 1642, 149: „Et necessariò nobis à Mente scilicet Coronae Summae procedit Sapientia quae est secunda Numeratio. Et haec Sapientia vocatur in libro Iezirah Numerus, sicuti in manuscripto verba Sapientum, subtilitates grammaticales sic à Numeratione illa secunda quae vocatur Sapientia, procedunt triginta duae Seminae, quae fundamentum sunt totius. Et Philosophi vocarunt eam potentiam seu virtutem spherae supremae ambientis omnia. Et Numeratio tertia nempe Intelligentia vocatur in libro Jezirah Numerans. Et est sicut scriba qui explicat et in lucem producit abscondita libri, sic et Numeratio ista quae vocatur Intelligentia producit in actum Semitas Sapientiae. Et haec Numeratio contemplabatur Sapientiam et perspiciebat in ea omnes sculpturas et exarationes subtilissimas ex istis exarationibus quae sunt juxta modum septem Numerationum.“
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Die zweite Sektion wird sehr viel ausführlicher diskutiert.144 Freilich geht Rittangel auch hier allein auf die Sefirot ein, die Buchstaben bleiben unkommentiert. Viel Neues findet sich nicht gegenüber den Kommentaren zu den 32 Wegen der Weisheit, auf die Rittangel gelegentlich verweist.145 Rittangels wichtigste Positionen sind: 1. Negative Theologie: Gott ist in sich selbst verborgen, allerdings nicht vor sich selbst, sondern nur vor den erkennenden Wesen. Man sollte deshalb nicht sagen, dass er sich seiner Gottheit bewusst sei, dass er sich seines Glückes freue, dass ‚er die eigene wesentliche Selbstheit als die Mitte seines Wesens erkenne‘.146 Diese Aussagen über die unerkennbare Gottheit erfolgten nur aus der geschöpflichen Perspektive, die Gottheit offenbare, was sie offenbaren wolle, deshalb könne man über ihr Innenleben nichts Sicheres aussagen. Insgesamt beschreibt Rittangel hier ein durchaus ironisches Verfahren, denn selbstverständlich stellt er diese Positionen auch als erbauliche Erkenntnisse über die Gottheit dar. 2. Gottes Königtum: Gott ist kein König, der mit den irdischen Herrschern verglichen werden könnte. – Auch das ist wieder eine Aussage, die als Aussage der negativen Theologie nur ironisch zu verstehen ist. Denn indem etwas als unvergleichbar prädiziert wird, wird es verglichen und dieser Vergleich wird negiert, aber auch in der Negation bleibt er virulent. Gott hat aus absolut freiem Entschluss147 seine Gottheit, Größe und Schönheit offenbart. Er hat es nicht nötig, sie als Mittel zur Machtsteigerung einzusetzen, denn er regiert nicht über seinesgleichen wie menschliche Könige, sondern über seine Geschöpfe. 3. Die dreifache Welt und Astrologie. Die Welt außerhalb der Gottheit ist dreifach strukturiert als Creatio, Formatio und Fabrica. Die regierenden Untergottheiten sind die Sternbilder, der Zodiakus und die Planeten. Aus Tikkune Sohar übernimmt Rittangel die ausführliche Beschreibung der kabbalistischen Welt: Die erste Welt ist die göttliche, der Mundus divinus, wo Gott noch verborgen ist als erste Ursache. (Die Diskussionen um die Konvergenz von Erster Ursache und Nichts, die in den 32 Wegen über die Höchste Krone anhand des איEn geführt wurden, kommen hier nicht vor.) Die zweite Welt ist der Mundus creationis,148 der allein in Gottes Glanz besteht. Die dritte Welt ist der Mundus formationis, die Engelwelt. Die vierte Welt ist der Mundus fabricae – hier werden die Weltsphären geschaffen. Alle diese Welten weisen auf ihren Urheber im dunklen Grunde zurück. Der ausführlichste Teil dieser Passage aus Tikkune Sohar ist zahlentheoretischer Natur. Das ist für Rittangel deshalb interessant, weil die Sefirot als Numerationes (ספרה, 144 145 146 147 148
Rittangel 1642, 154‒ 161 und 183‒ 185: Rittangels eigener Kommentar; 162‒ 182 und 185‒ 195: aus Tikkune Sohar. Rittangel 1642, 160, verweist auf seine eigenen Kommentierungen ebd. 76–79. Rittangel 1642, 155: „cognoscendo ipsissimam ipsius essentiae ipseitatem in medio et intrinseco ipsissima essentiae suae.“ Rittangel 1642, 157: „ex voluntate absolutissima gratuitae Misericordiae et bonitatis.“ Rittangel 1642, 163‒ 166.
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‚Ziffer‘) beschrieben worden sind. Vor allem ist hier noch einmal die Rolle der Eins als schlechterdings konstituierend gefasst: Das Eine wird als das absolut in sich ruhende bestimmt, von dem zwar die Zahlen abhängen, das aber selbst von ihnen unabhängig ist.149 Es wird durch die Operationen, die mit den Zahlen ausgeführt werden können, keineswegs beeinträchtigt; die Zahlen können nämlich nicht ohne das Eine sein, aber das Eine kann als anfänglich Göttliches ohne die Zahlen existieren: ‚Wie das Eine in seiner eigenen Subsistenz ruht und ihm keine Vergänglichkeit und kein Verderben zukommt, auch wenn die Zahlen, die nach ihm kommen, verschwinden und vergehen, so kommt auch dem heiligen Gott (gesegnet und erhöht sei er) keine Verminderung und kein Vergehen zu, auch beim Vermindern und Verderben aller Geschöpfe (was fern sei!).‘150
Diese Abhängigkeit aller Wesen vom Einen, das in sich selbst unerkennbar ist, macht es nötig, dass aller Zugang zu Gott durch die Sefirot vermittelt werden muss.151 Gott ist die unbekannte Wurzel des Baumes, die den Stamm und die Zweige ernährt. Ohne die Wurzel ist die reine Vielheit der Schrecken der Hölle.152 Wenn man Rittangels Rolle in der christlichen Kabbala bestimmen will, ist zweierlei wichtig: Er hat erstens mit seiner Edition, seiner Übersetzung und seinem Kommentar zu den 32 Wegen der Weisheit und dem Buch Jezira wesentliche Stücke der jüdischen Tradition für das Christentum erschlossen. Das gilt vor allem für die 32 Wege der Weisheit und Tikkune Sohar. Rittangels Texte sind sicher für christliche Leser geschrieben. Sie erwecken den Eindruck, als teile ein streng christlicher Orientalist den christlichen Theologen mit, welches spekulative dogmatische Potential auch für Christen in der jüdischen Tradition zu finden sei. Für die Judenmission waren sie höchstens dann geeignet, wenn christliche Missionare mit der jüdischen Tradition vertraut gemacht werden sollten – dafür, dass das der Fall war, kenne ich keine Belege. Freilich veröffentlichte Rittangel seine trinitarische Apologetik in einer Zeit, als die Trinitätstheologie im Christentum selbst strittig geworden war. Der holländische Arminianismus trug deutlich deistische, mindestens arianische Züge; in Polen und in der Mark Brandenburg spielten die Unitarier eine offensichtlich bedeutende, mindestens polemische Rolle. Vor diesem Hintergrund wirkte Rittangels christlichkabbalistische Apologetik schrill und aggressiv, und als eine solche antisozinianische Polemik ist Rittangels theologische Philologie dann auch noch am Ende des Jahr-
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Rittangel 1642, 170: „Verum si destruuntur caeteri numeri post eum, Unum tamen non destruitur; quia subsistentia ejus in se ipso est, non enim dependet à caeteris numeratis post eum.“ Rittangel 1642, 171 f.: „Sicuti Unum manet in subsistentia sua propria et non accedit ad eum aliqua corruptio aut damnum, etiam in corruptione et abolitione caeterorum numeratorum post eum, sic quoque non appropinquat ad Deum sanctum (benedictus et exaltus sit ille) ulla privatio et corruptio, etiam in corruptione et privatione omnium creatorum (quod absit).“ Rittangel 1642, 178. Rittangel 1642, 182.
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hunderts verwendet worden. Sie hat den Verfall der spekulativen Trinitätstheologie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht aufhalten können.
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Adam Neusers Brief an Sultan Selim II. und seine geplante Rechtfertigungsschrift. Eine Rekonstruktion anhand neuer Manuskriptfunde
Im März 1570 setzte ein deutscher Theologe in Heidelberg einen Brief an den Sultan des Osmanischen Reiches auf.1 Er schrieb ihm, er halte den Islam für besser als das Christentum, und der Sultan – Selim II. – solle ruhig Europa erobern: Dann würden die Christen schon sehen, wohin sie mit ihrer Götzendienerei und ihrer Zwietracht gekommen sind. Adam Neuser, der Verfasser des aberwitzigen Briefes, spielte mit dem Feuer.2 Er wusste, dass ihm eine Anklage wegen politischen Hochverrats drohte, sollte der Brief je in die Hände der Behörden fallen. Zu dieser Zeit hielten die Türken den ganzen Balkan. Die Grenze verlief durch Ungarn und Siebenbürgen bis zum Schwarzen Meer, und der Islam war eine stete Bedrohung für den Westen.3 Der Fall Neuser ist einer der großen Skandale des 16. Jahrhunderts. Über die Zeiten haben sich Lessing und viele andere Gelehrte an ihm abgearbeitet; dennoch ist er nie restlos aufgeklärt worden. Warum in aller Welt hat Neuser diesen verhängnisvollen Brief geschrieben? Auch wenn er ihn nicht abgeschickt hat, so ist der Text doch bei einer Hausdurchsuchung an den Pfälzer Kurfürsten gekommen. Neuser wurde zum Tod verurteilt, konnte fliehen, versuchte sich nach Siebenbürgen durchzuschlagen, musste umkehren und wurde ergriffen und verhört. Er floh ein zweites Mal, versuchte es in London und Paris, wandte sich dann aber wieder Richtung Osten.4 Von Polen und Ungarn aus landete er schließlich als Gefangener – Ironie der Geschichte – tatsächlich im Osmanischen Reich. Er konvertierte zum Islam, kam dadurch frei und fristete danach sein Leben noch einige Jahre mit Dolmetscherarbeiten am Hof in Konstantinopel.
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Dieser Aufsatz ist eine erweiterte und mit Fußnoten versehene Version eines Artikels, der am 27. April 2011 (N4) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist. Bibliographisches Arbeitsinstrument für Neuser ist Burchill 1989. Die moderne Forschung zu Neuser beginnt mit Lessing (vgl. unten Anm. 18). Weiter wesentlich: Veesenmeyer 1829; Rott 1910–1911; Horn 1913; Pirnát 1961; Dán 1982; Philippi 1985; Motika 2002; Müller 2005; Mulsow (2013). Ein Kuriosum ist das Buch von Wild 1850. Es hat romanhaften Charakter und ist gegenüber Neuser sehr denunzierend, doch es beruht auf ausgiebiger Quellenrecherche. Leider sind die Quellen nicht nachgewiesen. Vgl. Fodor 2001; Szakály 1985 – Zur Reaktion im Reich vgl. Schulze 1978. Zu Neusers Flucht vgl. Horn 1913, 271–273; Pirnát 1961, und Mulsow (im Druck).
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Warum also hat er den Brief geschrieben? Zunächst einmal: Neuser war wütend. Er war in Heidelberg kaltgestellt worden, weil er der falschen Partei angehörte, derjenigen, die die Züricher Variante des Reformiertentums bevorzugte und nicht die strenge Kirchenzucht nach Genfer Vorbild, die in Heidelberg durchgesetzt werden sollte.5 Das hat ihn radikalisiert. Er freundete sich mit antitrinitarischen Ideen an, also solchen, die das Dogma der Trinitätslehre ablehnten und Jesus nicht für einen Gott erachteten. Daher der Abscheu vor der „Götzendienerei“ seiner Mitbürger. Eine Rolle dabei spielten offenbar zunächst bestimmte patristische Schriften, insbesondere Neusers Irenaeus- und Tertullian-Lektüre. Beide Kirchenväter haben noch subordinatianistisch gedacht.6 Irgendwann muss Neuser dann die Koranausgabe in die Hände gefallen sein, die Bibliander 1543 veröffentlicht hatte, und er hat fasziniert angefangen, die Nähen zwischen Judentum, Christentum und Islam zu sehen, wenn man denn nur von einem Subordinatianismus und damit von einem puren Monotheismus ausging.7 Es gab Schriften, die der Koranausgabe beigebunden waren – etwa die Cribratio Alcorani von Nikolaus von Kues – die eher die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede der Religionen betonten.8 Doch all das hätte nicht gereicht, Neuser dazu zu bewegen, den Sultan einzuladen, Europa ganz zu erobern. Dazu war noch die Gewissheit nötig, geschichtlich auf der richtigen Seite zu stehen. Liest man den Brief an den Sultan, so fällt ein Bezug zu Daniel 2 und 7 auf, also zur politisch so einflussreichen Vier-Reiche-Prophetie.9 Neuser deutet die vierte und als endgültig verheißene Monarchie nicht auf das Heilige Römische Reich, sondern auf die Osmanen: „und wann die Christen verstehen, daß Ew. Majestät [des Sultans] Reich eben diß sey, (wie es in der Wahrheit ist) davon Daniel im 2. und 7. Capitel sagt, welches die gantze Welt einnehmen, über alle Kayser und Könige herrschen soll, werden sie sich nicht mehr ungehorsam erweisen, sondern gutwillig ergeben.“10 Die Visionen des Danielbuches waren ja die maßgebliche Basis für alle theologischen Überlegungen zur Weltgeschichte. Die Ideologie des Heiligen Römischen Reiches als vierte und endgültige Monarchie bezog von hierher ihre Legitimation, und Luthers „Entdeckung“ von 1529, im Anschluss an Melanchthon und angesichts der Belagerung von Wien, der Antichrist sei das Türkenreich, war ebenfalls Daniel5 6
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Zu diesem Konflikt vgl. Horn 1913, 235‒ 254; Press 1986, 104‒ 129. Vgl. die Aufzeichnungen in Gerlach 1674, 35: „Niemand hab ihn dazu verleitet / sondern ihm Ursache gegeben Irenaeus, und Tertulianus […].“ Zum Subordinatianismus dieser Kirchenväter vgl. Marcus 1963; Haudel 2006, 103 ff. Im späten 16. Jahrhundert wurde im Reich intensiv diskutiert, ob der Calvinismus ein Abdriften zum Sozinianismus begünstige. Vgl. bes. Rainolds 1597. Bibliander 1543. Dazu Bobzin 2008, 159‒ 275. Nikolaus von Kues 1989‒ 1993. Vgl. zum Verhältnis Arianismus und Islam – und der Rolle von Cusanus – Mulsow 2010. Zu dieser Prophetie und ihrer Rezeption vgl. Klempt 1960; Marsch 1972; Bracht/du Toit 2007. Neuser an Selim II. Ich zitiere den in der deutschen Übersetzung überlieferten Brief nach Struve 1721, 233.
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Exegese.11 Noch mehr als ein Jahrhundert sollte von da an eine erhitzte Debatte andauern, wie die Weissagungen des Propheten auf die vergangene, die gegenwärtige und die zukünftige Geschichte anzuwenden seien. Kurz vor Neusers Brief, 1566, hatte es einen markanten Einschnitt in den Debatten um die Danielsprophetie gegeben. Jean Bodin hatte in seiner Methodus ad facilem historiarum cognitionem einen Angriff auf die deutsche Reichsideologie lanciert und massive Zweifel angemeldet, ob denn mit dem vierten Reich wirklich das gegenwärtige Heilige Römische Reich Deutscher Nation gemeint sei; es gäbe doch auch andere große Reiche, besonders das derzeitige türkische.12 Diese ketzerische Anfrage ist nicht ohne Wirkung geblieben, auch nicht in Heidelberg, wie sich bei David Pareus in den 1580er Jahren zeigt.13 Ähnliche Gedanken scheinen auch schon um 1570 Adam Neuser in Reaktion auf Bodin umgetrieben zu haben. Dass man aus der Anfrage aber solche Konsequenzen ziehen konnte wie er es tat, war unerhört. Offenbar ist Neusers post-Bodinsche Danieldeutung im Verbund mit einem radikalreformatorischen Antipapismus gewesen, der für historische Fälschungen des Mittelalters skeptisch sensibilisiert war und so patristische Zeugnisse wie das Symbolum Athanasii für unecht halten konnte.14 Die Unzufriedenheit hatte bei Neuser einen Radikalisierungsprozess ausgelöst, der nicht mehr vor extremen Thesen zurückschreckte, sondern von diesen geradezu angezogen wurde: das Türkenreich als die vierte Monarchie; die Trinität als grundlegender Irrtum; die Obrigkeit als Tyrann. Denn es treiben, so Neuser im Brief an den Sultan weiter, „und trücken die Bischöffe und Obrigkeiten 11 12
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Kaufmann 2008. Bodin (1566) 1576, 299 f.: „quid habet Germania quod principi Turcarsi opponat? aut quis merito maiore monarchia dici potest? patet hoc quidem omnium oculis. si enim est usquam terrarum ulla maiestas imperii ac verae monarchiae, in eo profecto elucet. Occupat enim opulentissimas Asiae, Africae et Europae partes, totoque mari mediterraneo et insulis omnibus, exceptis admodum paucis, late regnat. armis autem ac viribus tantus est, ut unus omnibus fere Principibus par esse possit; cum Persarum ac Moschouitarum copias extra fines imperii longe repellat.“ Es ist daran zu erinnern, dass sowohl Bodins Abhandlung als auch Neusers Brief vor der Schlacht von Lepanto 1571 geschrieben worden sind. Vgl. zu Bodin Seifert 1990, 65‒ 69. David Pareus, Theologe an der Heidelberger Universität, hat in den 1580er Jahren in einem lange ungedruckt gebliebenen Text angemerkt, „daß bei Daniel zwar viel vom römischen, aber anscheinend nicht vom türkischen Reich die Rede sei, was doch verwundern müsse. Man hört hier die Stimme des (ungenannten) Bodin und bemerkt andererseits den Erklärungsrest, den Calvins Umbesetzung des Kleinen Horns für eine gesamtgeschichtliche Daniel-Auslegung übrig ließ. Wenn dies wirklich eine gesamtgeschichtliche Prophetie war, und wenn die Türken nicht durch das Kleine Horn bezeichnet wurden, dann mußten sie hinter einer anderen Figur gesucht werden. War es nicht denkbar, daß der herabfallende Stein, der die Statue zertrümmerte, nicht Christus symbolisierte, sondern eben das Türkenreich, das aus kleinen Anfängen zu einem die ganze Welt ausfüllenden Berg angeschwollen war?“ (Seifert 1990, 58). Pareus 1647, 230 ff. Zu Pareus vgl. auch Hotson 2000. Das erst um 500 entstandene sogenannte Athanasianische Glaubensbekenntnis ist von einer Reihe von Humanisten und Antitrinitariern als unauthentisch angezweifelt worden; vgl. etwa Castellio 1981; Gentile 1844. Zu dieser Debatte vgl. unten Anm. 72.
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den armen Mann so hefftig, daß er öffentlich Ew. Majestät [also des Sultans] Zukunfft begehret, damit Ew. Majestät das teutsche Reich besiegen, und den Armen erledigen thue, ietzt hört man daß männiglich bey ihnen klagt, alles was ihre Pfaffen insgemein sagen, sey ungewiß und erlogen.“15 Das sind skeptische, antiklerikale und sozialrevolutionäre Töne angesichts der Diagnose einer völligen Zerstrittenheit unter den zeitgenössischen Theologen.16 Wir sehen: Um Neusers Motivation wirklich zu erhellen, ist es nötig, auf die Einzelheiten des Briefes an den Sultan einzugehen – alles hängt an ihm. Doch gerade dieser Brief ist ein Mysterium. Man kannte bisher nur eine deutsche Übersetzung, obwohl er ursprünglich auf Latein geschrieben war. Diese deutsche Fassung wurde von Jakob Beyrlin in seinen Antiquitates Palatinae mitgeteilt, einem Text aus dem frühen 17. Jahrhundert, der aber erst 1701 von Ludwig Christian Mieg gedruckt wurde.17 Nun ist es freilich keineswegs gesichert, ob der dort mitgeteilte Text wirklich authentisch ist. Denn das Original ist niemals gefunden worden, seit über vierhundert Jahren hat es niemand gesehen. Lessing war der erste, der daran zweifelte, dass alles in dem deutschen Text den ursprünglichen Worten Neusers entspräche.18 Einiges könnte aufgebauscht worden sein, um die harte Strafe an Neusers Freund Sylvanus, der geköpft wurde, zu rechtfertigen.19
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Neuser an Selim II., bei Struve 1721, 233. Mit dieser Passage kommt Neuser in die Nähe von Widerstandsvorstellungen. Zu solchen Theorien im 16. Jahrhundert vgl. Schorn-Schütte 2004; von Friedeburg 2000. Vgl. Neusers Bericht an Gerlach in dessen Tagebuch, Gerlach 1674, 67: Die Heidelberger Theologen seien alle uneins: Olevian, Ursinus und Erastus; zur Einführung der Kirchenzucht; ein Dorfpastor bei Heidelberg habe sich gegen die Abendmahlspraktik gewandt, die aber vom Kurfürst durchgesetzt worden sei. Beyrlin 1701. Ein Nachdruck des Textes erfolgte in Struve 1721. Rott (1910–1911), 12 f., druckt Passagen aus den Annales Univers. X des Heidelberger Universitätsarchivs I.3 ab (fol. 177–181 von 1575, zum Erastus-Prozess), wo sowohl lateinisch aus dem Brief Neusers an Selim zitiert wird („Conscripsi proprium librum ex ipso evangelio, quo probo et convinco, Christum nunquam docuisse, quod ipsemet sit Deus, sicut Christiani falso gloriantur, quem librum mecum habeo et T. Majestati offero etc.“) als auch aus dem – heute verschollenen – Verhörprotokoll des NeuserVerhörs („Cum autem Adamus in secunda parte protocolli pagina 20 coram S.C. dixerit se librum hunc annum ante in musaeo suo D. Erasto praelegisse et D. Erastum petiisse, ut librum sibi traderet, se ponderare eum velle, cum novum ipsius hypocaustum extructum fuerit, Erastus autem hoc quidem negaverit, fassus attamen sit Adamum domi suae ex libro quinque argumenta contra divinitatem Christi sibi praelegisse, inter quae fuse explicuit secundum caput ad Philippenses, cuius Adamus ipse quoque meminit, quae tamen argumenta Erastus se statim refutasse ait. Ex hac collatione literarum Adami et facti D. Erasti S.C. justam habuit causam de hac re tota diligentius inquirendi.“) Lessing (1773–1774) 1989, Kommentar: 789–841; Lessings Aufsatz ist 1773/1774 entstanden und wurde von ihm 1774 im Dritten Beitrag von „Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel“ gedruckt. Zu Sylvanus vgl. Rott 1910/1911; Horn 1913, sowie bibliographisch Burchill 1989.
