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German Pages [148] Year 2016
INDES Vandenhoeck & Ruprecht
Heft 3 | 2016 | ISSN 2191-995X
ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT
Cornelia Koppetsch Soziale
Schließung, Nonkonformismus und Protest Christina Templin Theater und Sexualmoral um 1900 Interview mit Heinrich Detering
Nonkonformismus in Gesellschaft und Literatur Wolfgang M. Schmitt Ernst Jüngers Waldgänger
NonKonformismus
Entstehung und Geschichte der Universitäten Konstanz und Bielefeld
Moritz Mälzer
Auf der Suche nach der neuen Universität Die Entstehung der »Reformuniversitäten« Konstanz und Bielefeld in den 1960er Jahren Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft, Band 13 2016. 512 Seiten mit 6 Abb., gebunden € 80,– D ISBN 978-3-525-36852-7 eBook: € 64,99 D / ISBN 978-3-647-36852-8
Die Reformuniversitäten Konstanz und Bielefeld waren in den 1960er Jahren Prestigeprojekte der damaligen Hochschul- und Landespolitik. Die Studie zeichnet ihre Entstehungsgeschichte nach. Als Reformuniversitäten sollten Konstanz und Bielefeld neue Konzepte erproben und eine Differenzierung des Hochschulsystems einleiten. Die Entwicklung von Universitäten neuen Typs schloss an Diskussionen über neue internationale Trends und deutsche Universitätstraditionen an. Auf dem Prüfstand standen Bildung, Ausbildung und Forschung. Bereits während des Aufbaus veränderte sich das hochschulpolitische Umfeld und die Reformuniversitäten verloren ihre herausragende Position. Die Reformideen blieben indes bestehen. Moritz Mälzer zeichnet die Entstehungsgeschichte der beiden Universitäten nach.
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EDITORIAL ΞΞ Jöran Klatt / Matthias Micus
»Sie lachen über mich, weil ich anders bin. Ich lache über sie, weil sie alle gleich sind«, sagte der Sänger Kurt Cobain, Frontmann der Band Nirvana. Cobain gilt heute als tragische Stilfigur. Er ist berühmt geworden als Gegenfigur, als Gegencharakter, als Gegenmusiker. Und auch wenn sein Zitat auf eine andere Wahrnehmung schließen lässt, so wurde er eben für dieses Dagegensein gefeiert und geliebt. Die kollektive Verehrung von Cobain gilt einer Ikone des Nonkonformismus. Das ist durchaus paradox, denn instinktiv würde eine andere Kausalität näherliegen. Gesellschaften, so lässt sich auch in sozialwissenschaftlichen Lehrbüchern nachlesen, sind zum Preis ihres Untergangs auf Regelbefolgung angewiesen. Abweichendes Verhalten hingegen zieht Sanktionen nach sich: von Statuseinbußen über soziale Kontaktabbrüche bis hin zu justiziablen Strafen. Gleichwohl gibt es in manchen Bereichen der modernen Gesellschaft geradezu einen Kult des autonomen Eigensinns. Verhaltenspsychologen postulieren als zentrales Entwicklungsziel gelingender Sozialisation die Herausbildung einer selbstständigen Persönlichkeit; die Konsumgesellschaft lebt vom massenhaften Wunsch der Verbraucher, ihre Individualität durch Kleidungsstile, Prestigegüter und Freizeitaktivitäten sichtbar für das eigene Umfeld zu inszenieren – und feuert dergleichen Bedürfnisse vermittels Werbung unablässig an. In der Politik schließlich gibt der Parteibürokrat, der sich vollständig in den Dienst der Sache stellt und bis zur Unkenntlichkeit mit der Gruppe verschmilzt, den Prototyp für die so beliebte pauschale Politikerschelte ab. Nonkonformismus, einst einer der Schrecken der bürgerlichen Gesellschaft, gilt mittlerweile als positives Gut. Dabei wird Unangepasstheit vielfach mit Individualismus regelrecht in eins gesetzt. Dennoch: Auch die Nebenarme des sozialen Breitenstroms werden unverändert aus diesem gespeist und bleiben mit diesem auch dann verbunden, wenn sich die Flussverläufe ebenso klar wie grundsätzlich scheiden. Diese fortdauernde Verknüpfung mit der Gegenseite ist ganz generell ein übergreifendes Phänomen jedes Nonkonformismus. Insofern verwundert nicht, dass sich das, was da als Nonkonformismus betrachtet wird, im Wandel der Zeiten und Gesellschaften mitverändert. Was in bestimmten historischen Momenten einen Skandal auszulösen imstande ist, ruft später unter Umständen nur noch ein Achselzucken hervor; einstmals tragende Pfeiler des soziokulturellen Selbstverständnisses werden heute
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tabuisiert. Konformismus, heißt das, wird zu Nonkonformismus – und umgekehrt. Promiskuität etwa, auch wenn sie von Verheirateten praktiziert wird – dies sogar dann, wenn es sich um Frauen handelt –, vermag heute keinen Skandal mehr wie jenen um die Münchner »Brettl«-Bühnen vor rund hundert Jahren auszulösen – schon gar nicht, wenn es sich dabei um die Darstellung von Sexualität im Rahmen einer Theateraufführung handelt (siehe den Beitrag von Christina Templin in diesem Heft). Dabei zeigt sich: Wer sich mit Nonkonformismus beschäftigt, dem stellen sich sehr bald schon ganz fundamentale Fragen. Wo fängt Nonkonformismus an, wo hört er auf? Leben wir in angepassten Zeiten – oder, im Vergleich mit der jüngeren Vergangenheit, zumindest angepassteren? So jedenfalls tönt es gerne vorwurfsvoll vonseiten der Zugehörigen früherer Protestgenerationen. Insbesondere die Altrevoluzzer der 68er pflegen heutige Jugendkohorten zu ermahnen, nicht angepasst das eigene Fortkommen zu betreiben, sich statt um die persönliche Karriere um Politik zu kümmern und in den Dienst hehrer Ideale zur Lösung gemeinschaftlicher und am besten gleich ganz und gar globaler Probleme zu stellen. Anstelle des eigenen aufrechten Ganges erblicken sie nurmehr Duckmäusertum. Wo sie selbst autoritäre Verhältnisse gegen mächtige Gegner liberalisiert haben, drohen ihre Nachfahren die mühsam errungenen Verbesserungen zu verspielen, obwohl zum Protest viel weniger Courage nötig und der gesellschaftliche Widerstand längst nicht mehr so stark wäre. Aber, so mag an dieser Stelle eingeworfen werden: Die 68er leben ja weit überwiegend noch. Und tatsächlich gibt es Sozialwissenschaftler, die für die Gegenwart und nahe Zukunft eine neue Qualität von Seniorenprotest diagnostizieren. Die Älteren, geht diese Erzählung, verfügen über Bewegungserfahrung und als Rentner auch über viel freie Zeit, um ihre Interessen gegen den Mainstream zu kampagnisieren – wohingegen die höheren Altersgruppen in der Vergangenheit für gewöhnlich Horte der Stabilität und Ruhe zu sein pflegten. Der vor einigen Jahren aufgekommene Begriff des »Wutbürgers« zeugt ebenfalls von zeitgenössischer Diffusion nonkonformistischen Widerspruchs in dafür eigentlich eher unauffällige Milieus hinein. Auch hier wieder: Wenn die Mitte nicht mehr verlässlich die gesellschaftlichen Konventionen, Regeln, Umgangsformen trägt: Wer soll ihre Geltung dann überhaupt noch verbürgen? Und schließlich: Europaweit reüssieren seit Längerem politische Gruppierungen, welche die radikale Kritik an den bestehenden Verhältnissen, eine insbesondere gegen die gesellschaftlichen Eliten gerichtete AntiHaltung und den systematischen Tabubruch monstranzengleich vor sich
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EDITORIAL
hertragen – durch »PEGIDA« und die AfD erzielen solche Strömungen neuerdings auch in Deutschland Resonanz. Wie steht es also um den Nonkonformismus als (politische) Kraft unserer Tage? Sind Aussagen wie jene, dass es ihn mal mehr und mal weniger gibt, zu halten? Oder ist er eine Konstante in Politik, Wirtschaft, Kultur? Schenkt die spektakelsüchtige Mediengesellschaft Künstlerinnen und Künstlern, die Tabubrüche wagen, ihre Aufmerksamkeit in besonders hohem, ja überhöhtem Maße? Diese und andere Fragen wurden Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Denkrichtungen und Disziplinen gestellt. Denn, wie den bisherigen Ausführungen weiter differenzierend hinzugefügt werden muss: Nonkonformismus kennt viele verschiedene Orte und Ziele. Wir finden ihn in der Politik und Literatur, in der Kunst wie im Alltag, im Konsum und gleichfalls im Verzicht. Es gibt den Nonkonformismus des Dagegen-, aber – wie der Leser erfahren wird – auch jenen des Dafür-Seins. Nonkonformismus liegt oft im Auge des jeweiligen Betrachters, er lässt sich kaum eindeutig definieren und zeigt doch nicht ganz selten in erfrischender Klarheit gesellschaftliche Entwicklungstendenzen. Jedenfalls: Wenn im 21. Jahrhundert mit Gerhard Schröder ein Bundeskanzler – also sicherlich kein Vertreter eines Anti-Establishments – zu den Klängen von Frank Sinatras Song »My Way«, intoniert im Rahmen des Großen Zapfenstreiches von der Blaskapelle der Bundeswehr, aus dem staatstragenden Amt scheidet, markiert dies in aller Deutlichkeit, dass Nonkonformismus keineswegs permanent ein Makel sein muss, sondern sich bisweilen ganz im Gegenteil zum Bestandteil der eigenen Selbstinszenierung veredeln lässt. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre!
EDITORIAL
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INHALT
1 Editorial
ΞΞJöran Klatt / Matthias Micus
NONKONFORMISMUS >> INTERVIEW 7 »Blumen in einer Wüste leer gewordener Konventionalität«
ΞΞEin Gespräch mit Heinrich Detering
>> PORTRÄT 22 Weder links noch rechts
Der Philosoph Emmanuel Mounier, die französischen Nonkonformisten der Zwischenkriegszeit und Deutschland ΞΞMartin Strickmann
>> ANALYSE 32 Soziale Schließung, Nonkonformismus und Protest
Die Linke ist konservativ geworden und der Gestus der Revolte wird von rechts inszeniert ΞΞCornelia Koppetsch
43 Jenseits von progressiv versus konservativ Nicht-konformistische Geschlechterinszenierungen und der neoliberale Zeitgeist ΞΞAnna Schober
55 Nonkonformismus auf der Bühne Theater und Sexualmoral um 1900 ΞΞChristina Templin
62 Gegenkulturen und die Krise des Wir-Sinns Worin sich »PEGIDA« und die »68er« überschneiden und unterscheiden ΞΞMichael Corsten
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70 The eyes of the world are on …
Aufmerksamkeit durch Flash- und Smartmobs ΞΞCarina Jasmin Englert
79 Ich bin eher so Mainstream Von der Lust am Genauso-Sein ΞΞInga Borchard / Silke Borgstedt
87 Der undemokratische Nonkonformist Ernst Jüngers Waldgänger ΞΞWolfgang M. Schmitt
96 Partei der Sünder, Partei der Bekehrten
Konversionserzählungen im amerikanischen Konservativismus ΞΞTorben Lütjen
105 Nonkonformismus, der keiner ist Anmerkungen zum Medienintellektuellen ΞΞSusanne Martin
>> INTERVIEW 113 Richter sind Interpreten und keine Subsumptionsautomaten
Überlegungen zu Begriff und Entstehung abweichenden Verhaltens ΞΞHelge Peters
PERSPEKTIVEN
>> INTERVIEW 124 Von Fliegenbeinzählern und Märchenonkeln ΞΞEin Gespräch zwischen Klaus von Beyme und Eckhard Jesse
>> ANALYSE 138 Konservative Zeit
Ästhetik und Kapitalismus in »Downton Abbey« ΞΞJöran Klatt
Inhalt
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SCHWERPUNKT: NONKONFORMISMUS
INTERVIEW
»BLUMEN IN EINER WÜSTE LEER GEWORDENER KONVENTIONALITÄT« EIN GESPRÄCH MIT HEINRICH DETERING ÜBER DEN NONKONFORMISMUS IN GESELLSCHAFT UND LITERATUR
Die Ausgangsfrage dieses Heftes lautet: Zeichnet sich unsere Gegenwartsgesellschaft eher durch Konformismus und eine Tendenz zur Anpassung aus, wie die selbsterklärten Musterrebellen aus den Jugendkohorten der späten 1960er Jahre gerne monieren? Oder stimmt eher das Gegenteil? Wie schätzen Sie das für den Bereich der Literatur ein? Und damit zusammenhängend: Was bedeutet überhaupt Nonkonformismus in der Literatur; bezieht er sich eher auf den Autor und seine Biografie – oder auf die Art, wie er schreibt? Sie sprechen damit zwei ganz verschiedene Bereiche an: einen sehr weiten gesellschaftlichen und einen im engeren Sinne literarischen. Ich würde zunächst für beide sagen, dass Konformismus und Nonkonformismus Verhaltensmuster von Individuen sind. Das ist banal, aber nicht unwichtig. Ich beschäftige mich gerade mit den Schriften von Irmgard Keun, einer definitiv nonkonformistischen Autorin, und zwar in einem ganz konkreten politischen und sozialen Sinne. Meine Arbeit besteht darin, zu rekonstruieren, mit welchen Schreibverfahren und Publikationsstrategien sie zwischen 1933 und 1935 in dem extrem auf Konformismus ausgerichteten Gesellschaftssystem des sich konsolidierenden Nationalsozialismus versucht, sie selbst zu bleiben; welche Allianzen sie bildet, wie sie schließlich scheitert und 1936 ins Exil gehen muss. Da gibt es – und deshalb erwähne ich das Beispiel hier – einen maximalen gesellschaftlichen Konformitätsdruck, aber auch Beispiele individueller Verweigerung. Diese praktiziert Irmgard Keun in der Weise, in der sie schreibt. Ihre Texte spiegeln das Programm eines konsequenten Individualismus. Der wird im nationalsozialistischen Deutschland irgendwann unmöglich oder führt ins Martyrium, aber er ist so lange wie möglich der Leitfaden.
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Gibt es keinen Zusammenhang zwischen (nonkonformistischer) Autoren-Biografie und literarischen Darstellungsweisen, die ihrerseits nonkonformistisch sind? Um 1915 konstituiert sich in Moskau und Sankt Petersburg die durchaus heterogene und vielstimmige Gruppe der Russischen Formalisten – eine der bis heute aufregendsten Avantgarde-Bewegungen der europäischen Kultur im 20. Jahrhundert. Nicht alles, was sie als revolutionär neu bezeichneten, war auch tatsächlich revolutionär neu. Aber sie bewirkten einen Perspektivenwechsel. Der Ausdruck »permanente Revolution« fällt, glaube ich, sogar irgendwo in ihren Schriften, und zwar bezogen nicht auf eine politische, sondern auf eine permanente ästhetische Innovationsbewegung. Die Aufgabe der Literatur und überhaupt der Künste sei, so schreibt einer ihrer Exponenten – Viktor Sklovskij –, den Stein wieder steinern zu machen. Ein wunderbarer Schlachtruf. Und was er damit meint, geht auf eine zunächst wahrnehmungspsychologische Beobachtung zurück – den Umstand nämlich, dass unsere unmittelbaren Sinnesorgane dazu neigen, das häufig Gesehene, Gehörte, Gerochene, Geschmeckte, Betastete für selbstverständlich zu halten. Illustrieren lässt sich das am Kopfzucken von Hühnern oder Tauben, das wir alle kennen. Würden diese Vögel nicht permanent mit ihrem Kopf zucken, wodurch eine minimal andere optische Einstellung zur Umgebung entsteht, würde das wahrgenommene Bild buchstäblich auf ihren Netzhäuten erlöschen: durch bloße Gewöhnung. Und diese rasche und wiederholte Bewegung des Kopfes, die immerzu eine neue optische Einstellung erzeugt, das ist für Sklovskij Kunst in ihrer elementaren Äußerungsform. Die Kinderrätsel, die wir alle vom Schulhof her kennen und die es in allen Kulturen gibt, die haben – das erkennt Sklovskij vielleicht als Erster – gar nicht die Aufgabe, tatsächlich ein Rätsel zu stellen, bei dem etwas Überraschendes herauskommt. Ihre Funktion ist stattdessen das Gewöhnliche, also die Uhr an der Wand oder den Stein am Boden, durch Verrätselung immer neu sichtbar zu machen. Es ist nun offensichtlich, dass sich das, was Sklovskij da proklamiert – und was dann von Jurij Tynjanow, Boris Eichenbaum und anderen ausbuchstabiert wird –, unmittelbar auf die Begriffe Konformismus und Nonkonformismus übertragen lässt. Die politischen Implikationen sind Sklovskij klar, auch wenn sie nicht im Fokus seiner Aufmerksamkeit stehen. Aber das, was er beschreibt, soll keine von der sozialen und politischen Welt abgewandte Kunst um der Kunst willen sein. Es geht vielmehr darum, im Bereich der Kunst etwas einzuüben, das für alle Wahrnehmungsweisen und Verhaltensmuster zur permanenten Übung werden soll. Die kritiklose Verehrung nonkonformistischer Vorbilder oder die Lektüre kanonisierter Mustergeschichten und Heiligenlegenden von nonkonformistischen Helden sind demzufolge gerade kein Nonkonformismus.
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Nonkonformismus — Interview
Namentlich der von Ihnen angesprochene russische Formalist Tynjanow ist davon ausgegangen, dass die literarischen Stilelemente im Zeitverlauf beständig verblassen würden und deshalb immer wieder umgeformt werden müssten. Muss Literatur immer einen gewissen Nonkonformismus atmen? Das liegt in ihrer Natur, das gehört, wenn ich die genannten Theoretiker richtig verstehe, zum Wesen der Literatur. Gäbe sie dieses Prinzip auf, wäre sie nicht mehr Literatur, sondern Unterhaltungsindustrie oder kunstlose Banalität. Und das gilt übrigens auch für die problematischen Abgrenzungen zwischen Hochkultur und Popularkultur: Wenn wir an die großen Innovationsschübe der Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Musikgeschichte auch nur in den letzten 150 Jahren denken, dann wird deutlich, wie viel die Hochkultur jedes Mal aus der zuvor verachteten Popularkultur übernimmt. Wir vergessen immer, dass Goethes »Werther« ein Skandalroman war und nicht das Buch eines künftigen Klassikers. Den hätte niemand in ihm vermutet, als das Buch zum ersten Mal erschien. Elvis Presley ist mit gutem Grund eine Ikone des 20. Jahrhunderts geworden – und zwar nicht mit ironischem Augenzwinkern, sondern tatsächlich als eine innovative Figur, die weit bis in das Poesieverständnis hinein bspw. eine neue Form von performativer Körperlichkeit zur Geltung gebracht hat. Ich glaube, die Antwort auf die Frage lautet folglich einfach: ja, unbedingt. Worauf bezieht sich also der Nonkonformismus? Was ist sein Gegenüber? Ist das Nonkonforme die innovative Entwicklung eines neuen Stiles und die Abgrenzung von den etablierten schriftstellerischen Stilen? Oder ist der Nonkonformismus eine Art von dezidiertem Außenseitertum oder Abgewandtheit von der breiten Masse? Nein, darum geht es nicht, jedenfalls nicht in meinem Verständnis dieses Gedankens. Es geht nicht um ein elitäres Dandytum oder darum, sich als Einzelperson möglichst markant von dem dummen Volk abzusetzen, das einen leider umgibt. Vielmehr geht es um die permanente Auffrischung von Wahrnehmungsweisen, und zwar der Wahrnehmung der umgebenden Welt ebenso wie jener des eigenen Ich, um Verhaltensmuster des Alltags. Dieses Postulat richtet sich nicht an eine künstlerische Elite, sondern mit diesem Postulat richtet sich die Kunst an alle: to anyone it may concern. Wenn Sie nun fragen, was der Gegenbegriff zu dieser Form von Nonkonformismus als Wahrnehmungserneuerung ist, würde ich mit Sklovskij antworten: Auto matisierung, Erstarrung – die Vorstellung, es sei so, wie es ist, ganz selbstverständlich, und es sei immer schon so gewesen. Die pure Überwältigung und Überraschung, die Provokation, die davon ausgeht, dass ein Liebes roman wie der »Werther« entsteht, als ein Briefroman, bei dem wir aber nur Ein Gespräch mit Heinrich Detering
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eine Stimme hören, bis dann eine Herausgeberfiktion den Text übernimmt und am Ende mit skandalöser Verständnisbereitschaft einen Selbstmord beschreibt. Diese Überwältigung lässt sich einerseits als Innovation innerhalb der Kunsttradition des europäischen Romans kennzeichnen; dann handelte es sich um ein ästhetisches Phänomen, um eine, allerdings kleine, Sonderentwicklung in einem Subsystem. Aber die Wirkungsgeschichte des »Werther« zeigt darüber hinaus, dass sich mithilfe des Romans die Vorstellungen und Praktiken des Ich veränderten, die Praktiken des Sexuellen, das Verhältnis von gesellschaftlicher Ordnung und sexueller Triebenergie. Der »Werther« hat eine ungeheure soziale Wirkung entfaltet – eben weil er nicht nur einen Selbstmörder darstellte und moralisch legitimierte, sondern weil er überhaupt eine andere Art von Roman war. Die Wucht und die Fülle sowie die Nachhaltigkeit der Wirkung des Romans liegen in seiner Struktur als Text begründet. Es sind die Schreibweisen, die Arten, einen Film zu drehen oder einen alten Song neu zu inszenieren, die mit den Mitteln der Kunst soziale Wirkungen auslösen – und zwar als Wirkungen der Entautomatisierung, der Auflösung von Erstarrung und Beharrung, der Bewahrung vor dem Erstickungstod. Sie haben die Figur des Dandys angesprochen: Bei dieser denken wir an Personen wie Fritz J. Raddatz, Christian Kracht oder Benjamin von Stuckrad-Barre. Ist das bloß eine bequeme Masche zur Bewerbung und Verkaufsförderung der eigenen Werke? Oder ist der Dandy einer der literarischen Prototypen des Nonkonformisten? Hier muss man sich vor einem naheliegenden und grundlegenden Missverständnis hüten, das darin bestünde, die Figur des Dandys oder ihre Verwandten per se als Nonkonformisten zu verstehen. Vergleichen Sie Charles Baudelaire im Paris der Belle Époque mit Stuckrad-Barre in der Postmoderne: Baudelaires Inszenierung als Dandy drückt einen gelebten, einen inszenierten Protest gegen eine neue kapitalistische Verwertungsrationalität aus. Der Dandy, der sich als Flaneur zeigt, nimmt die ausgestellten Waren nicht als käufliche oder zu tauschende Objekte in einer Handelsbeziehung wahr, sondern sieht sie als ästhetische Objekte. Er weigert sich, das Muster zu akzeptieren, das ihm durch die Ausstellung dieser Objekte aufgezwungen werden soll. Der Dandy inszeniert sich als leibhaftigen ästhetisierenden Protest gegen eine Verwertungsökonomie, in der jedes Subjekt auf die Rolle des Konsumenten reduziert werden soll. Stuckrad-Barres Inszenierungen in den 1990er Jahren befinden sich nach meiner Wahrnehmung dagegen im Mainstream einer Mode, in der gerade die dandyeske Selbstinszenierung Teil eines kommerziell überaus erfolgreichen Verwertungsprogramms ist. Die Wiederholung einer
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Nonkonformismus — Interview
Geste in einem veränderten Kontext ist keine Wiederholung, sondern eine Imitation mit einer ganz anderen Wirkung. Baudelaire war eine Figur des Protests, des Widerstands des Einzelnen gegen das Planierende des Kapitalismus. Stuckrad-Barre und sein popkulturelles Quintett »Tristesse Royale« protestierten zwar gegen eine von 1968 geprägte Eltern- und Lehrer-Generation; aber im unmittelbaren Zeitkontext verkörpern sie eine affirmative, eine absichtsvoll affirmative Bewegung. Daran anknüpfend: Inwieweit und unter welchen Bedingungen lässt sich ein weitreichender, fundamentaler Nonkonformismus überhaupt durchhalten? Literaten brauchen ja, um leben zu können, doch auch ein Publikum, einen Absatzmarkt. Insofern liegt nahe, dem Massengeschmack zumindest Konzessionen zu machen. Inwiefern ist angesichts dessen Abgrenzung überhaupt möglich? Die Frage unterstellt, dass nonkonformistisches Handeln – das kann in der Literatur ein Schreibverfahren sein und in der Popmusik eine Performance – immer zugleich etwas Heroisches haben, also opferbereit sein müsste, weil es ja gegen etwas steht. Ich halte das für voreilig. Oft verhält es sich zwar tatsächlich so, wie Sie sagen. Aber nicht selten kann der ästhetisch inszenierte Ausbruch aus verfestigten, automatisierten Wahrnehmungsmustern ein auch materielles Erfolgsrezept sein. Elvis ist in den späten 1950er Jahren ein Musterbeispiel dafür: Als Elvis anfing, mit dem jüngst verstorbenen Gitarristen Scotty Moore das zu tun, was vor ihm keiner getan hatte – eine Art von Country-Blues zu machen, die es nicht gegeben hatte, und eine Körperlichkeit zu inszenieren, die in der weißen Mittelschicht verpönt war –, da war das eine ungeheure Provokation. Insofern trifft Ihre Unterstellung zu. Elvis war nach seinem ersten regionalen Erfolg in den Südstaaten schon wieder auf dem Weg, eine Nullnummer zu werden und überregional zu scheitern. Er ging ein hohes Risiko ein, mit seiner Art aufzutreten, zu singen, sich zu kleiden. Und er tat das zweifellos ohne kommerzielle Berechnung, spontan, aus Lust und Laune. Sehr schnell setzte dann aber ein sich in kurzer Zeit steigernder kommerzieller Erfolg ein, der zeigt, dass Elvis einer ganzen Epoche die Zunge löst, und nicht nur die. Eigentlich hatten alle auf eine Kunst wie die von Elvis gewartet, aber niemand hatte es gewusst, bevor man Elvis erlebte – was ihm selber dann die Schwierigkeit eintrug, zehn oder 15 Jahre später noch immer die Rolle des Rock’n’Rollers spielen zu müssen, jetzt zum Repräsentanten einer kleinbürgerlichen Enge werden zu sollen, die ihn umarmt und zu ihrem Leitstern erkoren hat. Es ist interessant zu sehen, wie Elvis 1968/69 aus seinem tiefen Tal der Nichts-als-Kommerzialität, der tristen Konformität noch einmal auszubrechen versucht, indem er neue Formen Ein Gespräch mit Heinrich Detering
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der Inszenierung erprobt, die dann ähnlich erfolgreich werden wie Ende der 1950er Jahre – weil nicht nur er seiner Automatisierung müde geworden ist, sondern abermals eine ganze amerikanische Generation. Man muss, allgemein gesprochen, bereit sein, um des hier beschriebenen Nonkonformismus willen Risiken einzugehen. Aber das heißt keineswegs, dass das Risiko stets in das Einzelgänger- oder Außenseitertum führen müsste, das leidend und verächtlich auf den Rest herunterblickt. Ist also der einflussreiche Nonkonformist, dessen Nonkonformismus nicht folgenlos verpufft, einer, der nicht so sehr ein aus der Masse herausgelöster Individualist ist, als vielmehr einer, der, im Zeitgeist verwurzelt, diesen erspüren kann, weil er mit seiner Darstellungsweise letztlich das auszudrücken vermag, worauf breite Schichten gewartet haben? Es ist noch einmal wichtig zu betonen, dass es nicht um den Einzelnen gegen die Vielen geht, sondern um die von einem Einzelnen ins Spiel gebrachte neue Wahrnehmungsweise gegenüber einer erstarrten alten. Das verteilt sich häufig auf den Einen und die Vielen; aber das kann sehr schnell kippen, und darauf kommt es mir an. Die Kunst- und Literaturgeschichte ist voll von Beispielen dafür, wie viel Spaß es macht, nach dem Schreck über die Provokation eine neue Sicht der Welt des Menschen, des eigenen Ich, des eigenen Lebens einzunehmen. Was als Provokation und Schrecken beginnt, wird bald als Befreiung empfunden. Ich glaube, alle literaturhistorischen Bruchstellen, die uns jetzt einfallen, sind von dieser Art: Die Frühromantik etwa, die in den 1790er Jahren in Jena und dann in Heidelberg und ein wenig auch in Göttingen einsetzt, ist eine solche Herausforderung der etablierten akademischen Ordnungen, der Trennung zwischen den Wissensbereichen, der Trennung zwischen den Künsten auf der einen und den Wissenschaften auf der anderen Seite. Alles Mögliche wird in einer frechen, frischen, witzigen, provozierenden Weise von einer kleinen Gruppe hochgradig individueller, intellektueller junger Leute infrage gestellt. Aber was damit entsteht, ist das, was als »die Romantik« über mindestens hundert Jahre als Merkmal deutscher Intellektualität gelten wird. Viele vergleichbare Einschnitte und Umbrüche folgen diesem Muster. Natürlich ist das, was wir jetzt sehen, die Geschichte der Sieger; und ganz sicher hat es viele nonkonformistische Innovationsversuche gegeben, die scheiterten, weil sie zur Unzeit kamen oder weil sie repressiv beseitigt wurden. Manche davon kommen dann ja ein paar hundert Jahre später wieder zum Vorschein, werden neu entdeckt – und dann haben wir in unserem Kanon Helden, die von ihrem eigenen Heldentum zu Lebzeiten nichts geahnt haben.
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Nonkonformismus — Interview
Zum Beispiel? Ein spektakulärer Fall ist vielleicht Kafka, der bis zu seinem frühzeitigen Lebensende bloß ein Geheimtipp in einer überschaubaren Prager und Wiener Szene gewesen war, dessen überwältigende Leistungen für neue Formen, die moderne und kapitalistische, vielgestaltige und deutungsoffene Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts zu sehen, aber erst im Laufe dieses Jahrhunderts entdeckt worden sind. Kafka dürfte sich selbst als einen ziemlich gescheiterten Nonkonformisten empfunden haben. Im Rückblick sehen wir, dass er mit seiner neuartigen, fremdartigen, verfremdenden Schreibweise ein Begründer nicht nur der modernen Literatur ist, sondern einer neuen Sicht auf die soziale, kulturelle, politische Wirklichkeit. Dass er in Prag 1968 als Vor denker des Prager Frühlings gelten würde, hätte sich Kafka nicht träumen lassen – und hätten sich auch diejenigen nicht träumen lassen, die Kafka immer »nur« als einen Erneuerer der Erzählung wahrgenommen haben. Die Bedeutung Kafkas im Prager Frühling und infolgedessen das Verbot Kafkas in den kommunistischen Staaten zeigen, welche emanzipative Wirkungen von vermeintlich rein ästhetischen Innovationsbewegungen ausgehen können. Kafka war der große Ermutiger der Nonkonformisten in den Staaten des Warschauer Pakts. Deshalb war es ein Ereignis, dass in der DDR nach langen Kämpfen ein kleines Reclam-Heft mit ausgewählten Texten von Kafka in niedriger Auflage erscheinen durfte. Das war politisch riskant nicht deshalb, weil die DDR-Führung eine sonderliche Angst vor innovativen Schreibverfahren gehabt hätte, sondern weil sie befürchten musste, dass derartige Schreibverfahren einen anderen Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit eröffnen könnten. Wie sieht es aktuell aus? Gibt es momentan ähnliche, bis auf das Politische übergreifende literarische Innovationen oder einen Autor vom nonkonformistischen Format Kafkas? Oder weniger pathetisch: Gibt es einen nennenswerten Nonkonformismus in der Gegenwartsliteratur – und, wenn ja, wo? Mit Blick auf die bundesrepublikanische Literatur der letzten Jahre scheint mir eine große Ermutigung des Individuellen eingesetzt zu haben. Die Zeit der Schulen, die noch die Debatte um Stuckrad-Barre und seine Gegner, um einen neuen und einen alten Realismus und andere behauptete Bewegungen geprägt hat, scheint einstweilen vorbei zu sein. Ich weiß nicht, wie lange das vorhält; aber wenn man bedenkt, dass im Augenblick unter den großen Namen, die einem aus der deutschsprachigen Gegenwartspoesie einfallen, so unterschiedliche Autoren sind wie Jan Wagner, Marcel Beyer, Monika Rinck und Ulf Stolterfoht – um nur einmal vier herauszugreifen, die lebhaft Ein Gespräch mit Heinrich Detering
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diskutiert werden –, dann hat man ganz unterschiedliche Temperamente, Schreibverfahren, Arten des Traditionsbezugs. Und das Schöne ist: Die Genannten vertragen sich gut. Es gibt keine erkennbaren Verteilungskämpfe, keine Pamphlete, keine Proklamationen, mit denen diese Dichter versuchten, Schulen zu bilden, die dann gegeneinander anträten. Insofern kann man, glaube ich, ohne Übertreibung sagen, dass wir in der deutschen Gegenwartsliteratur in erfreulich nonkonformistischen Zeiten leben. Wenn ich etwas weiter ausgreife, dann ist für mich natürlich Bob Dylan die Verkörperung eines Nonkonformismus, der sich deshalb so lange durchhalten lässt – in Dylans Fall über mittlerweile fast sechzig Jahre –, weil er sich selbst gerade in seiner vermeintlichen Nonkonformität fortwährend infrage stellt. Das ist die hohe Schule dieses Themas: dass jemand, der als Nonkonformist schlechthin begonnen hat – und das war Dylan zweifellos in den 1960er Jahren –, den eigenen Nonkonformismus immer wieder kritisch daraufhin beäugt, ob er nicht vielleicht doch im Begriff ist, zur neuen Konformität zu werden. Dylans A lbum »Highway 61 Revisited«, das Songs wie »Like a Rolling Stone« enthielt, war ein Durchbruch, ein Befreiungsschlag. Das sechste, siebte, achte Album dieser Art hätte eine Erstarrung dokumentiert. Also hat Dylan zumeist nach spätestens drei Alben einer Machart eine Pause eingelegt, einen Umbruch inszeniert, bis dahin, dass er sich in den letzten 15 Jahren gerade nicht mehr als permanenten Neuerer inszeniert hat, sondern als jüngste Innovation die Kontinuität einsetzt; dass er Konzerte spielt, die vorhersagbar sind; dass er feste Programme hat; dass er immer in derselben Kostümierung auftritt und sozusagen gegen das eigene Image des sich fortwährend in Metamorphosen neu Erfindenden angeht. Seine neueste Neuerfindung besteht darin, nicht mehr der zu sein, der alle drei Jahre die Identität wechseln muss. Der Soziologe Ulrich Beck hat den Begriff der »reflexiven Modernisierung« geprägt, demzufolge sich Gesellschaften ebenso wie Einzelne, konfrontiert mit den unintendierten Nebenfolgen von Modernisierungsprozessen, beständig infrage stellen und in gewisser Weise ein soziologisches Verhältnis permanenter Distanz zu sich selbst einnehmen müssen. Gleichzeitig gibt es aber ein wachsendes Verlangen nach Authentizität … …, was sich, glaube ich, beides überhaupt nicht ausschließt. Ich wollte mit dem Dylan-Beispiel gerade nicht einer fortwährenden postmodernistischen Rollenspielerei das Wort reden und sagen, diese sei der erstrebenswerte Nonkonformismus, eher im Gegenteil. Von Dylan stammt ja nicht nur der Satz: »Live by no man’s code«, der wie eine Überschrift über unserem Gespräch stehen könnte, sondern auch der Vers: »To live outside the law, you must be
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Nonkonformismus — Interview
honest«. Oder, um noch eine Gedichtzeile zu zitieren, die mir sehr charakteristisch scheint: »When asked to give your real name, never give it.« Dieser Satz setzt aber voraus, dass es sehr wohl so etwas wie das eigentliche Ich, einen real name, gibt; er drückt also eine dezidiert nicht-postmoderne, eine durchaus konservative, ja essentialistische Vorstellung aus: Es gibt ein stabiles ›eigentliches Ich‹. Die Innovationsspiele und die fortwährende Selbst reflexivität dienen gerade der Verteidigung, der Absicherung dieses Ich. In der Sklovskij-Tynjanow-Tradition gilt das ganz ähnlich für die wahrgenommene Außenwelt. Das ganze Pathos Sklovskij von einer permanenten Revolution in den Künsten dient gerade nicht dem Selbstzweck einer fortwährend herumzappelnden, strampelnden, Faxen machenden Kunst, die einem irgendwann auf die Nerven gehen und sich lächerlich machen würde. Sondern es gilt ganz und gar der kontinuierlich zu erneuernden Wahrnehmung einer ›wirklichen Welt‹; darin steckt ein ganz entschiedenes Authentizitätsverlangen. In einem von Sklovskij frühen Artikeln gibt es sinngemäß die traurige Feststellung, wir sähen die Dinge nur, aber wir nähmen sie nicht mehr wahr. »Wir lieben unsere Häuser, unsere Kleider, unsere alltägliche Welt nicht mehr«, schreibt er, aber wir sollten sie lieben. Um das jedoch zu können, müssten wir erst wieder staunend vor unseren eigenen Gebrauchsgegenständen stehen. Darum geht es, und insofern sowohl im Hinblick auf das Verhältnis zum eigenen Ich als auch mit Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit um ein ganz starkes Authentizitätsverlangen. Lassen Sie uns noch einmal versuchen, das schriftstellerische Schaffen auf die persönliche Biografie des Künstlers zu beziehen: Selbst bei den prominenten Exponenten von Romantik und Weimarer Klassik – jener beiden Strömungen, die Sie in unserem Gespräch bereits gestreift haben und die vielleicht mehr als jede andere Bewegung das verkörpern, was man bis heute als deutsches Kulturgut ansieht –, selbst bei diesen fällt auf, dass ihre Lebensläufe durch viele Brüche gekennzeichnet gewesen sind. Nehmen wir etwa Friedrich Schiller: Flucht, Verfolgung und Heimatverlust plagten ihn, hinzu kamen Geldnöte fast bis an sein Lebensende. Auch die Werdegänge vieler heute zur Schullektüre Gehörender kennzeichnen insofern Scheitern, Abbrüche und Neuanfänge, Abweichungen von der familiären Bestimmung und Phasen unstandesgemäßer Lebensführung. Sind Schriftsteller demnach vielleicht regelrecht prädisponiert für den Nonkonformismus, weil auch ihre Werdegänge althergebrachten Konventionen zuwiderlaufen? Das ist eine Frage, auf die ich gerne sowohl eine allgemeine als auch eine sehr persönliche Antwort geben würde. Die allgemeine ist kurz: Schriftsteller und überhaupt Künstler sind per definitionem Leute, die im gewöhnlichen Ein Gespräch mit Heinrich Detering
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Leben nicht nur mitleben, sondern es auch von außen zu betrachten versuchen. Das definiert wesentlich die Sozialfunktion der Künste. Wer in seinem Leben zu Hause ist und es so lebt, wie die Großeltern und Vorfahren es gelebt haben, der empfindet keine Notwendigkeit, darüber einen Roman oder ein Gedicht zu schreiben. Das Selbstverständliche wird nicht thematisiert. Persönlich habe ich die von Ihnen angedeutete Frage in meiner eigenen Biografie mehrfach ziemlich heftig erlebt; mindestens an zwei Orten: dem Verhältnis von poetischer Tätigkeit und wissenschaftlicher Tätigkeit einerseits, dem Eindringen von Interessen an der Popkultur in die Forschungsvorhaben und Lehrpläne eines Göttinger Lehrstuhlinhabers andererseits. Als ich aus der Schule kam, habe ich mich als Schriftsteller betätigt, habe einen ersten Gedichtband veröffentlicht und wollte damit auch gerne weitermachen. Im Laufe meiner akademischen Karriere vor allem hier in Göttingen wurde mir dann klar, und wurde mir von Wohlmeinenden auch klargemacht, dass es für eine wissenschaftliche Laufbahn eher schädlich wäre, als Produzent von Gedichten zu gelten. Das Diktum, dass anständige Germanisten nicht dichten sollten, hat mich eine Zeit lang, weil ich sehr gern literaturwissenschaftlich arbeiten und unbedingt daraus einen Lebensberuf machen wollte, bedrängt und irritiert. Es hat meine Produktion fast zum Erliegen gebracht und es hat sehr lange gedauert, bis 2004, bis ich, 25 Jahre nach dem ersten, mit einem zweiten Gedichtband etwas erlebt habe, was ich im Ernst als eine Art von Coming-out betrachte. Ich war nun so weit, vor mich selbst und vor meine Kollegen hintreten zu können und zu sagen: »Ja, ich schreibe Gedichte, ich veröffentliche sie, und das ist auch gut so. Meine Fähigkeit zu einem analytischen Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte beeinträchtigt das nicht im Geringsten.« Das war riskant, und ich wusste nicht, was daraus hervorgehen würde, aber es hat sich bis jetzt bewährt. Das ist das eine. Das Zweite ist der Umstand, dass ich mich nicht nur als spaßhaftes Hobby mit Leuten wie Elvis oder Bob Dylan beschäftige, sondern auch ganz ernsthaft, und dass ich diese Künstler auf dieselbe Weise und auf derselben Ranghöhe wie die Künstler des klassischen Kanons sehe. Auch da habe ich den Eindruck, dass solche Interessen in der akademischen Welt, nicht nur in Göttingen, zunehmend als Bereicherung und Erweiterung des Horizonts wahrgenommen werden. Auch andere Kollegen haben solche Interessen; manche kamen mit diesem Interesse aber erst nach und nach heraus. Ein weiteres Beispiel für die, nennen wir es, Konformisierung des Nonkonformen? Merkwürdigerweise wird der Konformisierungsdruck hier nach meinem Eindruck zunehmend eher von der vormals ›anderen‹ Seite her aufgebaut:
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von der Seite der Popkultur. Da sollen wieder Grenzen und Mauern hochgezogen werden, da wird ein Konformitätsdruck erzeugt, der vor zwanzig, dreißig Jahren in der Gegenrichtung ausgeübt worden ist, als die akademische Welt hochmütig auf Pop und Popkritik hinunterblickte und sagte: »Macht das mal auf euren Spielplätzen, aber lasst uns damit in Frieden, und haltet es bitte aus Forschung und Lehre heraus.« Das ist freilich im Augenblick, glaube ich, der einzige Bereich, in dem sich solche Konformitätsmahnungen noch so stark beobachten lassen. Ansonsten würde ich doch sagen, dass wir jedenfalls akademisch in bemerkenswert nonkonformistischen Zeiten leben: also in Zeiten mit beträchtlicher Offenheit für die Entwicklung individueller Arbeitsweisen, Themen und Fragen. Nicht zuletzt auch hier an der Göttinger Universität. Pierre Bourdieu zufolge sind etwa der Sprachgebrauch und Kleidungsstil, Verhaltensweisen und Umgangsformen Ausdrucksformen des symbolischen Kapitals; versuchen Menschen auch durch demonstrierte ästhetische Vorlieben und ihre Einstellung zu Kulturobjekten, zu Literatur, Musik oder Kino, sich von den einen abzugrenzen sowie abzuheben und sich den anderen als ebenbürtig zu zeigen, kurzum: ihre Gruppenzugehörigkeit zu markieren. Sie selbst haben am Beispiel von Elvis gezeigt, wie ein anfangs rebellischer Außenseiter zur Leit figur bestimmter gesellschaftlicher Milieus werden kann, was sich vermutlich so ähnlich auch für die einstigen musikalischen Sprachrohre der Gegenkultur der 1960er und 1970er Jahre konstatieren lässt. Inwiefern ist folglich das, was Sie beschreiben, also die Beschäftigung mit Bob Dylan oder anderen Musikern, noch Nonkonformismus – und nicht schon elitäre Distinktion? Es macht einen nicht schon zum Nonkonformisten, zu sagen, dass man sich für Sid Vicious begeistert oder ein Buch über die Sex Pistols schreibt. Eher schon träfe das nach meinem Eindruck dann zu, wenn man das Interesse an Sid Vicious mit einem Interesse an Grimmelshausen zusammenkriegen kann oder an Rembrandts Selbstporträts. Der Konformitätsdruck geht vielleicht weniger von einzelnen Subdisziplinen oder pop-sozialen und literarisch-sozialen Sphären aus als vielmehr von der Schubladisierung. Eine Anglistin oder Amerikanistin kann unangefochten als Punkspezialistin arbeiten, wenn sie einen Lehrstuhl mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Erforschung des Punk innehat. Interessant wird es, wenn jemand sich für Punk interessiert und im Übrigen auch noch für etwas ganz anderes. Eine solche Individualität ergäbe sich aus dem eben beschworenen Ich heraus: When asked to give your real name, never give it. Es ginge also nicht nur um ein bloß instrumentelles Distinktionsbedürfnis. Ich erinnere mich, dass es in der Zeit der 1980er und 1990er Jahre in Zeitschriften überall diese Ein Gespräch mit Heinrich Detering
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Fragebögen wie im FAZ-Magazin gegeben hat, und eine typische Antwort auf die Frage nach dem Lieblingskomponisten gelautet hat: »Franz Liszt und Bob Marley«. Das sah schick aus: offen für Neues, aber vertraut mit der Tradition. Das war ein Schema geworden, ein Klischee. Dem will ich nicht das Wort reden. Wofür ich plädiere und was ich nach Möglichkeit zu praktizieren versuche, besteht einfach darin, entsprechend meinen wirklichen Interessen zu tun, was ich für richtig und wichtig halte. Und nicht das, was von mir erwartet wird, gleich aus welcher Richtung diese Erwartung kommt. Wenn ich damit Erwartungen erfülle: gut; wenn nicht: auch gut. Und wenn mich irgendwann Dylan nicht mehr interessieren sollte, dann ließe ich das Thema sein und möchte unter keinen Umständen auf die Figur des Spezialisten festgelegt werden. Warum? Was ist dagegen einzuwenden, ein Spezialist zu sein? Das Wort »Spezialist« ist mir unangenehm, jedenfalls in unseren Fächern. Man ist irgendwann, wenn man sich mit wissenschaftlichen Dingen befasst, für irgendetwas kompetenter als für etwas anderes. Das ist selbstverständlich. Aber »Spezialist« geworden zu sein, heißt im alltäglichen Sprach gebrauch zu oft, seine geistige Offenheit und Beweglichkeit aufzugeben. Das wäre dann eine Erscheinungsform der Automatisierung. Wer am Ende nur noch seine D ylan- oder Schiller-Philologie kennt, der kennt am Ende auch diese nicht mehr. Sie haben eben davon gesprochen, dass aktuell wieder Mauern hochgezogen würden, die vor Jahrzehnten zwischenzeitlich schon eingerissen gewesen seien. Auffällig ist seit einiger Zeit, dass überall eine Kanonisierung von Literatur betrieben wird, dass Listen der wichtigsten Romane, Gedichte, Krimis erstellt werden, einmalig oder wiederkehrend zum Jahresende in allen möglichen Zeitungen und Zeitschriften – wobei sich natürlich jede Aufzählung von den anderen mehr oder weniger stark unterscheidet. Verstärkt dies das Schubladendenken? Führt dies zu einem neuen Konformismus in den literarischen Geschmäckern des Publikums? Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dieses Phänomen, das auch ich erstaunlich finde, hat mit unserem Thema erst einmal gar nichts zu tun. Es reicht im Übrigen viel weiter als nur in den literarischen Kanon hinein. Die Welt ist voll von solchen Listen. Man muss nur irgendeine beliebige Flug hafen-Buchhandlung auf einem beliebigen Kontinent aufsuchen, um das festzustellen: »Hundred places to see before you die«, »Hundred hands to shake before you die«, »Hundred books to read before you die«. Oder nehmen Sie die im Internet jeden Tag irgendwo aufpoppenden Listen der zehn
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wichtigsten Popsongs, die mit »M« anfangen; oder der 15 wichtigsten Gitarrensoli. Diese Aufzählung ließe sich beliebig verlängern. Gerade die offensichtliche Kontingenz der gewählten Zahlen – warum hundert, zehn, fünfzehn, warum nicht 143? – zeigt das Spielerische dieses Verfahrens. Es gibt offensichtlich ein weitverbreitetes Orientierungsbedürfnis, das sich durch die Informationsfülle über alles in der Welt überfordert fühlt. Und darauf gibt es eine Antwort, die aber in ihrem eigenen Modus schon wieder eingestehen muss, dass sich die Frage gar nicht beantworten lässt. »Die fünfzig wichtigsten deutschen Gedichte« sind natürlich nicht wirklich die fünfzig wichtigsten deutschen Gedichte – als hätte die deutsche Literatur im Laufe der Jahrhunderte exakt fünfzig Gedichte hervorgebracht, die wichtig wären. Das Wort »wichtig« muss in dieser Überschrift in Anführungszeichen gelesen werden, ebenso die »fünfzig«. Und der Witz ist: Diese Anführungszeichen sind unvermeidlich. Selbst wenn die Verfasser ihre Listen etwa doch todernst gemeint haben sollten, blieben die Listen ironisch und offen. Aber ich glaube nicht, dass in der Nachfrage nach solchen Listen ein Bedürfnis nach Konformität steckt. Wie würde denn eine Form aussehen, die konform wäre? Alle sollen nur noch dieselben Romane oder Gedichte lesen? Ich glaube nicht, dass derart standardisierte Menschentypen im Fokus dieser Listen liegen. Ihrer Bestimmung von Nonkonformismus folgend ist Nonkonformismus annähernd gleichbleibend erwartbar und möglich, weil er im Kern die Modifikation und Veränderung des Bestehenden ist … …, die ausgehen von den Individuen. Nonkonformismus ist eine Erneuerung, die immer von einzelnen Individuen ausgeht, die aus den unterschiedlichsten Gründen einen Schritt neben die Pfade des gewohnten Trotts an den Straßenrand setzen und den Trott von ferne betrachten. Wenn man nun aber zeitgenössische literarische Bewegungen betrachtet, wie bspw. die sogenannte Neue Aufrichtigkeit (»New Sincerity«) oder auch die schon angesprochene Popliteratur, dann wirken die Anlässe von Weltabkehr und Zeitverdruss oftmals unernst, gekünstelt, aufgeblasen. Deutet das, wenn der Eindruck richtig ist, nicht darauf hin, dass sich in der Literatur die Bedingungen für Nonkonformismus erschwert haben? Bei Ihrer Frage kommt mir der Name Karl Ove Knausgård in den Sinn. Man kann sich noch so sehr als individuelle Figur darstellen, über tausende von Seiten – wenn man das in einer konventionalisierten, ermüdenden, hundert Mal schon gelesenen Weise tut, dann hebt die literarische Performance das auf, was inhaltlich vermittelt werden soll. Der Funke kann nicht überspringen, Ein Gespräch mit Heinrich Detering
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weil da gar kein Funke ist. Wir leben im Augenblick, zumindest im deutschen Sprachraum, in einer Zeit, in der zuletzt jeder Versuch, eine literarische Bewegung oder einen neuen »-ismus« zu proklamieren, schiefgegangen ist. Ich erkenne im Augenblick keine Bewegung, auch keine neue Popliteratur, die zu feuilletonistischen Gruppendiskussionen taugen würde. Ich sehe stattdessen sehr viele Individuen, deren Schreibweisen allesamt nicht völlig neu sind, die sich aber auf sehr unterschiedliche Traditionen berufen und sie miteinander ins Spiel bringen. Es herrscht eine große Beweglichkeit in den Einzelwerken und zwischen den einzelnen Autoren. Deren Nonkonformismus richtet sich nicht gegen eine Konformität, die man rebellierend zu überwinden versucht, sondern sie beherzigt den ursprünglichen Appell Sklovskij: Schaut euch selbst und schaut die Welt an, in der ihr lebt, und versucht, das, was ihr seht, hört, schmeckt und fühlt, sprachlich so wiederzugeben, dass eure Leser es auch wieder in einer Weise sehen, hören, schmecken und fühlen können, als täten sie es zum ersten Mal. Eben darauf kommt es an. Der eigentliche Nonkonformismus kommt nicht aus der Opposition, sondern aus der Fähigkeit, das Wahrgenommene neu und individuell in Sprache, Bilder oder Musik zu bringen und auf diese Weise anderen dazu zu verhelfen, ihre Welt für sich selber neu zu entdecken. Eine Art von expressivem Nonkonformismus pflegten besonders markant die bohemienhaften Kaffeehaus-Literaten der Wiener Moderne. Wenn Sie das bewerten sollten: Sind das nach Ihren Maßstäben eher Nonkonformisten-Darsteller oder wirkliche Nonkonformisten gewesen? Ich habe schon gesagt, dass ich einen grundsätzlichen Argwohn gegenüber allen Gruppen-Rubrizierungen hege und vorziehe, individuelle Personen anzuschauen. Aber die Wiener Moderne, das darf man auch unter diesem Vorbehalt wohl doch sagen, führt weiter, was ich eben andeutungsweise an Baudelaire zu zeigen versucht habe. Die entwickeln und praktizieren eine sanfte Form von Counterculture, denn sie haben es tatsächlich zu tun mit einer erstarrten, hierarchisch geordneten Umgebung, der sie einen gemeinsamen Nonkonformismus entgegensetzen. Dasselbe im Deutschland der 1990er Jahre zu inszenieren, hätte albern gewirkt, weil alle mehr oder weniger auf demselben Trip gewesen wären. Aber im Wien zwischen den 1880er Jahren und dem frühen 20. Jahrhundert wird gezeigt, wie man tausend Blumen in einer Wüste von Automatisierung und leer gewordener Konventionalität blühen lassen kann. Und das geht ja bis in die höchsten Kreise. Wenn man die heimlich geschriebenen Gedichte der Kaiserin Elisabeth liest, die eine Bewunderin von Heinrich Heine gewesen ist, dann
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sieht man, dass am Hof genau dieselbe nonkonformistische Opposition möglich gewesen ist. Gibt es, abschließend gefragt, einen Autoren oder eine Autorin, bei dem oder der Sie sagen würden: Dies ist der Prototyp eines Nonkonformisten? Mir fallen da halt immer wieder zwei Autoren ein, die ich schon ein paar Mal genannt habe: Johann Wolfgang von Goethe und Bob Dylan. Sie unterscheiden sich in einigen Punkten, das ist unüberhörbar. Aber sie sind einander in einer bestimmten Hinsicht doch ähnlich: in der nie ganz zu beruhigenden artistischen und intellektuellen Unruhe und Neugier sowie der Unlust, sich einzurichten im Erreichten. Mit Blick auf Goethe klingt dieser Satz vielleicht überraschender als bei Dylan; denn es ist ein immer noch sehr verbreitetes Klischee, dass der junge Goethe zwar ein aufregender, experimenteller Autor gewesen sei, aber in Weimar nach und nach zum Geheimrat und zum marmornen Klassiker erstarrt sei. Goethe hat bis in seine letzten Lebensmonate hinein immerzu mit neuen Themen und Schreibweisen experimentiert, auf höchstem Niveau und in großem Maßstab. Der zweite »Faust«, an dem er bis kurz vor seinem Tod gearbeitet hat, ist als Drama etwas ganz Neuartiges. »Wilhelm Meisters Wanderjahre« ist eben gerade nicht die Fortsetzung, auf die alle gewartet hatten und mit der er gut angekommen wäre, sondern eine Infragestellung eben jener Romanform, die er selber in den »Lehrjahren« mit etabliert hatte. Er selber nennt dieses Romanexperiment in den 1820er Jahren, ausdrücklich anstelle des Wortes »Roman«, ein »Aggregat«. Moderne Autoren, etwa Hermann Broch in Wien, haben sich darauf berufen. Diese Würfe und Sprünge ergeben sich nicht einfach aus einer Art Langeweile heraus, sondern aus der Konsequenz des jeweils Vorangegangenen. Goethe ist für diese Verwandlungslust reichlich gestraft worden. Nach seinem Tod und eigentlich schon in seinen letzten Lebensjahren war Goethe in Deutschland keineswegs Prof. Dr. Heinrich Detering ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen sowie Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Er hat Bücher zur deutschen, skandinavischen und amerikanischen Literatur, auch Essays und Gedichte verfasst. Zuletzt erschienen von ihm: »Die Stimmen aus der Unterwelt. Bob Dylans Mysterienspiele« (C. H. Beck 2016) und »Die Öffentlichkeit der Literatur. Reden und Randnotizen« (Reclam 2016).