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Nun aber ist der lateinische Text aufgetaucht. Er liegt in der Forschungsbibliothek Gotha. Daniel Gehrt hat ihn bei Katalogisierungsarbeiten an einem Briefkonvolut von Stephan Gerlach gefunden, einem Gesandtschaftsprediger, der Neuser in Konstantinopel kennengelernt hatte.20 Und es zeigt sich, dass die authentische, mit Neusers Hand geschriebene Gothaer Version nicht identisch ist mit der bisher bekannten deutschen Fassung. Diese fängt so an: „Ich Adam Neuser, ein gebohrner Christ in Teutschland, und verordneter Lehrer und Prediger des gemeinen Volcks zu Heydelberg, (an welchem Ort jetztmahls die Gelehrtesten des ganzen teutschen Landes sich unterhalten) fliehe zu Seiner Majestät gantz unterthänigst, um Gottes und eures Propheten willen (über welchen sey der Friede GOttes), bittend, Seine Majestät wolle mich in die Zahl der Gott-Gläubigen eures Volcks, und für einen Unterthanen aufnehmen.“21 Die Gothaer Version aber, übersetzt man sie aus dem Lateinischen, beginnt so: ‚Ich, Adam Neuser, Heidelbergischer Prediger und zum Doktor promoviert in der Universität Heidelberg beim pfälzischen Fürsten, der den zweiten Rang im Reich nach dem Kaiser hat, habe die prophetischen und apostolischen Schriften gelesen, mit den besten Interpretationen aller alten Kirchenväter und modernen Ausleger. Durch Beiwohnung des allmächtigen Gottes habe ich gesehen, daß alle Christen in ihrer Idolatrie verfangen sind, daß sie selbst nicht richtig über die Grundsätze ihrer Religion urteilen, ja der Religion überhaupt.‘22 Es handelt sich also um einen ganz anderen Text, 20
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Konvolut Neuser, fol. 351r‒ 252v. Daniel Gehrt hat in einem von der DFG geförderten Projekt die Reformationshandschriften der Forschungsbibliothek Gotha (Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha) katalogisiert. Die Briefe befinden sich innerhalb einer Gruppe von anderen Dokumenten Neusers (340r‒ 343v zwei Briefe von Adam Neusers Sohn Adam d. J. an Neuser; 345r‒ 346v Brief von Caspar Baumann an Neuser; 347r theologische Argumente gegen die Trinität; 347v Fragmente des Verhörprotokolls (dazu weiter unten); 348r‒ 348v theologische Argumente gegen die Trinität (eventuell Teile des Verhörprotokolls); 349r autobiographische Fragmente; 350r Fragmente des Verhörprotokolls; 350v Notizen und autobiographische Fragmente; 351r‒ 351v Brief an Sultan Selim II., mit zahlreichen Marginalien zum Teil in Geheimschrift (dazu s. unten), Fassung B; 352r‒ 352v Brief an Sultan Selim II., Fassung A (kürzer), mit zusätzlichen Notizen auf fol. 352v unten; 353r‒ 353v Fragmente des Verhörprotokolls; man sieht, die Seiten sind ziemlich ungeordnet und nur kleine Teile eines ursprünglichen Konvoluts). Diese NeuserDokumente wiederum befinden sich innerhalb eines ganzen Bandes von Briefen an Stephan Gerlach, den lutherischen Gesandtschaftsprediger in Konstantinopel, der mit Neuser in Kontakt war und Tagebuchaufzeichnungen von seinem Aufenthalt führte. Gerlach (oder ein Nachlaßverwalter) hat offenbar diese alphabetisch nach Korrespondenzpartnern geordnete Sammlung angelegt. Es ist davon auszugehen, dass Gerlach nach Neusers Tod dessen Papiere (oder einen Teil davon) an sich genommen hat; so sind sie zwischen seinen Briefwechsel gelangt. Es ist erstaunlich, dass die beiden Fassungen des Briefes an Selim nicht vorher entdeckt worden sind, denn sowohl Rott 1910/1911 (vgl. dort etwa 257 f., Anm. 3) als auch Theodor Wotschke (vgl. unten Anm. 68) haben den Gothaer Band benutzt und sind auf die Briefe des Neuser-Sohns aufmerksam geworden; Wotschke hat sogar einen von ihnen ediert. ‒ Zu Gerlach vgl. Kriebel 1958; Wendebourg 1986. Neuser an Selim II., bei Struve 1721, 229. Konvolut Neuser, fol. 351v (Fassung B) bzw. 352r (Fassung A): „Ego Adamus Neuser Contionator Heijdelbergensis & in doctorem promotus, in Vniuersitate Heijdelbergensi apud palatinum
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der nur gelegentlich mit der bisher bekannten Version übereinstimmt. Zwei Fassungen des lateinischen Textes sind im Gothaer Konvolut unmittelbar hintereinander gebunden, beides Autographen;23 sie unterscheiden sich nur unwesentlich. Gegenüber der deutschen Übersetzung sind sie etwas kürzer, enthalten zwar grob gesehen dieselben Argumente, doch in anderer Reihenfolge und nur gelegentlich im Wortlaut übereinstimmend.24 Wie lässt sich das erklären? Woher die Differenz zwischen dem aus der deutschen Übersetzung bekannten Brieftext und der nun gefundenen lateinischen Version? Meine These: Die lateinische Version ist nicht derjenige Text, der in Neusers Haus konfisziert wurde und dann in die Hände des Kurfürsten gelangte. Dieser Originaltext ist möglicherweise für immer verschwunden. Nein, die Gothaer Version ist der Versuch Neusers, den Wortlaut seines Briefes aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Wie anders sollte es auch möglich sein, dass Stephan Gerlach diese Blätter aus dem Besitz des toten Neuser erhalten hat? Neuser konnte ja unmöglich von seinem Exil in Konstantinopel aus an das im Heidelberger Schloss verwahrte Dokument gekommen sein. Und dass Gerlach bei seinen Nachforschungen über Neuser nach seiner Rückkehr aus Konstantinopel 1578 die Heidelberger Behörden hat dazu bewegen können, ihm den Originalbrief auszuhändigen, ist äußerst unwahrscheinlich. In diesem Falle müsste der Text, welcher der deutschen Übersetzung zugrundeliegt, gefälscht oder erfunden
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PRincipem qui secundum post Caesarem locum habet in imperio habet, Summo cum studio & diligentia legi scripta prophetica & Apostolica, Sepositis omnium patrum Veterum & modernorum interpretationibus, immorato Dei maximi, vidi christianos omnes in sua idololatria haerere, ipsos non recte sentire de suis capitibus religionis imo de tota religione.“ Dass es sich um Autographen handelt, ist aufgrund der vielen Annotationen und Änderungen im Text offensichtlich. Zudem ist auf fol. 352v von alter Hand (Gerlach?) vermerkt: „Manus Neuseri“. Letztgültige Bestätigung kann ein Abgleich mit anderen handschriftlichen Zeugnissen Neusers bringen. Der Brief Neusers an Caspar Baumann in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Cod. Guelph. 32 I B Extrav.22/248-61, ist allerdings nur eine Abschrift. Daher ist – bestätigend – der Abgleich mit dem von Müller 2005, 220, aufgefundenen Brief von Neuser an den Krakauer Apotheker Simon vorgenommen worden: Wien, Staatsarchiv: HHStA, Polonica 84, fol. 114r. Vgl. etwa Konvolut Neuser, fol. 352r (Fassung A) bzw. 351v (Fassung B): „Legi enim & cognoui ipsum in suo Alcurano ex omni parte & in omnibus religionis capitibus ipsum [B : nicht ipsum] mecum sentire. Ex quod [B: Quod autem] Christianismum et Alcuranum unum et idem sunt et quasi non dissentiant. [B: ex ipso sancto Alcurano probatur.] Nam ita scribit Alcuranus. [B: Nam Azora dicitur:]. [Danach folgt ein längerer Abschnitt in B, der in A nicht vorhanden ist: Moysi ceterisque prophetis postea libro tradito, Christo similiter Mariae filio, cui propter divinum auxilium atque testimonium eximi. Hoc Azora. Tu erga fidem praedicatoris illis praedica, penitus persuaderis, ut libris tibj diuiniter iussis, Abrahamque & ismaeli, & isai & iacob & tribubui, legibusque moijsi & christi, caeterorumque prophetarum, nullis & te segreguis firmam fidej adhibeat, Creatorem adorantes. (…)].“ Welche der Fassungen früher anzusetzen ist, bleibt unsicher; da Fassung A kürzer ist, kann sie früher sein. Für einen Datierungsversuch der Fassungen vgl. unten Anm. 69.
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sein, was auch aus textlichen Gründen unplausibel ist.25 Vielmehr scheint Neuser auf seiner langen Flucht das Bedürfnis gehabt zu haben, sich den Brief, der die Grundlage seiner ganzen Kalamität war, möglichst genau zu vergegenwärtigen. Soweit das, was ich an Argumenten in aller Eile aufgreifen kann („possum arripere“), notiert er sich hinter seine Rekonstruktion.26 Und es spricht für meine Hypothese noch ein anderer Umstand. Die beiden lateinischen Fassungen des Sultan-Briefes sind nicht die einzigen Blätter, die von Neuser im Gothaer Konvolut enthalten sind. Zum einen gab es offenbar noch eine dritte Version des Sultan-Briefes, ebenfalls aus den Papieren von Gerlach, von denen ein einzelnes Blatt im 19. Jahrhundert in den Besitz des Ulmer Gymnasialprofessors Georg Veesenmeyer gekommen ist.27 Zum anderen werden die Briefe im Gothaer Bestand umrahmt von einigen weiteren Blättern Neusers, auf denen dieser sowohl Einzelheiten seines Verhörs in Heidelberg und der Argumente darstellt, die er damals vorgebracht hat,28 als 25
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Die Übersetzung entspricht inhaltlich dem, was wir auch aus anderen Quellen als Ansichten Neusers kennen. Gegen eine Verfälschung spricht auch der Umstand, dass jener Satz, den wir aus dem Erastus-Prozeß auf Lateinisch zitiert kennen – und es ist kaum anzunehmen, dass er aus der deutschen Übersetzung rückübersetzt wurde ‒ (Rott 1910–1911, 12 f., vgl. oben Anm. 17: „Conscripsi proprium librum ex ipso evangelio, quo probo et convinco, Christum nunquam docuisse, quod ipsemet sit deus, sicut Christiani falso gloriantur, quem librum mecum habeo et T. Majestati offero.“) genau mit der deutschen Fassung übereinstimmt (Struve 1721, 231: „hab darüber ein besonder Buch aus dem Evangelio geschrieben, darinnen ich beweiß und darthue: Christi Lehr nie dahin gestanden, daß er selbst ein Gott sey, wie die Christen fälschlich rühmen, [sondern, daß nur ein einiger Gott sey, und der keinen Sohn habe, der mit ihme gleichen Wesens sey]. Welches Ew. Majest. hiemit überreichen thue […].“). Konvolut Neuser, fol. 352v – wobei hier die Transkription (und daher auch die Bedeutung) unsicher ist. Aus dieser Version existiert der Schlussabschnitt: „Non venio ut fur, non venio ut latro, non coactus ut dixi: Ego certe quae ad Regni tui auctionem pertinent nihil non facio, postponam enim liberos uxorem parentes ipse. Praecor ergo ut me cum uxore et liberis clementer suscipias et defendas. Datum et scriptum Anno domini 70 in Martio.“ Beziehungsweise die Ulmer Fassung: Veesenmeyer 1829, hier 554. Das Blatt enthält ebenso wie die Gothaer Blätter hingeworfene Sätze und Notizen Neusers am Rand und neben dem Sultan-Brief. Möglicherweise liegt hier auch keine dritte Version vor, sondern der fehlende Schlussabschnitt von der Gothaer Fassung B. Veesenmeyer 1829, 553 über seinen Text: „In einem Bande, welcher lauter Originalbriefe von Theologen der zweiten Hälfte des sechzehnten, und der ersten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts enthält, und welchen ich besitze […].“ Zum Verbleib dieses Bandes wäre der Nachlass Veesenmeyers im Ulmer Stadtarchiv zu durchsuchen: Bestand H.b.16. Veesenmeyer hat seinen Band möglicherweise auch – über Umwege – aus dem Nachlass von Gerlach erhalten. Gerlachs Papiere waren der Universitätsbibliothek Tübingen zum Kauf angeboten worden, die aber nur einige griechische Handschriften daraus erwarb. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Konvolute heute sowohl in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel als auch in der Forschungsbibliothek Gotha sind – und auch im Stadtarchiv Ulm; vgl. Veesenmeyer 1829, 558. Konvolut Neuser, fol. 347v, 350r, 353r‒ 353v (vgl. auch Anm. 20). Näheres dazu in Mulsow (im Druck). Das echte Verhörprotokoll scheint verloren. Für ein Zitat daraus vgl. Anm. 17. Vgl. für einen Bezug auch Struve 1721, 221.
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auch seine Gründe für die Ablehnung der Trinität als solche anführt.29 So wie die Briefversion eine Nachschrift aus dem Gedächtnis ist, so hat Neuser auch das Verhör, dem er unterzogen wurde, aus dem Gedächtnis rekonstruiert.30 Er stellt es regelrecht mit verteilten Rollen dar, ganz ähnlich, wie man es aus den von Hans Rott 1911 veröffentlichten Abschriften der kurpfälzischen Kirchenratsprotokolle kennt (die offiziellen Neuser-Protokolle sind nicht überliefert).31 Im Verhör ging es hart her. Vor allem wollte man Namen von Komplizen wissen.32 Zugegen war neben dem Fürsten Wencel Zuleger, geheimer Rat und Konsistorialpräsident in Heidelberg. Zuleger war ein Parteigänger Kaspar Olevians, also von der orthodoxen Seite der Befürworter strenger Kirchenzucht.33 „Wer ist der gleichen Meinung wie Du“, wer sind Deine Gefährten,34 „was für Bücher hast Du geschrieben und welches sind diese Bücher?“,35 fragt der Fürst.36 Neuser zögert. „Wenn Du nichts 29 30
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Konvolut Neuser, fol. 347r, 348r‒ 348v (vgl. Anm. 20). Es ist freilich auch die – nicht sehr wahrscheinliche – Möglichkeit zu erwägen, dass sich Neuser durch seine Kontaktleute in Heidelberg eine Abschrift des Protokolls hat besorgen können. Dies würde die Akkuratheit der Wiedergabe und den Umstand erklären, dass Neuser von sich auch als Rolle („AD [Adam]“) spricht. Dann allerdings müsste auch weiter erwogen werden, ob Neuser sich auch eine Abschrift seines Sultan-Briefes hat besorgen können. Welchen Sinn würden dann aber die verschiedenen Versionen des Briefes in unserem Konvolut machen? Warum wäre dort nicht der komplette und wesentlich längere Text vorhanden, der offenbar der deutschen Übersetzung des Briefes zugrunde lag? Eine Möglichkeit, die Ähnlichkeit von Neusers Aufzeichnung des Protokolls mit realen Kirchenratsprotokollen zu erklären, bestünde darin, dass man ihm im Gefängnis die Protokolle seines Verhörs zur Ansicht gegeben hatte, die er nun aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren bemüht ist. Rott 1910–1911, 21–52. Die Protokollabschriften stammen aus dem Wundtschen Nachlaß (Friedrich Peter Wundt 1745–1808) der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, Ms. 555: „Extractus Kirchenrats-Protokolle Joh. Sylvanum und Adamum Neuserum, Vehe und Suter betr.“ Für Zitate vgl. Mulsow (im Druck). Nicht hingegen wollte man sich auf theologische Diskussionen einlassen. Vgl. die Notizen auf dem Veesenmeyer-Blatt 1829, 556: „Cud heid. (heidelbergae) nihil sit actum de isto negotio! Saltem interrogatus […] an meum sit scriptum. […] Princeps audientiam dare nolebat, etiamsi saepissime a me interpellatus.“ Zu Zuleger vgl. Horn 1913; Mühling 2008. Konvolut Neuser, fol. 353r: „quis tecum sentiat“. Im Brief an den Sultan hatte Neuser gesagt, er wolle dem Sultan mündlich mitteilen, wer in Heidelberg alles auf seiner Seite stehe. Im Verhör hat Neuser dann den Namen Sylvans preisgegeben. Vgl. Struve 1721, 221, der die Acta wiedergibt, die wiederum auf Seite 11 des Verhörprotokolls Bezug nahmen: „Darzu gehöret auch, daß Adamus befragt, von seiner Supplication an den Türcken geschrieben, wer diejenige seyen, die er schreibet, daß er den Türcken mit lebendiger Stimme nennen wolle [vgl. die Passage aus den Annales Universitatis zum Erastus-Prozess bei Rott 1910–1911, 12: „quod Turcae viva voce coram se nominare velle promittit.“], hat er Churft. Gn. Genennet den Sylvanum, wie da stehet in der Verzeichnis der Handlung, so mit ihm gepflogen. P.11.“ Konvolut Neuser, fol. 353r: „quales libros scripseris et quae sunt libris istos?“ Die Frage bezieht sich nicht zuletzt auf die Passage im Brief an den Sultan, er habe ein Buch verfasst: „hab darüber ein besonder Buch aus dem Evangelio geschrieben, darinnen ich beweiß und darthue […].“ Vgl. Anm. 46 und 47.
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[sagen] willst, dann komm her und schau, wer dies hier geschrieben hat und wessen Handschrift es ist!“37 Der Fürst nötigt Neuser mit größtem Ärger („maximo stomacho“),38 einige Briefe anzusehen, die Zuleger herbeischafft. Er konfrontiert Neuser mit dem Inhalt. Dennoch wehrt dieser sich gegen die Anschuldigungen. Nachdem das Vormittagsverhör nicht viel erbracht hat, wird eine Mittagspause eingelegt,39 und dann kommen erneut die Fragen nach den Komplizen, den Briefen und den Büchern. Wenn wir heute nach den Gelehrtennetzwerken fragen, dann begeben wir uns unwillentlich in die Position der Verhörenden, von Zuleger und Olevian, und wollen ebenfalls wissen, mit wem Neuser vertrauten Umgang hatte und welche Argumente er mit ihnen austauschte. Das interessiert umso dringlicher, als sich im Gerlach-Konvolut neben den Verhör-Fragmenten auch noch einige Seiten Neusers mit theologischer Argumentation gegen die Trinität finden, oft historisch argumentiert und zum Teil auch recht scholastisch vorgetragen.40 Die Blätter enthalten Marginalien von fremder Hand, vielleicht von Gerlach oder von dessen Kollegen Martin Crusius, der Gerlachs Papiere nach dessen Rückkehr in Händen hatte.41 Alles zusammen scheint es sich bei den sehr unvollständig erhaltenen Texten um Materialien für eine autobiographisch gehaltene Rechtfertigungsschrift zu handeln. Auch das Blatt aus dem Besitz Veesenmeyers enthält entsprechende Notizen.42 Man weiß, dass Neuser sich während seiner Siebenbürger Zeit rechtfertigen und den üppig ins Kraut schießenden Spekulationen und Denun36 37 38 39
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Der Text gibt die Personen des Verhörs in Abkürzungen wieder. „PR“ ist der Princeps, „AD“ ist Adam Neuser, „Zul“ ist Zuleger. Konvolut Neuser, fol. 353r: „si non vis [einige Worte unklar], accede et vide quis ista scripserit et cuius hac sit manus.“ Konvolut Neuser, fol. 353r. Konvolut Neuser, fol. 353v: „post meridiem“. Vgl. auch Struve 1721, 221, aus den Acta zitierend, die sich auf Seite 13 des Protokolls berufen: „Ja auch da Eu. Churft. Gn. den Adamo, weil bis nach dem Essen gegeben, sich zu bedenken, welche seine Mitgenossen seynd, ist er nach dem Morgen Essen abermahl befragt worden, und abermahl geantwortet, daß er den Sylvanum den Türcken wolle nennen.“ Vgl. etwa Konvolut Neuser, fol. 347r: „Nam si tempore Christi Judaej non crediderunt Trinitatem (sicut certum est ipsos non credidisse) statim oritur quaestio an Ergo in suo templo jerosolymitano initum deum coluint an non tempore Christi. Vos dicitis judaeos in hodiernum diem falsum colere deum & idolum loco ueri dei subire. Eo quod non credant deum esse TRinitatem seu TRinum, Sed iudaei tempore Christi non crediderunt TRinitatem. Ergo iudaei tempore Christi coluunt idolum. Quod autem iudaei non crediderunt TRinitatem claret ex philone judaeo qui tempore Apostolorum vixit.“ Ich danke Asaph Ben-Tov für die Transkription dieser Passagen. Zur Zusammenarbeit von Gerlach und Crusius vgl. Wendebourg 1986. Vgl. Veesenmeyer 1910, 556‒ 558. Einige der Notizen beziehen sich auch auf das Verhör („Cur heid.[elbergae] nihil sit actum de isto negotio! Saltem interrogatus […] an meum est scriptum.“ Weiter: „Papyrus et atramentum non dabatur, neque scriptum afferebatur.“ „Princeps audientiam dare nolebat, etiamsi saepissime a me interpellatus.“ Weiter: „Quod litteras istas non scidi, causa fuit, quia locos alios suo (vielleicht für: summo?) labore acquisieram, et non descripseram, qui de consensu Christi et alcorani loquuntur, alias hoc scriptum apud me in nulla fuit recordatione.“
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ziationen über seine Flucht mit einer Apologie begegnen wollte. Ferenc Dávid, der ungarische Antitrinitarier und Freund, riet ihm dringend dazu.43 Die Apologie hat offenbar die Form einer Mischung aus Dokumentation (insbesondere des Sultanbriefes),44 Bericht über seine Reisen und theologischem Traktat angenommen. An dieser Stelle können wir nun daher genauer sehen, welche Rolle Gelehrtennetzwerke bei Neusers Heterodoxie eingenommen haben. Das war zweifach der Fall. In erster Instanz hat Neuser ganz zu Beginn, als ihm mehr und mehr Zweifel an der Trinität kamen, sich bei befreundeten Gelehrten in Heidelberg und Umgebung rückversichert. Hier spielen die Netzwerke vertrauter gelehrter Gesprächspartner ganz offenbar die Rolle, ein gewisses Maß an dogmatischer Abweichung auffangen zu können, in der Diskussion von „dubia“ bezüglich der Trinität. Neuser hat sich in Heidelberg, in das polnische Studenten antitrinitarische Bücher brachten, um sie widerlegen zu lassen,45 ein kleines Heft zusammengeschrieben, in das er alle Argumente 43
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Vgl. Pirnát 1961, 123: „Die Nachricht von seinem [Neusers] Aufenthalt in Siebenbürgen gelangte im übrigen auch nach seiner Heimat. Der damals eben in Heidelberg studierende Michael Paksi schreibt, daß er sich mit fertigen Plänen an die Pfälzer Behörden wandte, wie man Neuser ergreifen könnte. In dieser Lage beschloß Neuser auf den Rat Franz Davids, sich gegen die Beschuldigungen in einer gedruckten Streitschrift zu verteidigen.“ Nach Neuser an Baumann (in Lessing [1773– 1774] 1989), 64: „Solches und dergleichen hielt ich dem Superindenten, dem Francisco Davidts zu Clausenburg vor, der beschlagte sich im Rathe, wohin ich doch mit andern etwa zween Monate ziehen möchte, da ich sicher und ohne alle Sorge wäre, bis daß man eigentlich möchte inne werden, ob mir eine Gefährlichkeit in Siebenbürgen würde zustehen oder nicht; wurde derohalben für gut angesehen, daß ich mit einem öffentlichen Druck diese Calumnien, so mir von den Heydelbergischen aufgelegt, entschüttet und meine Unschuld an Tag gäbe.“ Die theologischen Notizen Konvolut Neuser, fol. 349r, zeigen, dass die Rechtfertigung nicht nur gegen Heidelberg ging, sondern sich auch auf das Zerwürfnis mit der Gemeinde in Klausenburg bezog. Vgl. den Beginn: „Etiamsi discessus meus ---uiandi occasionem multas praebere possit bonas causas iustas & sufficientes cur locum mutem exponam. 1) Primum --- conditione princeps concionali munus c--poli mihi concessit ne quid noui doceam, inter istas cum nouitates autem numeratur articulus de mortalitate animae, quam ego uero imortalitatem animae figmentum poetarum [&] philosophorum & papae esse assero. Quod autem articulus iste in numero Nouitatis –eatur testatur exemplum fratris Nicolai qui propter hunc solum articulum – ergoriicitur &exulere cogitur. Et praedictus Nicolaus non propter formam loquendi de hac re, sed propter ipsam rem reijcitur. Nam si Nam si immortalitatem animae ----- decaderetur. loco suo restitueretur. et de forma loquendi non vexor et[iam] Ergo meque.“ Diese und die folgenden Passagen machen es möglich, neues Licht auf Neusers Verhältnis zu den Siebenbürger Antitrinitariern zu werfen und werden von mir in einer gesonderten Arbeit untersucht werden. Zu David vgl. Balázs 1996 und Balázs 2008. Den Brief versuchte Neuser offenbar vor allem deshalb zu rekonstruieren, weil seine Gegner immer wieder Teile aus ihm zitierten, ohne den Zusammenhang deutlich zu machen. Daher schreibt Neuser an Baumann (Lessing [1773–1774] 1989, 72 f.): „Wollen nun meine Widersacher auf dem Buchstaben beruhen dieses vielgemeldten Briefes, so sollen sie ihn ganz lesen, so sollen sie nichts außen lassen.“ Vgl. Horn 1913, 256‒ 263. Zentral war vor allem Johannes Lasicki, der 1569 nach Heidelberg gekommen war. Auch Sylvanus bat er um Widerlegung der Bücher von Giorgio Biandrata und Adam Pastor sowie seiner Nachfolger. Sylvanus machte sich gleich an die Arbeit, stellte aber
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eintrug, die Zweifel an der Präsenz der Trinitätslehre im Neuen Testament formulierten. Dieses Heft – das er sogar im Brief an den Sultan erwähnt46 – las er einigen Freunden vor, unter anderem Thomas Erastus.47 Er sagte ihnen aber nicht, dass das Geschriebene von ihm selbst stammte. Erastus war der Anführer der Zwinglianer gegen die Calvinund Beza-Anhänger in Heidelberg, und insofern eine zentrale Autorität für Neuser.48 Auch das Tagebuch, das Gerlach später in Konstantinopel führte, verrät mit einer Eintragung über Neusers Aussagen die enge Vertrautheit Neusers mit Erastus. Denn es heißt dort über Neuser: „Niemand hab ihn dazu verleitet / sondern ihm Ursache gegeben Irenaeus, und Tertulianus, welches er niemand als seinem allervertrautesten / liebsten Freund / der vielleicht Sylvanus gewesen (ERASTO suo intimo) geoffenbahret.“49 Stephan Gerlach hat bei dieser Stelle offenbar eingegriffen und das „der vielleicht Sylvanus gewesen“ hinzugesetzt, falls er nämlich das Gespräch auf Latein geführt hat und die Vermutung hegte, „Erasto“ meine den „lieben“ Sylvanus. Aber er hat sich getäuscht.50 Neuser hat bei der Formulierung „Erasto meo intimo“ nicht ein griechisches Wort benutzt, um auf einen lieben Freund anzuspielen, sondern „Erastus“ ist ein Eigenname und bezeichnet niemand anderen als Thomas Erastus alias Thomas Lieber. Die auf der Flucht skizzierte Apologie zeigt in ihren erhaltenen Fragmenten sehr gut die Argumente, um die es damals in den Gesprächen ging. Vor allem der Johannesprolog steht natürlich im Mittelpunkt. Aber diese Passagen über den logos, so Neuser, können ‚nicht als den Sohn betreffend verstanden werden. Denn der Hebräerbrief sagt, daß Gott vorher und vor der Geburt seines Sohnes Jesus Christus nichts durch seinen Sohn, sondern nur durch die Propheten sprach.‘51 So lässt Neuser andere Bibelstellen
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ebenso wie Neuser fest, dass sich keine überzeugenden trinitarischen Stellen in der Bibel finden ließen. Vgl. Anm. 35. Vgl. das Erastus-Protokoll bei Rott 1910–1911, 13, sowie die Notiz auf dem Veesenmeyer-Blatt 1829, 557: „Argumenta et locos istos Arrianorum, quos solvere non potui, conscripsi, ac si ab Arrianis quibusdam in Polonia aut in Transsylvania scripti et huc missi [essent], et volui petere solutionem hoc pacto a doctis, ne olfacere possent, me horum esse autorem.“ Zu Erastus vgl. Wesel-Roth 1954; Hermann 1955; Broer 2006, sowie jetzt Gunnoe 2011. Gerlach 1674, 35. Oder, falls das Gerlach-Tagebuch vom Enkel Samuel Gerlach ins Deutsche übersetzt worden ist, bevor es von ihm 1674 herausgegeben wurde (worauf es aber keinen Hinweis gibt), läge der Fehler beim Enkel. Konvolut Neuser, fol. 348v: „Sed nos dicimus quod deus in veteri testamento nihil hominibus sit per filium Christum iste enim nondum extitit, ergo hoc caput de filio non potest intelligi: Nam Epistola ad Hebraeos dicit quod Deus antea anteqe filius eius jesus Chri[stus] natus est, - nihil per filium ipsum christum sed tantum per prophetas sit locutus.“ Vgl. Hebr 1, 1– 2. Neuser fährt fort: „sed ERgo si hoc uerbum, de filio intelligitur tum non potest in intelligi de tempore quod christi natiuitatem antecessit, sed post christum natum. Puerilis est obiectio distinctio ipsorum cum dicunt, pistolam hominis saltem excludere humanitatem filij. Nam secundum du-t-tum Dominum locutum esse per filium sed. ego enim quaero quid sit hoc? Deus olim multis modis locutus est patribus imo per
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gegen die trinitarischen Interpretationen sprechen, nicht nur im Neuen, sondern auch im Alten Testament; dabei trennt er strikt Altes und Neues Testament voneinander und will von keinen Rückbeziehungen vom Neuen auf das Alte Testament wissen. All das ließ sich mit Erastus, mit Sylvanus, mit Vehe diskutieren. Doch diese – wenigen – Heidelberger Gelehrtenkontakte innerhalb der Anti-Disziplinisten zeigen nur die eine Seite. In zweiter Instanz, als Neuser schon auf der Flucht war, sind es nicht mehr stabile lokale Netzwerke, sondern fluktuierende schwache Netze von wandernden, exilierten Gelehrten, die Neuser temporären Halt und temporären Schutz boten. Oft waren die Männer, die Neuser auf seinen Wanderungen in Polen und Ungarn traf – Männer wie Johannes Sommer, Ferenc Dávid und Jakob Palaeologus – nicht viel gesicherter als er selbst.52 Allerdings war es hier nun möglich, antitrinitarische Diskussionen ohne dissimulierende Abschwächungen und ohne vorsichtiges Verleugnen der eigenen Überzeugungen zu führen. In Siebenbürgen hielt sich Neuser auf, weil dort (wie sonst kaum in Europa, von einigen Teilen Polens abgesehen) der Antitrinitarismus eine akzeptierte Religion (religio recepta) war.53 Von Heidelberg aus hatte der schlecht informierte Neuser noch gedacht, er wäre sogar Staatsreligion. Nun musste er erfahren, dass es selbst in dieser Randzone des christlichen Europa noch schwierig war, den Häschern des Kaisers und des Kurfürsten zu entkommen.54 Wenn er seine Apologie drucken lassen wollte, musste er sich auf türkisch kontrolliertes Territorium wagen. Das tat Neuser dann auch, denn dort – in Simand – gab es eine fahrbare provisorische Druckerei von „Herrn Paul“ Karádi, von der er gehört hatte.55 Doch auf der Suche nach dieser Druckerei wurde er in Temesvár gefangengenommen und nach Konstantinopel abtransportiert. Auf seiner Irrfahrt, noch in Siebenbürgen oder schon im Osmanischen Reich, scheint er in ziemlicher Eile die Fragmente für die Apologie aufs Papier gebracht zu haben. Damit kann man vermuten, dass größere Teile der Materialien, die in Gotha vorhanden sind, in diesem für Neuser entscheidenden Sommer und Herbst 1572 entstanden sind. Die Vermutung lässt sich stützen durch einige Passagen, in denen Neuser sich dafür rechtfertigt, warum er von Klausenburg (Cluj) weggezogen
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prophetas, Vltimis diebus istis locutus est nobis in filio. Nam si ita dico Deus ante mille an[n]os locutus est per Mosem, post mille annos autem locutus est per filium.“ Ich danke Asaph Ben-Tov für die Transkription. Man weiß, dass Neuser in Klausenburg mit seinen Kollegen im Streit war – unter anderem – „de interpretatione primi capitis apud Joannem Evangelistam“, doch kannte man bisher nicht Neusers Argumente. Vgl. Pirnát 1961, 120 f. Dieses Manko kann nun durch diese Seiten behoben werden. Vgl. Pirnát 1961; weiter zu diesen Antitrinitariern Balázs 1996; Balázs 2004; Wilbur 1945. Vgl. die in Anm. 3 genannten Werke sowie allgemein Murdock 2000. Vgl. Pirnát 1961, 123 ff. Pirnát 1961, 124. Rechtfertigen wollte sich Neuser auch gegenüber seinen Freunden in Polen. So schreibt er am 21. März 1573 an Simon Ronemberg, dass seine Apologie hoffentlich bald gedruckt werde; zuvor schon wolle er in diesem Brief sich verteidigen. Der Brief ist publiziert in Szczucki 1988.
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sei. ‚Wenn ich den mir vom [Siebenbürger] Fürsten zugewiesenen Vorschriften treu wäre, würde ich gegen mein Gewissen handeln.‘56 In Konstantinopel angekommen, hat Neuser seine Materialien bei sich behalten und wohl weiter an ihnen gearbeitet. Zugleich machte er sich Gedanken, wie er den Vorwurf des Hochverrats abschwächen könne. Als er im April 1574 an seinen Freund Caspar Baumann in Deutschland schreibt, weist er ihn daher auf eine Marginalie hin, die er am Ende des Originalbriefes gemacht hatte und die er auch in seinem Gedächtnisprotokoll an gleicher Stelle notiert: ein „Hoc potest omitti“ („Das kann weggelassen werden“). Er erklärt Baumann, dass er sich die Klausel aus Vorsicht ausgedacht hatte, kurz nachdem er den Brief im März 1570 verfasst habe: ‚Ich gedachte bey mir selbst‚ wenn vielleicht aus sonderm Unglück deine Mißgönner diesen Brief sollten überkommen, so möchten sie dich in groß Unglücke bringen; es wird dirs keiner glauben, daß du in proposito et fine, nehmlich die Wahrheit zu erfahren, geschrieben hattest; was willst du anfangen, gedacht ich, so viel dich bemühen der Religion halben, in weite unbekannte Lande dich zu begeben? beschloß diese ganze Sache ruhen zu lassen, nichts anzuheben, und zu einem Zeugniß deß schrieb ich neben an den Brief an die Seite, ‚Hoc potest omitti‘; das ist, diß mein Vornehmen, dieser Brief, dieses Geschäft mag wohl unterlassen werden: und diß sind die letzten gewesen, die ich an diesen Brief geschrieben habe, nachdem ich ihn überlesen habe.‘57
Ob die Klausel den ganzen Brief ungültig machen sollte, halte ich für zweifelhaft. Sie war neben die letzten Zeilen gesetzt und kann lediglich den Absatz gemeint haben, in dem es – in Neusers rekonstruierter Fassung – heißt: ‚Ich komme nicht als Schurke, ich komme nicht als Bandit, ich werde wie gesagt nicht gezwungen: Ich tue nicht wenig, um zur Erhöhung Deiner Herrschaft beizutragen – ich würde nämlich meine Kinder, meine Frau und meine Eltern nachfolgen lassen. Ich bitte also darum, daß Du mich mit meiner Frau und den Kindern gnädig aufnimmst und verteidigst.‘58
Neuser wollte also die konkrete Absicht aufgeben, in das Osmanische Reich zu übersiedeln, er wollte nur noch seine Glaubensüberzeugung ausdrücken. 56
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Konvolut Neuser, fol. 349r: „Si mansero secundum conditiones a principi mihi praescriptas tum contra Conscientiam ago […].“ Neuser fährt fort: „Praestat igitur non suscipere istas conditiones quam talibus conscientiam meam enorare est“. Vgl. auch Anm. 43. Neuser an Baumann, bei Lessing (1773–1774) 1989, 72. Konvolut Neuser, fol. 352v: „Non venio ut fur, non venio ut latro, non coactus ut dixi: Ego certe quae ad Regni tui auctionem pertinent nihil non facio, postponam enim liberos uxorem parentes ipse. Praecor ergo ut me cum uxore et liberis clementer suscipias et defendas“ (neben dieser Passage steht das „Hac potest omitti“). So auch die Formulierung in der Fassung des VeesenmeyerBlattes. Vgl. Anm. 27. Die abweichende Fassung des in Deutsche übersetzten Originalbriefs (Struve 1721, 233): „Befehle mich derowegen Gott und Ew. Majest. Unterthänigst, und mache mir keinen Zweiffel, Ew. Majest. werde mich und meine Kinder, so ich mitbringen werde, williglich uffnehmen, wie der Prophet sagt im 18. Cap. Vertragt euch mit denjenigen treulich, die sich friedfertig euch untergeben. Item, im 15. Cap. Allen, so zum Glauben kommen, und unsern Gebotten folgen, zu denen sagt: Gottes Heyl sey über euch.“
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Tatsache ist aber, dass es Neuser im April 1574 offenbar noch ausreichend schien, auf die Auslassungsklausel als sein Hauptargument zur Verteidigung zu bauen59 – wie wir gesehen haben, ein recht windiges Argument. Nun gibt es aber noch die zweite Fassung des Briefes im Gothaer Material.60 Die Fassung unterscheidet sich im Text in einigen Varianten und in einem längeren Einschub über weitere Suren, der in der ersten Rekonstruktion noch fehlt. Dass diese Fassung etwas später auf der Grundlage der ersten hergestellt wurde, ist aus dem Umstand zu erschließen, dass sie umfangreicher ist und Wörter ausbuchstabiert, die in der ersten Fassung nur abgekürzt waren. Am Rand ist sie sorgfältig durchkommentiert, durchaus auch mit etwas kritischen Akzenten. So korrigiert sich Neuser in dem Satz, der darin schwelgt, dass die Lehre Mohammeds in allen Punkten mit der übereinstimme, die er für sich selbst entwickelt hatte. „Nein“, sagt Neuser am Rand, nicht in allen.61 Aber etliche dieser Kommentare sind nicht auf den ersten Blick entzifferbar. Immer wieder stechen dem Leser unsinnige Buchstabenfolgen ins Auge. Der Grund: Neuser hat eine Geheimschrift ersonnen, um seine Bemerkungen für einen ungebetenen Leser unverständlich zu machen.62 Mit Geheimschriften hatte er in seiner täglichen Arbeit am Hof Erfahrung, denn er war als Dolmetscher angestellt worden.63 Er wusste, wie man Buchstaben vertauschte und in anderer Reihenfolge einfügte. Das Schlüsselwort, das hier zu entziffern ist, ist „labudge“, richtig dekodiert „zopirus“.64 Neuser vergleicht sich mit Zopyrus, von dem Herodot berichtet hat. 59
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Vgl. auch die Bemerkung auf dem Veesenmeyer-Blatt 1829, 558: „Ergo Reipsa demonstravi, quod hoc negotium possit omitti, et omissi, et numquam in animo amplius habui, me velle repettere [sic] hoc negotium.“ Konvolut Neuser, fol. 351r‒ 351v (von mir Fassung B genannt). Konvolut Neuser, fol. 351v: „Legi enim & cognoui ipsum in suo Alcurano ex omni parte & in omnibus religionis capitibus mecum sentire. Quod autem Christianismum et Alcuranum unum et idem sunt et quasi non dissentiant.“ Am Rande steht, mit Pfeil zum „in omnibus“, (in Geheimschrift) „zaz“, was als „non“ aufzulösen ist. Hier bin ich Elke Matthes (vormals Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Handschriftenabteilung) zu großem Dank verpflichtet. Ihr ist es gelungen, die Geheimschrift zu dekodieren, indem sie den Schlüssel gefunden hat: Neuser hat eine sogenannte Caesar-Chiffre benutzt, bei der jeder Buchstabe durch den Buchstaben ersetzt wird, der eine konstante Position weiter hinten im Alphabet einnimmt. So wird in diesem Fall A durch O ersetzt, B durch P, C durch Q, D durch R usw. Vgl. Pirnát 1961, 125. Zu den Hofdolmetschern vgl. Matuz 1975; Rothman 2009; zu verschlüsselten Dokumenten: Couto 2007. Konvolut Neuser, fol. 351v. Das Wort taucht am oberen Rand der Seite auf, wo Neuser Platz gelassen hatte, bevor er mit dem Text des Briefes („Ego Adamus Neuser …“) einsetzte. Dieses obere Viertel der Seite ist größtenteils in Geheimschrift geschrieben – immer wieder mit normaler Schrift durchsetzt – und möchte den Rahmen des Briefes ins rechte Licht stellen – nämlich dass er dissimulativ geschrieben sei und nicht die wahre Intention Neusers ausdrücke. Es fallen Ausdrücke wie „Si meum propositum intelligi voluissem ab adversariis ego ipsis hoc [appositum?] hoc pacto sicut nunc facio.“ Und: „Quod ad te littere simulato animo sint scripta sequelia docere oporteret enim huc insanum esse qui ita scribere et prorsus desperatum si insanus oportet inodolare potis