der kanonische Nationaldichter gewesen, als der er dann im späten 19. Jahrhundert galt. Eher stand er in dem Ruf, ein Jugendverderber zu sein, ein national unzuverlässiger Geselle, der kosmopolitisch schrieb, der experimentell arbeitete, verwirrend vielstimmig und bei Weitem zu sinnlich; weit entfernt von der sittlichen Erhabenheit, die man an Schiller bewunderte. Als Johann Peter Eckermann Goethe irgendwann in den späteren Lebensjahren hinterbringt: »Die Deutschen mögen Sie nicht«, da macht Goethe eine abwehrende Handbewegung und sagt: »Sie mögen mich nicht! Das matte Wort! Ich mag sie auch nicht.« Das ist der Gestus eines Nonkonformisten. Das Interview führten Jöran Klatt und Matthias Micus. Ein Gespräch mit Heinrich Detering
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PORTRÄT
WEDER LINKS NOCH RECHTS DER PHILOSOPH EMMANUEL MOUNIER, DIE FRANZÖSISCHEN NONKONFORMISTEN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT UND DEUTSCHLAND ΞΞ Martin Strickmann
Im Frankreich der Zwischenkriegszeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg formierte sich zu Beginn der 1930er Jahre eine neue Generation junger engagierter Intellektueller und gesellschaftspolitischer Aktivisten, die vor dem Hintergrund des erstarkenden Nationalsozialismus im Deutschen Reich, des Faschismus in Italien und des Sowjetkommunismus in der Sowjetunion das parlamentarische Frankreich der Dritten Republik als schwach, krisenhaft sowie décadent (»dekadent«) empfanden und dessen Ende herbeisehnten. Es handelte sich um eine ursprünglich sehr heterogene Gruppe von Persönlichkeiten sehr diverser Herkünfte, Werdegänge und tradierter politischer Standorte; um eine junge Protestgeneration, deren Generationskohorte den Nullerjahren, zentriert um den Jahrgang 1905, angehörte und in den historisch schwierigen Zeiten um 1930 etwa 25 Jahre alt war. EINE NEUE ORDNUNG JENSEITS VON LINKS UND RECHTS Diese Protestgeneration diagnostizierte für Frankreich eine »crise de civilisation« »Zivilisationskrise« und wandte sich entschieden gegen das, was der Philosoph und Vertreter des Personalismus Emmanuel Mounier »le désordre établi«, die »etablierte Unordnung«, nannte. Zum désordre établi, mit dem Mounier und seine Generationsgenossen brechen wollten, zählten sie den französischen Parlamentarismus der Dritten Republik, den gesellschaftlichen Individualismus, den liberalen Kapitalismus und Materialismus und auch den Faschismus und Kommunismus. Zur Heilung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen »crise de l’homme au vingtième siècle« (»Krise des Menschen im 20. Jahrhundert«) angesichts nicht zuletzt der faschistischen und kommunistischen Ideologien
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INDES, 2016–3, S. 22–31, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X
machten sie sich auf die geistige Suche nach einem »Dritten Weg« zwischen den binären Polen Sozialismus und Kapitalismus in der Wirtschaft, Individualismus und Kollektivismus in der Gesellschaft, Idealismus und Materialismus in der Philosophie sowie jenseits der etablierten Links-Rechts-Dichotomie im politischen Denken.1 Bezeichnend war in diesem Zusammenhang die Losung, »ni gauche ni droite« (»weder links noch rechts«) sein zu wollen. Damit widersetzten sie sich einer Einordnung in die gängigen politischen Raster und Schubladen des traditionellen Links-Rechts-Schemas im bestehenden Parteiensystem, womit sie sich allerdings zugleich zwischen allen Stühlen platzierten. Robert Aron von Ordre Nouveau erläuterte diese neuartige »ni gauche ni droite«-Position in der Nouvelle Revue Française mit einem bekannt gewordenen Zitat, welches auch die zeitgeistige antiparlamentarische Gesinnung und Stoßrichtung der Gruppe verdeutlicht: »Nous ne sommes ni droite, ni gauche, mais s’il faut absolument nous situer en termes parlementaires, nous 1 Jean-Louis Loubet del Bayle, L’entretien, URL: http://www. revuejibrile.com/JIBRILE/PDF/ JEANLOUISLOUBETDELBAYLE. pdf [eingesehen am 05.09.2016]. 2 »Wir stehen weder rechts noch links, aber wenn man uns unbedingt in parlamentarische Begrifflichkeiten einordnen will, so werden wir wiederholen, dass wir uns auf halbem Wege bzw. in der Mitte zwischen der extremen Rechten und der extremen Linken befinden, hinter dem Präsidenten, der Nationalversammlung den Rücken zuwendend.« Robert Aron, Questions posées, in: La Nouvelle Revue Française, Bd. 231 (1932), S. 834–837, hier S. 837.
répéterons que nous sommes à mi-chemin entre l’extrême droite et l’extrême gauche, par derrière le président, tournant le dos à l’assemblée.«2 Der Historiker Jean Touchard begründete auch die Orientierung auf einen Dritten Weg mit dem spezifischen Geist der 1930er Jahre: »[…] ces époques de syncrétisme où les oppositions politiques et idéologiques s’effacent, où l’esprit de l’époque est plus important que les distinctions traditionnelles entre courants de pensée«3. Als Erfordernis der Zeit galten eine fundamentale Erneuerung und »révolution spirituelle«, die zugleich eine Transformation der Menschen und Dinge bewirken würden. Die von den Gruppenmitgliedern ausgerufene Neue Ordnung sollte den gesellschaftlichen Individualismus ebenso wie den Kollektivismus in einer föderalistischen, personalistischen und kommunitaristischen Organisation sozialer Beziehungen auflösen. Wichtige Einflussfaktoren für ihr Denken und Wirken waren – neben der Philosophie des Personalismus von Emmanuel Mounier – der soziale Katholizismus und der französische Sozialismus, ins-
3 »[…] diese Epochen des Synkretismus, in denen sich die politischen und ideologischen Oppositionen verflüchtigen, in denen der Geist der Epoche wichtiger ist als die traditionellen Unterscheidungen zwischen den Strömungen des Denkens.« Jean Touchard, L’Esprit des années 1930: Une Tentative de renouvellement de la pensée politique française, in: Ders., Tendances politiques de la vie française depuis 1789, Paris 1960, S. 89–118.
besondere in der Form des Proudhonisme. Als geistige Väter und Vorbilder fungierten Intellektuelle wie Léon Bloy und Charles Péguy, bei einigen auch Jacques Maritain oder Georges Bernanos. Die Angehörigen dieser spezifischen historischen Protestformation werden in Frankreich üblicherweise »Les non-conformistes des années 30« (»die Nonkonformisten der 1930er Jahre«) genannt. Bei diesem Begriff handelt es sich allerdings nicht um eine Selbstbezeichnung oder Selbstbeschreibung der Generationsangehörigen, also der Akteure selbst, und auch nicht um eine zeitgenössische Zuschreibung. Vielmehr wurde der Terminus erst Martin Strickmann — Weder links noch rechts
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a posteriori im Jahre 1969 vom französischen Politikwissenschaftler und politischen Ideengeschichtler Jean-Louis Loubet del Bayle etabliert. Erst sein Werk »Les non-conformistes des années 30. Une tentative de renouvellement de la pensée politique française« hat den Begriff geprägt und bestimmt die Rezeption bis heute.4 Dementsprechend lassen sich drei Hauptströmungen von Nonkonformisten unterscheiden: erstens jene Strömung um die 1932 von Emmanuel Mounier gegründete Zeitschrift Esprit, die mit Mitarbeitern wie etwa Jean Lacroix zum wichtigsten Sprachrohr der Philosophie des Personalismus der 1930er Jahre wurde. Zweitens gab es die Gruppe L’Ordre nouveau, die auf den Werken von Robert Aron und Arnaud Dandieu basierte und von A lexandre Marc organisiert sowie gegründet wurde. Ab 1933 veröffentlichte diese Gruppe die gleichnamige Zeitschrift L’Ordre nouveau, zu deren Redaktionsausschuss Robert Aron, Claude Chevalley, Arnaud Dandieu, Daniel-Rops, Jean Jardin, Alexandre Marc und der Karl-Barth-Schüler Denis de Rougemont zählten. Auch Charles de Gaulle stand Ende 1934/Anfang 1935 in Kontakt mit dieser Gruppierung. Drittens schließlich waren da die jungen katholischen Intellektuellen, die von Emmanuel Mounier »Jeune Droite« (»Junge Rechte«) genannt wurden und mehr oder weniger mit der monarchistischnationalistischen Action Française gebrochen hatten. Hierzu zählten etwa Jean de Fabrègues, bis 1929 Privatsekretär von Charles Maurras, Thierry Maulnier, Jean-Pierre Maxence und Maurice Blanchot, die in Zeitschriften wie Les Cahiers, Réaction pour l’ordre, La Revue du Siècle, La Revue du XXe siècle und La Revue Française publizierten. Ihre Aufbruchs-, Formations- und Blütezeit erlebten die »Nonkonformisten« in den Jahren 1930 bis 1934. Im Anschluss an die antiparlamentarischen rechten, ultrarechten und rechtsradikalen Straßenproteste und Unruhen in Paris, bekannt geworden als die »Krise vom 6. Februar 1934«, begannen die gesellschaftspolitischen Positionen und lebenspraktischen Konsequenzen dieser Nonkonformisten so stark zu divergieren, dass seither die verbindende Zuschreibung des Nonkonformismus als Klammer für ein intellektuelles Milieu mit bis dato tendenziell ähnlichen oder konvergierenden Anschauungen nicht mehr zu tragen vermag. In Frankreich werden die non-conformistes des années 30 in Wissenschaft und Öffentlichkeit dennoch als integraler Bestandteil der französischen politischen Ideengeschichte und des politischen Denkens bis in die Gegenwart lebhaft diskutiert.5 In der deutschen Wissenschaft und Öffentlichkeit wurde den französischen Nonkonformisten der 1930er Jahre demgegenüber jahrzehntelang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt und deren Wirken eher marginal
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4 Jean-Louis Loubet del Bayle, Les non-conformistes des années 30. Une tentative de renouvellement de la pensée politique française, Paris 1969. Dieses Werk (»Die Nonkonformisten der 1930er Jahre. Ein Versuch der Erneuerung des französischen politischen Denkens«) wurde nicht ins Deutsche übersetzt und dementsprechend wurden dessen Thesen nur wenig im deutschsprachigen Raum rezipiert. 5 Olivier Dard u. Étienne Deschamps (Hg.), Les nouvelles relèves en Europe, Brüssel 2005, darin u. a. Christophe Le Dréau, L’Europe des non-conformistes des années 30: les idées européistes de New Britain et New Europe, S. 311–330.
rezipiert. Verschiedene Dissertationen rückten die französischen Nonkonformisten dann in den letzten Jahren systematisch und quellengesättigt in den Fokus der deutschen Geschichtswissenschaft.6 Diesen Monografien ist eigen, die Nonkonformisten nicht nur im Binnenkontext der nationalen französischen Geschichte zu untersuchen, sondern in einer erweiterten Perspektive im transnationalen Kontext der deutsch-französischen und europäischen Geschichte. EMMANUEL MOUNIER ALS PROTAGONIST DES FRANZÖSISCHEN NONKONFORMISMUS Beispielhaft hierfür soll nun der Werdegang von Emmanuel Mounier nachgezeichnet werden, um anhand eines zentralen und vielleicht sogar archetypischen Protagonisten der Nonkonformisten auf plastische Art Motive, Entwicklungs- und Wandlungsprozesse unter dem Eindruck und Einfluss der Zeitläufte und historischen Gegebenheiten zum Vorschein zu bringen.7 1905 6 Hans-Wilhelm Eckert, Konservative Revolution in Frankreich? Die Nonkonformisten der Jeune Droite und des Ordre Nouveau in der Krise der 30er Jahre, München 2000; Martin Strickmann, L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle: Die französischen Intellektuellen und die deutschfranzösische Verständigung 1944 bis 1950 – Diskurse, Initiativen, Biografien, Frankfurt a. M. 2004; Gaby Sonnabend, Pierre Viénot (1897–1944). Ein Intellektueller in der Politik, München 2005.
in Grenoble geboren, stammte Emmanuel Mounier aus einer sehr katholischen Familie bäuerlicher Herkunft. Sein Vater war Apotheker, seine Mutter Hausfrau. Nach dem Abbruch des Medizinstudiums, das er auf Wunsch seines Vaters begonnen hatte, studierte er von 1924 bis 1927 Philosophie an der Universität Grenoble. Zu seinen Lehrern zählte u. a. der Philosoph Jacques Chevalier, ein Henri-Bergson-Anhänger, der später in Vichy Minister wurde. Mounier betätigte sich in der Association catholique de la jeunesse française und der Vinzenzkonferenz, wodurch er auf die soziale Not im Elendsviertel von Grenoble aufmerksam wurde. 1927 ging er nach Paris, um sich an der Sorbonne auf die Aufnahmeprüfung der agrégation vorzubereiten. Diese absolvierte er 1928 zusammen mit Studenten der Ecole Normale Supérieure ( ENS) wie Jean-Paul Sartre und Raymond Aron: Aron wurde Jahrgangserster,
7 Vgl. im Folgenden Martin Strickmann, L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle; Ders., Französische Intellektuelle als deutsch-französische Mittlerfiguren, 1944–1950, in: Patricia Oster-Stierle u. HansJürgen Lüsebrink (Hg.), Am Wendepunkt – Deutschland und Frankreich um 1945. Zur Dynamik eines ›transnationalen‹ kulturellen Feldes, Bielefeld 2008, S. 17–48; Ders., L’Allemagne nouvelle oder l’Allemagne éternelle? Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944–1950, in: FRANCIA. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Bd. 32/3 (2005), S. 139–160.
Mounier -zweiter, Sartre fiel durch die Prüfung zunächst durch, wurde dann allerdings im darauffolgenden Jahr Jahrgangsbester. In Paris begegnete Mounier dem Philosophen und Thomisten Jacques Maritain vom »Institut Catholique«, der sich von der Action Française gelöst hatte und nach einem Weg für ein gesellschaftliches Engagement suchte. Maritain nahm Mouniers erstes Buch »La Pensée de Charles Péguy« (1931), welches er gemeinsam mit Georges Izard sowie Marcel Péguy, dem ältesten Sohn von Charles Péguy, verfasst hatte, in seine Buchreihe bei Plon auf. Bei Maritain in M eudon fassten Mounier, Georges Izard und André Deléage auch den Plan für eine Zeitschrift, die, inspiriert von Péguy senior, mit dem désordre établi brechen und sich gegen Ungerechtigkeit und die »geistig-menschliche Armut« engagieren sollte. Die Notwendigkeit eines solchen Engagements bestätigte Mounier ganz wesentlich der Zusammenbruch der New Yorker Börser Martin Strickmann — Weder links noch rechts
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am Schwarzen Freitag 1929, der die Weltwirtschaftskrise auslöste und in dessen Gefolge Mounier die verheerenden Folgen des kapitalistischen Systems und die »Deformation« der westlichen Zivilisation anprangerte. Die im Jahr 1932 gegründete Zeitschrift Esprit fungierte fortan als Organ von Mouniers gesellschaftlichen und spirituellen Bestrebungen und machte ihn zum Spiritus Rector und Wortführer der Generation der Nonkonformisten wie auch der geistigen Bewegung des Personalismus. Unter dem maßgeb lichen Einfluss des jungen deutsch-jüdischen Philosophen des Personalismus, Paul-Louis Landsberg (1901–1944), einem Schüler von Max Scheler, wurde Esprit im Jahre 1936, nachdem der Front populaire (»Volksfront«) als Vereinigung linker Parteien an die Macht gekommen war, zu einer zunehmend politischen Zeitschrift, ohne sich jedoch politisch festzulegen. Mounier engagierte sich für den Personalismus als eine Philosophie der Gemeinschaft, welche die Person als absolutes existenzielles Zentrum in den Mittelpunkt stellte und in welcher der gelebte Glaube vor der Politik und anderen Erfordernissen rangieren sollte. Diese Philosophie lässt sich durch die Schlagworte Gemeinschaft, Engagement, Großmut sowie spirituelle Erfahrung charakterisieren. »Refaire la renaissance!« – so lautete Mouniers Losung für die ausgerufene »personalistische Revolution«. Zwar beherrschte er die deutsche Sprache nicht, allerdings befasste er sich eingehend mit den gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Deutschland. Esprit entwickelte sich dadurch alsbald zu einem Forum des französischen Deutschlanddiskurses. »Selbstkritisch« betonte Mounier ab etwa 1935 die Mitverantwortung Frankreichs für die enormen Schwierigkeiten Deutschlands nach dem Versailler Vertrag von 1919. Frankreich trage durch Versailles und die Ruhr-Besetzung eine Mitschuld am Aufstieg Hitlers und des Nationalsozialismus, von dem er sich zugleich scharf abgrenzte. Die generöse Haltung von Mounier und anderen Nonkonformisten gegenüber dem Deutschland nach Versailles kann dabei als eine dezidierte Gegenreaktion auf die traditionelle ideologische Germanophobie der katholischen Rechtsnationalisten der Action Française interpretiert werden. Zugleich bewunderte Mounier, ebenso wie andere Nonkonformisten, die vermeintliche Stärke, den Enthusiasmus und Idealismus der deutschen Jugend.
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Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Mounier in der Nähe von Grenoble stationiert und geriet 1940 im Anschluss an die Niederlage der französischen Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Freilassung ließ er im November 1940 Esprit im noch unbesetzten Lyon wiedererscheinen und zeigte zunächst Sympathien mit der Jugendpolitik des Regimes von Vichy, was sich im Rückblick als eklatanter Fehler erwies und was seine Kritiker und Gegner zum Anlass für anhaltende Kontroversen über seine vermeintlich faschistische Gesinnung nahmen. Mounier wandte sich jedoch schnell von Philippe Pétain, dem Staatschef von Vichy-Frankreich, ab und trat in Kontakt zur Résistance-Gruppe Combat. Im August 1941 folgte das Verbot von Esprit, Mounier wurde inhaftiert und schrieb während der Haft das Buch »Traité du caractère«, welches 1946 in Paris erschien. Nach einem Hungerstreik wurde er freigelassen und versteckte sich Ende 1942 mit seiner Familie in Dieulefit im Département Drôme. 1944, nach der Libération nach Paris zurückgekehrt, konnte Mounier Esprit ab Dezember 1944 wieder erscheinen lassen. Zusammen mit seinen Mitstreitern und Weggenossen gründete er schließlich 1945 die EspritWohngemeinschaft Les murs blancs auf seinem Anwesen in Châtenay-Malabry bei Paris, in welcher der Philosoph Paul Ricœur, ab 1947 Redaktionssekretär von Esprit, bis zu seinem Lebensende 2005 wohnte und wirkte. WEGBEREITER DER DEUTSCH-F RANZÖSISCHEN V ERSTÄNDIGUNG Mounier teilte mit zahlreichen nonkonformistischen Intellektuellen wie Robert Aron, Daniel Rops, Jean de Fabrègues, Denis de Rougement, Alexandre Marc und Thierry Maulnier die Überzeugung, dass neben Frankreich auch dem Nachkriegsdeutschland eine wichtige Rolle in einem künftigen gemeinsamen vereinten Europa zukomme. Aus dieser Vorstellung speiste sich nach 1945 der Aktivismus der Nonkonformisten für die Europa-Idee und in den europäischen föderalistischen Bewegungen. So wurde etwa Alexandre Marc, der Gründer der Gruppe L’Ordre nouveau, 1946 der erste Generalsekretär der neuen L’Union européenne des Fédéralistes ( UEF) und war in dieser Funktion Mitorganisator des UEF-Kongresses in Montreux vom August 1947, auf dem
Denis de Rougemont die Eröffnungsrede hielt, sowie des Martin Strickmann — Weder links noch rechts
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Europa-Kongresses in Den Haag vom Mai 1948, der als Initialzündung für die Gründung des Europarats von 1949 gilt. Mounier begann zu Kriegsende zunächst auf der deutsch-französischen Ebene und machte seine Zeitschrift Esprit, u. a. mit Beiträgen von André Philip, Albert Béguin, Alfred Grosser, Walter Dirks und Eugen Kogon, endgültig zu einem exponierten Forum des deutsch-französischen Verständigungsdialogs. Besonderen Einfluss hatte dabei das ab Oktober 1945 veröffentlichte Manifest »L’Allemagne de nos mérites« (»Das Deutschland unserer Verdienste« bzw. »Das Deutschland, das wir verdienen«) des deutsch-französischen Intellektuellen, Politikers und Historikers Joseph Rovan, der im Krieg in das Konzentrationslager Dachau deportiert worden war. Der Titel dieser Artikelserie wurde in deutsch-französischen Kreisen zu einem bleibenden geflügelten Wort. Mounier lehnte die bis dato weitverbreiteten – negativen wie positiven – nationalen Stereotype und völkerpsychologischen Deutungsansätze über den »Nationalcharakter« von Nationen wie Deutschland und Frankreich entschieden ab, beklagte wiederholt eine französische historische »Mitverantwortung« am Aufstieg des Nationalsozialismus, appellierte an den französischen »Großmut als Sieger gegenüber dem Besiegten« und zeigte Verständnis für die schwierige soziale Lage der Nachkriegsdeutschen. Zugleich bedauerte er zutiefst das allgemein ausbleibende Schuldeingeständnis der Deutschen im Angesicht der monströsen Verbrechen des Nazi-Regimes und setzte, wie schon in der Zwischenkriegszeit, seine ganze Hoffnung in die deutsche Jugend, für die er nun eine Generalamnestie verlangte und der er neue Werte vermitteln wollte. Als einer der ersten Franzosen überhaupt nahm Mounier Kontakt zu ähnlich gesonnenen deutschen Gelehrten und Intellektuellen auf, reichte ihnen die Hand zur Verständigung und knüpfte erste freundschaftliche Beziehungen: Hierzu zählten der Philosoph Karl Jaspers, der in seinem Buch »Die Schuldfrage« von 1946 den weitverbreiteten Begriff der deutschen »Kollektivschuld« ablehnte und ihm die Bezeichnung der kollektiven Haftung entgegensetzte; Eugen Kogon, selbst von 1939 bis 1945 Häftling im KZ Buchenwald, der bereits 1946 mit seinem Buch »Der SS-Staat« ein frühes Standardwerk über das System der NS-Konzentrationslager veröffentlichte; außerdem der Philosoph Wilhelm Weischedel, der SPD -Politiker Carlo Schmid und Walter Dirks, zusammen mit Kogon Herausgeber der Frankfurter Hefte und Mounier einige Jahre lang in enger Zusammenarbeit verbunden. Bereits ab 1947 korrespondierten Mounier und Esprit intensiv mit jungen westdeutschen Zeitschriften wie Der Ruf der Gruppe 47, Merkur von Hans Paeschke und Gerhard Heller, Hochland von Franz Josef Schöningh und den bereits genannten Frankfurter Heften. Die dem personalistischen
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Philosophen und Opfer des Nazi-Regimes Paul-Louis Landsberg gewidmete Esprit-Sonderausgabe »Les Allemands parlent de l’Allemagne« (»Die Deutschen sprechen über Deutschland«) vom Juni 1947 publizierte ZeitzeugenAussagen, die Mounier auf der Basis eines eigenen Fragebogens während seiner ersten Deutschlandreise vom Februar 1947 zusammengetragen hatte, und sollte den Franzosen ein unverzerrtes, realitätsbezogeneres Bild vom Nachkriegsdeutschland vermitteln. Mounier war darüber hinaus auf der französischen Seite ein wichtiger Teilnehmer sowohl des ersten deutsch-französischen Nachkriegsschriftstellertreffens, welches im August 1947 in Lahr im Schwarzwald stattfand, als auch des Folgetreffens in Royaumont bei Paris vom Oktober 1948.8 Um die Verständigung zwischen Franzosen und Deutschen, zwischen Frankreich und Deutschland, zu fördern, ergriff Mounier im Oktober 1948 die Privatinitiative zur Gründung des »Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle« (»Französisches Komitee für den Austausch mit dem neuen Deutschland«), für das er ein sehr breites Spektrum illustrer französischer Intellektueller gewinnen konnte, von denen einige selbst in der französischen Widerstandsbewegung der Résistance aktiv gewesen waren oder persönlich unter dem NS-Regime gelitten hatten: Zum Vorstand gehörten Rémy Roure, David Rousset, Vercors, Edmond Vermeil und Jean Schlumberger; Mitglieder des Kuratoriums waren Pastor Albert Finet, Henri Frenay, Alfred G rosser, Robert d’Harcourt, Maurice Merleau-Ponty, Robert Minder, Emmanuel Mounier, Jean du Rivau, Rémy Roure, Jean-Paul Sartre, Jean Schlumberger, Vercors und Edmond Vermeil; Jean-Marie Domenach wurde Schatzmeister. Zum Generalsekretär wurde Alfred Grosser gekürt, der sich durch seine Artikelserie »Jeunesse d ’Allemagne« in der ehemaligen Résistance-Zeitung C ombat im Anschluss an seine Deutschlandreise vom Sommer 1947 als Deutschlandkenner mit Erfahrungen aus erster Hand ausgewiesen hatte. Dadurch fand Grosser im Alter von gerade einmal 23 Jahren seine erste Plattform und mit dem Bulletin d’Information des Komitees namens »Allemagne« ein erstes beständiges Sprachrohr für sein Jahrzehnte andauerndes deutsch-französisches Verständigungsengagement. Das Komitee lud demokratische Deutsche zu Vorträgen an die Pariser Universität Sorbonne ein. Als erster deutscher Redner an der Sorbonne sprach der Politologe Eugen Kogon über »L’Allemagne d’aujourd’hui«. Zu den Höhepunkten dieser Reihe zählten ferner Vorträge der Gruppe 47-Schriftsteller Alfred 8 Martin Strickmann, Deutschfranzösische Schriftstellertreffen, in: Nicole Colin u. a. (Hg.), Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945, Tübingen 2013, S. 196–198.
Andersch und Heinrich Böll, des Politologen Theodor Eschenburg, des investigativen Journalisten und Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein sowie des ersten deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss. Diese, seine deutsch-französische Informations-, Austausch-, Vernetzungs- und Verständigungsarbeit, Martin Strickmann — Weder links noch rechts
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die im Alltag zum großen Teil von Alfred Grosser und dessen Mutter Lily Grosser bestritten wurde, betrieb das Komitee bis zu seiner Auflösung im Jahr 1967. ZWISCHEN ALLEN STÜHLEN – WIEDERUM Mouniers früher Herzinfarkt-Tod im März 1950 infolge von Überarbeitung löste auch in der westdeutschen Presse- und Medienlandschaft ein erhebliches Echo aus. Gewürdigt wurde dabei weniger der Philosoph des Personalismus, sondern eher der politisch engagierte »ni gauche ni droite«-Nonkonformist, der Anhänger des »Dritten Weges« – und ganz besonders der Europäer, der sich für eine Verständigung mit Nachkriegsdeutschland eingesetzt hatte. Sein Mitstreiter und Freund Walter Dirks, der mit dem Beitrag »Der restaurative Charakter der Epoche« den Begriff der »Restauration« für die frühe Bundesrepublik Deutschland geprägt hatte, beklagte zutiefst die Lücke, die durch den frühen Tod Mouniers klaffen würde: »Wir haben so sehr mit Emmanuel Mounier gerechnet, für die nächsten Jahre und Jahrzehnte schwieriger geistiger Auseinandersetzungen hier in Deutschland selbst. Wir hätten seine Hilfe gebraucht, seine Autorität. […] Ich habe keinen anderen Menschen geistig als so brüderlich empfunden.«9 Wilhelm Hausenstein, der Kunstkritiker der Frankfurter Zeitung, der 1950 als Diplomat für die Regierung Adenauer nach Paris ging, sah Mounier dagegen mit anderen Augen: »Da war Emmanuel Mounier, der leidenschaftliche Geist, der sich in dem […] Feuer der Begegnung christlicher Wahrheit mit den sozialen Fragen unserer Zeit verbrannt hat.«10 Dass Mounier sich »verbrannt« habe, bezog Hausenstein womöglich auch auf die Tatsache, dass er und seine Zeitschrift Esprit im Zuge der aufkommenden Ost-West-Konfrontation des »Kalten Krieges« und wohl auch in Gegenreaktion auf den entstehenden westlichen Antikommunismus selber philokommunistische und neutralistische Positionen bezogen. Im Unterschied zu französischen Philokommunisten wie dem Atomphysiker und Intellektuellen Frédéric Joliot-Curie, der 1942, unter dem Eindruck der Rolle der Kommunisten in der französischen Résistance, schließlich Mitglied der Parti communiste français ( PCF) und 1956 sogar Mitglied ihres Zentralkomitees wurde, spielte Mounier gemäß seinem Credo »ni gauche ni droite« freilich nie mit dem Gedanken, PCF-Mitglied zu werden.11 Bei traditionellen Christen nun wegen seines Philokommunismus und bei Kommunisten und PCF-Mitgliedern wegen seiner kritischen und unabhängigen Einstellung gegenüber dem (Sowjet-)Kommunismus – mangels »Unterwerfung« unter die Parteidoktrin – angefeindet, setzte sich Mounier politisch kurz vor seinem Tod zunehmend abermals zwischen alle Stühle.
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Nonkonformismus — Porträt
9 Brief von Walter Dirks an Jean-Marie Domenach vom 14. April 1950 (Bibliothèque privée d’Emmanuel Mounier, Dossier Allemagne), zitiert nach: Strickmann, L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle, S. 210, S. 219, S. 454. 10 Wilhelm Hausenstein, Pariser Erinnerungen. Aus fünf Jahren diplomatischen Dienstes, 1950–1955, München 1961, S. 180. 11 Martin Strickmann, Die französischen Atomphysiker Frédéric und Irène Joliot-Curie als politische Intellektuelle am Ende der 1930er Jahre, in: Martine Boyer-Weinmann u. Olaf Müller (Hg.), Das Münchener Abkommen und die Intellektuellen, Literatur und Exil in Frankreich zwischen Krise und Krieg, Tübingen 2008, S. 257–266; Ders., Scientists as Intellectuals, The Sociopolitical Role of French and West German Nuclear Physicists in the 1950s, in: Helmuth Trischler u. Mark Walker (Hg.), Physics and Politics, Research and Research Support in Twentieth Century Germany in International Perspective, Beiträge zur Geschichte der DFG, Band 5, Stuttgart 2010, S. 131–160, hier S. 136, S. 139.
12 Vgl. das kontrovers diskutierte Buch von Zeev Sternhell, Ni droite ni gauche. L’idéologie fasciste en France, Paris 1983.
Mounier geriet aber nicht nur zwischen die Fronten von Antikommunisten und Kommunisten, sondern wurde auch, gemeinsam mit anderen Nonkonformisten der 1930er Jahre, posthum des Faschismus bezichtigt, etwa von dem Politologen Zeev Sternhell.12 Sternhells ideengeschichtlich begründeter Faschismusverdacht gegenüber Mounier im Speziellen und den Nonkonformisten im Allgemeinen wird von der scientific community in Frankreich allerdings überwiegend infrage gestellt und letztendlich als wissenschaftlich nicht überzeugend bewertet. POSTHUM IM TREND? Der Intellektuelle und ehemalige Widerstandskämpfer Jean-Marie D omenach, Mouniers »rechte Hand« bei Esprit, führte Mouniers Positionen aus der Nachkriegszeit des »progressiven« sozialen Katholizismus, des Nonkonformismus, des Geistes der Résistance, des Neutralismus und des Philokommunismus nach dessen Tod fort und engagierte sich, in Esprit beispielsweise unterstützt von Paul Ricœur, vehement gegen die projektierte westdeutsche Wiederbewaffnung. Gleichzeitig trat bei E sprit unter der Leitung von Albert Béguin und anschließend Jean-Marie Domenach das von Mounier zuvor leidenschaftlich betriebene Projekt einer deutsch-französischen Verständigung in den Hintergrund. Dieses hatte jedoch in Mouniers Gründung des Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle eine neue »Heimat« gefunden, die bis 1967 fruchtbar fortbestand. Die von Mounier und anderen Nonkonformisten der 1930er Jahre eingeführte Losung des »ni gauche ni droite« (»weder links noch rechts«) ist selbst bis in die Gegenwart in Variation ein durchaus gebräuchlicher termi-
Dr. Martin Strickmann ist Geschichtswissenschaftler, Kulturforscher, multimedialer Autor, Journalist und Kreativer. Stationen u. a. an der Universität zu Köln, der Pariser Sorbonne (Paris IV), am Deutschen Historischen Institut in Paris, am Forschungsinstitut für Wissenschafts- und Technikgeschichte (MZWTG) des Deutschen Museums und der LMU München, an der Fondation Maison des Science de l’Homme FMSH/EHESS in Paris, und in der Zukunftsforschung bei einer weltweit tätigen Zukunfts-Agentur. Zudem mehrfacher Stipendiat und zweifacher Preisträger des Bundeswettbewerbs Deutsche Geschichte der Körber-Stiftung um den Preis des Bundespräsidenten.
nologischer Topos in Frankreichs politischer Landschaft. Zuletzt wurde sie, zumindest rein begrifflich, im französischen Polit-Betrieb vom soeben zurückgetretenen Wirtschafts- und Finanzminister Emmanuel Macron wieder aufgegriffen: Auch weil er mit seiner sozial-liberalen Wirtschaftspolitik beim linken Flügel der sozialistischen Regierungspartei Parti socialiste wiederholt Unmut hervorgerufen hatte, gründete der 38-jährige Politiker im April 2016 seine eigene politische Bewegung »En marche!«, die er vom Selbstverständnis her »ni droite ni gauche« zu positionieren beabsichtigt und an dessen Spitze er nach derzeitigem Stand wohl bei der Präsidentschaftswahl vom 23. April 2017 als Kandidat antreten wird. Passend zur verwendeten Losung »ni droite ni gauche« publizierte der einstige Investmentbanker und Wirtschaftsliberale Macron auch schon gemeinsam mit dem Philosophen Paul Ricœur Essays in der von Mounier begründeten Zeitschrift Esprit und gehörte auch deren Redaktionskomitee an, womit sich der Kreis dieses Beitrags wieder schließt. Martin Strickmann — Weder links noch rechts
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ANALYSE
SOZIALE SCHLIESSUNG, NONKONFORMISMUS UND PROTEST DIE LINKE IST KONSERVATIV GEWORDEN UND DER GESTUS DER REVOLTE WIRD VON RECHTS INSZENIERT ΞΞ Cornelia Koppetsch
Seit etwa zwei Jahrzehnten beobachten wir wieder eine verstärkte Tendenz zur Konformität, zur gesteigerten Anpassungsbereitschaft an gesellschaftliche Normen. Erstaunlich ist dies vor allem dort, wo – wie im aktuellen Regime des Neoliberalismus – die Erfüllung gesellschaftlicher Normen eine Vielzahl von Subjekten schädigt, zu Erschöpfung und Überforderung führt und mit massiven Ungerechtigkeiten einhergeht. Umso problematischer ist die Neigung zur unhinterfragten Akzeptanz neoliberaler Spielregeln. Zwar betätigen sich viele Mittelschichtbürger heute als Kritiker der Marktgesellschaft; doch hindert sie das im konkreten Alltagsgeschäft nicht daran, sich an die gegebenen Bedingungen mitunter vorbehaltlos anzupassen. Kaum einer fragt, welchen Interessen diese dienen. Wer nicht mithalten kann, dem sind die Wege in die Kritik verbaut, da sich Misserfolge jeder selbst zuzuschreiben hat. Provokante Subkulturen gibt es, so auch die aktuelle Sinus-Jugendstudie1, kaum mehr. »Mainstream« sei bei den meisten Jugendlichen kein Schimpfwort, sondern vielmehr ein Schlüsselbegriff im Selbstverständnis junger Menschen. Viele Jugendliche wollten so sein »wie alle«.2 Wie ist die »Wiederkehr der Konformität«3 zu erklären? Wieso regt sich so wenig Widerstand, warum wird nicht im Interesse aller daran gearbeitet, den Druck zu lockern? Warum nicht einfach mal wieder nonkonform sein, so wie damals bei den 68ern? Doch so einfach ist das nicht. Wirksame Formen der Nonkonformität und des Nonkonformismus gedeihen nur unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und stehen nicht in der Verfügungsmacht des Einzelnen. Konformität ist die Kehrseite der Zugehörigkeit, denn sie ist
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INDES, 2016–3, S. 32–42, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X
1 Vgl. Marc Calmbach u. a., Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Wiesbaden 2016. 2 Und nach einer im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erfolgenden Phase der Lockerung von Sitten und Umgangsformen (Cas Wouters, Informalisierung. Norbert Elias’ Zivilisationstheorie und Zivilisationsprozesse im 20. Jahrhundert, Opladen 1999), kommt es gegenwärtig erneut zur Anhebung von Verhaltensstandards, die in aktuellen Arbeiten unter den Stichworten Selbstoptimierung, Gefühlsmanagement und Selbstunternehmertum diskutiert werden. 3 Cornelia Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte, Frankfurt a. M. 2013.
der »Preis«, den man für soziale Anerkennung zu entrichten hat. Und Konformitätsbestrebungen intensivieren sich mit der Verknappung von Lebenschancen und Aufstiegsmöglichkeiten, da unter verschärfter Konkurrenz stets auch die Anforderungen hochgeschraubt werden. Denn nur solche Gruppen, die sich profilieren, d. h., die sich nach außen abgrenzen, können Außenseiter wirkungsvoll daran hindern, in die Machtzentren aufzuschließen. In der Soziologie sprechen wir von »sozialer Schließung«. Doch wer dazu gehört, unterliegt einer scharfen Beobachtung. Nonkonformismus kann unter bestimmten Voraussetzungen ein wirkungsvoller Widerstand gegen derartige Schließungstendenzen sein. Dieser muss nicht zwangsläufig als aufklärerischer Protest von links, er kann ebenso – etwa als autoritäre Revolte – von rechts erfolgen. Betrachten wir das im Einzelnen. Soziale Schließung ist der Versuch gesellschaftlicher Gruppen, den privilegierten Zugang zu begehrten Gütern oder Lebenschancen gegenüber anderen Gruppen zu verteidigen oder auch zu vergrößern.4 Soziale Zugehörigkeiten begründen eine spezifische Form der Wertschätzung, die Max Weber als »soziale Ehre«5 bezeichnet und die mit der kulturellen Lebensführung korrespondiert. Aus der Gruppenzugehörigkeit lassen sich daher nicht nur soziale Vorteile und Lebenschancen, sondern auch Identitätsansprüche generieren. Zugehörigkeiten konstituieren sich durch Grenzziehungen, durch welche die eigene Wir-Gruppe nach innen begünstigt und nach außen abgehoben wird. Das häufigste Muster ist die Etablierten-/Außenseiter-Figuration6, in der sich Alteingesessene gegen die Aspirationen neu Hinzukommender schützen. Daraus resultieren selektive Bevorteilungen und Konkurrenzvorteile 4 Vgl. Raymond Murphy, Die Struktur der sozialen Schließung: Zur Kritik und Weiterentwicklung der Theorien von Weber, Collins und Parkin, in: Jürgen Mackert (Hg.), Die Theorie sozialer Schließung. Traditionen, Analysen, Perspektiven, Wiesbaden 2004, S. 87–109, hier S. 89. 5 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 531. 6 Vgl. Norbert Elias u. John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a. M. 1990. 7 Vgl. Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016.
für die Etablierten. GESELLSCHAFTEN IM MODUS VON ABSTIEG UND AUFSTIEG Je größer die Konkurrenz zwischen Gruppen ist und je knapper die begehrten Güter sind, desto größer ist das Bedürfnis, sich der schützenden Zugehörigkeit zu vergewissern, desto leuchtender auch ist das Gruppencharisma der Besitzenden und Privilegierten. Von den Eliten möchte man sich heute nicht abgrenzen, sondern am liebsten selbst dazugehören. In Phasen des ökonomischen Abschwungs, in denen größere Teile der Bevölkerung vom Abstieg bedroht oder bereits abgestiegen sind,7 verknappen sich die zum Statuserhalt oder Aufstieg notwendigen Ressourcen wie auch die damit verbundenen Zugehörigkeiten. In einer solchen Phase befinden sich derzeit die meisten europäischen Gesellschaften; und auch in Deutschland sind trotz Wirtschaftswachstums wachsende Teile der Bevölkerung von Abstieg und Ausgrenzung betroffen. Unter diesen Bedingungen erhöht sich der Druck Cornelia Koppetsch — Soziale Schließung, Nonkonformismus und Protest
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auf den Einzelnen, »aktiv mitzuspielen«, da unangepasstes Verhalten unter erhöhter Konkurrenz sehr schnell mit Ausschlüssen oder sozialer Deklassierung »bestraft« werden kann. Nach wie vor hat der Konformismus in unserer Gesellschaft einen schlechten Ruf – was allerdings nichts daran ändert, dass konformistische Haltungen, insbesondere bei Menschen unter Erfolgsdruck, in den letzten Jahrzehnten insgesamt zugenommen haben. Demgegenüber weisen Gesellschaften, die durch kollektive Aufstiege und ökonomische Aufschwünge gekennzeichnet sind, zumeist ein größeres Spektrum an Devianz und Unangepasstheit auf, da Lebenschancen und Aufstiegsmöglichkeiten hier in größerem Maße vorhanden sind. Solche Gesellschaften sind in der Regel liberaler und auch innovativer, da aus Abweichungen Variationen, also neue Ideen und Verhaltensmuster, gewonnen werden können. Der Einzelne ist nicht auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen angewiesen, wenn Aufstiegsmöglichkeiten und auch andere Möglichkeiten zur Realisierung von Identitätsansprüchen und sozialen Vorteilen existieren. Damit sinkt die Macht, die Gruppen über Alteingesessene oder Aspiranten ausüben können. Denn die Vorteile der Dazugehörigen schwinden, wenn auch noch andere attraktive Optionen der Zugehörigkeit bestehen. Ein eindrucksvolles Beispiel für das Wechselspiel zwischen sozialer Konkurrenz, Schließung und Gruppenkonformität liefern die Auseinander setzungen um das Thema Bildung. Unter dem verschärften Konkurrenzdruck hinsichtlich Lebenschancen sind etablierte Mittelschichtbürger sehr bemüht, ihren Status in die nächste Generation zu transferieren – wobei Bildung eine Schlüsselstellung einnimmt. Vordergründig dienen die stark an Bedeutung gewinnenden exklusiven Gymnasien und Privatschulen der Nachfrage besorgter Eltern nach individueller Förderung ihres Kindes, die durch öffentliche Bildungsangebote nicht mehr gewährleistet scheint.8 Das z. T. beträchtliche Schulgeld kann man allerdings auch als Preis für die Segregationsprämie verstehen. Den Eltern wird garantiert, dass ihr Kind den Unterricht nicht teilen muss mit sogenannten Bildungsverlierern, die im öffentlichen Schulsystem durch integrative Schulen und Schulen mit hohen Migrantenanteilen mitgenommen werden sollen. Die Legitimität dieser Ausgrenzung wird durch die Herausbildung hegemonialer Lebensstile abgesichert: Leistungs- und Aufstiegsorientierung, Toleranz und Weltoffenheit, Bildung, Gesundheits- und Ernährungsbewusstsein sind zu hochgradig distinktiven Formen der kulturellen Lebensführung geronnen, durch die soziale Höherwertigkeit symbolisiert und die Gruppe der Kosmopolitisch-Rechtschaffenen von den Außenseitern abgegrenzt wird. Diese Lebensformen sind alles andere als tolerant, da Abweichungen mit Ausschluss
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Nonkonformismus — Analyse
8 Vgl. Heinz Bude, Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet, Hamburg 2013.
quittiert werden. Soziale Aufsteiger müssen daher mehr als nur Bildungsehrgeiz demonstrieren: Sie müssen über die richtigen Codes, über Toleranzbewusstsein und den korrekten, gesundheitsbewussten Lebensstil verfügen. ANPASSUNG UND ALTERNATIVLOSIGKEIT Schließungstendenzen finden sich zudem im Arbeitsleben, etwa bei Abgrenzungen regulär Beschäftigter gegenüber Leiharbeitern. So geraten heute Festangestellte in die Position von Etablierten, während das wachsende Segment der »atypisch« Beschäftigten in eine Außenseiterposition gedrängt wird. Aufgrund der Verknappung von Aufstiegsmöglichkeiten verfügen Unternehmen und Betriebe heute über ein höheres Drohpotenzial. Ein Arbeitgeber oder eine Chefin kann aufgrund der zunehmenden Konkurrenz um reguläre Beschäftigungsverhältnisse unter subtilen Androhungen von Deklassierungen (Nichtverlängerung von Arbeitsverträgen, Abrutschen in die Zeitarbeit, Entlassungen etc.) von Mitarbeiterinnen oder Arbeitnehmern erhöhte Arbeitsleistungen verlangen. Um nicht in Leiharbeit abzurutschen oder eine Vertragsverlängerung zu verspielen, müssen Angestellte gestiegene Anforderungen akzeptieren und Anpassungsbereitschaft signalisieren. Doch die Anpassungsbereitschaft stößt an Grenzen, wenn sie dauerhaft frustriert wird, etwa weil Aufstiegswege blockiert sind, die Erfolgschancen als gering eingeschätzt werden oder insgesamt zu viele Kollegen sichtbar auf der Strecke bleiben. Dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit des Rückzugs wie auch des nichtkonformen, abweichenden Verhaltens. Dabei sind unterschiedliche Formen nichtkonformen Verhaltens zu unterscheiden: Abweichung kann unauffällig erfolgen, etwa durch rein äußerliche Befolgung der Normen im Sinne des »Dienstes nach Vorschrift« – dann wird sie als stillschweigende oder heimliche Devianz zumeist geduldet, um keine Nachahmer hervorzurufen. Erst wenn sich das deviante Verhalten offensiv gegen Gruppennormen richtet, wenn es als gezielte Herausforderung inszeniert wird, kann von Nonkonformismus gesprochen werden. Nonkonformismus kann als kollektive Protestgeste zur Symbolsprache einer oppositionellen Bewegung werden. Doch damit sich kollektiver Widerstand gegen gesellschaftliche Normen formiert, muss noch eine weitere Voraussetzung erfüllt sein: Es muss zur Schwächung des kulturellen Überbaus, der »Moral« gekommen sein, mittels derer die herrschende Ordnung gerechtfertigt wird. Dazu wird mehr als ein funktionierendes Gesellschaftssystem und eine konstitutionelle Demokratie benötigt, es bedarf einer imaginären Dimension – Elan, Leidenschaft und Visionen eines Aufbruchs, eines über den Tag hinausweisenden Projekts –, durch die emotionale Cornelia Koppetsch — Soziale Schließung, Nonkonformismus und Protest
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Identifikationsmöglichkeiten geschaffen werden und gesellschaftliche Teilnahme als faszinierend und befriedigend erscheint. Der Elan nun ist freilich unter dem Regime des Neoliberalismus weitgehend erloschen. Im politischen Bereich macht sich dies zum Beispiel in der »Alternativlosigkeit«, mit der bestimmte politische Ziele vorgegeben werden, und in der Entideologisierung der Volksparteien bemerkbar. Auch wer die EU grundsätzlich begrüßt, kommt nicht umhin, festzustellen, dass diese ein technokratisch gesteuertes Elitenprojekt ist. Im Arbeitsleben dominiert der »flexible Mensch«9 (Sennett 2000), der sich nicht mehr an übergeordneten Idealen oder moralischen Prinzipien, sondern an kurzfristigen Opportunitäten und Gewinnmöglichkeiten orientiert. Und mit den jüngsten Reformen des Hochschulsystems wurden humanistische und aufklärerische Bildungsideale über Bord geworfen. Übrig geblieben ist das vorrangig an Unternehmen adressierte technokratische, marktliberalen Forderungen entsprechende Versprechen der Ausschöpfung von »Humankapital«. Emanzipatorische Bildungsvorstellungen haben keinen Raum mehr, wenn Bildung als ökonomische Ressource betrachtet wird. Auf der Ebene der persönlichen Lebensführung spiegeln sich ökonomische Verwertungsimperative in der Aufforderung zur »Selbstoptimierung« und zum »Selbstmanagement« wider. Gründlich abhandengekommen ist der »Geist des Kapitalismus«, der normative Anreize und Sinnstiftungsmöglichkeiten auch für diejenigen bietet, deren Aufstiegs- und Profitchancen gering sind. Aus solchen Konstellationen resultiert regelmäßig ein Wiedererstarken der Gesellschaftskritik.10 Denn der Systemzwang ist als Beteiligungsmotiv allein nicht ausreichend, er muss verinnerlicht und begründet werden. Das erforderliche Niveau der Einsatzbereitschaft kann nicht erzwungen werden. Damit sich das Engagement lohnt, bedarf es eines Minimums an Gerechtigkeit und aufregender, attraktiver Lebensperspektiven für den Einzelnen. Institutionen werden daher gezwungen, ihre Gerechtigkeitsstrukturen an der »Systemkritik« auszurichten und die durch die Kritik formulierten Ideale und Normen in ihre normativen Ordnungen aufzunehmen. Dadurch werden gesellschaftliche Transformationsprozesse eingeleitet, die Spielregeln verändern sich. Nur so lässt sich die Leistungsbereitschaft relevanter Mitspieler, denen im Laufe dieser Entwicklung der Bezugsrahmen abhandengekommen ist, wiedergewinnen. Doch je gründlicher dies geschieht, desto eher kommt
9 Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, München 2010.
es zu einer Neutralisierung, einer Lähmung der Kritik. Die Gesellschaftskritik läuft ins Leere – mittelfristig kommt es dabei höchstwahrscheinlich zur Herausbildung eines neuen »Geistes«.
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Nonkonformismus — Analyse
10 Vgl. Luc Boltanski u. Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 46 ff.
Für einen solchen Zyklus gibt es ein prominentes historisches Beispiel: So speiste sich etwa die Jugendrevolte der 68er aus der Kritik an den autoritären Strukturen und verfestigten Hierarchien der Nachkriegsepoche. Die daran anknüpfenden Gegenbewegungen der frühen 1970er und der 1980er Jahre lebten von Utopien und Nonkonformität, alternativen Lebensentwürfen und Wertorientierungen. Ihr durchschlagender Erfolg war u. a. daraus zu erklären, dass die Zugehörigkeit zu bürgerlichen Milieus und deren Lebensformen schlichtweg an Attraktivität verloren hatten. Nicht nur hatten sie durch die deutsche Katastrophe und den Zusammenbruch der Naziherrschaft an Autorität und Glaubwürdigkeit eingebüßt; auch waren bürgerliche Lebensformen der Nachkriegsepoche mit ihrer strikten Sexualmoral, patriarchalen Familienstrukturen und hierarchischen Umgangsformen als »veraltete« Ordnungsmuster gesellschaftlich dysfunktional geworden und verloren rasant an Prestige und Überzeugungskraft. Die Jugendrevolte leitete somit eine überfällige kulturelle Modernisierung ein, die aufgrund politischer und wirtschaftlicher Liberalisierungsprozesse dringend erforderlich war. Und sie war durchschlagend erfolgreich: Die
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alternativen Werte wanderten in den Mainstream ein, Lebensformen pluralisierten sich, der Kapitalismus wurde »kreativ«. Damit kam es allerdings zu einer Lähmung der Gesellschaftskritik. Die Anliegen der Alternativbewegungen wurden in dem Maße gegenstandslos, wie sie in das System integriert worden sind, und von der Systemopposition der 1970er und 1980er Jahre, wie sie etwa von der Partei der Grünen formuliert worden ist, ist nichts mehr übrig geblieben. Vielmehr sind die Grünen selbst zu einem Teil des bürgerlichen Establishments geworden. RECHTE GEGENBEWEGUNGEN Heute stehen wir, sollten Boltanski und Chiapello recht behalten, am Scheitelpunkt eines neuen Zyklus. Die einst gegenkulturellen Ideale sind hegemonial geworden und nun ihrerseits bevorzugte Angriffsziele des Protests. Gegenwärtig formieren sich in Gestalt rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien, die überall in Europa Zulauf bekommen haben, abermals oppositionelle Bewegungen. Die rechte Opposition greift den links-liberalen Konsens an und zielt damit ins Herz kosmopolitischer Weltbilder. Es sind die Ideale von Toleranz, Chancengleichheit, Authentizität und Kreativität, die – ursprünglich von gegenkulturellen Bewegungen gegen die etablierten Strukturen gerichtet – nun dem Mainstream einverleibt und als die Moral der Etablierten zu Hauptangriffszielen rechtspopulistischer Propaganda geworden sind. Weil in Deutschland die politischen, kirchlichen, pädagogischen Einrichtungen – wie auch die Protagonisten der medialen Berichterstattung – als weltanschaulich weitgehend einheitliche Gruppe auftreten, die sich zu den Grundsätzen der Toleranz und der Weltoffenheit bekennen, nimmt die Bespöttelung des »Gutmenschentums« hierzulande einen besonders hohen Stellenwert ein.11 Wie in kaum einem anderen Land laufen Rechtspopulisten Sturm gegen die political correctness und das »Bevormundungskartell« des Establishments. Nicht von der Hand zu weisen ist: Wenn Linke heute als Hüter der Moral auftreten, dann auch deshalb, weil sie die bestehende Ordnung verteidigen und, im wahrsten Sinne des Wortes, konservieren wollen. Die Parallelen zu den gegenkulturellen Bewegungen sind somit eklatant: Angegriffen wird, heute wie damals, die Hegemonie der »herrschenden Klassen«, der staatstragenden Eliten, Parteien und (neu-)bürgerlichen Schichten. Ähnlich wie die gegenkulturellen Bewegungen der frühen 1970er und der 1980er Jahre ist auch der Populismus eine Protestbewegung. Nur kommt die Opposition gegenwärtig nicht primär von links, sondern von rechts. Und anders als bei den gegenkulturellen Protestbewegungen des letzten Jahrhunderts, die ihre Mobilisierungsbasis primär in der Mittelschichtjugend
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Nonkonformismus — Analyse
11 Vgl. Sabine Hark u. Irene-Paula Villa (Hg.), AntiGenderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzung, Bielefeld 2015.
fanden, stammen die Anhänger des Rechtspopulismus stärker aus den unteren Schichten und den Reihen der Außenseiter. Rechtspopulismus ist antiliberal und richtet sich, anders als die gegenkulturellen Bewegungen, nicht gegen verfestigte Strukturen und Hierarchien, gegen patriarchale Traditionen und autoritäre Gesellschaftsbilder, sondern versucht – im Gegenteil –, autoritäre Lebensformen und starke Gemeinschaften wieder heraufzubeschwören. Rechtspopulistische Gesellschaftsbilder basieren auf drei Säulen: der Rückkehr zu einem autoritären Staat und der Betonung von Themen der Sicherheit und Ordnung; der Angst vor »Überfremdung« durch den Islam und der Forderung nach Begrenzung der Zuwanderung; sowie, schließlich, der Bedrohung der »heilen« Familienwelt durch sexuelle Liberalisierung und »Gender-Wahn«. Damit protestieren die Repräsentanten des Rechtspopulismus gegen das vorherrschende Gesellschafts- und Zukunftsbild einer grenzenlosen, globalisierenden und flexibilisierenden Welt.12 Doch geht es zumeist nicht allein um spezifische Weltanschauungen oder politische Programme – denn dafür ist der Populismus zu chamäleonhaft, weil er sich jeweils den Strömungen des Zeitgeists anpasst.13 Vor allem geht es um einen Angriff auf die Macht der herrschenden Gruppierungen, deren Legitimität massiv infrage gestellt wird, indem suggeriert wird, dass diese den Staat für ihre eigenen Interessen missbrauchen würden. GRENZEN DES VERGLEICHS Freilich bestehen bedeutsame Unterschiede zwischen den linken und den rechten Bewegungen. Anders als die Gegenbewegungen der 1970er und 12 Vgl. René Cuperus, Wie die Volksparteien fast das Volk einbüßten. Warum wir den Weckruf des Populismus erhören sollten, in: Ernst Hillebrand (Hg.), Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie?, Bonn 2015, S. 149–158. 13
Vgl. Karin Priester, Rechter und linker Populismus: Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt a. M. 2012, S. 18.
14 Damit ist nicht nur die »politische Klasse« gemeint, sondern vielmehr auch die Repräsentanten in Öffentlichkeit, Journalismus und Kultur, die evangelischen Landeskirchen sowie die Gatekeeper in Bildungs- und Sozialsystemen.
1980er Jahre sind die rechtspopulistischen Protestbewegungen nicht progressiv, sondern regressiv. Sie agieren weniger aus einer Alternative heraus als vielmehr aus der Verdrossenheit über die Kartellierung der Etablierten – eine Verdrossenheit, die inzwischen weit in bürgerliche Kreise hineinreicht. Diese regressive Tendenz ist u. a. der Tatsache geschuldet, dass die sozialen Gegenbewegungen der 1970er und 1980er Jahre sich in einer Phase des kollektiven Aufstiegs formierten, während die aktuelle rechtspopulistische Protestbewegung in eine Phase des kollektiven Abstiegs, des »Postwachstums«, fällt, in der sich Ressourcen und Lebenschancen für viele gesellschaftliche Gruppen verknappen. Populismus ist das Versprechen an die Außenseiter (»das Volk«), an die Macht gelangen zu können. Hierzu werden gesellschaftliche Spaltungen auf einen simplen Dualismus reduziert: Soziale Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten verlaufen für Populisten nicht zwischen Klassen und Schichten, sondern ganz plakativ zwischen »dem Volk« und der staatstragenden Elite.14 Dort, Cornelia Koppetsch — Soziale Schließung, Nonkonformismus und Protest
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wo der Populismus erfolgreich ist, gelingt ihm zumeist eine Amalgamierung zweier ganz unterschiedlicher Gruppen: Die eine Gruppe sucht Zugang zur Elite und zu den Fleischtöpfen der Macht und der Privilegien; die andere fürchtet sich vor dem gesellschaftlichen Abstieg und dem Statusverlust bzw. ist bereits deklassiert worden.15 Der eine Teil wird getragen von Hasardeuren und neuen Aufsteigerschichten, die nicht zu den alten, etablierten Gruppen gehören; der andere Teil umfasst Gruppen, die sich vom herrschenden System übervorteilt fühlen und blockierte Aufstiegschancen oder Abstiege erfahren haben. Gemeinsam ist beiden Gruppen das Ummünzen von Erfahrungen der Deklassierung oder Unterlegenheit in eine politische Protestbewegung. Von Populismus fühlen sich daher nicht so sehr die Ausgeschlossenen besonders angezogen, sondern eher sozial mobile Milieus, Menschen, die entweder deklassiert worden sind, oder Menschen, die in Machtzentren vordringen wollen und denen der Aufstieg konstant verwehrt geblieben ist.16 Um nicht falsch verstanden zu werden: Nicht jeder Deklassierte und Desillusionierte demonstriert bei »PEGIDA« oder wählt AfD; doch wächst das Mobilisierungspotenzial populistischer Protestparteien mit der Verbreitung von Ausgrenzungspraktiken und dem Grad der moralischen »Auskühlung« gesellschaftlicher Institutionen. Der diskursive Umgang mit dem Populismus findet hingegen weitgehend aus der Perspektive der Etablierten statt. Dadurch wird allerdings übersehen, dass dieser einer spezifischen Ratio gehorcht und von Opposition gegen genau diejenigen, die den Populismus am meisten verteufeln, getrieben ist. So gehört fast zum guten Ton und zum geläufigen Repertoire der politischen Aufklärung im linksliberalen Journalismus, die unteren Schichten für den Populismus verantwortlich zu machen und die eigene Verantwortung, die Verantwortung der jeweils Etablierten, für die Entstehung und den Erfolg des Populismus zu leugnen. In Wirklichkeit ist die Mobilisierungsbasis jedoch weitaus heterogener und umfasst Milieus auch in mittleren und gehobenen Soziallagen. Insbesondere in Deutschland finden sich unter den »PEGIDA«- Aktivisten, AfD-Wählern und AfD-Sympathisanten jeweils nicht unbeträchtliche Anteile von Gebildeten und finanziell gut Gestellten.17 Daraus resultiert der im Rechtspopulismus gegenwärtig zu beobachtende Modus der »dualen Schließung«18: Im Kampf um knappe Ressourcen reagieren seine Repräsentanten einerseits mit dem Modus der Exklusion gegenüber den von unten Nachrückenden (zum Beispiel gegenüber Migranten, aber auch gegenüber Frauen und Arbeiterkindern) und andererseits mit dem Modus der Usurpation gegenüber höhergestellten Gruppen (dem Establishment, dem Staat). Beide Modi sind als Re-Souveränisierungsstrategien zu verstehen. Exkludierende Schließung verläuft von oben nach unten, usurpatorische
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15
Vgl. Priester, S. 17.
16
Vgl. ebd., S. 19 f.
17 So finden sich unter den AfD-Wählern der Landtage in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz über zehn Prozent, in Sachsen-Anhalt über 15 Prozent mit Hochschulreife. Zwar ist die Zustimmung bei finanziell schlecht gestellten Personen höher als bei Personen, die ihre eigene finanzielle Lage als gut beurteilen; doch findet die AfD bei den finanziell gut Gestellten in Sachsen-Anhalt bei 27 Prozent der Wähler, in Baden-Württemberg bei immerhin 22 Prozent der Wähler Zustimmung. In Sachsen-Anhalt ist der Grad der Zustimmung zur AfD bei Personen mit Hochschulabschluss (23 Prozent) fast so hoch wie bei Personen mit Hauptschulabschluss (26 Prozent); bei Personen mit Abitur liegt er sogar bei vierzig Prozent; vgl. Yvonne Schroth, Das Abschneiden der AfD bei den Landtagswahlen am 13. März 2016. Gesprächskreis Zukunft der Parteiendemokratie der FES. Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. 18 Frank Parkin, Duale Schließung, in: Jürgen Mackert (Hg.), Die Theorie sozialer Schließung. Traditionen, Analysen, Perspektiven, Wiesbaden 2004, S. 45–65.
Schließung umgekehrt von unten nach oben. Exkludierende Schließung wird bspw. gegenüber Immigranten ausgeübt, die ursprünglich nur als »Gäste« und damit als potenzielle Heimkehrer gesehen worden sind, nun aber integriert werden sollen. Dadurch fühlen sich Teile der Bevölkerung um ihre zuvor staatlich mitgetragene oder geduldete Ausgrenzungspraxis betrogen und suchen nun die direkte Konfrontation mit dem Staat. Die Strategie der Usurpation zeigt sich im Populismus im Streben nach politischer Macht und in der Herausbildung einer gegen das gesamte Establishment gerichteten Anti-Partei. Usurpatorische Schließung bedeutet mithin, dass eine gesellschaftliche Gruppe Macht »von unten nach oben« ausübt und so versucht, die Vorteile einer höhergestellten Gruppe zu verringern. Usurpation zeigt sich dabei eher bei den gebildeten Vertretern rechter Gruppen, in Deutschland etwa in der Politik der Tabubrüche sowie in den Hassreden der sich von rechts formierenden rechten sozialen Netzwerke und Diskussionsgruppen. Mittels Blogs, Twitter und Facebook polemisieren sie gegen die »Islamisierung des Abendlandes«, aber auch gegen die vermeintlich übergreifende »Political Correctness«, gegen sexuelle Vielfalt, Abtreibung und die Homo-Ehe. Mit diesen Invektiven zielen die Protestdiskurse ins Herz linksliberaler Gesellschaftsbilder der Etablierten. Auch die Diskreditierung der Gender-Studies als »Exzess«, »Ideologie« oder »Pseudowissenschaft« ist als Provokation an die etablierten Linken adressiert und darauf ausgerichtet, die gesellschaftliche Deutungsmacht konstruktivistischer Sichtweisen in den Sozialwissenschaften und deren Wortführerinnen an Universitäten anzugreifen. Die Rede ist von »Gender-Wahn« und »Gender-Unfug«, von »Profilierungssucht« der »Gender-Frauen«, deren illegitimer »Usurpation von Professuren und Lehrstühlen« sowie davon, dass die Gender-Studies naturwissenschaftlich bewiesene und objektive »Tatsachen« ebenso wenig zur Kenntnis nähmen wie den »gesunden Menschenverstand«.19 SCHLUSS In gesellschaftlichen Phasen des kollektiven Abstiegs oder des Postwachstums verstärken sich Tendenzen zur sozialen Schließung und auch der Konformitätsdruck steigt. Die Anpassungsleistungen, die Aspiranten auf sich nehmen müssen, um zu den Etablierten aufzuschließen, werden größer. Wenn dennoch immer mehr Personen ausgeschlossen werden, wächst das Protestpotenzial. Konformität und Nonkonformität stehen somit in einer dialektischen Beziehung: Die Etablierten hoffen, durch die Herausbildung exklusiver Verhaltensnormen ihre Privilegien zu sichern; die Newcomer versuchen, durch 19
Hark u. Villa.
Anpassung an diese Verhaltensnormen zu den Etablierten aufzuschließen; Cornelia Koppetsch — Soziale Schließung, Nonkonformismus und Protest
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und die Außenseiter sind bestrebt, die Legitimität der Etablierten durch provokative Abweichung von diesen Normen zu bestreiten, indem sie den Etablierten vorhalten, dass deren Weltbilder in erster Linie deren Machterhalt dienten. So verhalten sich rechtspopulistische Wortführer betont nonkonformistisch, indem sie an die Tabus der Kosmopoliten rühren und unverfroren ein autoritäres Gesellschaftsbild propagieren. Der oppositionelle Nonkonformismus ist somit darauf angelegt, die Legitimität und die Vorteile der herrschenden Gruppen durch Angriffe auf deren Welt- und Selbstbilder zu bestreiten. Nonkonformismus ist, wie gesagt, mehr als nur abweichendes Verhalten: Er ist eine Haltung der ostentativen Unangepasstheit. Während deviantes Verhalten im Interesse der Gruppenmoral oftmals unter den Tisch gekehrt wird, beinhaltet Nonkonformität einen gezielten Angriff auf die Gruppennormen, der in der Regel mit einer öffentlichen Sanktionierung des aufmüpfigen Individuums beantwortet wird, wodurch sich die Gruppe der nach wie vor existierenden Gültigkeit ihrer konstitutiven Normen vergewissert. Als politische Geste des Protests taugt nonkonformistisches Verhalten allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es kollektiv getragen wird. Individuellen Nonkonformismus kann man sich nur leisten, wenn man den Ausschluss aus der jeweiligen Gruppe, der auf das ostentative Übertreten von Normen folgt, nicht fürchtet. Dies ist zum Beispiel gegeben, wenn man den Ausschluss verschmerzen kann, weil man über Alternativen verfügt. Aber auch der Umstand, nichts mehr zu verlieren (oder zu gewinnen) zu haben, kann ein Motiv für Nonkonformität sein – etwa weil die begehrten Zugangschancen zu den exklusiven Gruppen einem trotz größter Anstrengungen verwehrt bleiben. Nonkonformismus und Protest liegen somit nahe beieinander. Dabei ist der Nonkonformismus keineswegs immer »links« (also gut) und Konformismus von jeher rechts (also »problematisch«); auch ist links nicht immer »Protest« und rechts »konservativ«. Im Gegenteil: In der Gegenwart haben sich die Rollen zwischen Etablierten und Außenseitern vertauscht. Die Linke ist konservativ geworden und der Gestus der Revolte gegen die herrschende Ordnung wird von rechts inszeniert. Prof. Dr. Cornelia Koppetsch, geb. 1967, ist Professorin für Soziologie an der TU Darmstadt mit den Schwerpunktbereichen Bildung, Geschlechterverhältnisse und Lebensführung. Derzeit forscht sie zum Kulturwandel des modernen Kapitalismus, zu berufsbiografischen Abstiegen und zu Geschlechterverhältnissen in Paarbeziehungen. Ihre wichtigsten Publikationen: »Die Wiederkehr der Konformität. Streif züge durch die gefährdete Mitte« (Campus 2013); »Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist. Geschlechterverhältnisse in Krisenzeiten« (Suhrkamp 2015, gemeinsam mit Sarah Speck).
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JENSEITS VON PROGRESSIV VERSUS KONSERVATIV NICHT-KONFORMISTISCHE GESCHLECHTERINSZEN IERUNGEN UND DER NEOLIBERALE ZEITGEIST ΞΞ Anna Schober
Im Oktober 2011 postete die ägyptische Internet-Aktivistin Aliaa Elmahdy ein Foto, auf dem sie schwarze, mit kreisrunden Blüten und Punkten gemusterte Spitzenstrümpfe und rote Schuhe trägt, ansonsten aber völlig nackt ist. Die Reaktionen darauf polarisierten die öffentliche Meinung zunächst in Ägypten, bald aber auch weltweit heftig. Weitere öffentliche Nacktfotos von Sympathisantinnen – etwa einer Gruppe von Frauen aus Israel –, aber auch Hass-Mails und Morddrohungen folgten. 2012 sah sich Aliaa Elmahdy genötigt, Ägypten zu verlassen. Sie beantragte politisches Exil in Schweden und führte von dort aus ihre politische Agenda in Bezug auf Frauenrechte und Säkularisierung fort. Gemeinsam mit zwei Aktivistinnen der ukrainischen Gruppe FEMEN, die jedoch damals bereits verstärkt international, vor allem von Frankreich
INDES, 2016–3, S. 43–54, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X
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aus, operierte, protestierte sie dann im Dezember 2012 vor der ägyptischen Botschaft in Stockholm, indem sie – wieder nur mit schwarzen Strümpfen und roten Schuhen bekleidet – auf nackter Haut den Schriftzug »Sharia is not a constitution« präsentierte. Die FEMEN-Frauen flankierten Aliaa Elmahdy mit den Botschaften »No Islamism, Yes Secularism« sowie »Apocalypse by Mursy« und alle drei hielten sich Kopien heiliger Bücher vor die Scham.
Abb. 1: Graffiti, die Aliaa Elmahdy zusammen mit Samira Ibrahim repräsentiert, die eine Klage gegen Jung fräulichkeitschecks führt, wie sie im Ägyptischen Museum in Kairo durchgeführt worden sind, Kairo 2011 © Gigi Ibrahim.
Während das erste Aktfoto im Netz vor allem in Ägypten heftige Reaktionen und weitere öffentliche Botschaften etwa in Form von Graffiti (siehe Abbildung) hervorrief, zirkulierten Fotos der Aktion in Stockholm zwar weltweit; zugleich wirkte deren Protest-Patina nun aber bereits etwas abgenutzt und brachte keine besonders augenfälligen, expliziten Erwiderungen mehr hervor. Im neuen Kontext Nord- bzw. Westeuropas vermochte das Spektakel des nackten Frauenkörpers, in Verbindung mit der brüsken Zurückweisung von Religion, nicht nachdrücklich vor den Kopf zu stoßen. Was in Ägypten oder auch in der Ukraine provozierte und die Aktivistinnen zur Emigration zwingen konnte, verpuffte hier sehr schnell und erschien als ein partikularer Lebensstil unter anderen, zu denen er auch in Konkurrenz trat.
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Mediale Aufmerksamkeit erhielt dann wenig später, in Frankreich und kurzzeitig auch international, eine weitere feministische Gruppe: Les Antigones, diesmal jedoch mit einem betont konservativen Auftreten, gekleidet in weiße, feminine Kleider, mit sorgfältig frisierten Haaren und umgeben von Bildern, die überkommene Weiblichkeitsideale zur Darstellung brachten. Les Antigones sprachen sich öffentlich gegen den akademischen Gender-Diskurs, gegen die Homo-Ehe und für christliche Werte aus, wurden aber auch mit politischen Gruppierungen der extremen Rechten in Zusammenhang gebracht. Selbst wenn auch diese Bewegung bald wieder aus den Medien verschwand, so steht sie doch für eine Rückbesinnung auf eine natürliche Bestimmung und neben Bestrebungen nach Autonomie und Konsumkritik, die sich in den öffentlichen Auftritten ebenfalls artikulierten, für eine Weiterführung traditioneller Weiblichkeitsbilder.1 Subjektkulturen der Postmoderne, wie sie an FEMEN, Les Antigones, aber auch den Inszenierungen von Aliaa Elmahdy greifbar werden, sind wie andere vor ihnen nicht allein von z. T. neuartigen, z. T. Bekanntes variierenden Stilen des Auftretens und der Bezugnahme auf andere geprägt. Sie manifestieren sich vor allem auch über die Zurückweisung von bislang vorherrschenden Formen der Selbstinszenierung und Vergemeinschaftung. Während Elmahdy mit ihrer Inszenierung im Internet das dominierende puristische Frauenbild und den Verschleierungszwang in Ägypten attackierte, profilierten sich Les Antigones in Absetzung von einem seit den 1990er Jahren zunehmend institutionalisierten Gender-Diskurs, wie er sich u. a. in Gender-MainstreamingPraktiken äußert. FEMEN wiederum protestiert mit »Sextremism« und unter Einsatz des Medienverbundes Live-Auftritt, Foto/Video und Internet gegen die zunehmende Vermarktung des Frauenkörpers in den ehemals sozialistischen Ländern nach 1989. 1 Mit dem Slogan »Weder Konsumentinnen noch Konsumierte!« protestierten sie zum Beispiel am 5. Oktober 2013 in der Einkaufspassage »Les Halles« in Paris; siehe URL: http://lesalonbeige. blogs.com/my_weblog/2013/10/ action-des-antigones-aux-halles. html [eingesehen am 31.07.2016]. 2 Asef Bayat spricht diesbezüglich von einem »quiet encroachment of the ordinary«; siehe Asef Bayat, Life as Politics. How Ordinary People Change the Middle East, S tanford 2010, insbes. S. 86 ff.
Dennoch verkörpern die mit diesen Gruppen verbundenen breiteren Subjektkulturen nicht einfach nur Protest; sie konstituieren sich zudem über Alltagspraktiken, die sich schrittweise in private und öffentliche Räume des Arbeitens, von Beziehung und Konsum ausbreiten.2 Beginnend mit dem historischen Ereignis »1968«, in größerer gesellschaftlicher Breite dann vor allem seit den 1980er Jahren, ist das Ideal einer solchen Praxis nicht mehr die Anpassung an eine Organisation (Firma, Betrieb, Partei) und Peer-Gruppe, sondern das Kultivieren einer je »eigenen« reichhaltigen Innenwelt, für deren Entwicklung man auf immer andere, vormals marginalisierte und historisch weit zurückreichende oder geografisch weit entfernte Kulturen zurückgreift. Zugleich sind solche Praktiken ebenfalls seit den ausgehenden 1960er Jahren verstärkt von Emotionen sowie körperlicher Präsenz getragen und gehen Anna Schober — Jenseits von progressiv versus konservativ
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mit einem sehr »flexiblen« und »kreativen«, dabei aber stets temporären SichEinlassen auf eine Gemeinschaft mit anderen einher.3 Das Zurückweisen von Lebensstilen der Hochmoderne ist auf diese Weise seit den 1980er Jahren selbst zunehmend zu einer hegemonialen Form des Auftretens geworden, was sich gegenwärtig auch an Erscheinungen wie Selbstunternehmertum, der Feier von Mobilität und Hybridität sowie einem immer rascher erfolgenden Wechsel von Lebensabschnittsnetzwerken und -partnerschaften zeigt. Praktiken von Geschlechtlichkeit und Sexualität haben in der Moderne stets einen wichtigen Part in solchen Auseinandersetzungen um Sinn und Richtung der Gegenwart – sowie, damit verbunden, um eine Perspektive auf Vergangenheit und Zukunft – übernommen. Auch dies gewann mit den Gegenkulturen seit »1968« eine neue Ausprägung: Die Rede von einer »Befreiung der Sexualität«, der »Selbstbestimmung« von Frauen, des »Abbaus von Diskriminierung« in Bezug auf Geschlechtlichkeit und sexuelle Orientierung sowie Experimente in Bezug auf Beziehungsformen und Intimität generell prägten die Alternativkulturen der 1970er Jahre. In den letzten Jahrzehnten haben sich im Anschluss an diese Traditionen in öffentlichen Räumen der westlichen Welt Geschlechterinszenierungen durchgesetzt, die bisherige Normen in Bezug auf Körperlichkeit und ästhetisches Erscheinen problematisieren, dabei jedoch selbst neue Ansprüche und Ideale formulieren. Bildwelten in Zusammenhang mit einer öffentlichen Thematisierung und Problematisierung von Gender zelebrieren bspw. häufig eine patchworkartige Zusammengesetztheit und stetig neue Gestaltbarkeit des Selbst sowie Autonomie und Wahlfreiheit in Bezug auf Identität. Darüber hinaus wird in ihnen der Vorstellung Präsenz verliehen, das Ergebnis der diversen Kreationen des Selbst könne von den Einzelnen kontrolliert werden. Misserfolge, Schmerz und Leid werden dagegen meist nicht mit ins Bild gesetzt. Zugleich zirkulieren auch Inszenierungen von Doppelgeschlechtlichkeit, d. h. der möglichen Kopräsenz von Männlichkeit und Weiblichkeit in einem Körper, sowie von Hypersexualität (siehe Abbildung).4 Und es überwiegt, vor allem in Werbematerialien und Internet-Auftritten von Gender-Mainstreaming-Institutionen, die Darstellung prononcierter Symmetrie und Gleichwertigkeit in Bezug auf die Geschlechter – was jedoch auch reale soziale und politische Asymmetrien verdeckt hält.5 Demgegenüber wird in jüngster Zeit jedoch noch eine weitere Verschiebung mit größerer Deutlichkeit sichtbar. Um den herrschenden Mainstream
3 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2010, S. 17 u. S. 441 ff. 4 Manchmal aber auch von Asexualität sowie von verworfenen Formen der Körperlichkeit. 5 Dazu ausführlicher: Anna Schober, Gender ins Bild gesetzt. Kollektive Imagination und öffentliche Auseinandersetzung im postmodernen Europa, in: Andreas Langenohl u. Dies. (Hg.), Metamorphosen von Kultur und Geschlecht. Genealogien, Praktiken, Imaginationen, Paderborn 2016, S. 169–201.
des »colorful nonconformist«6 zurückzuweisen und etwas anderem, Neuem, zum Durchbruch zu verhelfen, kreieren Männer und Frauen gegenwärtig verstärkt auch Lebensstile, die von mehr oder minder erfundenen Ritualen,
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6 Marylin Halter, Shopping for Identity: The Marketing of Ethnicity, New York 2000, S. 4.
Abb. 2: Titelblatt Schaufenster, Die Presse, Nr. 31/25 11/2011 © Die Presse.
einer Lust an der (temporären) Einhaltung von Regeln, an Wiederholung, aber auch an der Unterwerfung unter andere als die bislang präsenten Stimmen und Blicke leben – wobei all dies nun jedoch stets Projekt bleibt, d. h. jederzeit wieder aufgegeben und durch eine andere Ausrichtung abgelöst werden kann. Nicht mehr Problematisieren, Dekonstruieren und skeptisches Befragen von Identitäten stehen im Vordergrund, wie sie etwa Diskurse der Gender Studies seit den 1990er Jahren charakterisieren, sondern eine Sehnsucht Anna Schober — Jenseits von progressiv versus konservativ
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nach Regeln, nach Ritualen, die Halt im Alltag geben, und nach möglichst eindeutigen, klaren Antworten. Beispiele dafür sind – neben Gruppen wie den bereits erwähnten Les Antigones, die als überkommen geglaubte Frauenund F amilienbilder favorisieren – neuartige pietistische Frömmigkeitsbewegungen (islamistischer oder evangelikaler Prägung), aber auch bestimmte Lebensstile, geprägt von körperlichen Praktiken wie Yoga7 und ebenfalls geleitet von diversen Spielformen neuer Spiritualität. Gruppen wie FEMEN oder Les Antigones, die vor allem auch über die Auseinandersetzung miteinander medial Präsenz erfahren haben, aber auch Einzelpersonen wie Aliaa Elmahdy oder breitere Bewegungen islamistischer oder evangelikaler Prägung verstehen sich alle auf je eigene Weise als unkonventionell, neu und einen bestehenden Geschlechter-Mainstream zurückweisend.
Abb. 3: Antigones versus Femen. Wer repräsentiert die Frauen? © L’Arlequin Caricaturiste.
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7 Beispielsweise theoretisiert Cressida J. Heyes Yoga-Praktiken als »best personal counterattack to the teleology of corporeal normalization«; siehe Cressida J. Heyes, Self-Transformations: Foucault, Ethics, And Normalized Bodies, Oxford 2007, S. 129 ff.
Sie repräsentieren Spielarten gegenwärtig auftretender Lebensstil- und Konsumkulturen; auch wenn sie wie etwa im Fall von Les Antigones oder von Frömmigkeitsbewegungen eine Abkehr von bzw. die Suche nach einer (spirituellen) Alternative zum Konsumismus in den Vordergrund stellen – was meist neuen Spielarten des Konsums den Weg bahnt.8 Das Zuordnungsschema progressiv versus konservativ greift angesichts solcher Erscheinungen nicht mehr. Feministinnen wie Saba Mahmood werden bspw. durch die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen pietis8 Die mit solchen Praktiken verbundenen Widersprüche arbeitet Nilüfer Göle heraus: Nilüfer Göle, Snapshots of Islamic Modernities, in: Multiple Modernities (= Daedalus: Journal of the American Academy of Arts and Sciences, Jg. 129 (2000), H. 1, Cambridge, MA 2000, S. 91–118. 9 Vgl. Saba Mahmood, Politics of Piety. The Islamic Revival and the Feminist Subject, Princeton 2005, S. 3–6 u. S. 148 ff. 10 Geoffrey Macnab, The Man who made Femen, in: The Independent, 03.09.2013, URL: http://www.independent.co.uk/ arts-entertainment/films/news/ the-man-who-made-femennew-film-outs-victor-svyatskias-the-mastermind-behind-theprotest-group-and-8797042. html [eingesehen am 25.07.2016]. Der Artikel bezieht sich auf den Dokumentarfilm »Ukraine is not a Brothel« (2013) der australischen Filmemacherin Kitty Green, die ein Jahr lang mit Aktivistinnen von FEMEN in Kiew zusammengelebt hat. Das männliche »Mastermind« hinter FEMEN wurde im Zuge der Fertigstellung des Films, wie dieser ebenfalls vorführt, seiner prominenten Funktion innerhalb der Gruppe enthoben. 11
Zur Erfindung von Tradition in der Moderne vgl. Eric Hobsbawm, Introduction: Inventing Traditions, in: Ders. u. Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 2005, S. 1–14.
tischen Bewegungen von anderen Frauen dazu gebracht, mit Glauben und mit religiösen Ritualen verbundene Handlungsweisen in ihrer transformativen Kraft und jenseits der Bewertungsschemata liberaler oder linksgerichteter feministischer Traditionen wahrzunehmen. Dabei kommt u. a. in den Blick, dass Frauen in solchen Gruppen zwar nachdrücklich von der Unterwerfung unter einen göttlichen Blick (und damit unter patriarchale Autorität) und von einem Sich-leiten-Lassen durch eine Gemeinschaft geprägt sind, aber gerade durch solche Praktiken auch breiteren Einfluss in öffentlichen Bereichen gewinnen sowie in ihrem Kontext neuartige Freiheiten etablieren können.9 Eine ähnliche Ambivalenz prägt aber auch politische Gruppierungen, die auf den ersten Blick viel direkter Traditionen liberaler, feministischer Protestkulturen weiterzuführen scheinen. So wird die global bekannte feministische Bewegung FEMEN, die explizit gegen Sexismus auftritt, in einem aus einer emanzipatorischen Haltung heraus motivierten Dokumentarfilm als Beziehungsgefüge demaskiert, das selbst durch einen sexistischen und dabei stark medienfixierten sowie PR-geschulten Blick hervorgebracht wird.10 »Konformistisch« oder »nicht-konformistisch« sind demnach Etiketten, die innerhalb eines bestimmten Gefüges von Bezugnahme und Auseinandersetzung und stets aus einer bestimmten Perspektive heraus einzelnen Handlungen und Aufführungsweisen des Selbst angeheftet werden. Protestgruppen, die an prononciert nicht-konformistische Bewegungen der Moderne anschließen und etwa auch Bilder feministischer, künstlerischer Performances der 1970er Jahre wachrufen, nehmen selbst erst über das »Erfinden« einer solchen Tradition11 Gestalt an. Umgekehrt können durch das Einfügen in Traditionen und eine Unterwerfung unter Autoritäten und historische Ordnungsmuster auch bestehende Konventionen, zum Beispiel diejenige des »bunten Nonkonformismus«, zurückgewiesen und neue Subjektkulturen etabliert werden. Die Moderne birgt also ganz unterschiedliche und häufig aufeinander reagierende Äußerungsformen von Nonkonformismus. Dabei können Anna Schober — Jenseits von progressiv versus konservativ
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verschiedene Ebenen unterschieden werden: So kennzeichnet die westliche Moderne – wie Roland Barthes zum Beispiel im Gegensatz zur japanischen traditionellen Kultur herausgearbeitet hat – ganz generell die Vorstellung eines reichen, inneren, authentischen Selbst, das sich über eine Zurückweisung von formellem Auftreten, von überkommenen Ritualen und einer Achtung von Tradition äußert. Moderne westliche Selbstkulturen sind, so Barthes, von einem »Mythos der Person« gespeist, in dem ein von Natur, Göttlichkeit, Schuld oder authentischem Reichtum erfülltes Inneres, das immer wieder anders akzentuiert entwickelt und erfahren werden kann, als von einer äußeren Hülle umgeben imaginiert wird, die gegenüber diesem »echten« Inneren als »künstlich«, »falsch« und weniger bedeutsam angesehen wird – was aber selbst wieder über sichtbare Äußerungen und Gesten angezeigt werden muss.12 Beispiele für solche Handlungen sind der betont joviale, lässige und kameradschaftliche Gruß, der sich mit den 1920er Jahren durchzusetzen beginnt; der an verschiedensten marginalisierten Gruppen (Tramps, Dandys, Prostituierten, Roma) orientierte Look von Jugendkulturen quer durch das 20. Jahrhundert; oder ein asketisch-puristisches, Äußerlichkeiten vermeintlich gänzlich abschwörendes Auftreten, wie es Körperpraktiken und Selbstaufführungsritualen in jüngerer Zeit verstärkt innewohnt. Dieser moderne westliche »Mythos der Person« wurde und wird regional und historisch spezifisch immer wieder anders adaptiert, mit der Folge einer Differenzierung verschiedenster Selbstkulturen quer durch das 20. und 21. Jahrhundert. Zugleich gehen auch gegenwärtig auftretende Gruppen von einem reichen inneren Selbst aus, das sich, wie eben erwähnt, durch äußere Handlungen und Rituale zeigen muss – etwa durch deutlich sichtbares, öffentliches Weinen, wie es pietistische Frauenbewegungen in Szene setzen.13 Dies impliziert, dass auch die heute präsenten Inszenierungen Spielarten der Moderne14 sind – wenngleich in postmoderner Ausformung. Der Nonkonformismus der je als »eigen« definierten Selbstkultur wird dabei häufig mit vehement vorgebrachten Identitätsansprüchen verbunden. Es ist genau dieser Nonkonformismus gegenüber dem Bestehenden und gegenüber konkurrierenden Angeboten am Markt der Lebensstile, den sich die involvierten Akteurinnen und Akteure nicht nehmen lassen wollen und den zu verteidigen sie bereit sind. Diese Ansprüche und der Wille zur Verteidigung führen dann zur Bildung kollektiver Identitäten »im Modus einer Segmentie-
12 Roland Barthes, Das Reich der Zeichen, Frankfurt a. M. 1970, S. 87 ff. 13
Mahmood, S. 134.
14 Nilüfer Göle spricht diesbezüglich von alternativen Formen der Moderne; vgl. Göle, S. 92.
rung des Nähegefühls«15, was gegenwärtig eine verstärkte Abschottung von anderen Lebensstilgemeinschaften sowie Ghettoisierung und die Vermeidung von Diskussion und Auseinandersetzung mit sich bringt.
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15 Pierre Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013, S. 331.
Was ist es nun, das zu einem Wechsel von Lebensstilen, einer Art diesbezüglicher Konversion und zur experimentellen Adaptation neuartiger Praktiken verleitet? Was kann zum Beispiel eine junge Frau Anfang, Mitte zwanzig heute dazu bringen, sich nicht mehr die Haare zu schneiden, ausschließlich lange, bevorzugt weite Röcke zu tragen, kein Buch außer der Bibel zu lesen und sich mit einer kleinen, verschworenen Gemeinschaft von Gleichgläubigen wöchentlich in einem Vorortlokal zu treffen, um Gottesdienst zu feiern? Neben einer sozialen Erklärung, die Aspekte der Prekarisierung aufgrund eines zunehmend unsicheren Arbeitsmarktes, infolge von Migrationsbewegungen, die oft über mehrere Generationen laufen, und eines gesellschaftlichen Anwachsens von Ungleichheiten16 generell anführen kann, wird eine Antwort auf diese Frage noch etwas anderes adressieren müssen. Sie wird auch ein diffuses, jedoch deutlich vernehmbares Drängen anzusprechen haben, das von etwas herrührt, das im eigenen Alltag fehlt und mit Sehnsüchten und Begehren zu tun hat, sowie zur Suche nach Alternativen zum Status quo antreibt. Das, was zu einem bestimmten, im eigenen Kontext neuartig anmutenden Lebensstil verführt, hat also stets auch mit Erfahrungen eines Fehlens zu tun – eines durch einen veränderten Lebensstil oder das Aufführen anderer Rituale zumindest für einen Moment aufhebbar erscheinenden Fehlens.17 Zeitgenössische politische Bewegungen, aber auch lose auftretende Gruppen, die sich eher als Lebensstil-Formationen sichtbar machen, sind heute häufig von einem Protestethos gekennzeichnet: von einem Misstrauen in herrschende Eliten wie Regierungen und makro-ökonomisches Management; einer direkten Opposition bzw. einem Sich-Wenden gegen das Bestehende, ohne auf komplizierte Formen der Repräsentation zurückzugreifen; und einer Ausübung von Veto- und Einspruchsrechten.18 Hinzu kommt ein Auf16 Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen, S. 12. 17 Zu dieser Erfahrung eines Mangels, die zur Produktion von »signifiers of an absent fullness« führt: Ernesto Laclau, Why do Empty Signifiers Matter to Politics, in: Ders., Emancipation(s), London 1996, S. 36–46. 18 Pierre Rosanvallon, Counter-Democracy. Politics in an Age of Distrust, Cambridge 2008, S. 13 ff. 19
Reckwitz, S. 520 ff.
stieg von Wettkampf und Konkurrenz als zentralen Formen der Vergesellschaftung, was oft in sportlichen Metaphern beschrieben auftritt; wobei zugleich individuelle Wahlfreiheit zelebriert und eine hierarchische Ordnung re-etabliert wird.19 Zugleich wohnt den über solche Praktiken verbreiteten Botschaften meist jedoch kein positiv formuliertes Zukunftsprojekt inne. Dies zeigt sich auch an den erwähnten Beispielen Les Antigones und FEMEN oder den Auftritten von Aliaa Elmahdy, die sich alle stärker durch dasjenige positionieren, was zurückgewiesen und bestritten wird, als durch eine ins Positive gewandte Zukunftsvision. Am Markt der Lebensstile scheinen mit der taktischen Entscheidung für bestimmte Praktiken, Haltungen und Güter (von Musikstilen und Mode bis zu Genussmitteln und Seminaren) mögliche »positive Projekte« Anna Schober — Jenseits von progressiv versus konservativ
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jedoch wie Pakete bereitzuliegen. Hier finden sich ideologisch-praktische, zugleich partikular auftretende, sich aber doch an »alle« wendende Angebote, die dann zu weiteren Aneignungen und Stilbasteleien verführen können. Die aktuell vonstattengehenden Veränderungen von Selbstkulturen zeugen also nicht zuletzt davon, dass auch das, was zur Konversion und zum Ausprobieren neuer Praktiken anregt (d. h. dasjenige, was im Alltag als Mangel erlebt wird), ebenfalls einem Wandel unterliegt. Der gegenwärtige, auch als »Neoliberalismus« bezeichnete gesellschaftliche Zusammenhang ist von »Flexibilisierung« geprägt, als Organisationsform des Sozialen ebenso wie auch als Paradigma dominanter Selbstkultur. Über Schlagworte wie »Eigenverantwortlichkeit« oder »private Risikovorsorge« wird die Lösung von Problemen und Konflikten auch gesellschaftlicher Art zunehmend den als »Individuen« aufgefassten Einzelnen überantwortet; einhergehend mit einem Abbau von wohlfahrtsstaatlichen Formen der Absicherung und einer Erosion von Solidarinstitutionen.20 Seit den 1990er Jahren auch auf gesamteuropäischer Ebene verstärkt eingesetzte Instrumente wie Gender Mainstreaming, die häufig ehemalige Frauenförderprogramme abgelöst haben, sind dabei in einen solchen Umbau von Gesellschaft involviert, ohne dass durch sie, wie Stefanie Wöhl aufgezeigt hat, nachhaltige Effekte hinsichtlich der Gleichstellung der Geschlechter erreicht würden.21 Auch wenn es zugleich über Alltagspraktiken wie Arbeiten, Sport, Studieren, Partizipation an Kultur und Kunst oder politisches Engagement zu Transformationen kommt, die bisherige Diskriminierungen im Zusammenhang mit Geschlecht und sexueller Diskriminierung abbauen, verhandeln oder umgehen, so vermag dies gegenwärtig doch keine Wende weg vom neoliberalen Zeitgeist einzuläuten. Dem entspricht, dass dasjenige, was heute als Mangel erfahren wird, verstärkt in solchen Bedeutungsträgern und Handlungen verkörpert wieder in den Alltag hereingeholt wird, die sich semantisch um Begriffe wie »Sicherheit«, »Verortung«, »Dauerhaftigkeit« und »Eindeutigkeit« ranken und die praktisch mit (spiritueller) Führung sowie mit »Identität« in Verbindung stehen. Es sind vermehrt solche Begriffe und Praktiken, die gegenwärtig versprechen, dem Status quo ein »neues«, besseres, anderes und vielleicht auch emanzipierteres Leben entgegenzusetzen. Darauf vermag auch zeitgenössische Kunst ein unter Umständen verfremdendes und vergrößerndes Schlaglicht zu werfen.22 So stoßen uns die fotografischen Porträts der türkisch-österreichischen Künstlerin Nilbar Güres¸ auf unser gegenwärtiges Verstrickt-Sein in Fragen der Selbstgestaltung wie auch auf die fetischartige Bedeutsamkeit, die wir Praktiken der Selbststilisierung
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20 Nancy Fraser, Von der Disziplinierung zur Flexibilisierung? Foucault im Spiegel der Globalisierung, in: Axel Honneth u. Martin Saar (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt a. M. 2003, S. 239–258. 21 Stefanie Wöhl, Mainstream ing Gender? Widersprüche europäischer und nationalstaatlicher Geschlechterpolitik, Königstein 2007, S. 103 ff. u. S. 183. 22 Vgl. Armin Nassehi, Mit dem Taxi durch die Gesellschaft. Soziologische Stories, Hamburg 2015, S. 106.
und Identitätsarbeit heute verleihen. Zugleich brechen sie diesbezügliche Gewohnheiten des Wahrnehmens aber auch auf, da sie Erwartungen z. T. enttäuschen – etwa indem sie Figuren, die man auf den ersten Blick zu erkennen vermeint, verwirren und verdeckt bzw. verschleiert halten.23
Abb. 4: Nilbar Güres¸, »Headstanding Totem«, 2014 © mit Dank an die Galerie Martin Janda Wien; Rampa, Istanbul
In »Headstanding Totem« (2014, siehe Abbildung) bietet Güres¸ uns eine über einen Kopfstand errichtete quasi sakrale, d. h. eben totemartige, Gestaltung an, die verschiedenste Gesten zeitgenössischer Selbstpraktiken in unerwartete Verbindungen zueinander setzt. So stammt der Kopfstand aus zeitgenössischen Yoga-Milieus; in der Einkleidung der Gestalt, die ihn ausführt, sind dagegen verschiedenste Markierungszeichen aus anderen Milieus eingesetzt, wie das Kopftuch oder ein Fransentuch, wie es im Bauchtanz zum Einsatz kommt – beides Objekte, die häufig und auf gegensätzliche Weise mit Klischees in Bezug auf türkische Frauen in Zusammenhang gebracht werden. Die Bedeutung dieser Objekte wird jedoch, teils auch ironisch, verwischt: So ist das Kopftuch in einer Weise um die Füße gebunden, sodass das Bild einer stehenden türkischen Frauenfigur evoziert wird – allerdings, wie in 23 Vgl. Mihnea Mircan, Visiting the Viewpoints of Others: On the Camouflaged Portraits of Nilbar Güres¸, in: Afterall. A Journal of Art, Context and Enquiry, Bd. 36 (2014), S. 74–85.
anderen Arbeiten der Künstlerin, ohne Gesicht; die Fransen des um die Mitte geschlungenen Tuchs wiederum verdecken den Oberkörper, wodurch dieses eher verbirgt als betont. In einer üppig grünen Szenerie und neben dem Stamm eines mächtigen Baumes platziert, ruft das Totem aber auch Anna Schober — Jenseits von progressiv versus konservativ
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hippieartige Gestaltungen der 1960er Jahre in Erinnerung – was auch durch ein geblümtes Stoffband, das keck um einen Oberschenkel geschlungen ist, unterstrichen wird. Auf diese Weise bietet uns die Körperskulptur eine Fülle von Details, die sowohl lesbare Figurationen andeuten als auch gewohnheitsmäßige Interpretationen irritieren. Angesicht dieses Totems werden wir auf eine Vielzahl von Ansatzmöglichkeiten für ein Arbeiten am Selbst, die sich zugleich jedoch alle zu entziehen scheinen, sowie auf uns selbst als zentrale Instanz der Interpretation zurückgeworfen. Identitätsbastelei ist als das Goldene Kalb gegenwärtiger Gruppenzusammenhänge exponiert verbunden mit Fragen – etwa, wie man angesichts der Fülle an aktuell zirkulierenden Identitätsmarkern und Stilrichtungen konzentriert und stabil bleiben und doch vielfältige Anschlusspunkte finden kann.
Prof. Dr. Anna Schober ist Professorin für Visuelle Kultur an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Ästhetik und Geschichte von Öffentlichkeit, Politische Ikonografie, Praktiken des Visuellen und Geschichte des Wahrnehmens sowie Methoden der Kultur- und Bildwissenschaften. Derzeit arbeitet sie zur Darstellung von »everybody« in visuellen Kulturen der Gegenwart.
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NONKONFORMISMUS AUF DER BÜHNE THEATER UND SEXUALMORAL UM 1900 ΞΞ Christina Templin
Der Besuch zweier Münchner Kabaretts durch den Studenten Hans Besold und einen gewissen P. Reither im Spätsommer 1908 endete folgenreich. In mehreren, in der Münchner Wochenschrift Allgemeine Rundschau publizierten Artikeln stellten die beiden Besucher den von ihnen aufgesuchten kleineren Bühnen – im süddeutschen Raum auch als »Brettl« bezeichnet –1 ein Zeugnis aus, das nicht nur für eine der beiden Bühnen existenzvernichtend war, sondern auch denjenigen Zeitgenossen in hohem Maße Anlass zur Sorge gab, welche die Theaterbühne im »Niedergang«2 begriffen sahen und diese als moralische Institution rehabilitieren wollten.
1
Vgl. Martin W. Rühlemann, Varietés und Singspielhallen – Urbane Räume des Vergnügens. Aspekte der kommerziellen populären Kultur in München Ende des 19. Jahrhunderts, München 2012, S. 376. 2 A. Henning, Das Theater, in: Ludwig Weber (Hg.), Die Wissenschaften und Künste der Gegenwart in ihrer Stellung zum biblischen Christentum. Zusammenhängende Einzelbilder von verschiedenen Verfassern, Gütersloh 1898, S. 390–411, hier S. 391. 3 Hans Besold, Großstadtmilieu und Geschmacksverwilderung, in: Allgemeine Rundschau, Jg. 5 (1908), H. 37, S. 611–612, hier S. 611. 4 Vgl. P. Reither, Wie amüsiert sich die »moderne« akademische Jugend?, in: Allgemeine Rundschau, Jg. 5 (1908), H. 29, S. 474–475, hier S. 474; siehe auch: Ders., Sittliche Niedertracht in »Theatern«, in: Allgemeine Rundschau, Jg. 5 (1908), H. 34, S. 560–561.
DER SKANDAL UM DIE MÜNCHNER »BRETTL«-BÜHNEN Denn das Bild, das Reither und Besold von den Darstellungen im sogenannten »Kleinen Theater« und im »Intimen Theater« entwarfen, war düster: Die Rede von einer »Werkstätte schamloser Zoten und Possen«3 war nur eine von zahlreichen negativen Zuschreibungen, mit denen die Autoren den beiden Theatern in moralischer Hinsicht eine »Verseuchung« und »Verwilderung«4 attestierten und damit vehemente Zweifel an deren moralischem Ruf in Umlauf brachten. Wenig später erhoben die Direktoren beider Theater Klage wegen beleidigender Äußerungen gegen den Herausgeber besagter Wochenschrift, Armin Kausen, der neben seiner journalistischen Tätigkeit für den Erhalt der sexualmoralischen »Sittlichkeit« kämpfte. Der durch die Klage veranlasste Prozess im Januar 1909 und die nachfolgende Berufungsverhandlung traten wiederum eine erhitzte massenmediale Debatte über die auf der Bühne präsentierte Sexualmoral und den moralischen Status der beiden besuchten Theater los, die sich bis in den Spätsommer erstreckte. Mehr noch: Die publizierten Artikel, die anschließenden Gerichtsprozesse und die massenmedialen Reaktionen wuchsen sich zu einem Skandal aus, der in einer Reihe mit zahlreichen Skandalen um andere Medienformate – seien es Satireblätter, Aktfotografien oder nackte Körper im Tanz – steht. Denn in den Jahren 1890 bis 1914 hatten konfliktreiche Auseinandersetzungen um Medien,
INDES, 2016–3, S. 55–61, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X
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5 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1977, S. 23 f. 6 Auf die Verdichtung und Überlagerung von Diskursen in Skandalen verweist Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien, 1880– 1914, München 2009, S. 4. Die Skandalforschung hat mehrfach den Charakter von Skandalen als Norm- bzw. Wertekonflikte herausgestellt; vgl. bspw. ebd., S. 5.
die Nacktes und Sexuelles thematisierten, Hochkonjunktur und waren das Produkt einer sich seit dem 18. Jahrhundert beschleunigenden »diskursiven Explosion«5 um das Sexuelle. Diese in breiter Medienöffentlichkeit verlaufenden Skandale um das mediale Nackte und Sexuelle, die vorrangig von konfessionellen Moralvertretern ins Rollen gebracht wurden, waren als Knotenpunkte unterschiedlicher Diskurse Austragungsorte gesellschaftlicher Normkonflikte,6 in deren Rahmen unter dem Label »Schmutz« mediale Ordnungen des Darstellbaren, sexualmoralische Normen wie auch diesbezügliche Deutungsansprüche von Akteuren verhandelt und neu geordnet wurden. Im Folgenden wird der Skandal um die Münchner »Brettl«-Bühnen, der trotz einer Vielzahl von Studien zum Theater von der Forschung bislang nicht aufgearbeitet worden ist,7 hinsichtlich der Bedeutungszuschreibungen und Dynamiken, die in Zusammenhang mit ihm erfolgten, analysiert.8 Dieser Skandal blieb insofern nicht folgenlos, als in seinem Zuge Kabaretts als Räume9 einer nonkonformen Sexualität definiert und dadurch stärkeren Regulierungspraktiken unterworfen wurden. Traditionelle sexualmoralische Vorstellungen wurden reformuliert und gefestigt und – indem Kabaretts als spezifische Räume der männlichen akademischen Jugend ausgewiesen wurden – die zeitgenössische Problematisierung männlicher Sexualität forciert.