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Zopyrus war ein vornehmer Perser in Diensten von König Darius, der sich selbst verstümmelte, um dadurch das Vertrauen der gegen die Perserherrschaft aufständischen Babylonier zu gewinnen. Er erzählte ihnen, er sei von Darius bestraft worden und wolle zu ihnen ins Exil gehen. Auf diese Weise wurde er bei den Babyloniern der Kommandierende der Streitkräfte, und es gelang ihm, die Armee so zu schwächen, dass Darius Babylon wieder erobern konnte.65 Neuser will also suggerieren, dass seine Konversion zum Islam und seine Übersiedlung nach Konstantinopel ein Trick gewesen sei, sich bei den Türken einzuschleichen, um von dort aus Informationen an die Christen geben zu können. So wie Zopyrus sich Nase und Ohr selbst abgeschnitten hatte, so hat sich Neuser – das möchte der Vergleich sagen – selbst der Tortur der Beschneidung unterzogen, gleichsam im Dienste der kaiserlichen Majestät.66 Warum musste Neuser diese Passagen in Geheimschrift notieren? Offenbar doch wohl, weil sonst lateinkundige Männer am Sultanshof hätten erkennen können, was er in seiner Apologie erklärte: Dass er nämlich dissimuliere und in Wirklichkeit für die christliche Seite arbeite. Als Neuser in den Jahren um 1575 als Doppelagent abgefangene Briefe der kaiserlichen Seite, die er für den Sultan entziffern sollte, heimlich den Deutschen gab, auf dass sie diese gegen unverfängliche Schreiben eintauschen konnten,67 machte es Sinn, die eigene Apologie so zu gestalten. Er betrieb die
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quam punire […].“ In Kursiv sind hier die in Geheimschrift kodierten Wörter gesetzt; freilich ist die Transkription oft unsicher, da die Passagen in winzig kleiner Schrift geschrieben sind. Erwähnt werden auch Kaspar Bekes und der Woiwode – also wird der Entstehungskontext des Briefes von 1570 gedeutet, der ja ursprünglich Bekes mitgegeben werden sollte. Vgl. Neuser an Baumann, bei Lessing (1773–1774) 1989, und Pirnát 1961, 118. Herodot: Hist. 3, 153 ff. (weitgehend legendär). Zu Zopyrus, Sohn des Megabyzos, vgl. weiter Diodor 10,19,2; Iust. 1,10,15 ff., in: Pauly 1979, 1560. Vgl. den Bericht von Stephan Gerlach vom 1.12.1573 über Neuser, abgedruckt auch in Rott 1910– 1911, hier 258: „[…] darneben auch zu verstehen gegeben, das er [Neuser] kein türck sei worden, so vil den glauben betreffe, das er sich aber beschnitten (dan ers selbst gethun, und hats uns sehen lassen), habe ihn die not darzu getrungen.“ Im Lichte der neuen Erkenntnisse über die ZopyrusSelbstinterpretation Neusers werden auch die anschließenden Sätze Gerlachs klar: „Darnach haben wir langer dan zwo stunden De filii dom. dei et mariae deitate, circumcisione und seiner verleugnung disputirt und sovil ausgericht, das er gesagt, er wölle diesem, so ich mit ihm geredt, vleißig nachdencken […].“ Vgl. Gerlach 1674, 175 ff. Vgl. etwa 176: „[11.4.] Heut hat auch Neuser meinem Herrn geschrieben / sie verhoffen / alle Brieffe von dem Bassa zu bekommen / damit / wie sie ihn nun fast beredet / sie / auß Gegeneinanderhaltung ihrer [177] aller insgesambt / einen richtigen Verstand herauß bringen mögen. Und wann er sie erhalte / woll er sie ihm zuschicken. Der Ungar sey sehr geschäfftig / die Ziffer zu erkündigen / dieweil er dadurch wohl anzukommen verhoffe. Er /der Neuser / aber / habe zu ihme gesaget: Lieber / wann schon etwas böses darinnen stünde / sollten wirs doch zum besten ausdeuten / damit wir keine Ursache des Kriegs wären. Dann wir müsten ja für so viel tausend Seelen die darüber umbkommen / Rechenschaft geben. // Den 12. ist der Ungar mit Geld gewonnen worden / dass er mit dem Neuser meinem Herrn versprochen / alle seine Brieff ihm wieder zu überschicken / da soll er sie anderst schreiben / wie er woll / allein / dass ers ihnen in eben dieser Form wieder zuschicke. Dafür mein Herr einem jeden hundert Thaler versprochen.“
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Spionage, um eine Chance auf straffreie Rückkehr in die Heimat zu erhalten, wo seine Frau wartete, aber auch deshalb, um seinen in Wien gefangengehaltenen Sohn freizubekommen. Im Gothaer Material finden sich auch zwei anrührende Briefe des Sohnes an den fernen Vater.68 Damit lässt sich die zweite Fassung der Briefrekonstruktion – zumindest das Datum der Marginalien – bestimmen: Es sind die Jahre um 1575.69 Vor einigen Jahren schon hatte eine große kaiserliche Gesandtschaft um David Ungnad in Konstantinopel Einzug gehalten, die Verhandlungen mit den Osmanen führen sollte.70 Neuser konnte sich gewisse Hoffnungen machen. Er hat sich daher für seine Dokumentation des Briefes an Sultan Selim, der Teil seiner Apologie sein sollte, einen Rahmen konstruiert, innerhalb dessen der Brief Sinn machen konnte und zugleich kein Hochverrat war. ‚Wenn ich mein Vorhaben hätte verständlich machen wollen‘, so erläutert Neuser in Geheimschrift, Zopyrus zitierend, dann hätte er es schriftlich erklären müssen.71 Aber es sei zu gefährlich gewesen, dies der Schrift anzuvertrauen, und man hätte ihm nicht geglaubt. Eine ähnliche Argumentation findet sich auch in Neusers Brief an Baumann angedeutet. Dort beteuert er, er habe in Heidelberg, als er begann, die Trinität für einen „päpstischen“ Betrug zu halten und auch von Gelehrten wie Joachim Camerarius eine historische Skepsis gegenüber dem Athanasischen Bekenntnis als Mönchsfälschung vernommen hatte,72 beschlossen, sich den „Griechen“ zuzuwenden und dort die Wahrheit zu suchen.73 Ein echtes rinascimentales „ad fontes“ bewegte ihn, und er wollte den 68
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FB Gotha, Ms. Ch. A 407, fol. 340r‒ 343v. Die Briefe sind in Wien geschrieben und datieren vom 16. Februar 1575 und 18. Mai 1575. Vgl. schon die Transkription eines Briefes bei Wotschke 1926, 99 f. Wotschke ediert den ersten (deutschsprachigen) Brief und gibt Auszüge aus dem zweiten (lateinischen) in einer Fußnote. Vgl. auch den Brief von Stephan Gerlach an Jacob Heerbrand, Konstantinopel 1.2.1577, Archives municipales de Strasbourg 180/22, fol. 178r‒ 180v, wo Gerlach nach Neusers Tod berichtet, dieser habe vor seinem Tod an einer Antwort an die Pfälzer Theologen in Bezug auf das Problem der Trinität gearbeitet. Glücklicherweise, so Gerlach, habe Neuser keinen Verleger gefunden. Vgl. Burchill 1989, 124. Zur Ungnad-Gesandtschaft vgl. Ferus 2007; weiter Wendebourg 1986; Kurz u. a. 2005. Konvolut Neuser, fol. 351v: „Si meum propositum intelligi voluissem […].“ Vgl. Anm. 64. Neuser an Baumann, in: Lessing (1773–1774) 1989, 69: „Es wollen auch etliche Gelehrte, als nehmlich der Camerarius zu Leipzig, ‚quod Symbolum Athanasii, non ab ipso Athanasio, sed potius a rancido quodam Monacho compositum sit‘.“ Vgl. Camerarius 1547, 287. In der lateinischen Ausgabe von 1563 wurde diese Passage weggelassen. Zu Camerarius vgl. Baron 1978; Kunkler 2000. Neuser an Baumann, bei Lessing (1773–1774) 1989, 69: „Solche und andere dergleichen Ursachen bewegten mich also sehr, daß ich gedacht: Siehe, die Griechen halten nicht also von der Dreyfaltigkeit wie der Pabst; nun sind aber die Griechen selbst daheim, wissen um alle Historien, der Dreyfaltigkeit halber, mehr dann der Pabst, und glauben doch nicht wie der Pabst. Derohalben, gedacht ich, must es ein Betrug des Pabstes seyn, beschloß derohalben bey mir von wegen meines Gewissens, und von wegen der Wahrheit alles zu versuchen, bis ich bey solchen Griechen […] die rechte Wahrheit erfahren hätte.“ Auch die württembergischen Kirche, von der Gerlach und Crusius kamen, hatte ja Interesse, in Kontakt mit dem griechischen Patriarchen von Konstantinopel zu
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historischen Schauplatz der frühen dogmatischen Festlegungen, Konstantinopel, aufsuchen, um dort an Ort und Stelle nach der Wahrheit zu fahnden.74 Da aber Konstantinopel jetzt türkisch war, sei die Devise gewesen, wie Paulus nach außen hin sich der Landesreligion anzupassen, um ungestört seinen Zielen nachgehen zu können.75 Nach dieser Aussage hätte Neuser nur den Islam-Überzeugten gemimt, um in Konstantinopel besser an alte Manuskripte zu kommen, die ihm hätten helfen können, die Wahrheit
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treten, um durch ein evangelisch-griechisch/orthodoxes Bündnis die Lehren der Katholiken zu unterlaufen. Insofern gab es eine gewisse Nähe zwischen Neusers Aktivitäten und denen von Stephan Gerlach. Die Wendung weg von Rom hin zu „den Griechen“ war genuin reformatorisch. Vgl. Wendebourg 1986, 19: „Nicht nur für den Primat, auch für andere Einrichtungen und Lehren der römischen Kirche wurden Gegenbeispiele aus der östlichen, vor allem der griechischen Christenheit angeführt – nicht immer zu Recht. So verbindet etwa die Apologie des Augsburgischen Bekenntnisses ihre Kritik am Abendmahlsempfang unter einer Gestalt, an den Privatmessen und an der Meßopferlehre mit dem Hinweis auf den Osten, führte man auch gegen die kanonischen Strafen, den Ablaß und die Fegefeuerlehre die Griechen an.“ Freilich bezog sich das Interesse der Württembergischen Kirche nicht darauf, die „päpstliche“ Trinitätslehre durch eine genuin „griechische“ Trinitätsskepsis zu konterkarieren. Das wollten allein die Antitrinitarier wie Neuser. Das ist wohl so zu verstehen, dass Neuser nach frühen authentischen Manuskripten suchen wollte – was er dann ja auch tat. Vgl. auch Anm. 78. In Konstantinopel und Umgebung gab es mehrere christliche Klöster, in denen man suchen konnte, wenn man Einlass bekam. Auch Gerlach machte sich bei seinem Aufenthalt auf die Suche nach alten Handschriften. Vgl. den Bericht über Gerlachs Nachlass, in dem sich neben eigenen erworbenen Handschriften auch welche von „Neuseri manum“ befunden haben („Aus den die Bibliothek betreffenden Akten und Protokollen, die sehr detailliert erschlossen sind, geht lediglich hervor, dass Gerlach noch zu Lebzeiten der Bibliothek einen Band seiner ‚Disputationes‘ offerierte; dass nach seinem Tod ältere griechische Bücher ‚Neuseri manum‘ und Acta aus dem Gerlach-Nachlass der Bibliothek angeboten und 1613 eine Zahlung für griechische Handschriften an die Erben geleistet wurde.“ Freundliche Mitteilung von Herrn Wischnath vom Universitätsarchiv Tübingen). Der weitere Gerlach-Nachlass ist durch Verkauf offenbar zerstreut worden, wie die Relikte in Wolfenbüttel (der Band, in dem Lessing seine Materialien fand), Gotha und Ulm (bei Veesenmeyer) zeigen. Vgl. Anm. 27. Die griechischen Manuskripte in der Universitätsbibliothek Tübingen, die aus dem Gerlach-Nachlaß stammen (Mb 1, Mb 2, Mb 3, Mb 4, Mb 7, sind keine unmittelbar antitrinitarisch relevanten Texte und stammen wahrscheinlich nicht aus Neusers Besitz – zumindest sind keine Lesespuren Neusers festzustellen. Es sind Texte von Gregor von Nyssa, Philippos Monotropos, Johannes von Damaskus, Ps.Athanasius von Alexandrien. Aus Gerlachs Tagebuch ist nachzuvollziehen, wo Gerlach diese Texte gekauft hat – z. B. am 18. Oktober 1578 „von des Patriarchen Notario und dessen Redners Sohn, Theodosio Zigomala“; Gerlach 1674, 29. Ich danke Wilfried Lagler für seine Hilfen bei meiner Recherche in Tübingen. Neuser an Baumann, bei Lessing (1773–1774) 1989, 69: „zum Exempel den Apostel Paulum, der in gleichen Sachen, nehmlich auf daß die Wahrheit geoffenbart werde, ist allen alles worden, den Juden ein Jude, den Heiden ein Heide, und befiehlet, man soll ihm in solchen Sachen nachfolgen.“ 1 Kor. 9, 19‒ 23; 10, 33; 11, 1. Von dieser Akkomodationsformel des Paulus hin zur Rechtfertigung eines Nikodemismus war es nur ein schmaler Grat. Vgl. z. B. diesbezüglich zum Verhalten des Erasmus und des Capito Rummel 2000, 116‒ 120.
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über den Konflikt zwischen Arius und Athanasius zu ergründen.76 Hier wie auch sonst in den apologetischen Versuchen mischt sich offensichtlich Wahres und Falsches, echte ursprüngliche Motive mit dem verzweifelten Versuch, sich als heroischer „Zopyrus“ zu rechtfertigen. Neuser hat seine Apologie nie vollendet. Der Kuhhandel mit der Kaiserlichen Delegation – Spionage gegen Rückkehr – ging nicht auf; man hat ihn ausgenutzt und dann fallengelassen.77 Neuser ist in der Fremde zum Alkoholiker geworden. In seinen aktiven Phasen aber suchte er weiterhin nach frühchristlichen Manuskripten, in denen er das ursprüngliche, noch nicht von der Trinitätstheologie bestimmte Christentum finden wollte. Antitrinitarier sind aus dieser Motivation zu Vorläufern der kritischen Bibelphilologie geworden. In Konstantinopel gab es Klöster und andere Orte, an denen man uralte Texte ergattern konnte. Einige Funde schickte Neuser an Freunde nach Polen und Siebenbürgen.78 Er schrieb fieberhaft dogmatische Überlegungen in sein Koranexemplar (‚man vergleiche meinen Koran‘, sagt er in Geheimschrift, ‚wo ich mit eigener Hand in das Buch De doctrina Mahometis [die bei Bibliander beigebundene Übersetzung der Schrift Masā’il Abdallah b. Salām] hineingeschrieben habe.‘).79 In ein Koran-Exemplar hinein eigene Gedanken zu notieren, war auch schon in Heidelberg seine Praxis gewesen. Mieg, ein Ordinarius für Theologie in Heidelberg, spricht 1701, als er Neusers Sultan-Brief auf Deutsch publiziert, von den ‚Bemerkungen, die [Neuser] 76 77 78
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Zu diesem Konflikt vgl. Lorenz 1980; Williams 2002. Vgl. Müller 2005, 227 f.; Motika 2002, 536 f. Vgl. Neuser an Baumann, bei Lessing 1989, 75: „Ich hab auch vetustissima Exemplaria novi Testamenti vor dieser Zeit in Siebenbürgen geschickt manuscripta, welche ich wollt, daß ihr sie sehen sollet. Ich glaub, daß solche Exemplaria nicht sehr lang nach Christi Geburt seyn geschrieben worden.“ Hinter dieser Suche stand – wie auch noch bei Antitrinitariern um 1700 wie Samuel Crell – die Überzeugung, dass man in frühesten Ausgaben der Evangelien Textvarianten finde, die nicht trinitarisch auslegbar sind. Vgl. weiter: Piotr Witrousk an Neuser, Polen 2.7.1574 (vgl. Burchill 1989, 155 f.), der Neuser bittet, Dokumente zur Gotteslehre zu finden. Insbes. wünscht sich Witrousk ein Exemplar des verlorenen bibelkritischen Werkes von Porphyrios, Katá Christianōn. Neuser hatte sich brieflich mit Witrousk über die Inkonsistenzen in der Bibel unterhalten. Bekannt war aus einigen wenigen Fragmenten (z. B. in Kyrills Contra Iulianum) und bibliographischen Überlieferungen, daß Porphyrios solche Inkonsistenzen aufgedeckt hatte. Vgl. dazu Schröder 2011. Kyrills Werk lag seit 1528 im Druck vor, als Johannes Oecolampadius es innerhalb seiner KyrillWerkausgabe druckte. Schröder zeigt in seinem Buch, dass seit Bodin (also seit den 1590er Jahren) neuzeitliche Religionskritiker die Anregungen der spätantiken Christentumskritiker Kelsos, Porphyrios und Julian aufzunehmen begannen. Der Briefwechsel zwischen Witrousk und Neuser zeigt, dass die Antitrinitarier diesen Religionskritikern – wie in so vielen Aspekten auch hier – in ihrem Interesse an den spätantiken Autoren vorausgingen. Konvolut Neuser, fol. 351v, Marginalie links unten: „inspiciatur meus alcoran ubi mea manu scripsi in librum de doctrina mahometis.“ Die kursiv gesetzten Worte sind in Geheimschrift geschrieben. Zur Schrift Masā’il Abdallah b. Salām vgl. Bobzin 2008, 50, 217 und 331 ff. Bei Bibliander 1543 ist sie 189–200 abgedruckt: „Incipit Doctrina Mahomet, quae apud Saracenos magnae authoritatis est: ab eodem Hermanno translata, cum esset peritissimus utriusque linguae, Latinae scilicet atque Arabicae.“
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in seinem Koran an den Rändern angebracht hat und die wir bei uns verwahren.‘80 Also hat man in Heidelberg noch damals (im Archiv? bei den Theologen? bei Mieg zuhause?) Neusers ursprünglichen Koran besessen,81 den dieser dann auf seiner Flucht durch ein neues Exemplar ersetzt hat, das er wiederum zur Grundlage weiterer Gedanken gemacht hat. Als Neusers Freund aus den schwachen Exilnetzen, der schon genannte Jakob Palaeologus, ihn im Sommer 1573 besucht, kritisiert Neuser Biblianders Koranübersetzung und lässt durchblicken, wenn man den Koran so adäquat übersetze, wie er selbst es jetzt könne, wäre er noch sehr viel überzeugender.82 Er ist also weit davon entfernt, den Moslem nur zu simulieren, vielmehr ist er weiterhin begeistert vom Islam und versucht, den antitrinitarischen Freund zur Konversion zu überreden. Nebenbei beschäftigen ihn chemische und technische Gedanken, er hat die Idee, eine Art Automobil zu bauen. Er habe „angefangen einen Wagen zu machen / der geschwind und selbsten für sich lauffe“, schreibt Gerlach über Neuser in sein Tagebuch.83 Vielleicht hatte sich Neuser schon in Heidelberg zu solchen waghalsigen technischen Spekulationen anregen lassen, denn dort gab es etliche Paracelsisten, die sich ursprünglich um den Pfalzgrafen Ottheinrich geschart hatten.84 So hat Adam von Bodenstein 1560 den Dogen von Venedig damit gelockt, er wisse ‚durch natürliche Magie Instrumente herzustellen, die mittels himmlischer und elementarer Kräfte in dauernder Bewegung kreisen und herumgetrieben werden.‘85 80
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Mieg 1701, Praefatio (unpaginiert, *6): „cujus [Neuseri] Epistola, quam publicamus, & notae, quas Alcorani sui margini allevit, quasque penes nos asservamus.“ Ich danke Elke Matthes, die mich auf diese Stelle aufmerksam gemacht hat. Zum Koranexemplar, das bei Neuser konfisziert wurde, vgl. den bei Rott 1910–1911, 214, abgedruckten Bericht: „Nach diesem sein sie uns in unser liberei gefallen und alle bücher und brief besehen und gelesen. Bei herr Adam Neuser haben sie den Alkoran, gedruckt zu Zürich mit viler gelerter commentarien und vorred der kirchendiener in Zürich […]gefunden […].“ Meine Nachforschungen in der Universitätsbibliothek Heidelberg hatten keinen Erfolg. Beide dortigen Exemplare der Bibliander-Ausgabe hatten keine derartigen Marginalien. Ich danke Jost Eickmeyer für die Überprüfung. Das Werk von Burman 2007 reicht mit seiner Aufmerksamkeit nicht bis in diese Zeit. Ein Wiederauffinden von Neusers Exemplar scheint mir aber nicht völlig ausgeschlossen. Palaeologus 1591. Der Text erwähnt den Besuch bei „Adamus, superintendens quondam Heidelbergensis“ (fol. Biiv); die spätere Ausgabe von 1594 hat den Namen dissimulativ zu „Nicolaus“ verändert. Vgl. fol. B ivr (1594, 20), wo Palaeologus zu Neuser sagt: „De Mehemeto autem, nisi Alcoranus abs te bene vertantur, postquam dicis, fuisse Christianis male versum, et ego bene versum legero, quid dicere possim?“ Ich danke Martin Rothkegel, der mich auf diesen sehr seltenen Text aufmerksam gemacht hat. Zum Treffen Neuser-Palaeologus vgl. Mulsow (im Druck). Gerlach 1674, 285, nach dem Bericht von Neusers Freund Hanns Ferber. Vgl. Telle 1981. Adam Bodenstein an den Dogen von Venedig, 29. Januar 1560, in: Kühlmann/Telle 2001, 104‒ 146 (mit Übersetzung und Kommentar), hier 113: „Et quod mirabile magis, ac ferme dictu incredibile existit: Novi cum uno aut altero magia naturali instrumenta conficere, quae per coelestes
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Zusammen mit Palaeologus beobachtet Neuser im Juni 1573 die Hinrichtung eines bosnischen Sufi-Geistlichen, wahrscheinlich eyh Hamza Bali. Hamza Bali wurde als „zindiq“ hingerichtet, als Freidenker.86 So wie andere bosnische Sufis der Malāmiyya und der Bayrāmiyya gehörte er zu religiösen Denkern, von denen das Gerücht ging, sie hielten Jesus teilweise für höher als den Propheten Mohammed. Anhänger der Bektashiyya kennen eine Art Trinität von Allah, Mohammed und Ali.87 Es erscheint aus der heutigen Perspektive geradezu als Ironie, dass Neuser die staatliche Gewalt im Osmanischen Reich als genaue Umkehrung der gegen ihn selbst gerichteten erleben musste: so wie im Christentum diejenigen verfolgt wurden, die Jesus „herabsetzten“, wurden im Islam diejenigen ermordet, die Jesus „erhöhten“. Es war keine gute Zeit für Synkretismen. Ob Neuser allerdings viel von diesen Vorgängen verstand, ist zweifelhaft. Das Konstantinopel des 16. Jahrhunderts war eine durch und durch fremde Welt, in der sich die wenigen Europäer der christlichen Welt wie durch eine kaum durchdringbare Landschaft bewegten. Man traf sich an wenigen vertrauten Orten, wie etwa einem Friseurladen,88 den Neuser schätzte, ansonsten traute Neuser „keinem Menschen“, wie Gerlach berichtet, und war „still und fleissig“.89 Dann aber ist Neuser an der Roten Ruhr erkrankt und im Oktober 1576 unter erheblichen Qualen gestorben.90 Für die Bestattung wollte er kein Geld reservieren, denn er glaubte nicht an die Unsterblichkeit der Seele.91 Er kaufte sich davon Alkohol, um seine Schmerzen zu ertränken.