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7 Im Gegensatz zu anderen als »schmutzig« etikettierten medialen Formaten hat die Forschung die öffentlichen Bedeutungszuschreibungen von Theaterdarbietungen, die aus moralischen oder anderen Gründen Aufsehen erregten, nur vereinzelt in den Blick genommen; siehe dazu Tobias Becker, Der Körper des Varietés. Theater, Großstadt und Sexualität um 1900, in: Gabriele Dietze u. Dorothea Dornhof (Hg.), Metropolenzauber. Sexuelle Moderne und urbaner Wahn, Wien 2014, S. 57–79; Neil Martin Blackadder, Performing Opposition. Modern Theater and the Scandalized Audience, Westport, Conn. 2003; Theodore Ziolkowski, Scandal on Stage. European Theater as Moral Trial, Cambridge 2009. 8 Die folgenden Ausführungen basieren auf meiner Studie: Christina Templin, Medialer Schmutz. Eine Skandalgeschichte des Nackten und Sexuellen im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Bielefeld 2016, S. 179–221. 9 Die Kategorie Raum wird hier im Sinne des spatial turn als soziales Produkt verstanden; vgl. Henri Lefebvre, Die Produktion des Raums, in: Jörg Dünne u. Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, S. 330–342, hier S. 330.
10 Reither, Sittliche Niedertracht, S. 561. 11 Bereits in den 1870er Jahren hatten sich die Publikationen zum Konnex von Theater und Moral gemehrt. In den 1890er Jahren liefen jene Schriften, die sich weniger mit moralischem Verhalten vor oder hinter als auf der Bühne beschäftigten und maßgeblich aus dem Kontext der protestantischen Sittlichkeitsvereinigungen stammten, auf einen quantitativen Höhepunkt zu. Die Diskussionen gipfelten schließlich in der Gesetzesnovelle »Lex Heinze« zur strikteren Regulierung von Medien, deren umstrittener Theaterparagraf allerdings nicht verabschiedet wurde; vgl. dazu Peter Mast, Künstlerische und wissenschaftliche Freiheit im Deutschen Reich 1890–1901, [Rheinfelden] 1980, S. 139–190. 12 Vgl. dazu Peter Jelavich, Modernity, Civic Identity, and Metropolitan Entertainment: Vaudeville, Cabaret, and Revue in Berlin, 1900–1933, in: Charles W. Haxthausen u. Heidrun Suhr (Hg.), Berlin. Culture and Metropolis, Minneapolis 1990, S. 95–110, hier S. 100; Ders., Munich and Theatrical Modernism. Politics, Playwriting, and Performance, 1890–1914, Cambridge, Mass. 1985, S. 139.
KABARETTS UND NONKONFORME SEXUALMORAL Dass sich Besold und Reither über die auf den beiden Münchner Theaterbühnen präsentierte Moral beklagten und vor einem »sittlichen Bankerott«10 der Gesellschaft warnten, war im Jahr 1908 nichts Neues. Ihre Klagen waren vielmehr Teil von Diskussionen über die moralischen Zustände in Theatern, die nach der Jahrhundertwende bereits eine jahrzehntelange Geschichte aufwiesen.11 Wenn sich diese im Fall der »Brettl«-Bühnen auch um kein neues Medium drehten, so ging es doch um ein neues theatralisches Format. Denn als dieses entwickelte sich das Kabarett, als welches sich das »Intime Theater« und wohl auch das »Kleine Theater« verstanden, in Berlin und München erst nach 1900.12 Einen Schwerpunkt dieser Debatten bildeten die moralische Qualität der gespielten Stücke und Darstellungen und die damit einhergehenden Geschlechterbilder.13 Dass sich Zeitgenossen über die gespielten Vorführungen derartig empörten, begründete sich aus den vermeintlich verheerenden Wirkungen auf das Publikum, die man diesen ähnlich wie anderen medialen Formaten zuschrieb. So würden sie die Zuschauer zu Onanie, Ehebruch und Prostitution verleiten und zu »Sittlichkeitsverbrechern« erziehen.14 Zeitgenossen malten die Folgen eines Besuchs im Kabarett in aller Radikalität aus, behaupteten sie doch,
13 Darüber hinaus bildeten die sozio-ökonomische Lage des Schauspielerstandes, die Moral des Theaterpersonals und rechtliche Fragen zentrale Bestandteile der Debatten. 14 Vgl. u. a. Victor Noack, Das Sexualgift in der Volkskunst II., in: Sexual-Probleme, Jg. 5 (1909), H. 12, S. 892–902, hier S. 894. Den Zusammenhang von kulturellem »Schmutz« und Sittlichkeitsverbrechen betonte auch Friedrich Bohn auf der Allgemeinen Konferenz der Sittlichkeitsvereine in Frankfurt 1908; siehe Friedrich Bohn, Die XIX. Allgemeine Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine in Frankfurt a. M. am 11. und 12. Oktober 1908, Berlin 1908, S. 16–17.
Christina Templin — Nonkonformismus auf der Bühne
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nach dem Theaterabend werde der menschliche Trieb hemmungslos ausgelebt und der Mensch auf die Stufe eines unzivilisierten Tieres zurückgesetzt.15
15
Vgl. Noack, S. 894.
Vor allem galt dies für das männliche Geschlecht. So verhandelte man
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Besold, S. 611.
über das Medium Theater häufig eine bedrohte männliche Sexualität, wie die abfälligen Urteile Besolds und Reithers über die beiden Münchner Kabaretts beispielhaft zeigen. Sie identifizierten Studenten als Hauptbesucher und erste »Opfer« eines »Kulissendirnentum[s]«16, das sie entlang der Trias Ehebruch, hüllenlose Nacktheit und Diskriminierung sowie Sexualisierung derjenigen, die dagegen Front machten, entfaltet sahen.17 Was Besold, Reither, Kausen und seine Fürsprecher vor Gericht beklagten, war somit die Modellierung einer nonkonformen Sexualmoral auf der Bühne, die durch die Glorifizierung von Ehebruch, »freier Liebe« und hüllenloser Nacktheit den von ihnen hochgehaltenen Werten diametral entgegenlief. Ihre Kritik an den »Brettl«-Bühnen platzierten Besold und Reither an prominenter Stelle: Mit der Allgemeinen Rundschau von Armin Kausen wählten sie ein Organ, das sich als zentrales Kampfmedium gegen das mediale Nackte und Sexuelle verstand. Der Journalist Kausen hatte die katholische Wochenschrift 1904 gegründet und hierin selbst eine Vielzahl von Artikeln zu diesem Thema publiziert.18 Wie andere Moralvertreter konzentrierte auch Kausen seine Fehde gegen den »Schmutz« im Mai 1906 durch die Gründung eines konfessionell inspirierten Vereins und machte seine Wochenschrift zu dessen publizistischem Forum.19 In den Gerichtsprozessen, welche die Artikel der beiden Kabarettbesucher im Frühjahr 1909 nach sich zogen,20 ging es mit der Frage, ob sich Kausen als Herausgeber der Wochenschrift der Beleidigung schuldig gemacht hatte, zugleich um die Legitimität seiner Agitation gegen das mediale Nackte und Sexuelle. Vor allem aber stand die Qualität der beiden Theater und ihrer Darbietungen im Vordergrund der Diskussionen, die vor Gericht unter Beiziehung einer hohen Zahl von Sachverständigen aus dem Münchner Kulturleben geführt wurden und weit über die Münchner Öffentlichkeit hinaus mediale Beachtung fanden.21 DER SKANDAL UND SEINE DYNAMIKEN Der Skandal um die »Brettl«-Bühnen aktualisierte die vielfach diskutierte Frage um den moralischen Status des Theaters und verlieh ihr eine neue öffentliche Brisanz. Mit dem Kabarett rückte ein vergleichsweise neues Format in den Brennpunkt, das durch die Auseinandersetzungen – erstens – schärfere Konturen erhielt. Die Kontroversen zeichneten ein prekäres Bild der beiden Bühnen, das durch die gängige Rhetorik vom »Niedergang« oder
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17 Vgl. Reither, Sittliche Niedertracht, S. 561; Ders., Wie amüsiert sich die »moderne« akademische Jugend?, S. 474. 18 Kausen veröffentlichte – meist unter seinem Pseudonym Otto von Erlbach – unzählige Zeitschriftenartikel wie auch eine Reihe selbstständiger Publikationen zu der Thematik; als eine seiner wichtigsten Schriften siehe Otto von Erlbach, Privilegierte Massenvergiftung des deutschen Volkes. Trutzbriefe eines Unverantwortlichen, München ca. 1906. 19 Auch andernorts hatten sich zu diesem Zeitpunkt ähnliche Vereine zur »Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit« gebildet, allen voran ein rheinländischer und Berliner Verein; vgl. Templin, S. 45–48. 20 Die Beleidigungsklagen Hermann Wagners, seines Zeichens Direktor des »Kleinen Theaters«, und Josef Hunkeles, genannt Vallé und Betreiber des 1904 von ihm gegründeten »Intimen Theaters«, wurden im Januar 1909 gemeinsam vor dem Landgericht München in erster Instanz und im April desselben Jahres in zweiter Instanz verhandelt. 21 Als Sachverständige fungierten mehrere Redakteure und Schriftsteller sowie ein Lehrer, ein Abgeordneter des Bayrischen Landtags und ein Stadtpfarrer; vgl. Münchner Neueste Nachrichten vom 13.01.1909, Nr. 18, Morgenblatt. Über die Hauptverhandlung berichteten etwa das Berliner Tageblatt und die Frankfurter Zeitung. 22 Zu den Merkmalen von Heterotopien vgl. Michel Foucault, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne u. Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, S. 317–327.
23 Vgl. etwa [A.], Die »Allgemeine Rundschau« in zwei Brettlprozessen freigesprochen, in: Allgemeine Rundschau, Jg. 6 (1909), H. 4, S. 49–54; Kölnische Volkszeitung vom 15.01.1909, Nr. 44, Abendausgabe; Frankfurter Zeitung vom 26.01.1909, Nr. 26, Zweites Morgenblatt; siehe auch Templin, S. 210–213. 24 Vgl. Bayerischer Kurier vom 31.03.1909, Nr. 90, in: Staatsarchiv München (StAM) Pol. Dir. 3819/III, o. S. 25 Vgl. [Armin Kausen], Nachklänge zum Brettlprozeß der »Allgemeinen Rundschau«. Zugleich ein offenes Wort über den Libertinismus einer gewissen Presse, in: Allgemeine Rundschau, Jg. 6 (1909), H. 5, S. 77–82, hier S. 78 f.; Roth, in: [A.], Nachspiel zum Brettl-Prozeß, in: Allgemeine Rundschau, Jg. 6 (1909), H. 19, S. 329–331, hier S. 331. 26 Vgl. die Ausschnitte aus den entsprechenden Tageszeitungen der Regionen in: P. Reither, Wachsende Protestbewegung gegen die Schamlosigkeiten der Brettlbühnen, in: Allgemeine Rundschau, Jg. 6 (1909), H. 29, S. 487–489; siehe auch Templin, S. 213. 27 Vgl. dazu Richard von KrafftEbing, Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung. Eine medizinisch-gerichtliche Studie für Ärzte und Juristen. Dreizehnte, vermehrte Auflage hrsg. v. Dr. Alfred Fuchs, Stuttgart 1907, S. 12. 28 Zu dieser Entwicklung vgl. Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750–1850, Frankfurt a. M. 1991. 29 Vgl. Dietrich von Oertzen, Die deutsche Schaubühne als »moralische Anstalt«, Stuttgart 1905, S. 32. 30 Vgl. u. a. Weigl, in: [A.], Die »Allgemeine Rundschau« in zwei Brettlprozessen freigesprochen, S. 51; Kausen, in: ebd., S. 50; Roth, in: ebd., S. 52; siehe auch Templin, S. 196–198, S. 200 ff. u. S. 214.
»Verfall« negativ aufgeladen war und diese als moralisch nonkonforme und damit heterotope Räume22 verabsolutierte. In diesem Zuge wurde eine nach moralischen Kriterien definierte Grenzlinie etabliert, welche die Münchner Theaterlandschaft fortan durchzog und das Ergebnis der Verhandlungen bildete. So wurden die beiden Kabaretts von solchen Bühnen abgegrenzt, denen ein Erziehungsauftrag im Sinne traditioneller Moralvorstellungen zugesprochen wurde. Sowohl durch das »Kleine Theater« als auch durch das »Intime Theater«, das als Folge des Skandals seine Türen schließen musste, sahen Zeitgenossen einen solchen nicht realisiert. 23 Ausgehend von diesen konkreten Einzelfällen zog der Skandal – zweitens – weitergehende Konsequenzen auch für die kleineren Bühnen jenseits der beiden »Brettl« nach sich. So forderten im März 1909 mehrere um die Sexualmoral besorgte Korporationen sowie mehr als 400 z. T. stadtbekannte Einzelpersonen in einer Eingabe an das Münchner Polizeipräsidium schärfere Maßnahmen gegen die »Gefahren« der »Kabaretts«.24 Kleinere Bühnen strichen daraufhin moralisch umstrittene Stücke und bemühten sich um ein weniger Aufsehen erregendes Programm.25 Auch in anderen Städten wie Karlsruhe, Stuttgart, Freiburg oder Mainz standen im Gefolge der Debatten die kleineren Bühnen unter zunehmender Beobachtung von Behörden und Presse.26 Mit der Frage nach der moralischen Qualität des Bühnengeschehens wurde im Rahmen des Skandals ein zentraler Topos des Theaterdiskurses aufgerufen und neu akzentuiert. Denn was Zeitgenossen an den Programmen der Bühnen beklagten, widersprach den traditionellen Vorstellungen von Sexualität und den Geschlechtern,27 wie sie sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ausdifferenziert hatten:28 Entgegen dem Ideal des triebbeherrschten Mannes und der triebarmen Frau wurden auf den Bühnen sexuell aktive Männer und Frauen vorgeführt oder besungen, was durch einen möglichst hohen Grad an Nacktheit als Signum sexueller Begierde unterstrichen wurde. Damit aber nicht genug: Dieses als ausschweifend und maßlos kritisierte Sexualverhalten vollzog sich nicht im Rahmen der Ehe, sondern in Form von außerehelichen Verhältnissen oder Prostitution. Der Mann als Verführer oder die Frau als Geliebte waren immer wieder auftauchende Bühnenfiguren, die alles andere darstellten als die von Zeitgenossen für die Bühnen geforderten großen, reinen und idealen Heldenfiguren29. Durch sie sah man die zentralen Werte der sexuellen Zurückhaltung und der Ehe als Institution mit ihrem Ideal der Treue unterlaufen. Statt Zucht und Treue wurde in der Optik der Zeitgenossen von den Bühnen ein »freies Sichausleben« als neuer Wert propagiert – und nicht etwa moralisch sanktioniert.30 Christina Templin — Nonkonformismus auf der Bühne
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Im Zuge des Skandals wurden damit durch die permanenten Klagen über eine subversive Bühnenmoral – drittens – konforme sexuelle Moralvorstellungen reformuliert und verfestigt. Denn das Diktum von der gefährdeten »alten« Moral wurde in diesem Zuge immer wieder vorgebracht, ihre zentralen Werte – Ehe, Treue und sexuelle Maßhaltung – als Norm ausgerufen. Verfestigt wurde letztere umso mehr, als Stimmen, die sich zu Verteidigern der »Brettl«-Bühnen und der von ihnen propagierten Moralvorstellungen aufgeschwungen hätten, fehlten.31 Überdies setzten die Kontroversen mit Blick auf das Publikum, dem durch die umstrittenen Bühnen Gefahren drohten, neue Akzente. Indem sie den schon vor dem Skandal erzeugten Eindruck, Studenten seien die primären Opfer der kleineren Bühnen,32 verfestigten, verengten sie deren Besucherkreis auf eine spezifische Gruppe.33 Im Zuge der Debatten wurden die Bühnen somit – viertens – zu einem spezifischen Raum der akademischen männlichen Jugend stilisiert, wodurch ein medienspezifisches Opfernarrativ etabliert wurde.34 Die Debatten im Fall Kausen und der »Brettl«-Bühnen entwarfen – fünftens – einen sich entlang der Kategorie Sexualität bestimmenden Antitypus zum klassischen Männlichkeitsbild – das »Brettl« erhielt damit einmal mehr den Status eines nonkonformen und heterotopen Raumes – und forcierten so die zeitgenössische Problematisierung männlicher Sexualität.35 Die Studenten, die im Theater Soubretten wie Mary Irber begeistert Beifall zollten, verkörperten das Gegenteil jener Männer, die konstitutiv für das bürgerlichhegemoniale Männlichkeitsmodell36 waren. Hier sah man im Publikum keine willensstarken und ihren sexuellen Trieb beherrschenden und mäßigenden jungen Männer, die sich zudem durch physische Stärke und Wehrhaftigkeit auszeichneten. Dass sie die »Brettl« überhaupt besuchten und sich deren 37
vermeintlich verderblichen Einflüssen aussetzten, zeugte nach Ansicht vieler Zeitgenossen vielmehr von Willensschwäche und Unbeherrschtheit, die eine Steigerung des Geschlechtstriebes und den Kontrollverlust über diesen nach sich zögen.38 INTENDIERTE UND UNINTENDIERTE FOLGEN DES SKANDALS Komplementiert wurde die Figur des willensschwachen, seinem sexuellen Trieb ausgelieferten Studenten durch einen von Geschlechtskrankheiten geschädigten, alles andere als wehrhaften Körper.39 Mit der Produktion dieses spezifischen Antitypus erschütterten die Debatten das traditionelle männliche Ideal vom triebbeherrschten Mann und bekräftigten es zugleich – indem sie es immer wieder ex negativo aufriefen.40 Durch die
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31 Vgl. Templin, S. 208 u. S. 215. 32 Junge Männer, namentlich Studenten, galten schon vor dem Skandal um die beiden Münchner Kabaretts als besonders gefährdet; vgl. u. a. N., Modernes Theater, in: Korrespondenzblatt, Jg. 5 (1891), H. 7, S. 73–76, hier S. 75. 33 Vgl. August Nuß, Student und Brettlbühne, in: Allgemeine Rundschau, Jg. 6 (1909), H. 11, S. 180. 34 Dass die »Brettl« von einem weitaus heterogeneren Publikum besucht wurden, spielte in den Debatten keine Rolle. Zwar wurde gelegentlich auf die breitere Zusammensetzung der Theaterränge verwiesen (bspw. Prozessbericht, in: Bayerischer Kurier vom 14.01.1909, Nr. 14, in: StAM Pol. Dir. 3819/III, o. S.; Besold, S. 611), jedoch kein Zweifel daran gelassen, dass Studenten den Hauptanteil der Besucher bildeten. Darin unterschieden sich die deutschen Debatten erheblich von denen im englischen Kontext, wo in erster Linie junge Arbeiter als bevorzugte Opfer der »cheap theaters« galten; vgl. Lynda Nead, Victorian Babylon. People, Streets and Images in Nineteenth-Century London, New Haven 2000, S. 149; siehe auch Templin, S. 203, S. 212 u. S. 215–218. 35 Vgl. dazu g enauer Templin, S. 216–220. 36 Zu diesem zentralen Theoriemodell der men’s studies vgl. Jürgen Martschukat u. Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt a. M. 2008, S. 41 f. 37 Zu den Komponenten des männlichen Ideals siehe Ute Planert, Der dreifache Körper des Volkes. Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 26 (2000), H. 4, S. 539–576, hier S. 553. Der Kontrolle des Geschlechtstriebes kam zentrale Bedeutung zu; vgl. Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers, 1765– 1914, Frankfurt a. M. 2001, S. 418.
38 Vgl. Friedrich Wilhelm Foerster, Lebensführung. Neue Ausgabe, Berlin 1911 [1909], S. 189 f. 39 Vgl. Max von Gruber, Hygiene des Geschlechtslebens. Mit 4 farbigen Tafeln, Stuttgart 1918, S. 55, S. 59 u. S. 86–102; Templin, S. 204 f. u. S. 212.
Bildung radikalisierter Antitypen waren die Debatten ein Teil des Prozesses der Neudefinition und Neuetablierung hegemonialer Männlichkeitsstereotype,41 der um 1900 in Reaktion auf eine vermehrte Infragestellung tradierter Männlichkeiten – sei es durch die künstlerische Avantgarde, sei es durch die Frauen- oder Homosexuellenbewegung – zu beobachten war. Neben marginalisierte Männlichkeitsgruppen wie Juden, Schwarze, Homosexuelle, männliche Hysteriker und Neurastheniker42 rückte der Skandal
40 Dass die Konstruktion von Antitypen der Herausbildung und Verfestigung hegemonialer Männlichkeit diente, haben Forschungen zur Geschichte von Männlichkeiten gezeigt; vgl. George L. Mosse, Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt a. M. 1997, S. 13.
um die »Brettl«-Bühnen den willensschwachen, sexuell unkontrollierten
41 Vgl. Ulrike Brunotte u. Rainer Herrn, Statt einer Einleitung. Männlichkeiten und Moderne – Pathosfomeln, Wissenskulturen, Diskurse, in: Dies. (Hg.), Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2008, S. 9–23, hier S. 17 ff. (Zitat S. 18).
schen Diskurse aktualisiert und dynamisiert – zugleich wurden auch neue
und körperlich kranken Studenten und trug auf diese Weise zu einer Pluralisierung von Männlichkeitsentwürfen bei. Der durch Besolds und Reithers Kritik an den beiden Münchner Bühnen ausgelöste Skandal war, so ist zusammenzufassen, für die damalige Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht folgenreich: Nicht nur wurden durch die Rede über mediale Grenzen, die Sexualmoral und Geschlechter diese spezifidiskursive Räume für das Sexuelle geschaffen. Infolgedessen verfestigte sich der Status von Sexualität als wichtiger gesellschaftlicher Ordnungskategorie, zu der sie sich seit Ende des 19. Jahrhunderts herauszubilden begonnen hatte.
42 Vgl. Mosse, Bild des Mannes, S. 113 f. Die Nervenschwäche galt als bevorzugte Krankheit des männlichen Bürgertums; vgl. Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 423.
Christina Templin, studierte und promovierte an der Georg-August-Universität Göttingen und ist derzeit im Schuldienst tätig. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
Christina Templin — Nonkonformismus auf der Bühne
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GEGENKULTUREN UND DIE KRISE DES WIR-SINNS WORIN SICH »PEGIDA« UND DIE »68ER« ÜBERSCHNEIDEN UND UNTERSCHEIDEN ΞΞ Michael Corsten
Gegenkulturen stehen in einem Verhältnis zu jener Kultur, von der sie sich abzusetzen behaupten. Eine solche relationale Perspektive impliziert, dass Kulturen nicht von einem absoluten Norm- oder Wertpunkt aus bestimmt werden können, sondern immer nur aus dem Wechsel- und Zusammenspiel gleichzeitig existierender und aufeinander einwirkender kultureller Lebensformen.1 Insofern lässt sich auch das Verhältnis von Konformität und Nonkonformität – hier verstanden als Abweichung – nicht anhand von allgemeingültigen oder gar konstanten Norm- oder Wertmaßstäben herleiten. Kulturen mithin bestehen aus einer bestimmten Menge an Lebensformen, die im Rahmen einer Gesellschaft möglich sind und einander entgegenstehen können. Aus ihren Wechselwirkungen ergeben sich dann Verhältnisse von vorherrschenden und davon mehr oder weniger abweichenden Kulturformen. Diese für moderne, westlich liberal geprägte Gesellschaften wie die Bundesrepublik Deutschland durchaus typische Auffassung von Kultur hat sich womöglich durch die aktuellen Erscheinungsformen des Rechtspopulismus gewandelt. Ich möchte mich daher konkret mit drei Gegenkulturen beschäftigen, die sich in der Gegenwartsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ausmachen lassen. Dabei werde ich die als Gegenkulturen bezeichneten Phänomene auf eine weitere Kategorie beziehen: den Wir-Sinn, der mit einer bestimmten gegenkulturellen Bewegung oder Strömung einhergeht. Mit diesem soziologisch-zeitgeschichtlichen Vergleich sind drei Thesen verbunden: Erstens stellen aus meiner Sicht die kulturellen und sozialen Gruppierungen, die momentan mit dem Label Rechtspopulismus assoziiert werden, Fälle einer Gegenkultur dar, die sich in Opposition zur vorherrschenden Mehrheitskultur der 2010er Jahre formiert hat; zweitens folgere ich daraus, dass der Rechtspopulismus als gegenkulturelle Formation eine Reihe von Eigenschaften mit früheren Gegenkulturen der Bundesrepublik – der »68er-Bewegung« und der »Alternativbewegung« der 1980er Jahre – gemeinsam hat; und drittens sehe ich in dem Charakter des Wir-Sinns, der
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INDES, 2016–3, S. 62–69, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X
1 Siehe Martin Seel, Ethik und Lebensformen, in: Micha Brumlik u. Hauke Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1993, S. 244–259.
mit den rechtspopulistischen Gegenkulturen einhergeht, den entscheidenden Unterschied zu früheren Gegenkulturen. Die Differenzen des Wir-Sinns zeigen sich dabei nicht nur in Bezug auf das in einer Gegenkultur nach innen hin geteilte Verständnis eines »Wir« als Antwort auf die Frage: »Wer sind wir?«; sondern auch hinsichtlich der Vorstellungen von der zeitlichen Entwicklung, in die eine Gegenkultur eingebettet ist, sowie im Hinblick auf ihr Verhältnis nach außen. DER RECHTSPOPULISMUS ALS GEGENKULTUR Unter rechtspopulistischen Tendenzen und Strömungen werden heutzutage vor allem Äußerungen verstanden, die sich fremdenfeindlich und insbesondere anti-muslimisch bzw. islamophob gebärden. Die Äußerungen des AfDPolitikers Alexander Gauland über Jérôme Boateng als Nachbarn oder die schon vor einigen Jahren von Thilo Sarrazin in Buchform gegossene These, dass Deutschland sich abschaffe, mögen hier als Beispiele dienen. Neben immer neuen Varianten, in denen Zweifel, Verdächtigungen oder Verleumdungen gegenüber fremden, in der Regel nicht-westlichen und hier besonders muslimischen Kulturen angemeldet werden, beziehen sich Rechtspopulisten zuweilen kritisch auf Themen wie Geschlechter- bzw. Gleichstellungspolitik, die Gleichbehandlung von hetero- mit homo- und anderen alternativsexuellen Lebens- und Ausdrucksformen oder – allerdings weniger – auf sozial- und finanzpolitische Themen. Insofern scheint es auf den ersten Blick so, als ginge es dem Rechtspopulismus zuvorderst darum, bestimmte Randgruppen der Gesellschaft (wie nicht-westliche Ausländer, Muslime, Feministinnen, Homosexuelle oder sozial Schwache) zu diskriminieren oder gar auszugrenzen. Gelegentlich scheint sich dieser Hang zur Diskriminierung mit mehr oder weniger versteckt rassistischen und biologistischen Auffassungen zu vermischen. Ein besseres Verständnis rechtspopulistischer Strömungen ergibt sich aus meiner Sicht hingegen dadurch, sie als ein Ringen um die richtige Weltanschauung zu begreifen, die sich zuallererst gegen eine als vorherrschend angesehene Mehrheitskultur richtet. Das, was rechtspopulistische Strömungen aufgreifen, sind somit Grenzziehungen, die von einer Mehrheitskultur ausgehen und denen sie eigene Grenzziehungen diametral entgegenzusetzen versuchen. Sie zielen dabei auf ein ziviles, verfahrensrationales, inkludierendes und deliberatives Verständnis von Demokratie ab, das seit ungefähr Mitte der 1990er Jahre von allen in den Parlamenten vertretenen Parteien und wichtigen politikfeldnahen Verbänden wie etwa Kirchen und Gewerkschaften grundsätzlich geteilt wird. Auf der Oberfläche der politischen Debatten findet diese Michael Corsten — Gegenkulturen und die Krise des Wir-Sinns
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Haltung besonderen Ausdruck in Schlagworten wie »Political Correctness« oder »Gutmenschentum«. Kurzum: Die epiphänomenal zur Schau getragenen und womöglich von manchen auch ernst gemeinten Diskriminierungen vermeintlich bevorzugter Gruppen sind vor allem Herausforderungen einer sich – noch einmal – liberal, zivil, inkludierend und deliberativ verstehenden Mehrheitskultur, die dann gegebenenfalls als »links-rot-grün-versifft«2 oder auf ähnlich polemische Weise tituliert wird. Rechtspopulistische Strömungen sprechen insofern eine Population, ein Publikum, eine Bevölkerungsschicht an, die sich primär am Stil der politischen Mehrheitskultur reibt, an deren Hang, politische Entscheidungen offen ausdiskutieren, eben deliberieren zu wollen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. Juli 2016 findet sich ein Leserbrief, in dem auf das vermeintliche Ärgernis verwiesen wird, dass der »öffentliche Diskurs zum Thema Terrorismus […] in Deutschland traditionell aus masochistischer Sicht betrieben« werde, was heißen solle, dass »wir uns selbst die Schuld an der gescheiterten Integration mancher muslimischer Jugendlicher«3 gäben. Hier geht es nicht darum zu entscheiden, ob die zitierte Sichtweise richtig, falsch oder demagogisch ist. Entscheidend an dem zitierten Argument ist, dass es dem politischen Klima in Deutschland mehrheitlich eine grundlegende Tendenz unterstellt und diese Tendenz als zutiefst problematisch, oder schärfer: als krankhaft »masochistisch« hinstellt. Auf ganz ähnliche Weise hatte sich bereits Sarrazin auf Deutschland als vermeintliche Ganzheit einer politischen Kultur bezogen; nicht anders pflegen Repräsentantinnen und Repräsentanten der AfD und von »PEGIDA« die von ihnen diagnostizierten Missstände der deutschen Politik anzuprangern. Der Rechtspopulismus zielt auf diejenigen, die sich in der symbolischen Politik der Mehrheitskultur als durchsetzungsschwach erleben und sich um genuine Äußerungsmöglichkeiten beschnitten oder schlicht herabgesetzt wähnen. Anfällig für Rechtspopulismus sind die gefühlten Opfer symbolischer Gewalt – einer symbolischen Gewalt, die Ausländer, fremde Kulturen und Religionen, Frauen, Lesben und Schwule, Behinderte, Arbeits- und Leistungsverweigerer angeblich respektiert, nicht aber die Anpassungs- und Leistungswilligen. Ihnen werde mehr oder weniger offen vorgeworfen, aus der Zeit gefallen zu sein, indem sie sich an einer Vorstellung von kultureller Konformität orientierten, die als anachronistisch gewertet werde. Allerdings ruft der Rechtspopulismus dabei nicht zuletzt auch jenen qualifizierten und gebildeten Teil der Bevölkerung an, der sich als bodenständig, ehrlich und ehrbar, strebsam und bescheiden wahrnimmt und grundsätzlich durchaus für altruistisches Handeln zu gewinnen ist, dem in Umkehrung des
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Nonkonformismus — Analyse
2 »Wir wollen weg vom linksrot-grün-versifften 68er-Deutschland.« Ulrich Meuthen auf dem Parteitag der AfD in Stuttgart, zit. nach Jörg Köpke u. Jan Sternberg, Der Stuttgarter Rechtsruck, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung online, 03.05.2016, URL: http://www.haz.de/Nachrichten/ Politik/Deutschland-Welt/AfDParteitag-in-Stuttgart [eingesehen am 15.08.2016]. 3 Leserbrief, Rainer Kalz, Doch, das hat mit dem Islam zu tun, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.07.2016.
Sprichworts der Rock also näher sein kann als das Hemd – vorausgesetzt, ihm kann verständlich gemacht werden, was da als Rock anzusehen sein soll. Was diese Gruppe in die Arme der Rechtspopulisten und zum Widerspruch gegen eine ihrer Ansicht nach abgehobene und in der Sache verfehlte politische Mehrheitskultur treibt, das ist die Verbitterung über eine gefühlte Benachteiligung. Insofern sind die rechtspopulistischen Strömungen heute durchaus von einer ganz ähnlichen »Wehrt Euch, leistet Widerstand«-Haltung bewegt wie die Gegenkulturen der späten 1960er und frühen 1980er Jahre. DIE PARALLELEN ZU FRÜHEREN GEGENKULTUREN Bevor ich mich den weiteren Parallelen zuwende, sei kurz erläutert, weshalb in den Strömungen der 68er und der Alternativbewegung der 1980er Jahre die einschlägigsten Fälle von Gegenkulturen in der Geschichte der Bundesrepublik gesehen werden. Von beiden Bewegungen gingen die Etablierung von »Gegenöffentlichkeiten«4 und die Mobilisierung von Massen aus, die als ein von den Gegenöffentlichkeiten ansprechbares Publikum glaubhaft ausgewiesen werden konnten. Gegenkulturen werden somit nicht einfach nur durch eine Oppositionshaltung gegenüber einer Mehrheitskultur charakterisiert; hinzukommen muss die Fähigkeit, durch die Anrufung eines Publikums eine Gegenöffentlichkeit zumindest vorübergehend zu etablieren. Gegenkulturen zeichnen sich dadurch aus, dass sie in einem bestimmten historischen Moment Schwachstellen eines kulturellen Konsenses rhetorisch attackieren und dabei eine kritische Masse mobilisieren. Insofern ist der Begriff Gegenkultur anders zu lesen als die ähnlich scheinenden Termini »Protestkultur« oder »politische Weltanschauung«. Die erste Parallele, die sich zwischen den Strömungen der 1960er und 1980er Jahre auf der einen, den rechtspopulistischen Strömungen der 2010er Jahre auf der anderen Seite auffinden lässt, ist die Opposition gegen eine »Große Koalition«. So wandte sich die »Außerparlamentarische Opposition« der 68er nicht nur gegen die »Notstandsgesetze«, sondern auch gegen die schwarz-rote Bundesregierung sowie die jede innerparlamentarische Opposition erdrückende Abgeordnetenmehrheit der Fraktionen von CDU/ CSU und SPD. Ebenso beseelte die Alternativbewegung um 1980 nicht nur
ihre Angst vor Kernkraft und Langstreckenraketen, sondern insbesondere die Ablehnung eines SPD-Kanzlers, der sich auch bei CDU-Wählern großer Zustimmung erfreute. Große Koalitionen, wie die zwischen 1966 und 1969, 4 Zum Begriff der »Gegenöffentlichkeit« vgl. Michael Warner, Publics and Counter publics, New York 2005.
oder Politiker, die wie Helmut Schmidt Ende der 1970er Jahre breite Akzeptanz besitzen, geraten schnell in den Verdacht, einen Mehrheitskonsens zu repräsentieren, der Minderheitsauffassungen an den Rand drängt. Da ihrer Michael Corsten — Gegenkulturen und die Krise des Wir-Sinns
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Übermacht sichere Mehrheiten weniger dazu tendieren, Minderheiteninteressen zu berücksichtigen, ziehen sich die Minderheiten schweigend zurück – und radikalisieren sich, mehr oder weniger offen. Was die zunächst schweigenden Minderheiten empfinden, ist eine Vorgabe von Einstellungsmustern, die andere Auffassungen zensiert, worauf sie sich durch gegenkulturelle Kommunikation konzentrieren und provokativ beziehen. So legte es die junge Generation in den 1960er Jahren besonders darauf an, die Biederkeit der Älteren zu entlarven – »Unter den Talaren, Muff aus tausend Jahren« –, unter deren Deckmantel sich nicht selten autoritäre Haltungen und eine nicht aufgearbeitete nationalsozialistische Vergangenheit verbargen. Die Gegenkommunikation der Alternativbewegung bezog sich dann später ähnlich konsequent auf den Konsens technokratischer Sachzwangrationalität der Regierung Helmut Schmidts. Die Dynamik eines sich gegenseitig aufschaukelnden Wettrüstens und die der Wachstumsideologie inhärente Missachtung des ökologischen Gleichgewichts sowie der Begrenztheit natürlicher Ressourcen bis hin zur unkritischen Nutzung von Kernenergie wurden als katastrophale Auswüchse eines politischen Technokratismus gewertet. Gegenkulturen bilden Delegitimierungsdiskurse aus, die auf den Kern eines gesellschaftlichen und politischen Mainstreams ausgerichtet sind. Genau dies ist auch die politische Praxis des heutigen Rechtspopulismus. Er versucht, die weithin geteilten Leitideen wie Integration, Inklusion und die Gleichstellung von Geschlechtern und Lebensformen als blind, weil blauäugig und also hochgefährlich auszuweisen. Die politische Mehrheitskultur wird mit dem Verdacht konfrontiert, den »besorgten Bürgern« kein Gehör zu schenken, die doch nur auf die Gefahren von Integration und anderen inklusiven Leitideen aufmerksam machen möchten. Die Antworten und Entgegnungen von Politikern, Öffentlichkeit und Presse werden dabei als Versuche gedeutet, die Ängste und Sorgen der aus der Mitte kommenden Bürger kleinzureden oder gar zu unterdrücken. Die rechtspopulistische Gegenströmung weist noch eine weitere Parallele zu den »alten« Gegenkulturen der Bundesrepublik auf. Gegenkulturen argumentieren tendenziell fundamental und substanzialistisch; sie kritisieren damit einen vermeintlich ausgehöhlten kommunikativen Formalismus und Prozeduralismus, der als bloßes, weil inhaltsleeres Ritual entlarvt werden soll. Der »Oberlehrerton«, mit dem die Älteren in den 1960er Jahren die Parolen und Anklagen der Jungen zu beschwichtigen suchten, bewies in den Augen der Gegenströmung der Jungen nur den Autoritarismus ihrer Widersacher. Die nüchternen Argumente, mit denen Politiker und Experten um 1980 auf
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Nonkonformismus — Analyse
die »Angstkommunikation« der Alternativkultur antworteten, wurde dort ebenso als erneuter Beleg für eine durch und durch technokratische Vereinseitigung wahrgenommen. Die rituellen Formen, in denen die Mehrheitskultur in beiden Fällen reagierte, enthielten insofern performative Stilmuster, die aus Sicht der Gegenkultur substanzielle Fehler aufwiesen und somit fundamental abzuweisen waren. Der Ton der Belehrung widersprach der substanziellen Überzeugung von der Notwendigkeit einer grundlegenden Liberalisierung der Gesellschaft, die sachlogische Argumentation kollidierte mit dem Bedürfnis nach einem Einklang mit der Natur. Auf ähnliche Weise ist die Antwort der Deliberation auf besorgte Bürger, die sich von rechtspopulistischen Rhetoriken ansprechen lassen, verfehlt, weil sie in ihrem kommunikativen Prozeduralismus die Sorgen der Bürger von vorneherein nur relativieren und damit nur kleinreden bzw. übergehen kann. Der deliberative Stil der Political Correctness nimmt insofern die Äußerungen der besorgten Bürger performativ nicht ernst. Und genau damit bestätigt der kommunikative Stil der Mehrheitskultur den Eindruck der potenziellen Anhänger der rechtspopulistischen Gegenkultur, dass ihre Stimmen im öffentlichen Diskurs niemals gleichermaßen zählen und ernst genommen werden. Stattdessen erfahren sie sich als ignoriert und diffamiert. Es gibt ein sehr aufschlussreiches Fernsehinterview5 in der Sendung »Conflict Zone« der Deutschen Welle, in dem der englische Journalist Tim Sebastian und die AfD-Vorsitzende Frauke Petry auf höchstem Niveau aneinander vorbeireden. Liest man dann die User-Kommentare zum entsprechenden Video auf You5 Conflict Zone – mit Frauke Petry, in: dw.com, 23.03.16, URL: http://www.dw.com/en/ transcript-tim-sebastian-interviews-frauke-petry/a-19152089/ [eingesehen am 15.08.2016].
tube, so lassen sich schnell die Nutzer6 identifizieren, die Petrys Leistung
6 Als Beispiel: »Bravo Frau Petry! Wie immer souverän, sprachlich perfekt, trotz pausenloser Unterbrechungen. Hier hat sich die sog. ›freie Presse‹ selbst vorgeführt. Yes, Mr. Sebastian, we ›don’t think much of the media‹; Kommentar von Regina Sieferle, URL: https://www.youtube. com/watch?v=vxHBgklaQug [eingesehen am 15.08.2016].
Dass 2015 die rechtspopulistischen Strömungen in Deutschland vor allem
gerade darin sehen, dass sie sich von Sebastian nicht kleinreden und in die Ecke drängen ließ. GEGENKULTUREN UND DIE KRISE DES WIR-SINNS durch Angela Merkels Postulat »Wir schaffen das!« an Vehemenz gewonnen haben, ist keinesfalls ein ironischer Zufall der Gegenwartsgeschichte. Ganz offensichtlich ringt die Öffentlichkeit um das Verständnis des Wir, das von einer Krise, hier der »Flüchtlingskrise«, betroffen ist. Wir-Sinn, so haben wir in einer Studie zur Freiwilligenarbeit festgestellt, weckt Engagement. »Unter Wir-Sinn lassen sich […] Weisen des praktischen Vermögens verstehen, etwas zu bestimmten sozialen Situationen beizutragen.«7 Der Wir-Sinn kann
7 Michael Corsten u. a., Quellen bürgerschaftlichen Engagements, Wiesbaden 2008, S. 33.
demnach als eine Vorstufe dessen angesehen werden, was in der Politischen Philosophie traditionell als Gemeinsinn und Gemeinwohl erörtert wird. Auch Michael Corsten — Gegenkulturen und die Krise des Wir-Sinns
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wenn der Wir-Sinn als praktisches Vermögen elementarer angelegt ist als der reflexive Gemeinsinn, so enthält er durchaus Eingrenzungen dessen, wer oder was zu einem Wir bzw. Gemeinwesen zählt. Genau in dieser Hinsicht unterscheiden sich nun die früheren Gegenkulturen von der aktuellen, rechtspopulistischen Gegenkultur. Die früheren Gegenkulturen waren auf einen inkludierenden Wir-Sinn ausgerichtet. Sie zielten auf ein Mehr an Teilhabe und waren offen für eine Vergrößerung des Wir durch Hinzuziehung weiterer Akteursgruppen. Die rechtspopulistischen Strömungen gehen hingegen mit einer exkludierenden Form des Wir-Sinns einher: Sie wollen insbesondere die Größe des Wir einschränken: Nicht alle können dazugehören. Insofern ist das eigentliche Leitthema des Rechtspopulismus die Begrenzung, überhaupt die Sorge um Grenzziehungen und deren Sicherung. Grenzen sind hier sowohl im übertragenen als auch im buchstäblichen
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Sinn zu verstehen. Die Orientierung der Mehrheitskultur auf Integration, Inklusion und die Expansion von Spielräumen resultiert in einer Selbstauflösung durch Entgrenzung – jedenfalls aus Sicht der rechtspopulistischen Gegenkultur. Mit der Differenz zwischen inkludierenden und exkludierenden Modi des Wir-Sinns geht im Hinblick auf die historisch-zeitliche Einbettung der jeweiligen Gegenkulturen ein weiterer Unterschied einher. Die vorherigen Gegenkulturen waren verankert in einem noch virulenten Selbstverständnis des gesellschaftlichen Fortschritts und des Wachstums. Die Geschichte schien noch lange nicht zu Ende. Die Katastrophenszenarien der Ökologiebewegung waren dabei immer nur als abzuwendende Fälle anzusehen, die einem vereinseitigten Fortschrittsverständnis zugerechnet wurden, nicht aber dem Fortschritt als Idee schlechthin. Auch deshalb waren die Gegenkulturen offen nach außen. Solidarisierten sich die 68er mit den Befreiungsbewegungen der Welt, verstand sich die Alternativbewegung als Notrufstelle für globale Risiken, die überall eintreten konnten und daher globale Solidarität verlangten. Der Rechtspopulismus in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, steht dagegen am Ende einer langen Phase der Stagnation. Die ständigen technischen Neuerungen der Elektronikindustrie gehen nicht mehr mit einem spürbaren ökonomischen oder sozialen Fortschritt einher. Vielmehr fühlen sich die Akteure einem ständig wachsenden Anpassungsund Flexibilisierungsdruck ausgesetzt. Der Druck kann leicht in eine Stimmung der Angst kippen.8 Diese Angst nun erzeugt den Wunsch nach einer Sicherung von Grenzen und nach Begrenzungen der Identität des Wir, zu dem nicht alle gehören können; damit einhergehend nach Sicherungen der Grenzen der sozialen 8 Dazu zuletzt vor allem Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, München 2014.
Wohlfahrt und dem Schutz derjenigen, die bei Bedarf auf sie zurückgreifen können sollen; und nicht zuletzt nach einer Sicherung räumlicher Grenzen. Aber genau mit diesen Forderungen nach Grenzziehungen wird eine
9 Hauke Brunkhorst, Solidarität unter Fremden, Frankfurt a. M. 1997.
Krise des Wir-Sinns entfacht, die am Ende eine Krise der »Solidarität unter Fremden«9 ist.
Prof. Dr. Michael Corsten ist Professor für S oziologie an der Universität Hildesheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind Generationen und sozialer Wandel, Soziologie der Kultur sowie das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Bürgerengagement.
Michael Corsten — Gegenkulturen und die Krise des Wir-Sinns
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THE EYES OF THE WORLD ARE ON … AUFMERKSAMKEIT DURCH FLASH- UND SMARTMOBS ΞΞ Carina Jasmin Englert
Viele gesellschaftliche Akteure haben etwas zu sagen. Doch gehört zu werden, Aufmerksamkeit für sich oder ein Thema zu generieren, gelingt indes nur den wenigsten. Um jemanden zu bewegen, einer Person oder einem Thema Aufmerksamkeit zu schenken, gilt es, demjenigen einen Grund zu liefern, sich in der Fülle von Angeboten auf bestimmte Themen oder Personen zu konzentrieren. Im digitalen Zeitalter, das aus »vernetzen Vielen«1 besteht und in dem sich Digital Immigrants, Digital Natives und Silver Surfer zu großen Teilen in digitalen Medienumgebungen aufhalten, gestaltet sich dies immer schwieriger. Die analoge konkurriert teilweise mit der digitalen Umgebung; allerdings befruchten sich diese auch gegenseitig und so entstehen Mischformen digitaler und analoger Handlungsräume. Neben Virtual Reality- Anwendungen und Augmented Reality-Spielen ist auch die Organisation eines Flash- bzw. Smartmobs als spontaner Ansammlung einer Masse von Menschen über geografische Grenzen hinweg ohne die Digitalwelt kaum denkbar. Denn es ist die schnell verfügbare Masse an Menschen, die den Flash-/Smartmob ausmacht. Im digitalen Zeitalter spielen digitale Medienumgebungen wie soziale Medien für die Herstellung von Aufmerksamkeit und für den Austausch über bestimmte Themen eine wichtige Rolle. Aktuell dienen sie meist ergänzend zur analogen Umgebung als zusätzliche Handlungsräume, in denen zum Beispiel Flash-/Smartmobs organisiert und Themen diskutiert werden können. Jedoch
1 Vgl. Joachim Huber, »Jeder findet eine Plattform für exklusiven Irrsinn«. Ein Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen über Pegida und »Lügenpresse«, Medienverdrossene und Journalisten, in: Der Tagesspiegel, 15.01.2015.
überschneiden sich digitale und analoge Handlungsräume zunehmend – und das nicht ohne Probleme, wie bspw. an den aktuellen Berichterstattungen zum Augmented Reality-Spiel »Pokémon Go« deutlich wird.2 Digitale Handlungsräume eröffnen zusätzliche Handlungsmöglichkeiten, die Konkurrenz auf dem »Markt der Aufmerksamkeit« steigt.3 Ein Beispiel für neue Handlungsmöglichkeiten durch digitale Handlungsräume sind Flash-/Smartmobs. Diese sind nicht nur digital organisiert, sondern finden mittlerweile auch digital statt. Allerdings stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich durch Flash-/Smartmobs in einer Vielzahl an Handlungsräumen
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INDES, 2016-3, S. 70–78, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191-995X
2 Vgl. etwa o. V., Kurioses rund um »Pokémon Go«, in: Zeit Online, 20.07.2016, URL: http://www.zeit.de/news/201607/20/internet-kurioses-rundum-pokmon-go-20103206/ [eingesehen am 23.07.2016]. 3 In Anlehnung an Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 2007.
vor dem Hintergrund des großen Angebotes an Informationen und Veranstaltungen, die über digitale Medienumgebungen organisiert und in diesen durchgeführt werden, überhaupt noch Aufmerksamkeit für Personen oder Themen generieren lässt. FLASHMOB AUF DEM »GLASTONBURY FESTIVAL« 2016 Am 26. Juni 2016 versammelten sich um 17 Uhr über einhundert Menschen auf einem zentralen Platz des »Glastonbury Festival of Contemporary Performing Arts« im Südwesten Englands und bildeten dort eine herzförmige Formation, umrandet von zwölf Sternen:
Abbildung Nr. 1: Menschenansammlung auf dem »Glastonbury Festival« © AFP/File/by Katherine Haddon4
Bereits auf den ersten Blick liegt die Vermutung nahe, dass diese Formation nicht willkürlich zustande gekommen ist – zumal sich die Teilnehmenden aneinander orientieren mussten. Sie regt die Außenstehenden, die nicht in diese Aktion eingeweiht sind, zum Nachdenken an: Was wollen die Menschen mit dieser Formation mitteilen? Was bedeutet das Herz, was die zwölf Sterne? Es wird versucht, die Formation mit bereits Bekanntem abzuglei4 Quelle: France 24, URL: http://www.france24.com/ en/20160710-creatives-fear-brexit-impact-uk-arts/ [eingesehen am 15.08.2016]. 5 Herbert Willems, Rahmen und Habitus. Zum theoretischen und methodischen Ansatz Erving Goffmans, Frankfurt a. M. 1997, S. 35.
chen, die Menschenansammlung zu deuten und die Handlung der einzelnen Menschen als Gruppe in einen Handlungsrahmen einzuordnen. In diesem Moment dreht sich die Aufmerksamkeit der Außenstehenden um die Beantwortung der Frage: »Was geht hier eigentlich vor?«5 Den Versammlungsteilnehmern ist also gelungen, Aufmerksamkeit für sich zu generieren. Die Auflösung: Die Teilnehmer an dieser Formation bekundeten nach Bekanntwerden des »Brexit«-Referendums in Großbritannien durch ihre Herz- und Sternaufstellung ihre Solidarität mit der EU, indem sie eine Carina Jasmin Englert — The eyes of the world are on …
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Herzformation bildeten und mit den zwölf Sternen auf die EU-Flagge Bezug nahmen. Diese Aktion wurde in den – und durch die – sozialen Medien als »Brexit-Flashmob von Glastonbury« bekannt. Im Vorfeld dieser Aktion war unter den Teilnehmern des Rockfestivals ein Flugblatt, das über Twitter Verbreitung fand, mit folgendem Aufruf verteilt worden: »Come show your solidarity for the people of Europe and beyond. Join the flash mob to form a giant heart of people with 12 stars around it. Top of the Park Field, below the Glastonbury letters. Sunday 5 pm. The eyes of the world are on Glastonbury. Let’s use the opportunity to promote unity and peace.«6
Durch die weltweite Aufmerksamkeit in Verbindung mit einer symbolischen Aktion besteht eine bessere Chance, dass die Solidaritätsbekundung zu den Menschen in Europa dringt und auch von Nicht-Festivalbesuchern gehört, gesehen und gelesen wird. Der Rahmen des Festivals bot jedoch nicht nur im Kontext des Flashmobs eine Möglichkeit, Stellung zum »Brexit«-Thema zu beziehen; auch andere europäische Solidaritätsbekundungen im Rahmen des Festivals wurden etwa auf Instagram diskutiert:
Abbildung Nr. 2: Screenshot eines Fotos auf Instagram, hochgeladen durch den Nutzer Glastonbury7
Darüber hinaus fanden neben dem »Brexit«-Flashmob bereits im Vorfeld des Festivals noch drei weitere Flashmobs zu unterschiedlichen Themen statt, die als feste Programmpunkte seit Anfang Juni 2016 von den Veranstaltern eingeplant gewesen waren. So zum Beispiel ein zu Ehren von David Bowie veranstalteter Tanz-Flashmob, der von den Teilnehmenden anhand eines Video-Tutorial auf Youtube sogar eine Woche vor seiner Durchführung hatte eingeübt werden können.8 Andererseits heißt dies, dass nicht nur das »Brexit«-Thema in unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Aktionen und Handlungsräumen aufgegriffen worden ist: Auch die unterschiedlichen Flashmobs selbst standen in Konkurrenz um Aufmerksamkeit in unterschiedlichen Handlungsräumen zueinander.