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et elementares uirtutes, perpetuo motu circumaguntur et voluuntur, quantum commodi hinc exoriatur, nouerunt ij optime, qui horologia quiue instrumenta mathematica fabricant.“ Palaeologus 1591, fol. B iiiv (1594, 16 f.). Dazu ausführlicher Mulsow (im Druck). Ich verdanke die Identifizierung des bei Palaeologus erwähnten „Sechus“ Nenad Filipovic. Zu diesen Gruppierungen und eyh Hamza Bali vgl. Okiç (1951) 1957; Norris 1993, 117–120; Clayer 1994, 86–90. Adam Neusers Vermieter war zunächst ein Friseur aus Siebenbürgen. Vgl. Gerlach 1674, 46. Neuser hielt sich zumeist mit seinen Freunden Marx (Markus) Pentner (Penckner, Benckner), Hanns (Johann) Ferber, Oswald Kayser und Melchior von Tierberg auf. Zum Leben in Konstantinopel allgemein vgl. Faroqhi 2003. Gerlach 1674, 249: „Den 29. [9.] hat Alibeg Tragoman gesaget: Neuser nehme das Türckische Sprichwort: Die beste Kunst zu Constantinopel sey: Niemand trauen / wohl in acht. Er traue keinem Menschen / seye still und fleissig / hab ein besonder Losament / dass fast kein Deutscher wisse wo er anzutreffen. […] Er verführe auch alle Deutschen / dass sie zu Mamelucken werden / und halten diese sehr viel auf ihne.“ Gerlach 1674, 254, Eintrag vom 12. Oktober 1576. Denunzierend ist die Darstellung bei Heberer 1610, 350. Vgl. Konvolut Neuser, fol. 349r: „Primum --- conditione princeps concionali munus c---poli mihi concessit ne quid noui doceam, inter istas cum nouitates autem numeratur articulus de mortalitate animae, quam ego uero imortalitatem animae figmentum poetarum [&] philosophorum & papae esse assero. Quod autem articulus iste in numero Nouitatis – eatur testatur exemplum fratris Nicolai qui propter hunc solum articulum – ergoriicitur &exulere cogitur. Et praedictus Nicolaus non propter formam loquendi de hac re, sed propter ipsam rem reijcitur. Nam si Nam si immortalitatem animae ---- decaderetur. loco suo restitueretur. et de forma loquendi non vexor et[iam] Ergo meque.“
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ANITA TRANINGER
Disputative, non assertive posita. Zur Pragmatik von Disputationsthesen
Im November 1486 stellte Giovanni Pico della Mirandola 900 conclusiones fertig, die am 7. Dezember in Rom publiziert wurden. Er wollte sie bald nach dem Dreikönigstag 1487 vor dem Kardinalskollegium unter dem Vorsitz des Papstes selbst mit Gelehrten aus aller Welt, die auf seine Kosten nach Rom kommen sollten, disputieren. Zu dem Zeitpunkt war Pico 23 Jahre alt, und sein junges Alter scheint einer der Einwände gegen den bombastischen Auftritt gewesen zu sein, nach seiner Verteidigungsstrategie in der (später und nicht von ihm selbst so betitelten) Oratio de dignitate hominis zu urteilen, mit der er die Disputation zu eröffnen gedachte. Doch die Disputation wurde abgesagt, und eine von Innozenz VIII. eingesetzte Kommission befand dreizehn Thesen für häretisch.1 Dass Pico überhaupt in einer Disputation aufzutreten gedacht hatte, hat die Renaissanceforschung vor nicht unbeträchtliche Dilemmata gestellt: Pico, der von Generationen von Wissenschaftlern zu einem Symbol der Epoche der Renaissance stilisiert worden war,2 plante eine Veranstaltung in den methodischen Bahnen der mittelalterlichen Universität. Unabhängig vom Inhalt seiner Thesen zeigt allein der Umstand, dass Pico zur Präsentation seines großen synkretistischen Denkgebäudes das Format der Disputation wählte, wie stark er der Scholastik und ihren Verfahrensweisen zur Aushandlung und Sicherung von Wissen verbunden war.3 Die Thesen, so Picos eigene 1
2 3
Vgl. zur Disputation und den inkriminierten Thesen di Napoli 1965, bes. Kap. 2 „La disputa romana: I fatti“, 81–137, und Kap. 3 „La disputa romana: L’ortodossia delle tredici tesi“, 139–194; Renaudet 1953, 127–129; die Thesen sind im lateinischen Original und ins Englische übersetzt ediert in Farmer 1998, ebenso die Verfahrensanweisung für die Disputation und ihre Ankündigung: „Conclusiones non disputabuntur nisi post Epiphaniam. Interim publicabuntur in omnibus Italiae Gymnasiis. Et siquis Philosophus aut Theologus etiam ab extrema Italia arguendi gratia Romam uenire uoluerit pollicetur ipse D. disputaturus uiatici expensas illi soluturum de suo“ (Farmer 1998, [viii]). Vgl. die Diskussion bei Craven 1981. Zur Bedeutung der Scholastik als Fundament von Picos Denken vgl. bereits Dulles 1941, bes. 25– 45. Dulles macht allerdings einen Unterschied zwischen der Paduaner und der Pariser Scholastik, wobei er erstere positiv, letztere negativ beurteilt. Pico figuriert daher bei ihm als Paduaner Scholastiker, wenngleich er gerade an der Universität von Paris so hohe Wertschätzung genoss,
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Formulierung, habe er nicht im glänzenden Stil der römischen Redner abgefasst, sondern nach Art der berühmtesten Pariser Disputatoren, weil dies unter fast allen zeitgenössischen Philosophen der durchgesetzte Stil sei.4 In diese Reihe der zeitgenössischen Philosophen reihte sich Pico bis an sein Lebensende ein, gab er doch das Disputieren nach der Vereitelung der römischen Disputation keineswegs auf, sondern trat noch 1494 in Ferrara gegen den späteren Kardinal Cajetan an, wo er zwar unterlag, aber damit nicht unwesentlich die steile Karriere des Siegers beförderte.5 Wohl um nun aber eine Distanznahme Picos gegenüber dem scholastischen Dispositiv zu markieren, die sich aus seiner Stilisierung zum Paragon der Renaissance und deren Bestimmung wiederum als Antidotum des Mittelalters nachgerade zwingend zu ergeben scheint, wurde die Ansicht vorgetragen, es habe sich bei der geplanten Disputation um eine Debatte in der Tradition der disputatio de quolibet gehandelt.6 Ihr Name leitet sich davon her, dass in einer solchen Disputation von jedem Anwesenden (a quolibet) jede erdenkliche Frage (de quolibet) eingebracht werden konnte. Doch Disputationen dieses Typs, der hohe Anforderungen an alle Beteiligten stellte, waren auf wenige, klar definierte Zeiträume im akademischen Jahr beschränkt: Sie fanden typischerweise im Advent oder aber in der Fastenzeit statt.7 Zudem formulierte dabei gerade nicht der veranstaltende Magister die zu disputierenden Fragen.8 Abgesehen von der Terminfrage zeigt sich auch anhand dieser Formalia, dass dieser Typus mit seiner charakteristischen Spontaneität weder mit der Alleinautorschaft noch mit der Vorabpublikation von Picos Thesen zu vereinbaren ist. Die Kategorisierung scheint vielmehr das Bestreben zu spiegeln, den nonkonformistischen Charakter des Vorhabens abzubilden. Selbst Kommentatoren, die diese Diskrepanz notieren, scheinen nicht darauf verzichten zu können, die Disputation gleichsam als späten Nachhall der mittelalterlichen Disputationskultur einzuordnen, statt ihr die Regularität und auch Lebendigkeit zuzugestehen, die das Verfahren – wenn auch nicht in den Dimensionen, wie Pico sie anvisierte – um 1500 und darüber hinaus an den Universitäten genoss.9
4
5 6
7 8 9
dass die dortigen Doktoren seine Verurteilung als Häretiker 1488 ablehnten, vgl. Farge 1985, 221; Renaudet 1953, 127–129. „[…] non Romanae linguae nitorem, sed celebratissimorum Parisiensium disputatorum dicendi genus est imitatus, propterea quod eo nostri temporis philosophi plerique omnes utuntur“ (Farmer 1998, 210). Vgl. Dulles 1941, 34 f.; Wicks 1983, 13 f.; Grendler 2004, 362 f. Vgl. Kristeller 1993, 247. Copenhaver/Schmitt 1992, 166, sprechen davon, dass Picos Projekt mit einer disputatio de quolibet „related“ wäre; Farmer 1998, 6, hält es für eine „perverted late form of the medieval quodlibet“. Entsprechend diesen beiden Perioden wurden sie mit dem Zusatz in Natali oder de Natali bzw. in pascha oder de paschate versehen, vgl. Wippel 1985, 171; Maierù 1994, 68. Vgl. Wippel 1985, 165. Dass sich die Lesart einer disputatio de quolibet angesichts des von Pico allein vorab verfassten Thesenkatalogs verbietet, hat jüngst Dougherty 2008 herausgestrichen, nicht ohne freilich selbst mit der Kontextualisierung zu ringen: Dougherty konstruiert schließlich eine Mischform aus „another kind of medieval disputation, that of the disputed question (quaestio disputata)“, der
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In diesem Sinn sind Picos Thesen als eine textuelle Hinterlassenschaft zu betrachten, deren Quellenwert gerade in ihrer Repräsentativität für die historische Praxis der Disputation – wenn auch nicht für deren üblichen Veranstaltungsrahmen – liegt. Seine Thesen hatte Pico sowohl aus von der scholastischen Tradition autorisierten wie aus hermetischen Quellen gezogen, nicht nur im Sinne seiner Idee einer ‚Versöhnung‘ von Platonismus und Aristotelismus, sondern auch einer synkretistischen Gesamtschau der Philosophie mit Bezug auf arabische und hebräische Quellen. Im Zusammenhang, der uns hier interessieren soll, ist freilich nicht der Inhalt, sondern ein textorganisatorisches Detail von Belang: Erst auf die ersten gut 400 Thesen folgen Thesen, die als „conclusiones […] secundum opinionem propriam“ ausgezeichnet sind.10 Picos Thesenkatalog teilt uns also mit, dass rund die Hälfte der Thesen, die er zu verteidigen gedachte, nicht mit seiner eigenen Überzeugung übereinstimmen, bzw. er sah es als Notwendigkeit an, diejenigen Thesen, die seinen eigenen Überlegungen entsprungen waren, besonders auszuzeichnen. Zieht man ein solches Detail in Betracht, erscheint uns die Disputation plötzlich grundsätzlich fremd; welche Wissenschaftlerin, welcher Wissenschaftler würde sich heute vor ein internationales Publikum stellen und mit aller Vehemenz Positionen verteidigen, von denen er oder sie nicht persönlich überzeugt ist? In diesem Beitrag werde ich weniger Instanzen und Vorkommen eines religiösen Nonkonformismus in der frühen Neuzeit diskutieren, als vielmehr den letzten Teil des Untertitels dieses Bandes, „Formen praktizierter Toleranz“, zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen machen: In welchem Verhältnis steht das akademische Format der mündlichen Disputation zu einem wie auch immer ausgeprägten Modus praktizierter Toleranz? Toleranz im Sinn einer Duldung nicht geteilter Überzeugung scheint der Disputation im Urteil mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Befürworter wie Kritiker zunächst gerade abzugehen: Polemische Äußerungen über die Streitsüchtigkeit der Dialektiker lassen sich zum einen bis zu Petrarca zurückverfolgen,11 doch Pico adressiert zum anderen sein Vorhaben selbst ernsthaft und keineswegs ironisch als Kampf. Am Ende der Oratio de dignitate hominis ruft er emphatisch auf, dass nun, nachdem alle gerüstet und begierig den Kampf erwarten, endlich das Gefecht beginnen
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Gattung der Sentenzen sowie der Dialektik, wie sie von Aristoteles in der Topik beschrieben wurde. Alle drei Verbindungslinien, die Dougherty zieht, haben ihre Probleme. Am wenigsten nachvollziehbar erscheint die Anbindung an die Sentenzenliteratur, wo doch sowohl der Text selbst als auch der Entstehungskontext klar die Funktion als Disputationsthesen markieren. Die Topik wiederum geht im Mittelalter in dialektischen Lehrwerken wie den Summulae logicales des Petrus Hispanus auf, die eher als methodische Fundierung zu zitieren wären, vgl. Stump 1978, 159–178 und 215–236. Während disputatio die Handlung des Disputierens bezeichnet, kann quaestio sowohl den Gegenstand einer Disputation meinen als auch ihr – stark redigiertes – Resultat, vgl. Maierù 1994, 63. Vgl. die Übersicht in Farmer 1998, 204–207. Pico bezeichnet sie als paradoxa in dem Sinn, dass sie gegen die allgemeine Meinung gerichtet seien. Petrarca 1991–1992, Bd. I, bes. I, 7, 50–55 und I, 12, 79–81.
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möge.12 Christian Thomasius stellt sich noch 1691 in seiner Schrift zur Ausübung der Vernunftlehre in diese Traditionslinie, indem er das Disputieren als Kriegskunst charakterisiert: […] es muß der Zustand solcher Disputirenden kein friedlicher Stand seyn/ sondern vielmehr eine grosse Gemeinschafft mit dem Kriege haben/ welches man sich auch nicht scheuet öffentlich zu gestehen/ indem nichts gemeiners ist als daß man saget: Disputationes ad instar bellorum esse.13
Doch Thomasius fügt eine wichtige Einschränkung an und qualifiziert damit umgehend den Vergleich der Disputatoren mit dem kriegerischen Stand in bemerkenswerter Weise: Derowegen sind die gemeine Disputirenden nicht einmahl würdig/ daß man sie so zu reden mit raisonablen Kriegs=Leuten vergleiche/ sondern es hat sie albereit ein scharffsinniger Kopff nicht unbillig mit denen thörrichten Amadis Rittern verglichen/ die sich an die öffentlichen Strassen lagerten/ daselbst das portrait einer Liebsten/ die sie nach ihrer Phantasie sich erkieset/ auffhiengen/ und die vorüber ziehenden Ritter zwungen/ daß sie entweder bekennen musten/ es wäre dieselbige die schöneste in der gantzen Welt/ oder musten mit ihnen fechten/ und allerhand Verdrusses/ auch wohl gar des Halsbrechens gewärtig seyn.14
Die Geschichte des Ritters Amadís de Gaula, die in der Fassung von Garcí Rodríguez de Montalvo von 1508 mit mehr als zwanzig Auflagen ein veritabler Bucherfolg war, der zudem in zahlreichen Varianten und Ablegern zu einer gesamteuropäischen Tradition der Unterhaltungsliteratur auswucherte (die berühmterweise im Don Quijote aufs Korn genommen wurde), wird hier satirisch als Referenzmodell der Disputation anzitiert. Die Dame, die in Anspielung auf den amour courtois metaphorisch in der Phantasie erwählt wird und auf deren Verehrung alle anderen Ritter durch Waffengewalt verpflichtet werden, ist natürlich die zur Disputation gestellte These. Thomasius bringt diese satirische Anklage mit Anspielung auf fiktionale Muster vor, um daran die Forderung nach Faktualität, genauer: nach Identifikation mit den in der Disputation vorgetragenen und verteidigten Thesen zu knüpfen. Mir wird es im Folgenden darum gehen, den pragmatischen Status disputatorischer Thesen im Kontext der Frage der Toleranz zu reflektieren. Ich will dabei nicht, wie es Thomasius’ Attacke nahelegt, argumentieren, dass disputatorische Händel fiktionale Unterfangen seien; es wird sich aber als hilfreich erweisen, sich an die komplexen Aussage- und Zurechnungsstrukturen der frühneuzeitlichen Disputatorik in gewissen Hinsichten mit dem terminologischen Inventar der modernen literaturwissenschaftlichen Fiktionalitätstheorie anzunähern. 12
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„Quod ut vobis re ipsa, patres colendissimi, iam palam fiat, ut desiderium vestrum, doctores excellentissimi, quos paratos accinctosque exspectare pugnam non sine magna voluptate conspicio, mea longinus oratio non remoretur, quod felix faustumque sit, quasi citante classico iam conseramus manus“ (Pico 1997, 76). Thomasius 1998, V, 11, 271. Thomasius 1998, V, 14, 272 f. Vgl. zu Thomasius’ Reformvorhaben für den universitären Disputationsbetrieb auch Marti 2005, 328 und öfter.
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Erschwert wird diese Betrachtung freilich dadurch, dass die Disputation über sehr lange Zeit reine Praxis war, und zwar sowohl im Hinblick auf den je konkreten Verlauf als auch die zugrundeliegenden regelhaften Verfahren, denen sie folgte. Zum einen ist das quaestiones-Schrifttum nicht unmittelbar mit konkreten Disputationsanlässen zusammenzubringen: Als Thomas von Aquin in den Jahren 1256 bis 1259 an der Universität von Paris als Magister lehrte, entstanden die Quaestiones disputatae de veritate. Wie der Titel nahelegt, handelt es sich um Probleme zum Thema Wahrheit, über die er im Verlauf seiner Lehrtätigkeit anscheinend disputiert hatte. Das Werk zerfällt in 29 quaestiones, die jeweils einen größeren Problemkomplex markieren, und, diesen zugeordnet, insgesamt 253 articuli, die auf spezifischere Fragen abzielen. Nun ist unklar, ob in einer Disputation, die vielleicht einen Vormittag lang dauerte, jeweils eine quaestio oder nur ein articulus behandelt wurde. Im ersteren Fall hätten die Artikel ohne jede Möglichkeit zur vertieften Debatte ‚durchgehechelt‘ werden müssen. Im letzteren Fall hätten 253 Disputationen in einem Zeitraum von drei Jahren nur zu diesem einen Thema abgehalten werden müssen, was praktisch alle anderen Aktivitäten, insbesondere den Vorlesungsbetrieb, zweifellos stillgelegt hätte.15 Diese Inkongruenz verweist exemplarisch auf das Spannungsverhältnis zwischen mündlicher Disputation und allfälligen textuellen Komplementen. Es wurde auch zeitgenössisch so gut wie keine protokollarische Erfassung von Disputationsvorgängen gepflegt, weder im Sinn von Verlaufs- noch von Ergebnisprotokollen. Die wenigen Protokolle, die überliefert sind, betreffen herausgehobene Verhandlungssituationen und sind kaum geeignet, den regulären Betrieb zu illustrieren.16 Die mittelalterliche Gattung der quaestio disputata, die, wie oben bereits angesprochen, vielfach in der Forschungsliteratur mit der Disputation in eins gesetzt wird, ist ihr zwar strukturell und inhaltlich verbunden, sie ist aber kein textuelles Substrat des mündlichen Akts, und auch keine mimetische Darstellung des konkreten Austauschs.17 Und schließlich stellen die immer umfangreicher werdenden Thesendrucke der Frühen Neuzeit eine Textsorte eigenen 15
16 17
Kenny/Pinborg 1982, 22. Das Beispiel referiert auch Rentsch 1990, 82 f., zusammen mit einer Diskussion der bisherigen Forschungsmeinungen und -kontroversen zum Thema. Als Lösungsmöglichkeit wird angeboten, dass die quaestiones teilweise nicht regulär, sondern privatim mit Schülern disputiert worden seien. Nicht in Betracht gezogen wird die Möglichkeit einer genuinen Schriftlichkeit der quaestiones disputatae, dass sie also zwar auf die Disputation bezogen, aber nicht genetisch von ihr abhängig sind. Vgl. zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Hinblick auf die Disputation und die Problematik der Beziehungen zwischen ihr scheinbar verwandten Genera Traninger 2012, 237–270. Vgl. z. B. Hammer 1978–1979. Es ist deshalb irreführend, davon zu sprechen, dass die articuli einer quaestio disputata „jeweils Miniatur-Disputationen inszenieren“, wie Thomas Rentsch (1990, 77 und wiederum 87) formuliert, der ansonsten sehr differenziert an die Problematik des Verhältnisses zwischen der Disputation als mündlicher Praxis und der quaestio disputata als schriftlicher Gattung herangeht. Bei Rentsch auch die Formulierung, dass quaestiones disputatae die „schriftliche Fassung“ einer Disputation seien, vgl. ebd., 82. Vgl. dagegen zum komplexen Vertextungsprozess der quaestio disputata Marenbon 1991, 28–31.