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Nonkonformismus — Analyse
6 Rhian Daly, Glastonbury fans hold flash mob to show ›solidarity‹ after Brexit results, in: NME. com, 26.06.2016, URL: http:// www.nme.com/news/glastonbury/ 94567#AISStb3XwKRPsuKQ.99/ [eingesehen am 20.07.2016]. 7 Siehe URL: https://www. instagram.com/p/BG_2TmtO_ H5/?taken-by=glastofest [eingesehen am 16.08.2016]. 8 Das Tutorial-Video zur Choreografie ist zu finden unter URL: https://www.youtube. com/watch?v=fhToYgwydPM [eingesehen am 20.07.2016].
FLASH- ODER SMARTMOB – DIFFERENZEN UND GEMEINSAMKEITEN Um als Gruppe für die Gruppe selbst oder ein bestimmtes (politisches) Thema Aufmerksamkeit zu erlangen, wird der im alltagssprachlichen Gebrauch häufig so benannte »Überraschungseffekt« einer Aktion genutzt.9 Das heißt: Je unerwarteter eine Handlung im Alltag erscheint, je mehr sie sich durch die Abweichung von konformen alltäglichen Routinen auszeichnet, desto wahrscheinlicher erlangt sie Aufmerksamkeit. Im Fall der Menschenansammlung zur Solidaritätsbekundung für die EU auf dem »Glastonbury Festival« versuchte eine Gruppe von gesellschaftlichen Akteuren, für ein von ihnen als wichtig erachtetes Thema durch gemeinschaftliches nonkonformes Verhalten Aufmerksamkeit zu erlangen. So verstanden lässt sich die oben angeführte 9 Insofern stellt sich am Beispiel des zu David Bowies Ehren veranstalteten TanzFlashmobs die Frage, ob ein Flashmob überhaupt noch als Flashmob gelten kann, wenn er doch bereits so lange im Vorfeld angekündigt worden ist. 10 Vgl. Richard Stivers, The Illusion of Freedom and Equality, New York 2008, S. 52. 11
Vgl. hierzu auch Carina Jasmin Englert u. Michael Roslon, Gemeinschaft für lau. Der Flashmob als kurzzeitige Form der Vergemeinschaftung, in: merz. medien + erziehung. Zeitschrift für Medienpädagogik, Jg. 54 (2010), H. 1, S. 64–68. 12
Vgl. Mario Sixtus, Flash Mobs: Wenn dir plötzlich Hunderte applaudieren, in: Spiegel Online, 28.07.2003, URL: http://www.spiegel.de/ netzwelt/web/0,1518,258913,00. html [eingesehen am 15.07.2016]; Frank Eckardt u. a., Mediacity. Situations Practices and Counters, Berlin 2008, S. 98.
und durch die Massenmedien als »EU-Solidaritäts-Flashmob« bezeichnete Aktion als für Außenstehende, Nicht-Eingeweihte plötzlich auftretender und aufmerksamkeitsgenerierender Menschenauflauf definieren. Allgemein charakterisiert, ist ein Flash-/Smartmob die kurzzeitige Ansammlung einer Menschenmasse, deren Teilnehmende sich anonym, häufig über soziale Medien, verabreden, an einem bestimmten, meist öffentlichen Ort, um dort gemeinsam eine außergewöhnliche Aktion umzusetzen.10 Thema, Ort, Zeit, Dauer sowie ein Start- und Stoppsignal eines Flash-/Smartmobs sind im Vorfeld der Aktion vorgegeben. Meist sind Ort und Zeit so gewählt, dass die Aktion über ein Geschehen hereinbricht, bestimmte (alltägliche) Routinen irritiert und auf diese Weise Aufmerksamkeit erzeugt. Im obigen Beispiel ist es die Routine des »Glastonbury Festivals«. Infolge des plötzlichen Auftretens einer Menschenansammlung, in der sich einzelne Personen auf eine bestimmte Art und Weise formieren, heben sich die Flash-/Smartmobber von den Umstehenden und ihrer Umgebung ab – bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich wieder in einzelne Personen auflösen und in ihre Umgebung und Handlungsroutinen eintauchen.11 Wichtige Kennzeichen eines Flashmobs sind seine unpolitische und spielerische Grundhaltung, weshalb er bei näherem Hinsehen eher einer Kunstperformance als einer politischen Aktion gleicht.12 Der Smartmob dagegen basiert auf einem politischen Ziel, häufig infolge gesellschaftlicher Unruhe, und möchte die Zukunft fassen, während der Flashmob lediglich die Gegen-
13 Vgl. Peter Kümmel, Der kurze Sommer der Anarchie, in: Zeit Online, 11.09.2003, URL: http://www.zeit.de/2003/38/Flasmobs/[eingesehen am 12.07.2016]; hierzu auch Englert u. Roslon.
wart feiert.13 Die Teilnehmenden eines Smartmobs finden sich demnach nicht ausschließlich aus Spaß zu einer gemeinschaftlichen Aktion zusammen, sondern verfolgen ein höheres, in der Regel politisches Ziel, für das die Smartmobber Aufmerksamkeit erlangen wollen. Anhand dieser definitorischen Carina Jasmin Englert — The eyes of the world are on …
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Abgrenzung zwischen Flash- und Smartmob wird deutlich, dass es sich bei der oben beschriebenen und fälschlicherweise durch die Medien als »Flashmob« bezeichneten EU-Solidaritätsbekundung infolge des »Brexit«-Referendums in Wirklichkeit um einen Smartmob handelt.14 Für die weiteren Betrachtungen dieses Beitrags sind allerdings nicht die Unterschiede zwischen Flash- und Smartmob wichtig, sondern deren Gemeinsamkeiten: nämlich dass sowohl Flash- als auch Smartmobs durch große Ansammlungen von Menschen, die sich zu einer von Routinen abweichenden, mithin nonkonformen gemeinsamen Aktion zusammenfinden, versuchen, Aufmerksamkeit zu erlangen. DER FLASH-/SMARTMOB ALS AUFMERKSAMKEITSGENERIERENDES (ALLTAGS-)PHÄNOMEN Als sich 2003 der erste Flashmob in Manhattan ereignete, wusste sein Initiator Bill Wasik noch nicht, dass es ab diesem Zeitpunkt weit über die Vereinigten Staaten hinaus zu unzähligen Flash- und Smartmobs kommen würde. Wasik beschrieb den Flashmob vor über 13 Jahren als ein »soziologische Experiment«, konzipiert, um sich durch eine nonkonforme Aktion über die Atmosphäre der Konformität lustig zu machen.15 Am Beispiel des Smartmobs von Glastonbury zeigt sich, dass die Masse von Menschen, die sich zu einer bestimmten Aktion zusammenfinden und gemeinschaftlich agieren, Aufmerksamkeit generiert. Doch nicht nur die große deindividuierte Menschenmenge, die an einem Flash-/Smartmob teilnimmt, zieht Aufmerksamkeit auf sich; auch das plötzliche Auftreten und die Gleichförmigkeit der Aktion in der Masse führen zur Irritation der Umstehenden und erregen Aufmerksamkeit. Die Irritation der Umstehenden entsteht darüber hinaus vor allem, indem Menschen unerwartet und – häufig damit einhergehend – nonkonform handeln. Nicht das Agieren des Einzelnen steht bei einem Flash-/Smartmob im Vordergrund, sondern die gemeinschaftliche Handlung der Masse als Ganzes, in der sich die einzelnen Teilnehmer aneinander orientieren und miteinander agieren. Es ist genau dieses kollektive Agieren, auf dem ein Flash-/Smartmob als – wenn auch nur kurzzeitige – Gemeinschaft basiert. In diesem gemeinschaftlichen Handeln werden aus dem Alltag bekannte Bewegungen auf neue Art und Weise eingesetzt. Im eingangs angeführten Beispiel formieren sich zahlreiche Personen zu einem Herz; zwölf von ihnen gruppieren sich um dieses Herz herum und tragen weiße Sterne. Diese Formation entsteht in gegenseitiger Orientierung aneinander – denn nur so wissen die SmartmobTeilnehmenden, wer wo und wie Position beziehen muss, damit ein einheitliches »Bild« in Form einer nachempfundenen EU-Flagge entsteht.
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14 Bei den drei weiteren als Flashmob angekündigten Aktionen, die nicht überraschend, sondern bereits im Vorfeld als fester Bestandteil des Festivalprogramms angekündigt gewesen sind, scheint es sich weniger um tatsächliche Flashmobs zu handeln; siehe hierzu auch das Ende dieses Beitrags. 15 Vgl. Eckardt u. a., S. 98; Stivers, S. 52.
Durch ihre Aufstellung tauchen die Smartmobber aus einer Masse auf und heben sich von den Umstehenden sowie deren alltäglichen Aktivitäten ab. Sie setzen gemeinschaftlich eine »symbolische Handlung für und vor anderen«16 mit Inszenierungscharakter um.17 Durch diesen Inszenierungscharakter wird ein Ereignis über seinen Informationsgehalt hinaus zu einem spannenden 16 Hubert Knoblauch, Das strategische Ritual der kollektiven Einsamkeit. Zur Begrifflichkeit und Theorie des Events, in: Winfried Gebhardt u. a. (Hg.), Events. Soziologie des Außergewöhnlichen, Opladen 2000, S. 33–50. 17 Vgl. Englert u. Roslon.
und interessant inszenierten Bühnenereignis, das Aufmerksamkeit für dasjenige Thema schafft, das den Smartmobbern »am Herzen liegt«. Das plötzliche Auftreten des Smartmobs, sein Überraschungsmoment, unterstützt die Generierung von Aufmerksamkeit – obwohl durchaus eine Art Drehbuch für den Ablauf eines Smartmobs existiert, in Glastonbury etwa in Gestalt der verteilten Flugblätter. Hier waren die Smartmobber zunächst ein unauffälliger Teil der Masse an Festivalbesuchern, die nichts Außerge-
Vgl. Erving Goffman, Rahmenanalyse, Frankfurt a. M. 2008, S. 19 ff.
wöhnliches taten: Sie standen vor den Bühnen, tanzten und sangen zur Musik.
19 Mit Absicht wird hier auf die Verwendung des Begriffs »abweichendes Verhalten« im Sinne von »Devianz« verzichtet, da dieses häufig mit normverletzenden Verhaltensweisen einhergeht, die in der Regel mindestens durch soziale Sanktionen abgestraft werden; vgl. Rüdiger Peuckert, Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle, in: Hermann Korte u. Bernhard Schäfers (Hg.), Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, Wiesbaden 2016, S. 127–151. In den Fällen von Flash- und Smartmobs erscheint diese Definition nicht ganz treffend, da hier mehr der Moment der Irritation im Sinne von ›gegen die Erwartung‹ im Vordergrund steht und nicht die soziale Sanktion.
beendete, woraufhin sich der Solidaritäts-Smartmob auflöste und die Smart-
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20 Vgl. Uwe Engel u. Klaus Hurrelmann, Lebensphase Jugend, Weinheim 1994, S. 167; Dies., Was Jugendliche wagen, Weinheim 1998, S. 180. 21 Marc Spescha, Rechtsbruch und sozialer Wandel. Über Ursachen und Wirkungen demonstrativer Normverletzungen im sozialen Konflikt und in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, Berlin 1988, S. 20.
Erst auf ein auditives Signal hin formierten sich die Smartmobber plötzlich zu einem Herz mit zwölf Sternen, bis ein zweites auditives Signal die Aktion mobber wieder zu normalen Festivalbesuchern wurden – ganz so, als habe der Smartmob nie stattgefunden. Irritierend und verwirrend wirken Handlungen unserer Mitmenschen immer dann, wenn wir aufgrund unserer Erfahrungen andere Erwartungen an sie gerichtet haben. Erving Goffman spricht in diesem Fall von Rahmen, in denen bestimmte Handlungen erwartet werden.18 Beispielsweise erwartet man in einem Schwimmbad niemanden mit einem Einkaufswagen am Beckenrand oder in einem Supermarkt niemanden in Badebekleidung.19 Nonkonformes Verhalten kann man insofern nicht pauschal definieren; vielmehr variiert das Verständnis nonkonformen Verhaltens entsprechend der jeweiligen Erwartungshaltungen und gesellschaftlichen Ordnungs-, Kontroll- sowie Vorsorgeinstanzen. Nonkonformes Verhalten legt gesellschaftliche Werte in übersteigerter Weise aus oder setzt sie in verfremdeter Weise um, verstößt jedoch nicht grundsätzlich gegen sie.20 Damit ist gemeint, dass Aufmerksamkeit durch Nonkonformismus erlangt wird, »[…] der sich mit mehr oder weniger emanzipatorischem Anspruch gegen herkömmliche Anschauungen und Verhaltensnormen wendet«21. Sowohl Flash- als auch Smartmobs leben von nonkonformem Verhalten bzw. von nonkonformen Handlungen, die für Außenstehende, die nicht am Flash- oder Smartmob teilnehmen, wider Erwarten zu beobachten sind und nicht mit deren Situationsdefinition übereinstimmen. Diese Irritation durch das in alltäglichen Routinen Unerwartete generiert Aufmerksamkeit. Carina Jasmin Englert — The eyes of the world are on …
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Die schnell verfügbare Masse an Menschen, die sich scheinbar plötzlich zusammenfindet und gleichförmig eine den Alltagsroutinen zuwiderlaufende nonkonforme Handlung gemeinschaftlich durchführt, erzeugt also Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit – nach Georg Franck verstanden als Zuwendung, die eine Person von anderen empfängt – ist eine knappe und begehrte Ressource. In einem Zeitalter, in dem Informationen im Überfluss existieren und es nicht mehr um die Information an sich, sondern um die Aufmerksamkeit, die diese erhält, geht, wird letztere zu einer hart umkämpften Ressource.22 Diese neuen Strukturen gehen über das Bekannte hinaus. Neben Flash-/ Smartmobs sind etwa Wikileaks oder das GuttenPlag Wiki Beispiele von Formen, mit denen neue Strukturen in einem Prozess kontinuierlich neu formulierter Geltungsansprüche und der Abgrenzung zu bereits bestehenden Strukturen geschaffen worden sind. Die Überwindung etablierter und mithin konformer Verhaltensmuster ist ein elementares Merkmal für den Prozess der Abgrenzung von alten und der Herausbildung neuer Strukturen. Nur auf diese Weise können neue Ausprägungen der Aufmerksamkeitsgenerierung, wie Flash-/Smartmobs, entstehen und sich von alten Formen der Aufmerksamkeitsgenerierung markant abheben. Mit Blick auf den Solidaritäts-Smartmob von Glastonbury fällt auf, dass die Wahl einer bestimmten Formation, in der es um die Formation als Ganze geht und nicht um den einzelnen Smartmobber, eine Deindividuation bewirkt. Nicht mehr der Einzelne, sondern die Gruppe steht im Vordergrund – und der Einzelne betrachtet sich als Teil dieser Gruppe.23 Bezüglich der Nonkonformität eines Flash-/Smartmobs zeigt sich zudem, dass diese Nonkonformität einer Handlung nur Bestand hat, solange sie von den Umstehenden als außergewöhnliche und untypische Handlung definiert wird. Sobald jedoch ein Flash-/Smartmob nicht mehr verstanden wird als Handlung, die gesellschaftliche Werte übersteigert auslegt oder verfremdet umsetzt26, und zum Bestandteil von Routinen wird, verliert er einen großen Teil seines Irritationspotenzials und wird zum »alltäglichen Mob«. Dann aber verliert der Flash-/Smartmob auch einen Großteil seines aufmerksamkeitsgenerierenden Potenzials. Beispielhaft dafür stehen die bereits
22 Vgl. Franck; Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992. 23 Vgl. hierzu bspw. Edward Diener u. a., Effects of deindividuation variables on stealing among Halloween trick-or-treaters, in: Journal of Personality and Social Psychology, Jg. 33 (1976), H. 2, S. 178–183; Leon Festinger u. a., Some consequences of deindividuation in a group, in: Journal of Abnormal and Social Psychology, Jg. 47 (1952), S. 382–389; Leon Festinger, Social Pressures in Informal Groups: A Study of Human Factors in Housing, New York 1950.
im Vorfeld des »Glastonbury Festivals« als dessen feste Programmbestandteile angekündigten Flashmobs. Diese nur noch so genannten Flashmobs traten nicht unerwartet auf, sondern vielmehr in Gestalt eines einstudierten Programmpunktes. Infolgedessen verloren sie ihren Überraschungseffekt sowie einen Gutteil ihres aufmerksamkeitsgenerierenden Potenzials.
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24 Siehe die Definition nonkonformen Verhaltens nach Uwe Engel u. Klaus Hurrelmann, Psychosoziale Belastung im Jugendalter, Berlin 1989; Dies., Jugendliche.
EINE NEUE GENERATION VON FLASH-/SMARTMOBS IM CLICKTIVISM ? In der Entstehungszeit des Smart-/Flashmobs konnten Aktionen wie Kissenschlachten auf dem Kölner Domplatz oder gemeinsame Tanzchoreografien in der Wartehalle eines großen Bahnhofs noch Aufmerksamkeit erregen – dadurch, dass sie plötzlich und unerwartet als ein bislang gesellschaftlich weitgehend unbekanntes, für die außenstehenden, nicht eingeweihten Beobachter überraschendes Phänomen auftraten. Doch mit fortschreitender Zeit und wachsender Verbreitung stieg der Bekanntheitsgrad dieses Phänomens. Zwar trat es noch teilweise unerwartet auf, war aber keine unbekannte Aktionsform mehr. Seit dem ersten Flashmob im Jahre 2003 hat sich viel verändert: Der Flash-/Smartmob ist zu einem nahezu festen Bestandteil unserer alltäglichen Wirklichkeit geworden. Daher stellt sich am Ende dieses Beitrags die Frage: Können Smart- und Flashmobs überhaupt noch als nonkonform angesehen werden? Das Potenzial des Smart- und Flashmobs, zu schockieren, aufzurütteln und zu irritieren, geht genau in dem Moment verloren, in dem er zur alltäglichen Routine in einer Gesellschaft wird. In diesem Fall provoziert ein Mob nicht mehr die Frage: »Was ist denn hier los?«27, sondern Umstehende reagieren auf ihn mit dem Gedanken: »Da wären wir wieder einmal – hier findet schon wieder ein Flashmob statt.« Wird der Flash-/Smartmob durch die starre Tradierung dieser Ausdrucksform an nachfolgende Generationen zu einer Institution des Protests bzw. Widerstands gegen vorherrschende gesellschaftliche oder politische Zustände in Gegenwartsgesellschaften, 25 Vgl. Goffman, Rahmenanalyse, S. 19 ff.
reagieren Umstehende auf einen Mob nur noch mit gelangweiltem Ach-
26 Peter L. Berger u. Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2001, S. 63.
mobs »leben«‚ geht verloren, sobald der Flash-/Smartmob in einer Gesell-
27 Falk Lüke u. Markus Beckedahl, Die digitale Gesellschaft, München 2012; Jessica Einspänner-Pflock u. a., Digitale Gesellschaft – Partizipationskulturen im Netz, Münster 2014. 28 Vgl. Carina Jasmin Englert, Schockieren!? Aufrütteln!? Irritieren!? Oder Nicht schon wieder ein Flashmob!?, in: Zum Beispiel. Beiträge zur Jugendarbeit in Südtirol und Tirol, Jg. 37 (2013), H. 2, S. 8–9.
selzucken.28 Kurzum: Das irritierende Moment, von dem sowohl Smart- als auch Flashschaft als eine legitimierte »kommunikative Ausdrucksform« im Sinne einer Institution anerkannt und verstanden wird. Gegenwärtig bedeutet dies für die Durchführung eines Flash-/Smartmobs, dass das in ihm und durch ihn vollzogene »kommunikative Agieren« immer außergewöhnlich bzw. außeralltäglich und provokativ sein muss. Insofern bleibt weiter zu beobachten und zu untersuchen, ob der Flash-/ Smartmob auch zukünftig noch als Ausdruckform, bspw. von Widerstand und Protest einer durch Entgrenzung zwischen digitaler und analoger Umgebung gekennzeichneten Gesellschaft,29 verstanden werden kann oder ob er zum festen Bestandteil des alltäglichen Lebens wird und sein aufmerksamkeitsgenerierendes Potenzial allmählich verliert.30 Aktuell bilden sich Carina Jasmin Englert — The eyes of the world are on …
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neue Formen des Flash-/Smartmobs und der Partizipation heraus, welche die Menschen nicht mehr »analog vor Ort« versammeln, sondern zu »digitalen Menschenansammlungen« führen. Clicktivism heißt das Phänomen, unter dem bereits seit einigen Jahren im alltagssprachlichen Gebrauch »the use of social media and other online methods to promote a cause«31 verstanden wird. Zum Beispiel existiert ein soziales Netzwerk namens »lifeshot. the digital flashmob!«, in dem die Netzwerk-Nutzer zum Beispiel aufgefordert werden, alle zu demselben Zeitpunkt ein Foto ihres gerade erlebten Moments zu erstellen und hochzuladen.32 Interessant wird daher in Zukunft zu beobachten sein, welches Potenzial digitale Flashmobs entfalten können. Eines ist jedoch bereits zu Beginn dieses Beitrags am Beispiel der Mobs auf dem »Glastonbury Festival« deutlich geworden: Durch die Koexistenz von digitaler und analoger Alltagsumgebung werden im digitalen Zeitalter neben Informationen auch Fotos, Videos und damit Eindrücke, die von den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern wahrgenommen werden können, zahlreicher. Infolgedessen steigt die Konkurrenz am Markt der Aufmerksamkeit und es wird zunehmend schwieriger, für ein Thema oder eine Aktion Aufmerksamkeit zu erlangen. So wird Aufmerksamkeit zu einer immer härter umkämpften Ressource – auch und insbesondere für alle Flash- und Smartmobber.33
Carina Jasmin Englert ist promovierte Kommunikationswissenschaftlerin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Medienwirkungsforschung (Governance durch Medien) in Zusammenhang mit Mediendarstellungen von Verbrechensaufklärung (CSI-Effekt). Aktuell beschäftigt sie sich mit der Wechselwirkung zwischen analogen und digitalen Medienumgebungen und dem Einsatz von Social Media in der (Polizei-)Pressearbeit.
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29 Vgl. Daniel Chandler u. Rod Munday, A dictionary of social media, Oxford 2016, URL: http://www.oxford reference.com/view/10.1093/ acref/9780191803093.001.0001/ acref-9780191803093-e184?rskey=JgG3Ne&result=184 [eingesehen am 15.08.2016]; vgl. auch Micah White, Click tivism is ruining leftist activism, in: The Guardian, 12.08.2010.
30 Siehe URL: http://www. lifeshot.eu/ [eingesehen am 15.08.2016]. 31 Hierzu auch Jörg Bernardy, Aufmerksamkeit als Kapital. Formen des mentalen Kapitalismus, Marburg 2014; weiterführend zur Aufmerksamkeitsökonomie im Netz – ein bereits seit Jahrzehnten behandeltes Thema: Michael H. Goldhaber, Prominenz statt Geld. Die Aufmerksamkeits-Ökonomie und das Netz – Teil I, in: Telepolis, 27.11.1997, URL: http://www. heise.de/tp/artikel/6/6195/1.html [eingesehen am 20.07.2016].
ICH BIN EHER SO MAINSTREAM VON DER LUST AM GENAUSO-SEIN ΞΞ Inga Borchard / Silke Borgstedt
Als im Jahr 2014 eine New Yorker Trendagentur in einem recht kurzen, aber reich bebilderten Essay Normcore zum neuen Trend erklärte, war die Verwunderung groß. Anpassung und Normalität sollten cool sein, möglichst unauffällige Kleidung zu tragen gar der letzte Schrei? Das erschien so paradox, dass zunächst einmal geklärt werden musste, ob das nun wirklich ein neuer (Mode-)Trend sein könne oder, womöglich, nur ein Witz.1 Vertreter der Marketingagentur KHole, die als Schöpfer dieses Trends gelten, erläuterten derweil, dass es dabei keineswegs nur um Mode ginge, sondern um eine Geisteshaltung – darum, »situationally appropriate« zu sein.2 »DAFÜR« ALS NEUES »DAGEGEN«? Normcore oder Acting basic wurde als Reaktion auf das vermeintlich problematische Phänomen des »Mass Indie« gedeutet: Versuchen alle möglichst 1 Vgl. Thomas Gorton, Everyone’s getting normcore wrong, say its inventors, in: Dazed Digital, 05.03.2014, URL: http://www.dazeddigital.com/ artsandculture/article/19118/1/ everyones-got-normcore-totally-wrong-say-its-inventors/ [eingesehen am 22.08.2016]; Katherine Brooks, The Real Meaning Of Normcore, The Fashion Trend That Went Oddly Viral, in: The Huffington Post, 03.06.2014, URL: http://www. huffingtonpost.com/2014/03/06/ normcore_n_4912788.html [eingesehen am 22.08.2016]. 2 KHole & BOX 1824, Youth Mode: A Report on Freedom, New York 2013, URL: http://khole.net/dl?v=4 [eingesehen am 22.08.2016].
individuell zu sein, sind am Ende doch wieder alle gleich. Heute könne sich nun genau derjenige abheben, der nicht mehr versucht, sich abzuheben: »Hav ing mastered difference, the truly cool attempt is to master sameness.« Wenn nun offenbar junge, trendbewusste Urbanites nach Anpassung streben, dann überrascht nicht die Frage, wie es denn um den jugendlichen Nonkonformismus stehe, der sich bislang als zentrales Erzählprinzip durch die Beschreibung junger Generationen gezogen hat. Die Lebensphase Jugend ist – zumindest seitdem sie Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ist – ein Synonym für Unangepasstheit und Rebellion. In der jüngeren Vergangenheit mehrten sich allerdings vor allem journalistische Alltagsbeobachtungen, dass diese Zeiten vorbei seien.3 Wird Jugend in Deutschland heute als angepasst, zielstrebig, leistungsorientiert und auf das eigene Vorankommen konzentriert beschrieben, schwingt häufig ein rhetorisches »leider« mit. Auch deshalb, weil es sich bei den Autorinnen und Autoren in der Regel um Vertreterinnen und Vertreter einer Generation handelt, deren Jugend – zumindest aus eigener Perspektive – selbst vom Widerstand geprägt gewesen ist.
3 So bereits Jens Jessen, Die traurigen Streber, in: Die Zeit, 28.08.2008.
Aus Sicht der einstigen Dissidenten, die sich in der APO, den Neuen Sozialen Bewegungen oder den neu gegründeten Grünen sammelten, erscheint
INDES, 2016–3, S. 79–86, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X
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die heutige Jugend als »brav, […] unpolitisch und vor allem konservativ […], unheroisch, pragmatisch und widerstandslos angepasst«4; während sie sich selbst als »Prototyp all dessen empfanden, was Jugend seitdem aus ihrer Sicht zu sein hat: Politisch engagiert, idealistisch und nonkonformistisch«5. Diese rebellische Generation, die aufgrund ihrer Widerständigkeit damals ein negatives Image zugewiesen bekam, übt nun selbst den Fingerzeig. Heute gilt die nicht-rebellische Jugend als Feindbild. Somit hätte sich der intergenerationelle Blick in seiner Struktur nicht verändert: Jugend bedeutet offenbar immer noch eine Abwendung von gerade jenen Werten, die für das Aufwachsen der Älteren und deren eigene Identität prägend gewesen sind. MODERNE WERTESYNTHESEN UND DER WUNSCH NACH ORIENTIERUNG Ein zentraler Befund der aktuellen Sinus-Jugendstudie lautet, dass die heute 14- bis 17-Jährigen mehr denn je so sein wollen »wie alle«. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass die für Jugendliche typischen Abgrenzungsbemühungen gegenüber der Erwachsenenwelt immer öfter ausbleiben – Werteprofile von Erwachsenen und Jugendlichen unterscheiden sich heute kaum mehr. Rebellion in Form jugendlicher Subkultur als Reaktion auf eine erwachsene und etablierte Mainstream-Kultur ist mittlerweile eher die Ausnahme als die Regel. »Im Vergleich zur Studie 2012 ist dabei wirklich neu, dass der Begriff Mainstream kein Schimpfwort mehr ist. Im Gegenteil – er ist ein Schlüsselbegriff im Selbstverständnis und bei der Selbstbeschreibung. Diese positive Bezugnahme auf den Begriff kann als neue Sehnsucht nach Normalität interpretiert werden.«6 Um einzuschätzen, ob dies bereits mit Nonkonformismus gleichzusetzen ist, ist eine genauere empirische Betrachtung der tatsächlich gelebten Werte bei den heutigen Jugendlichen erforderlich. Mithilfe verschiedener qualitativer sozialwissenschaftlicher Verfahren zeichnet die Sinus-Jugendstudie alle zwei Jahre ein solches Wertepanorama und kommt 2016 zu dem Schluss, dass sich »die breite Mehrheit auf einen […] verbindlichen Wertekanon verständigt. Hierzu zählen vor allem Werte, in denen der Wunsch nach Halt und Orientierung zum Ausdruck kommt, wie Gemeinschaft, Familie, emotionale und materielle Sicherheit, wirtschaftliche Stabilität bzw. Wohlstand, Planbarkeit sowie die klassischen Pflicht- und Akzeptanzwerte (z. B. Fleiß, Leistung, Pflichterfüllung, Bescheidenheit, Anpassungsbereitschaft).«7 So weit, so stimmig hinsichtlich der Eingangsthese. Diese eher bürgerlichen bis traditionellen Werte werden im jugendlichen Wertekanon jedoch ergänzt um hedonistische Leitideen und Prämissen der Selbstentfaltung,
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4 Cornelia Koppetsch: Die Wiederkehr der Konformität? Wandel der Mentalitäten – Wandel der Generationen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 64 (2014), H. 49, S. 37–43, hier S. 37. 5 Ebd., S. 40. 6 Marc Calmbach u. a., Wie ticken Jugendliche 2016. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Wiesbaden 2016, S. 475. 7
Ebd., S. 460.
wodurch sie ein neues Gesicht bekommen bzw. neue Wertesymbiosen eingehen. Die Werthaltung Jugendlicher folgt heute weniger einer »Entwederoder-Logik« als vielmehr einer »Sowohl-als-auch-Logik«. Für einen heutigen Jugendlichen stellt dementsprechend keinen Widerspruch mehr dar, einerseits fleißig, pünktlich und bescheiden sein zu wollen und andererseits zugleich Nächte durchzufeiern, Tattoos cool zu finden und manche Drogen jenseits von Alkohol und Cannabis als interessant zu bezeichnen. Jugendliche bewältigen die scheinbaren Widersprüche zwischen materiellen und postmateriellen Werten mühelos: Individueller Wohlstand und Gemeinwohl werden ebenso wenig als Widersprüche aufgefasst wie Luxus und Nachhaltigkeit oder Gerechtigkeit und Besitz. »Entscheidend dabei ist aber: Nicht allen ist alles gleich wichtig im Leben, und nicht jeder Wert wird von allen gleichermaßen hervorgehoben und gelebt.«8 Verschiedene Wertekonfigurationen können heute problemlos parallel existieren und neue Synthesen bilden, die im Resultat ein vielfältiges Bild von Wertorientierungen offenbaren. In einer hochgradig differenzierten Gesellschaft sind universale Generationendiagnosen deshalb auch längst hinfällig geworden. Vielmehr muss es darum gehen, die gleichzeitig existierende Vielfalt sinnvoll zu beschreiben – das gilt für die Alterskohorte der Jugend8 Ebd., S. 458.
lichen ebenso wie für die Gesamtgesellschaft. Inga Borchard / Silke Borgstedt — Ich bin eher so Mainstream
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DAS MODELL DER SINUS-LEBENSWELTEN ALS LESEHILFE FÜR DIE WERTEVIELFALT In der Systematik der Sinus-Milieuforschung werden für die Jugendlichen sieben Lebenswelten identifiziert und beschrieben. Für jede Lebenswelt ist jeweils ein Set aus Werthaltungen typisch. Die nachstehende Grafik positioniert diese Lebenswelten in einem an das bekannte Sinus-Milieumodell angelehnten zweidimensionalen Achsensystem, in dem die vertikale Achse den Bildungsgrad und die horizontale Achse die normative Grundorientierung abbildet. Je höher eine Lebenswelt in dieser Grafik angesiedelt ist, desto gehobener ist die Bildung; je weiter rechts sie positioniert ist, desto moderner im soziokulturellen Sinn ist die Grundorientierung. GRAFIK MODELL DER LEBENSWELTEN Innerhalb dieses Modells werden Idealtypen im soziologischen Sinn beschrieben, d. h. Werthaltungen, Lebensstile, Alltagsroutinen und ästhetische Präferenzen werden zu übergeordneten Mindsets verdichtet. Diese Mindsets beschreiben Gruppen Gleichgesinnter, die sich in ihrer Lebensauffassung und Ästhetik ähneln. Auch wenn aktuell für fast alle Lebenswelten ein Austarieren von Anpassungs- und Veränderungswerten symptomatisch ist, lassen sich lebensweltliche Schwerpunkte identifizieren, welche die Waagschale entweder in Richtung Anpassung (adaptiv-pragmatische und konservativ-bürgerliche Jugendliche) oder Abgrenzung (experimentalistische und expeditive Lebenswelt) kippen lassen. AUF DER SUCHE NACH STANDARDS UND SPIELREGELN: DIE ADAPTIV-PRAGMATISCHE UND DIE KONSERVATIV- BÜRGERLICHE LEBENSWELT Adaptiv-pragmatische Jugendliche kombinieren bürgerliche Grundwerte und Tugenden wie Ehrlichkeit, Respekt, Vertrauen, Pünktlichkeit und Fleiß mit modernen und hedonistischen Werten wie Freiheit, Offenheit, Unvoreingenommenheit, Spaß und Humor. Anpassungs- und Kompromissbereitschaft sowie Realismus bezeichnen sie als ihre Stärken. Sie wollen vor allem ein sicheres und geordnetes Leben, als wichtigster Anker gilt ihnen die Familie. Gleichzeitig akzeptieren sie klaglos, dass ihnen in Zukunft ein hohes Maß an Flexibilität und Selbstmanagement abverlangt werden wird. Die gesellschaftliche Ordnung wird als gegeben betrachtet und das Wirtschafts- und Sozialsystem wird geschätzt. Adaptiv-pragmatische Jugendliche sehen sich als verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger, die künftig pünktlich Steuern zahlen und dem Staat nicht auf der Tasche liegen wollen. Ideologien
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hingegen stehen diese Jugendlichen skeptisch gegenüber. Statt an Utopien orientieren sie sich am Machbaren. Sie basteln nicht an Entwürfen für eine »bessere Welt«, sondern versuchen, ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft zu finden und mit den Gegebenheiten zurechtzukommen. Konservativ-Bürgerlichen sind im Unterschied dazu Anpassungs- und Ordnungswerte sowie Kollektiv- und soziale Werte am wichtigsten. Hedonistische Werte sind zwar jugendtypisch und daher auch bei KonservativBürgerlichen verbreitet; allerdings rangieren sie in ihrer Bedeutung deutlich hinter einer Vielzahl von Werten des traditionell-bürgerlichen Tugendkatalogs: Bodenständigkeit, Vernunft, Standhaftigkeit, Sachlichkeit, Beständigkeit, Bescheidenheit, Gewissenhaftigkeit, Zielstrebigkeit, Fleiß, Treue, Gehorsam, Disziplin, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Höflichkeit, Ordnungsliebe, Sauberkeit, Harmonie. Im Werteprofil der konservativ-bürgerlichen Jugendlichen spiegeln sich ein ausgeprägtes Bewusstsein für die bewährte gesellschaftliche Ordnung und der starke Wunsch, an dieser festzuhalten. Sich selbst beschreiben sie als unauffällig, sozial, häuslich, gesellig, ruhig und geerdet. Auf die Frage nach der Lebensmaxime werden häufig die Antworten »Nichts überstürzen« und »Alles in Maßen« gegeben. Der Wunsch, die geltenden Konventionen fortzuschreiben, zeigt sich vor allem in dem sehr deutlich formulierten Bedürfnis nach einer »Normalbiografie« (Schule, Ausbildung, Beruf, Ehe, Kinder). Im Vergleich der Lebenswelten ist der Wunsch nach einem geradlinigen, voraussehbaren Lebenslauf bei den Konservativ-Bürgerlichen mit am stärksten ausgeprägt. NONKONFORMISMUS ALS DISTINKTIONSMERKMAL: DIE EXPEDITIVEN UND DIE EXPERIMENTALISTISCHEN HEDONISTEN Vor allem Experimentalistische Hedonisten finden spannend, extreme Positionen einzunehmen. Bei ihnen ist die Affinität zu Jugendszenen daher auch am höchsten. Von allen Lebenswelten äußern sie den Wunsch, »anders leben« zu wollen, am deutlichsten. Das Subkulturelle, »Undergroundige«, Abseitige zieht sie an; Menschen, die sich Konventionen verweigern, faszinieren sie. Das Spießbürgerliche, Normale, Karrieristische, Konventionelle langweilt sie hingegen. Soweit ihnen möglich ist, versuchen sie sich von dem aus ihrer Sicht langweiligen Mainstream zu distanzieren und sich von den Vorstellungen einer bürgerlichen Normalperspektive zu emanzipieren. Ihnen ist wichtig, sich durch eigenes kreatives Schaffen abzuheben, zusammen mit anderen etwas auf die Beine zu stellen und dabei einen eigenen bzw. szenespezifischen Stil zu entwickeln – »Selbermachen statt nur blöd konsumieren«. Typisch für diese Lebenswelt ist eine starke Gegenwartsorientierung, Inga Borchard / Silke Borgstedt — Ich bin eher so Mainstream
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der Fokus ist auf das Hier und Jetzt gerichtet. Vorschriften und Pläne nerven, der Wunsch nach ungehinderter Selbstentfaltung ist groß. Sich Selbstdisziplin und Selbstkontrolle abzufordern, liegt Experimentalistischen Hedonisten hingegen oft fern. Ihre Ankerwerte sind Freiheit, Individualität, Selbstverwirklichung, Spontaneität, Kreativität, Risikobereitschaft, Spaß, Genuss und Abenteuer. Typisch für die Expeditiven wiederum ist ein buntes Werte-Patchwork. Sie legen großen Wert auf eine Balance, in der weder Selbstverwirklichung, Selbstentfaltung, Selbstständigkeit sowie Hedonismus noch Pflicht- und Leistungswerte wie das Streben nach Karriere und Erfolg, Ehrgeiz und Fleiß zu kurz kommen. Unter allen Jugendlichen gehören sie zu den flexibelsten und mobilsten. Den eigenen Erfahrungshorizont ständig zu erweitern, ist eine ihrer wichtigen Lebensmaximen; sich keinen Kontrollen und Autoritäten zu unterwerfen, eine andere. Zu Fügsamkeits- und Unterordnungswerten haben sie eine ebenso große Distanz wie zu asketischen Werten und konservativreligiösen Moralvorstellungen. Unverhandelbare Ordnungen und Konventionen sowie »genormte Identitäten« sind ihnen ein Gräuel. Steht die freie Entfaltungsmöglichkeit Einzelner infrage, werden expeditive Jugendliche skeptisch, gehen aber eher auf Distanz, als dass sie rebellieren. Ihre Distinktionsbestrebungen gestalten sich weniger als aktives oder gar missionarisches Engagement, sondern wurzeln wie selbstverständlich in ihrer vermeintlich offensichtlichen intellektuellen und stilistischen Überlegenheit – vor allem gegenüber Gleichaltrigen. Expeditive grenzen sich von den Merkmalen bürgerlicher Etabliertheit ab, sie haben klare Ziele für ihr Leben, möchten aber nicht an- sondern weiterkommen. SEHNSUCHT NACH SPIELREGELN UND EIN MANGEL AN VISIONEN Unabhängig davon, wie sehr entweder Anpassung oder Anderssein in den jeweiligen Lebenswelten im Vordergrund steht, hat Nonkonformität ihr Gesicht über die Zeit verändert. Nonkonformität meint für Jugendliche heute nicht mehr unbedingt eine auf das gesellschaftspolitische System bezogene Anti-Haltung, die den gängigen Normen und Regeln widerspricht und in entsprechenden kulturellen, sozialen und politischen Aktivitäten mündet. Nonkonformität bedeutet vor allem stilistische Abgrenzung. Anders zu sein: Das ist ein Teil der Selbstinszenierung. Nonkonformität geht gegenwärtig folglich nicht unbedingt mit politischem Engagement und kämpferischem Widerspruch gegen bestehende Ungerechtigkeiten einher. Kritik am System und der Einsatz für Gerechtigkeit spielen zwar durchaus noch eine Rolle – dies insbesondere in der Lebenswelt der sozialökologischen
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Jugendlichen, die insofern als eine im ganz herkömmlichen Sinne »nonkonforme Gruppe« erscheinen. Allerdings suchen nicht einmal diese Jugendlichen die zugespitzte Abgrenzung: Sie üben zwar fundamentale Kritik am politischen und sozialen System und befürworten Demonstrationen und politisches Engagement, lehnen jedoch »Stress« und gezielte Rechtsbrüche ab. Sie setzen auf Solidarität, Gemeinsamkeit und Aushandlung statt auf die – aus ihrer Sicht – destruktive Suche nach immer neuen Feindbildern. Insgesamt ist bei den Jugendlichen mithin eine große Sehnsucht nach Spielregeln und Klarheit zu beobachten. Fehlendes politisches Engagement liegt nicht in einem grundsätzlichen Mangel an Interesse begründet; vielmehr resultiert es aus einer als übermäßig wahrgenommenen Komplexität und Unübersichtlichkeit der Informationen über politische Themen. Das prinzipielle politische Interesse hingegen ist auch in der aktuellen Shell-Studie wieder deutlich angestiegen.9 Im Gesamtkontext der Interviews, die wir mit Jugendlichen für unsere Studien führen, zeigt sich immer stärker, dass den Jugendlichen die großen Themen, vor allem aber die visionären Lösungen fehlen. Geht man davon aus, dass es vor allem auch ein emotionales Involvement braucht, um die Motivation aufzubringen, sich für oder gegen etwas zu engagieren, wäre ein solches jedoch ein elementares Erfordernis. Doch gibt es – noch einmal – kaum gesellschaftliche Themen, denen sich Jugendliche heute leidenschaftlich und gemeinsam zuwenden. Allerdings ist dabei zu betonen, dass gerade die 14- bis 17-Jährigen größtenteils noch auf der Suche nach den für sie relevanten Themen sind und sich im Prozess der politischen Meinungsbildung noch auf einer recht offenen Suche befinden. WANDEL DURCH ANPASSUNG? Jugendliche Wertewelten sind vor allem vielfältig. Nonkonformität ist keine übergeordnete Haltung mehr, sondern hat sich partikularisiert – sie kann sowohl die politische Einstellung als auch den ästhetischen Stil kennzeichnen. Charakteristisch für Jugendliche heute ist vor allem, dass sich keine klaren »Schwarz-Weiß-Bilder« ausfindig machen lassen; vielmehr werden vordergründig widersprüchliche Aspekte miteinander zu in sich logischen 9
War im Jahr 2002 mit dreißig Prozent Zustimmung ein Tiefpunkt erreicht worden, bezeichnen sich heute wieder 41 Prozent als politisch interessiert; vgl. Mathias Albert u. a., Jugend 2015, Frankfurt a. M. 2015, S. 20.
Lebenskonzepten vereinigt. Dies ist Fluch und Segen zugleich. Man mag das pragmatische Umschiffen von Widersprüchen als egotaktisches Manövrieren brandmarken und die heutige Jugend pauschal als »spießig« und »angepasst« bezeichnen, übersieht dabei aber den offenkundigen Erkenntnisprozess, den junge Menschen heute fest im Denken verankert haben: Die übergeordnete Inga Borchard / Silke Borgstedt — Ich bin eher so Mainstream
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Vorstellung davon, was alles »falsch läuft«, lässt sich nicht mehr auf vereinfachende Schablonen herunterbrechen. Einzelne Themen entfalten heute kaum mehr die übergreifende Wirkmacht, wie vielleicht zu Zeiten der Studentenbewegung um 1968. Es gibt zahlreiche Anliegen, die von ihrer jeweils eigenen Lobby vorangetrieben werden und außerdem enorm an Komplexität hinzugewonnen haben. Den Feind zu identifizieren, ist um ein Vielfaches schwieriger geworden. Somit können auch die Erwachsenen gar nicht mehr eine grundsätzliche Gegenhaltung zum eigenen Denken repräsentieren. Sie sehen sich in ihrem Denken und Handeln selbst in unauflösbare Widersprüche zwischen Fairness und Ungerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit, Lokalität und Globalität verstrickt. Wie eingangs angedeutet, kann es heute wenn schon nicht als rebellisch, so doch als en vogue gelten, sich anzupassen. Phänomene wie Normcore verdeutlichen das ebenso wie die Reputationsgewinne von Eigenheim und Familiengründung – natürlich im ultramodernen und digitalisierten Gewand: Blogs zum Thema Essen und Einrichten sind inflationär und der Schrebergarten ist bei jungen Großstädtern beliebter denn je. Anpassung und Wandel schließen sich im Übrigen nicht zwangsläufig aus – urbanes Gärtnern etwa wird in Teilen durchaus als eine revolutionäre Praxis gesehen. Nonkonforme Bewegungen und Ansätze zur gesellschaftlichen Veränderung müssen heute abseits der altbekannten und gewohnten Orte der Umwälzung gesucht werden – und sie können sich auch durch die Hinwendung zum Konventionellen auszeichnen. Einer Generation, die mit den Auswirkungen der Globalisierung, den Symptomen des Terrorismus und selbstverständlicher sowie dauerhafter digitaler Vernetzung aufgewachsen ist, kann man letztlich auch gar nicht vorwerfen, dass sie sich nach Geborgenheit und Entschleunigung, nach Harmonie und Wärme sehnt.
Inga Borchard, geb. 1981, studierte Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und Medienwissenschaften an der Technischen Universität Berlin. Sie arbeitet als Studienleiterin für das SINUS-Institut.
Dr. Silke Borgstedt, geb. 1975, studierte Musikwissenschaft, Psychologie und Erziehungswissenschaft an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg und an der Technischen Universität Berlin und promovierte 2007 an der HumboldtUniversität zu Berlin. Sie ist Direktorin für Sozialforschung am SINUS-Institut.
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Nonkonformismus — Analyse
DER UNDEMOKRATISCHE NONKONFORMIST ERNST JÜNGERS WALDGÄNGER ΞΞ Wolfgang M. Schmitt
Jeden Morgen nahm Ernst Jünger ein Bad. Währenddessen trank er ein Glas Sekt, gewissermaßen ein Prosit auf die décadence. Im Ernst-Jünger-Haus in Wilflingen ist das Badezimmer noch heute zu besichtigen. Der Duschvorhang ist rosa, ebenso der Teppichvorleger und die Handtücher. Man denkt bei diesen wenigen Quadratmetern der Spießigkeit vielleicht an eine Szene aus einem Heinz-Erhardt-Film und will nicht glauben, dass hier der in »Stahlgewittern« gehärtete Autor planschte. Immerhin eiskalt musste das Wasser sein – und das auch noch im Alter von hundert Jahren. Ganz verschwunden war die soldatische Attitüde also nicht; wenngleich die bürgerliche Nasszelle mit rosafarbenen Akzenten jegliche Kasernenatmosphäre negierte. Jüngers spartanischer Gestus erhielt dadurch beinahe etwas Possierliches, als sei der Krieger nun domestiziert. Der große Nonkonformist, den man bis heute in Jünger sehen will, zeigt sich in diesem Ambiente jedenfalls nicht. Die Reputation, die der buchstäbliche Jahrhundertschriftsteller in der Bundesrepublik genoss, war beachtlich: Bis zu seinem Tod im Jahr 1998 empfing Jünger in Oberschwaben bedeutende Gäste aus dem In- und Ausland: Bruce Chatwin, Jorge Luis Borges, Heiner Müller, Martin Heidegger, sogar François Mitterrand, der gemeinsam mit Helmut Kohl und Frank Schirrmacher eine Stippvisite machte. 1959 erhielt der Träger des militärischen Ordens »Pour le Mérite« das Große Bundesverdienstkreuz – auf das mit Stern musste er bis 1977 warten –, und auch sonst wurde er regelmäßig artig mit Preisen bedacht – wenngleich es immer wieder Proteste gegen solche Ehrungen gab. Während Jünger 1982 seine Dankesrede für den »Goethepreis« in der Frankfurter Paulskirche hielt, demonstrierte man draußen lautstark. In der Tat hatte Jünger viele Feinde in der Bundesrepublik. Die meisten jungen Autoren hielten Abstand, die Literaturkritik ironisierte, ignorierte oder verteufelte ihn weitgehend und in der Öffentlichkeit haftete ihm der Ruf des Umstrittenen und Berüchtigten an. Fritz J. Raddatz sah in ihm den Verfasser von »Herrenreiterprosa«. Dies kam Jünger nicht ungelegen, konnte er dadurch doch mühelos die Rolle des Widerständigen und Unangepassten
INDES, 2016–3, S. 87–95, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X
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weiterspielen, ohne sich explizit politisch äußern oder gar demonstrativ engagieren zu müssen. War Jünger in den Jahren der Weimarer Republik Teil der »Konservativen Revolution« (Armin Mohler) gewesen – die nationalistisch-revolutionäre, antidemokratische Texte publizierte und dabei nicht nur zur Tat aufrief, sondern gelegentlich auch zu selbiger schritt –, verabschiedete er sich davon bereits vor 1933. Er zog von Berlin in die Provinz und übte sich in »Innerer Emigration«. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb er, wie er es gerne nannte, auf »verlorenem Posten« und stilisierte sich als Solitär. Eine ähnliche Strategie verfolgten auch seine Freunde Carl Schmitt und Martin Heidegger, die im Gegensatz zu ihm jedoch tief in den Nationalsozialismus verstrickt gewesen waren. »Von der Tat zur Gelassenheit« – so charakterisiert der Historiker Daniel Morat diese Entwicklung in seiner gleichnamigen Studie.1 DER WALDGÄNGER SIND VIELE Parallel zu diesem Rückzug aus Politik und Öffentlichkeit entwickelte Jünger eine literarische Leitfigur: den Waldgänger. Wer oder was ist dieser Waldgänger? Jüngers 1952 erschienener Essay »Der Waldgang« gibt darauf eine indifferente Antwort: »Der Waldgänger ist kein Soldat. Er kennt nicht die soldatischen Formen und ihre Disziplin. Sein Leben ist zugleich freier und härter als das soldatische. Die Waldgänger rekrutieren sich aus jenen, die auch in aussichtsloser Lage für die Freiheit zu kämpfen entschlossen sind.«2 Er habe etwas von einem Partisanen, sei eher Anarch als Anarchist, halte zu den Mächtigen Distanz, sei rebellisch, aber kein Revolutionär. Weiter raunt es im Text verschwörerisch: »Er führt den kleinen Krieg entlang der Schienenstränge und Nachschubstraßen, bedroht die Brücken, Kabel und Depots. […] Der Waldgänger besorgt die Ausspähung, die Sabotage, die Verbreitung von Nachrichten in der Bevölkerung. Er schlägt sich ins Unwegsame, ins Anonyme, um wieder zu erscheinen, wenn der Feind Zeichen von Schwäche zeigt. Er verbreitet eine ständige Unruhe, erregt nächtliche Paniken.«3 Diese Charakterisierung ist in ihrer Unschärfe bedeutungsoffen. Es fällt nicht schwer, sich darunter Whistleblower, Rebellen oder auch Terroristen vorzustellen. Angesprochen fühlen dürfen sich ebenso kritische Intellektuelle wie klandestin lebende Dichter. Der von thesenhaften Setzungen geprägte Essay
1 Morat, Daniel, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960, Göttingen 2008.
wartet mit einer Vielzahl von – teilweise widersprüchlichen – Definitionen auf. Diese Polyvalenz macht das Konzept des Waldgängers sowohl gefährlich als auch harmlos – kann doch jeder sich seine Idiosynkrasien, von denen er glaubt, dass sie ihn als Nonkonformisten ausweisen, bestätigen lassen.