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Rechts dar, die zwar Auskunft über Lehrmeinungen und thematische Schwerpunktsetzungen gibt, aber allenfalls als Indiz einer im Wesentlichen kaum rekonstruierbaren Kultur der disputatorischen Interaktion dienen kann. Das Problem einer historischen Untersuchung der Disputation besteht also darin, dass die mit ihr im Zusammenhang stehenden Textsorten allesamt nicht in der Lage oder überhaupt darauf angelegt waren, sie von der ephemeren Mündlichkeit in die stabilisierende Schriftlichkeit zu überführen. Ihre textuellen Komplemente sind entweder – wie die These – vorgängig oder aber – wie die quaestio disputata – zeitlich nachgeordnet, dabei aber nicht protokollarisch, sondern redigierend und summierend. Doch auch das Verfahren selbst ist schwierig zu rekonstruieren: Das Prozedere der Disputation wird erst sehr spät im Sinne einer Schritt-für-Schritt-Anleitung in Lehrbüchern dargestellt. Die Introductiones artificiales in logicam von Jacques Lefèvre d’Étaples, die in der ersten Dekade des 16. Jahrhunderts geschrieben und in mehreren Ausgaben gedruckt wurden, sind eine der frühesten Publikationen, die das konkrete Vorgehen beim Disputieren explizieren.18 Damit ist gemeint, dass das fundamentale knowing how ausbuchstabiert wird, das traditionell der Praxis überantwortet war und das zuvor nur in den allergröbsten Zügen Niederschlag in den Lehrwerken gefunden hatte. Vielmehr war Teilhabe an diesem zentralen Modus der Wissensgenerierung über lange Zeit allein über die persönliche Initiation in ein hoch codiertes Verfahren reguliert. Die Praxis des Disputierens ist damit auf das engste an exklusive Tradierungsmechanismen und Machtrelationen gekoppelt. Für die Rekonstruktion des pragmatischen Status von Disputationsthesen ist an der Zentralstelle der Organisationsform von Disputationen anzusetzen, an der Funktionsverteilung zwischen demjenigen, der eine These vorträgt und vertritt – dem Respondenten – und demjenigen, dessen Aufgabe es ist, die These anzugreifen und zu demontieren – dem Opponenten.19 Wir wissen heute, dass die Disputation, wie sie im europäischen Mittelalter etabliert und reguliert wurde und in wesentlich unveränderter Form bis in das 18. Jahrhundert fortbestand, sich nicht direkt aus dem Aristotelischen
18
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Die eigentliche Zielsetzung der Introductiones ist es, das terminologische Gerüst aufzubereiten, das Lefèvre für nötig erachtete, um das Aristotelische Organon zu verstehen. Ab 1506 erschienen die Introductiones in Verbindung mit einem Kommentar von Lefèvres Mitarbeiter, dem Theologen Josse Clichtove, sowie zwei weiteren von Clichtove verfassten Kapiteln, einem zur Klärung von Grundbegriffen (In terminorum cognitionem introductio) sowie einem zur Struktur der Disziplinen (De artium scientiarumque divisione introductio). – Zur Druckgeschichte der logischen Arbeiten Lefèvres vgl. Lohr 1988, 138–142; spezifisch zur Behandlung der Disputation vgl. Ashworth 1986; zur Rolle Clichtoves vgl. Massaut 1968, Bd. 1, 226–231. Zur Geschichte von opponens und respondens als Funktionen in der Disputation vgl. Bazàn 1985, 39–42. Zur Herausbildung der scholastischen Disputation insgesamt vgl. knapp Weijers 1999. Die ab ca. 1300 belegten Traktate De modo opponendi et respondendi, allen voran jener dem Albertus Magnus zugeschriebene, vermitteln nicht Grundkenntnisse, sondern Strategien dafür, wie eine Disputation unter allen Umständen zu gewinnen sei; vgl. de Rijk 1980, bes. 1–67.
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Organon herleiten lässt.20 Gleichwohl baut sie auf wesentliche methodische Vorgaben aus den beiden Analytiken und der Topik auf, und sie schreibt auch pragmatische Haltungen gegenüber dem zu verhandelnden Wissen fort. Die funktional rigoros distribuierte Rollenverteilung von opponens und respondens lässt sich mit Aristoteles’ Topik in Verbindung bringen, wenngleich dort die spätere Artifizialität der Operationen allenfalls im Kern angelegt ist. Grundsätzlich verankert, wenngleich nicht elaboriert, ist dort die Vorgabe, dass sich der Antworter, der spätere Respondent, in eine gewisse Distanz zu seiner zu verteidigenden These begeben kann und soll: Es ist aber die Aufgabe des Fragenden, das Argument so zu führen, dass der Antwortende dazu gebracht wird, von dem, was aus der These notwendig (folgt), das Inakzeptabelste zu sagen, die Aufgabe des Antwortenden dagegen, den Anschein zu erzeugen, dass es nicht an ihm liegt, wenn das Unmögliche oder das der herrschenden Meinung Widersprechende folgt, sondern an der These […].21
Die zu verteidigenden Thesen entspringen nicht zwingend der individuellen Invention des Antworters, sondern die Dialektik ist insgesamt darauf ausgerichtet, bekannte Lehrmeinungen anzugreifen oder zu verteidigen.22 Aristoteles hat dies im achten Buch der Topik klar ausgesprochen: Wenn der Antwortende aber die Meinung eines anderen verteidigt, dann muss er offenkundig jede (Prämisse) mit Blick auf dessen Gedanken einräumen oder ablehnen. Daher geben auch diejenigen, die fremde Meinungen vertreten, zum Beispiel, dass gut und schlecht dasselbe sei, wie Heraklit sagt, nicht zu, dass die Gegensätze nicht zugleich demselben zukommen können, nicht, weil es ihnen nicht so scheint, sondern weil man im Sinne Heraklits so reden muss. Dies tun aber auch diejenigen, die die Thesen voneinander übernehmen, sie zielen nämlich auf das, was derjenige, der die These aufgestellt hat, sagen würde.23
Gesetzt ist damit als erste Verpflichtung eines Respondenten die Herstellung von Kohärenz in seiner Argumentation, und zwar nicht nach eigenem Gutdünken, sondern im Sinne desjenigen, aus dessen Lehrgebäude die zu verteidigende These stammt. Man versetze sich in die Gedanken oder aber, treffender, in die Lehrmeinungen eines anderen, um diese und ihre Konsequenzen bestmöglich zu verteidigen. Diese Disposition ist an eine Mentalität gekoppelt, an der das Mittelalter und die frühe Neuzeit festhalten werden, auch wenn die Topik selbst, in der die entsprechenden Präzepte ausformuliert sind, durch die Schriften des Boethius und Lehrwerke, vor allem jenes des Petrus Hispanus, ersetzt wird: dass argumentative Auseinandersetzung ein Kampf sei, der unbedingt auf die Niederlage eines Kontrahenten abzielt, oder, positiv gewendet und auf die Sache bezogen, auf die eindeutige Entscheidung darüber, ob eine These 20 21 22
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Vgl. Weijers 1999. Aristoteles 2004, 159a20–24, vgl. dazu Moraux 1986, 279 f. Vgl. Stump 1978, 164 f. Für Stump zählen auch Aristoteles’ Ausführungen zum Beherrschen von ‚Standard-Situationen‘, d. h. zum Parathaben jener Muster, unter welche Argumente am häufigsten fallen (Aristoteles 2004, 163a29–163b3), zu diesem Themenkomplex. Aristoteles 2004, 159b27–35.
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allen erdenklichen Angriffen standhalten kann und damit gilt. Im Rahmen der Disputation ist das Durchsetzen der einmal eingenommenen oder übernommenen Position höher bewertet als die Treue zu tiefsten persönlichen Überzeugungen. In meinem Beispiel, das diese Setzungen in ihrer Relevanz für die historische Praxis verdeutlichen soll, geht es um Devianz von kirchlichen Normen in moraltheologischen Fragen und um die Rückbindung bzw. Legitimationsversuche der geübten Normverletzung an die zentrale Verhandlungsform theologischer Wahrheit, die Disputation. Es geht um die Frage, ob in Geldgeschäften ein Zins genommen werden dürfe, was die christliche Doktrin weitestgehend verbot, und mithin um die Friktion von kirchlicher Norm und zu Beginn des 16. Jahrhunderts real praktizierten Formen gewinnorientierter Kapitalinvestition. Dies war allerdings keineswegs ein Problem, das sich erst mit dem Anbruch der Neuzeit stellte. Mittelalterliche Theologen und Kanonisten widmeten sich dem Zinsproblem ausführlich, um die Grenzen moralischen Investitionshandelns im Kontext von Wirtschaftsbeziehungen auf Kreditbasis auszuhandeln, die auch die mittelalterliche Ökonomie prägten. Auszuloten galt es die Grenze zum Wucher (usura), der durch den Willen bestimmt ist, einen übermäßigen Gewinn zu erzielen. Als gravierendster Verstoß galt der Geldverleih und mit ihm das Nehmen eines Darlehenszinses. Dabei stellt sich die Konfiguration von Norm und Praxis durchaus anders dar, als man annehmen würde: das Zinsnehmen war geübte Praxis, die neben dem und trotz des kanonischen Verbots existierte. In universitären Disputationen, die die Frage des Zinses im Hinblick auf die kanonischen Regularien in den Blick nahmen, ging es mithin um die theoretische Absicherung durchgesetzter Praktiken und gerade nicht um die Schaffung eines Regelwerks, als dessen Konsequenz neue kaufmännische Verfahrensweisen erst ermöglicht würden. Im Interesse der Kaufmannschaft, insbesondere aber der großen, machtpolitisch überaus dicht und effizient vernetzten Handelshäuser wie jenem der Fugger, die im Heiligen Römischen Reich auf höchster Ebene als Darlehensgeber agierten, lag vielmehr die Herbeiführung einer Klärung des kanonischen Sachverhalts und damit eine Legitimation der von ihnen geübten Praxis.24 Es war vor diesem Hintergrund Johannes Eck, Universitätsprofessor in Ingolstadt und späterer Gegenspieler Martin Luthers, der ab 1514 – im Gefolge seines Tübinger Lehrers Konrad Summenhart – in Vorlesungen und Gutachten im Sinne der ihn finanziell unterstützenden Fugger dafür eintrat, dass in bestimmten Geldgeschäften unter bestimmten Vertragsbedingungen das Nehmen eines Zinses von 5% zulässig sei. Eck platzierte seine Stellungnahme gleich auf mehreren institutionellen und kommunikativen Ebenen. In seinem Consilium in casu quinque de centenario formulierte Eck Ansatzpunkte zur Unterscheidung von wucherischen und nicht-wucherischen Verträgen.25 Sobald es 1514 in einer ersten Fassung fertiggestellt war, sandte er es unter anderem an die Universitäten von Heidelberg, Tübingen, Köln, Paris und Bologna zur 24 25
Für einen Aufriss der historischen Konstellation vgl. Wurm 1997, bes. 5–45. Zu Aufbau und Inhalt Wurm 1997, 94–127.
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Begutachtung aus. Zugleich begann er, Disputationen zu dem Thema in die Wege zu leiten. In Ingolstadt scheiterte Eck mit dem Vorhaben, zu dem Thema zu disputieren – darauf wird noch zurückzukommen sein; in Bologna gelang es, das Thema zu verhandeln, aber die Berichte über den Ausgang sind so divergent, dass das Ziel einer klaren Entscheidung eindeutig verfehlt wurde.26 Als schließlich Ecks Ingolstädter Kollege, der Jurist Franz Burckhard, in einer Rechtssache nach Wien gerufen wurde, schien sich für Eck unerwartet eine neue Disputationsoption aufzutun. Er stellte seine Dienstaufgaben zurück und machte sich am 12. Juli 1516 mit ihm donauabwärts auf den Weg, um am 26. Juli in Wien anzukommen.27 Der weitere Verlauf ist durch Ecks eigene ausführliche Korrespondenz außergewöhnlich gut dokumentiert und ist daher geeignet, die Pragmatik der Disputation erhellen zu helfen.28 Eck reiste also nach Wien, um den dortigen Mitgliedern der theologischen Fakultät seine Ideen vorzustellen und sich mit ihnen zu messen. Wien sollte ihm nun ein qualifiziertes Publikum und eine prominente Bühne bieten. Mit Johannes Cuspinianus und dem Dekan der theologischen Fakultät, dem Dominikaner Martin Huper, verhandelte Eck die Bedingungen der Disputation. Wegen der eben beginnenden Sommerferien konnte oder wollte man ihm nur anbieten, am folgenden Freitag in einer bereits anberaumten Disputation junger Theologen bereits vorliegende Thesen gegen einen Lizentiaten und einige Bakkalaurei zu verteidigen. Weil Eck seine Optionen schwinden sah, akzeptierte er, verfasste aber sogleich 24 eigene Thesen, die er ‚als Nebensachen und Zusätze‘ („ut appendicias et corollaria“) verhandelt sehen wollte, und 26 27
28
Vgl. dazu Wurm 1997, 128–142 zum Disputationsverbot, das der Eichstätter Bischof Eck für das Vorhaben in Ingolstadt auferlegte, 170–200 zur Disputation von Bologna. Wurm 1997, 201. Die Wiener Disputation wird im Willibald Pirckheimer zugeschriebenen Eckius dedolatus als Wurzel von Ecks ‚Krankheit‘, die sich in unstillbarem Durst manifestiert und aufgrund derer er dann von einem Chirurgen ‚enteckt‘ wird, eingeführt. Eck habe in Wien, so der Bericht der Figur des Eckius im Drama, alle im Schreien übertroffen („omnes clamore superavi“, Pirckheimer 1983, 48) und sich auch in nachfolgenden Disputationen derart verausgabt, dass er seine übermäßige Erhitzung mit sächsischem Bier zu löschen versuchte und erkrankte. In dem folgenden – grobianischen – chirurgischen Eingriff werden ihm zunächst die Haare vom Kopf geschoren; auf der freigelegten Kopfhaut wimmelt es nicht von Läusen, wie zunächst vermutet, sondern von „sophismata, syllogismi, propositiones maiores, minores, corollaria, porismata et reliqua id genus nugamenta“ (ebd. 78). Im Zuge der Operation, bei der ihm die Haut ab- und wieder angezogen wird, scheidet Eck dann auch die Münzen aus, mit denen er von den Kaufleuten für die Verteidigung des Zinsnehmens gekauft worden sei (ebd. 82). Zum Korruptionsvorwurf, der Eck von Humanisten wie Bernhard Adelmann, Oecolampadius oder eben Pirckheimer gemacht wurde, vgl. Wurm 1997, 140 f. Eck berichtet ausführlich über die Wiener Disputation in einem Brief an seinen Bischof, den Bischof von Eichstätt Gabriel von Eyb, der ihm zuvor die Disputation der Zins-Thesen in Ingolstadt untersagt hatte; vgl. Iserloh 1981, 21; Wurm 1997, 200–203. Der Brief ist ediert in Eck 1923, 2–26; eine Übersetzung bietet die Online-Edition der Eck-Briefe von Vinzenz Pfnür: Eck o. J., ep. 32.
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gab sie in den Druck. Die Magistri der Universität Wien waren angesichts dieses Vorpreschens indigniert und versagten Eck nach einigem Hin und Her die Gelegenheit zur Disputation gänzlich. Erst durch Intervention der kaiserlichen Räte für Eck wurde doch noch ein Kompromiss gefunden: Eck solle zunächst tags darauf einer anderen Disputation vorsitzen und schließlich am 18. August in der größten Aula der Universität selbst disputieren. Die Gegenstände solle er der Fakultät vorschlagen, die sich aber das Recht vorbehielt, Thesen abzulehnen oder abzuändern. Eck legte also sofort drei Themen vor: die Hervorgänge der drei göttlichen Personen, die getrennten Substanzen der Engel sowie Zinsbelastungen von Grundstücken. Am Abend des folgenden Tages, an dem er den Disputationsvorsitz vorschlagsgemäß geführt hatte, erhielt Eck Bescheid über die Bewertung seiner vorgeschlagenen Themen: die ersten beiden wurden zugelassen, die Zinsmaterie aber abgelehnt. Stattdessen sollten zwei Fragen über die Menschwerdung und die Sakramente behandelt werden. Eck verfasste umgehend zu allen diesen Gebieten Thesen und ließ sie am folgenden Tag drucken, sodass sie am darauffolgenden Sonntag vom Pedell der Fakultät allgemein verteilt werden konnten. Dies erledigt, reiste Eck zur Erholung am 11. August nach Baden bei Wien; im Umkreis der Universität sei deshalb, so Ecks Bericht, sofort gemunkelt worden, er fliehe die Stadt aus Nervosität vor der Disputation. Die Disputation am 18. August verlief dann ungeachtet der schwierigen Vorgeschichte unter dem Vorsitz des Juristen Georg Besserer ausgesprochen zivilisiert, und Eck zeigt sich nicht wenig stolz auf die allseitig exzellente Performance: ‚Die Doktoren, meine sehr verehrenswerten Lehrer, opponierten bescheiden, gelehrt und wohl unterrichtet gegen unsere Thesen, die sie, als ich die Einwände zurückwies, wiederum angriffen; und so dauerte die Disputation, die auf höchstem Niveau und mit großer Gelehrsamkeit geführt wurde, den ganzen Vor- und Nachmittag, so daß dieser gelehrte Wettstreit für jeden Gebildeten ein wahres Vergnügen sein mußte.‘29
Am Tag vor der Disputation freilich hatte ein Anonymus Thesen gegen Eck ausgehängt (schedae disputationis), sodass man ein langgedientes Mitglied der Fakultät („collegam veteranum“), Ruprecht Hodel, bat, am darauffolgenden Tag, also am 19. August, als respondens zu fungieren und die Thesen zu verteidigen. Hodel erwies sich als langsamer und wenig gewandter Respondent, sodass Eck selbst einstieg und respondierte. Er verteidigte also die gegen seine ursprünglich vorgestellten Positionen verfassten Thesen, nicht ohne sich über deren Verfasser lustig zu machen, der zu meinen schien, alle von Eck ursprünglich publizierten Thesen entsprächen seiner persönlichen Überzeugung: 29
Eck o. J., ep. 32. Ich habe die Übersetzung der Pfnür-Ausgabe geringfügig modifiziert. „Doctores ipsi, praeceptores mei summopere colendi, erudite, modeste ac doctissime impugnabant posita nostra, quae cum ego obiecta diluerem, ipsi rursus repugnabant; atque ita summa cum maturitate, doctrina non vulgari disceptatio antemeridianis et pomeridianis scholis tota die habita est, utt [sic] doctissimo cuique non potuerit non iucundissimus esse literatorius iste congressus.“
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‚Ich stieg in die Disputation ein, indem ich einiges über die Schlußfolgerungen dieser Thesen anmerkte, besonders gegen den lächerlichen Verfasser dieser Thesen, weil er in kindischer Art meinte, ich hielte alles für wahr, was ich in der Disputation ausgesprochen, und als wären das meine eigenen Ansichten, denn er wußte ja eigentlich schon am Anfang meiner Thesen, daß ich diese Paradoxa bloß zur Übung in der Disputation (exercitii gratia) vorgebracht hatte. Es war also diesem unwissenden Thesenschreiber die akademische Sitte unbekannt, daß zur Schärfung des Verstandes in Disputationen manchmal Thesen vorkommen, die dem Hergebrachten widersprechen, ja oft sich selbst entgegenstehen.‘30
Eck ist gewiss daran gelegen, seine eigene unerschütterliche Überlegenheit inmitten dieser Wirren auszustellen, aber ganz abgesehen davon ist es ebenso erstaunlich wie signifikant, wie Eck, der mit seinem eigenen Thesenmaterial nach Wien gereist war und dort mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln darum kämpfte, zur Disputation zugelassen zu werden, hier gegen sich selbst auftritt. In der Tat wurde ihm die Zinsmaterie abgelehnt, von der wir zuverlässig wissen, dass er sie auch lebensweltlich vertreten hat. Doch sind die extra auf sich genommene Anreise an eine der großen Universitäten des Reichs und die öffentliche Exponiertheit des Vorhabens eindeutige Indices dafür, dass es hier nicht um eine Disputation exercitandi ingenii gratia ging, um keine reine Übung im Zusammenhang mit der akademischen Lehre, für die das Einüben des Vertretens und Attackierens beliebiger Thesen zum Standardrepertoire gehörte. Natürlich war es explizit formulierte Finalität der Dialektik, die Fähigkeit zu lehren, für oder gegen jedes erdenkliche Thema argumentieren zu können; dies war nicht allein Maxime der mittelalterlichen Logiker, sondern wird im humanistischen Kontext, wie in der einflussreichen Dialektik des byzantinischen Gelehrten Georgius von Trapezunt, fortgeschrieben: „Est autem fructus totius artis dialecticae, huiusmodo de re aliqua in utramque partem disputare.“31 Eck partizipierte ohne Zweifel an diesem Habitus der Beweglichkeit des kritischen Impetus, der als allgemein durchgesetzt gelten soll: es sei Sache eines einzelnen ‚unwissenden Thesenschreibers‘, so Eck, der nicht verstehe, dass von der Disjunktion von Thesenvertretung und persönlicher Überzeugung grundsätzlich auszugehen sei. Damit individualisiert Eck ein Problem, das andererseits ein zentrales Hindernis bei der Durchsetzung seiner eigenen Disputation dargestellt haben dürfte. Denn Thesen, die am Rande oder gar außerhalb des doktrinären Horizonts lagen, wie eben Ecks ‚revolu30
31
Eck o. J., ep. 32: „Ingressus ergo disputationem contra caudas positionum aliqua argumentatus sum, inprimis contra ridiculum conclusionum factorem, quod infantiliter existimasset omnia per Eckium in disputatione proposita eius fuisse sententiae tanquam asserta et ab eo firmiter tenta, cum in fronte disputationis videre debebat Eckium non, quod ita sentiret, verum exercitii gratia paradoxa haec disputasse collibitum erat, nec temere achademicorum more, ut, qui ipse peregrinabar, peregrinas item et vagantes adsertiones propugnarem. Nescivit forte ignobilis ille et subacidus conclusionum formator modum in disputatione observari solitum, quod pro acuendis ingeniis saepius disputando contra communem, conclusiones proponuntur interdum etiam contradicentes.“ Trapezuntius 1539, 193. Trapezunts Dialektik war erstmals 1508 von Jacques Lefèvre d’Étaples im Druck herausgebracht worden.