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Nonkonformismus — Analyse
2 Ernst Jünger, Der Waldgang, Stuttgart 1980, S. 74. 3 Ebd., S. 75.
Der Waldgänger beklagt den Verlust des Mythos, den Verfall der Sprache; er kritisiert die zunehmende Technisierung, die dem Menschen seine Souveränität raubt. Ein erster Höhepunkt dieser Entwicklung war, so Jünger, der Untergang der »Titanic« – denn seither stehe der Einzelne »nicht mehr in der Gesellschaft wie ein Baum im Walde, sondern er gleiche dem Passagier«, der in einen »Verkehrsunfall« gerate und dem somit die Ehre eines tragischen Todes verwehrt bleibe. Das nonkonformistische Waldgänger-Konzept ist ein radikal individualistisches, das selbstredend den Massentourismus ablehnt und sich herrschenden Normen und Gesetzen zu entziehen scheint. Diese Lebensweise empfehle sich auch für den dichterischen Umgang mit Sprache; diese lebe »nicht aus eigenen Gesetzen, denn sonst beherrschten Grammatiker die Welt. Im Urgrund ist das Wort nicht Form, nicht Schlüssel mehr. Es wird identisch mit dem Sein.«4 Dieser platonisch angehauchte Mystizismus entpolitisiert und romantisiert zugleich die Figur des Waldgängers und erlaubt Jünger, mehr zu verschweigen als zu sagen. Immer wieder ist deshalb der Vorwurf laut geworden, dass der Widerstandsgestus vor allem eine Pose sei: Nichts weiter als ein modischer Nonkonformismus, der aber letztlich jedes Risiko scheue, attestierten Kritiker und Weggefährten Jüngers. Carl Schmitt veranlasste »Der Waldgang« 1961 sogar zu einem Spottgedicht: »[…] Zwar ist es nicht direkt spazieren und mehr gestrafftes Promenieren; doch ist das Tragen hoher Orden bereits désinvolture geworden. […] ihr Waldgang findet, Blatt für Blatt, auf waldholzfreien Bütten statt. 4 Ebd., S. 95.
Fahr fort, ihr tapfern Wunderknaben! Schenkt uns noch viel eurer Gaben!
5 Schmitts Gedicht »Der Waldgang« ist vollständig veröffentlicht in: Ernst Jünger u. Carl Schmitt, Briefwechsel 1930–1983, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 2012, S. 872–873. 6 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947– 1951, hg. v. Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991, S. 278. 7
Ebd., S. 286.
Erlahmt vor keinem Hindernis: der Nobelpreis ist euch gewiß!«5 Schmitt wirft Jünger und besonders dem »Waldgang« einen bundesrepublikanischen Konformismus vor. Jünger sei »eine Primadonna geworden«6, »ein Brief-, Traum- und Tagebuch-Verwerter«7, der seine früheren Ideale verraten habe. Von sich selbst hingegen glaubt Schmitt, der letzte Aufrechte zu sein: »Warum lassen Sie sich nicht entnazifizieren? Erstens: weil ich mich nicht gern vereinnahmen lasse und zweitens, weil Widerstand durch Mitarbeit Wolfgang M. Schmitt — Der undemokratische Nonkonformist
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eine Nazi-Methode[,] aber nicht nach meinem Geschmack ist.«8 Tritt Jünger zum Hitler-Regime in größtmögliche Distanz – auch, damit das gegen ihn verhängte Publikationsverbot aufgehoben wird –, arbeitet Schmitt stattdessen an seinem eigenen Narrativ vom großen Nonkonformisten, dem der Waldgänger zu bürgerlich und zu romantisch erscheint. Ohne sich auf die kruden Exkulpationsversuche Schmitts einlassen zu wollen, ist die Diagnose vom eher mit dem Mainstream konform gehenden Waldgänger nicht falsch; zumal das Konzept dank seiner Ambivalenz vielen Deutschen die Möglichkeit gab, sich nachträglich als vermeintliche Widerstandskämpfer gegen das Dritte Reich zu inszenieren. Dennoch darf der Waldgänger, auch wenn das naheliegen könnte, auf keinen Fall mit der Person des Autors verwechselt werden. So radikal wie der Waldgänger war Jünger in der Bundesrepublik nie. Man muss nicht gleich vom »Tod des Autors« (Roland Barthes) sprechen, um festzustellen, dass ein Text über seinen Schöpfer und dessen politische Haltung hinausweisen kann. Jünger ist ein rechter Autor – obgleich eine genaue Bestimmung schwerfällt, da bei ihm konservative, reaktionäre, nationalistische, anti-demokratische und revolutionäre Tendenzen über all die Jahrzehnte verschwimmen. Sein Werk aber, das erkannten bereits einige Intellektuelle in den 1970er Jahren, ist ebenfalls für linkes Denken von Interesse. Im besonderen Maße gilt das für den kontrovers rezipierten und diskutieren Essay »Der Waldgang«. Ohne Zweifel ist »Der Waldgang« eine Art Anleitung zum Widerstand, ein Vademecum für widerständige Geister. Der Waldgänger ist als Einzelgänger das Gegenteil zu Jüngers massentauglicher Figur des »Arbeiters« von 1932 – doch der Waldgänger sind viele. Verborgen und unerkannt leben sie unter uns – und das nicht nur in den Wäldern: »In einer Millionenstadt leben zehntausend Waldgänger […]. Das ist eine gewaltige Macht. Sie ist zum Sturz auch starker Zwingherren hinreichend«9, heißt es im Text. Wenn nun aber der Waldgänger keine besondere Affinität zur Natur haben muss, er sowohl Partisan als auch Dichter sein kann und nur seiner eigenen, subjektiven Freiheit verpflichtet ist: Wie wird man dann Waldgänger? Ganz einfach: Man entscheidet sich, einer zu sein. JÜNGERS DEZISIONISMUS Jünger greift in seinem Essay auf Edgar Allen Poes Erzählung »Im Wirbel des Maelström« zurück, in der ein Fischer mit seinem Boot in einen Wirbelstrom gerät und nach unten gezogen wird, er jedoch in der Mitte dieses Trichters ruhig und klar beobachten kann, was vor sich geht, um dann eine rettende Entscheidung zu treffen. »Der Malstrom ist der Trichter, der unwiderstehliche
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Nonkonformismus — Analyse
8 Schmitt, Glossarium, S. 272. 9
Jünger, Waldgang, S. 20 f.
Sog, mit dem die Leere, das Nichts anzieht.«10 Dieses nihilistische Element ist notwendig für den geforderten Dezisionismus, den Jünger von Schmitt übernimmt. Die berühmte Definition: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«11, lässt sich ohne Weiteres auf den Autor im Malstrom bzw. auf den Waldgänger im Wirbel der gleichförmigen Masse übertragen. »Der Waldgang« ist ein Souveränitätsmodell. Die »Ausnahme ist das nicht Subsumierbare; sie entzieht sich der generellen Fassung, aber gleichzeitig offenbart sie ein spezifisch-juristisches Formelement, die Dezision, in absoluter Reinheit«12 – das entgeht Jünger nicht, wenn er von dem »Nichts« und der »Leere« spricht. Im Moment der Entscheidung zur Tat, nachdem lange über das Für und Wider räsoniert worden ist, liegt ein nihilistischer Kern, der nicht auflösbar ist. Der Nonkonformismus ist nichts Angeborenes oder sonst wie Gegebenes, sondern eine souveräne Setzung, die man selbst vornimmt – ob im Ausnahmezustand oder in der konformen Gesellschaft. Das Subjekt setzt sich als Waldgänger, ebenso wie sich französische Dichter im 19. Jahrhundert als Bohemiens oder Jugendliche in den 1980er Jahren als Punker konstruieren. Mag der Essay auch noch so sehr mit vormodernen, mythischen Konzepten liebäugeln: Der Dezisionismus ist ein modernes Paradigma. Und ist es nicht heute, im Zeitalter der Identitätspolitik, des ausdifferenzierten Pluralismus, des postmodernen Anything-Goes, ein eigentlich konformistisches Konzept? Kann nicht jeder Raver, Raucher, Verkehrssünder, Verschwörungstheoretiker, Transsexuelle, TTIP-Gegner, »PEGIDA«-A nhänger oder Pirat in einer aktualisierten Version des Waldgang-Themas sagen: »I am what I am«? Oder ist ein Waldgang gar unmöglich geworden, weil alle Waldgänger sind, jeder ein bisschen verschieden ist und alle hie und da Widerstand leisten? Könnten nicht vielleicht die völlige Affirmation und Anpassung an das System bzw. die herrschende Ordnung subversiver sein als ein permanenter Widerstand? DER WALDGÄNGER UND DIE DEMOKRATIE Es ist dies eine Frage nach dem Verhältnis von Nonkonformismus und Ge10
Ebd., S. 29.
11 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2009, S. 13. 12
Ebd., S. 19.
sellschaft – je nach Lesart ist der Waldgänger leichter oder schwieriger integrierbar. Doch es gibt im »Waldgang« etwas, das unsere offene Gesellschaft ausschließt – da lauert ein Nonkonformismus, der in keine Diversity-Politik inkludierbar ist. Wenn wir überlegen, worauf sich trotz diverser Differenzen gegenwärtig alle einigen können, dann ist es das Bekenntnis zur Demokratie. Die einen fordern etwas mehr, die anderen etwas weniger davon; manche Wolfgang M. Schmitt — Der undemokratische Nonkonformist
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rufen zur Protestwahl auf, einige plädieren für eine Wahlpflicht; hier sollen Wähler mit sogenannten Gamification-Strategien wiedergewonnen werden, dort wird für eine Reform des Wahlsystems geworben. Der Waldgänger aber ist kein Demokrat. Er agiert außerhalb des demokratischen Systems, das zu einem vom Veranstalter bestimmten »automatischen Konzert«13 verkommen sei. Bei einer Wahl mit Nein zu stimmen, sei weniger wirksam, als dieses Nein außerhalb des demokratischen Konsenses zu artikulieren. Damit ist die Figur des Waldgängers an aktuelle linke Diskurse anschlussfähig und antizipiert bereits Jean Baudrillards Ausführungen zum aufständischen Graffiti. Die Nein-Stimme brauche nicht auf dem Wahlzettel zu stehen, sondern sei in der Öffentlichkeit viel wirksamer. Der Waldgang findet im urbanen Raum statt, der »ein Vieleck aus Zeichen, Medien und Codes«14 ist. In einer gleichgerichteten Gesellschaft kann schon ein bloßes Nein für Irritationen sorgen. Jünger betont die Zeichenhaftigkeit dieses Nein-Sagens: »Die Zeichen können als Farben, Figuren oder Gegenstände auftreten. Wo sie Buchstabencharakter tragen, verwandelt sich die Schrift in Bilderschrift zurück. Damit gewinnt sie unmittelbares Leben, wird hieroglyphisch und bietet nun, statt zu erklären, Stoff für Erklärungen. Man könnte noch weiter abkürzen und statt des ›Nein‹ einen einzigen Buchstaben setzen – nehmen wir an, das W. Das könnte dann etwa heißen: Wir, Wachsam, Waffen, Wölfe, Widerstand. Es könnte auch heißen: Waldgänger.«15 Dadurch, dass das Nein zu einer Art Graffiti im öffentlichen Raum wird, entgeht es dem festgelegten Code des Wahlzettels und verlässt das herrschende System. Die Passage im »Waldgang« in Verbindung mit Baudrillards Theorie einer anarchischen Praxis führt zu der von dem anonymen französischen Verfasserkollektiv namens Das Unsichtbare Komitee verfassten Schrift »Der Kommende Aufstand«, die seit ihrem Erscheinen für Furore sorgt. Sie erteilt den west lichen Demokratien eine Absage, weil es sich bei ihnen in Wahrheit um ökonomische Repressionssysteme handele. »Der Kommende Aufstand« schließt mit einer anarchistischen Vision, die dem »Waldgang« vergleichbar ist: »In der Metro findet man keine Spur der Schutzwand von Befangenheit mehr, die normalerweise die Gesten der Fahrgäste hemmt. Die Unbekannten sprechen miteinander, statt sich nur anzusprechen. Eine Bande tuschelt an einer Straßenecke. […] Eine neue Kaserne ist geplündert, dann niedergebrannt worden. […] In einer Anwandlung von klarem Bewusstsein hat ein Manager gerade, mitten in einer Sitzung, eine Handvoll Kollegen kaltgemacht. […] Das Radio hält die Aufständischen über den Rückzug der Regierungskräfte auf dem Laufenden.
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Jünger, Waldgang, S. 34.
14 Jean Baudrillard, Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978, S. 21. 15
Jünger, Waldgang, S. 17.
Ein Raketengeschoss hat gerade die Mauer des Gefängnisses von Claivaux aufgerissen. Unmöglich zu sagen, ob ein Monat oder Jahre vergangen sind, seit die ›Ereignisse‹ angefangen haben. Der Premierminister steht ganz schön allein da mit seinen Aufrufen zur Ruhe.«16 Der Text schreckt nicht davor zurück, mit konkreten Gewalttaten zu sympathisieren. Auffällig ist dabei eine spezielle Kommunikation der Verschwiegenheit: Es ist kein öffentliches Sprechen, sondern eines im Verborgenen, das geschützt und damit schwer kontrollierbar ist, weil die Anonymität des öffentlichen Raums genutzt werden kann. »Die Sichtbarkeit meiden. Die Ano nymität in eine offensive Position umkehren.«17 Diese Anonymität forciert auch der »Waldgang«, schon weil eine technische Erfassung und damit eine Sichtbarmachung umgangen werden sollen; kaum weniger agitatorisch und gewaltsam mutet folgende Stelle aus Jüngers Text an: »Der Wahrspruch des Waldgängers heißt: ›Jetzt und Hier‹ – er ist der Mann der freien und unabhängigen Aktion. […] Sie ist keine lediglich protestierende oder emigrierende Freiheit, sondern eine Freiheit, die den Kampf aufnehmen will. […] Der Waldgang führt in schwerere Entscheidungen. Die Aufgabe des Waldgängers liegt darin, daß er die Maße der für eine künftige Epoche gültigen Freiheit dem Leviathan gegenüber abzustecken hat. Dem Gegner kommt er nicht mit bloßen Begriffen bei. Der Widerstand des Waldgängers ist absolut, er kennt keine Neutralität, keinen Pardon, keine Festungshaft. Er erwartet nicht, daß der Feind Argumente gelten läßt, geschweige denn ritterlich verfährt. Er weiß auch, daß, was ihn betrifft, die Todesstrafe nicht aufgehoben ist.«18 Den »Waldgang« und den »Kommenden Aufstand« eint eine feindliche Haltung gegenüber der Polizei, welche die staatliche Macht stabilisiert und gegen die zuvörderst die Aktionen gerichtet sind. Das Unsichtbare Komitee entwirft deshalb Strategien, der staatlichen Kontrolle zu entgehen, was jedoch 16 Unsichtbares Komitee, Der Kommende Aufstand, Hamburg 2010, S. 110.
immer diffiziler werde, da der Fortschritt – im Hinblick auf DNA-Proben auf Flugblättern, die biometrische Erfassung, den elektronischen Personalausweis – das Unsichtbarwerden immer schwieriger mache.19 Schon Jünger hat
17 Ebd., S. 91. 18
Jünger, Waldgang, S. 66.
geschrieben, dass man »die Wissenschaft des Fingerabdrucks und durchtriebene statistische Verfahren in Rechnung ziehen muß«20 und deshalb ein Nein nicht länger unsichtbar bleiben wird.
19
Vgl. Unsichtbares Komitee, S. 94.
20 Jünger, Waldgang, S. 7.
Auch linke Theoretiker wie Slavoj Zizˇek und Alain Badiou stellen das demokratische Prinzip infrage. Man müsse, so Badiou, das Risiko eingehen, »kein Demokrat zu sein und damit tatsächlich von ›aller Welt‹ mißbilligt zu Wolfgang M. Schmitt — Der undemokratische Nonkonformist
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werden«. Badiou und Zizˇek gehen davon aus, dass der Begriff Demokratie zu einem ökonomisch dominierten Schlagwort geworden sei, hinter dem sich der Kapitalismus verstecke: »Wir sollten nicht mehr wählen gehen! Wir sollten den verlogenen, leeren Erklärungen der Regierenden keine Beachtung schenken!«, meint Badiou; denn »im Zeitalter der Globalisierung ist der Staat alles in allem nur ein Agent des Kapitals«.21 Während die Kapitalismuskritik in Mode sei, habe man mit dem Wort Demokratie einen neuen Fetisch entwickelt, den man dem common sense nach nicht antasten dürfe.22 Subversiv sei deshalb, an den Grundfesten der Demokratie zu rütteln. »Der Waldgang« fragt ebenfalls, ob sich überhaupt noch lohne, an Wahlen teilzunehmen, oder ob man damit nicht immer schon das System gestützt habe, weil man seine Spielregeln akzeptiert habe und selbst eine NeinStimme das System weiter stabilisieren könne. Könnten Rückzug, Schweigen oder Nichtstun möglicherweise eine viel größere Wirkung erzielen? »Dabei ist zu bedenken, daß Schweigen auch eine Antwort ist.«23 Zizˇek zufolge ist nicht die Passivität systemerhaltend, vielmehr ist es »die Pseudo-Aktivität, dieser Drang‚ ›aktiv zu sein‹, ›teilzunehmen‹, mitzuhelfen, das Nichts all dessen, was vorgeht, zu maskieren. Die Leute intervenieren die ganze Zeit, ›tun was‹; Akademiker partizipieren an bedeutungslosen Debatten und so weiter. Wirklich schwierig ist es, heraus zu treten, sich zurück zu ziehen.«24 Aus einer ähnlichen Überlegung heraus versteht sich der Waldgänger nicht als engagierter Schriftsteller – er schweigt lieber. Das trifft sich mit Badious Forderung an Künstler: »Es ist besser, gar nichts zu tun, als formal an der Sichtbarkeit dessen zu arbeiten, von dem der Westen behauptet, dass es existiert.«25 Eine solche Enthaltung sei »ein wahrhaftiger Akt. Nachdrücklich rückt er uns die Leere der heutigen Demokratien vor Augen. Manchmal ist nichts
21 Alain Badiou, Das demokratische Wahrzeichen, in: Demokratie? Eine Debatte, Frankfurt a. M. 2012, S. 13–22, hier S. 13. 22 Ders., Wider den globalen Kapitalismus. Für ein neues Denken in der Politik nach den Morden von Paris, Berlin 2016.
zu tun die äußerste Gewalt.«26 Je radikaler der Rückzug sei, so Zizˇek in seiner Interpretation der Erzählung »Bartleby, der Schreiber«, umso wirksamer könne er sein. Bartleby – auch Jünger begeisterte sich für diese Erzählung
23 Vgl. Ders., Dritter Entwurf eines Manifestes für den Affirmationismus, Berlin 2007, S. 41 f.
Melvilles – würde durch seinen ständig wiederholten Ausspruch: »I would prefer not to«, nicht einfach eine Leistung verweigern, was die Macht des Herrschenden insgeheim nur weiterhin bestätigen würde. Vielmehr drücke er damit zugleich seine völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Macht aus und hebe so »die libidinöse Besetzung der Macht durch das Subjekt auf«27. Diese Idee liegt dem radikalen Freiheitskonzept des Waldgängers, das sich um nichts schert, zugrunde. Die Macht wird dabei nicht nur verneint, sie wird verworfen. Vergessen werden sollte dabei allerdings nicht, dass der Waldgänger eine elitäre Figur ist, während die linken, demokratiekritischen
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Nonkonformismus — Analyse
24 Jünger, Waldgang, S. 6. 25 Badiou, Dritter Entwurf, S. 35. 26 Zizˇek, Gewalt, S. 187. 27 Slavoj Zizˇek, Das »unendliche Urteil« der Demokratie, in: Demokratie? Eine Debatte, Berlin 2012, S. 116–136, hier S. 134.
Positionen sich zu einer Politik der Gleichheit bekennen, um schlussendlich zu einer wahrhaftigeren Demokratie zu gelangen. Im »Waldgang« wird jedoch zwischen Gleichheit und Gleichmacherei nicht unterschieden – auf der ersten Seite bereits erklärt Jünger »die soziale Frage«28 für gelöst. Der Nonkonformismus des Waldgängers ist ein Elitismus des Geistes, den Sozialpolitik nicht interessiert und der sich in der Politik, deren automatengleiches Personal »weder Bildung noch Charakter«29 habe, wieder nach großen Männern sehnt: »Das Ärgerliche an diesem Schauspiel ist die Verbindung von so geringer Höhe mit ungeheurer funktionaler Macht.«30 Das ist die Schattenseite des waldgängerischen Nonkonformismus und das Faszinierende zugleich – wird doch der Nonkonformist dort interessant, wo er gefährlich ist. Abgesehen von Jüngers alternativlosem Wahlszenario, das von der Nazi-Diktatur, in der es auch Wahlen gab, geprägt, jedoch auf postdemokratische Zustände übertragbar ist, kann der »Waldgang« mit seiner Demokratiekritik und Sympathie für illegale Methoden noch eine andere, vielleicht kaum weniger wirksame Subversion darstellen. In seinem Essay »Der Plurimi-Faktor« über die im Schwinden begriffene Figur des Außenseiters schließt Botho Strauß implizit an Jüngers »Waldgang« an, wenn er hinsichtlich der Kreativindustrie, der sozialen Medien und der Ökonomie schreibt: »Nicht feind der Demokratie«, solle man sein, »jedoch der Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche, feind dem demokratischen Integralismus.«31 Und dass auch im Waldgängertum, was die akademische Welt betrifft, eine Chance zum Widerstand liegen könnte, macht Judith B utlers 28 Jünger, Waldgang, S. 5.
Kritik an der gegenwärtigen Universitätspolitik deutlich (freilich nicht unter Berücksichtigung von Jüngers Text), die ebenfalls schein-demokratisch ar-
29
Ebd., S. 23.
30 Ebd., S. 22.
gumentiert und in der das souveräne Ausharren auf verlorenem Posten proklamiert wird. Zwar sei es so, dass wir »durch die bestehende Herrschaft zum Schweigen gebracht worden sind, aber wir sind paradoxerweise genau
31 Botho Strauß, Der Plurimi-Faktor. Anmerkungen zum Außenseiter, in: Der Spiegel, 29.07.2013. 32 Judith Butler, Kritik, Dissens, Disziplinarität, Zürich 2011, S. 57.
damit zu Subjekten geworden, deren Stummheit und politisches Gestammel eine Seinsweise ausmachen«32. Laut Butler sollen die Intellektuellen zu Schurken werden – was nur ein anderes Wort für Waldgänger oder Nonkonformist ist – und aus dem Versteck heraus angreifen. Wolfgang M. Schmitt ist Literaturwissenschaftler an der Universität Trier und promoviert dort über das Politische in Ernst Jüngers Spätwerk. Außerdem arbeitet er als freier Film- und Literaturkritiker und betreibt den ideologiekritischen Videoblog DIE FILMANALYSE (URL: http://www.youtube. com/filmanalyse/).
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PARTEI DER SÜNDER, PARTEI DER BEKEHRTEN KONVERSIONSERZÄHLUNGEN IM AMERIKANISCHEN KONSERVATIVISMUS ΞΞ Torben Lütjen
Angesichts des surrealen politischen Paralleluniversums, das sich neben uns auftut, seitdem Donald Trump die Bühne der, nun ja, Politik, betreten hat, kann man leicht vergessen, dass er vielleicht nicht einmal der merkwürdigste unter vielen merkwürdigen Kandidaten im republikanischen Vorwahlkampf 2015/2016 gewesen ist. Da war schließlich auch noch der Neurochirurg Ben Carson. Eine Zeit lang, im Herbst 2015, schien er Donald Trump in den Umfragen gar den Rang abzulaufen. Der tief gläubige Afro-Amerikaner Carson, Mitglied einer adventistischen Religionsgemeinschaft, war zwar in seinem Habitus von Trump denkbar verschieden: Carson sprach sanft, lächelte stets versonnen, wirkte gar ein wenig entrückt. Doch was er zu sagen hatte, das hielt mindestens die eine Hälfte des Landes für pathologischen Irrsinn. Niemand tauchte so tief im Mariannengraben der Gedankenwelt der paranoiden amerikanischen Rechten wie Carson und förderte von dort so viele seltsame Schätze zutage. Nicht nur behauptete er, Obamacare sei das Schlimmste, was der Nation seit der Sklaverei widerfahren sei; auch rechnete er damit, dass die Regierung bald unter einem Vorwand das Kriegsrecht über das Land verhängen werde. Und nicht zuletzt zeigte er sich überzeugt, dass der Holocaust hätte verhindert werden können, wenn die Waffengesetze in Deutschland weniger streng gewesen wären und die Juden sich hätten bewaffnen können. Seinen Aufstieg hat all das lange Zeit nicht bremsen können. Und was auch immer an Kritik auf Carson einprasselte: Nichts konnte ihm seinen Gleichmut nehmen, stets wirkte er nachsichtig gegenüber all jenen, die es nun einmal nicht besser wussten und nicht im Besitz so intimer Informationen waren wie er. Bis zum November 2015. Da verlor Carson schließlich doch noch die Fassung. Und danach fiel seine Kampagne wie ein zu schnell abgekühltes Soufflé in sich zusammen. Carsons Zorn galt den Medien, die in seiner Vergangenheit recherchiert hatten und dabei auf Unstimmigkeiten gestoßen waren. Das wirklich Verblüffende, ja regelrecht Verstörende jedoch war, dass es dabei nicht, wie üblich, um den Vorwurf ging, er habe seine
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INDES, 2016–3, S. 96–104, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X
Vergangenheit geschönt – sondern im Gegenteil um den Vorwurf, er habe sie absichtlich hässlich gemacht. Zum Frisieren der eigenen Biografie hätte es eigentlich keinen Grund gegeben. Carsons Lebensgeschichte, von Hollywood längst verfilmt, bot in jedem Fall genug Stoff für eine Heldensaga: Vaterlos aufgewachsen in den Ghettos von Detroit, studierte und arbeitete sich Carson bis zum Chefarzt der neurochirurgischen Abteilung an der angesehenen Johns Hopkins Klinik in Baltimore hoch. Im Jahr 1987 hatte er als erster Mediziner erfolgreich siamesische Zwillinge am Kopf getrennt. Niemand übrigens hielt ihn während all der Zeit für einen sonderlich politischen Menschen – bis er 2013 beim »National Prayer Breakfast« in Anwesenheit eines verdutzten Präsidenten eine Rede hielt, die wie ein Skript von Fox News klang. Am selben Tag begann das Land darüber zu debattieren, ob Carson 2016 Präsident werden könnte. Es war kein Wunder, dass viele Anhänger der Tea Party Carson liebten: Für sie war er der lebende Beweis, dass es in Amerika noch jeder schaffen konnte, auch ohne die Unterstützung des Staates; dass niemand wegen seiner Hautfarbe benachteiligt werden würde, Rassismus nicht existiere – und daher der ganze Sozialstaatsklimbim im besten Fall völlig unnötig war, im schlimmsten Fall aber ganz anderen, sinisteren Zielen diente. Vor allem aber war Carson der Kandidat der religiösen Rechten und bibeltreuer evangelikaler Christen. Und für sie war entscheidend, in welcher Weise Carson von seinem Weg nach oben berichtete – denn dies war mehr als eine simple Aufstiegsgeschichte. Einen zentralen Platz in Carsons Lebenserzählung nahm stets eine Begebenheit ein, die sich in seinem 14. Lebensjahr zugetragen haben soll. Damals, so Carson, sei er ein schwieriger Teenager gewesen, voller Zorn auf die Welt und mit einer gefährlichen Neigung zur Gewalt. Eines Tages habe ihn seine Wut gar so übermannt, dass er im Streit seinen besten Freund hatte erstechen wollen. Das Messer sei dann aber an der Gürtelschnalle des Freundes abgeglitten und Carson aus den Händen gefallen. Tief verwirrt und voller Schuldgefühle habe er sich daraufhin zu Hause im Badezimmer eingeschlossen, stundenlang in der Bibel gelesen und zu Gott gebetet, er möge diesen furchtbaren Zorn von ihm nehmen. Was dann passiert sei, hat Carson in seiner Autobiografie »Gifted Hands« beschrieben: »Nach einer Weile spürte ich Frieden in meinem Inneren. Meine Hände hörten auf zu zittern. Die Tränen hörten auf zu fließen. In diesen Stunden, allein im Ba1 Ben Carson, Gifted Hands. The Ben Carson Story, Grand Rapids 2011, S. 56 [Übersetzung Torben Lütjen].
dezimmer, passierte etwas mit mir. Gott hatte meine Seelenqualen erhört. Ein Gefühl von Leichtigkeit durchströmte mich, und ich wusste, dass eine Veränderung stattgefunden hatte. Ich fühlte mich anders. Ich war ein Anderer.«1 Torben Lütjen — Partei der Sünder, Partei der Bekehrten
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Das Problem war nur: Als die Journalisten nach Detroit ausschwärmten und begannen, in seiner Vergangenheit zu graben, da konnte sich partout niemand an den zornigen jungen Mann erinnern, der Carson einmal gewesen sein wollte. Auch jener Freund, der beinahe seiner Messer-Attacke zum Opfer gefallen sei, meldete sich nirgends und wurde von Carson kurzerhand zu einem nahen Familienverwandten umgedeutet, dessen Identität er schützen müsse. Mit dem Vorwurf konfrontiert, seiner Lebensgeschichte ein Stück künstliche Dramatik hinzugefügt zu haben, reagierte der sonst so gleichmütige Carson dieses eine Mal mit einer schroffen Apologetik und bediente sich dabei aus dem Standardrepertoire republikanischer Politiker: Er kritisierte die offenkundige Parteilichkeit der liberalen »Mainstreammedien«, die eine »Hexenjagd« auf ihn veranstalten würden. So merkwürdig dies klingen mag: Carson hatte gute Gründe, diesen eher dunklen Teil seiner Vergangenheit mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Die Geschichte einer Läuterung verläuft zwar ohnehin nur da hinreichend dramatisch und wirkt authentisch, wo die Verfehlungen zuvor wirklich drastisch gewesen sind – wo kein Schatten, da kein Licht. Doch Carsons Darstellung der eigenen Lebensgeschichte war ja noch mehr: nämlich eine klassische und genretypische Konversionserzählung. Konversion bezeichnet die Abkehr von einem als sündhaft, fehlerhaft oder aber als vergeudet empfundenen Leben. Sie kann durch ein plötzliches Ereignis ausgelöst werden – wie das Damaskus-Erlebnis des Paulus – oder auch allmählicher, gradueller verlaufen. Entscheidend ist nur, dass dem früheren Leben mit großer Gründlichkeit und Absolutheit abgeschworen wird; was erklärt, warum sich Konvertiten häufig durch eine besondere Radikalität auszeichnen. Das Leben des Konvertiten zerfällt in zwei streng voneinander getrennte Teile: dem davor und dem danach.2 Die Rede ist also nicht von einem bloßen politischen Meinungswechsel. Und vom Konversionsbegriff ebenfalls nicht erfasst sind jene politischen Metamorphosen, bei denen dem Radikalismus der Jugend abgeschworen wird und danach die einstigen Ideale in extrem verdünnter Form weiterverfolgt werden – wie dies bei vielen Angehörigen der deutschen 68er-Generation der Fall gewesen ist, die milde und nachsichtig lächelnd auf ihr früheres, naiveres Selbst zurückblicken, im Großen und Ganzen aber meinen, sich grundsätzlich doch treu geblieben zu sein.
2 Vgl. David A. Snow und Richard Machalek, The Sociology of Conversion, in: Annual Review of Sociology, Jg. 10 (1984), S. 167–190.
Von echter politischer Konversion lässt sich sinnvollerweise wohl nur da sprechen, wo ein konsistentes, nach Widerspruchsfreiheit strebendes Gedankengebäude durch ein anderes ersetzt wird – und zwar in ebenso bewusster Abkehr wie Zuwendung. Es ist so, wie Thomas Luckmann einmal bemerkt hat: Kanon und Konversion gehören zwingend zusammen.3 Kein Wunder,
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3 Vgl. Thomas Luckmann, Kanon und Konversion, in: Aleida u. Jan Assmann (Hg.), Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, S. 38–46.
dass daher viele insbesondere den Übergang zwischen Kommunismus und Katholizismus für fließend halten.4 Es ist schwer zu sagen, ob Ben Carson gewusst hat, mit was für einem Pfund er da wucherte – und in welcher Traditionslinie er damit stand. Denn im amerikanischen Konservativismus üben Konversionserzählungen eine erstaunliche Kraft aus und besitzen einen hohen Stellenwert. Bei Carson ist das Narrativ noch ganz ursprünglich religiös; wenngleich die Konversionserzählung natürlich einem politischen Zweck dient. Wer sich mit dem Aufstieg des amerikanischen Konservativismus nach 1945 aus einer Position obskurer Minorität zur zeitweise dominanten politischen Formation des Landes beschäftigt, der stößt dabei auf eine so auffällige, geballte Häufung dieses spezifischen biografischen Typus, dass an einen reinen Zufall nicht zu glauben ist. Unter den führenden Figuren der Bewegung finden sich eine große Zahl Männer und Frauen, die eine radikale Wende im Leben vollzogen haben, bekehrt wurden, öffentlich Reue übten und danach mit besonderer Inbrunst einem neuen Glaubenssystem anhingen.5 Die Art der Konversion war dabei denkbar verschieden: Manche waren, wie Carson, jung und zornig gewesen, andere Kommunisten, Liberale oder einfach nur Trinker – im Riten- und Glaubenssystem und in der Organisationswelt des amerikanischen Konservativismus aber fanden sie alle ihre Erlösung. Unschwer ist dieses Konversions-Motiv natürlich als geradezu uramerikanische Erzählung zu erkennen: Durch die Geschichte der puritanischen Besiedlung der USA ist sie fester Bestandteil des Gründungsmythos des Landes. Die protestantischen Freikirchen der ersten Siedler in Neuengland verlangten von ihren neuen Gemeindemitgliedern vor der Aufnahme eine authentische Schilderung ihres Konversionserlebnisses. Und innerhalb der 4 Vgl. etwa Margret Boveri, Bekenntnis und Abfall. Elemente des Religiösen bei Kommunisten und Ex-Kommunisten, in: Merkur, Jg. 11 (1957), H. 118, S. 1180–1189. 5 Vgl. neuerdings das wunderbar geschriebene, aber leider auf jedwede theoretische Einordnung verzichtende Buch von Daniel Oppenheimer, Exit Right. The People Who Left the Left and Reshaped the American Right, New York 2016. 6 Vgl. Michael Lienesch, Redeeming America. Piety and Politics in the New Christian Right, Chapel Hill 1993, S. 33 ff.
Theologie der evangelikalen Bewegung, der Carson seinen kurzen Höhenflug zu verdanken hatte, spielt dieses Motiv bis heute eine überragende Rolle: Hier qualifiziert weiterhin einzig das persönliche Gotteserlebnis des dann »wiedergeborenen Christen« zum wahren Gläubigen.6 Allerdings ist der Konversions-Mythos darüber auch längst in den säkularen Wertehaushalt der Amerikaner eingesickert – als in der Populärkultur fest verankertes Motiv vom tiefen und oft selbstverschuldeten Fall zur anschließenden Neuerfindung des Helden. Es scheint nicht übertrieben, die Konversionserzählung als ein wichtiges Fundament für den Aufbau der bis in die 1960er Jahre noch marginalisierten konservativen Bewegung zu sehen. Mit jedem neuen Jahrzehnt floss ihr eine neue Generation von Konvertiten zu. Wahrscheinlich existiert in dieser Hinsicht sogar eine Art »Ur-Text der Konversion«, der die Erfahrung von Torben Lütjen — Partei der Sünder, Partei der Bekehrten
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Bekehrung früh als konstituierendes Element konservativer Identität eingeführt hat: Dieser ist Whittaker Chambers’ Buch »Witness« aus dem Jahr 19527, ein Werk, das wie wenige andere den Geist der McCarthy-Ära mit ihren antikommunistischen Hetzjagden verkörperte. In seinem Buch, einer Mischung aus Memoiren und Kalter-Krieg-Spionage-Thriller, zeichnete Chambers seine Wandlung vom Moskau-treuen Mitglied der Kommunistischen Partei und sowjetischen Spion zum gottesfürchtigen Konservativen nach. Es war ein Buch der Qualen, das den Kommunismus als das Böse schlechthin zeichnete und einen epischen Kampf ausrief, bei dem es keine Dritten Wege – an die manche Linksliberale glaubten – geben konnte. Konversionen sind in der Regel Geschichten mit glücklichem Ende, aber diese Konversion blieb tragisch: Chambers fühlte sich isoliert und seinerseits verfolgt; nicht nur von ehemaligen Genossen, sondern auch von einer linksliberalen Presse, die ihn für einen Handlanger der antikommunistischen Paranoia hielt. Überdies glaubte Chambers, dass nichts die Niederlage eines schwach und dekadent gewordenen Westens würde aufhalten können und er selbst somit auf die Seite der Verlierer gewechselt sei. Obwohl Chambers erst Jahre später, 1961, an einem Herzinfarkt starb, galt unter Konservativen als Konsens, dass er ein Opfer des Kalten Krieges gewesen sei. So wurde Chambers zum ersten Märtyrer der Bewegung. 1983 verlieh ihm Ronald Reagan, ein anderer Konvertit, auf den wir noch zu sprechen kommen werden, die »Medal of Freedom«. Viele Konservative der ersten Stunde erkannten sich in Chambers’ Lebensbeichte wieder. Bei der Zeitschrift National Review, in der auch Chambers anfangs mitschrieb und die bald zum intellektuellen Knotenpunkt der Bewegung wurde, bestand fast die gesamte Redaktion aus Ex-Kommunisten und Ex-Trotzkisten (der bekannteste von ihnen war James Burnham) – »Stalins Geschenk an die amerikanische Rechte«8, wie jemand ironisch bemerkte. Frank Meyer, ein Ex-Kommunist, der unter dem Blattgründer William F. Buckley Jr. zum »Chefideologen« der Zeitschrift aufrückte, gilt heute als derjenige, der die beiden wiederstreitendenden Flügel der Bewegung, hier libertäre »antigovernment-conservatives«, dort konservative Traditionalisten, durch seine Theorie des »Fusionism« miteinander verband – mithilfe einer dialektischen Methode, die, wie manche meinen, den alten Marxisten in ihm noch deutlich verriet. Der Abfall vom Kommunismus unter Intellektuellen nach den Moskauer Schauprozessen war gewiss ein globaler Prozess.9 Im amerikanischen Fall aber überrascht, dass so wenige der Renegaten im Lager des US-Liberalis-
7 Whittaker Chambers, Witness, New York 1952. 8 Vgl. Sam Tanenhaus, How Ex-Communists Shaped American Conservatism, in: The Atlantic, März 2016.
mus landeten. Auch das wäre zwar ein Bruch gewesen, aber weltanschaulich keine ganz so große Wegstrecke. Was man letztlich aus den Geschichten von Chambers, Burnham, Meyer, aber auch anderer Konvertiten lernen kann, ist,
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9 Vgl Arthuer K oestler u. a., The God That Failed, New York 1949.
dass der Sünder seine Schuld und Scham nie ganz abschütteln kann. Buße zu tun und Vergebung zu finden, scheinen nur möglich, wenn die Kehrtwende so radikal wie möglich ausfällt. Ein anderer Grund für die Anziehungskraft des US-Konservativismus liegt darin, dass ihn seit den 1950er Jahren etwas charakterisierte, was der weltanschaulich außerordentlich inklusive, aber eklektische amerikanische Liberalismus nicht im Angebot hatte: ein vergleichsweise stringentes System politischer Überzeugungen, einen Kanon von einem halben Dutzend mit heiliger Inbrunst verehrter Bücher, eine Geschichtsphilosophie und ein FreundFeind-Denken, die dem Kommunismus so unähnlich nicht waren.10 Offenkundig finden die meisten Menschen, die sich einmal mit Haut und Haaren einer Sache verschrieben haben, die Vorstellungen der Leere, die ein Abschwören von der großen Sache unweigerlich mit sich bringt, schlicht unerträglich – und wenden sich daher nicht selten erneut einem System von starren Überzeugungen zu, das mit einer ähnlichen Verbindlichkeit und einem vergleichbaren Anspruch auf allumfassende Welterklärung und Sinnstiftung ausgestattet ist. Whittaker Chambers war tatsächlich zum frommen Quäker geworden. Aber die Konversionserzählung funktioniert auch in ihrer säkularen Form: als »nur« politische oder ideologische Konversion. Das galt gute zwanzig Jahre nach Chambers’ Konversion für eine neue Generation von konservativen Intellektuellen: die sogenannten Neokonservativen, deren Gallionsfigur der Publizist Irving Kristol war. Die meisten aus dieser Gruppe jüdischer Intellektueller waren in ihren Jugendtagen am New Yorker City College Trotz 10 Zum amerikanischen Konservativismus als einer dem Kommunismus/Sozialismus nicht unähnlichen »Schriftkultur« vgl. Michael J. Lee, Creating Conservatism. Postwar Words that Made an American Movement, East Lansing 2014.
kisten gewesen. Ihre Bekehrung war allmählicher verlaufen: vom Trotzk ismus über den Liberalismus bis tief ins konservative Lager. Kristol prägte jenen griffigen Satz, den heute in den USA noch jeder zweite konservative Aktivist im Schlaf zitieren kann: Ein Konservativer, sagte er einmal, sei ein »Liberaler, der von der Realität überfallen wurde«. Kristol hatte ursprünglich an die Segnungen eines aktiven Staates geglaubt – um dann Torben Lütjen — Partei der Sünder, Partei der Bekehrten
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zu der Erkenntnis zu gelangen, dass all die guten Vorsätze die individuelle Eigenverantwortung und Moral untergruben und zur Dekadenz führten. Das Hauptfeld der Aktivität der Neokonservativen aber war die Außenpolitik, in der sie für eine interventionistische, auf moralische Werte rekurrierende Rolle der USA plädierten. Auch bei den Neokonservativen scheint der Schluss nahezuliegen, dass Konvertiten ihr Weltbild zwar austauschen mögen, ihr politischer Ansatz aber in manchem konstant ist. Viele Beobachter haben schließlich später eine fast gerade Linie von den Neokonservativen der 1970er Jahre zu den »Kreuzzügen« der George-W.-Bush-Regierung nach dem 11. September 2001 gezogen: Es sei das aus den Zeiten auf der politischen Linken erhalten gebliebene Jakobinertum gewesen, das sie zu der utopischen Idee verleitet habe, mit den Mitteln des Krieges die Idee der Demokratie zu verbreiten.11 Bisweilen wird behauptet, dass der Konvertit sein Leben lang angreifbar sei: Bleibt er für die einen für immer ein Verräter, so gilt er den anderen lebenslang als »unsicherer Kantonist«, der seine Verlässlichkeit stets aufs Neue zu beweisen hat.12 Aber die prominente Rolle, die konvertierte Intellektuelle im amerikanischen Konservativismus eingenommen haben, legt eine ganz andere Wirkungsweise nahe. Eher scheint die Konversion hier eine besondere Form der Glaubwürdigkeit zu verleihen. Denn schließlich: Der Konvertit behauptet, alle Argumente der Gegenseite zu kennen – im Grunde besser als die Gegenseite selbst. Gerade diese intime Kenntnis der Ideen des politischen Gegners lässt ihn sich potenziell überlegen fühlen. Der Konvertit ist in seiner Erkenntnis bereits einen Schritt weiter als alle anderen: Er hat vermeintlich schon sämtliche Fehler gemacht, die seinen Feinden noch bevorstehen. Seine Überzeugungen sind besonders gestärkt; er ist geläutert, ein gebranntes Kind, glaubwürdig auch deshalb, weil es ihm in seiner »Mission« nicht um bloße Eitelkeit oder Opportunismus geht, sondern das Schicksal seiner Errettung ihn zum Handeln verpflichtet, da es gilt, anderen die Augen so zu öffnen, so wie sie ihm geöffnet worden sind. In diesem Sinne, schreibt James Branham in seiner Studie über Techniken der Konversionserzählungen in Dokumentarfilmen der Anti-Abtreibungsbewegung in den USA , könne Konversion nachgerade »ansteckend« wirken.13 Kein Wunder also, dass die Konversionserzählungen des amerikanischen Konservativismus daher auch nicht allein nur bei den intellektuellen Vordenkern der Bewegung anzutreffen sind, sondern auch prominente Galionsfiguren der Bewegung auszeichnen. Das gilt, wie bereits angedeutet, besonders für Ronald Reagan – auch wenn dessen politische Reise vergleichsweise
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11 Vgl. John Gray, Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt, Stuttgart 2010; Torben Lütjen, United States of Utopia. Über utopische Elemente im amerikanischen Konservativismus, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 2 (2012), H. 2, S. 27–33. 12 Vgl. Heinz Gerhard Haupt, Politische Konversionen in historischer Perspektive. Methodische und empirische Überlegungen, in: Uta Gerhardt (Hg.), Zeitperspektiven. Studien zu Kultur und Gesellschaft. Beiträge aus der Geschichte, Soziologie, Philosophie und Literaturwissenschaft, Wiesbaden 2003, S. 267–304. 13 Vgl. James Branham, The Role of the Convert in »Eclipse of Reason« and »The Silent Scream«, in: Quaterly Journal of Speech, Jg. 77 (1991), H. 4, S. 407–426.
kurz gewesen ist: vom enthusiastischen Befürworter Franklin D. Roosevelts und dessen New Deal zum Messias der konservativen Bewegung. Und seine Wandlung war graduell verlaufen: Ende der 1940er Jahre waren es zunächst seine Erfahrungen mit der (eingebildeten wie tatsächlichen) Infiltration der Schauspielergewerkschaft durch Kommunisten gewesen; als seine Schauspielkarriere dann ins Stocken geraten war, begann er als Unternehmenssprecher für General Electric zu arbeiten – eine Zeit, die ihn endgültig die Welt mit anderen Augen sehen ließ.14 Doch nicht zuletzt verdankte sich Reagans Konversion auch der Lektüre von Chambers’ »Witness«. Reagan konnte ganze Passagen aus dem Werk auswendig, zitierte und paraphrasierte sie in seinen Reden immer und immer wieder.15 Sein Mitarbeiterstab, so weiß jedenfalls der Historiker Michael Kimmage zu berichten, musste jederzeit darauf gefasst sein, vom Präsidenten in einem kleinen Quiz darüber »verhört« zu werden, welche Ereignisse Chambers’ Umkehr erzwungen hätten.16 Anders als andere Konvertiten freilich machte Reagan ob seiner Läuterung nie einen gequälten Eindruck. Und so existenziell Reagan die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion, dem »Evil Empire«, moralisch auflud, so süffisant spottete er über den amerikanischen Liberalismus: als eine Torheit von Menschen, die es eben nicht besser wussten. Ihnen war einfach nie zuteil geworden, was er erfahren durfte: die Einsicht, dass all die guten Vorsätze am Ende in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Als Reagan einmal auf einer Pressekonferenz, noch sehr zu Beginn seiner Präsidentschaft, die wirtschaftlichen Probleme auf die Vorgängerregierung, den Kongress und überhaupt auf jeden außer ihn selbst schob, wurde er von einem Reporter gefragt, ob er nicht selbst auch einen Anteil daran habe. Da antwortete der Präsident nur unter großem Gelächter: »Sure, because I used to be a Democrat.« Überhaupt war Reagans Konversion in vielerlei Hinsicht anders als die hier 14 Vgl. Thomas W. Evans, The Education of Ronald Reagan: The General Electric Years and the Untold Story of His Conversion to Conservatism, New York 2006.
zuvor genannten Beispiele. Zum einen war sie eben weniger radikal, verlief nur vom amerikanischen (Links-)Liberalismus zum Konservativismus. Und außerdem erzählte Reagan seine Geschichte oft nur als »halbe Konversion«. Denn schließlich, so der Darsteller in unzähligen Western-Filmen, sei er sich in manchem auch treu geblieben, während die Demokraten nicht mehr die
15
Lee, S. 187 ff.
16 Vgl. Michael Kimmage, The Conservative Turn: Lionel Trilling, Whittaker Chambers and the Lessons of Anti-Communism, Cambridge 2009, S. 205. 17 Zit. nach Oppenheimer, S. 148.
Partei seien, für die er einst gestimmt habe. »Ich habe nicht die Partei verlassen«, sagte er einmal, kurz nachdem er Präsident geworden war: »Die Partei hat mich verlassen.«17 Wie Daniel Oppenheimer schreibt, machte ebendies Reagan zu einem perfekten Repräsentanten des Rechtsrucks, den die USA seit den 1970er Jahren durchliefen. Er lieferte Millionen Amerikanern, die sich in seiner Geschichte – die halb Konversion, halb Verrat war – wiederfanden, unter ihnen Torben Lütjen — Partei der Sünder, Partei der Bekehrten
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viele Ex-Gewerkschaftsmitglieder, eine Rechtfertigung, ebenfalls politisch die Seiten zu wechseln.18 Reagan, der nun gewiss alle ideologischen Prämissen der amerikanischen Rechten teilte, hatte den amerikanischen Konservativismus mit seinem »fröhlichen Konvertitentum« für kurze Zeit aus jener paranoiden Grundstimmung befreit, die ihn seit den Anfängen des Kalten Krieges begleitet hatte – und die in den Jahren der Obama-P räsidentschaft wiederkehren sollte. Damit rückte er die Bewegung endgültig ins politische Zentrum. Wenn nicht alles täuscht, ebbte etwa in der Zeit nach Reagan das Konversionsfieber unter Konservativen merklich ab. Natürlich: Einen sehr prominenten Konvertiten hatte die Bewegung noch zu verzeichnen, allerdings bereits schon wieder in der ursprünglich religiösen Form. Gleichwohl nutzte wohl kaum jemand die Konversionserzählung politisch so raffiniert wie George W. Bush. Dieser machte die »Vom Saulus zum Paulus«-Geschichte des Alkoholsüchtigen, der »Jesus in seinem Herzen fand«, gar zum zentralen Baustein seiner Wahlkampagne 2000. Bush sprach dabei, gewiss nicht zufällig, von der überragenden Rolle, die der populäre Baptistenprediger Billy Graham in diesem Prozess gespielt habe, und gewann so mit krachender Mehrheit die Stimmen des evangelikalen Amerika.19 Und das Entscheidende war: Bush musste dafür nicht einmal die umstrittenen social issues wie Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Ehe in den Vordergrund rücken, was ihm in der politischen Mitte hätte schaden können – Amerikas evangelikale Wähler begriffen ihn auch so als einen der ihren und verstanden unmittelbar die Botschaft der autobiografischen Geschichte seiner Läuterung.20 Doch wie gesagt: Insgesamt hatten Konversionserzählungen – Ben Carson zum Trotz – schon einmal eine größere Konjunktur als im Augenblick. Und dies wohl nicht nur in den USA. Sie waren wohl auch ihrerseits ein Teil der Geschichte des Zeitalters radikaler utopischer Entwürfe, in dem die Politik in noch viel größerem Maße der Sinnstiftung diente. Jedenfalls: Von dem Mann, der 2016 in den USA die »Partei der Konvertiten« als Präsidentschaftskandidat anführen wird, ist keine Konversion bekannt, nur der neurotische, promiskuitive Austausch politischer Positionen und der »party registration«. In der Tat vermag man sich Donald Trump in der Pose des reuigen Sünders auch nicht so recht vorzustellen. Wer nie an etwas geglaubt hat, der kann den Glauben auch nicht verlieren – und muss ihn folglich auch nicht wiederfinden. Torben Lütjen ist Politologe und derzeit Direktor in Vertretung des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Demnächst erscheint von ihm das Buch: »Partei der Extreme: Die Republikaner. Über die Implosion des amerikanischen Konservativismus«.
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Oppenheimer, S. 151.
19 Vgl. David C. Bailey, Enacting Transformation: George W. Bush and The Pauline Conversion Narrative in »A Charge to Keep«, in: Rhetoric & Public Affairs, Jg. 11 (2008), H. 2, S. 215–241, hier S. 216. 20 Vgl. ebd.
NONKONFORMISMUS, DER KEINER IST ANMERKUNGEN ZUM MEDIENINTELLEKTUELLEN ΞΞ Susanne Martin
Was gesellschaftlich nonkonformistisch ist, bestimmt sich durch sein Gegenteil: den gesellschaftlichen Konformismus, die Anpassung an herrschende Normen, Deutungen, Denk- und Verhaltensweisen. Beispielsweise würde heute kaum jemand Frauen, die hierzulande unverheiratet bleiben oder erst Mitte dreißig, nach ihrer Ausbildung und ersten Berufserfahrung, eine Ehe eingehen, als nonkonformistisch einstufen. Vor nicht allzu langer Zeit aber waren solche Frauen gesellschaftliche Außenseiterinnen. Diese Beobachtung ist wenig überraschend, macht aber auf einen wichtigen Grundsatz der wissenschaftlichen Analyse von Konformismus und Nonkonformismus aufmerksam: Diese lassen sich nicht in abstracto definieren, sondern hängen von sozialen Konstellationen und Möglichkeiten ab und können nur in konkreten und damit begrenzten Kontexten bestimmt werden. Zum Verständnis des (Non-)Konformismus der Gegenwart hat Norbert Bolz vor wenigen Jahren im Merkur, basierend auf einer zuvor veröffentlichten Monografie, eine kurze, wendungsreiche Analyse vorgelegt, deren Pirouetten noch einmal nachzuvollziehen lohnt.1 Seine Ausgangsprämisse habe ich selbst eingangs postuliert: Nonkonformismus ist Dissens, die Abweichung von herrschenden Denk- und Verhaltensweisen. Der Mainstream moderner und postmoderner Gesellschaften weist allerdings Bolz zufolge eine eigentüm liche Beschaffenheit auf: Er sei durch Anderssein, Individualität und Diversität, kurz: Nonkonformität gekennzeichnet – historisch eine Reaktion auf die wachsende gesellschaftliche Abhängigkeit und Ersetzbarkeit jedes Einzelnen, die durch die Betonung von Einzigartigkeit und Besonderheit kompensiert werde. Gegenwärtig obwalte daher der »Konformismus des Andersseins«. Mit dieser These befindet sich Bolz, weit mehr als er vielleicht ahnt, in geistiger Nähe zu Theodor W. Adorno, der bereits den Nonkonformismus seiner Zeit als Pseudoindividualismus und zutiefst konformistisch gegeißelt hat. 1 Vgl. Norbert Bolz, Der Reaktionär und die Konformisten des Andersseins, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 65 (2011), H. 9/10, S. 781–789.
So weit, so bekannt und plausibel. Als problematisch entlarvt sich Bolz’ Bestimmung jedoch, wenn sie im nächsten Schritt die Ebene der Analyse zugunsten einer politischen Einordnung und Forderung verlässt. Der gegenwärtig propagierte und kultivierte Nonkonformismus sei der des linken
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Gutmenschen. Daraus folgt: Wer gegen Studiengebühren, gegen Umweltzerstörung, für gleichgeschlechtliche Ehe und Patchwork-Familie eintrete, gehe längst konform mit der öffentlichen Meinung. Bolz’ Schlussvolte scheint da nur konsequent: Der wahre Nonkonformist sei – gemessen an eben dieser Mehrheitsmeinung – reaktionär und verweigere daher die Political Correctness; sei’s in Gestalt des radikalen Feminismus, der Klimaapokalypse oder herrschender Integrationstabus.2 Bolz fordert diese neureaktionäre Haltung zuallererst von Intellektuellen. Problematisch ist diese Schlussfolgerung aus mindestens drei Gründen: Erstens steht empirisch infrage, ob die angesprochenen »linken« Denk- und Verhaltensweisen tatsächlich die Mehrheitsmeinung darstellen oder ob hier nicht eine bestimmte, nämlich akademisch gebildete, ökonomisch gut situierte, städtische Lebensweise und deren Orientierungen zur Allgemeinheit erklärt werden. Und selbst wenn diese Meinungen mehrheitlich vorherrschen sollten, können Strategien des intellektuellen neureaktionären Tabubruchs, wie sich zeigen wird, doch einen tieferliegenden, strukturellen Konformismus bedeuten. Zweitens sind die Worte, die Bolz seinen echten Nonkonformisten in den Mund legt, die der sozialen Ungleichheit. Wenig zementiert diese nachhaltiger als die Rede vom »Neid der radikalen Verlierer«, von der »Arroganz der Schwachheit« oder dem »Kartell der Mittelmäßigkeit«.3 Und drittens folgt aus der Feststellung eines aktuell waltenden Konformismus des Andersseins nicht zwangsläufig, dass wahres Anderssein sich nur reaktionär bewahrt, also in atavistischen Deutungen und Einstellungen, die schließlich Konformität noch mehr oder minder direkt erzwungen haben. Dies hieße, den Bock zum Gärtner machen. Stattdessen führt Adorno mit analogem Ausgangsbefund vor, dass der Rückfall in Vergangenes (er würde »Abgelebtes« sagen) keine Lösung ist. Darum macht er Begriffsarbeit zur Voraussetzung, um – ex negativo – die Bestimmungen einer Sache, zum Beispiel der Nonkonformität, festzuhalten, die nicht in deren vorherrschendem Begriff und mehrheitlicher Vorstellung aufgehen. Ich komme darauf am Ende zurück. Zuvor möchte ich die aufgeworfenen Fragen und Thesen zum aktuellen (Non-)Konformismus an einem naheliegenden Beispiel und dem von Bolz letztlich implizierten Adressatenkreis diskutieren: den Intellektuellen, die ihren zuletzt in den 1950/60er Jahren erworbenen Nimbus der Kritik und Opposition anscheinend verloren haben. Auch und gerade die gegenwärtigen Medienintellektuellen überzeugen nicht als echte Gegenstimme zum gesellschaftlichen und politischen Mainstream – obwohl sie augenscheinlich unkonventionell, provokant, zuweilen sogar schrill auf der öffentlichen Bühne agieren.
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2 Vgl. Bolz, S. 787. 3 Ebd., S. 783, S. 787 f. u. S. 789.
Susanne Martin — Nonkonformismus, der keiner ist
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DER KONFORMISMUS DER INTELLEKTUELLEN … In der Geschichtsschreibung der Intellektuellen werden Medienintellektuelle seit den späten 1970er Jahren als neue Figur mit rasch wachsender Bedeutung ausgemacht.4 In Frankreich, dem Geburtsland des modernen Intellektuellen im Zuge der Dreyfus-Affäre, gelten die nouveaux philosophes wie Alain Finkielkraut, Bernard-Henri Lévy und André Glucksmann als deren Prototypen. In Deutschland etabliert die Figur sich erst später, namentlich mit den Moderatoren des Philosophischen Quartetts, Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski, und ihren Gästen. Inzwischen hat Richard David Precht, mehrfach Diskutant im »Quartett«, seine ehemaligen Gastgeber nicht nur vom ZDF-Sendeplatz, sondern vermutlich auch in der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Mühelos ließen sich weitere Gesichter und Namen ergänzen. Um die Gestalt und Rolle der Medienintellektuellen verstehen zu können, ist jedoch ein Blick auf den erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit – der traditionellen Arena der Intellektuellen – erforderlich, den Jürgen Habermas mehr als vierzig Jahre nach seiner berühmten Untersuchung skizziert hat.5 Zwei Veränderungen sind ihm zufolge zentral und für den Medienintellektuellen konstitutiv: erstens der Iconic Turn – die durch das Fernsehen initiierte Wende vom Wort zum Bild – und zweitens die Entwicklung und enorme Ausweitung digitaler Kommunikationsmedien wie des Internets. Letzteres habe die politisch-mediale Öffentlichkeit zwar erweitert und egalisiert, zugleich aber auch entformalisiert und damit wichtige Errungenschaften traditioneller Öffentlichkeiten geschwächt. Während diese nämlich Informationen und Mitteilungen filterten und so die Aufmerksamkeit des anonymen und zerstreuten Publikums auf bestimmte Themen bündelten, fehle heute eine solche Konzentrierung. Die Beiträge von Intellektuellen verlören infolgedessen die Kraft, einen Fokus zu bilden. In der verbildlichten und entformalisierten Öffentlichkeit, so Habermas weiter, würden Sichtbarkeit, verstanden als gekonnte Selbstdarstellung mit Wiedererkennungseffekt, und Prominenz im Sinne von Bekanntheit zu den wichtigsten Qualitäten gehören, um sich überhaupt noch Gehör verschaffen zu können. Dadurch aber müssten sich Diskurs und Selbstdarstellung zwangsläufig vermischen; in der Folge entdifferenziere sich die Rolle des Intellektuellen und gleiche sich der des Experten, zumal des Journalisten und Politikers an. Habermas schließt mit bitterem Unterton: »Vielleicht erklärt das, warum die Runden aus Politikern, Experten und Journalisten, die sich bei einer dieser fabelhaften Moderatorinnen treffen, keine Lücke lassen, die ein Intellektueller schließen müsste. Wir vermissen ihn nicht, weil alle anderen seine Rolle längst besser ausfüllen.«6
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4 Vgl. Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen 1898–2001. Geburt – Begriff – Grabmal, Berlin 2010. 5 Vgl. Jürgen Habermas, Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Die Rolle des Intellektuellen und die Sache Europas, in: Ders. (Hg.), Ach, Europa. Kleine Politische Schriften XI, Frankfurt a. M. 2008, S. 77–87. 6 Ebd., S. 83.
So unbestimmt Medienintellektuelle erscheinen, indem sie mal in wissenschaftlicher und bevorzugt philosophischer, mal in polit-journalistischer Manier auftreten, so eindeutig sind die Techniken, derer sie sich im Ringen um Aufmerksamkeit bedienen.7 Entscheidend ist (Omni-)Präsenz in den Medien, vorzugsweise den Talkshows, um entweder aktuelle Ereignisse zu kommentieren oder Kampagnen zu initiieren, die im weiteren Verlauf selbst wieder kommentiert werden können. Da die Massenmedien Interventionen mit news value bevorzugen, gehören Sensationen und Skandale zum Standardrepertoire medienaffiner Intellektueller. Reichlich Beispiele dafür liefert Sloterdijk, etwa mit seinen Angriffen auf den Sozialstaat – zur Erinnerung: die »institutionalisierte Kleptokratie« – oder mit seiner jüngsten Invektive gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, die ihm als »Akt des Souveränitätsverzichts« mit der Gefahr einer »Überrollung« Deutschlands gilt.8 Prominente Gegenrede sowie eine wochenlange Feuilletondebatte waren und sind garantiert. Systematisch dokumentieren solche Interventionen eine Simplifizierung der Inhalte; denn Erfolg versprechen weniger die sachlich abgewogenen und angemessen komplexen Beiträge als die sprichwörtliche klare Kante. Im Vergleich mit »klassischen Intellektuellen« sind für Medienintellektuelle daher auch nicht mehr wissenschaftliche oder literarische Reputation Mittel und Maßstab ihres öffentlichen Eingreifens, sondern in höherem Ausmaß externe Kompetenzen wie Streitbarkeit, Unnachgiebigkeit oder die Fähigkeit, zu provozieren und Tabus zu brechen. Doch gleichsam konträr zur Klartext-Rede verhält sich die Unbestimmtheit der politischen Position und des politischen Engagements des Großteils der Medienintellektuellen. Regelmäßig löst sich nämlich in der hitzigen Debatte, im kontinuierlich befeuerten Für und Wider die anfängliche Klarheit in Rauch auf. So kann kaum verwundern, dass sich Sloterdijk – nachdem Kritiker in seinem Beitrag zur Flüchtlingspolitik eine neu-rechte Gesinnung 7 Vgl. Stephan Moebius, Der Medienintellektuelle, in: Ders. u. Markus Schroer (Hg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2010, S. 277–290. 8 O. V., »Das kann nicht gut gehen.« Peter Sloterdijk über Angela Merkel, die Flüchtlinge und das Regiment der Furcht, in: Cicero. Magazin für politische Kultur, H. 2/2016, S. 14–23, hier S. 21.
ausgemacht haben – in seiner Replik als Linkskonservativen bezeichnet. Hat der Rauch sich gelegt – in der Regel nach dem (beleidigten) Rückzug des (sich missverstanden fühlenden) Provokateurs –, bleiben vor allem die politische Unschärfe und Vieldeutigkeit der Intervention; mit anderen Worten: maximale Konfusion und maximale Anschlussfähigkeit. … DURCH EINE ERWEITERTE KULTURINDUSTRIE Der Nonkonformismus der Medienintellektuellen ist ein Äußerungsmodus: geschickt platziert, fachmännisch inszeniert und vor allem kühl kalkuliert. In der Aufmerksamkeitsökonomie des Medienapparats erzielt die rhetorische Susanne Martin — Nonkonformismus, der keiner ist
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Provokation zunächst großes Interesse. Dieses sowie die zunehmend hervortretende inhaltliche und politische Unschärfe der Intervention garantieren die Aufnahme und Weiterverwertung in Repliken. Ein medialer Streit wird in Gang gesetzt, der bewährten Mustern und Routinen folgt und bis zu seinem Abflauen die Auflagenzahlen und Einschaltquoten idealerweise erhöht. Deshalb ist aus Sicht der Medien nur konsequent, geeignete Provokateure zu identifizieren und durch Themenplatzierung oder direkte Anfrage zu einer Stellungnahme zu bewegen – eine Win-Win-Situation. Galten Intellektuelle noch in den 1950/60er Jahren als unbequeme Störenfriede, Pinscher, Schmeißfliegen und Ähnliches, die von der (Springer-)Presse gescholten und verfemt wurden, sind sie inzwischen zu begehrten und umworbenen Kollaborateuren geworden. Der Nonkonformismus der Medienintellektuellen ist daher kein Dissens, auch nicht lediglich seine domestizierte Form, sondern die zentrale Ressource für Erfolg auf einem hart umkämpften Meinungsmarkt. Mit Adorno und Max Horkheimer können wir den skizzierten Ablauf als kulturindustriellen Mechanismus interpretieren und gesellschaftskritisch reformulieren. Als »Kulturindustrie« bezeichnen die Autoren der Dialektik der Aufklärung die Prozesse der Kommerzialisierung und Vermarktlichung des kulturellen Sektors, genaugenommen aller ästhetischen und geistig-intellektuellen Arbeit. Aus dem »Imperativ der Waren- und Verwaltungsförmigkeit« leiten sie alles Wesentliche ab: die Standardisierung der Produkte, die allein auf Markterfolg ausgerichtet seien; analog die Standardisierung des Konsums, der die Konsumenten auf den Mainstream verpflichte. Selbst was davon abweicht – das Andere, das Nonkonformistische –, sei als Nische einkalkuliert und ins »System« integriert. »Clichés der Clichéfeindschaft« nennt dies Adorno; als Konformismus des Andersseins bezeichnet es Bolz.9 Die Kritik Adornos und Horkheimers zielt zum einen auf die soziale Funktion von Kulturindustrie, die in der Reproduktion herrschender gesellschaftlicher Verhältnisse besteht, indem sanft, nämlich durch Konsum, vorgegebene Deutungen, Denk- und Verhaltensweisen trainiert werden. Zum anderen ist sie als Kritik der Intellektuellen lesbar, die häufig allzu bereitwillig den Vorgaben und Modi der (Medien-)Öffentlichkeit folgen, um Aufmerksamkeit sowie Erfolg kämpfen und sich dabei letztlich selbst zu »KulturindustrieArbeitern« machen. Während die Beobachtungen und Analysen der Frankfurter Schule vorrangig fordistische Produktionsverhältnisse reflektieren, haben wir es seit den 1980er Jahren mit einer neoliberalen Transformation zu tun, im Zuge derer weitere und zunehmend mehr gesellschaftliche Bereiche dem Warenund Kapitalverhältnis unterstellt werden. Freilich ist nicht alles, was etwa
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9 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt a. M. 1980, S. 236.
im Internet und den neuen sozialen Medien ein Erfolg wird, von vornherein warenförmig strukturiert; häufig wird es erst nachträglich kommerzialisiert oder ausbeutbar gemacht. Auch Warenförmigkeit unterliegt einem Wandel, und die angemessene Aktualisierung von theoretischen Instrumenten muss deren »Zeitkern« berücksichtigen. Dennoch scheint sinnvoll, die heute veränderten Bedingungen geistigintellektueller Arbeit als »erweiterte Kulturindustrie« zu beschreiben.10 Die Grundannahme bleibt zunächst dieselbe: Intellektuelle Arbeit unterliegt – in zugleich verändertem wie erweitertem Ausmaß – der Waren- und Verwaltungsförmigkeit und wird entsprechend restrukturiert, d. h. in der Regel den Anforderungen eines Marktes angepasst. Nahezu unbestritten ist bspw. die Vorstellung, dass Wissen vor allem nützlich und verwertbar sein und daher in konsumierbarer Form, nämlich als Information oder Unterhaltung, dargeboten werden müsse. Dies ist, wie gesagt, kein neues Phänomen; doch in den klassischen Tätigkeitsfeldern der Intellektuellen weitet es sich aus. Vermehrt bieten etwa Wissenschaftler ihre Erkenntnisse in populärer Form an, teils an der Grenze wissenschaftlicher Seriosität, wie die Hirnforschung und neuerdings die Philosophie mit ihrer kaum noch überschaubaren Lebenserklärungs- und Lebensratgeberliteratur vormachen. Die entsprechenden TVFormate nennen sich Info- und Dokutainment oder Confrontainment in Gestalt der inzwischen fast allabendlich ausgestrahlten Talkshows. Hier nun agieren die Medienintellektuellen und demonstrieren in ihren Performances vor allem eines: dass sie das Spiel beherrschen – ihr Markenzeichen, der Nonkonformismus, ist demnach nichts anderes als das getreue Befolgen der Spielregeln. Ich fasse kurz zusammen: Medienintellektuelle sind kulturindustrielle Intellektuelle. Ihr Nonkonformismus ist nicht Ausdruck von Protest oder Widerstand gegen den Status quo und verfolgt schon gar nicht das Ziel emanzipatorisch-politischer Veränderung. Stattdessen bedienen sie kulturindustrielle Forderungen und befolgen letztlich vorgegebene Imperative – ob mit »linken« oder »rechten« Stellungnahmen ist dabei zweitrangig und häufig genug unklar. Damit hat sich in der Figur und Rolle des Medienintellektuellen der Nonkonformismus, der intellektuelle Interventionen von Émile Zola über Jean-Paul Sartre bis zu Adorno und Habermas gekennzeichnet hatte, in sein 10 Vgl. Christine Rech u. Heinz Steinert, Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse, in: Alex Demirovic´ (Hg.), Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven der Kritischen Theorie, Stuttgart 2003, S. 312–339.
Gegenteil verkehrt. DER NONKONFORMISMUS DER INTELLEKTUELLEN Ich habe nun beiläufig die Kritik des Status quo – das meint der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, in denen wir leben – als Kriterium für intellektuellen Nonkonformismus eingeführt. Das möchte ich abschließend Susanne Martin — Nonkonformismus, der keiner ist
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als Forderung festhalten, die sich aus der Kulturindustrie-Theorie ableiten lässt. Für Adorno und Horkheimer ergibt sich die gesellschaftskritische Rolle der Intellektuellen aus deren sozial privilegierter Erkenntnisposition: In einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft sind sie es, die einen privilegierten Zugang zu und bevorzugte Teilhabe an Wissen und Erkenntnis genießen und die Möglichkeit haben, Abstand vom gesellschaftlichen Lebensprozess und dessen Deutungsrahmen zu nehmen. Distanz- oder Abstandnahme meint hier aber zunächst nichts anderes, als das Gewohnte und Selbstverständliche infrage zu stellen und der Kritik zugänglich zu machen – getreu der Einsicht Nietzsches, dass man die Stadt verlassen muss, um zu sehen, wie hoch sich ihre Türme über die Häuser erheben. Auf dasselbe zielt wohl auch Habermas, wenn er von den Intellektuellen einen »avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen«, vor allem aber »für das, was fehlt und ›anders sein könnte‹«, fordert.11 Intellektueller Nonkonformismus im hier vorgeschlagenen Verständnis als Theorie und Praxis der Kritik hat sich nicht erübrigt – auch wenn der in regelmäßigen Abständen verkündete Niedergang der Intellektuellen oder der Aufstieg der Medienintellektuellen dies vielleicht nahelegt. Themen und Fragen für kritisch-eingreifendes Denken gibt es genug. Doch es äußert sich weder in der bloßen Geste oder Inszenierung des »Anti« noch in der neureaktionären Haltung, die Bolz vorschlägt, oder einem elitären Selbstverständnis, das Adorno häufig vorgehalten wird. Stattdessen kann Begriffsarbeit diese aktuell existierenden Vorstellungen dekonstruieren und damit verbundene Effekte, Unterstellungen und Interessen sichtbar machen und kritisieren – man kann dies ein ideologiekritisches Verfahren nennen. Was die kritische Dekonstruktion des herrschenden Nonkonformismus exemplarisch zeigen sollte, kann abschließend mit Axel Honneth als generelle Aufgabe gesellschaftskritischer Intellektueller formuliert werden: die Hinterfragung des Selbstverständlichen, der geteilten und eingespielten Überzeugungen, Deutungen, Denk- und Verhaltensweisen.12 Dem geht die Nicht-Akzeptanz kollektiver Orientierungen voraus; der Nonkonformismus der Intellektuellen wäre demnach vor allem anderen negativ, im ursprünglichen Wortsinn von verneinend.
Dr. Susanne Martin, geb. 1977, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Kritische Theorie, Gesellschaftstheorie sowie Geschichte und Theorie der Intellektuellen.
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Habermas, S. 84.
12 Vgl. Axel Honneth, Idiosynkrasie als Erkenntnismittel. Gesellschaftskritik im Zeitalter des normalisierten Intellektuellen, in: Uwe Justus Wenzel (Hg.), Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden, Frankfurt a. M. 2002, S. 61–79.
INTERVIEW
RICHTER SIND INTERPRETEN UND KEINE SUBSUMPTIONSAUTOMATEN ÜBERLEGUNGEN ZU BEGRIFF UND ENTSTEHUNG ABWEICHENDEN VERHALTENS ΞΞ Helge Peters
Was genau ist unter abweichendem Verhalten zu verstehen? Und wie ist aus wissenschaftlicher Perspektive nach Devianz zu fragen? Noch in den 1960er Jahren hätte man mit einer einfachen Antwort auf diese Frage rechnen können: Unter abweichendem Verhalten verstand man in der Soziologie »normbrechendes Verhalten«. Als Normen galten gesellschaftlich durchgesetzte Verhaltensanforderungen. Im Anschluss vor allem an Emile Durkheim wurde angenommen, dass Normen objektiv vorfindliche, von den Individuen unabhängige, ihnen gegenüberstehende, äußerliche Tatsachen seien. Erkennbar sei die Existenz einer Norm vor allem an den Folgen des Verstoßes gegen sie, an der Strafe. Dieses Verständnis von abweichendem Verhalten versprach klare Definitionen der Arten abweichenden Verhaltens. Je nach Norm ließen sich Abweichungen klassifizieren. Dieses – wie man in der Devianzsoziologie gern sagt – »objektivistische« Verständnis abweichenden Verhaltens wurde dann in den folgenden Jahren mehr und mehr problematisiert, und zwar von zwei Seiten: Vor allem interaktionstheoretisch orientierte SoziologInnen zweifelten zum einen daran, dass man mit einem solchen Normverständnis abweichendes von konformem Verhalten unterscheiden könne. Zwar sei nicht zu leugnen, dass Normen als sprachliche Konstrukte vorhanden seien; solche Konstrukte hätten aber nicht den Charakter einer den Menschen äußerlichen Tatsächlichkeit. Vielmehr bestünden sie aus Vorstellungen, die in unterschiedlichen situationellen Zusammenhängen aktualisiert und spezifiziert würden. Die Tötung eines Menschen zum Beispiel könne je nach situationellem Zusammenhang etwa
INDES, 2016–3, S. 113–122, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X
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als soldatische Pflicht oder strafrechtlich relevanter Mord verstanden werden. Die Bedeutung einer Handlung – ob abweichend oder konform – lasse sich also nicht feststellen, indem man eine Handlung zu einer Norm ins Verhältnis setze. In ähnlicher und noch gründlicherer Weise wurde zum anderen die Handlungsvorstellung problematisiert, die dem bis in die 1960er Jahre verbreiteten Verständnis von abweichendem Verhalten zugrunde lag, demzufolge Handlungen als objektive Tatsachen vorlägen. Vor allem interaktionstheoretisch orientierte SoziologInnen störte diese Annahme. Sie fragten nach den Vorgängen, aufgrund derer wir annehmen, dass eine Handlung eine Tatsache sei. Abweichendes Verhalten bezeichnet zumeist Handlungen anderer. Um die Handlungen anderer als Tatsachen zu erkennen, versuchen wir – dies ist ein Begriff, den Max Weber in die Soziologie eingeführt hat – ihren »subjektiven Sinn« zu erkennen. Dieser subjektive Sinn aber liegt meist nicht offen zutage. Wir sind deswegen genötigt, den subjektiven Sinn zu erschließen. Und dies geschieht, indem wir uns die Umstände, die »Kontexte«, klarzumachen versuchen. Die Notwendigkeit, zu erschließen, besteht insbesondere für Handlungen, die als abweichend verdächtig sind. Die Einschätzung »abweichend« kann bekanntlich unangenehme Folgen für ihre Adressaten haben. Darum wird im Alltag, vor allem aber in Gerichtsverhandlungen – in denen es um die bekannteste Art abweichenden Verhaltens geht: um Kriminalität –, sehr oft nach den Kontexten der infrage stehenden Handlungen gefragt. Kontext kann vieles sein: das Geschlecht, das Alter, der Beruf des Verdächtigen etwa, aber auch die Tageszeit, in der gehandelt worden ist, der Handlungsort usw. RichterInnen erscheint zum Beispiel plausibel, dass die Flasche Schnaps, die sich – umhüllt von einem Regenschirm – im Einkaufswagen des arbeitslosen Hilfsarbeiters gefunden hat, als dieser sich durch die Kasse des Supermarkts zu schlängeln versuchte, auf einen »Diebstahl« hindeutet. Im Fall der Flasche Scheuermilch, die sich – ebenfalls von einem Regenschirm umhüllt – im Einkaufswagen der Frau des Ministerialrats gefunden hat, als auch sie versuchte, die Supermarktkasse zu passieren, wird dagegen statt von Diebstahl eher von Kleptomanie ausgegangen. Zwei physikalisch ziemlich ähnliche Handlungen werden hier in die Nähe ganz unterschiedlicher Handlungsdefinitionen gerückt: Einmal entsteht der Verdacht »kriminell«, einmal entsteht der Verdacht »pathologisch«. Derartige – zugegebenermaßen plakative – Beispiele illustrieren die Behauptung interaktionstheoretisch orientierter DevianzsoziologInnen, dass RichterInnen – indem sie urteilen und dabei ihrem Verdacht folgen – Handlungen anderer schaffen würden: Kriminalität zum einen, krankhaftes Tun zum anderen. Das ist natürlich eine starke
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Nonkonformismus — Interview
Behauptung. Begründet wird sie mit einer der zentralen Annahmen des von diesen SoziologInnen vertretenen Symbolischen Interaktionismus. Diese besagt, dass Dinge »an sich« qualitätslos seien. Sie erhielten ihre Bedeutungen und damit ihre Qualitäten zunächst durch den Umgang mit ihnen. Bedeutung werde ihnen zugeschrieben und dann oft gesellschaftlich tradiert. Für kriminalsoziologische Untersuchungen von Gerichtsverhandlungen bedeutet dies, dass Urteile als Zuschreibungen von Handlungsqualitäten verstanden werden müssen. Abweichendes Verhalten ist dann also was? Folgt man dem hier wiedergegebenen Gedankengang, muss man wohl das objektivistische Verständnis abweichenden Verhaltens – die Vorstellung, dieses Verhalten liege objektiv vor, sein objektives Merkmal sei der Normbruch – aufgeben. Im Anschluss an die vorangegangene Argumentation liegt vielmehr nahe, die berühmte Definition des US-amerikanischen Soziologen Howard S. Becker zustimmend zu zitieren: »[A]bweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so bezeichnen«. Allerdings befriedigt diese Definition nicht ganz. Es ist ja nicht so, dass ein Verhalten schon als abweichend gilt, wenn irgendwelche Menschen es so benennen. Offenbar kommt es darauf an, dass diese Menschen auch die Macht haben, ihren Definitionen der Handlungen anderer Geltung zu verschaffen. In unserer Gesellschaft gehören zum Beispiel RichterInnen zu solchen Menschen: Ihr Urteil gilt. Unter abweichendem Verhalten ist also ein Verhalten zu verstehen, das Menschen, deren Definitionen Geltung haben, als abweichendes Verhalten bezeichnen. Sind Kriminelle dann also nur jene, die strafrechtlich verurteilt worden sind? Folgt man den Überlegungen der interaktionstheoretisch orientierten DevianzsoziologInnen: ja. Nur die richterlich definierte Kriminalität wäre Kriminalität. Ein »Dunkelfeld« – dieser Begriff unterstellt die objektive Vorfindbarkeit von Kriminalität – existierte nicht. Der beschriebene Charakter von Normen und Handlungen lässt ja die Annahme nicht zu, dass die dem Dunkelfeld zugerechneten Handlungen von RichterInnen auch kriminalisiert worden wären. RichterInnen sind diesen Überlegungen zufolge Interpreten der Handlungen anderer. Und keiner weiß, ob sie die Dunkelfeldhandlungen als Kriminalität interpretiert hätten. Das interaktionstheoretisch begründete Verständnis von Kriminalität entspricht übrigens dem strafrechtlichen Verständnis von Kriminalität: Nur wer verurteilt wird, ist ein Krimineller. Helge Peters — Richter sind Interpreten und keine Subsumptionsautomaten
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Wie entsteht eigentlich »abweichendes Verhalten«? Inwiefern unterscheidet es sich von anderen Praxen des Regel- oder Konventionsbruches, etwa kriminellem Verhalten? Zwei Umstände hindern daran, diese Frage glatt zu beantworten. Zum einen gelten viele Verhaltensweisen als abweichend: Eigentumskriminalität, Aggressionskriminalität, Drogenkonsum, Prostitution, Homosexualität, Selbstmord und noch einige mehr. Und die Bedingungen der Entstehung dieser Vielzahl von Verhaltensweisen sind sehr verschiedenartig. Zum anderen variiert die Antwort auf die Frage nach der Entstehung von Devianz mit den Unterschieden, die zwischen den verschiedenen Soziologien abweichenden Verhaltens bestehen. Selbst auf einem ganz hohen Abstraktionsgrad muss man zumindest zwei Arten oder Schulen der Soziologie abweichenden Verhaltens unterscheiden: die ätiologische und die interaktionstheoretische. Die ätiologische Schule orientiert sich an Vorstellungen, wie ich sie zu Beginn meiner Antwort auf die erste Frage zu skizzieren versucht habe. Sie nimmt an, dass die beispielhaft aufgeführten Devianzen objektiv vorliegen und deswegen möglich ist, nach den Ursachen dieser Devianzen zu forschen. Bei allen Skrupeln, welche die Vielzahl der Devianzarten nahelegt, kann man vielleicht sagen, dass die soziale Schichtung und sozial-ökonomische, Sozialisations- sowie Bildungsdifferenzen in den Analysen ätiologisch orientierter DevianzsoziologInnen eine hervorgehobene Rolle spielen. Aber das ist ja schon fast eine Binsenweisheit. Demgegenüber fragt die interaktionstheoretische Schule danach, wie Handlungen anderer als abweichende Handlungen definiert werden. Dabei lassen sich zwei Varianten von Antworten unterscheiden: Zuschreibungen und Thematisierungen. Geht es um Zuschreibungen, wird nach den konkreten Umständen, unter denen eine Handlung anderer als Devianz definiert wird, gefragt – ein Beispiel hierfür sind Gerichtsverfahren. Geht es um Thematisierungen, werden Aktivitäten von Gruppierungen untersucht, die daran interessiert sind, dass bestimmte Verhaltensweisen als Devianzen gekennzeichnet (und geahndet) werden. Auch hier hindert die Vielfalt der Devianzen, Zuschreibungs- und Thematisierungsaktivitäten im Einzelnen zu benennen. Vielleicht kann man sagen, dass es seit einigen Jahrzehnten zwei Thematisierungstendenzen gibt: zum einen Entkriminalisierungstendenzen, welche die sogenannten Devianzen ohne Opfer betreffen – zu diesen Devianzen zählen Homosexualität, Prostitution, Pornokonsum; und zum anderen Tendenzen zur Intensivierung der Kriminalisierung, die Handlungen betreffen, welche die körperliche Unversehrtheit gefährden oder bedrohen – der Regel- und Konventionsbruch »Erzwingung des ehelichen Beischlafs« zum Beispiel wird zum Verbrechen »Vergewaltigung in der Ehe«.
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Es gibt die These, dass sich Gesellschaften, die von Statusunsicherheit und Abstiegsängsten geprägt sind, durch einen Trend zum Konformismus auszeichnen. Daher die Frage: Leben wir in angepassten Zeiten? Ich denke nicht. Man kann seit Jahrzehnten eine Tendenz zur – so drückt es der Soziologe Hans Joas aus – Sakralisierung der Person beobachten. Die eben erwähnten Entkriminalisierungs- und Kriminalisierungstendenzen darf man als Beleg für diese Annahme nehmen. Vieles aber wird so kriminalisiert wie eh und je. Für die Konformismusthese spricht das nicht. Wohl aber gilt die Annahme, dass Abstiegsängste Diskriminierungsneigungen fördern. Man muss wohl der These zustimmen, dass Abstiegsängste gemildert werden, wenn es gelingt, Sündenböcke zu finden. Das erbringt einen zweifachen Gewinn: Es vergrößert die Chance, deutlich zu machen, dass man nicht selbst Schuld an seiner Lage ist – und man schafft auf diese Weise, noch jemanden »unter sich« zu haben. »Konformismus« würde ich eine solche Neigung aber nicht nennen. Hat das abweichende Verhalten ein »natürliches Milieu«, in dem es zu verorten ist? Oder kann es – allgemein gesagt – jeden treffen? Die schon skizzierten Schulen der Devianzsoziologie verneinen beide die zweite dieser Fragen: Es kann nicht jeden treffen. Oder vorsichtiger: Die Wahrscheinlichkeit, kriminell bzw. kriminalisiert zu werden, variiert mit dem sozialen Status der fraglichen Person. Je höher der Status, desto unwahrscheinlicher die Kriminalisierung. Die Begründungen für die übereinstimmenden Urteile unterscheiden sich allerdings drastisch: VertreterInnen der ätiologischen Schule sehen in Merkmalen der sozialen Bedingungen, unter denen Menschen leben, Ursachen der Kriminalität. Es gibt – wie gesagt – zahllose Ursachenannahmen: Eigentumskriminalität etwa wird verstanden als illegale Kompensation sozialstrukturell verweigerter Chancen, Gewalt als Protestreaktion auf Degradierungen usw. Dagegen sehen VertreterInnen der interaktionstheoretischen Schule in der Überrepräsentation Angehöriger unterer sozialer Schichten unter Kriminellen das Ergebnis der Schichtenselektivität der Kontrollorgane. Die in meiner ersten Antwort formulierte Gegenüberstellung von »arbeitslosem Hilfsarbeiter« und »Frau des Ministerialrats« mag illustrieren, was hier gemeint ist. Gibt es historisch besonders charakteristische Beispiele für »Devianz«? Das hängt davon ab, was als »charakteristisch« verstanden wird. Geht es um die Verbreitung? Dann wäre wohl Diebstahl charakteristisch für Devianz. Diebstahl ist das am häufigsten in Kriminalstatistiken erfasste Delikt, Helge Peters — Richter sind Interpreten und keine Subsumptionsautomaten
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und Kriminalität, die als Bruch von Strafrechtsnormen gilt, ist in modernen Gesellschaften die am weitesten verbreitete Form von Devianz. Oder ist »berühmt« gemeint? Berühmt – und wiederum ein Eigentumsdelikt – ist der 1963 in England erfolgte »große Postzugraub«, bei dem die raubende Bande 2.631.684 britische Pfund erbeutete. Berühmte Delikte finden wir auch in der griechischen Mythologie: Ödipus ermordet seinen Vater und heiratet seine Mutter; Prometheus stiehlt den Göttern das Feuer. Oder bezieht sich »charakteristisch« auf das »Wesen« der Kriminalität? Mir scheint, dieses Wesen kommt ganz gut in dem Satz Charles-Maurice de Talleyrands zum Ausdruck: »Hochverrat ist eine Frage des Datums.« Eine Handlung, die zu einem Zeitpunkt das absolute Böse darstellt und deswegen aufs schärfste kriminalisiert wird, kann zu einem späteren Zeitpunkt und in anderen sozialen Zusammenhängen zur edelsten Tat werden. Unsere Bosheitsdefinitionen, die sich in Kriminalisierungen ausdrücken, sind sozial relativ. Was verrät uns der Nonkonformismus – umgekehrt – über das Konforme, über das, was in einer Gesellschaft als »normal« angesehen wird? Inwieweit trägt er womöglich gar zum Funktionieren von Gesellschaften allgemein bei? Der Nonkonformismusbegriff bezeichnet einen Gegensatz zum Begriff »Konformismus«. Letzterer wird – wie es im »Lexikon zur Soziologie« heißt – oft abschätzig bewertet. Nonkonformismus gilt dagegen als höherwertig. Darauf verweist auch eine andere Gegenüberstellung: Der Klassiker der Kriminalsoziologie, Robert K. Merton, vergleicht Deviante oder – wie Merton sagt – »aberrants« mit »nonconformers«, Nonkonformisten. Diese, sagt Merton, würden als Personen anerkannt, die mit ihren Normbrüchen eher nicht-egoistische, hochgeschätzte Ziele verfolgten und weniger persönlichen Gewinn. »Aberrants« dagegen würden als Personen betrachtet, die mit Normbrüchen eigene Interessen verfolgten. Entlang beider genannten Vergleichs dimensionen gilt also Nonkonformismus als das Höherwertige. Solche sich aus Vergleichen ergebenden Einschätzungsdifferenzen sagen natürlich nichts über die »Natur« der verglichenen Handlungen. Vielmehr variieren diese Differenzen mit sozialen Konstellationen, in denen diese Handlungen ablaufen. Der »aberrante« Dieb verfolgt eigene Interessen, ist also egoistisch in der Wahrnehmung wahrscheinlich der meisten anderen. Seine Familie, die von dem Diebesgut lebt, sieht das mutmaßlich anders. Sie könnte die ungewöhnliche Art der Beschaffung des Lebensunterhalts als Handlung eines Nonkonformisten einschätzen, der sich für andere, also »höhere« Ziele eingesetzt hat. Insgesamt gilt, dass die jeweiligen Bezugsgruppen darüber entscheiden, ob eine Handlung egoistisch oder höherwertig nonkonformistisch ist. In dem
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genannten Beispiel dürfte die adelnde Nonkonformismus-Zuschreibung nur von einer kleinen Minderheit betrieben werden, möglicherweise nur von der Familie des Diebs. Im Gegensatz zur großen Mehrheit der anderen hat sie wenig Macht oder – wie SoziologInnen in diesem Fall sagen – Definitionsmacht. Kurzum: Die Wertschätzung einer Handlung – ob höherwertig und nonkonformistisch oder niedrigwertig und deviant – hängt von der Definitionsmacht der beteiligten Gruppen ab. Prometheus’ Feuerdiebstahl erbrachte ihm Ruhm, weil er die Menschheit rettete. Ein Held wie Herkules rettete Helge Peters — Richter sind Interpreten und keine Subsumptionsautomaten
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ihn. Die Römer raubten die Sabinerinnen und retteten damit Rom. Die Stadt dankte es ihren räuberischen Männern. Die Devianten hatten in diesen Fällen hinreichend Definitionsmächtige auf ihrer Seite. Ihre Eigentumskriminalität wurde hochgeschätzt, war Nonkonformismus. Die Eigentumskriminalität des gegenwärtigen »Autoschiebers« darf dagegen nicht mit einer derartigen Würdigung rechnen – Chancen, mit seinem Handeln zum Nonkonformisten zu werden, hat dieser nicht. Allerdings wandeln sich verbreitete Verhaltenseinschätzungen auch im Zeitverlauf. Homosexualität zum Beispiel wurde – wie erwähnt – in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 strafrechtlich verfolgt. Man kann sagen, dass sich seither die Bewertung der Homosexualität gewandelt hat. Nach unserer »Theorie« müssten sich in dem skizzierten Zeitraum Definitionsmachtverschiebungen ergeben haben. Das ist offenbar der Fall. Nicht besonders hervorhebenswert ist noch der Umstand, dass heute Bürgermeister von Großstädten stolz auf ihre »Christopher-Street-Days« sind. Das erklärt ja die Definitionsmachtverschiebungen noch nicht. Jedoch gibt es Anhaltspunkte für die erklärende Annahme, dass die hoheitliche Würdigung der »ChristopherStreet-Days« mit den ökonomischen Interessen von Gebietskörperschaften zusammenhängen. Richard Florida zum Beispiel macht in seinem Buch »The Rise of the Creative Class« deutlich, dass die mit Homosexualität verbundene Kultur die ökonomische Produktivität der Region fördere. Einen ähnlichen Mechanismus beschreiben Luc Boltansky und Eve Chiapello mit Blick auf den Wandel als attraktiv geltende Manager-Attitüden. Sie stellen fest, dass Inhalte einer Variante der linken Kapitalismus-Kritik, die sogenannte Künstlerkritik, Managern als Attitüde empfohlen werden. »Künstlerkritik« heißt sehr grob: Kritik an der Monotonie und Fremdbestimmtheit der Arbeit, Forderungen nach Möglichkeiten der Kreativität und Autonomie bei der Arbeit. Die einst verachtete Kritik am Kapitalismus wird im Interesse neuer Produktivitätserwägungen vereinnahmt. Politisch weithin diskreditierte und für gefährlich gehaltene Attitüden werden zum geschätzten Nonkonformismus. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist die Frage folgendermaßen zu beantworten: Das, was als Nonkonformismus gilt, sagt ziemlich wenig über das Normale – allenfalls, dass dies das harmlose, langweilige, biedere Verhalten darstellt. Es sagt aber etwas über die Wandelbarkeit von Devianzbewertungen: Ein Wandel von deviantem zu nonkonformem Verhalten besagt, dass dieses Verhalten gesellschaftlichen Gruppen mit Definitionsmacht nützt oder ihnen doch zumindest nicht (mehr) gefährlich werden kann. Deswegen hat Homosexualität in modernen »westlichen« Gesellschaften die Chance gehabt, als nonkonformistisch zu gelten, nicht aber die Eigentumskriminalität.
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Braucht die Soziologie das abweichende Verhalten, um anhand des Nonkonformen das Normale untersuchen zu können? Die Soziologie braucht das abweichende Verhalten zu diesem Zweck wohl nicht. Sie liest »Normalität« an dem Verhalten der Instanzen ab, die über »Normalität« zu wachen haben – am Verhalten der Strafgerichte, der Polizei, auch der Sozialarbeit. Das nicht-sanktionierte oder das nicht mit Sanktionen bedrohte Übrige ist das Zugelassene. Das meiste davon ist Normalität. Stichwort Rechtspopulismus: Attribute des Völkischen und Nationalen galten lange als verpönt. Fördert der Reiz des Verbotenen die Konjunktur des aktuellen Rechtspopulismus? Und ist Rechtspopulismus möglicherweise eine Form »sekundärer Devianz«? Ich glaube nicht, dass man hier mit der These des »Reizes des Verbotenen« sehr weit kommt. Verboten ist ja vieles – warum also gerade dieses Verbotene, wäre zu fragen. Auch die verbreitete These, nach der es sich hier um Personen handele, die ihren sozialen Status bedroht glaubten und deswegen nach Sündenböcken suchten, greift hier zu kurz. Sie würde Diskreditierungsneigungen erklären, nicht aber den Nationalismus und die damit einhergehende Diskriminierung von Ausländern. Warum werden vor allem sie diskreditiert und nicht Rothaarige? Leider ist der Inhalt der Diskreditierung ernst zu nehmen. Die Diskreditierenden sehen in den Ausländern wohl großenteils tatsächlich Konkurrenten. Und zu einem ganz geringen Teil sind sie es ja auch. Konkurrenten aber sind natürlich auch die Deutschen. Der Nationalismus hat also einen schäbigen rationalen Kern. Die Nation soll die in der jeweiligen Gesellschaft Zukurzgekommenen schützen; sie soll deren Egoismen dienen; sie soll den bescheidenen Wohlstand, den man erworben hat, erhalten helfen. Etwas rätselhaft ist, dass die Nationalismen gerade gegenwärtig häufiger artikuliert und politisch auch wirksam werden. Neuerdings gibt es MoralunternehmerInnen, die den Nationalismus wieder salonfähig machen und den entsprechenden dumpfen Empfindungen wieder Chancen der Entäußerung geben. Aber dieser Hinweis verschiebt die Frage nach den Ursachen nur: Warum haben sich die MoralunternehmerInnen gerade gegenwärtig etablieren können? Warum hört man ihnen zu? Die Annahme, dass diese Aktivitäten Ausdruck der gesellschaftlichen Verwerfungen sind, die Globalisierung und Neoliberalismus verursacht haben, ist wohl eine Catchall-These. Mir scheint da doch die weltweite Aufmerksamkeit, die den Flüchtlingen aus Syrien und Afrika zuteil geworden ist, eine Rolle zu spielen. Als »sekundäre Devianz« würde ich die gegenwärtig verbreiteten Nationalismen jedoch nicht bezeichnen. Die These von der sekundären Devianz besagt ja, Helge Peters — Richter sind Interpreten und keine Subsumptionsautomaten
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dass der Zugriff der Instanzen sozialer Kontrolle und insbesondere strafrechtliche Verurteilungen dazu führen, dass sich die sozialen Teilnahmechancen der Betroffenen derart verringern, dass ihnen oft nur noch der Weg in die Kriminalität bleibt. Für die von Ihnen für möglich gehaltene Analogie fehlt der erste, die Teilnahmechancen verringernde Zugriff von Instanzen. Man kann sich zwar eine Karriere vorstellen, an deren Ende der »Nationalist« steht; dies aber doch nicht als letzte Station einer Laufbahn, die typischerweise durch den Zugriff von Instanzen ausgelöst worden wäre. Schließlich: Braucht eine Gesellschaft abweichendes Verhalten? Mit Blick auf Kriminalität – der wohl wichtigsten Art abweichenden Verhaltens – ist diese Frage von DevianzsoziologInnen schon mehrfach angesprochen worden. Emile Durkheim hat sie bejaht: Die sozialen »Kollektivgefühle« müsse die »Gemeinschaft« mit »gesteigerter Lebhaftigkeit« empfinden. Dies gelinge durch Sanktionierungen von Verbrechen. Die Reaktion auf Verbrechen fördert danach die – wie wir heute sagen würden – »Integration« von Gesellschaften. Neuere soziologische Untersuchungen zur Funktion strafrechtlicher Sanktionierungen widersprechen solchen Annahmen jedoch. Bemängelt wird hier der gesamtgesellschaftliche Bezug: Sanktionierungen würden nicht »der Gesellschaft«, sondern bestimmten Gruppierungen der Gesellschaft nützen. In vielen Thesen ist diese Annahme ausformuliert worden. Recht bekannt geworden ist die »Governing-through-Crime«-These, die etwa besagt, dass es weniger auf die Kriminalitätsentwicklung ankomme, wichtiger sei stattdessen der Umgang mit ihr. Die Dramatisierung der Kriminalität sei ein Mittel zum Erhalt und Ausbau politischer Herrschaft. Die politische Herrschaft könne sich via Dramatisierung als Beschützer inszenieren und dadurch ihre Legitimität steigern.
Prof. Dr. Helge Peters wurde 1937 in Lübeck geboren. Er war als Professor tätig an der Universität Frankfurt a. M. und am Fachbereich Pädagogik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er ist nunmehr emeritierter Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziologie abweichenden Verhaltens und sozialer Kontrolle am Institut für Sozialwissenschaften an dieser Universität. Seine Arbeiten orientieren sich an den Annahmen des Symbolischen Interaktionismus und der Polit- Ökonomie.
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PERSPEKTIVEN
INTERVIEW
VON FLIEGENBEINZÄHLERN UND MÄRCHENONKELN EIN GESPRÄCH ZWISCHEN KLAUS VON BEYME UND ECKHARD JESSE ÜBER TRENDS IN DER DEUTSCHEN POLITIKWISSENSCHAFT, ALTERNATIVE KARRIEREWEGE UND DEN WERT DER HABILITATION Herr von Beyme, Sie haben 2016 Ihre Memoiren publiziert. Wann und wieso haben Sie den Entschluss zum Schreiben des Erinnerungswerkes gefasst? Klaus von Beyme (KvB): Memoiren helfen auch gegen Altersvergesslichkeit. Ich begann mit achtzig Jahren zu schreiben, die Idee war mir etwa mit 75 gekommen, aber ursprünglich nicht mit der Intention, sie zu veröffentlichen. Der Verlag hat mich dazu ermuntert. Es könnte einige meiner Schüler und Kollegen interessieren. Herr Jesse, Sie haben die Erinnerungen Klaus von Beymes überaus wohlwollend besprochen … Eckhard Jesse (EJ): Wer über sich schreibt, steht immer im Verdacht der Selbstbespiegelung. Klaus von Beyme schildert höchst anschaulich sein Leben, verknüpft dieses mit seinem Werk. Das Dienstliche steht in einem angemessenen Verhältnis zum Privaten, Ereignisse überlagern zu Recht Reflexionen. Allerdings nenne ich auch Punkte, die mir weniger gefallen haben, etwa verdeckte Eitelkeit. Der Autor lässt andere Gutes über sich sagen. Und man hätte schon gerne gewusst, wie die dicken Werke nun entstanden sind. Schließlich: Konflikte bringt Klaus von Beyme nur in abgemilderter Form zur Sprache, wenn überhaupt. Herr von Beyme, Eckhard Jesse hat jüngst in INDES die hiesige Politikwissenschaft gescholten: mangelnde Urteilskraft, »Versozialwissenschaftlichung« des Faches, Vernachlässigung historischer Rahmenbedingungen, Selbstreferenzialität, schwache öffentliche Sichtbarkeit. Steht das Fach so schlecht da? KvB: Einerseits folge ich diesem Trend als Nebenfachhistoriker, der immer die historischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen versucht, nur
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INDES, 2016–3, S. 124–137, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X
bedingt. Andererseits bin ich milder gegen die »Versozialwissenschaftlichung«, da ich kein Normativist bin wie Eckhard Jesse. Ich sehe das als eine Entwicklung, die nicht aufzuhalten ist und die etwas zu tun hat mit Arbeitsteilung und der Abgrenzung von anderen Fächern. Wir mussten irgendwann soziologischer werden. Was die fehlende öffentliche Sichtbarkeit des Faches angeht, stimme ich Eckhard Jesse hingegen zu. Einige – wie Jürgen W. Falter oder Karl-Rudolf Korte – spielen zwar eine gewisse Rolle, aber insgesamt sind wir zu wenig präsent. Wir müssen auch stärker politikberatend tätig werden. Da habe ich selber zu wenig getan, was wohl daran liegt, dass wir recht wenig erreichen können. Fritz Scharpf, der in dieser Hinsicht sehr aktiv war, hat das mehrfach beklagt. Da geht es uns nicht anders als den Soziologen, die es allerdings schlechter als wir schaffen, größere Wissensbestände zusammenzufassen, weil sie stärker zersplittert sind. Was können wir von der Politikwissenschaft im Ausland mit Blick auf die »Einmischung in die Tagespolitik« lernen? EJ: Wir Politikwissenschaftler sollten uns zwar hier und da einmischen, aber die Politik ist ebenso eine andere Ebene wie die Publizistik. Selten ist ein guter Politikwissenschaftler ein guter Politiker geworden. Mir fällt nur Hans Maier ein. Im Ausland dürfte dies nicht anders sein. Insofern weiß ich nicht, ob »das« Ausland Vorbild sein kann. KvB: Die Vorstellung, in Amerika seien alle Politologen in den politischen Alltag eingebunden, ist falsch – abgesehen von Einzelnen, die es, wie etwa Henry Kissinger, in die Politik geschafft haben. Solche Wechsel gab es bei uns auch, wenn man zum Beispiel Peter von Oertzen und all die Leute betrachtet, die aus unserem Fach meistens Kultusminister geworden sind. Insgesamt sind das jedoch hier wie da Ausnahmeerscheinungen. Auch in den USA lehren die meisten in der Provinz. Die werden mal gefragt von ihrer
Heimatzeitung; aber das ist genauso wie in Baden-Württemberg, wo ich in der Rhein-Neckar-Zeitung etwas sagen darf. Auch in Großbritannien sehe ich keinen totalen Durchbruch der Sozialwissenschaften – anders als in Frankreich mit seinen Stars wie Maurice Duverger oder Alfred Grosser, die in den Medien eine große Rolle spiel(t)en. Sollten Politikwissenschaftler also stärker als öffentliche Intellektuelle auftreten? KvB: Grundsätzlich ist der öffentliche Intellektuelle die uns Politik wissenschaftlern gemäße Rolle. Zugleich bin ich pessimistisch mit Blick auf die Möglichkeiten: Die Medien schrumpfen, und die Gelegenheit, durch große Artikel die Bevölkerung aufzurütteln, sehe ich nicht. Die junge Generation Ein Gespräch zwischen Klaus von Beyme und Eckhard Jesse
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muss mit großer Verve die Chancen der neuen Medien nutzen, zu denen ich keinen Bezug mehr habe. Aber machen wir uns nichts vor: Auch die Jugend wird die Politik nicht umkrempeln, weil die gesellschaftlichen Subsysteme zu stark voneinander abgeschottet sind. EJ: Ja, aber eine Einmischung der Politikwissenschaftler bitte nur zu Themen, bei denen sie etwas zu sagen haben. Was ich ablehne: seinen Namen unter diese oder jene Resolution zu setzen, als werde dadurch das betreffende Anliegen bedeutsamer. Einmal bin ich »schwach« geworden: in der Causa Theodor Eschenburg. Das war ein Fehler. Es entsteht leicht der Eindruck, dass Druck ausgeübt werden solle. Wir haben als Wissenschaftler Möglichkeiten genug, unsere individuelle Meinung in der Öffentlichkeit unterzubringen. Die Aufgabe der Politikwissenschaft kann ja auch sein, politische Prozesse und Phänomene – etwa Populismus – in größeren Tageszeitungen zu erklären. KvB: In jedem Fall! Aber wir geraten hier zunehmend in Konkurrenz zu den gut organisierten und gut ausgebildeten Journalisten. Ich habe noch nie in meinem Leben an die FAZ einen Artikel geschickt. Aber meine Schülerin Christine Landfried, die das pausenlos tat, hat mir gestanden, dass von zehn eingeschickten Sachen letztlich vielleicht eine genommen wird. Wenn ich mir ausmale, was sie investiert hat … Aber vielleicht bin ich altmodisch. EJ: Die für mich im letzten halben Jahrhundert besten Publizisten im Bereich der Innenpolitik – Friedrich Karl Fromme von der FAZ und Hermann Rudolph, der bei fast allen überregionalen Tageszeitungen war – hätten sich auch als Professoren der Politwissenschaft behauptet, herausragende Politikwissenschaftler wie Claus Leggewie und Hans-Peter Schwarz ebenso als Publizisten bester Güte. Meldet ein Hochschullehrer sich zu Wort, muss er etwas über den Tag Hinausweisendes zu sagen haben. Was die FAZ angeht: Da ist »meine Quote« besser als die Christine Landfrieds. In der Politikwissenschaft pflegen die »Generalisten« gerne gegen die »Spezialisten« ins Feld zu ziehen. Wie nehmen Sie diesen Konflikt vor dem Hintergrund ihrer langen akademischen Laufbahn wahr? EJ: Es muss Generalisten und Spezialisten geben. Ein Generalist fußt auf der Erkenntnis von Spezialisten, ein Spezialist erkennt Forschungslücken bei Generalisten. Wenn jemand von einem riesigen Bereich immer weniger weiß, ist das ungefähr so, als wisse jemand von einem winzigen Bereich immer mehr. Worauf ich hinaus will: Der »generelle« Generalist ist ebenso abzulehnen wie der »spezielle« Spezialist. Was mich am meisten stört: Methodenlastigkeit ohne inhaltliche Substanz!