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tionäre‘ Thesen zum Zins, wurde nicht ohne Widerstände Raum gegeben, schon gar nicht, wenn klar war, dass der Proponent die Thematik mit seinem eigenen Streben nach fama und, vor allem, einer intendierten Wirkung in ein realpolitisches Außen verknüpfte. Es zeigt sich am Wiener Beispiel, dass es für die Universität vergleichsweise einfach war, Eck sich in bereits anberaumte und vorbereitete Disputationen einreihen zu lassen und damit die Entkopplung von persönlichem Interesse und institutioneller Performanz abzusichern, dass aber der Auftritt eines Nicht-Mitglieds gleichsam in propria persona zu einem kontroversen Thema aus der Sicht der Universitäten eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen erforderte.32 Unter exercitatio, also dem Zweck, dem Eck seine Thesen untergeordnet wissen wollte, ist daher nicht allein die semantisch belang- und konsequenzlose Schulübung zu verstehen. Exercitatio bezieht sich vielmehr auf einen Habitus, der idealiter die Sache vor die persönliche Haltung stellt, der – und dies ist nur als vermeintlicher Widerspruch zu formulieren – im Zusammenhang mit der forcierten Parteilichkeit, wie sie in der Disputation ausexerziert wird, maximale Unaffiziertheit einfordert. Die Frage, ob eine Herzensangelegenheit oder ein beliebiges Thema verhandelt wird, wird demgegenüber – und wiederum ist zu betonen: idealiter – nachgeordnet bzw. verfahrensmäßig gleichgestellt. Angesichts der Zentralität von in der Selbstbeschreibung als Übungsszenarios ausgewiesenen Praktiken in den Wissenskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit zeigt sich, dass die Formel der exercitatio auf bestimmte Konfigurationen der geschützten Exploration von Fragestellungen verweist, die sich nicht mit dem modernen Begriff der Übung im Sinne einer Propädeutik decken. Die Rückzugs- und Entlastungsformel des exercitium signalisiert, so auch im Kontext von Ecks Wiener Disputation, eine Stärkung des Rahmens der Disputation, eine forcierte Entkopplung von lebensweltlicher Gültigkeit, aber nicht die Degradation alles Argumentierens zu einem konsequenzlosen Spiel. Dieser Typus eines exercitium ingenii bindet zu viel soziale und intellektuelle Energie, als dass es sich rein selbstreflexiv auf die Schulung der intellektuellen Fähigkeiten beziehen könnte. Es erscheint widersinnig, dass ein dominanter Anteil dessen, was innerhalb und außerhalb der Institutionen der Gelehrsamkeit an debattistischem Aufwand betrieben wurde, nichts weiter als intellektuelles Spiegelfechten und harmlose Fingerübung gewesen sein soll. Vielmehr kennen diese Konstellationen ein heute 32
Die Universität hätte natürlich eine disputatio extraordinaria ansetzen können, vgl. Eck 1923, 6, Anm. 9, um Eck seine Bühne zu bieten, entschied sich aus den genannten Gründen aber genau dagegen. Nicht zur Debatte stand eine disputatio de quolibet, wie sie die Kommentatoren in Eck o. J., ep. 30 (Eck an Martin Huper, 4. August 1516), Einleitung und Anm. 3, nahelegen. Die Statuten der Universität Wien thematisieren das quodlibet zwar nur im Kontext der Statuten der Artistenfakultät, dort allerdings wird an der herausgehobenen Terminierung (s. oben, Anm. 7) festgehalten und die Zeit rund um das Fest der Schutzpatronin der Universität, der Hl. Katharina (29. November), als Datum für diese Veranstaltungen fixiert. Vgl. Kink 1854, Statuten von 1389, 217, Titulus XXVII „De Quolibeto“.
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begrifflich kaum fassliches Dazwischen, das ernsthafte und ernstzunehmende Argumentation auf der Ebene der äußeren Pragmatik zu suspendieren sucht. Ecks Bericht zeigt auch, dass es in einer Disputation nicht, wie oft zu lesen ist, um „ein pro und contra zweier Thesen“33 geht. Zunächst wurde eine Reihe von Thesen abgearbeitet, am Folgetag wandte man sich den gegen Eck formulieren Thesen zu. Die Disputation sieht also kein Ausspielen konträrer, aber gleichgestellter Positionen vor, vielmehr ist die Rollenverteilung zwischen Opponent und Respondent strikt asymmetrisch. Es ist nicht über entgegengesetzte Thesen zu verhandeln, sondern über die Argumente gegen jede einzelne Behauptung.34 Der Respondent verteidigt streng genommen auch nicht seine Thesen, sondern entkräftet oder vernichtet die Angriffe des Opponenten, unter anderem auch dadurch, dass er ihm formale Fehler nachweist. Es muss das Ziel des Respondenten in einer Disputation sein, die vom Opponenten gegen seine These vorgetragene Argumentation zurückzuweisen (diluere) und zu entkräften oder aufzulösen (dissolvere): „Respondens, est qui argumentationem ab altero propositam diluit & dissoluit.“35 In den bereits erwähnten Introductiones Lefèvres wird in der den Band eröffnenden, von Josse Clichtove verfassten „Introductio in terminos“ erklärt, was konkret beim Disputieren zu tun sei. Zunächst gibt es allein drei Typen verbaler Aktionen des Respondenten gegenüber den Attacken des Opponenten: concedere, negare und distinguere. ‚Konzedieren‘ bedeutet dabei, zuzugeben, dass eine Proposition wahr ist; ‚negieren‘, zu behaupten, dass sie falsch ist; ‚distinguiert‘ wird, wenn eine Proposition in mehrerlei Sinn verstanden werden kann und die verschiedenen Bedeutungen unterschieden und auseinandergehalten werden.36 Alle drei Operationen kommen dem Respondenten zu, der zunächst das vom Opponenten vorgetragene Argument wörtlich wiederholt („ut in eadem forma repetatur, qua ab opponente est propositum, non mutata sententia“).37 Die Wiederholung wird dann auf die einzelnen Teile des Syllogismus heruntergebrochen: Auf die Wiederholung der propositio maior folgt eine Antwort auf diese; dann wird nur die minor wiederholt und darauf eine Antwort gegeben, und schließlich dasselbe Prozedere mit der Konklusion. Auf jede Proposition wird separat mit einem concedo, nego oder distinguo repliziert.38 Vorausgesetzt wird damit stillschweigend (und wohl auch 33 34 35 36
37 38
Beispielsweise Müller 1990, 26. So auch Fuchs 1995, 18. Lefèvre/Clichtove 1535, fol. 15r. Vgl. dazu auch Angelelli 1970, 809. „Concedere propositionem, est ipsam veram esse admittere. […] Negare propositionem, est asserere ipsam esse falsam. […] Distinguere propositionem, est ipsam multiplicem in plures sensus dirimere. Dirimere, diuidere“ (Lefèvre/Clichtove 1535, fol. 10v). Lefèvre/Clichtove 1535, fol. 14v–15r. „Omnis propositio ab opponente proposita, cum peculiari suæ denominationis, vt antecedentis, consequentis, maioris aut minoris expressione, a respondente est concedenda, neganda, aut distinguenda“ (Lefèvre/Clichtove 1535, fol. 14v), die Schritt-für-Schritt-Erklärung gibt Clichtove in seinem Kommentar, fol. 15r. ‚Distinguo‘ scheint als Antwortoption erst ab dem 14. Jahrhundert
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idealisierend), dass der Opponent seinen Einwand oder seine Attacke in Form eines Syllogismus vorbringt. Der Opponent hat ebenfalls drei Aufgaben: Er formuliert Einwände (obiectiones) gegen vom Respondenten vorgestellte Propositionen. Zweitens muss er die Einwände, die der Respondent zurückgewiesen hat, glaubhaft machen oder beweisen (probare). Drittens schließlich muss er, wenn eine seiner obiectiones vom Respondenten gelöst worden ist, diese Lösung neuerlich attackieren, was gemeinhin replicare genannt wird.39 Es ist insbesondere das evasiv wirkende Instrument des Distinguierens, das in seiner Wirkungsmacht nicht zu unterschätzen ist. Es ermöglicht im strikt agonalen Rahmen der Disputation so etwas wie eine Entschärfung des Konflikts durch Auffächerung des Problems. So berichtet etwa Christoph Scheurl in den Anfängen der Reformationsauseinandersetzung an Johannes Eck, dass zwei Thesen Luthers seitens Roms verworfen wurden, dass Kardinal Cajetan aber zugesichert habe, sobald Luther diese beiden widerrufe, würde man den Rest durch „distinctiones“ lösen.40 Cajetans Angebot des Rückzugs auf distinctiones verweist damit zugleich auf einen seltsam hybriden Status der Operation: durch Distinguieren kann sowohl im Innen der Disputation eine Unterscheidung eingezogen werden, die ein Argument für den weiteren Verlauf der Disputation anschlussfähig hält. Durch Distinguieren kann aber auch nach außen der propositionale Gehalt von conclusiones entschärft und damit dogmatische Brisanz minimiert werden. Das Vertreten von Thesen in der Disputation impliziert – so legt es Aristoteles ebenso nahe wie Johannes Eck – eigentlich eine nicht hintergehbare Unsicherheit über die Möglichkeit von Zurechnung. Es ist diese Suspendierung von externer Pragmatik, die Erasmus im Sinn hatte, als er die Schutzformel loquor ut philosophus (ich spreche als Philosoph – in der Disputation, ist zu ergänzen) für sich als orator in der Schriftlichkeit beanspruchte.41 Erasmus war mit seinem Encomium matrimonii von 1518 mit den Pariser Theologen in Konflikt geraten, und sein Kontrahent war niemand anderer
39 40
41
auf, und die Sinnhaftigkeit wurde zeitgenössisch zunächst durchaus angezweifelt, vgl. den Abriss bei Ashworth 1986, 26 f. „Opponens, est qui alteri argumentum proponit, negatum probat, & datam solutionem sequenti obiectione impugnat“ (Lefèvre/Clichtove 1535, fol. 15r, der Kommentar Clichtoves ebd.). Eck o. J., ep. 67, Scheurl an Eck, 24. 11. 1518: „Hucusque Roma tacet neque mihi etsi Martini familiarissimo constat nisi duos articulos abiectos. Hos revocato, ait Caietanus, reliqua per distinctiones solvamus.“ „Qui inter Theologos proferunt Aristotelis placita ex diametro pugnantia cum doctrina Christi, sat habent dicere, loquor ut Philosophus“ (Appendix de scriptis Jodoci Clithovei [1526], Erasmus 1961, Bd. 9, 813A). „In concertationibus scholasticis etiamsi quid dicitur repugnans catholicae ueritati, satis est dicere, Nunc loquor ut philosophus: et mihi nihil proderit vociferanti, Loquor ut rhetor?“ (Erasmus 1968, 71). Vgl. meine Diskussion der Auseinandersetzung im Verbund mit Erasmus’ Lancierung der Deklamation als schriftliches Komplement der Disputation in Traninger 2012, 160–175.
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als Josse Clichtove. Erasmus’ Verteidigung stellte maßgeblich darauf ab, dass er eine textinterne Zurechnungsinstanz konstruierte, der allein die Textaussage, ein Zuraten zur Ehe, zuzuschreiben sei. Nicht Erasmus, der als Kleriker eigentlich den Zölibat höher schätzen müsste, rate zur Eheschließung, sondern ein fiktiver Laie spreche zu einem Laien.42 Wie aber gerade diese Auseinandersetzung und Clichtoves Weigerung zeigt, Erasmus die von diesem geforderte Argumentationsfreiheit einzuräumen,43 ist der Sprechakt des Philosophen bzw. ‚als Philosoph‘ an die Universität gebunden. Diese ist als stabiler – bzw. als auf Stabilität perspektivierter – institutioneller Ort zu verstehen, an dem das Entfalten heterodoxer Positionen zunächst durch die physische Lokalisierung der Verhandlung im universitätsöffentlichen Raum unter bestimmten Umständen duldbar ist. Durch die physische Einbindung in das Dispositiv der Universität war diese Spannung aushaltbar, denn zugleich konnte im Modus von Angriff und Verteidigung immer eine Seite (je nachdem, welchen Status die These hatte) in die Situation kommen, gegen die theologische Doktrin argumentieren zu müssen. Das Thema, das hier angesprochen ist, ist jenes der libertas philosophandi, das normalerweise insbesondere im Zusammenhang mit der Entstehung der modernen Philosophie und ihrer vermeintlichen Emanzipation aus der Rolle einer ancilla theologiae zur Sprache kommt.44 In der Tat verweist der Begriff auf drei distinkte Bereiche: zum einen auf Ansprüche auf schulenunabhängiges Denken, wie sie in zunehmendem Maß im Kontext des Eklektizismus ab dem 17. Jahrhundert formuliert wurden; zum anderen auf freidenkerische, typischerweise atheistische Positionen des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts; und drittens schließlich auf die Freiheiten des Denkens, die die mittelalterliche und frühneuzeitliche Universität qua institutioneller Zugehörigkeit ihren Mitgliedern gewährte, wobei die Erforschung und Darstellung der Beziehung zwischen den dreien nach wie vor ein Desiderat ist. Ian Maclean hat darauf hingewiesen, dass libertas im letzteren Kontext als juristischer Terminus zu verstehen ist, der auf die Stellung der Universität als Körperschaft eigener Jurisdiktion und die damit verbundenen Privilegien und Immunitäten zu beziehen ist.45 In diesem dritten Sinn ist der Begriff für den hier zu diskutierenden Kontext relevant. Die alte Universität gewährte ihren geschworenen Mitgliedern beachtliche Freiheiten, die allerdings in ein präzises Raster von Äußerungskategorien eingepasst waren: 42 43 44 45
„ne imagineris Erasmum alteri loqui, sed laicum laico“ (Erasmus 1968, 82). Clichtove reihte Erasmus vielmehr unter die ‚lutherischen Häretiker‘ ein; vgl. Clichtove 1526, Kap. 32–34. Vgl. die Kritik in de Mowbray 2004. Vgl. Maclean 2006, 260 f. – Laetitia Boehm, die den Erstbeleg für libertas scholastica 1229 lokalisiert, bindet den Begriff wiederum zurück an das Konzept der artes liberales als einem Freien würdige Wissenschaften; vgl. Boehm 1970, 22 f. Die Belege bei Sutton 1953 decken die Spannbreite von Spinozas Tractatus theologico-politicus (1670) bis zurück zu Giordano Brunos Einfordern einer universitären Lehrfreiheit ab, thematisieren aber nicht den semantischen Wandel, den der Ausdruck durchmacht.
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„A master might venture almost any idea or opinion narrando, dubitando, inquirendo or querendo. In presenting the arguments or doctrines of his philosophical authorities, he customarily used the terms recitare, disserere, declarare. Only when a personal and formal solution was reached did masters use the words asserere and determinare.“46 Die vielfältigen Kommunikationen im universitären Kontext wurden im Hinblick auf eine zentrale Unterscheidung kategorisiert: Aussagen blieben gleichsam in der Schwebe, bis ihnen der Status einer Assertion, einer behauptenden Wahrheitsaussage zugewiesen wurde und der Sprecher sich damit auf das Gesagte verpflichtete. Ein Gutachten, um das Johannes Eck die Universität Mainz zu seiner Auffassung vom Zins gebeten hatte, stellt genau auf diese Unterscheidung ab: Auch unter den Mainzer Theologen gebe es welche, die Ecks Position zur Vertragstheorie scholastice, das heißt in der Disputation, einnehmen und verteidigen könnten.47 Die Mainzer Fakultät ist angesichts dieser Antwortformulierung der „falschen Bescheidenheit“ und der „Flucht in einen dogmatisch abgegrenzten Raum“ geziehen worden,48 doch die Mainzer nehmen eigentlich zur inhaltlichen Seite des Problems positiv Stellung: für Ecks Einschätzung gebe es gute Gründe, denn die Position lasse sich in der Disputation halten und gegen Angriffe verteidigen. Die Einmischung in den doktrinären Klärungsprozess wird allerdings dennoch verweigert. Das Recht, theologische Fragen frei und ohne dogmatische Festlegung zu erörtern, beanspruchte umgekehrt Johannes Eck 1516 in Wien ebenso für sich wie Martin Luther in Wittenberg 1517. Als im Falle Luthers klar wird, dass er es nicht bei einer disputativen Exploration bewenden lässt und die kirchliche Maschinerie zur Bewahrung der Orthodoxie anläuft, werden seine Thesen, die er 1517 zur Disputation veröffentlichte, zunächst explizit von seinen inkriminierten Schriften ausgenommen. Nachträglich bestätigt Cajetan in seinem Brief an Kurfürst Friedrich im Anschluss an Luthers Verhör in Augsburg, dass die Wittenberger Thesen nur disputative gemeint gewesen seien, wohingegen die Aussagen gleichen Inhalts in Predigten, der Publizistik und hier insbesondere in der Volkssprache „affirmative et assertive […] posita“ und deshalb zu inkriminieren seien.49 Die Thesen werden also dadurch, dass sie in anderen Textsorten
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McLaughlin 1977, 67. „Sunt enim et apud nos qui eam scholastice et tenere et defensare possent.“ Das Gutachten der Mainzer Theologischen Fakultät vom 10. Januar 1515 ist abgedruckt in Oberman 1979, 428 f., hier 429. Mit Übersetzung in Eck o. J., ep. 18. Wurm 1997, 154, paraphrasiert hier missverständlich: „Schließlich gebe es auch bei ihnen welche, die ihn sowohl für scholastisch hielten als auch verteidigen könnten.“ ‚Scholastisch‘ scheint mir hier als Synonym für Konformität mit der Glaubenslehre verwendet zu werden, in der Tat ist damit aber die institutionell gerahmte, von lebensweltlicher Zurechnung entlastete Kommunikationsebene der Wissensverhandlung gemeint. Oberman 1979, 186. Cajetan an Kurfürst Friedrich, 25. Oktober 1518 (WA Briefe, Bd. 1, Nr. 110, 233–235, hier 234, 70–74): „In causa vero tria affirmo. Primo, dicta Fratris Martini, licet in Conclusionibus sint disputative, in sermonibus tamen ab eo scriptis affirmative et assertive esse posita, et confirmata in
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und Medien außerhalb des Disputationskontexts wiederholt und natürlich auch reformuliert werden, Gegenstand der Untersuchung und der Verfolgung. Diese Scheidung von disputative oder scholastice und assertive Geäußertem mit der Konsequenz, dass der gleiche propositionale Gehalt je nach Äußerungskontext etwas anderes bedeutet – im Sinn von: andere Konsequenzen impliziert –, gemahnt zum einen an rhetorische Modelle der persona. Insbesondere die kaiserzeitliche Rhetorik hatte mit der Deklamation ein Format entwickelt, in welchem dem Einnehmen einer Rolle in fiktiven Beratungs- oder Gerichtsreden zentrale Bedeutung zukam.50 Zum anderen drängt sich der Vergleich mit der literaturwissenschaftlichen Disjunktion von lebensweltlichem Autor und textinternem, fiktivem Erzähler auf. Diese Unterscheidung ist nicht Voraussetzung, sondern Konsequenz des Erkennens der Fiktionalität eines Textes:51 dem Autor ist keine unwahre oder kontrafaktische Aussage anzulasten, wenn eine textinterne Zurechnungsinstanz angesetzt wird. Beide Modelle, die rhetorische persona wie auch die literaturwissenschaftliche Autor/Erzähler-Unterscheidung, zielen darauf ab, Situationen suspendierter Zurechnung durch terminologische Scheidung von Innen und Außen zu definieren.52 Bemerkenswert ist, dass beide Modelle auf die Prosopopöie als Schema zurückgreifen, auf die Rollenrede und die Konstruktion eines Alter ego, entweder in der Arena der Deklamatoren oder im Innen des Texts. Denn auch wenn es sich beim Erzähler um eine Funktion handelt, die maßgeblich als Stimme präsent ist, ist doch schon durch den Terminus ‚Erzähler‘ ein Anthropomorphismus eingeführt. Obwohl dieses terminologische und methodische Instrumentarium insofern nützlich ist, als es den Blick schärft für die komplexen Prozesse der Disjunktion von Proposition und Assertion, erfasst es die Spezifik der Disputation nur unzureichend: Der mittelalterliche oder frühneuzeitliche Doktor agiert immer als er selbst, doch bewegt er sich zwischen zwei Registern von Lizenzen, zwischen denen eine stets überaus fragile Grenze gezogen ist. Denn der Sprechakt, der disputative oder scholastice gerahmt ist, ist stets in einem kommunikativen Dazwischen angesiedelt, er verweist nach innen, auf seine Zugehörigkeit zur Institution, die Unterwerfung unter ihre Regeln und Sicherungsmechanismen, und er verweist nach außen, auf die stets mitschwingende Möglichkeit der Heterodoxie, auf lebensweltlichen Distinktionsgewinn und die Gefahr der Transformation von Exploration in Assertion. Angesichts dieser Labilität kommt die Disputation als Ort religiöser Toleranz kaum in Frage. Zwar ist in ihr der Widerspruch gegen etablierte Lehrmeinungen strukturell angelegt, doch zeitigt das Umstellen von
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vulgari Germanico, ut aiunt. Ea autem sunt partim contra doctrinam Apostolicae Sedis, partim vero damnabilia.“ Vgl. zur Gattung insgesamt Bonner 1969, zur persona Bloomer 1997. Es ist bezeichnend, dass die Deklamation genau im Umfeld der hier diskutierten Kontroversen wiederbelebt wurde, vgl. oben Anm. 41. Vgl. Hempfer 2002, 120. Vgl. dazu demnächst Traninger 2013.
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disputativer auf assertorische Rede (genauer: das Ineinsfallen beider) im Fall einer devianten opinio konsequent die Schließung der Freiräume des Denkens.
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Register
Abaelard, Petrus 166 Abraham ben David 268, 279 Abulafia, Abraham 262 f. Adelmann, Bernhard 327 Adelt, Martin 131 Adelung, Johann Christoph 203 Akiba ben Josef 267, 277 Albertus Magnus 324 Alsted, Johann Heinrich 239 Althusius, Johannes 180 Andreae, Johann Valentin 207 Anslo, Geneberard 252 Aristoteles 44, 87 f., 103–107, 109– 113, 115, 133, 321, 325, 332 Arius 192, 203, 310 Arminius, Jacobus 185, 187 Arndt, Johann 202 Arnold IV. (Graf von Bentheim) 180, 193 Arnold, Gottfried 200 Athanasius von Alexandria 167 Augustinus 172 Badius, Johann 179 Baker, Richard 64 Balduin, Friedrich 228 Bali, Hamza 312 Bancroft, Richard 52 Bastard, Thomas 64, 65 Bathory, Stefan 124 Baumann, Caspar 297 f., 302, 305, 307–310 Bayle, Pierre 42, 87, 143 f., 153
Beauregard, Claude 47 Bechtold, Johann 96 Behem, Abraham 201 Bekes, Kaspar 307 Bell, Beaupré 64 Bellarmin, Robert 185 Berg, Johann 223 f., 228–230, 239 Bergius, Matthias 112, 114 f. Bernhard von Clairvaux 166 Bertius, Petrus 77 Besserer, Georg 328 Bethlen, Gábor (Fürst von Siebenbürgen) 228 Beyrlin, Jakob 296 Beza, Theodor 12, 122, 125–133, 180, 190, 230 Biandrata, Giorgio 131, 172, 302 Bibliander, Theodor 294, 310 f. Bock, Friedrich Samuel 225 f. Bodenstein, Adam von 200, 203, 207, 214, 311 Bodenstein, Andreas 11 Bodin, Jean 25–28, 44, 295, 310 Boethius 325 Böhme, Jakob 200 f., 204 f., 215 Borre, Adriaan van den Siehe Borrius, Adriaan Borri, Girolamo Siehe Borro, Hieronimus Borrius, Adriaan 78 f. Borro, Hieronimus 39 Botarel 274, 285
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Bourbon, Nicolas 40 Breler, Melchior 202 Brooke, Christopher 62, 64 Brooke, Samuel 64 Brunnemann, Hieronymus 223, 227, 230 Bruno, Giordano 333 Budde, Johann Franz 122, 276 Burckhard, Franz 327 Burghstroph (adliger Zögling des Martin Ruarus) 94 Burmann, Frans 259 Caesar, Theophil 185 Caimo, Pompeo 46 Cajetan, Thomas 320, 332, 334 Calvin, Johannes 126, 190, 230, 239, 295 Camerarius, Joachim 308 Campanella, Tommaso 21, 149 Campanus, Johannes 172 Capito, Wolfgang 309 Cardano, Girolamo 46, 134 Casaubonus, Isaac 214 Castellanus, Julius 44, 46 Castellio, Sebastian 11 Cesalpino, Andrea 87, 93, 103 Cettis, Giambattista 86, 102 Chrysostomos 172 Chytraeus, David 133 Cicero, Marcus Tullius 112, 114 Clapmarius, Arnold 114 f. Clichtove, Josse 324, 331, 333 Cobius, Johannes 73 f. Colberg, Daniel Ehregott 199, 214 Coleridge, Samuel Taylor 144 Collectus (Pseudonym) Siehe Leimer, Nikolaus Comenius, Johann Amos 252, 254 Conring, Hermann 214 Cornwallis, William 64 Crato von Crafftheim, Johannes 131 f., 134, 203
Crell, Johannes 72 f., 76 f., 85 f., 92 f., 101–116, 143, 161, 174, 232 Crell, Samuel 226, 238–240, 310 Cremonini, Cesare 44, 46, 88 f., 101 Croce, Benedetto 21 Crollius, Oswald 202 f., 214 Cromwell, Oliver 252 Crucius, Vincentius Alsacius 46 Crusius, Florian 232 Crusius, Martin 301, 308 Cupus, Petrus 78, 80 Curione, Celio Secondo 123 Cuspinianus, Johannes 327 d’Holbach, Paul Thiry 102 d’Ochino, Bernardino 127 f. d’Orléans, Gaston 47 Dávid, Ferenc 131, 302, 304 David, Franz Siehe Dávid, Ferenc Davies, John 65 de Heredia, Paulus 260 Di Costanzo, Angelo 20 Dinner, Andreas 92 Donne, John 12, 51–55, 58, 60, 62–66 Dorn, Gerhard 200, 203, 214 Du Closel (hugenottischer Adliger) 47 Du Jon, François 151, 153, 155 Du Moulin, Pierre 191 Duchesne, Joseph 214 Dudić, András Siehe Dudith, Andreas Dudith, Andreas 12, 121–135 Dümmler, Nikolaus 77, 92 f., 115 f. Duplessis-Mornay, Philippe 258 Dury, John 252, 260 Eck, Johannes 12, 326–332, 334 Episcopius, Simon 73, 77–79, 191 Erasmus von Rotterdam 172, 309, 332 f. Erastus, Thomas 133 f., 149, 203, 296, 303 f. Espen, Zeger Bernhard van 20 Eustachius, Robertus (Pseudonym) Siehe Ruarus, Martin Eyb, Gabriel von 327
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Faber Stapulensis, Jacobus Siehe Lefèvre d’Étaples, Jacques Falconet, André 40 Felwinger, Johann Paul 13 Ferber, Hanns 311 f. Ferdinand I. (Kaiser, HRR) 123 Ferdinand II. (König von Aragón) 28 Ferrarius, Octavianus 87, 89 Figulus, Benedictus 13, 200, 207–214 Flöter, Balthasar 200 Fludd, Robert 267, 284 Franckenberg, Abraham von 207, 254, 267 Francus, Johannes Philadelphus (Pseudonym) Siehe Crell, Johannes Franzosi, Girolamo 44 Frauenburger, Johann Gerhard 93 Friedrich I. (König von Preußen) Siehe Friedrich III. von Hohenzollern (Markgraf von Brandenburg) Friedrich II. von Hohenstaufen (Kaiser HRR) 21, 27 f. Friedrich III. (Herzog von SchleswigHolstein-Gottorf) 197 Friedrich III. der Weise (Kurfürst von Sachsen) 334 Friedrich III. von Hohenzollern (Markgraf von Brandenburg) 9, 226, 237 f. Friedrich Wilhelm I. (König in Preußen) 226, 240 Friedrich Wilhelm von Hohenzollern (Markgraf von Brandenburg) 14, 225, 233–237 Galatino, Pietro Colonna 165, 257, 260, 267, 274 Galatinus, Petrus Siehe Galatino, Pietro Colonna Galilei, Galileo 60 Gaudentius, Paganinus 46 Gebhard. I. (Erzbischof von Köln. Truchseß von Waldburg) 179 Gebhard, Brandanus Heinrich 8
Geesteranus, Johannes Evertsz 77 Gentile, Giovanni 21, 128 Georg Wilhelm von Hohenzollern (Markgraf von Brandenburg) 223, 227 f., 232, 241 Georgius von Trapezunt 329 Gerlach, Samuel 303 Gerlach, Stephan 297–299, 303, 307– 309, 311 Gessner, Konrad 203 Giannone, Pietro 12, 17–31 Gikatilla, Josef 273 Giphanius, Obertus 112, 115 Gittich, Michael Siehe Güttich, Michael Giustiniani, Agostino 274 Gomarus, Franciscus 187, 191 Gonesius, Petrus 83 Goodyer, Henry 64 Goslav, Adam 227 Grauer, Albert 95 Gregor VII. (Papst) 22, 53 Gregor von Nazianz 172 Gregor von Nyssa 90 Grevinchoven, Nikolaus 78 f. Gribaldi, Matteo 172 Grotius, Hugo 20, 26, 80, 96, 102, 163, 191–196 Grynaeus, Johann Jakob 183 Guicciardini, Francesco 20 Guilpin, Everard 64 Güttich, Michael 86, 90–92, 95, 102 Habsburg, Ernst von (Erzherzog von Österreich) 124 Hainlein, Sebastian 93 Hartlib, Samuel 252, 260 Hartmann, Johannes 205, 214 Harwitz, Schabtel 253 Haslmayr, Adam 208 Heerbrand, Jacob 308 Heinrich VIII. (König von England) 53 Heinsius, Daniel 258
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Helmont, Franciscus Mercurius van 284 Helvicus, Christoph 258 Herodot 306 Heshusius, Anton Günther 144 Heywood, Ellis 62 Heywood, Jasper 62 Heywood, John 62 f. Heywood, John d. J. 63 Heywood, Richard 63 Hieronymus 172 Hodel, Ruprecht 328 Hoeschelius, David 90 Homagius, Philipp 206 Hooker, Richard 62 Hoskins, John 64 f. Hottinger, Johann Heinrich 258 Höverbeck 252 Hunnius, Nicolaus 202 Huper, Martin 327 Huswedel, Conrad 90 Innozenz III. (Papst) 23 Innozenz VIII. (Papst) 319 Isabella I. (Königin von Kastilien) 28 Isaschar Beer filii Mosis Pesachii 278 Jacob ben Naphtali 269 Jakob I. (König von England) 191, 192, 193 Jancovius, Georg 236 Johann Sigismund von Hohenzollern (Markgraf von Brandenburg) 223 f. Johann VI. (Graf von NassauDillenburg) 180 Jonson, Ben 64 Jordan, Franciscus 168 Josef ben Schalom Aschkenasi 268 Juda I. (Jehuda ha-Nasi, Rabbenu haKadosch) 274 Julian Apostata 310 Karádi, Paul 304 Karl I. Ludwig (Kurfürst von der Pfalz) 225 Karl V. (Kaiser, HRR) 123
Karlstadt, Andreas Siehe Bodenstein, Andreas Katharina (Königin von Polen) 124 f. Katharina (Prinzessin von Brandenburg) 228 Kayser, Oswald 312 Keckermann, Bartholomäus 165 Kelsos 310 Khunrath, Heinrich 204, 267 Kimedocius, Jacobus 180 Kircher, Athanasius 172, 276 Kob, Johann Siehe Cobius, Johannes Koenerding, Johannes Andreas 71 f., 76 f. Krokier, Paul 94 Kromayer, Hieronymus 202 Kuhlmann, Quirinus 203 Kyrill 310 Lactantius 114 Lambin, Denis 112 Lasco, Ioannes a 128 Lasicki, Johannes 302 Lauterbach, Samuel Friedrich 122 Leclerc, Jean 259 Lefèvre d’Étaples, Jacques 324, 331 Leimer, Nikolaus 74 Lessing, Gotthold Ephraim 293, 296 Leuchsner, Georg Ludwig 73 f., 86, 102 Leuchsner, Johann Georg 102 Libavius, Andreas 203 Lieber, Thomas Siehe Erastus, Thomas Limborch, Philipp van 258 f. Lipsius, Justus 25 Locke, John 83 Loftus, Edward 62 Lopez, Domenico 186 Lubbertus, Sibrandus 184, 188 f., 191– 193, 195 Lubieniecki, Andreas d. J. 225 f. Lubienieki, Stanisław 84 Lucius, Ludwig 90
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Ludwig V. (Landgraf von HessenDarmstadt) 206 Ludwig XIII. (König von Frankreich) 47 Luis Francisco de la Cerda y Aragón (Herzog von Medinaceli, Vizekönig von Neapel) 19 Luther, Martin 53, 172, 192, 326, 332, 334 Machiavelli, Niccolò 20, 26 Magni, Valerian 251 Maldonado, Juan de 167 Matthias, Christian 13 Marca, Pierre de 20 Maria I. Tudor (Königin von England und Irland) 123 Martin, Richard 65 Martini, Raimundus 257, 260, 267 Maximilian II. (Kaiser, HRR) 121, 124 f. Mayer, Johann Friedrich 8 Mazarin, Jules 41 Megnedinius (Pseudonym) Siehe Wtenbogaert, Johannes Meisner, Balthasar 255 Melanchthon, Philipp 112, 133, 233 Mersenne, Marin 96, 102 Mieg, Ludwig Christian 296, 310 Mohammed 203 Montaigne, Michel de 39 More, Henry 276 More, John 63 More, Thomas 62 f. Moritz von Hessen (Landgraf von Hessen-Kassel) 193, 205 f., 208 Moritz von Oranien 79, 193, 196 Morsius, Joachim 208 Morus, Thomas Siehe More, Thomas Moscorovius, Hieronymus 94 Müntzer, Thomas 11, 230 Muratori, Ludovico Antonio 20 Naigeon, Jacques-André 102 Naudé, Gabriel 40–47, 88, 114
Neuenahr, Adolf von 179 Neuser, Adam 12, 293–312 Neuser, Adam d. J. 297 Niceron, Jean Pierre 122 Nigrin, Bartholomäus 251 Nikolaus von Kues 294 Nolle, Heinrich 205, 207, 214 Oecolampadius, Johannes 310, 327 Oldenbarnevelt, Johan van 191, 193 Olevian, Caspar 180, 296, 300 Onesimus (Pseudonym) Siehe Cobius, Johannes Onkelos 256 f. Origenes 169 Osiander, Lucas 151, 153, 155 f. Ostorodt, Christoph 75, 84–86, 90–92, 94–97, 101, 131, 161 Ottheinrich (Pfalzgraf von PfalzNeuburg, Kurfürst von der Pfalz) 311 Owen, John 64 Pagius (Pseudonym) Siehe Borrius, Adriaan Paksi, Michael 302 Palaeologus, Jakob 131, 304, 311 f. Paracelsus 199, 203, 205, 207 f., 214 Pareus, David 180–183, 191, 295 Parrino, Domenico Antonio 20 Paschasius (Pseudonym) Siehe Ostorodt, Christoph Pastor, Adam 302 Pastorius, Joachim 104 Patin, Guy 40–47 Paul von Samosata 182, 192 Pauli, Gregorius 168, 174 Paulus de Heredia 274 Paweł, Grzegorz Siehe Pauli, Gregorius Penot, Bernard Gilles 202 Pentner, Marx 312 Perna, Pietro 200 Petersen, Johann Wilhelm 8, 141, 149, 150 f.
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Petersen, Johanna Eleonora 141, 149, 151–156 Petrarca, Francesco 321 Petrus Hispanus 325 Peuschel, Joachim 73–75, 79, 86, 92– 95, 116 Pezel, Christoph 183 Phaedro, Georgius 214 Philipp II. (König von Spanien) 53 Pico della Mirandola, Giovanni 260, 266 f., 319–322 Pin, Louis Ellies du 20 Pirckheimer, Willibald 327 Piscator, Johannes 180, 192 Pisecius, Martin 164 Pisecki, Marcin Siehe Pisecius, Martin Polanus von Polansdorf, Amandus 183 Pole, Reginald 123, 133 Polyander, Johannes 191, 195 Pomponazzi, Pietro 44 f., 88 Porphyrios 310 Porzio, Simone 44 Postel, Guillaume 11, 267, 282 Possevino, Antonio 9 Praetorius, Johann 132, 134 Preuss, Johann 236, 238 Przypkowski, Samuel 80, 225 f., 232, 234 f. Pseudo-Rabad 269, 271 f., 278 Pucci, Francesco 12, 139–156 Queccius, Georg 103, 112–116 Quercetanus, Josephus Siehe Duchesne, Joseph R(abbi) Meir b(en) Todros 285 Rabad Siehe Abraham ben David Rainsford, Richard 63 Rastell, John 62 Rastell, William 63 Rauh, Matthias 75, 93 f. Ravensperger, Hermannus 196 Reuchlin, Johannes 266 f. Reuter, Quirinus 122, 183 Rhaw, Matthias Siehe Rauh, Matthias
Ricius, Paulus 273 Rittangel, Johann Stephan 13, 251– 288 Rittershausen, Conrad 90, 92 Rodecki, Alexander 84 Rodríguez de Montalvo, Garcí 322 Roe, John 64 Roper, William 63 Rosenkreuz, Christian 208 Rothari (König der Langobarden) 27 Ruarus, Joachim 73 f. Ruarus, Martin 12, 72–77, 79 f., 85 f., 90, 92–97, 102, 104, 116, 162, 232 Rudigerus, Ulricus (Pseudonym) 74 f., 79 Rudolph II. (Kaiser, HRR) 208 Rudyerd, Benjamin 64 Salins, Hugues de 41 Samuelfy, Lorandus Siehe Schwarz, Gottfried Sand, Christoph d. Ä. 236 Sand, Christoph d. J. 84, 121 f., 130, 225 f., 236 Sarpi, Paolo 20 Sbardellati, Agostino 123 Scaliger, Julius Caesar 134, 276 Schede, Paul (Melissus) 207 Scherbe, Philipp 87, 89, 93, 101, 103, 161 Scheurl, Christoph 332 Schlichting, Jonas 94, 229, 255, 257 f. Schmalz, Valentin 94 f., 131, 227 Schopper, Jacob 8, 13, 90, 92 Schwarz, Gottfried 122, 132 Schwenckfeld, Kaspar 11 Scultetus Montanus, Johannes 200 Scultetus, Bartholomaeus 200 Seelbach, Johann von 209 Selden, John 251 Selim II. (Sultan, Osmanisches Reich) 293 f., 296 f. Seneca, Lucius Annaeus 62, 134 Serarius, Nicolaus 149, 153
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Servet, Michel 9, 127 f., 230, 172, 192 Severinus, Petrus 203, 214 Siderocrates, Samuel 202 Sienieński, Adam 87, 90 Sienieński, Jakob 84, 94 Sienieński, Jan 83 f. Sigismund II. August (König von Polen) 83, 124, 125 Simon (Apotheker in Krakau) 298 Simon der Gerechte 274 Simon, Richard 9 Sommer, Johannes 304 Soner, Ernst 12 f., 72–74, 84–91, 93– 95, 101–103, 115, 152, 161–166, 169–174 Sozzini, Fausto 12, 72, 80, 83, 94, 139–150, 153–154, 156, 163, 168, 172, 181–183, 185 f., 189, 191 f., 195 f., 227 Sozzini, Lelio 163, 168 Spener, Philipp Jacob 8 Spinoza, Baruch de 17, 26, 29, 259, 333 Spiritius (Pseudonym) Siehe Geesteranus, Johannes Evertsz Stancaro, Francesco 128 Statorius, Petrus 94 Stegmann, Christoph 227 Stegmann, Joachim d. Ä. 104, 223 f., 227–232, 241–247 Stegmann, Joachim d. J. 225 Sternacki, Sebastian 84 Stieff, Carl Benjamin 122, 131 Stoinius, Johann 104 Strabo (Pseudonym) Siehe Peuschel, Joachim Strass, Regina 125 Stubbes, Christopher 63 Stübner, Markus 11 Suchten, Alexander von 214 Summenhart, Konrad 326 Summonte, Giovanni Antonio 20 Sutton, Christopher 54
Sylvanus, Johannes 203, 296, 302–304 Syminges, John 62 Tancke, Heinrich 205 Tancke, Joachim 212 Tanckius Siehe Tancke, Joachim, Siehe Tancke, Heinrich Tauferer, Johannes 96 Taurellus, Nikolaus 87, 101 Tertullian 169, 294 Theoderich der Große (König der Ostgoten) 26 f. Theodoret 165 Thomas von Aquin 145, 323 Thomasius, Christian 322 Thou, Jacques-Auguste de 20 Thrasyllus, Gabriel (Pseudonym) Siehe Koenerding, Johann Andreas Tierberg, Melchior von 312 Timpler, Clemens 180 Tindal, Matthew 83 Tossanus, Daniel 180 f., 183 Toxites, Michael 200 Travers, Walter 62 Tschesch, Johann Theodor von 254 Turnebus, Adrian 123 Turpilius (Pseudonym) Siehe Sozzini, Fausto Ungnad, David 308 Ursinus, Zacharias 239, 296 Vanini, Giulio Cesare 46 Vechner, Georg 252, 255, 258 Veesenmeyer, Georg 299 Vehe, Matthias 304 Vehr, Petrus d. Ä. 223, 227, 230 f. Victor (Pseudonym) Siehe Grevinchoven, Nikolaus Vimercato, Francesco 123, 133 Vio, Tommaso de Siehe Cajetan, Thomas Viret, Pierre 168 Vogel, Johannes 75, 79, 86, 92 f., 95, 116
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Voidovius, Andreas Siehe Wojdowski, Andrzej Voisin, Joseph 257, 258 Vorstius, Conrad 13, 72, 77 f., 179– 193, 195–197 Vossius, Gerhard 167, 195 Wachter, Johann Georg 276 Wachtere, Simon de (Pseudonym) Siehe Episcopius, Simon Wacker, Lambert 200 Waeyen, Johannes van der 252 f., 258 f. Wagenseil, Johann Christoph 253 Walaeus, Antonius 195 Weigel, Valentin 201 f., 205 Wessel, Wilhelm 208 Whiston, William 83 Wigand, Johann 168 f., 174 Wild, Eberhard 206 Winwood, Ralph 191 Wiszowaty, Andreas 121 f., 225 Witrousk, Piotr 310
Wojdowski, Andrzej 84 f., 86, 90, 95, 101, 161 Wolf, Johann 126 f. Wolf, Johann Joachim 149, 151–156 Wolzogen, Hans Ludwig von 228 Woodward, Rowland 64 Woodward, Thomas 64 Wotton, Henry 64 f. Wtenbogaert, Johannes 73, 78 f., 185, 190 Zabarella, Jacopo 44 Zaborowski, Jan 90 Zanchi, Girolamo 126, 190 Zanchi, Hieronymus Siehe Zanchi, Girolamo Zell, Katharina 11 Zeltner, Gustav Georg 9 f., 74, 116, 162 Zuleger, Wencel 300 f. Zweyst, Nicolaes van 190 Zwinger, Jakob 205 Zwinger, Theodor 202, 205