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KvB: Wir können nicht hoffen, so allgemein zu sein, wie es meine Lehrer Carl Joachim Friedrich und Dolf Sternberger gewesen sind. Ich habe mir damals weder vorgenommen, so etwas Lockeres, ja Feuilletonistisches wie Sternbergers Interventionen als Politikwissenschaft zu verkaufen – vor allem dann nicht, wenn damit das Mehrheitswahlrecht propagiert wird –, noch so dicke Schmöker zu schreiben wie Friedrich mit seinem »Man and His Government«. Zugleich: Wir können nicht alle »mannheimerisch« werden. Zwischen Mannheim und uns in Heidelberg gab es immer eine Kluft: Wir »Heidelberger« galten als die Märchenonkel und die »Mannheimer« als die Fliegenbeinzähler. Der alte Heidelberger Geist der übergreifenden Komparatistik ist alles andere als überflüssig. Insgesamt sollte heute mehr verschmolzen werden. In dem Punkt sind wir noch nicht weit genug gekommen. War Ihnen beiden immer klar, eine Laufbahn als Hochschullehrer einzuschlagen? Oder spielten dabei Zufälle eine Rolle – vielleicht sogar eine größere, als die Autobiografie im Rückblick vermuten lässt? KvB: Mit dem Übergang von der Rechtswissenschaft zu den Sozialwissenschaften kam schon als Student bei mir der Wunsch auf, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Carl Joachim Friedrich hat mich dann früh zur Wissenschaft ermutigt. Mit Sicherheit war bei mir aber auch viel Glück im Spiel, insbesondere im Zusammenhang mit der Stellenflut der Siebziger. Heute werden hingegen Stellen gekürzt. Zugleich hatte mein beruflicher Weg ebenfalls etwas mit meinem persönlichen Verhalten zu tun: Damals war ich umtriebig – etwa als Assistent im Vorstand und Beirat der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft ( DVPW ). Dadurch war man bekannt und konnte sich profilieren. EJ: Anfängliche Optionen waren eine Tätigkeit als Lehrer in den Fächern Geschichte und Politikwissenschaft, die ich beide intensiv studiert habe, oder ein Engagement in der politischen Bildung. Das Angebot der FAZ, direkt nach der Promotion, bei ihr anzufangen, empfand ich als kleine Versuchung, doch hatte ich längst für die Politikwissenschaft Feuer gefangen – trotz der mitunter wenig erquicklichen Atmosphäre an der Universität, veranschaulicht durch die Stichworte Revier-, Anpassungs- und Neidverhalten. Eine zentrale Funktion des Lehrstuhlinhabers ist die »Ausbildung« von Studenten und Doktoranden: Wie haben sich die Studenten in den letzten Jahrzehnten verändert? EJ: Während meiner Studentenzeit an der FU Berlin in der ersten Hälfte der 1970er Jahre überlagerte Politik die Wissenschaft; in den 1980er Jahren Ein Gespräch zwischen Klaus von Beyme und Eckhard Jesse
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an der Trierer Universität ging es demgegenüber geradezu beschaulich zu. Und an der Chemnitzer Universität zählt(e) für Studenten mehr Kenntnis, weniger Bekenntnis. Diese haben heute bessere Kenntnisse in der englischen, aber wohl nicht in der deutschen Sprache – trotz oder vielleicht gerade wegen des Internets. KvB: Studenten sind heute viel effizienzorientierter als früher. Man kann sie kaum noch zu irgendwelchen Exotika locken. Wenn ich mal eine Vorlesung zu einem randständigen Thema halte, kommen höchstens noch dreißig Leute, die es sich leisten können oder wollen, etwas zu hören, wofür sie keine Credits bekommen. Das Stichwort Sprache fiel soeben: Nicht nur Studenten, auch der Politikwissenschaft allgemein wird oft eine selbstreferenzielle, abgehobene Sprache vorgeworfen. Wie »einfach« und »allgemein verständlich« muss die Politologensprache sein? KvB: Man braucht keine literarische Schönheit à la Sternberger. Aber man sollte versuchen, verständlich und kurz zu schreiben, was mir in den »Bruchstücken« eher gelungen ist als in früheren Büchern. EJ: Unklare Sprache geht oft auf unklare Gedanken zurück. Ich bemühe mich um einen präzisen Ausdruck. Sprachliche Effekthascherei ist allerdings nicht besser als schludriges Deutsch. Ein Stilist wie Peter Graf Kielmansegg hat mir mal gestanden, dass er an einem Absatz manchmal einen Tag sitzt. KvB: Ich habe diese Schreibhemmung nicht. Deswegen muss ich dann aber öfter drüber gehen und brauche einen guten Lektor. Das Lektorat ist bei vielen Verlagen heutzutage freilich unzureichend. Haug von Kuenheim schalt vor fast dreißig Jahren in der »Zeit«: »Herr von B., wir müssen seinen Namen schleunigst vergessen, kann kein Deutsch. Jedenfalls ist das, was er schreibt, ein solches Soziologenkauderwelsch, dass einem unsere schöne Sprache richtig leid tut.« Und Heribert Prantl schrieb vor fast 15 Jahren nach der Ernennung der Sachverständigen für den (ersten) NPD-Verbotsprozess in der »Süddeutschen Zeitung«: »Eckhard Jesse ist durch Verharmlosung rechtsextremer Umtriebe aufgefallen.« Wie gehen Sie beide mit derartiger Kritik um? KvB: Die Kritik war absurd! Mein – angebliches – Soziologenkauderwelsch ist harmlos im Vergleich zur Sprache der heute dominanten Generation im Fach. Mit solch pauschaler Kritik kann man leicht umgehen. EJ: Wer harte Kritik übt, muss mit harter Kritik leben. Das ist das eine. Das andere: Heribert Prantl ist nicht irgendwer. So habe ich seither keine Zeile mehr für die Süddeutsche geschrieben, vor der Intervention Prantls hingegen
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über fünfzig Artikel. Immerhin hat Prantl kürzlich ein Buch von mir positiv besprochen und beim zweiten NPD-Verbotsprozess weder vor- noch nachher solche Invektiven wie seinerzeit vorgebracht, obwohl ich erneut Gutachter war und weiterhin gegen ein Verbot votierte. Vergleichende Extremismusforscher sind schnell mit dem Verdacht konfrontiert, den Extremismus von rechts zu verharmlosen – ein Vorwurf, der mit Blick auf den Linksextremismus kaum erhoben wird. Diese Schieflage besteht schon lange. Das ist kein Kompliment für die Politikwissenschaft und die Publizistik. Wer auf Äquidistanz pocht, gilt zuweilen als Verharmloser des Rechtsextremismus. Ein Extremismus forscher verfehlte seinen Beruf, träfe dieser Vorwurf zu. Wenn Sie beide auf Ihr bisheriges wissenschaftliches Leben zurückblicken: Was, meinen Sie, ist Ihnen gelungen, was hat Bestand, worauf sind Sie weniger stolz? KvB: Meine Vielseitigkeit war vielleicht manchmal übertrieben. Meine Bücher über Kunst und Politik sind mir innerlich nahe, aber bei den Kunsthistorikern haben sie nur begrenzte Resonanz gefunden. EJ: Die Extremismusforschung wird vielleicht nicht so schnell in Vergessenheit geraten. Aber sonst? Zufrieden bin ich mit der Förderung junger Wissenschaftler. Da habe ich wohl etwas Sinnvolles angeschoben. Der »Sinnlosigkeitswahn« Klaus von Beymes, von dem er in seinen Memoiren spricht, ist gut nachvollziehbar. Trotzdem: Ich lebe in der Gegenwart, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Allerdings habe ich mich »verzettelt« – mit der Edition von Büchern, mit Aufsätzen, mit Rezensionen. Die Folge: zu viele ungeschriebene Monografien. Gibt es Beiträge, bei denen Sie im Rückblick wünschen, sie wären am liebsten gar nicht erschienen? KvB: Thesen in Büchern muss ich nicht zurücknehmen. Getäuscht habe ich mich aber in einer Fernsehdebatte, in der ich den Grünen riet, sich nicht als Partei zu konstituieren, sondern eine soziale Bewegung zu bleiben. Heute bin ich froh, dass sie nicht auf mich gehört haben. Den Band zum politischen System Italiens hätte ich nicht machen müssen. Das war eine Fingerübung, zu der mich der Kohlhammer Verlag angespitzt hatte. EJ: Zwar ist mein Aufsatz über »Philosemitismus, Antisemitismus, AntiAntisemitismus« heftig gescholten worden; aber ich schäme mich eines solchen provokativen Beitrages nicht, habe ihn sogar nachdrucken lassen. Ich habe Ende der 1980er Jahre »Patrioten von links« ebenso scharf attackiert wie »Nationalisten von rechts«. Beide strebten sie eine Art »dritten Weg« in der deutschen Frage an. Dabei habe ich jedoch bis zur friedlichen Revolution Ein Gespräch zwischen Klaus von Beyme und Eckhard Jesse
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eine Einheit unter westlichen Vorzeichen nicht als realistisch wahrgenommen. Fixiert auf die Frage der Freiheit, habe ich die der Einheit vernachlässigt. Sie haben beide eine Lehre vor dem Studium absolviert (im Buchhandel bzw. in der Verwaltung). Kam dies Ihrem Studium zugute? Wurde dadurch das Interesse für die Politikwissenschaft geweckt? KvB: Meine Lehre war Frucht eines Geldmangels. Sowie ich dann noch studierte, fand ich Geldquellen in deutschen Stiftungen, vor allem der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ich habe aber die Lehre nicht bereut, weil sie mir den Einblick ins reale Wirtschaftsleben gab, was schon Alfred Weber in meinem ersten Semester lobte. EJ: Politik, vor allem Innenpolitik, hat mich früh interessiert, nicht zuletzt bedingt durch die Flucht mit den Eltern aus der DDR 1958. Die Lehre war für mich wichtig, um zu erkennen, was ich später nicht machen möchte. Aber Verwaltungswissenschaft hat mich ebenso wie Kommunalpolitik nie sonderlich interessiert. Und was man in der Verwaltung u. a. lernt: Tippen, Ordnung halten, das habe ich nicht »richtig« gelernt und nicht recht beherzigt. Öfter muss(te) ich mir das eine oder andere (verstellte) Buch erneut kaufen. Zu meiner Entlastung darf ich sagen: Über 30.000 Bücher umgeben mich. Wie stark hat Ihre politische Präferenz auf die politikwissenschaftliche Ausrichtung eingewirkt? Sie waren beide Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung: Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, würde man Sie, Herr von Beyme, »links« von der Mitte einordnen und Sie, Herr Jesse, »rechts« davon. Hat Ihnen das genützt oder geschadet? KvB: In der Studentenbewegungszeit galt ich bei den Studierenden als »scheißliberal«, bei vielen Professoren als links. Habermas wunderte sich seinerzeit, wie sehr die Max-Planck-Gesellschaft mich als Linken ablehnte, obwohl er – zutreffend! – mich allenfalls als »zentristischen Sozialdemokraten« einschätzte. Als Rektorkandidat in Tübingen war ich jedoch nicht so blauäugig links wie der Heidelberger Rektor Rendtorff, mit dem ich ansonsten viele hochschulpolitische Gemeinsamkeiten hatte. EJ: »Rechts von der Mitte« – das trifft auf die Einordnung im Fach zu, denn unter den hiesigen Hochschullehrern dürfte nicht mehr als jeder Vierte Sympathisant der Union oder der FDP sein (wie ich). Aber sonst? Diese Einordnung mag mir geschadet und zugleich genützt haben. Eine Person des Nicht-»Mainstreams« lässt sich in einer offenen Gesellschaft nicht ignorieren und die Invektiven der Antifa wirkten sich im Fach wohl nicht negativ aus. Wichtiger als »rechts« und »links« sind mir die Kategorien »extremistisch«
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und »demokratisch«. An Liberalität habe ich stets festzuhalten versucht, auch im Umgang mit mir fernstehenden Positionen und Personen. Als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung fühlte ich, ein Anhänger des Verantwortungsethikers Helmut Schmidt, mich allerdings weithin fremd. Meinem Eindruck nach verstanden sich viele Stipendiaten der SPD-nahen Stiftung in der ersten Hälfte der 1970er Jahre – jedenfalls in Berlin – nicht als Sozialdemokraten. Bei Ihnen wurden jeweils über achtzig junge Wissenschaftler promoviert. Welche Bedeutung hat für Sie die Dissertation im Fach Politikwissenschaft? Haben Sie Ihre Doktorandinnen und Doktoranden eher an der langen Leine gelassen? Reizt Sie die Arbeit mit jungen Menschen? Was raten Sie ihnen, wenn diese sich dazu entschlossen haben, eine Dissertation in Angriff zu nehmen? Und wie schätzen Sie die Entwicklung der Qualität von Doktorarbeiten ein? KvB: Ich habe zu viele Dissertationen betreuen müssen, weil der Kollege Hans-Joachim Arndt in Heidelberg weitgehend gemieden wurde. Generell bin ich für das amerikanische Modell mit einem PhD, der auf Wissenschaft zielt, und für die Abschaffung des »wissenschaftlichen Sportabzeichens« von jedermann. Ein Drittel unserer Doctores sind ja ohnehin keine Doktoren: die Mediziner. Mein früherer praktischer Arzt sagte: »Ich hab nicht promoviert. Die nennen mich doch sowieso Herr Doktor!« Es geht also auch ohne. Wir müssen die Titelsucht der Deutschen bekämpfen. In Österreich ist es noch schlimmer. Wenn die Medien Doktoren- und Professorentitel nicht mehr einblenden, halte ich das für ein gutes Zeichen. Bachelor und Master müssen für die Mehrheit genügen. Erst jetzt folgt man dieser Meinung in einigen Bundesländern. Abgesehen davon müssen wir die sozialen Bedingungen des Aufstiegs der Jungen ändern. Es geht nicht an, dass sie Verträge für sechs, zwölf oder – wenn sie Glück haben – 24 Monate erhalten. So wird man dann vierzig und ist im Grunde eine gebrochene Frau oder ein gebrochener Mann; und ist dann auch nicht mehr aufsässig genug, weil man zu viel Trauriges erlebt hat und sich nicht traut, auf den Putz zu hauen. Wenn wenigstens einige Bundesländer vorausgehen würden, gäbe es eine gewisse Chance. Mich wundert ein bisschen, dass der Osten hier nicht den Weg bereitet hat. EJ: Umfang und Qualität einer politikwissenschaftlichen Dissertation sind im Vergleich zur Zeit vor fünfzig Jahren im Allgemeinen stark angestiegen. Wer anders urteilt, neigt zu Kulturpessimismus. Die Arbeit mit Doktoranden, welche die Gelegenheit nutzen, eine Materie vertieft zu erschließen, in einer Atmosphäre der Offenheit bei mehrtägigen Promotionskolloquien verschafft mir größte Befriedigung. Was gibt es Schöneres, als sie zu fordern und zu fördern! Der eine braucht Druck, die andere Freiraum. Etwas Fingerspitzengefühl Ein Gespräch zwischen Klaus von Beyme und Eckhard Jesse
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gehört dazu. Wer eine Dissertation in Angriff zu nehmen gedenkt, sollte von wissenschaftlicher Neugier beseelt sein, um es einmal pathetisch zu sagen. Ich plädiere bei Promovenden für die Wahrnehmung von Stipendien, nicht für die Wahrnehmung prekärer Stellen an der Universität. Betreue ich gern Doktoranden, so bin ich bei Habilitanden extrem zurückhaltend. Die Habilitation kann angesichts der Konkurrenz leicht in eine Sackgasse führen. Die hiesige »Titelsucht« ist schlimm, im Osten, bedingt durch die Vergangenheit, stärker als im Westen. Die Grünen haben mit ihrer Forderung, den »Dr.« nicht in den Pass aufzunehmen, sehr recht. Heute heißt es, für eine wissenschaftliche Karriere sei Auslandserfahrung unerlässlich – z. B. das Lehrjahr an einer renommierten Universität in den USA. Müsste das nicht freier gehandhabt werden? Nicht jeder, der im Ausland gewesen ist, hat damit seinen Horizont erweitert, nicht jeder Daheimgebliebene ist provinziell. KvB: Ich halte die Auslandserfahrung nach wie vor für essenziell – für einen Physiker vielleicht weniger, aber gerade für Politikwissenschaftler, die mal einen Blick auf die USA als wichtige westliche Gesellschaft werfen sollten. Ich selbst habe mich mit meinen Exkursionen zurückgehalten. Wenn ich da an meine Kollegen denke: Die waren länger im Ausland. Dafür braucht es unbedingt Stipendien – und weitere Unterstützung: Ohne die Gönnerschaft Carl Joachim Friedrichs wäre ich nie nach Harvard gekommen. Allerdings akzeptiere ich, dass man nicht ins Ausland muss. Mein Kollege Udo Bermbach bspw., den ich sehr schätze, ist nirgendwo hingegangen. EJ: Auslandserfahrung ist für die Förderung der Persönlichkeit von Nutzen; aber muss ein junger Wissenschaftler im Ausland gewesen sein, Drittmittel eingeworben haben, in englischsprachigen Periodika, natürlich peer reviewed, als Autor auftauchen? Diese Fragen sind keineswegs rhetorischer Natur. Wer weiß, wie so etwas »gesteuert« wird, dürfte sie nicht bedenkenlos bejahen. Von mir soll in einer Berufungskommission gesagt worden sein, ich hätte es nur bis Salzburg geschafft. Immerhin: Mozartstadt! Ist es in Ihren Augen, aller Kritik an der Titelhuberei zum Trotz, nützlich für begabte Politikwissenschaftler, sich zu habilitieren? KvB: Wenn die Dissertation aufgewertet wird, kann man die Habilitation abschaffen. Es müsste dann aber Associate Professors mit wenigstens fünf Jahren Vertragslaufzeit geben. Anschließend müssen sich die Unis überlegen, ob sie den Kandidaten übernehmen und zum Full Professor machen wollen. Dann käme der ganze Krach mit der Titelei nicht so auf. An unseren jetzigen Stückelungen der Karrieren hat inzwischen auch die Politik Anstoß genommen.
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EJ: Was haben Sie dagegen, wenn sich junge Leute habilitieren? Bei Berufungsverfahren bewerben sich, weil nunmehr auch »habilitationsadäquate Leistungen« zählen, häufig über hundert Kandidaten. Dann wird erst recht gemauschelt. Wäre das »zweite Buch« hingegen Voraussetzung, gäbe es vielleicht dreißig qualifizierte Bewerber. Durch die Abschaffung der Habilitation wird die Professur entwertet – andere Kriterien spielen zunehmend eine Rolle. Wer sich bei Kollegen »einkratzt«, »pflegeleicht« ist und Kumpanei goutiert, kommt als Juniorprofessor vorwärts, fürchte ich. KvB: Heutzutage sind Habilitationen schon noch sinnvoll, aber langfristig sollten wir davon wegkommen. Stattdessen müssen wir die Anforderungen für die Promotion an das PhD-Format angleichen, mit langen Kursen am Anfang und erschwerten Bedingungen. Wer es dann schafft, zeigt, dass er in die Wissenschaft will, und sollte auch gleich Professor werden. EJ: Nicht jeder, der in die Wissenschaft strebt, muss zum Hochschullehrer avancieren. Sie sind ein Freund des US-amerikanischen und ein Gegner des deutschen Wissenschaftssystems, Herr von Beyme? KvB: Nein, wir stehen international nicht schlecht da. Wir sollten uns da nicht immer hineinreden lassen. Wir müssen uns aber weiter modernisieren, damit wir den Amerikanern, die die besten Leute abwerben, standhalten können. Das betrifft zwar nicht in erster Linie die Politikwissenschaft; aber in den Naturwissenschaften gehen viele weg, schon weil es in den USA a) mehr Geld gibt und b) die Aufstiegschancen besser sind. Herr Jesse, Sie haben sich mehrfach geradezu euphorisch über die erste Generation der deutschen Politikwissenschaftler geäußert, die übrigens nicht habilitiert gewesen ist. Was fasziniert Sie so an den Eschenburgs und den Sternbergers, die zudem nicht einmal gelernte Politikwissenschaftler gewesen sind? EJ: Fast alle Politikwissenschaftler der ersten Generation, ob emigriert oder nicht, hatten etwas zu sagen. Einige der Gelehrten, Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten, waren sogar schulenbildend. Sie legten Urteilskraft an den Tag, sie konnten fast alle prägnant formulieren, nicht nur Michael Freund und Dolf Sternberger. Darüber hinaus setzten sie sich gegen Vorbehalte anderer Fächer durch. Und sie scheuten sich keineswegs, politische Bildung ernst zu nehmen. KvB: Einspruch! Die erste Generation war sicher mit herausragenden Intellektuellen bestückt. Aber die Professionalisierung selbst meines geschätzten Kollegen Eschenburg war gering. Ich musste wissenschaftliche Gutachten Ein Gespräch zwischen Klaus von Beyme und Eckhard Jesse
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manchmal als Erster schreiben, weil der Erstgutachter mit dem »szientistischen Kram« in der Arbeit nichts anfangen konnte. Herr von Beyme, Sie haben ja abgelehnt, eine Ihnen angebotene Assistentenstelle bei Eric Voegelin anzunehmen – warum? Und warum haben Sie, Herr Jesse, bei Kurt Sontheimer keine Lebenszeitstelle angenommen? EJ: Ich war in Trier Hochschulassistent und wollte mich dort habilitieren. Zwar reizte mich die Zusammenarbeit mit Kurt Sontheimer, den ich mit seiner Urteilskraft und seinem leichtfüßigen Stil mehr schätze als der Großteil der Kollegen; aber ich hatte keine Existenzangst, betrachtete daher eine Dauerstelle als Akademischer Rat nicht als sonderliche Versuchung. Und die Großstadt München sagte mir weniger zu als das römisch geprägte Trier: die älteste Stadt Deutschlands, eine beschauliche kleine Großstadt. Zudem: Die Kunde vom irrationalen Streit innerhalb der Politikwissenschaft Münchens, in erster Linie wohl kein politischer Streit, war bis nach Trier vorgedrungen. KvB: Eric Voegelin war – außer im Osteuropa-Bereich – gegen meine Ansichten. Da bin ich lieber zu Carl Joachim Friedrich nach Heidelberg zurückgekehrt, mit dem ich stärker harmonierte. … und das, obwohl Sie die Totalitarismusstudie, für die er heute bekannt ist, als sein »falschestes« Buch beschrieben. Wie geht das zusammen? KvB: Es kam zu einem harmloseren Konflikt, da er mir anbot, an der Zweitauflage mitzuarbeiten, nachdem Zbigniew Brzezinski ausgestiegen war. Dieser hielt – wie ich auch – Polen nicht für totalitär. Die sechs rigiden Totalitarismuselemente kamen mir hölzern vor. Selbst Nationalsozialismus und Kommunismus wiesen ja höchst unterschiedliche Profile auf. Insofern war ich schon recht früh gegen das Buch. Wir haben uns aber nicht darüber gestritten. Ich habe nicht gesagt: »Scheiß-Buch« – das sagt man doch seinem Professor nicht. Aber als er mich integrieren wollte, habe ich meine Meinung gesagt. Da war seine Liberalität beachtenswert. EJ: Das Buch ist immer noch lesenswert: ein Klassiker, mehr als sechzig Jahre nach seinem Entstehen. Herr von Beyme, Sie waren Assistent bei Carl Joachim Friedrich, einem Vertreter dieser ersten Politologen-Generation. Begreifen Sie sich selbst als Friedrich-Schüler? Und gibt es heute noch so etwas wie wissenschaftliche »Schulen«? KvB: Ja, ich bin ein Friedrich-Schüler. Wir haben große Parallelen: mit Blick auf die Liberalität, das Komparative, die Liebe zu den Institutionen. Ich würde mich einem kritischen Neoinstitutionalismus zurechnen. Und
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ja, es gibt auch heute noch Schulen, wenngleich nicht von der Kompaktheit und örtlichen Gebundenheit wie in den 1950er und 1960er Jahren – denken Sie etwa an den Behavioralismus, den Neo-Institutionalismus und den Neo-Normativismus. EJ: Politikwissenschaftliche Schulen bilden sich nach wie vor, nur nicht mehr in dem Maße und in der Masse wie zu der Zeit, als wir lediglich einen Politikwissenschaftler pro Universität hatten. Was mich betrifft, so waren meine Lehrer in einem weiten Sinne deren zwei: Ernst Fraenkel, exakt ein halbes Jahrhundert älter, und Hans Kremendahl, wie ich Jahrgang 1948. Fraenkel, längst emeritiert, lernte ich als Student näher kennen. Sein damals gescholtenes Pluralismuskonzept imponierte mir. Und Hans Kremendahl begegnete ich im ersten Semester am Otto-Suhr-Institut, als er sein Diplom mit Bravour abschloss, mit einer später zur Dissertation ausgebauten Arbeit über die Pluralismuskonzeption Fraenkels. Ich habe nie verstanden, wieso Hans, der mit dreißig habilitiert war, in die Politik gegangen ist, für die SPD zuerst als Staatssekretär in Berlin, danach als Oberbürgermeister Wuppertals, seiner Heimatstadt. Was hat Ihnen an der Universität am meisten Freude bereitet – Vorlesungen, Seminare, Korrekturen, Prüfungen, die Betreuung von Doktoranden und Habilitanden? Nach der Gremienarbeit fragen wir erst gar nicht. Schließlich: Gehen Sie noch an die Universität? KvB: Alles, bis auf Prüfungen. Ich bin noch jeden Tag im Institut, auch sonntags. Ein Kollege witzelte unlängst: »Der Beyme lässt nach, der kommt statt um acht erst um halb neun.« Das liegt aber daran, dass ich um acht Uhr noch im Schwimmbad bin, um meine Knochen zu bewegen. EJ: Eindeutig die Betreuung von Doktoranden und Habilitanden. Die Anfang der 1990er Jahre begonnenen Doktorandenkreise setze ich fort, jeweils außerhalb der Universität, in die ich, obwohl fast 15 Jahre jünger als Klaus von Beyme, nicht mehr gehe, nur noch zu Promotionsprüfungen. Auch früher war die als steril empfundene Universität nie mein Lieblingsort. Studenten konnten mich allerdings zu Hause erreichen, wenngleich nicht während wichtiger Fußballspiele. Eine Frage an beide: Sie gehören zu den produktivsten Vertretern des Faches. Wie verträgt sich das mit dem Privatleben? KvB: Es gibt die Lerchen und die Eulen – meine Frau ist eine Nachteule und ich bin eine Lerche, die spätestens um 20 Uhr aufhört zu arbeiten. Wenn meine Frau dann sagte: »Komm, wir gehen ins Theater«, konnten wir das Ein Gespräch zwischen Klaus von Beyme und Eckhard Jesse
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machen. Man muss beides in Einklang bringen. Einer der Gründe, warum ich nicht nach Berlin ins Wissenschaftszentrum gewechselt bin, war meine Frau. EJ: Bei uns ist die Frau die Lerche, der Mann die Eule. Überspitzt formuliert: Ich fange frühestens um 20 Uhr an zu arbeiten. Es gab Ende der 1980er Jahre Zeiten, in denen meine Frau zum Schuldienst ging und ich ins Bett. Ich habe nicht annähernd die Organisiertheit Klaus von Beymes, lese mich fest und stelle oft erst »in letzter Minute« Texte fertig. Die Kontroverse um die Umbenennung des »Theodor-Eschenburg-Preises« und Eschenburgs Verhalten vor 1945 wie auch danach haben hohe Wellen geschlagen. Beide haben Sie die Resolution gegen die Umbenennung und Abschaffung des Preises unterschrieben. Warum haben Sie sich nicht noch stärker für Eschenburg, ihren ehemaligen Tübinger Kollegen, ins Zeug gelegt, Herr von Beyme? Und wieso haben Sie, Herr Jesse, in mehreren Beiträgen derart engagiert Stellung für Eschenburg bezogen, obwohl Sie doch zuvor wiederholt harsche Kritik an einzelnen Werken Eschenburgs geübt hatten? KvB: Ich habe Eschenburg verteidigt, wo ich konnte. Er erinnerte mich stark an meinen liberal-konservativen Vater, der auch mal kurz in die SA überführt worden war und als »preußischer Amtsvorsteher« einige Konzessionen an die Nazis hatte machen müssen, aber innerlich kein Nazi gewesen war, wie auch später Juden aus New York ihm bescheinigten, sodass er schließlich nur als »Mitläufer« eingeschätzt worden war. EJ: Ich finde die krampfhafte Kritik an Eschenburg, weder Widerstandskämpfer noch NS-Mann, neunmalklug, ehrverletzend, geradezu abstoßend. Wieso fällt unter den Tisch, dass der fleißige Publizist Eschenburg im Dritten Reich sofort verstummt ist? Dass sich niemand aus dem Vorstand und dem Beirat der DVPW gegen die Abschaffung des Preises ausgesprochen hat, betrübt mich. Das ist ein Konformismus des Nonkonformismus. Wer Eschenburgs Bücher kritisiert, muss nicht die Abschaffung eines solchen Preises gutheißen. Seine Stärken lagen ohnehin in seinen Kommentaren. Herr Jesse, Sie sind fast anderthalb Jahrzehnte jünger als Ihr Kollege. Wann werden Sie mit Ihren Memoiren aufwarten? EJ: Ich weiß nicht, ob ich bei meinem unsportlichen Lebensstil – Fußball schauen: ja; Fußball spielen: nein – das 82. Lebensjahr wie Klaus von Beyme erreichen werde. Aber was ich weiß: Memoiren schreibe ich unter keinen Umständen. Erstens war dafür mein Leben zu langweilig, jedenfalls für die Öffentlichkeit – es spielte sich meistens am Schreibtisch ab. Als Bücherwurm habe ich zahllose Memoiren gelesen, aber kaum welche besprochen. Zweitens
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ist mein Werk nicht bedeutend genug. Ich bin kein Beyme, kein Kielmansegg, kein Schwarz. Selbstbespiegelung würde unfreiwillig komisch wirken. Wer Memoiren schreibt, weiß, dass er manches weglassen muss – entweder im eigenen Interesse oder im Interesse der Porträtierten. Was ich vielleicht vorhabe: über meine Erfahrungen als Student in der ersten Hälfte der 1970er Jahre an der einstigen Hochburg der Politikwissenschaft zu berichten, dem Otto-Suhr-Institut, mit seinen z. T. unhaltbaren Zuständen. Oder ich schreibe eine Biografie über einen Kollegen, wenn die Gesundheit es zulässt. Herr Jesse, Sie haben 1978, mit knapp dreißig Jahren, ein Buch zur Bundesrepublik Deutschland geschrieben; Klaus von Beyme, Sie 1979 »erst« im Alter von 45 Jahren. Wann erscheint eine Neuauflage? KvB: Meine zwölfte Auflage ist im Druck. Sie war ziemlich haarig. Ich habe monatelang daran gepinselt – und doch nicht genug gemacht. Die größte Umarbeitung habe ich allerdings nach der Deutschen Einheit vorgenommen. Wenn ich den Band heute noch einmal konzipieren müsste, würde ich das Kapitel dazu, wie sich die Einheit vollzogen hat, natürlich weglassen, weil sie sich sozusagen schon ergeben hat. Aber davon konnte ich jetzt nicht abrücken. Insgesamt bin ich beim Zusammenwachsen von Ost und West relativ positiv gestimmt, auch wenn in meinem Klo alles sehr an DDR erinnert. EJ: Ja, zu dem Buch von 1978 bin ich von der Berliner Landeszentrale für politische Bildung ermuntert worden, für die ich bereits als Student tätig gewesen war und die mich bei der Bundeszentrale für politische Bildung empfohlen hatte. Nach Neuauflagen mit meist nur kosmetischen Revisionen kam 1986 eine grundlegende Überarbeitung heraus, 1997 schließlich eine weitere. Ob ich eine »neue« Neuauflage schreibe, allein oder mit einem jüngeren Kollegen? Das steht in den Sternen. Das Interview führten Katharina Rahlf und Tom Mannewitz.
Prof. h. c. Dr. Dr. h. c. Klaus von Beyme, geb. 1934, war von 1974 bis 1999 Professor für Politikwissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
Prof. Dr. Eckhard Jesse, geb. 1948, hatte von 1993 bis 2014 den Lehrstuhl für Politische Systeme und Politische Institutionen an der Technischen Universität Chemnitz inne.
Ein Gespräch zwischen Klaus von Beyme und Eckhard Jesse
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ANALYSE
KONSERVATIVE ZEIT ÄSTHETIK UND KAPITALISMUS IN »DOWNTON ABBEY« ΞΞ Jöran Klatt
London, an einem sommerlichen Tag im Jahre 1923, im Buckingham Palace: Es ist an der Zeit, Rose, die junge Nichte von Lord und Lady Grantham, in die Gesellschaft einzuführen. Lord Grantham scheint sich besonders wohl zu fühlen: Kurz bevor Rose König George V. vorgestellt werden soll, erläutert der dem Anlass angemessen gekleidete Mann sichtlich begeistert das anstehende Prozedere. Ebensolche Ereignisse inszeniert die Serie »Downton Abbey« von Julian Fellowes als ihre Höhepunkte. Auf den ersten Blick wirkt die Produktion wie eine Apologie der aristokratischen Dekadenz. Doch ist »Downton Abbey« dabei vielschichtig, selbstreflexiv und erzählt uns, wie Historiendarstellungen so oft, mehr über die Gegenwart, in der sie geschaffen worden ist, als über die eigentlich dargestellte vergangene Welt. »Downton Abbey« zeigt das Leben einer Aristokratenfamilie im großen Gezeitenwandel des frühen 20. Jahrhunderts, der immer wieder als dezenter Besucher in die Privatsphäre der Crawleys, deren Oberhaupt Robert den Adelstitel Lord Grantham trägt, einbricht. Die Geschichte spielt in den Jahren 1912 bis 1925. Dabei wird der zeitgenössischen Ästhetik eine große Rolle beigemessen. Und Ästhetik meint hier nicht die reine Schönheit konservativer Stilistik, die vor allem Geschmacksfrage ist, sondern vielmehr eine für Serien untypische Umkehrung: Ein wenig ist es so, als würde der Plot nurmehr die Bühne für das eigentliche Geschehen darstellen – und nicht andersherum, wie sonst so oft, vom ästhetischen »Beiwerk« gerahmt werden. In »Downton Abbey« hat sich die Handlung der Ästhetik zuweilen unterzuordnen. Jedenfalls operiert die Serie mit vielen optischen, ikonischen und atmosphärischen Stilmitteln, teils mit Andeutungen, oft mit Details. Beispielsweise wird der Wandel von Geschlechterrollen nicht alleine über die Story, sondern ganz entschieden über optische Höhepunkte, etwa Mode, inszeniert. Immer wieder werden in der Serie die Stationen der fortschreitenden
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INDES, 2016–3, S. 138–143, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X
Emanzipation durch neue Kleidung oder Frisuren der Crawley-Töchter dargestellt; wenngleich hier historische Realitäten zuweilen überzeichnet sind, manche Anspielung zu sehr auftrumpft. Nichtsdestoweniger ist Mode in »Downton Abbey« oft das Politische im Privaten. Diese Momente entfalten ihre Wirkung auf die Zuschauer vor allem aufgrund der Retrospektive: Wir beobachten die Genese der anbrechenden zweiten Moderne (Ulrich Beck), das Noch-NichtSelbstverständlich-Sein des heute Selbstverständlich-Gewordenen. Die Frauen in »Downton Abbey« befinden sich am Vorabend der entstehenden »neuen Liebesordnung«1. Ihre Herausforderung ist das Manövrieren zwischen der fortdauernden rituellen Traditionswelt, wie man sie etwa bei Jane Austen findet, und der anbrechenden individualistischen Moderne mit ihren hohen Ansprüchen an ein selbstbestimmtes Glück. Im Übergang zwischen zwei Ordnungssystemen scheinen die Lösungen für die Probleme aus gegenwärtiger Sicht zunächst auf der Hand zu liegen: Eine Heirat sollte eher aus Liebe denn aus ständischer Logik erfolgen, Frauen sollten ganz selbstverständlich berufstätig sein können. Doch ganz so einfach ist es für die Adelstöchter der Zwischenkriegszeit nicht: Denn gleichzeitig versuchen gerade die Frauenfiguren in »Downton Abbey« oft, die ihnen vorgeschriebene aristokratische Rolle nach wie vor zu verteidigen. Erst allmählich emanzipieren sie sich von diesem Korsett aus Passivität und Unterdrückung und zeichnen dadurch ein positives Bild vom Wandel der Rolle der Frau – einem Wandel, der sich jedoch nahezu ausschließlich innerhalb der ständischen Ordnung vollzieht. Julian Fellowes, der Erfinder der Serie, mischt sich damit auch in die andauernde britische Debatte über das ständische Erbrecht ein: »Entweder man macht Schluss mit dem ganzen System von Adelstiteln oder man muss die Frauen reinlassen.«2 Die Momente, in denen neue Moden einsetzen, werden in »Downton Abbey« gelegentlich als Höhepunkte inszeniert. Musikalisch entsprechend untermalt, stehen sie oft am Ende einer Folge und besetzen damit den Zeitpunkt, der in moderner Serienkultur (oftmals in Form von Cliffhangern) das Fortschreiten – den Lauf der Zeit – markiert. Eine charakteristische Szene ist etwa jene, in der die jüngste Tochter der Crawleys, Sybil, ihr Coming-out als 1
Siehe hierzu Eva Illouz, Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey, Berlin 2013. 2 Zitiert nach Kathleen Hildebrand, Britisches Erbefernsehen, in: Süddeutsche Zeitung, 12.01.2014.
moderne Frau verkündet, indem sie in die Bibliothek, die von der Familie als eine Art Salon genutzt wird, hineinspaziert und dabei eine an die Optik der Ballets Russes erinnernde Seidenhose trägt. Die Hose, für Frauen bis dato eigentlich ein ästhetisches Tabu, wird von den Beteiligten nur mit Blicken kommentiert: das Erstaunen im Blick von Sybils Mutter, Lady Cora Crawley, die Neuerungen gegenüber zwar aufgeschlossen ist, aber in erster Linie an die Konsequenzen denkt; eine Mischung aus Verwunderung und Freude beim Jöran Klatt — Konservative Zeit
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Anwalt und Cousin Matthew Crawley, der als moderner Mensch mit adeligen Wurzeln die Situation einfach nur amüsiert beobachtet; und entsetzte Blicke bei den Verteidigern der ständischen Ordnung: Lord Granthams Mutter, der Dowager Countess, und dem Lord selbst. Letzterer mimt in der Serie den klaren Vertreter des Konservatismus: Unsachgemäße Kleidung, der falsche Ton bei Tisch, generell mangelnde Bewahrung des Althergebrachten sind für ihn – und noch viel mehr für seine Mutter – schwere Herausforderungen. Doch Grantham ist keine rein rückwärtsgewandte Figur: Sein Konservatismus ist keine Ablehnung von Wandel, sondern stets eher ein geradezu oft kindlich vergnügtes Befolgen von Spielregeln. So zeigt uns der sympathische alternde Lord etwa in der eingangs beschriebenen Szene, wie sinnstiftend Rituale sein können.3 Wenn Grantham – gespielt von Hugh Bonneville – mit funkelnden Augen und herausgestreckter Brust den Ablauf der Zeremonie erklärt, kann man sehen, welch strukturgebende Kraft Rituale dem Lauf der Zeit verleihen können. Sie ermöglichen, das Besondere vom Gewöhnlichen zu trennen, indem sie dem reinen Dasein Narrativität einverleiben. Wo sonst nur der Alltag herrschen würde, erschafft
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Perspektektiven — Analyse
3 Zur Sinnstiftung von Ritualen und im Folgenden vgl. Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M. 1995.
das Ritual etwas Besonderes und verdichtet damit die schiere Existenz zum Ereignis. Im Grunde befinden wir uns, so der Ethnologe Turner, unser ganzes Leben lang in permanenten Übergangszuständen – und das Gleiche gilt für Ordnungen im sozialen Gefüge. Diese Übergänge sind ein Versuch, innezuhalten, während die Welt vorbeirauscht; sie simulieren Stabilität im Wandel und machen die Veränderung sozialer Gefüge erträglich. Rituale, wie jenes im Buckingham Palace, ermöglichen, an etwas festzuhalten, etwas zu bestätigen oder einfach nur erfahrbar zu machen. Für den konservativen Lord Grantham ist das Durchlaufen dieser Rituale eine wichtige Gelegenheit, sich seiner selbst und seiner Welt zu vergewissern, mit der Vergänglichkeit beider umzugehen. In solchen Momenten nutzt »Downton Abbey« die Inszenierung von Zeit. Damit ist nicht alleine Geschichte gemeint, sondern Zeit als ein ästhetisches Stilmittel. Das Erzähltempo der Serie ist langsam, ein Versuch chronologischer Entschleunigung. Statt der immer schnelleren Bildwechsel und Schnitte mancher zeitgenössischen Filmen und Serien setzt »Downton Abbey« auf bewusst verweilende Einstellungen und ruhende Kameras. So bleibt – im doppelten Sinne – Zeit für die Inszenierung ihrer ästhetischen, oft auch erzählerischen Höhepunkte. Mit ihrer Zeit-Ästhetik berührt die Serie einen Punkt, den auch der Philosoph Byung-Chul Han anspricht, wenn er das Ritual u. a. 4 Im Folgenden vgl. ByungChul Han, Bitte Augen schließen. Auf der Suche nach einer anderen Zeit, Berlin 2013. 5 Lucas Barwenczik, Gierige Augen. Vom Wunsch, alles zu sehen, in: Kino-Zeit.de, 11.07.2016, URL: http://www.kino-zeit.de/ blog/b-roll/gierige-augen-vomwunsch-alles-zu-sehen/ [eingesehen am 22.08.2016]. 6 Vgl. hierzu auch die Kritik der aktuellen Serienkultur des Filmanalysten Wolfgang M. Schmitt, Warum ich keine Fernsehserien mag!, in: Die Filmanalyse, 12.07.2014, URL: https://www.youtube. com/watch?v=UQ6wKFSeleI [eingesehen am 23.08.2016].
dadurch charakterisiert, dass es einen Schluss habe.4 Generell zeige sich, so Han, die Bedeutung des Abschlusses in unserer Zeit besonders, da es dem Zeitgenossen – also uns – genau an der Kraft und Bereitschaft zu diesem mangele. Wir seien in einer ruhelosen Welt angekommen und könnten vieles nicht mehr vertieft und verinnerlicht wahrnehmen, weil uns gefühlt die Zeit dazu fehle. Daher verwechselten wir oft Informationen mit Narrationen, interessierten uns nur noch dafür, was passiert – und nicht wie. Gerade Serien zeigen diese Problematik oftmals selbst: Viele der neuen »Qualitätsserien« sind Gesprächsthemen im Alltag, Ereignisse, über die geredet wird. Dabei steht nicht selten im Vordergrund, mitreden zu können, das jüngste Serienereignis mitbekommen zu haben, während das eigentliche Schauen der Serie eher nebenher geschieht. Auch die Sehgewohnheiten ändern sich auf paradoxe Weise:5 Während einerseits viele Serien großen Wert auf komplexe Weltzeichnungen, auf immer mehr Content-Generierung und die additive Psychologisierung von Charakteren legen,6 versuchen die Zuschauenden andererseits immer häufiger, die
7 Georg Seeßlen, Jenseits des Kinos, diesseits des Filmischen, in: Ders. u. C. Bernd Sucher (Hg.), Postkinematografie. Der Film im digitalen Zeitalter, Berlin 2013, S. 8–16, hier S. 15.
abendfüllenden Massen durch eine Art Querlesen – das möglichst zügige Durchschauen neuer Produktionen – beherrschbar zu machen. Oder, mit Georg Seeßlen: »Es verändert sich nicht nur das Sehen, die Geschwindigkeit in der Veränderung des Sehens nimmt zu.«7 Jöran Klatt — Konservative Zeit
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Einige der gegenwärtigen Serien – wie eben »Downton Abbey« oder bspw. auch »Mad Men« – fordern indes wieder verstärkt Zeit ein und nehmen sich diese auch. Sie setzen wieder auf andere Rhythmen und Geschwindigkeiten, etwa das Verweilen einer Einstellung, wie es bspw. einst beim legendären Showdown in »C’era una volta il West«/»Spiel mir das Lied vom Tod« (I, US 1968) zelebriert wurde. »Downton Abbey« nutzt diese sehr langsame Erzählstrategie, etwa wenn die Rituale des adeligen Lebensstils entschleunigt verlaufen. Der ungeheure Erfolg der Serie spricht dabei womöglich gegen die oben beschriebenen rasanten Sehgewohnheiten und für ein gleichzeitiges wiedergekehrtes Bedürfnis nach Verlangsamung der Zeitverläufe. »Downton Abbeys« Popularität über konservative Kreise hinaus erklärt sich anscheinend aus einer allgemeinen Empfindung radikaler Beschleunigung.8 Die Phasen des Schlafens und NichtAktiv-Seins werden, so Jonathan Crary, mehr und mehr negativ konnotiert; das Individuum hat sich dem Druck zu fügen, im Idealfall permanent aktiv zu sein;9 die neoliberale Zeitstruktur arbeite an einem neuen Menschen. Im Spätkapitalismus neoliberaler Prägung ist somit die Verlangsamung eine Möglichkeit, sich gegen diese verunsichernde Neuordnung der Zeit zu wehren. Der Konservatismus als Verteidigungshaltung findet sich dadurch im Klassenkampf auf einer ungewohnten Seite wieder. Denn: Wie auch »Downton Abbey« zeigt, ist der Konservatismus selbst durch den Kapitalismus bedroht. Die Serie schildert die Vergänglichkeit der konservativen Lebensweise, ihrer Geschlechterordnungen (die indes schon immer mannigfaltig und ambivalent gewesen sind), ihrer Traditionen oder Rituale. Wie viele andere Adelshäuser in der Zwischenkriegszeit gerät auch Downton im Verlauf der Serie unter den Modernisierungsdruck, die Ländereien effektiver zu bewirtschaften. Während dieses notwendigen Umbaus, gegen den sich Lord Robert Crawley verzweifelt wehrt und dem er sich schließlich doch fügen muss, sind es Thomas Branson – ein Sozialist, der zunächst als Chauffeur der Familie arbeitet und dann zum Gutsverwalter aufsteigt – und Lady Mary, welche die Aufgabe der Modernisierung übernehmen. Der sich in allen Lebenswelten durchsetzende Kapitalismus hat keinen Respekt vor der Welt und den Bedenken des Lords. Der Konservatismus war zwar auch in der Realität stets zu Anpassungen gezwungen – besteht doch gar, wie Andreas Rödder schreibt, sein Grunddilemma darin, »heute zu verteidigen, was man gestern bekämpft hat«10. Doch sind es in »Downton Abbey« – Ironie der Geschichte – wie gesagt ausgerechnet ein Sozialist, Branson, und eine Frau, Mary, denen obliegt, den Umbau voranzutreiben.
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Perspektektiven — Analyse
8 Beispielsweise Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne, Stuttgart 2005. 9 Jonathan Crary, 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus, Berlin 2014. 10 Andreas Rödder, Was ist heute Konservativ? Eine Standortbestimmung, Saarbrücken 2012, S. 16.
Bei dem alternden Robert und dessen Butler Carson hingegen handelt es sich um Figuren, die häufig komische Momente erzeugen, wenn sie zähneknirschend das Eindringen des Neuen akzeptieren müssen. Carson etwa weist seinen Lord im Verlauf der Serie wiederholt darauf hin, dass es doch mehr Footmen (in etwa: Dienstboten) brauche, um ein Anwesen von der Größe Downton Abbeys korrekt (er meint: wie früher) zu betreiben. Doch der Zeitenwandel ist längst kontra Tradition und zugunsten der Effizienz entschieden. Mehr und mehr Angestellte müssen Staffel für Staffel gehen. Wie in der realen Geschichte des englischen Adels können sich auch die Crawleys ihren aufwändigen Lebensstil immer weniger leisten. Auf diese monetären Zwänge reagiert Lord Grantham mit Ausflüchten: So beklagt er Carson gegenüber die modernen Zeiten, in denen sich einfach nicht mehr schicke, einen Under butler zu haben – und versucht so gelegentlich, auch ein bisschen zu übergehen, dass in Wirklichkeit schnöde finanzielle Gründe ausschlaggebend sind. Dabei geht es der Serie nicht etwa um eine Apologie der Dekadenz. Sie zeigt vielmehr einen virulenten Konflikt: Der Konservatismus ist nur auf Zeit der Begünstigte des Kapitalismus gewesen, und letzterer hat in seinem Umbau zur neoliberalen Spielart vor ihm wenig bis gar keinen Respekt. Bis heute erwarten Konservative von der Einhaltung ihrer Codes und Lebensweisen eine Gratifikation vonseiten des ökonomischen Systems. Doch in ihrer gegenwärtigen Form setzt die Ökonomie einen radikalen Liberalismus durch, welcher der Sinnwelten von Klassen und Zugehörigkeiten und ihren spezifischen Ritualen und Traditionen nicht bedarf. In »Downton Abbey« ist es daher – noch einmal – der Sozialist Branson, der mit der hereinbrechenden Marktwirtschaft und Moderne besser zurechtkommt als der Konservative. Der Konflikt zwischen Branson, dessen Sozialismus oft einfach nur aus Modernisierungswille und liberalen Wertvorstellungen besteht, und dem Lord ist daher auch ein Klassenkampf am Gegner vorbei. Als Grantham versteht, dass er sich dieser Moderne nicht entziehen kann und Männer wie Branson braucht, um zumindest noch einen Teil seiner bröckelnden Weltordnung bezahlen zu können, legt er seine Bedenken schnell beiseite. Wieder ist es die Retrospektive, die uns zeigt, dass auch dieser New Deal für die tragische Figur des alternden Familienoberhaupts Robert nicht aufgehen wird. Denn die Zeit läuft gegen ihn.
Jöran Klatt, geb. 1986, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Kulturtheorie, Semiotik und Wissensgeschichte.
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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT
BEBILDERUNG
Herausgegeben von Prof. Dr. Franz Walter, Institut für Demokratieforschung der Georg-AugustUniversität Göttingen. Redaktion: Dr. Felix Butzlaff, Dr. Lars Geiges, Julia Bleckmann, Jöran Klatt, Leona Koch, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Dr. Torben Lütjen. Konzeption dieser Ausgabe: Jöran Klatt Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Michael Lühmann, Marika Przybilla-Voß. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 71,– D / € 73,– A / SFr 88,90; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 41,80 D / € 43,– A / SFr 52,90; Einzelheftpreis € 20,– D / € 20,60 A / SFr 27,50. Inst.-Preis € 133,– D / € 136,80 A / SFr 163,–. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer E-Mail: [email protected] (für Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
AUF/IN DEN LEIB GESCHRIEBEN Dr. Kerstin Bueschges – Live Art Künstlerin / Akademikerin / Coachin Diese Serie von Selbstporträts autobiografischer Materialität ist geprägt von meinem Verständnis der künstlerisch-wissenschaft lichen Forschungsmethode PaR (practice-as-research). Grundlegende Thesen sind folgende: 1. Wissenschaft ist immer objektiv, sonst ist es keine Wissenschaft. 2. Wissenschaftliche Methoden sind immer objektiv, systematisch und replizierbar, sonst sind es keine wissenschaftlichen Methoden. 3. Wissenschaftler sind immer männlich, sonst sind sie keine Wissenschaftler. Freundlicherweise haben folgende Autor_innen mir ihre Worte »geliehen«: Laurie Anderson, Henri Bergson, Judith Butler, The DIVAS, Tim Etchells, Elizabeth Grosz, Luce Irigaray, Heiner Müller, Sidonie Smith. https://kerstinbueschges.wordpress.com/
Fotoverweise: Carina Jasmin Englert – Copyright des Porträts liegt bei Christian Bruecke
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